Die Zeitschrift der Kultur Nr. 872 Konstruktive Kunst Cover: Christian Herdeg, Night Shift, 1980, Argonlichtröhren, Acryl­ glas, 91 × 68 × 4 cm.

Konstruktive Kunst

Von OLIVER PRANGE

Die Zürcher Schule der Konkreten ist nebst Dada die einzige in der worten emotional, sensuell, rational bezeichnen, denen als bildne­ Schweiz begründete Kunstrichtung, die weltweit Ausstrahlung hatte risch-formale Möglichkeiten das Expressive, das Organische und das und auch heute noch junge Künstler inspiriert. Konstruktive entsprechen. Mehr als die beiden ersteren Tendenzen Vor achtzig Jahren, 1936, definierte der Universalkünstler Max hat das konstruktive Gestalten seit Jahrhundertbeginn in immer Bill ihren Geist (Seite 34). Er gehörte zu den treibenden Kräften wie neuen Wellen, an vielen Orten und mit immer wieder anderer Ak­ auch Camille Graeser, Richard Paul Lohse und Verena Loewensberg. zentsetzung Maler und Plastiker unterschiedlichen Temperaments Der Kunstschriftsteller und frühere Du-Redaktor Willy Rotzler schreibt: beschäftigt.» «Bills Umschreibung der konkreten Kunst hatte für seine Weg­ Wichtige Träger des konstruktiven Denkens finden sich auch gefährten den Charakter einer Bestätigung und eines Ansporns.» Vor in der Architektur. Bekannte Vertreter wie Walter Gropius, Le Corbu­ dreissig Jahren, am 18. Dezember 1986, wurde die Stiftung für kon­ sier und Mies van der Rohe gehören zu den Gründervätern des Bau­ struktive, konkrete und konzeptuelle Kunst gegründet, die das Mu­ haus-Stils. Das Konzept dieser neuen Architektur, die nicht mehr seum Haus Konstruktiv in Zürich betreibt. «Bau», sondern mit konstruktiven Mitteln geformter «Raum» sein Diese zwei Anlässe bilden die Grundlage für die aktuelle wollte, stand in enger Verbindung zu den Errungenschaften der kon­ Du-Ausgabe, in der wir die bekannten Pioniere und Entwicklungen struktiven Kunst. präsentieren. Aber hauptsächlich stellen wir auch Künstler der jun­ Auf der ganzen Welt werden weiterhin Werke konstruktiven gen Generation vor, in deren Werken konstruktives Denken ersicht­ Charakters geschaffen, ausgestellt und verbreitet. Schaschl: «Über­ lich ist. Die Vorschläge stammen von Sabine Schaschl, der Direktorin blickt man die wichtigsten Kunstveranstaltungen unserer Tage, die des Museums Haus Konstruktiv. Kasseler Documenta etwa, die Manifesta (als eine von mittlerweile Seit jeher bedient sich der Mensch geometrischer Gestaltungs­ zahlreichen Biennalen) oder die Ausstellungen der massgeblichen mittel in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt. Der Museen und Kunstinstitutionen, so wird schnell augenfällig, dass Geometrismus ist eine fundamentale Erfahrung der Menschheit. die ungegenständliche Kunst einen markanten Anteil des Gezeigten Doch erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wenden ihn Künstler in ausmacht.» der Malerei und der Plastik systematisch an. Es gibt immer wieder Neuerer, Persönlichkeiten, die sich mit Die konstruktive Kunst verzichtet auf jede Darstellung der dem Bestehenden nicht begnügen, sondern aus einer kämpferisch sichtbaren Wirklichkeit zugunsten geometrischer Ordnungen. Diese bezogenen Gegenposition heraus Neues erforschen und vortragen. Kunst erforscht die Grundgesetze von Farbe und Form auf der Fläche Meist zuerst nicht erkannt und missachtet, werden sie plötzlich von und im Raum. Sie setzt sich mit Naturgesetzen auseinander. Der einer wachsenden Gefolgschaft getragen. Die konstruktive Kunst als Vorstoss der Kunst in die Ungegenständlichkeit geschah damals an Modell und als Instrument der Bewusstseinserweiterung wird sich drei verschiedenen Fronten. Rotzler: «Sie lassen sich mit den Stich­ von Generation zu Generation weiterentwickeln. Inhalt | Du 872

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Text David undBilder: Bill Text Jakob Bill undBilder: Text MaxBill undBilder: Willy Rotzler Margit Weinberg Staber Konkrete Kunst verstandsichvonAnfanganimmerauchals Inkubation undAusstrahlung –diekonkrete Kunst Drei Generationen Bill:David Bill JakobDrei Generationen Bill Bill: MaxBill Drei Generationen Bill: Die konstruktive ModerneisteineKunstform, diesichmehr How SimpleCanYou Get? das intuitiveGespürdesIndividuumsverlässt.Siehatbis der fürkreative Überraschungen sorgt. auf diekollektiven Konfigurationen derGeometriealsauf relevante Kunst. spielten dabeieinegrosseRolle imKampffürgesellschaftlich politische Kunst. ZürichunddieSchweiz alswichtige in derSchweiz Zentrifuge fürKünstler undExilantenderlinken Avantgarde heute einenStil-Pluralismus entwickelt, derimmerwie­- / / Raumkontrastverhältnisse Konkrete Kunst / Farbfreiheit

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Bilder Bilder

52 72 70 Daniel Morgenthaler Sabine Schaschl Christian Herdeg|MargueriteHersbergerBeatZoderer | Etablierte Konkrete Der neokonkreten Kunst fehltesanLinientreue. Dasist gut. Die lustigeForm Claudia Comte |Yves Netzhammer|LenaAmuatundZoë Junge Konkrete Es istimmerjetzt,aberaucheinbisschengesternund Das konstruktiv-konkrete ErbeimSpiegelderGegenwarts­ morgen Christian Megert Graf |Pe Lang|BiancaBrunnerZimounAthene Galiciadis Und anpolitischerLinie. Dasistwenigergut. Meyer |Mai- kunst Thu Perret | Kerim Seiler|RaphaelHeftiFlorian Haus Konstruktiv, Zürich. Sammlung Museum 1961 Schwarz-Volumen Camille Graeser, Gelb- ­Leinwand, / 1977 , Acryl auf , Acryl 120

× 120 11 cm, : 1

, FR-Ins_DU_240x315mm_rechts.indd 1

FOTOGRAFIE: SYLVAN MÜLLER 5 | EINZIG IN SEINER ART SEINER IN EINZIG 07.11.16 08:54 Inhalt | Du 872

Bilder

104 89 88 Afra Flepp Margit Weinberg Staber Oliver Prange Frédéric ist87Jahrealtundblickt Belser aufeinlangesLeben Der ArztunddieFarben Frédéric |Peter Belser |RitaBurkart | Binz|HeinrichBobst In denSechzigerjahrenverwirklichte Fritz Glarner ein RockefellerFritz Glarner: DiningRoom das heuteinseinenursprünglichen DimensionenimZürcher spielen. schon früh,inseinenWerken mitFarben undGeometriezu zurück. DerZürcherArztundVerehrer vonMaxBillbegann Museum HausKonstruktiv steht. Stadtwohnung vonNelsonA. Rockefeller inNewYork, konstruktivistisches Raumkonzept für das Esszimmerinder

3 110 108 114 8 David Rosenberg Alfredo Häberli Service Bildnachweis undImpressum In denvonOperationssälen, Fabriken undChemiekomplexen Es trete niemandhierein,dernichtGeometer ist Der weltberühmteDesignerAlfredoHäberlihatdemRaum­ Rockefeller DiningRoom Reloaded Editorial rende Verbindungen zwischendersichtbarenWelt undderen verborgenen Dimensionen. inspirierten Werken vonAndreiProletskientstehenfaszinie­ Die komplexe Kunst desAndreiProletski konzept vonFritz GlarnereinenRelaunch verpasst. seits bewegt. Nairy Baghramian, seits bewegt. Nairy und gegenwärtigen Tendenzen anderer ten undkonzeptuellen Kunst einerseits turellen Erbe derkonstruktiv an denSchnittstellen zwischendemkul­ lerische Position honoriert,diesich wird jährlicheineeigenständigekünst­ Preissumme von trolle undKontrollverlust versteht. Die an denNacken alsSinnbildfürKon- am Kragen packen, wobei sichderGriff by thescruffofneck–jemanden schen Redewendung To take somebody gewählte Titel spieltmitderengli- beitet inBerlin.Dervon derKünstlerin in Isfahan, Iran,geboren,lebtundar (Supplements), Baghramian,ScruffoftheNeck Nairy nale Ausstrahlungskraft.Seit einegrosseinternatio­-sitzt mittlerweile noch biszum konzipierte Einzelausstellung, die fliesst ineinespeziellfürdasMuseum Zürich, ansicht MuseumHausKonstruktiv, struktiv, Zürich, zu sehen ist. ArtPrize BaghramianistdieGewinnerindes Nairy 2016 . 15 2016 . 2016 Januar imHausKon­ 80

000 Installati­ons­ , . DerPreis be­-

Franken -konkre- 2007

1971

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ik.MS. zl esnkse) (inkl. MwSt.,zzgl. Versandkosten) WWW.SWITZERSBUCH.CH BESTELLEN! ONLINE JETZT Du 872 | OLIVER PRANGE Impressum Du 872 – Dezember 2016 / Januar 2017 Das Konstruktive Kunst Sonnenfest Roman

Herausgeberin Redaktion und Verlag Jetzt Abo bestellen Du Kulturmedien AG Telefon +41 44 266 85 55 abo @ du­magazin.com Stadelhoferstrasse 25 Telefax +41 44 266 85 58 Telefon +41 71 272 71 80 CH­8001 Zürich redaktion @ du­magazin.com abo @ du­magazin.com Internet www.du­magazin.com Gründer Gestaltung und Realisation Arnold Kübler (1890–1983) Matthias Frei, Lucas Vetsch vetsch frei gmbh Die Realisierung dieser Publikation Verleger und Chefredaktor Stadelhoferstrasse 25, Postfach 681 wurde unterstützt von Oliver Prange CH­8024 Zürich oliver.prange @ du­magazin.com vetschfrei.com

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Die zauberhafte Welt um Ascona – ein Buch

BILDNACHWEIS DU 872 – DEZEMBER 2016 / JANUAR 2017 wie ein Fellini-Film

Titel: Foto: A. N. Simmen / Courtesy Christian Herdeg; Camille Graeser Stiftung, Zürich, S. 4, S. 18, S. 24, S. 25; Courtesy Nairy Baghramian und Marian Goodman Gallery, London, S. 6; Richard Paul Lohse-Stiftung, Zürich, S. 10/11, S. 19, S. 29; Werke und Fotos, © Nachlass Es gibt Momente, da wünscht sich der junge Christo, er könne so sein Edition D Verena Loewensberg, Henriette Coray Loewensberg, Zürich, S. 13 o., S. 14, S. 33; Akg-imges, S. 14 u.; Artothek, S. 15; Bridgeman Images / wie die andern. Aber er ist es nun mal nicht. Er hofft weder auf Lob noch Zürcher Hochschule der Künste / Museum für Gestaltung Zürich / Plakatsammlung, S. 21; Hans, Krebs / ETH-Bibliothek / Bildarchiv / E-Pics, auf Trost, rechnet immer mit Verrat, erwartet ihn sogar. Er weiss, für ihn Oliver Prange – Das Sonnenfest S. 22/23; Interfoto / Alamy, S. 28; Max, Binia + Jakob Bill Stiftung, S. 35, S. 37, S. 38, S. 39, S. 40, S. 41 l. u.; Claudio Bader / 13 Photo, S. 41 o.; 312 Seiten, leinengebunden hat niemand ein Lächeln übrig. Doch als im Frühling 1917 die Tänzerin Ernst Scheidegger © 2016 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich, S. 41 r.; Caroline Minjolle, S. 44; Courtesy Sylvie Fleury und Gallery ISBN 978-3-905931-70-9 Mehdi Chouakri, Berlin, S. 45; Courtesy William Kentridge, S. 47 (2); Stefan Altenburger, S. 6, S. 10, S. 13, S. 36, S. 44, S. 74/75, S. 82/83; Mignon in Ascona eintrifft, verändert sich für ihn die Welt. Sie ist gekom- S. 104, S. 106, S. 109; Courtesy Dam Gallery, Berlin, S. 49; Jens Ziehe, S. 50; Courtesy of the artist and BolteLang, Zurich, S. 52, S. 64, S. 68/69; Peter Baracchi, S. 54/55, S. 111, S. 112; Courtesy of the artist, S. 56, S. 57, S. 66/67, S. 68/69, S. 72, S. 73, S. 76/77, S. 78/79, men, um am Sonnenfest auf dem Monte Verità als babylonische Königin CHF 29.50 / EUR 24,50 S. 84, S. 94, S. 95, S. 96, S. 97, S. 98, S. 99, S. 100/101, S. 102, S. 103; Courtesy Grieder Contemporary, S. 58/59; RaebervonStenglin, Zürich, Ischtar zu tanzen. Christo folgt ihr auf den Berg, wo er den verrücktesten S. 60; Katja Bode, S. 61; Pe Lang, S. 62/63; © CAN Neuchatel, S. 65; Thomas Strub, S. 68/69; Sandra Amport / Courtesy von Bartha, Basel, Menschen seiner Zeit begegnet: Anarchisten, Buddhisten, Illuminaten, S. 80; Conradin Frei / Courtesy von Bartha, Basel, S. 81; Courtesy Galleria Allegra Ravizza, S. 86/87; Peter Binz, S. 88, S. 89, S. 90, S. 91, Zu bestellen auf: S. 92, S. 93; Privatarchiv, S. 104. Magiern, Naturreformern, Rosenkreuzern, Schriftstellern, Satanisten, www.du-magazin.com/sonnenfest Theosophen. Er wird zum Diakon des Grossmeisters des Orientalischen © für die abgebildeten Werke von Jakob Bill, , Camille Graeser, Richard Paul Lohse, Vera Molnar, Georg Karl Pfahler, Bernd Ribbeck, Kerim Seiler, Beat Zoderer: ProLitteris, Zürich, sowie bei den Künstlern und ihren Rechtsnachfolgern. Templerordens. Bald jedoch durchschaut er dessen wahre Absichten und wendet sich gegen ihn. Jetzt wird Christo zum Gejagten, und er taucht unter. Am rauschenden Sonnenfest will er Mignon retten – doch es erwartet ihn eine böse Überraschung.

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Anzeige_Sonnenfest_DU-240x315_v03.indd 1 10.06.16 11:26 Du 872

Richard Paul Lohse, Vier symmetrische Gruppen, 1947/1959, Öl auf Leinwand, 54 × 108 cm, Richard Paul Lohse-Stiftung, Zürich.

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How Simple Can You Get?

Vor mehr als hundert Jahren wurden die Weichen für die konstruktive Moderne von Schlüsselfiguren wie Malewitsch, Mondrian und Kandinsky gestellt. Doch die neue Kunst­- form, die sich mehr auf die kollektiven Konfigurationen der Geometrie als auf das intuitive Gespür des Individuums verlässt, hat sich durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch­ immer wieder neu erfunden. Und dabei einen Stil-Pluralismus entwickelt, der bis heute für kreative Überraschungen sorgt.

Text MARGIT WEINBERG STABER Verena Loewensberg, aus: 16 gravures, 1975, Kupferstich, Druck auf Velin, 16 Teile, je 20 × 20 cm, Sammlung Museum Haus Konstruktiv,­ Zürich.

« … kein Zittern, keine Ungenauigkeit, keine Unschlüssigkeit, keine Strukturen zu folgen. Aber entgegen allen kritischen Stimmen: Die unvollendeten Partien und so weiter und so weiter … Wenn man eine ästhetische Auslotung des Elementaren hat Präsenz behauptet, ja, gerade Linie nicht mit der Hand zeichnen kann, nimmt man dazu steht heute wieder hoch im Kurs. ein Lineal.» Herausfordernd steht dieser Satz in den Kommentaren, Bereits 1960 in Zürich zeigte die von Max Bill realisierte Aus­ die Theo van Doesburg zu seinem 1930 in Paris in der Zeitschrift Art stellung Konkrete Kunst: 50 Jahre Entwicklung zum Staunen vieler, Concret publizierten Manifest geschrieben hat. Der erste Text von dass sich ein breit gefächertes Ideenspektrum aus dem Vokabular des Max Bill, Konkrete Gestaltung, findet sich 1936 im Katalog der Aus­ scheinbar so Einfachen entwickelt hatte. Die ersten Beispiele der stellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik im Kunst­ amerikanischen Farbfeldmalerei waren zu sehen, desgleichen die haus Zürich. Sehr viel weiter und unorthodoxer spannt sich nun der mit Licht und Bewegung experimentierende Gruppe Zero. «Es kann Radius einer von den Regelsystemen und Konfigurationen der Geo­ sehr gut sein, dass ein Bild, auf dem nichts zu sehen ist als zwei Qua­ metrie gesteuerten Bildlogik. Neue Weichen werden gestellt, obwohl drate, den Künstler mehr Schweiss und Blut gekostet hat, als es einen die Fundamente der konstruktiven Moderne bereits im ersten Jahr­ alten Meister kostete, eine Muttergottes zu malen.» Der Satz stammt zehnt des 20. Jahrhunderts angelegt worden sind. Schlüsselfiguren: von dem wunderbar expliziten, die Moderne durchaus kritisch be­ Kasimir Malewitsch und Wassily Kandinsky in Osteuropa, Mondrian trachtenden Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich.2 Die Zürcher Aus­ in Westeuropa. «How simple can you get?», fragte der amerikanische stellung 1960 war ein Meilenstein in der differenzierten Wahrneh­ Kunsthistoriker Robert Storr im Jahr 2000. 1 Die Kunstwelt hat Hard mung der von Malewitsch so bezeichneten «gegenstandslosen Welt», Edge, Color-Field-Painting und Minimal Art als weitere Kapitel der die man mit unverstelltem Blick eben auch eine «konkrete» nennen Geschichte hinter sich gelassen, Op-Art und Neo-Geo seien nicht kann. Nochmals van Doesburg: «Sind auf einer Leinwand eine Frau, vergessen. Installative Produktionen, Mixed Media, Pastiche, Stil­ ein Baum oder eine Kuh etwa konkrete Elemente?» 3 zitate, Retro, Techno und Appropriation halten die Szene in Atem, Max Bill, Camille Graeser, Richard Paul Lohse und Verena sodass dem nach Kriterien suchenden Kunstfreund Hören und Se­ Loewensberg sind in den Olymp der Altmeister aufgestiegen und hen vergeht. zu massgeblichen Identifikationsfiguren der Sache der Konkreten Es war ein steiniger, mit Widerständen gepflasterter Weg der geworden. Allein schon die unterschiedlichen Auffassungen, die Prinzipientreue durch die Kunstproduktion des 20. Jahrhunderts, Bill und Lohse lebenslang in einer energiegeladenen, freundschaft­ deren stilistisches Karussell sich immer rasanter zu drehen begann. lichen Rivalität gegeneinander ausgespielt haben, wären diskus­ Ein experimenteller Gärungsprozess begann auch die tradierten sionswürdig: eine offen gefasste «mathematische Denkweise» einer­ Denkmuster des Konstruktiven zu unterwandern. Man könnte es seits, strikte modulare und serielle Ordnungen andererseits. Den einen Pluralismus in den eigenen Reihen nennen. Die konstruktiven kombinatorischen Minimalsystemen eignet zudem ein unsere digi­ Konzepte sind zu einem Stil unter anderen geworden und halten tale Gegenwart ansprechender Symbolwert. Man darf die von Max Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, sich in den eigenen Reihen kreative Optionen offen. Es brauchte in Bill 1938 herausgegebene Mappe der aus der Grundfigur eines gleich­ 1929, Öl auf Leinwand, einer zunehmend reizüberfluteten Mediengesellschaft viel Selbst­ seitigen Dreiecks entwickelten Quinze variations sur un même thème 80 × 80 cm, Tretjakow- vertrauen, um den Regeln scheinbar realitätsferner ästhetischer als ein Schlüsselwerk dieser Gestaltungsphilosophie bezeichnen. Galerie, Moskau.

12 | 13 Du 872 | ? Margit Weinberg Staber – How Simple Can You Get Staber – How Simple Can You Margit Weinberg

Verena Loewensberg, ohne Titel, 1963, Öl auf Leinwand, 101 × 101 cm, Samm- Max Bill, Konstruktion mit fünf Farben, lung Museum Haus Konstruktiv, Zürich. 1949/1950, 32 × 32 cm.

14 | 15 wechsel – ein beliebtes Modewort im kulturell-gesellschaftlichen gespaltet hat: die konstruktiv-geometrische und die expressiv-intui­ Diskurs jener Jahre – in Produktion und Rezeption zu erklären. Was tive. Man kann es nachlesen in dem Jahrhundertbuch von Wassily Du 872 | nicht heisst, dass man bei der Endstation Kunst angelangt sei. Wie Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1910). In einem späteren ? also lasse sich Kunst erklären im Sog der posthistorical period? Es gebe Kandinsky-Text (1938) findet sich erstaunlicherweise die Adaption einfach keine besondere Art und Weise mehr, wie Kunst beschaffen des Begriffes konkrete Kunst. Überzeugungsarbeit hat dabei Max Bill sein müsse. «Anything goes» gemäss dem lapidaren Statement von geleistet, der kommentierend die Schriften von Kandinsky in feins­ Andy Warhol. Auch die konkrete Kunst setzt sich mit solchen provo­ ter Edition neu herausgegeben hat. 9 Auch Hans Arp operiert mit der kativen Thesen über das zweifellos veränderte und sich weiter verän­ Vorstellung konkret und beharrt auf seiner Eigenschöpfung concré­ dernde Kunstbewusstsein auseinander. Wenn alles möglich ist, dann tion. Oft wird Konstruktivismus gleichgesetzt mit jeglicher Art des sind auch konstruktive Konzepte möglich. Es lag nahe, in Zürich einen Geometrischen, ist jedoch eindeutig mit Tatlin und Rodtschenko Ort zu schaffen für die in der Schweiz so stark verankerte Kunstrich­ Teil der russischen Avantgarde im dialogischen Verhältnis zu dem tung, die zweifellos zu den kulturell ausstrahlenden Beiträgen der von Malewitsch propagierten Suprematismus. – Das Ei des Kolumbus Schweiz an die Moderne gehört. Dada und Giacometti stehen nicht hat vielleicht Willy Rotzler gefunden. Seiner 1977 publizierten Ge­ allein auf der Rangliste. Das 1986 gegründete Museum Haus Konstruk­ schichte der konstruktiven Kunst vom Kubismus bis heute gab er den tref­ tiv verfolgt die Duplizität von Tradition und Aktualität. Regel und Ab­ fenden Titel Konstruktive Konzepte, sowohl breit genug wie genau weichung nannte sich deshalb die Ausstellung 1997, um die Entwick­ genug gedacht. 10 Längst wäre eine revidierte und ergänzte Ausgabe lungen seit 1960, seit der Ausstellung von Max Bill, aufzuarbeiten. 8 angebracht, denn überblickende Literatur zum Thema ist dünn gesät. Margit Weinberg Staber – How Simple Can You Get Staber – How Simple Can You Margit Weinberg Nun, im Jahr 2016, sind weitere Jahre vergangen, und die konkrete Früh schon befasste sich der geistreich Sparten überbrückende deut­ Kunst – oder die konstruktive Kunst oder konstruktive Konzepte? – ist sche Kunsthistoriker Werner Hofmann mit den ästhetischen Grund­ auf der Suche nach ihrem zukünftigen Selbstverständnis. «How sim­ lagen des Konkreten, bei Gottfried Boehm und Max Imdahl finden ple can you get?» Die Frage bleibt eine kreative Herausforderung. sich aufschlussreiche Untersuchungen. Letzten Endes sitzt in den Ein Nachwort zur Begriffsbildung. Immer noch verwirrt die Köpfen der Kunstfreunde die konkrete Kunst als strenge Disziplin Verknüpfung des Wortes konkret mit der Vorstellung konstruktiver, der geometrischen Abstraktion fest mit Schwerpunkt Schweiz. Die Kontinuität zählt im Zeitalter des sich schnell drehenden Kunst­ logie des Seriellen. Wo mit vergleichbaren Mitteln gearbeitet wird, vom äusseren Abbild gelöster Kunstformen. Dem seinerzeitigen Dik­ Strahlkraft reichte insbesondere bis nach Südamerika mit der Arte karussells zu den von manchen als altmodische Zähigkeit wenig ge­ blitzt der Ehrgeiz gegenseitiger Abgrenzung auf. Das Quadrat hat tum Theo van Doesburgs zum Trotz blieb Mehrdeutigkeit daran haf­ Concreto-Invención. Um dem Spannungsfeld der Begriffsbildung schätzten Tugenden. Es liegt freilich in der Natur des Elementaren, schliesslich niemand erfunden. Gerstner verfasste noch viele unor­ ten. Laut Lexikon gilt konkret als Synonym für gegenständlich, sinn­ noch einen weiteren geistigen Baustein hinzuzufügen: Sich auf Kant an ein ästhetisches Potenzial noch längst nicht ausgeschöpfter Mög­ thodoxe Publikationen über die Theorien des Konkreten. Einsamer fällig, anschaubar. Genau so verstanden es die Bilderstürmer der berufend, gibt es auch mehrere Strömungen des Konstruktivismus lichkeiten anknüpfen zu können. Deshalb entstehen auch erstaun­ Denker blieb Hans Jörg Glattfelder, der mit spannend zu lesenden Moderne, wenn sie Farben und Formen als Zeichen einer ästheti­ in der modernen Philosophie. Einen Nachsatz zur unendlichen Ge­ lich frische Alterswerke, die ihre eigenen Grundsätze mit präzisem methodischen Exkursen seine ebenso inspirierend anzuschauenden schen Parallelwelt zur Realität der Lebenswelt verstanden wissen schichte des Kunstverständnisses liefert Francis Bacon: «I believe in Elan überspielen. Nach jahrelangem Hin und Her der Befürworter Bildideen begleitet. So nennt er Werkgruppen beispielsweise Nicht­ wollten. Am Anfang war die Abstraktion, die sich in zwei Richtungen deeply ordered chaos.» 11 und Gegner konnte 1983 die Pavillon-Skulptur von Max Bill an der euklidische Metaphern oder Topologische Erkundungen und paart spar­ Zürcher Bahnhofstrasse eingeweiht werden – heute genau als das samste Mittel mit einem intrigierenden Augenschein. 6 Bleibt zu be­ verankert, was der Künstler angestrebt hat: ein selbstverständlicher merken, dass die zur Diskussion stehende Künstlergruppe grossen urbaner Ort, der einen zentralen städtischen Raum mit skulpturalen Wert auf ausführliche, die Methode, die Mittel und die Koloristik be­ Mitteln von hohem Anspruch definiert. Wer Platz nimmt, darf ver­ treffende Bildtitel gelegt hat. Es liest sich manches Mal fast wie kon­ gessen, auf einem Kunstwerk zu sitzen, und verspürt vielleicht un­ krete Poesie. Es gab auch eine Art Begründungskultur der eigenen terschwellig, in eine besondere Situation eingebunden zu sein. künstlerischen Ideen, Abwehrstrategien gegenüber Unverstand der Richard Paul Lohse war 1982 an der Documenta 7 in Kassel mit Kunstgemeinde. Seriellen Reihenthemen in 18 Farben vertreten. Das heisst: mit einem In der Generationenfolge gehört Andreas Christen mit seinen

bis in den heutigen Tag nachwirkenden, grundlegenden Modell der subtilen, minimalistischen Monoformen zu Gerstner, beide schon 1960 1 Robert Storr; die Quelle in einem Bulletin des Museum of Modern Art New York konstruktiven Moderne. 1987 und 1988 malte Lohse in starkem Gelb- in der Ausstellung Konkrete Kunst: 50 Jahre Entwicklung mit frühen ist unauffindbar. Blau-Rot, als hätte das Kon­struktive soeben das grosse Los gezo­gen, Arbeiten vertreten. Neue Materialien kommen auf mit gestalterisch 2 Ernst H. Gombrich: Die Geschichte der Kunst (The Story of Art), viele mehrmals mit Grenoble 1788 im Auftrag des französischen Staates eine Hom­ starken Frauen wie Rita Ernst, systematisierten Flächenrhythmen über­arbeitete und ergänzte Auflagen seit 1949, Stuttgart und Zürich 1982, S. 471. mage an den 200. Jahrestag der Französischen Revolution in der zugeneigt die materialintensiv experimentierende Carmen Perrin. 3 Konkrete Kunst: Manifeste und Künstlertexte, zusammengestellt und heraus­ Dauphiné. Dazu schrieb Lohse in nur sieben Zeilen einen wunder­ Marguerite Hersberger gehört dazu, mit Christian Herdeg teilt sie die gegeben von Margit Weinberg Staber, Studienbuch 1, Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst, Zürich 2001, van Doesburg S. 25, Bill S. 29. bar lapidaren Text, seiner Bildkonstruktion ebenbürtig. 4 Verena Loe­ Liebe zur Transparenz und farbigen Raumgestaltung. Die Monochro­ wensberg liebte die Jazzmusik, was auch für Max Bill gilt. Miles Davis mie bleibt ein andauerndes Thema. Etwa bei dem nach New York 4 Hans Heinz Holz, Johanna Lohse James, Silvia Markun (Hg.): Lohse lesen, Texte von Richard Paul Lohse, Studienbuch 2, Stiftung für konkrete und konstruktive bedeutete ihr viel, auch die Avantgarde von Phil Glass, Steve Reich. übersiedelten, leider früh verstorbenen Rudolf de Crignis und dem Kunst, Zürich 2003. Ihre konstruktive Fantasie reagierte auf mancherlei Einflüsse. Sie ebenfalls in den USA ansässigen Olivier Mosset. Alle die Genannten 5 Karl Gerstner: Kalte Kunst? Zum Standort der Malerei, Teufen 1957, und Karl interessierte sich, ihrer Aufbruchs- und Reifezeit längst entwachsen, und ein breites Spektrum vergleichbar erfinderischer Geister behaup­ Gerstner: Rückblick auf sieben Kapitel konstruktiver Bilder. Etc., Ostfildern 2003. für die amerikanische Hard-Edge-Malerei. Von diesen neuen Ideen, ten sich mit spielerischer Sicherheit auf internationalem Niveau. 6 Hans Jörg Glattfelder, Ausstellungskatalog Fondation Saner Studen, 1998, und auch jenen der Pop-Art, fasziniert, reiste sie in den 1970er-Jahren in Allerdings, die Lust auf Theorie ist der konkreten Kunst im Laufe der Hans Jörg Glattfelder – Konstruktive Metaphern, Ausstellungskatalog Museum für die USA. Die grosszügig konturierten Flächenteilungen später Bilder Zeit ziemlich abhandengekommen. Nicht nur in diesem Bereich, Konkrete Kunst, Ingolstadt 1999. weisen darauf hin. ganz allgemein hat sich eine von den Auktionshäusern propagierte, 7 Arthur C. Danto: After the End of Art: Contemporary Art and the Pale of History, Die Spurensuche nach dem Stand geometrisierter, veränderba­ mit Absurditäten gespickte vergleichende Kunstbetrachtung breit­ Princeton 1998. rer Bildsysteme führte Karl Gerstner 1957 zu seinem kleinen, aber gemacht. In einem der kürzlich publizierten Kataloge beispielsweise 8 Margit Weinberg Staber und Elisabeth Grossmann: Regel und Abweichung, Schweiz konstruktiv 1960 bis 1997, Katalogbuch Haus Konstruktiv, Zürich 1997. folgenreichen Buch Kalte Kunst? mit vergleichenden Beispielen über trifft das staunende Auge des Betrachters auf eine durchaus bemer­ den Stand der Dinge in der Schweiz und auf internationaler Ebene. 5 kenswerte, materialintensive, graue zweiteilige Arbeit von Günther 9 Wassily Kandinsky: Konkrete Kunst (1938), in: Max Bill (Hg.): Essays über Kunst und Künstler, Stuttgart 1955, S. 207. Richard Paul Lohse doppelte mit der etwas lustvoller auf das Gemüt Förg in Konkurrenz zu Malewitsch und Mondrian! Margit Weinberg Staber hat viele Jahre als freie Publizistin auf Gebieten der 10 Willy Rotzler: Konstruktive Konzepte: Eine Geschichte der konstruktiven Kunst des Kunstfreundes einwirkenden «kalten Romantik» nach. Gerstner Der amerikanische Philosoph und Kunstkritiker Arthur C. Danto modernen Kunst, Architektur und des Designs gearbeitet. Von 1976 bis vom Kubismus bis heute, siehe Kapitel Inkubation und Ausstrahlung, Die konkrete 1984 war sie Konservatorin am Kunstgewerbemuseum Zürich. Ausserdem war hat im Laufe der Jahrzehnte viele innovative Schübe folgen lassen, legte 1984 bis 1987 die provokativen Essays The End of Art und After the Kunst in der Schweiz, Zürich 1977. sie Mitglied der Kunstkommission der Stadt Zürich und hat an der Zürcher 7 nicht zuletzt zur Permutation von Bildstrukturen und von Farbsyste­ End of Art vor. Tradierte Kunstgeschichte und bislang geltende kunst­ 11 Das Bacon-Zitat findet sich gross gedruckt auf der Papiertüte zum Transport Hochschule der Künste unterrichtet. In diesem Frühling hat sie die Ausstellung men. Mit Lohse geriet Gerstner später in einen Disput über die Typo­ historische Kriterien reichten nicht mehr aus, um den Paradigmen­ des Kataloges seiner Ausstellung im Grimaldi Forum Monaco 2016. Dada anders am Zürcher Museum Haus Konstruktiv kokuratiert.

16 | 17 Du 872 | ? Margit Weinberg Staber – How Simple Can You Get Staber – How Simple Can You Margit Weinberg

Camille Graeser, Sinfonie der Farbe Richard Paul Lohse, Farbgruppen in (Farbensinfonie), 1946/1950, Öl auf Quadraten geordnet, 1944/2, Öl Leinwand, 70 × 105 cm, Camille Graeser auf Leinwand, 50 × 50 cm, Richard Stiftung, Zürich. Paul Lohse-Stiftung, Zürich.

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Inkubation und Ausstrahlung – die konkrete Kunst in der Schweiz

Konkrete Kunst verstand sich von Anfang an immer auch als politische Kunst. Zürich und die Schweiz als wichtige Zentrifuge für Künstler und Exilanten der linken Avantgarde spielten dabei – vor allem zwischen den beiden Weltkriegen, aber auch danach – eine grosse Rolle im Kampf für gesellschaftlich relevante Kunst.

Text WILLY ROTZLER

Das politische Klima in Europa war in den Dreissigerjahren den kon- Kunsthalle BaseI. Soweit nachprüfbar, handelt es sich um die erste struktiven Tendenzen – wie überhaupt den Künsten – wenig günstig. Ausstellung Picassos ausserhalb von Frankreich und seine erste Prä- Mehr noch als die wirtschaftliche Depression lähmte in allen Län- sentation in einem öffentlichen Ausstellungsinstitut. dern die wachsende Kriegsangst das Kunstleben, nicht so sehr die Nach Kriegsausbruch im August 1914 wird Zürich zu einem in- künstlerischen Aktivitäten als vielmehr die Bereitschaft breiter ternationalen Zentrum des wirtschaftlichen und kulturellen Aus- Kreise, die moderne Kunst als integrierenden Bestandteil im Leben tauschs im Niemandsland zwischen den kriegführenden Parteien. der Gesellschaft anzuerkennen. Das instinktive Bestreben nach dem Nutzen zieht dabei die Schweiz vor allem von den Künstlern und Bewahren des Überkommenen und Gesicherten liess jeden kühnen Intellektuellen, die sich als Flüchtlinge oder pazifistische Kriegs- künstlerischen Versuch als Unterminierung etablierter Werte er- dienstverweigerer in Zürich einfinden. Hans Arp, als Elsässer in scheinen. Das utopische Konzept hinter den konstruktiven Tenden- Frankreich gefährdet, lässt sich 1915 nieder, sammelt einzelne zen musste als revolutionär, als umstürzlerisch empfunden werden. Freunde vom Modernen Bund und stellt sich in einer Ausstellung mit Auch die Schweiz als kleines, demokratisches Land, einge- kubistischen, jedoch bereits ungegenständlichen Collagen vor. In klemmt zwischen dem Faschismus Italiens und Deutschlands, blieb der Ausstellung lernt er Sophie Taeuber kennen, die noch radikaler von restaurativen Kunstauffassungen nicht verschont. Es zeigte sich mit geometrischen Flächenkompositionen beschäftigt ist. Es ent­ da aber, wie viel einige wenige vermögen, wenn sie sich überzeugt stehen Gemeinschaftsarbeiten – Duo-dessins nennt Arp sie später –‚ gegen einen breiten passiven und unterschwelligen Widerstand für welche die Möglichkeiten strenger Horizontal-vertikal-Ordnungen eine Sache einsetzen. Diesen wenigen gelang es, die Schweiz zu einem ausloten. Zusammen mit Flächenkompositionen, die Johannes Itten Zentrum der konstruktiven Kunst zu machen, von dem aus nach 1945 gleichzeitig und unabhängig in Stuttgart malt, stehen diese Werke die Bewegung erneut in die Welt ausstrahlen konnte. am Anfang der konstruktiven Kunst der Schweiz. Diese Rolle der Schweiz in der Entwicklungsgeschichte der Parallel zu ihrer aktiven Mitwirkung an der Zürcher Dada- konstruktiven Kunst hat einige Voraussetzungen. Über Paul Klee und Bewegung – von Arp zusammen mit den Dichtern Hugo Ball, Richard Louis Moilliet ergaben sich Kontakte zum Blauen Reiter in München, Huelsenbeck, Tristan Tzara und dem Maler Marcel Janco im Februar was zu Ausstellungen des in seiner Zusammensetzung internationa- 1916 begründet – führen Arp und Sophie Taeuber diese geometrischen len Modernen Bundes in München, später im Sturm in Berlin führte. Arbeiten weiter. Während bei Arp vor allem in Holzreliefs sich eine Eine Ausstellung vereinigte 1912 im Kunsthaus Zürich alle Pariser «organische», teils ungegenständliche, teils abstrahierend-ironische Kubisten und aus München die Blauen Reiter Kandinsky, Klee und Formgebung entwickelt, beschäftigt sich Sophie Taeuber sowohl als Marc. Sie löste bis 1914 eine Kette von Ausstellungen aktueller inter- Lehrerin an der Kunstgewerbeschule wie in ihrem eigenen Werk wei- nationaler Kunst aus, als wichtigste eine Picasso-Ausstellung in der terhin mit rein geometrischen Ordnungen. Aus Rechteck, Dreieck Das Plakat für die Ausstellung – Vereinigung moderner Schweizer Künstler im Kunsthaus Zürich hat Max Bill 1947 gestaltet. Max Bill, 1947, 100 × 70 cm.

20 | 21 Max Bill vor seiner Pavillon-Skulptur, Pelikanstrasse/ Bahnhofstrasse Zürich. Das Werk entstand zwischen

Du 872 1979 und 1983. Nicht alle Zürcherinnen und Zürcher | waren damals begeis­tert von Bills Schöpfung, heute bildet sie einen Meilenstein der Kunst auf einer der teuersten Shoppingpromenaden der Welt.

oder Kreis entwickelte Motive fügt sie als «Elementar-Formen» zu komplexen Bildordnungen. Ausgehend von den Bühnenbildern für ihr 1918 realisiertes «abstraktes» Marionettenspiel König Hirsch nach Pocci widmet sie sich nun auch der geometrisch-flächenhaften Öl­ malerei, unter dem Einfluss Arps gelegentlich dem Holzrelief. Die Schweizer Maler aus dem Kreis der Dadaisten blieben eher an den Anregungen interessiert, die Delaunays Orphismus für die Farb- gestaltung bot. Zur aktuellen Kunst bestanden noch kaum Kontakte, abgesehen von den freundschaftlichen Beziehungen zu Kandinsky; seine Werke aus der Periode des Blauen Reiters waren dank Arp auch in Zürich zu sehen. Den Vorkriegsstand der russischen Kunst verkör- perte auch Alexej von Jawlensky, mit seiner Freundin Marianne von Werefkin regelmässiger Gast der Zürcher Dada-Soireen. Von Kontak- ten zu dem 1917 in den Niederlanden gegründeten Stijl ist nichts be- kannt. Es scheint, dass das in Zürich zwischen 1915 und 1918 manifest werdende Substrat einer konstruktiven Kunst autonome Züge trägt. Schlüsselfigur und vielleicht eigentliche Initiantin ist Sophie Taeuber.

in der Schweiz Kunst – die konkrete – Inkubation und Ausstrahlung Rotzler Willy Die im Gefolge des Ersten Weltkrieges aufgebrochenen sozia- len Spannungen hatten sich in der Schweiz mit dem Generalstreik von 1918 angekündigt. Die künstlerische Avantgarde stand links und solidarisierte sich mit der Arbeiterschaft. Der mit der Oktoberrevolu­ tion eingeleitete Aufbau eines sozialistischen Staates in Russland schürte den Glauben an den Anbruch eines gerechteren Zeitalters. Allerdings vermochte nur eine kleine Zahl von Künstlern und Intel- lektuellen Übereinstimmungen oder Zusammenhänge zwischen kul- turellem und sozialem Fortschritt zu erkennen. Das Feld wurde von einer Malerei beherrscht, die, auf Cuno Amiet und Giovanni Giaco- metti fussend, sich den internationalen Entwicklungen gegenüber zurückhaltend verhielt. Einflüsse des Kubismus, des Fauvismus und des Expressionismus wurden dabei zu einer jeweils individuell ge- prägten, von Region zu Region verschiedenen malerischen Sprache verbunden. Eine formal gebändigte, expressive Malerei, farbig, teils optimistisch heiter, teils dunkeltonig schwerblütig, beherrschte die Ausstellungen. Ausbrüche aus dieser behüteten Kunstwelt führten nur vereinzelt, vor allem bei streng gebauten Wandbildern, ins Konstruk- tive; häufiger steigerten die Befreiungsakte das expressive Element. Wichtige Träger des Fortschritts und eines konstruktiven Den- kens waren einige junge Architekten in Basel und Zürich. Sie bekann- ten sich zu dem Neuen Bauen, wie es in dem 1925 von Walter Gropius herausgegebenen ersten Bauhausbuch Internationale Architektur und dem 1926 erschienenen Bildband Der moderne Zweckbau von Adolf Behne, aber auch in der programmatischen Schrift Vers une architec- ture von Le Corbusier verstanden wurde. Das Konzept dieser neuen Architektur, die nicht mehr «Bau», sondern mit konstruktiven Mit- teln geformter «Raum» sein wollte, stand sowohl im Westen wie im Osten in enger Verbindung zu den Errungenschaften der konstruk­ tiven Kunst. So ergab sich auch von der Architektur her eine direkte Auseinandersetzung mit dem russischen Konstruktivismus und dem holländischen Stijl. Lebhaft waren die Kontakte zum Bauhaus. Schon in der Weima- rer Zeit gehörten Johannes Itten und sein Jugendfreund Paul Klee zu dessen Meisterrat. Bereits 1923 stellte sich das Bauhaus mit seinem Lehrprogramm und seinen Arbeiten im Zürcher Kunstgewerbemu- seum vor, und in den Dessauer Jahren folgten weitere Ausstellungen in Basel und Zürich. Attraktiv war das Bauhaus aber auch für junge

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Camille Graeser im Jahr 1955.

Links: Camille Graeser, Komplementär-Relation der Horizontalen, 1961/1977, Acryl auf Leinwand, 120 × 120 cm, Sammlung Museum Haus Konstruktiv, Zürich.

24 | 25 Schweizer Künstler: Der Basler Maler Hans R. Schiess und die Zürcher tektur und des Städtebaus, der neuzeitlichen Wohneinrichtung und nale wie das Irrationale. Exemplarisch kam diese Auffassung 1935 in sance erinnernden – Vorkämpfers einer progressiven Auffassung von Max Bill und Hans Fischli empfingen zwischen 1927 und 1929 ent- Produktgestaltung, der Fotografie, Typografie und Gebrauchsgrafik einer Ausstellung im Kunstmuseum Luzern zum Ausdruck. Unter Kunst zu danken, dass seit 1932 lebhafte Kontakte zu Abstraction- Du 872 | scheidende Anregungen in Dessau – bei Albers, Moholy-Nagy, Kan- zeigten die Anwendung der neuen Gestaltungsprinzipien, wie sie von dem Titel These, Antithese, Synthese wurden die wichtigsten Vertreter Création bestanden. So griff Bill Doesburgs Definition der «konkre- dinsky, Klee und Schlemmer. Andere Impulse gingen von der exem- den Vertretern des Stijl, des Bauhauses, der russischen Produktivis- des Purismus, der Abstraktion und des Konstruktivismus mit den ten Kunst» von 1930 auf und legte erstmals 1936 im Katalog der Aus- plarischen Weissenhofsiedlung in Stuttgart aus, die 1927 fertiggestellt ten um Boris Arwatow und von Le Corbusier vorgelegt worden waren. Vertretern der Pittura metafisica, des Dadaismus und des Surrealis- stellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik programma- wurde und Bauten international führender Architekten umfasste: Diese der Praxis verbundenen Ausstellungen unterstrichen die Tat- mus konfrontiert, mit dem eher platonischen Ziel, «synthetisch die tisch ihre Prinzipien dar. Die endgültige Formulierung fand dieser Die Schweizer Le Corbusier und Pierre Jeanneret, die dem Stijl ange- sache, dass sowohl die konstruktive Kunst wie das «funktionale Elemente einer neuen Kunst zu gewinnen». manifestartige Text im Katalog der Ausstellung Konkrete Zürcher hörenden Holländer J. J. P. Oud und Mart Stam, die Deutschen Walter Bauen» über alles Ästhetische hinaus eine vollständige Erneuerung Schon im folgenden Jahr zeigte das Kunsthaus Zürich unter dem Titel Kunst, die 1949 durch Deutschland wanderte. Gropius, Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer, Hans Scharoun der gesamten dinglichen Umwelt des Menschen zum Ziel hatten. Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik die Arbeiten von vier- Bills klare Umschreibung der konkreten Kunst hatte für seine gehörten dazu. Die Ausführung und die Ausstattung der beiden Häu- Starke Wirkungen gingen von der Russischen Ausstellung von zig Vertretern der konstruktiven und der surrealen Richtung. Die Weggefährten den Charakter einer Bestätigung und eines Ansporns: ser von Le Corbusier lag in den Händen des im Pariser Atelier von 1929 im Kunstgewerbemuseum Zürich aus, für die El Lissitzky das un- Ausstellung wurde zum Anstoss für die 1937 erfolgte Gründung der «Die konkrete Kunst ist etwas in ihrer Eigenart Selbständiges. Sie hat Le Corbusier arbeitenden Zürcher Architekten Alfred Roth, an der gewöhnliche Fotomontage-Plakat schuf und organisatorisch mitver- Allianz, einer Vereinigung moderner Schweizer Künstler. Im Rahmen eine gleichwertige Existenz neben der Naturerscheinung. Sie soll der Ausstattung der Bauten von Mies van der Rohe war der damals in antwortlich war. Auch diese Ausstellung zeigte die Zusammenhänge dieses Zusammenschlusses entfaltete sich die später als Schweizer Ausdruck des menschlichen Geistes sein, für den menschlichen Stuttgart als Innenarchitekt tätige Schweizer Camille Graeser beteiligt. von Kunst und Architektur, von freier künstlerischer Gestaltung und Konkrete bezeichnete Gruppe, die bis heute ihr Schwergewicht in Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe und Eindeutigkeit, von Eigentliche Vermittlerfunktionen hatten die Kunsthallen von industrieller Gebrauchsgüterproduktion, von Typografie, Fotografie, Zürich hat. jener Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geis- Basel und Bern sowie das Kunsthaus in Zürich. In heftig diskutierten Theater und Film. Die Probleme der «abstrakten Bühne» – bei Oskar Die Virulenz dieser konstruktiv arbeitenden Künstler mag ein tes erwartet werden kann.» Unter solchem Gesichtspunkt stellte Bill Ausstellungen liess sich im Lauf der Zwanzigerjahre eine gute Über- Schlemmer, László Moholy-Nagy und den russischen Konstruktivis- zusätzlicher Anstoss für Georg Schmidt gewesen sein, 1937 in der schon 1944 in der von ihm in der Basler Kunsthalle veranstalteten sicht über die aktuelle Kunst nicht nur in Frankreich, sondern auch ten – kamen 1931 in einer internationalen Theaterkunst-Ausstellung Kunsthalle Basel unter dem Titel Konstruktivisten eine in der Rück- Ausstellung Konkrete Kunst die Arbeiten seiner Schweizer Kollegen in in Italien, Belgien, Holland und Deutschland gewinnen. Von beson- in Zürich zur Darstellung. schau äusserst wichtige Ausstellung der Protagonisten zu zeigen. den Rahmen der internationalen konstruktiven Kunst. Dass die Allianz derer Wirkung war 1929 in der Kunsthalle Basel eine Ausstellung der Wortführer des Neuen, besonders der konstruktiven Kunst, Zum Teil mit vorzüglichen Werkgruppen waren vertreten: die Ost­ als Kerntruppe der konstruktiven Kunst nicht nur überleben, son- Bauhaus-Meister Albers, Feininger, Kandinsky, Klee und Schlemmer, wurden in Zürich das Kunstkritiker-Ehepaar Siegfried und Carola europäer Lissitzky, Malewitsch, Tatlin, Kliun, Rodtschenko, Gabo dern sich seit 1945 wachsenden Respekt verschaffen konnte, geht die von Aufführungen des Triadischen Balletts von Oskar Schlemmer Giedion-Welcker, in Basel Georg Schmidt, damals Kritiker und Leiter und Pevsner, Moholy-Nagy, Stazewski und Strzeminski; die Stijl-Ver- auch auf die Publikationen des von Max Bill betreuten Allianz-Ver­ und anderer Experimente der Bauhaus-Bühne begleitet war. Ähnli- des Kunstgewerbemuseums, später Direktor des Kunstmuseums. Sie treter van Doesburg, Mondrian, van der Leck, Vantongerloo, Vordem- lages und auf die ebenfalls von ihm in den Jahren 1944/45 für die ches gilt für eine internationale Ausstellung im Kunsthaus Zürich, bestärkten junge Künstler auf dem Weg zu einem konstruktiven berge; die Franzosen Hélion und Gorin, die Deutschen Richter, Dexel, Galerie des Eaux Vives in Zürich herausgegebene Zeitschrift Abstrakt, die 1929 Werke von vierzig Hauptvertretern der abstrakten und sur- Schaffen, orientierten über die Bedeutung des Bauhauses in Dessau Baumeister, Schwitters und Freundlich; der Schwede Eggeling; die konkret zurück.

in der Schweiz Kunst – die konkrete – Inkubation und Ausstrahlung Rotzler Willy realistischen Kunst vereinte. Mehr von praktischen Gesichtspunkten oder das «Gesamtkunstwerk» der Aubette in Strassburg. Sie stellten Engländerin Marlow Moss und schliesslich Alexander Calder. Als Innerhalb der Aktivitäten Bills behält das künstlerische Werk her leisteten die Kunstgewerbemuseen von Basel und Zürich lnfor- persönliche Kontakte zwischen ausländischer und lokaler Künstler- einzige Schweizerin zeigte Sophie Taeuber eine reiche Werkgruppe. stets eine zentrale Stellung. Malerei und Plastik gehen von Anfang an mationsbeiträge zu aktuellen Tendenzen. Aspekte der neuen Archi- schaft her. Bedeutungsvoll war überdies ihre animierende Wirkung Die Impulse dieser Ausstellung auf die konstruktiv arbeitenden nebeneinander her, ja sie gehören bei Bill eng zusammen, auch wenn auf einige Sammler in Basel, Bern und Zürich: In jenen späten Zwan- Schweizer und nicht zuletzt auf einige Sammler waren bedeutend. zigerjahren wurde der Grundstock für bedeutende schweizerische Mit dem vollen Einsatz seiner stimulierenden Persönlichkeit ver- Sammlungen konstruktiver Kunst gelegt; der Aufbau vollzog sich tiefte Georg Schmidt die Wirkung der Ausstellung. Der Schluss seiner weitgehend im persönlichen Kontakt mit den Künstlern. Erwerbun- Eröffnungsansprache wird bis heute zitiert: «Wenn die konstrukti- gen erfolgten meist im Entstehungsjahr der Werke – sei es von Mon­ vistischen Künstler die Naturerscheinung auch nicht mehr als Ge- drian, van Doesburg, Kandinsky, Klee, Arp oder Sophie Taeuber. Einige genstand der Kunst anerkennen mögen, so ist ihre Kunst umso tiefer dieser Sammlungen sind heute im Besitz schweizerischer Museen. gegründet auf dem Gehorsam und der Liebe gegenüber den Natur­

Amazon paf.biz Mit der Gründung der internationalen Vereinigung Abstraction- gesetzen. Gelöst von der Bindung an die Naturerscheinung und ge- Amazon paf.biz iTunes Glutmut.com Création 1931 in Paris fühlten sich jüngere, nicht figurative Schweizer bunden an die Naturgesetze, gibt diese Kunst dem erfindenden und iTunes Glutmut.com Presse Gästebuch Künstler in ihren Bemühungen bestärkt. Viele beteiligten sich fortan formenden Geist, der schöpferischen Fantasie die denkbar grösste Presse Gästebuch Über uns Impressum als Mitglieder an den Veranstaltungen der Gruppe. Ein enges Zusam- Freiheit. – Vom Betrachtenden aber verlangt diese Kunst drei Dinge: Über uns Impressum menrücken der Gleichgesinnten erwies sich zu Beginn der Dreissiger- stete Verfeinerung der Sinne, Heiterkeit des Gemüts und Wachheit jahre als notwendig. Die Weltwirtschaftskrise beraubte vor allem des Geistes. Und dem, der willig ist, ihre Sprache zu lernen, dem gibt die nicht gesellschaftskonformen, experimentellen künstlerischen sie diese drei Dinge, die das Kostbarste sind, was wir haben können, Tätigkeiten der Existenzgrundlage. mit Zinsen zurück: Verfeinerung der Sinne, Heiterkeit des Gemüts 1933 rückte mit der Machtergreifung durch die Nazis in Deutsch- und Wachheit des Geistes.» SWISS ART RADIO land die politische Unterdrückung aller experimentellen kulturellen Die Vereinigung Allianz verband nicht Künstler einer bestimm- GOLTON RADIO Aktivitäten in bedrohliche Nähe. Die fortschrittliche Kunst ging in ten Richtung, sondern vielmehr einer bestimmten Gesinnung, ähn- www.swiss-art-radio.ch den Untergrund oder wanderte aus Deutschland aus. Prag, Paris, Lon- lich wie in Basel die Gruppe 33. Von Anfang an stand nichtfigurative www.goltonradio.com

commercial-free and don, die Schweiz wurden zum Exil namhafter Vertreter der Moderne. Kunst im Vordergrund – sowohl in ihrer freien, organischen Ausprä- commercial-free and

without subliminals Diese sich verschärfende Notlage der freien Kunst in Deutschland gung, die sich auf Hans Arp berief, als auch in ihrer geometrisch-kon- without subliminals löste im Kreis der Schweizer Künstler, Kritiker, Museumsleiter und struktiven Tendenz, die sich an Sophie Taeuber-Arp und, im weiteren deutsch englisch Sammler Widerstandsbereitschaft aus. Sosehr die politische Schweiz Sinne, an die internationale konstruktive Kunst anschloss. Daneben deutsch englisch sich mit den deutschen Nachbarn arrangieren musste – im Bereich vertrat ein starkes Kontingent von Surrealisten den schweizerischen von Kunst, Literatur und Theater entfalteten die fortschrittlichen Hang zum Fantastischen und Grotesken. Seit dem ersten gemein­ Kräfte mit grosser Zivilcourage einen aktiven Widerstand. In Basel samen Auftreten dieser nur locker zusammengeschlossenen Gruppe entstand 1933 die Gruppe 33. Sie umfasste Expressionisten, Surrealis- war unverkennbar, dass ihr Schwerpunkt in der geometrisch-kon­ ten und Konstruktivisten; nicht die künstlerische Richtung, viel- struktiven Richtung lag. Darüber gibt der im Kriegsjahr 1940 heraus- mehr die Gesinnung zählte. Der Verzicht auf eine Fraktionierung in gegebene Almanach neuer Kunst in der Schweiz Aufschluss. Er enthält gegensätzliche gestalterische Tendenzen ist für die damalige schwei- die Namen der vorwiegend in Zürich domizilierten Künstler, die bis zerische Kunstsituation charakteristisch als Spiegelung der Toleranz heute als führende Vertreter der konstruktiven Kunst in der Schweiz dem Andersdenkenden gegenüber. Dem Konstruktivismus wie dem gelten. Surrealismus verpflichtete Künstler verteidigten gemeinsam die Sache Treibende Kraft innerhalb der Allianz war von Anfang an Max Die swiss-art-radio-app jetzt kostenlos im Apple App-Store der modernen Kunst, zweifellos aus der Einsicht, dass beide Seiten Bill. Es ist dem immer wieder entschlossenen Eingreifen dieses – in Free download of Golton-Radio-App at Apple App-Store zum Menschen gehören: das Bewusste wie das Unbewusste, das Ratio- seiner Vielseitigkeit an den uomo universale der italienischen Renais-

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Richard Paul Lohse, Reihenelemente zu rhythmischen Gruppen konzentriert, 1949/ 1956, Öl auf Leinwand, 90 × 90 cm, Kunsthaus Zürich.

Richard Paul Lohse. in der Schweiz Kunst – die konkrete – Inkubation und Ausstrahlung Rotzler Willy

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er sich in jedem der beiden Medien spezifische Probleme stellt. Dem tate so verschieden, so sehr durch individuelle Anlagen bedingt, dass werden. Anderseits kann die Erforschung der Gesetzlichkeiten von Johannes Itten genannt. Aus politischen Gründen war er 1938 von plastischen wie dem malerischen Schaffen gemeinsam ist, dass jedes Verwechslungsmöglichkeiten kaum bestehen. Vielleicht darf man Form und Farbe zu Einsichten in Systeme der Ordnung von Teilen zu kunsterzieherischen Tätigkeiten in Deutschland in die Schweiz zurück- Werk die scheinbar verblüffend einfache, elementare, darum zwin- sogar behaupten, dass die gestalterische wie die geografische Nähe einem Ganzen führen, die über die Kunst hinausreichen. Die Kunst gekehrt, um die Leitung der Kunstgewerbeschule in Zürich zu über- gende Lösung eines selbst gestellten Problems bedeutet. Die Evidenz über Jahrzehnte eine Art Stimulus blieb, sich neben den Kollegen zu erweist sich dabei als Experimentierfeld, auf dem unter günstigen, nehmen. Er konnte dadurch seinen Vorkurs, eine von ihm schon 1919 der gefundenen Lösung lässt die vorausgehenden, oft komplizierten profilieren. weil genau kontrollierbaren Bedingungen gearbeitet werden kann. bis 1923 als Meister am Bauhaus in Weimar mit ausserordent­lichem Überlegungen vergessen. Reduktion einer Fragestellung auf die ele- Charakteristisch dafür ist das Werk von Verena Loewensberg, Das Werk von Richard Paul Lohse ist als solche Forschungsarbeit oder Erfolg entwickelte, umfassende gestalterische Grundlehre, die heute mentare Möglichkeit, die sie noch zum Ausdruck bringt, den kleinsten die nach Begegnungen mit Auguste Herbin und Georges Vantonger- als Erkenntnismittel zu verstehen. Wesentlich für dieses Schaffen ist weltweite Anwendung findet, jungen Gestaltern und Künstlern mit- gemeinsamen Nenner sozusagen, und gleichzeitig höchste Perfek- loo seit den späten Dreissigerjahren an Ausstellungen der Gruppe die Verlagerung des gestalterischen Prozesses aus der Phase der Werk- teilen, aber auch seine auf den Prinzipien von Adolf Hölzel beru- tion in der materiellen Ausführung der Lösung, dieses Charakteris- beteiligt war. Zu den Besonderheiten im Schaffen von Verena Loewens- herstellung in die vorausgehende Phase der Planung, der Konzeption. hende Farbenlehre. Seit den Studienjahren war bei Itten neben der tikum gilt für alle Arbeiten Bills. Bill beschäftigt sich intensiv mit berg gehören scheinbar «irrationale» Formgebilde. Sie entstehen Um 1940 gewinnt die Vertikale als Ordnungsmittel wachsende Bedeu- kunstpädagogischen Arbeit das eigene malerische Schaffen einher- wissenschaftlichen Problemstellungen, sie sind indirekt schon in dadurch, dass einfache, geometrisch exakte Flächenformen zu schwer tung. Der Dualismus von Bildgrund und geometrischer Figur ver- gegangen. In den späten Zürcher Jahren kehrte er zur ungegenständ- seiner Definition der konkreten Kunst enthalten, von der er sagt, sie definierbaren Kompositformen gefügt sind, etwa Kreissegmente schwindet. Gleichzeitig löst die über die ganze Fläche gelegte «ano- lichen Malerei zurück. Wiederum interessierten ihn horizontal-ver- sei Ausdruck des menschlichen Geistes, sie strebe Eindeutigkeit an, von zunehmendem Radius zu rundlich-eckigen Formgebilden, deren nyme» Vertikalstruktur das individuelle Bildmotiv ab. Die seit 1942 tikale Bildordnungen, teils streng orthogonal, teils frei geometrisch, suche nach dem Gesetz. Da Malerei und Plastik zunächst Probleme Konstruktion kaum mehr ablesbar ist. In diesen Zusammenhang ge- entstehenden «Vertikal-Rhythmen» stehen am Anfang der seitheri- als «musischer» Umgang mit Flächenordnungen, wie wir sie bei Ittens der Fläche, des Körpers und des Raumes stellen (die Farbe zusätzlich hören auch dynamische Formdehnungen oder Formdeformationen gen Untersuchungen Lohses. Jugendfreund Paul Klee aus dessen «konstruktiven Phasen» kennen. Probleme der Optik und der Physiologie), ist es natürlich, dass Bill im Raum, mit denen Prinzipien der Op-Art der späten Fünfzigerjahre Ausgangspunkt sind standardisierte Normelemente; sie wer- Was Itten vom Kreis um Max Bill unterschied, war seine Überzeu- sich in Fortführung von Überlegungen anderer konstruktiver Künst- vorweggenommen sind. Wie eigenständig die gefundenen Lösungen den zu Gruppen gefügt, die als Thema verstanden werden. Das Thema gung, dass das kühl Rationale oder Konstruktive stets der Ergänzung ler vor allem mit Geometrie, Stereometrie und Trigonometrie, mit in diesem stark auf das Koloristische ausgerichteten Schaffen sind, übernimmt die Funktion des Standardelementes und kann gereiht, durch das Emotionale, das Expressive bedarf. Permutation und Gleichungen beschäftigt, also mit Mathematik. In zeigt der Vergleich mit Bildern von Max Bill, denen sie im Lösungs­ wiederholt werden. «Ich versuche, ein Bild mit möglichst einfachen Zu den Mitbegründern der Allianz gehörte der in Zürich gebo-

in der Schweiz Kunst – die konkrete – Inkubation und Ausstrahlung Rotzler Willy der Überzeugung, dass Mathematik und Kunst vieles miteinander ansatz am ehesten anzunähern sind. Grundelementen zu gestalten: Quadrat, Linie, Band-Elemente, die in rene Fritz Glarner. Den Auftakt zu seinem konstruktiven Schaffen gemeinsam haben, steht Bill in einer langen Kette von Vorläufern. Ähnliche Unterschiede zum Werk der Kollegen zeigen sich einem strukturellen Zusammenhang mit der Bildbegrenzung stehen.­ bilden Abstraktionen von Aussen- und Innenräumen, mit denen er Wer mit emotionalen oder thematischen Ansprüchen an die auch in der Malerei von Camille Graeser. Der gebürtige Genfer war Seit 1943 verwende ich ausschliesslich rektanguläre Mittel.» Mit 1936 auf der Ausstellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Kunst herantritt, begegnet der konstruktiven Kunst, wie sie gerade früh nach Stuttgart übergesiedelt. 1933 kehrte er in die Schweiz zu- einem einfachen Instrumentarium anonymer Bildmittel, einer Art Plastik in Zürich vertreten war. Architektonische Formkomplexe sind Bill vertritt, mit dem Vorwurf, hier würden lediglich mathematische rück, schuf seit 1938 in Zürich ein zunehmend eigenständiges male- Mikrozellen, entwickelt er Systeme, deren Besonderheit die Variabi- in geometrische Flächenformen zerlegt, die – zumeist mit zarten Tatsachen mit bildnerischen Mitteln veranschaulicht. Davon kann risches Werk. Nach Versuchen einer freien zweidimensionalen Bild- lität ist. Im Umgang mit systematisch geordneten Gruppen stösst er Linien konturiert – in fast monochromem Aufbau sich ineinander, nicht die Rede sein. Bill hat mit Recht immer wieder darauf hin­ gestaltung, an der auch gekurvte Formen beteiligt sind, konzentrierte auf das Problem der Farbreihe: Die Farbe wird zur Form, die Form­ übereinander und hintereinander schieben. Diese Architekturkon­ gewiesen, dass Kunst und Mathematik voneinander unabhängige sich Graeser bald auf geradlinige Bildordnungen. Er versteht dabei struktur zur Farbstruktur. Farbe und Form heben sich als Gegensatz struktionen sind die unmittelbaren Vorläufer der Relational Paintings, Bereiche mit ihren Eigengesetzlichkeiten seien, dass aber vom Kon- die Bildfläche als einen Ort sowohl statischer Ruhe wie dynamischer auf. Hier liegt ein Ansatz für das von Lohse vielfach erprobte Prinzip die in New York, wohin Glarner 1936 übergesiedelt ist, unter dem zept der konkreten, speziell der konstruktiven Kunst her enge Bezie- Bewegung. Deutlich kommen die erforschten Themen in den Bild­ der Farbmengengleichheit innerhalb des Bildes. Im Wesentlichen Eindruck der Grossstadtarchitektur und in der freundschaftlichen hungen zu mathematischen Problemstellungen und Arbeitsmetho- titeln zum Ausdruck: das Dynamische in Begriffen wie Rhythmus, sind es zwei verschiedene Ordnungsprinzipien, die Lohses Werk be- Auseinandersetzung mit Piet Mondrian entstehen. den bestehen. Im Aufsatz Die mathematische Denkweise in der Kunst Konzentration, Rotation, Progression, Kontakt, Kräfteschub, Energie, stimmen: die modularen und die seriellen Ordnungen. Unter Modul Die konstruktive Kunst der Schweiz, um 1940 das leidenschaft- unserer Zeit hat Bill 1948 zu diesen Fragen Stellung genommen: Diese Dislokation; noch häufiger das Statische in Begriffen wie Konkretion. ist eine oft quadratische Standard-Masseinheit zu verstehen, mit liche Anliegen eines kleinen Kreises, hat sich in den folgenden Jahr- Kunst ist nicht mehr Abbild, sondern neues System, «Vermittlung Lozierung, Koordination, Äquivalenz, Relation, Polarität. Sosehr der durch bestimmte Manipulationen eine vorbedachte Ordnung zehnten zu einer breiten, reich verzweigten Bewegung entwickelt, elementarer Kräfte auf sinnlich wahrnehmbare Weise». Der Text Graeser am formalen Thema interessiert ist, so sehr beruht die Wir- entsteht: durch Drehung um ein Zentrum oder eine Achse, durch die bis heute eine wesentliche Komponente der Kunstszene geblie- schliesst mit der Bemerkung: «Die Kunst hat Gebiete erfasst, die ihr kung seiner klaren, durch ihre grosszügige Einfachheit bestechen- Reihung, Verschränkung. Durchdringung, durch Progression oder ben ist. Da in internationaler Sicht die Schweiz seit den Dreissiger- früher verschlossen waren. Eines dieser Gebiete bedient sich einer den Kompositionen in erster Linie auf ihrer farbigen Haltung. Es ist Degression, durch Bewegung in horizontaler, vertikaler, diagonaler jahren ein Hort des konstruktiven Denkens war, wurden bei der mathematischen Denkweise, die trotz ihrer rationalen Elemente keineswegs eine emotionale Farbenwahl, im Gegenteil: In der Regel Richtung. Wie die gewählte Operation wechselt auch das Modul. Wiedereröffnung der tatsächlichen und der geistigen Grenzen von viele weltanschauliche Komponenten enthält, die bis über die Gren- beschränkt sich Graeser auf das Arbeiten mit Primär- und Sekundär- In den Arbeiten serieller Ordnung, die sich in vertikalen Band- der Schweiz aus konstruktive Konzepte in die umliegenden Länder zen des Unabgeklärten hinausführen.» In seiner Malerei ist Bill Mitte farben; das Prinzip des Komplementärkontrastes trägt entscheidend strukturen ankündigt, besteht eine Identität von Bildfläche, Form­ ausgestrahlt. der Dreissigerjahre von «Konstruktionen» ausgegangen, die nach zur Richtigkeit und Wirksamkeit des Farbschemas bei. Formverhält- struktur und Farbstruktur. Entscheidend für Lohses Schaffen ist die einem konsequent durchgehaltenen Prinzip Flächenteilungen zei- nisse sind in diesem Werk stets auch Farbverhältnisse. Die Gleichheit methodische Konsequenz, mit der in offenen, flexiblen Systemen Der Text entstammt dem Buch Konstruktive Konzepte von Willy Rotzler, gen oder umgekehrt den Aufbau eines Ganzen aus aufeinander bezo- von Farbmengen spielt oft die entscheidende Rolle. Das komposito- operiert wird. Dabei zeigt sich, dass die Strukturschemata jeweils das 1977 erschienen ist. genen Elementen. Die Konstruktion von 1937 ist ein solches Beispiel. rische Ordnungsprinzip, stets von nachvollziehbarer Logik, wenn genau auf das Bildfeld bezogen sind, jedoch nach dem zugrunde lie- Es gehört in den Zusammenhang der 1935/38 entstandenen lithogra- auch oft nicht spontan ablesbar, beruht auf einer horizontalen oder genden kombinatorischen Prinzip über dieses hinaus erweitert wer- fischen Folge Fünfzehn Variationen über das gleiche Thema. Der Begleit- horizontal-vertikalen Teilung der Gesamtfläche; die Beziehungen den können. Diese Möglichkeit verweist nicht nur auf die Relativität text erläutert nicht nur das Prinzip dieser linearen und flächigen, werden nicht nur in den Ausmassen der Teilflächen, sondern auch von Dimensionen, sondern vor allem auf die Unlimitiertheit der ein- und mehrfarbigen Variationen einer einzigen Idee; er unter- in den sie definierenden Farben gesucht. Am deutlichsten kommt Strukturgesetze. In Lohses Malerei gibt es keine Haupt- und Neben- streicht auch das Exemplarische einer solchen Unternehmung. Bill dies in jenen Werken zum Ausdruck, die bestimmte Flächen- und formen, also kein hieratisches Prinzip. Er nennt seine Strukturen zeigt, welche Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten gegensätzlichen Cha- Farbrelationen ausschliesslich in horizontalem Streifenrhythmus demokratisch: Die Elemente bedingen sich gleichberechtigt im Willy Rotzler, geboren 1917 in Basel, gestorben 1994 in Hausen am Albis, rakters in einer einzigen tragfähigen Grundidee steckt. Damit wurde zeigen. Diese Streifenbilder, seit 1960 immer wieder aufgegriffen, System, in gegenseitiger Abhängigkeit bilden sie das Ganze. Damit studierte Kunstgeschichte, Archäologie und deutsche Literatur in Basel und diese Folge zu einer Art Schlüssel für das Verständnis sowohl von nehmen malerische Werke der amerikanischen Minimal Art vorweg, gewinnt diese Kunst einen Modellcharakter, der über das Bildneri- Bern. Zwischen 1944 und 1948 war er Lektor in einem Basler Kunstverlag, Bills eigenem Schaffen wie der konkreten Kunst überhaupt. ohne dass irgendwelche Zusammenhänge beständen. sche hinausweist. «Serielle und modulare Gestaltungsmethoden danach bis 1961 Konservator am Kunstgewerbemuseum Zürich und von 1962 Die Gesinnungsverwandtschaft unter den Zürcher Künstlern Graeser selbst beschränkt sich darauf, seine bildnerischen sind durch ihren dialektischen Charakter Parallelen zum Ausdruck bis 1968 Redaktor von Du. Von 1969 bis 1976 war Rotzler Mitglied der Eid­ konkreter Richtung hat weder zu Anfang noch in der weiteren Ent- Ideen in seinen Werken zu realisieren, er überlässt es dem Betrachter, und zur Aktivität in einer neuen Gesellschaft.» genössischen Kunstkommission, 1974 bis 1988 Präsident der Kunstkommis­ sion der Stadt Zürich, 1985 Mitgründer des Vereins Kunsthalle Zürich und wicklung der einzelnen Persönlichkeiten zu gleichartigen Werken sie über das Schauvergnügen hinaus als Denkanstösse zu benutzen. Ohne im engeren Sinne der Konkreten-Gruppe anzugehören, 1987 Mitgründer der Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst. Zahlreiche geführt. Wohl begegnen uns oft ähnliche Problemstellungen, und die Beschäftigungen mit rein bildnerischen Problemen schliessen die haben sich nach 1945 zahlreiche Maler und Bildhauer zu einem kon- Publikationen zur zeitgenössischen Kunst und Kunstszene. 1993 bekam er Schritte zu ihrer Visualisierung gleichen sich; jedoch sind die Resul- Gefahr in sich, zum ästhetischen Formenspiel im Elfenbeinturm zu struktiven Schaffen bekannt. Von ihnen sei als bedeutende Figur die Heinrich-Wölfflin-Medaille der Stadt Zürich.

30 | 31 Verena Loewensberg, fotografiert von Binia Bill, der Ehefrau von Max Bill.

Du 872 Nach der Trennung von ihrem Ehemann | Hans Coray – dem Möbeldesigner, der den weltberühmten Landi-Stuhl schuf – verband Verena Loewensberg mit Max und Binia Bill eine lebenslange Freund- schaft.

Rechts: Verena Loewensberg, ohne Titel (Bezeichnung auf Keilrahmen, verso: V. Loewensberg 53), 1953, Öl auf Leinwand, 91 × 91 cm, Nachlass Verena Loewensberg, Henriette Coray Loewensberg,­ Zürich. in der Schweiz Kunst – die konkrete – Inkubation und Ausstrahlung Rotzler Willy

32 | 33 Du 872

Drei Generationen Bill

MAX BILL KONKRETE KUNST

«Konkrete Kunst nennen wir jene Kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen Mittel und Gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche Anleh- nung an Naturerscheinungen oder deren Transformierung, also nicht durch Abstraktion – entstanden sind. Konkrete Kunst ist in ihrer Eigenart selbstständig. Sie ist der Ausdruck des menschlichen Geistes, für den menschlichen Geist bestimmt, und sie ist von jener Schärfe, Eindeutigkeit und Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden muss. Konkrete Malerei und Plastik ist die Gestaltung von optisch Wahrnehmbarem. Ihre Ge- staltungsmittel sind die Farben, der Raum, das Licht und die Bewe- gung. Durch die Formung dieser Elemente entstehen neue Realitäten. Vorher nur in der Vorstellung bestehende abstrakte Ideen werden in konkreter Form sichtbar gemacht. Konkrete Kunst ist in ihrer letzten Konsequenz der reine Ausdruck von harmonischem Mass und Gesetz. Sie ordnet Systeme und gibt mit künstlerischen Mitteln diesen Ord- nungen das Leben. Sie ist real und geistig, unnaturalistisch und den- noch naturnah. Sie erstrebt das Universelle und pflegt dennoch das Einmalige. Sie drängt das Individualistische zurück, zugunsten des Individuums.» (Revidierte Version der Texte von 1936 und 1944. Erschienen im Katalog zur Wanderausstellung in Deutschland, Zürcher konkrete Kunst, 1949.)

Max Bill wurde am 22. Dezember 1908 in Winterthur geboren. Nach einer Ausbildung zum Silberschmied an der Kunstgewerbeschule in Zürich ging er als Student ans Bauhaus in Dessau. Zurück in Zürich, war er auf vielen Gebieten tätig: als Architekt, Maler, Grafiker, Plastiker, Publizist, Produktgestalter, Theo- retiker und Politiker. Anfang der Fünfzigerjahre gründete Max Bill gemein-­ sam mit anderen Weggefährten die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Daneben war er Mitglied diverser Vereinigungen und Kommissionen. Für seine Werke, die seit Mitte der Zwanzigerjahre in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellun- Max Bill, Rhythmus gen weltweit gezeigt wurden, wurde er mit vielen Preisen und Ehrungen aus- in fünf Farben, 1985, gezeichnet. Bill starb am 8. Dezember 1994 in Berlin. 100 × 100 cm.

34 | 35 Du 872 | Drei Generationen Bill Drei Generationen

JAKOB BILL FARBFREIHEIT

«Mit Farben kann man auf vielfältigste Art umgehen. Farbenlehren gibt es viele. Unter ihnen sind jene von Goethe, Ostwald und Itten in der neueren Kunstproduktion bekannt. Albers untersuchte ganze Farbkombinationen und Abstufungen in seiner Interaction of Color. Meine Bilder bestehen oft aus zwei unterschiedlichen Syste- men. Das eine ist das formale Grundgerüst – sozusagen der Raster –, das andere sind aus der Unendlichkeit herausgegriff ene Farben, die sich entlang des Grundgefüges verwandeln. Seit mehreren Jahren fasziniert mich, dass das gemalte Bild eigentlich lediglich einen Aus- schnitt aus einem konkret erdachten Universum darstellt. Das Bild- motiv setzt sich somit für den aufmerksamen Betrachter ausserhalb des Bildes – auf der Wand als Hintergrund – fort und lässt dem Be- trachter auch einen gewissen Spielraum, das imaginäre Umfeld selbst zu ergänzen. Die Kombinationsmöglichkeiten innerhalb der für den Menschen wahrnehmbaren Farbskala sind unerschöpfl ich. So kön- nen ganz zarte, kaum wahrnehmbare Farben oder dann völlig diame- trale beziehungsweise in komplementärer Kombination auftretende gegenläufi ge Farbwandlungen genutzt werden. Aber auch Schwel- lungen – an Farbintensität oder Ablaufgeschwindigkeit – können dargestellt werden. Es ist eigentlich wie in der Grammatik: Man kann deklinieren und konjugieren, und jedes Mal gibt es einen anderen Sinn, bei der Malerei ein anderes Bild. Es ist dabei meine künstleri- sche Freiheit, die entsprechenden Ausschnitte farblich und formmäs- sig festzulegen und als Bild darzustellen.»

Jakob Bill wurde am 2. Juli 1942 als Sohn von Binia und Max Bill in Zürich Max Bill, Zerstrahlung geboren. Als Künstler ist er Autodidakt. Nach dem Studium der prähistorischen von Rot, 1972/1973, Öl und klassischen Archäologie sowie der Kunstgeschichte promovierte er 1971 auf Leinwand, 88 × 88 cm, Jakob Bill, No. 16, in Ur- und Frühgeschichte. Seit den Sechzigerjahren werden seine Werke Sammlung Museum 1987, Öl auf Leinwand, in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Haus Konstruktiv, Zürich. 140 × 140 cm. Jakob Bill lebt und arbeitet in Adligenswil LU und Pianezzo TI.

36 | 37 Du 872 | Drei Generationen Bill Drei Generationen

DAVID BILL RAUMKONTRASTVERHÄLTNISSE

«Die Th ematik, die mich interessiert, sind die Raumkontrastverhält- nisse, zu deren Th eorie ich selber fand. Multidimen sionale Raum- kontrastverhältnisse resultieren in den Variablen zwischen Struktur und Kontrast. Die Variablen sind Gleichungen, Asymmetrie oder Ver- hältnisse im Objekt oder die Beziehung von Objekten zueinander. Sie bestimmen die Th ematik anhand gege bener Umstände, Faktoren, die die Umgebung (der Raum) bietet. Dadurch können diese in eine Glei- chung, Asymmetrie oder in deren Verhältnismässigkeit bezogen wer- den. Dies bildet das Raumkontrastverhältnis bei der Objektgestaltung im Raum. Die Entwicklung meines Werkes liegt darin, dass ich die Th ema- tiken der Konkreten, Kinetischen und Konstruktiven mische. Durch die Kenntnis dieser Th ematiken bleibt mir die Möglichkeit, weg von der Fläche in den Raum zu greifen. In der Reduktion gehe ich zum Punkt und zum Kontrast. Vom Punkt zur Linie, zum Quadrat und zum Kubus. Dies ergibt Raum, der geteilt, eingeteilt und strukturiert wird. Dadurch entstehen Aussen- und Innenfl ächen sowie extrahierte Elemente, die durch Kontrast eingeteilt werden. Durch Veränderung oder Entwicklung des Raumes, des Kontrastes und der Th ematik kön- nen neue Raumkontrastverhältnisse entstehen. Im zweiten Schritt fand ich dann wieder den Weg an die Wand, von Raumobjekten zu Wandobjekten. Konkret ist der Gedanke des klar strukturierten Raumes, also der Kuben oder neu angeordneten Elemente, die Teilung auf der Flä- che, im Raum und der Kontrast Schwarz/Weiss. Das Konstruktive entspricht dem Aufeinander- oder Aneinan- derbauen der Kuben, die zum Teil auch verdreht werden. Es können auch verschiedene Elemente ineinandergreifen. Die Kinetik entsteht durch Kausalität – im Sinne von Ursache und Wirkung, von notwen- diger Verknüpfung einer geistigen Reaktion – bei der räumlichen Verwertung des Raumkontrastverhältnisses durch Symbiose. Das Werk meines Grossvaters und meines Vaters war Ursache und die Wirkung/Reaktion mein Werkbeginn. Die Kausalität – im Sinne eines Gegenstandes, der sich abhängig von Th ematik und Th eorie kontinuierlich gleichartig entwickelt – re- sultiert in den Raumkontrastverhältnissen. Sie sind Unikate, von Hand in mehreren Arbeitsgängen gefertigt, für den geistigen Genuss.»

David Bill wurde am 3. Oktober 1976 in Zürich geboren und ist der Sohn von Jakob und Chantal Bill. Nach Abschluss einer Ausbildung als Schmied setzte David Bill, Diagonal- er sich vermehrt mit der konkreten Kunst auseinander und entwickelte sie Jakob Bill, 2015 No. 5, rhythmus von zwei als Autodidakt weiter. Er lebt und arbeitet in Giswil OW. Er war in verschiedenen Öl auf Leinwand, diagonal Kubenstrukturen, 2007, Einzel- und Gruppenausstellungen in der Schweiz, in Frankreich, im Fürsten- 170 cm. 45 × 45 × 45 cm. tum Liechtenstein, in Österreich und Deutschland vertreten.

38 | 39 Du 872 | Drei Generationen Bill Drei Generationen

Jakob Bill, Sohn von Binia und Max Bill, 2014 im Alter von 72 Jahren.

Max Bill, 1956 im Alter von 47 Jahren.

David Bill, Sohn von Chantal und Jakob Bill, 2005 im Alter von David Bill, Kubus mit drei rhythmischen Ausschnitten, 2008, 30 × 30 × 30 cm. 29 Jahren.

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Es ist immer jetzt, aber auch ein bisschen gestern und morgen

Das konstruktiv-konkrete Erbe im Spiegel der Gegenwartskunst.

Text SABINE SCHASCHL

Installationsansicht Museum Haus Konstruktiv aus dem Jahr 2013: Claudia Comte, Easy Heavy III, 2013, Wandmalerei, Acryl auf Wand; und Eye to Eye 6/12, Eye to Eye 9/12, Eye to Eye 1/12, alle 2013, Sammlung Museum Haus Konstruktiv, Zürich.

Moderne. Es ist vor allem die geometrisch-abstrakte Kunst, die jener Kunst gelesen werden. Ihre Kombination mit dem Flirren des Zick- Überblickt man die wichtigsten Kunstveranstaltungen unserer Tage, «Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil wir die Zeit des Unabhängigkeit gegenüber der sichtbaren Welt am nächsten kommt. zackmusters generiert einen vermeintlich kausalen Bedeutungszu- die Kasseler Documenta etwa, die Manifesta (als eine von mittlerweile Suchens und der spekulativen Experimente hinter uns Die künstlerische Beschäftigung mit Punkten, Geraden, Winkeln, sammenhang zwischen beiden Arbeiten. Betrachtet man das Werk zahlreichen Biennalen) oder die Ausstellungen der massgeblichen gelassen haben. Ebenen und Flächen rückt viele dieser Werke in die Nähe mathema- Comtes nochmals im Hinblick auf van Doesburgs Text zur Grundlage Museen und Kunstinstitutionen, so wird schnell augenfällig, dass Auf der Suche nach Reinheit waren die Künstler tisch definierter Systeme, die innerhalb einer strukturellen Ordnung der konkreten Malerei, so ergeben sich verblüffende Parallelen: «Wir die ungegenständliche Kunst einen markanten Anteil des Gezeigten gezwungen, die natürlichen Formen, die die bildneri- zahlreiche Variationsmöglichkeiten offenlassen. Teil der künstleri- sind Maler, die denken und messen (…) Die Konstruktion, die in Be- ausmacht. Bei genauerer Hinterfragung zeigt sich, dass diese nicht schen Elemente verdeckten, zu abstrahieren, die schen Strategie kann auch das bewusste Ausbrechen aus einer ein- ziehung zur eigentlichen Bildfläche oder zu dem von den Farben ge- gegenständliche Kunst vielfach auf Konzepte der Moderne – und ins- Naturformen zu zerstören und sie durch Kunstformen mal definierten Ordnung sein, der kalkulierte Einbruch des Zufalls, schaffenen Raum steht, kann vom Auge kontrolliert werden. (…) Vor besondere der konstruktiv-konkreten Richtung – rekurriert: auf den zu ersetzen. das Gegeneinandersetzen von Ordnung und Chaos. seiner materialen Verwendung existiert das Kunstwerk bereits voll- Verzicht auf jede Art von Abbildhaftigkeit zugunsten einer autono- Heute ist die Idee der Kunstform ebenso überholt wie ständig im Geist. Folglich muss sie eine technische Perfektion auf- men Werk­idee, auf das Schöpfen aus den genuin bildnerischen oder die der Naturform. Ein humorvoller Blick in die Vergangenheit weisen, die der Perfektion des geistigen Entwurfs entspricht. Sie darf plastischen Mitteln Farbe, Form, Fläche, Volumen, auf die Tendenz Mit unserer Konstruktion der geistigen Form hebt die Ein Beispiel für das Fortbestehen konstruktiv-konkreter Konzeptio- keine Spur menschlicher Schwäche zeigen: kein Zittern, keine Unge- zur Selbstreferenzialität und das Spiel mit formalen, (quasi-)wissen- Epoche der reinen Malerei an. nen bezeugt das Werk der Künstlerin Claudia Comte. Ihre Arbeiten nauigkeit, keine Unschlüssigkeit, keine unvollendeten Partien usw. schaftlichen und systematischen Methoden. Auch in den Auseinan- Sie ist die Konkretisierung des schöpferischen Geistes. zeichnen sich durch präzise Untersuchungen der Beziehungen zwi- (…) Wir wollen keine künstlerische Handschrift. (…) Alle vom Intel- dersetzungen mit visionären Architekturkonzepten, in Materialexpe­ ­ Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil nichts konkreter, schen den Bildsprachen der Kunstgeschichte und der Populärkultur lekt zum Zwecke der Perfektion erfundenen Hilfsmittel werden emp- rimenten und der künstlerischen Erprobung neuer Medien lässt sich nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine aus. Die speziell für das Museum Haus Konstruktiv in Zürich konzi- fohlen.» 2 Mit den Hilfsmitteln sind Zirkel, Lineal und dergleichen eine Weiterführung des konstruktiv-konkreten Erbes in die Gegen- Fläche.» 1 pierte Wandmalerei Easy Heavy III (2013) zeigt ein Zickzackmuster gemeint. Claudia Comtes Wandmalerei wurde mit exakt gesetzten wart erkennen. Der vorliegende Text will dieses Fortwirken anhand mit regenbogenartigen Farbverläufen von Gelb zu Orange, Rot, Vio- Masspunkten und Klebebändern vorbereitet und die Farbe schliess- von ausgewählten Beispielen der Gegenwartskunst aufzeigen. Van Doesburg verdeutlichte hier, dass die konkrete Kunst nicht nach lett, Indigo und Blau. Vergleichbar mit Werken der Op-Art, etwa von lich mittels Rollen aufgetragen. Ihre Künstlerschaft ist mithin nicht Zu Beginn seien die Grundprinzipien der konstruktiv-konkre- einem Abbild oder der abstrahierenden Darstellung bereits existie- Victor Vasarely, rufen die Zickzacklinien einen visuellen Vibrations- im Pinselstrich, sondern vielmehr in der Konzeption des Werks zu ten Kunst in Erinnerung gebracht. 1930 veröffentlichte der nieder- render Dinge strebt, sondern aus den konkreten Mitteln der Kunst effekt hervor. Integriert in die Wandmalerei sind drei ellipsenförmige finden. ländische Künstler Theo van Doesburg gemeinsam mit einigen Mit- selbst und durch die geistige Konzeption gestaltet wird. Er folgte dem Leinwände, die mit weissen und schwarzen Kreisformen bemalt sind. streitern das zweiteilige Manifest der konkreten Kunst: Die Grundlage Verständnis, dass die unabhängig von der Natur und der äusseren Dass sie an die Augen von Comicfiguren erinnern, ist kein Zufall: Eine feministische Demontage der konkreten Malerei und Kommentare zur Grundlage der konkreten Welt entstandenen, autonomen Werkschöpfungen ebenso real sind Comte hat sich von der bei Warner Bros. produzierten Cartoonfigur Ein ebenso gewitzter und kritischer Umgang mit dem kunstge- Malerei. Es erschien in der ersten und einzigen Nummer der Zeit- wie die Welt selbst. Auf dieser Grundidee einer Kunst, die weder Road Runner zu dieser Gemäldeserie Eye to Eye (2013) inspirieren las- schichtlichen Erbe charakterisiert das Werk der Künstlerin Sylvie schrift AC – Numéro d’introduction du groupe et de la revue Art Concret. nachbilden noch symbolisch auf etwas anderes als auf sich selbst sen. Elementare Form und Abbild zugleich, können die schielenden Fleury. Ihr Augenmerk ist dabei immer wieder auf die von Männern Ein Kernpassus darin lautet: verweisen muss, basiert eine Vielzahl der Kunstproduktionen seit der Augen als eine humorvolle Antwort auf die Strenge der konkreten dominierte Welt der konstruktiv-konkreten Kunst gerichtet, einer

42 | 43 Du 872 | Sabine Schaschl – Es ist immer jetzt, aber auch ein bisschen gestern und morgen

Performance von Sylvie Fleury mit Frauen in Mondrian-Kleidern am 1. Juni 2016 anlässlich der Vernissage der Aus- stellung Um die Ecke Sylvie Fleury, Composi­ denken im Museum Haus tion dans le carré Konstruktiv, Zürich. avec coin rouge, peinture (Rechts hinten: Besu- n° 3, 1992, Acryl auf cher, die nicht Teil der Holz, künstlicher Pelz, Performance sind.) 149 × 149 cm.

44 | 45 William Kentridge, Untitled (Portable Monuments), 2010,

Du 872 Photogravure-Print, | Zucker-Aquatinta, Kaltnadel.

Kunst, die seit den 1930er-Jahren zunehmend mit traditionell männ- Suprematismus verschriebenen Künstler nach einer Kunst, die ihre lich konnotierten Begriffen wie Logik, Mathematik, Struktur, System, gesellschaftspolitischen Ideen verkörpern sollte, ohne auf etwas Wissenschaftlichkeit und Exaktheit in Zusammenhang gebracht ­ausserhalb­ des Werkes Existierendes zu verweisen. Gegenstandsfreie wurde. Umso hintergründiger sind Fleurys Appropriationen von Kunst konnte weder Metapher noch Allegorie sein. Der Kunsthisto- Werken Piet Mondrians, etwa ihre Composition dans le carré avec coin riker Andréi B. Nakov fasst dies wie folgt zusammen: «Diese ‹neue rouge, peinture n° 3 (1992). Fleury übersetzt dessen klar gegliederte Vision› ist gleichzusetzen mit einem Wandel der Zivilisation, sie ist Kompositionen ins Grossformat und fügt anstelle der von Mondrian der radikalste intellektuelle Wandel im europäischen Denken der Sabine Schaschl – Es ist immer jetzt, aber auch ein bisschen gestern und morgen verwendeten Ölfarbe an ausgewählten Stellen farbigen Plüsch ein. letzten Jahrhunderte.» 3 Der russische Konstruktivismus wurde zu Bedenkt man, dass Mondrian ab 1932 die sogenannte Doppellinie – einem Referenzmodell für westeuropäische Bewegungen um die ge- ein Kompositionselement aus zwei dünnen, parallel verlaufenden genstandslose Kunst, allen voran der De-Stijl- und Bauhaus-Künstler, Linien – in seine Werke einführte, ohne deren Erfinderin, die briti- der in Frankreich agierenden Gruppierungen Abstraction-Création sche Künstlerin Marlow Moss, auch nur zu erwähnen, so wird das und Cercle et Carré sowie der Zürcher Konkreten. Spiel der Zitate ein doppelt ironisches: Mondrian eignet sich die ­Doppellinie als wichtige Neuerung seines Neoplastizismus an, ohne Neues Zeitalter, neue Medien Moss zu erwähnen, und Fleury macht sich die Kompositionen Mon­ Die konstruktiv-konkrete Kunst hat mit ihrem systematischen An- drians mit einem feministischen Augenzwinkern zu eigen, indem satz und ihren auf Mathematik und Logik ausgerichteten Gestal- William Kentridge, Untitled (You sie ein weiblich konnotiertes Material hineinschmuggelt. Auch in tungsprinzipien die Basis der Computerkunst geschaffen. Folgt man Are Lying), 2010, Photogravure-Print, ihrer Performance anlässlich der Vernissage zur Ausstellung Um die den Erörterungen der konkreten Künstlerin und Computerpionierin Zucker-Aquatinta,­ Kaltnadel. Ecke denken am 1. Juni 2016 im Museum Haus Konstruktiv griff die Vera Molnar, so wird klar, dass ihren gezeichneten Bildkonzeptionen Künstlerin das Thema der gesellschaftspolitisch bedingten Abwesen- und den daraus entwickelten Abwandlungen der binäre Code der heit von Künstlerinnen in der Kunstgeschichtsschreibung (vor allem Computersprache eingeschrieben ist. Ab 1959 systematisierte sie ihre im Feld der gegenstandslosen Kunst) auf und stellte es humorvoll zur künstlerische Arbeit mithilfe einer Technik, die sie als machine ima- Diskussion: Sie liess Frauen in Cocktailkleidern, deren Design an die ginaire bezeichnete – als einen imaginierten Computer also, für den Mondrian-Kleider aus Yves Saint Laurents Herbstkollektion von 1965 sie ein Programm entwarf, mit dem sie Schritt für Schritt einfache,­ erinnert, Bücher über Künstlerinnen lesen, die abstrakte Werke ge- begrenzte Bildserien entwickelte. «Die Handlungsanweisung lautete: schaffen haben. Fleury spielte damit zugleich auf den Transfer kon- Setze innerhalb eines Quadratrasters parallele Linien, und variiere struktiv-konkreter Werke in die Welt der Werbung und des Konsums die Ausrichtung (horizontal, vertikal, diagonal) und die Stärke der an und überführte die der Kunst entsprungene Warenwelt zurück in einzelnen Linien sowie deren Dichte.» 4 den Kunstkontext. Die zunächst gezeichneten bzw. in Malerei umgesetzten Linien­ kompositionen wurden ab 1968 unter Einsatz eines echten Compu- Revolutionskunst ! ters geplottet. Die Kunst Vera Molnars markiert somit eine Schnitt- Eine völlig andere Art der Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte stelle, an der sich der konstruktiv-konkreten Kunst, angewandt in wird erlebbar, wenn Künstlerinnen und Künstler sich nicht nur mit einem neuen Medium, eine grosse Bandbreite neuer Möglichkeiten den formalen Gestaltungsfragen einer Epoche, sondern auch mit eröffnete und die Themen Variation, Ordnung und Zufall neue Dar- den jeweiligen politischen und sozialen Hintergründen beschäftigen. stellungsebenen erreichten. Nebst den Computerarbeiten, die formal William Kentridge beispielsweise nimmt in seinem Werkzyklus The an einer gegenstandsfreien Gestaltung festhalten und insofern noch Nose eine der wichtigsten Wurzeln der gegenstandsfreien Kunst un- der konstruktiv-konkreten Tradition verpflichtet sind, haben sich ter die Lupe – den russischen Konstruktivismus. The Nose basiert auf seit der digitalen Revolution der frühen 1990er-Jahre die Techniken Nikolai Gogols gleichnamiger Kurzgeschichte, die von Kentridge an so stark erweitert, dass sie für die Allgemeinheit zugänglich gewor- der New Yorker Metropolitan Oper in Szene gesetzt wurde. Dafür ent- den sind. Damit kamen auch künstlerische Arbeiten auf, die ver- stand eine Reihe von Videos, Zeichnungen, Druckgrafiken, Male- stärkt mit Computerprogrammen, Animationen und dem medialen reien, Skulpturen und Tapisserien, die allesamt nicht nur die künst- Raum arbeiten. Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten des Künstlers lerische Sprache der russischen Konstruktivisten aufgreifen, sondern Yves Netzhammer. auch deren Impulse für eine gesellschaftliche Transformation bele- Anlässlich der Kiew-Biennale 2015 setzte sich Netzhammer gen. Ende der 1920er-Jahre strebten die dem Konstruktivismus oder erstmals in einem Werk mit dem russischen Konstruktivismus aus-

46 | 47 Du 872 |

Yves Netzhammer, Das Kind der Säge Vera Molnar, ohne Titel, ist das Brett, 2015, Installations- 1968, Tusche auf Papier, ansicht Museum Haus Konstruktiv, 7,5 × 7,5 cm. Zürich, 2016. Sabine Schaschl – Es ist immer jetzt, aber auch ein bisschen gestern und morgen

einander. Entstanden ist die später für das Museum Haus Konstruk- werden rein formale Rückbezüge vorgenommen; am überzeugends- tiv adaptierte Installation Das Kind der Säge ist das Brett, eine Verbin- ten sind jedoch jene Werke, die auch die inhaltlichen Dimensionen dung aus einem computeranimierten Film-Triptychon und einer ihrer Inspirationsquellen einbeziehen. Wandmalerei, in der die hybride Sprache der digitalen Medien auf das formalästhetische Vokabular der 1910er- und 1920er-Jahre trifft. Der freie Umgang mit Material Netzhammer hat dafür vielfältige Quellen und Kontexte herangezo- Als weiteres Beispiel für eine gegenwärtige Fortführung des konstruk­ ­ gen: Werke von Kasimir Malewitsch, die Slapstick-Kunst eines Buster tiv-konkreten Erbes seien die Werke des Künstlers Bernd Ribbeck Keaton, zeitgenössische Kriegsreferenzen und Tattoos, die in rus­ hervorgehoben. Seine Auseinandersetzungen mit den frühen Abs- sischen Gefängnissen die soziale Hierarchie der Insassen und die traktionen des 20. Jahrhunderts – etwa mit Werken von Wassily Kan- poli­tische Situation der Ukraine symbolisieren. Schwarze Quadrate, dinsky, Paul Klees abstrakt-expressivem Spätwerk, Lyonel Feiningers Rhomben, Sterne, Kreisformen und diverse andere Zeichen auf Fin- Kirchenbildern oder František Kupkas geometrischen Farbstruktu- gerrücken gehen beispielsweise in Bilder von abgetrennten Körper- ren – und der Bezug zu den spirituellen Bildwelten von Hilma af Klint, gliedern über, die wiederum in einem Beispiel zum Bild einer Melone Emma Kunz und Rudolf Steiner sind unverkennbar, auch wenn seine mutieren. Ergänzt hat Netzhammer seine Installationen durch ein Abstraktionen nicht deren anthroposophische, esoterische oder sym- raumfüllendes, in Schwarz-Weiss gehaltenes Lattengeflecht und bolistische Aufladung teilen. Ribbecks kleinformatige Aquarelle auf Werken aus der Sammlung des Museums Haus Konstruktiv. Insbe- Papier und seine Malereien auf MDF-Platten folgen einer geome­ sondere Werke, deren Konzeption und Gestalt mit der Ästhetik von trisch-abstrakten Bildsprache. Kreisformen, Ellipsen, Dreiecke, kubi­ Computeranimationen und medialen Räumen korrespondiert, fan- sche Elemente und Linien prägen die Kompositionen, die der Künstler den Eingang in die Auswahl.5 Netzhammers Installation verdeutlicht, zunächst auf karierten Karteikarten entwirft. Im Laufe des Malpro- welchen Fundus an Themen und formalen Möglichkeiten das kunst- zesses, bei dem die auf grundierten MDF-Platten aufgetragenen Ent- historische Erbe für die zeitgenössische Kunst bereithält. Oftmals würfe und Farbschichten einem dekonstruktiven Akt unterzogen

48 | 49 Bernd Ribbeck, ohne Titel, 2015, Acryl, Kugelschreiber,

Du 872 Pigmentmarker auf MDF, | 39,5 × 46,5 × 2,5 cm, Sammlung Museum Haus Konstruktiv, Zürich. Sabine Schaschl – Es ist immer jetzt, aber auch ein bisschen gestern und morgen

werden, bricht Ribbeck bewusst mit der klassisch konkreten Haltung 1 Theo van Doesburg, zit. in: Margit Weinberg Staber (Hg.): Konkrete Kunst, im Sinne van Doesburgs. Der Verfasser des Manifests zur konkreten Manifeste und Künstlertexte, Studienbuch 1, Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst, Zürich 2001, S. 26. Malerei fordert «keine Ungenauigkeiten, keine unvollendeten Partien und keine künstlerische Handschrift». Ribbeck hingegen schleift 2 Ebd., S. 27 f. und reibt einzelne Farbschichten so weit ab, dass darunter liegende 3 Andréi B. Nakov: Existieren oder Handeln – Einige Bemerkungen zur Frage des Inhalts in der gegenstandslosen Kunst, in: Tendenzen der Zwanziger Schichten frei werden. Er ergänzt seine Kompositionen mit schraf- Jahre – 15. Europäische Kunstausstellung, Berlin 1977, S. 1/13. fierten Kugelschreiberzeichnungen, bringt Permanent Marker und 4 Vera Molnar, zit. in: Barbara Nierhoff: Vera Molnar und der Computer, in: Lackstifte zum Einsatz. Die Exaktheit seiner Form- und Farbabstim- Kat. Vera Molnar – monotonie, symétrie, surprise, Kunsthalle Bremen, Bremen mungen wird durch die Dekonstruktionsprozesse und die dabei auf- 2006, S. 14. tretenden Zufälligkeiten unterwandert und aufgelöst, sodass sich 5 Integriert wurden Werke von Jan Kubíček, Ruedi Reinhard, Karl Georg Pfahler, einzelne Farbflächen in Schichten übereinanderschieben und ver- Roman Clemens, Robert S. Gessner, Jean Gorin, Gisela Andersch, Italo Primi schränken. Es entsteht der Eindruck, als sei das Bild wie in den und Romy Weber. ­Bildträger hineingetrieben und fest mit ihm verbunden, wobei die materielle Beschaffenheit der glatten Oberfläche in einen reizvollen Widerspruch tritt zu den sich öffnenden, scheinbar von innen leuch­ tenden Bildräumen. Die hier erwähnten Künstlerpositionen zeigen auf, in welche Richtung ein Fortleben des konstruktiv-konkreten Erbes in der Ge- Sabine Schaschl, 1964 in Klagenfurt geboren, war nach dem Studium der genwart gedacht werden kann. Selbstverständlich können weitere Kunstgeschichte, anschliessender akademischer Tätigkeit und freier Kurato- Verbindungen gefunden werden – es ist eben immer jetzt, aber auch renarbeit von 2001 bis 2013 Leiterin des Kunsthauses Baselland in Muttenz. ein bisschen gestern und morgen. Seitdem ist sie Direktorin des Museums Haus Konstruktiv in Zürich.

50 | 51 Du 872 JUNGE KONKRETE

CLAUDIA COMTE YVES NETZHAMMER

Claudia Comte, 1983 in Lausanne geboren, wuchs in der Schweizer Kleinstadt Grancy Yves Netzhammer, 1970 in Affoltern am Albis geboren, fand durch Einsamkeit Zu- am Fuss des Juragebirges auf. Als Kunststudentin schnitzte sie eines Tages aus gang zur Kunst. Er verschränkt in seinen Arbeiten Bewegtbild und Text, Animation einem Baumstamm einen Wüstenkaktus, wie man ihn aus der Zeichentrickserie und Skulptur, Installation und Zeichnung. Als Künstler im Grenzbereich von Com­ mit Wile E. Coyote und dem Road Runner kennt. In ihrer Arbeit trifft das Grün der puterkunst, Video, Animation, Zeichnung, Skulptur und Multimedia hat er sich ein Schweizer Wälder auf die klassischen Cartoon-Panoramen des amerikanischen inter­nationales Renommee erworben. Die digital generierten Zeichnungen und Ani- Monument Valley. Comtes amorphe Skulpturen und ihre abstrakte Malerei setzen mationen von Netzhammer sind unverkennbar. Seine mit der Maus entworfenen sich mit Fragen der Architektur und des Designs auseinander. Die Künstlerin wie- Bildwelten sind präzise, reduziert und wirken geradezu klinisch steril. Alle Men- derholt einfache modulare Formen. In ihren Wandmalereien trifft abstrakte Op-Art schen und Tiere, die sich in Yves Netzhammers Universum bewegen, sind abstra- auf einen leichten Umgang mit moderner Skulptur und der Bildwelt von Cartoons. hierte, geschlechtslose Gestalten. Einfache figürliche Formen gehen ineinander über. Die Veränderlichkeit von Formen ist eines von Comtes zentralen Anliegen.

Claudia Comte, If I Were a Rabbit, Where Would I Keep My Gloves?, 2013, Installationsansicht Bolte Lang, Zürich. Yves Netzhammer, Das Kind der Säge ist das Brett, 2015, Videostill.

52 | 53 Du 872 | Junge Konkrete

Yves Netzhammer, Das Kind der Säge Die Kunstwerke im Bild von links nach Jan Kubíček, Die Entwicklung der Form, Gisela Andersch, Axe 24, 1972, Öl auf ist das Brett, 2015, Video-Triptychon, rechts: 1981, Acryl auf Leinwand. Leinwand. Wandzeichnungen, Video-Stative, stilisierter Birkenwald, 34 Minuten, Georg Karl Pfahler, Guard II (Indra), Roman Clemens, Hommage à l’espace Italo Primi, ohne Titel (66), 1966, Farbe Loop, Soundtrack Bernd Schurer, 1965/1966, Acryl auf Leinwand (Detail). – genesis, la naissance, 1973, Acryl auf auf Holz, Metall, Papier, Silchfaden. Installationsansicht Haus Konstruktiv, Leinwand. Zürich, 2016. Roman Clemens, Grosse Kräfte im Roman Clemens, Grosse Kräfte Raum, 1972, Acryl auf Leinwand Roman Clemens, Spiel aus Form, Farbe, im Raum, 1972, Acryl auf Leinwand. (Detail). Licht und Ton, Finale, 1980, Acryl auf Leinwand. Roman Clemens, Absinkendes Robert S. Gessner, Reliefentwurf für im Raum, 1972, Acryl auf Leinwand. Architekturdetail 1:10, nicht datiert, Jean Gorin Composition ciné-tempo­ Relief, Dispersion, Karton, Holz. relle No. 72, 1970, Dispersion auf Holz.

54 | 55 Du 872 | Junge Konkrete

LENA AMUAT UND ZOË MEYER

Lena Amuat wurde 1977 in Zürich und Zoë Meyer 1975 in Bern geboren. Modelle aus der Wissenschaft versuchen durch unterschiedliche Visualisierungsmethoden Wis- sen zu vermitteln. Doch welche Darstellungen und Bilder der Realität werden durch Modelle sichtbar gemacht? Und inwiefern sind ästhetische Prozesse und Bilder an der Herstellung von Wissen beteiligt? Die Aneignung von Wirklichkeit durch Modelle sowie Fragen bezüglich Realität und Fiktion, Modell und Wirklichkeit, Erkenntnis und Wissensvermittlung sind Themen der Arbeiten von Lena Amuat und Zoë Meyer. In Anlehnung an die enzyklopädischen Universalsammlungen konstruieren sie in ihrer Arbeit eine subjektive Weltanschauung, in der Wissenschaft, Religion, Natur und Kunst eine Einheit bilden. Sie fokussieren dabei auf unterschiedliche Sammlungs- MAI-THU PERRET strategien und Repräsentationsmodelle und versuchen, wissenschaftliche Ansätze unter subjektiven und künstlerischen Gesichtspunkten neu zu denken. Ihre künstle­ Die 1976 geborene Genferin Mai-Thu Perret gehört zu den international gefragtes- rische Arbeit verstehen sie in diesem Kontext als subjektives Archiv, das sie ständig ten jungen Künstlerinnen der Schweiz. Nach dem Englischstudium in Cambridge erweitern, mit unterschiedlichen medialen Eingriffen modifizieren und ortsspezi- zog sie 1997 nach New York. Dort arbeitete sie als Assistentin der Maler Steven fisch räumlich anordnen und präsentieren. Parrino und John Tremblay und schloss sich der Street-Art-Szene der Stadt an. Ge- Mathematische Modelle visualisieren abstrakte Formeln jenseits materieller Wirk- meinsam mit dem Genfer Künstlerfreund Olivier Mosset unternahm sie eine Tour lichkeitsbezüge und veranschaulichen abstrakte Denkmodelle. Die Ästhetik der durch Arizona. Zusammen besuchten sie Donald Judds Minimal-Mekka in Marfa, ­Modelle ist durch die starke Präsenz der Materialität und die Spuren der handwerk- schauten sich James Turrells gigantisches Land-Art-Projekt Roden Crater an und lichen Herstellung geprägt. Die Modelle oszillieren zwischen ästhetischer Erschei- wohnten bei Bekannten, die in verlassenen Dörfern aus der Goldgräberzeit von nung und wissenschaftlicher Bedeutung und thematisieren Fragen bezüglich der Landwirtschaft und Kunsthandwerk lebten. Diese Erlebnisse haben sie geprägt. Visualisierung von Wissen, das durch ästhetische Prozesse und Bilder nicht nur Mai-Thu Perrets Interesse gilt der Utopie, die alles Bisherige infrage stellt. Die Kera- reproduziert, sondern auch verändert und hervorgebracht wird. miken und Textilarbeiten, Bilder und Installationen der Künstlerin haben ihren Ur- sprung in der Fiktion der Wüstenkommune.

Lena Amuat und Zoë Meyer, Mathematisches Modell Nr. 25, 2012, Tintenstrahldruck, gerahmt, 40 × 58 cm, aus: Artefakte und Modelle, 2009–2016. Mai-Thu Perret, Untitled, 2009, Acryl-Gouache auf Sperrholz, 60,6 × 45 cm.

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KERIM SEILER

Kerim Seiler, 1974 in Bern geboren, bezeichnet seine künstlerische Arbeit manch- mal als neokonkret. Formal und ästhetisch lassen sich seine Arbeiten leicht der konkreten Kunst zuordnen. Spannend wird es beim «neo-», weil es das Konkrete aktualisiert und übersetzt. Es handelt sich bei Seilers «neo-» nicht um eine zeit­ liche Bezeichnung, sondern um Begriffe, die zeitgleich mit der konkreten Kunst sind oder ihr vorgängig waren. Wir können daher davon ausgehen, dass Seilers neokonkrete Arbeit zwar die Ästhe- tik der konkreten Kunst als Vordergrund – oder wie er selbst gerne sagt als premier plan – verwendet, aber es dabei nicht belässt. Hinter der Fassade des Konkreten eröffnet sich Seilers neokonkreter Kosmos. In diesem besetzen die Situationisti- sche Internationale und der Bereich des Psychedelischen eine dominante Rolle. Die beiden Gefilde aktualisieren die konkrete Form um den Raum des Psychischen und tauchen oft signifikant in Seilers Arbeit auf, etwa in Situationist Space Programm, Dimethyltryptamin oder Alice. So wird die konkrete Form durch die Neo-Einflüsse einerseits zu einer Schnittstelle, mit der Seiler situationistische Ideen und psychedelische Erkenntnisse spiegelt, bricht und weiterleitet, und wird andererseits dank der Situationistischen Interna- tionalen psychogeographisch in der ganzen Welt – Space wird von Raum zu Welt- raum – und dank dem Psychedelischen in einem erweiterten Bewusstsein ausge- breitet. In Seilers neokonkreter Kunst ist das Konkrete die Abschussrampe, die wir benutzen, um unsere Psyche sowohl in die Aussen- als auch in unsere Innenwelt aufzuschwingen.

Kerim Seiler, Relay (Situationist Space Program), Oschwand, 2016, Metall, Holz, PU-Lack, Neon, Polykarbonat, ca. 6 × 5 × 8 m.

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RAPHAEL HEFTI FLORIAN GRAF

Raphael Hefti, 1978 in Biel geboren, lebt und arbeitet in Zürich und London. Er stu- Die künstlerischen Werke von Florian Graf, 1980 in Basel geboren, erzeugen ein Florian Graf, Ghost Light Light House, 2012, Holz, Aluminium, Glas, Farbe, Lampe, dierte an der ECAL in Lausanne Fotografie, nachdem er eine Berufslehre als Elek­ Wechselspiel zwischen konstruierter Realität, Imagination, Tatsachen, Wunschvor- 3 × 3 × 9 m; Videoinstallation 75 × 75 × 209 cm. Ein Projekt für den Bodensee tromechaniker absolviert hatte. Er widmet sich in seiner künstlerischen Arbeit dem stellungen, Träumen und Ängsten von Menschen, die ein Haus, eine Stadt oder in Zusammenarbeit mit der ZF Kunststiftung und dem Zeppelin Museum Fried- Experiment und der Erforschung alltäglicher Materialien wie Glas, Eisen oder Foto- ­einen Planeten bewohnen. Seine Erkundungen führt Graf auf zahlreichen Ebenen richshafen. papier, wobei er sie ungewohnten Prozessen und exzessiven Behandlungen aus- konsequent durch – von Zeichnungen bis zur Fotomontage, von Installationen und setzt. Dabei entstehen skulpturale Objekte und Bilder von aufregender Schönheit. Skulpturen bis zu Filmen. Florian Graf vereint visionäre Kraft mit konzeptueller Ein Effekt, der uns unsere Eingeschränktheit in der von der Industrie und von Kon- Logik, kritischem Verstand, Erzählfreude und Humor. Sein spezielles Interesse gilt Für sein Projekt Ghost Light Light House hat Florian Graf in seinem selbst gebauten ditionierungen diktierten Wahrnehmung buchstäblich vor Augen führt. der Beziehung zwischen Mensch und Architektur und den psychologischen und Leuchtturm gewohnt, der nicht an einen Ort fixiert ist wie normalerweise ein Leucht- Im Januar 2008 löste er eine Katastrophe aus, als er im Gebiet Kleines Wellhorn emotio­nalen Wirkungen von Räumen auf ihre Benutzer. Er hinterfragt sichtbare turm, sondern sich auf dem Bodensee treibend ziellos fortbewegt. Dieser «Irr-Turm» mittels Beleuchtungskörper Filmaufnahmen machen wollte. Einzelne Körper wollte und unsichtbare Systeme, die das alltägliche Leben bestimmen, oder untersucht, wie wandert orientierungslos auf dem See herum, die elfenbeinerne ­Skulptur pendelt er in einem Schneehang zünden, andere mittels funkferngesteuerter Helikopter in ­intime und kollektive Gedankengebilde sich in gebauten Strukturen niederschlagen. als Irrlicht zwischen den drei an den See grenzenden Ländern Deutschland, Öster- die Höhe fliegen und zünden. Versehentlich zündete ausgerechnet Hefti, der vor Intervenierend oder integrierend nimmt er oft Bezug auf spezifische architekto­ reich und der Schweiz hin und her. Die anschliessende Ausstellung­ im Museum zeig- seiner Ausbildung zum Fotografen eine Lehre als Elektromechaniker absolviert hat- nische oder soziale Situationen und schafft Orte der poetischen Verdichtung, an te ein Modell des Turmes, aus dem zuoberst drehend ein Film projiziert wurde mit te, statt des Leuchtkörpers im Schneehaufen jenen, der sich im Fahrzeug befand. denen die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung fliessend werden. In einem den Eindrücken und Erinnerungen von der Irrfahrt auf dem Bodensee. Das Auto wurde abgefackelt, glücklicherweise wurde niemand verletzt. Das Hotel, seiner Skizzenbücher (Nr. 107, 2011) schreibt er: «Wir kreieren die Städte, die wir bei dem das Fahrzeug abgestellt war, wurde verschont. Dummerweise fand gerade erdenken. Diese wiederum formen unser Denken und somit künftiges Handeln.» das WEF in Davos statt, weshalb seine Aktion gar die Antiterroreinheit auf den Plan Das führt ihn immer wieder zu den Fragen nach dem gelebten Raum oder der Geo- rief. «Ich habe erfahren, was passiert, wenn man einem Zauberlehrling wie mir freie metrie des Wohnens. In seinen Ausstellungen und Arbeiten im öffentlichen Raum Hand lässt, und wie die Behörden mit so einer Sache umgehen», sagt Hefti. Auf die werden Objekte zu Bildern und Bilder zu Objekten. Er bedient sich architektonischer ­leichte Schulter hat er diese Katastrophe nicht genommen, doch sie hat ihn auch Elemente, um im Sinne von Novalis dem Gemeinen einen Sinn zu geben, dem Ge- inspiriert. «Es geht immer irgendwie weiter», sagt der Künstler. wöhnlichen etwas Geheimnisvolles oder dem Bekannten die Würde des Unbekann- ten zu verleihen. In einem Interview spricht er davon, dass er Festgefahrenes und Verhärtetes aufweichen möchte, um ungeahnte Energieflüsse zu ermöglichen. Der Raphael Hefti, aus der Serie Subtraction as Addition, 2012, Luxar-beschichtetes, Philosoph und Kunstkritiker Michael Newman schreibt über Florian Graf: «Grafs doppelt verglastes Museumsglas, 300 × 200 × 3 cm, Installationsansicht: Launching Kunst ist utopisch, nicht in dem Sinn, dass sie eine der Gegenwart entgegengesetzte Rockets Never Gets Old, Camden Arts Centre, London, 2012. Zukunft projiziert, sondern indem sie die Gegenwart sich selber entgegensetzt.»

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PE LANG

Peter Lang, 1974 in Sursee geboren, ist auf der Suche nach Klarheit in der Wahrneh- mung. Für den Betrachter soll eine direkte Erfahrung mit Struktur und Bewegung entstehen. Elemente wie Antrieb, Energiequelle und Mechanik sind Teile des Ge- samtwerkes. Oft verwendet er das serielle Prinzip und die industrielle Produktion, um dies zugleich durch eine Unordnung in der Bewegung zu polarisieren. Konkrete Formen und Zustände oszillieren zwischen Stabilität und Unordnung. Seine kinetischen Objekte gehorchen einer stringenten konstruktiven Optimierung, bei der jedes Element im Hinblick auf seine Funktionalität entschlüsselt werden kann. Nichts erscheint an ihnen ornamental oder willkürlich. Ihre Syntax ist be- herrscht von Präzision und Kontrolle als Rahmen für eine ausgefeilte Aleatorik, in der Ordnung und Chaos in ein fragiles Gleichgewicht gebracht wurden. Dies ge- schieht in einem hochgradig ästhetisierten Zusammenhang, bei dem jedes Detail eine formale Bedeutung besitzt. Die Bewegungen von Pe Langs Objekten sind visu- elle Ereignisse, die gleich einem Zaubertrick ein illusionistisches Moment in sich tragen, das im zweiten Schritt Fragen nach den Wirkungsprinzipien evoziert. Die physikalischen Phänomene basieren vor allem auf Magnetismus oder auch auf Trägheits-, Reibungs- und Gravitationseffekten, die der Künstler in Versuchsreihen selbst erforscht. Es ist ein raffiniertes Wechselspiel von Offenlegung und Geheimnis, auf dem die Wirkung dieser Maschinen im Kunstkontext basiert. Pe Lang gelangte über die experimentelle Musik und die Klangkunst zur kinetischen Kunst.

Pe Lang, Moving Objects nº 1703–1750, 2015, Antriebselemente, Schnüre, Papier, Elektronik, verschiedene mechanische Teile, 10 × 4 m, Museum Haus Konstruktiv,­ Zürich.

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BIANCA BRUNNER

Das visuelle Interesse an den Oberflächen gewöhnlicher Materialien, an All-over- Strukturen und alltäglichen Phänomenen, die eine doppelbödige Struktur auszeich­ nen, prägt die fotografische Praxis von Bianca Brunner,1974 in Chur geboren. ­Daraus resultieren jedoch weder eine dokumentarische Herangehensweise noch zufällige Schnappschüsse, sondern leise und einprägsame, oft abstrakte Bildkom- positionen, deren Bestandteile aufs Wesentliche reduziert sind. Die gebürtige Bündnerin studierte bis 2007 Fotografie am Royal College of Art in London und lebt seit 2011 in Zürich. Ihre Werke werden regelmässig in Ausstellun- gen in der Schweiz und international gezeigt. 2010 wurde sie mit dem Manor-Kunst- preis des Kantons Graubünden ausgezeichnet. Brunners Motive lassen sich auf den ersten Blick schnell erfassen: Spiegelungen in einem Teich, abgerundete vertikale Balken, irisierende Farbspektren oder eine weis­se Diagonale vor Gebüsch. Die neuen Arbeiten sind nochmals reduzierter auf- gebaut: Einmal gliedert sich das Hochformat in angeschnittene geometrische For- men wie Halbkreis oder Rechteck in Grüntönen (Remains Green, 2016), ein ander- mal verlaufen Schattierungen von Zartrosa bis hautfarben in leicht schiefen Flächen (Remains Pink, 2016). Schliesslich sind gelbe Linien strahlenförmig vor Weiss zum Bildrand hin aufgefächert (Sun, 2010/2016). Was auf den ersten, schnellen Blick an Aquarelllasuren oder eine Farbstiftzeichnung erinnert, wirft bald die Fragen auf, was eigentlich zu sehen ist und wie die Aufnahmen entstanden sind. Details wie ZIMOUN kleine Reflexionen, Knoten am Schnurende, Lücken oder Faltenwürfe, die eine räumliche Struktur andeuten, lassen das visuelle Terrain zunehmend vage und Zimoun, 1977 in Bern geboren, schreibt: «Seit einiger Zeit arbeite ich mit einfachen Vielzahl der Klangerzeuger, oft sind es Hunderte, entsteht ein komplexer, dreidimen­ ­ brüchig werden. mechanischen Systemen, die in einem definierten Rahmen ausser Kontrolle gera- sionaler und betretbarer Klangraum. Die Klänge überlagern und vermischen sich Tatsächlich gehen die Fotografien auf mitunter raumhohe temporäre Settings im ten und dadurch ein komplexes Verhalten entfalten, sobald diese aktiviert werden. und sind je nach Standort im Raum anders wahrnehmbar. Auch die Resonanzeigen- Atelier oder im Freien zurück, die einzig in den Aufnahmen überdauern; eine zeit- Ich versuche, aus einfachsten Materialien aus Industrie und Alltag eine Art von schaften des Raumes selbst beeinflussen den entstehenden Gesamtklang. In mei- aufwendige Vorgehensweise, in der das Auslösen der Kamera einer von zahlreichen Orga­nismen zu kreieren, die in den Mikrostrukturen ihres Verhaltens eine schein­ nen Werken versuche ich nicht, eine bestimmte Interpretation zu transportieren. Arbeitsschritten ist. Mit semitransparenten Plastiksäcken, Wachspapier aus dem bare Lebendigkeit an den Tag legen. Dabei interessiert mich sowohl der klangliche Vielmehr sehe ich ein Werk als gelungen an, wenn dieses klangliche und visuelle Metzgereibedarf und Kunststoffschnüren sind Materialien zum Einsatz gekommen, Aspekt – ich verstehe die Installation auch als Kompositionen in musikalischem Zustände und Räume schafft, welche mich als Betrachter in unterschiedliche Rich- die als alltägliche, billige Hilfsstoffe zwar omnipräsent sind, aber unbeachtet blei- Sinne – wie auch der visuelle und räumliche, also auch die visuelle Ästhetik und die tungen aktiviert und so bei jedem Betrachten andere Verknüpfungen, Assoziationen, ben. Indem Bianca Brunner diese auf ihre Textur und Haptik hin angeht – etwa indem Arbeit mit spezifischen Räumen, deren Eigenheiten und Qualitäten. Gedankengänge und Interpretationen provoziert. Daher bestehen die Titel meiner sie mit Tageslicht und mehreren Schichten unterschiedliche Opazitäten generiert Häufig arbeite ich mit Multiplikationen und setze in den Werken eine grössere An- Arbeiten lediglich aus der Auflistung verwendeter Materialien.» und fliessende, flexible oder starre Texturen die Formen der hängenden Konstruktio­ zahl identischer Objekte ein. Dies hat verschiedene Gründe: Einerseits entwickelt nen mitbestimmen –, ringt sie den Oberflächen scheinbar mühelos neue Qualitäten jedes einzelne Objekt ein individuelles Verhalten, obwohl dieses aus exakt den glei- ab. Die einstigen Grössenverhältnisse bleiben dabei unklar. In diesem prozessual-­ chen Materialien wie die anderen Objekte besteht und obwohl dessen Motor mit der Zimoun, 198 Prepared DC-Motors, Wire Isolated, Cardboard Boxes 30 × 30 × 8 cm, experimentellen Abstraktionsprozess verschränken sich Zwei- und Dreidimensio- identischen Stromstärke wie alle anderen versorgt wird. Keines der Objekte verhält 2012, Gleichstrom-Motoren, Isolationsdraht, Kartonkisten, Strom, 4,75 × 8,5 × 14 m, nalität, Illusion und Evidenzcharakter der Fotografie sowie visuelle Wahrnehmung sich also identisch, entfaltet in diesem Sinne ein Eigenleben und erlangt dadurch Installationsansicht: CAN, Neuenburg. und Erinnerungen an haptische Eigenschaften unzählige Male berührter Materialien. Individualität. Mich interessieren diese Abweichungen, genährt aus Routine und (Text: Anna Francke) Zufall sowie der Dynamik der verwendeten Materialien. Andererseits wird durch die Nächste Doppelseite: Multiplikation der Raum vielschichtig aktiviert. Jedes einzelne Objekt erzeugt seine Zimoun, 259 Prepared DC-Motors, Cardboard Boxes 140 × 35 × 35 cm, 2014, eigenen Bewegungen, die wiederum alleiniger Ursprung der entstehenden Klänge ­Gleichstrom-Motoren, Kartonkisten, Draht, Holz, Metall, Klebeband, Strom, Bianca Brunner, Sun, 2010/2016, archivierter Tintenstrahldruck. und Geräusche sind. Das Sichtbare ist hörbar und das Hörbare sichtbar. Durch die ­variable ­Grösse, Installationsansicht: Kirche Saint-Nicolas, Caen.

64 | 65 Du 872 | Sabine Schaschl – Es ist immer jetzt, aber auch ein bisschen gestern und morgen

66 | 67 Du 872 | Junge Konkrete

ATHENE GALICIADIS

Athene Galiciadis, 1978 in Zürich geboren, arbeitet mit Installationen, Zeichnungen und Gemälden. Geometrische Formen in speziellen Farben stehen im Vordergrund: Dreiecke, Vierecke, Muster, Mosaike, Gartenzäune, Puzzles. Die Objekte und Figuren appellieren an unsere Erinnerung. Die Installationen verändern den Raum. Sie findet zu ihren Arbeiten im Schlaf – wenn sie träumt. Was immer das Atelier der Zürcher Künstlerin verlässt – sie habe vorher davon geträumt, meint sie. Im Zentrum ihres Schaffens stehen Parallelgeschichten und fiktive Möglichkeiten. Tatsächlich wird auch die Installation Der Asketische Traum für den Betrachter zum Schauplatz einer überraschenden und persönlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Form und Inhalt – ein Thema, das die Künstlerin in all ihren Werken beschäftigt. Gegensätze und Kontraste verbinden sich, indem sie Pastellfarben und erdige Töne mit reinen, kräftigen Farben kombiniert. Klare geometrisch-konstruktive Formen stehen solchen gegenüber, die sich durch die natürliche Drapierung der Decke zu verformen scheinen. Galiciadis setzt sich mit dem Schweizer Konstruktivismus, aber zugleich auch mit römischen und griechischen Marmorböden auseinander. Auch Bezüge zu Paul Klee lassen sich herstellen. Erhellt durch eine simple Glühbirne, wird die Decke zum Bindeglied zwischen Malerei und Installation. Auf Leinwand ­gemalt, aber in stofflich anmutender Formgebung, mutiert sie zur Plastik – die ein- fache Pritsche zum Sockel.

Athene Galiciadis, La crotte du diable, Installationsansicht 2010, Kunsthaus Langenthal.

68 | 69 sen Sie mal Augen und Roadrunner, das sind ganz allein runde For- Linientreue der original konkreten Kunst abgeworfen. Damit ist ihr men. Und sie sind erst noch Kunst mit Augenzwinkern – mit Augen, aber, zumindest mehrheitlich, auch die politisch klare Linie der ers- Du 872 die nie zwinkern werden. ten Konkreten abhandengekommen. Yves Netzhammers Figuren dagegen verstricken sich oft in abs­ Niemand kann verlangen, dass diese Künstlerinnen und Die lustige Form trakten und konkreten Formen, bis sich bei den animierten Videos Künstler nun zum Ausgleich alle politische Ämter anstreben, so wie und Skulpturen des Zürcher Künstlers Figuration und Konkretes nicht Max Bill. Aber es wäre ebenso falsch, sich auf dem konkreten Erbe mehr entwirren lassen. Und der menschliche Körper derart ins For- auszuruhen, ohne dessen Formensprache auch ins Politische und Der neokonkreten Kunst fehlt es an Linientreue. Das ist gut. Und an einer politischen Linie. male ausfliesst, dass bei ihm reine Form existenziell wird. Gesellschaftsrelevante zu übersetzen. Sonst trifft plötzlich das, was Das ist weniger gut. Die Arbeiten von Mai-Thu Perret schliesslich würden sich Bill im Vorwort zum Katalog zur – von ihm eben nicht so gut emp- schon deswegen nicht als konkreter Gegenpol – und als Provokati­ ­- fundenen – Ausstellung über figurative Kunst geschrieben hat, auf Text DANIEL MORGENTHALER on für Eigenwerkzerstörungen, wie im fiktiven Kunstgeschichtchen die neokonkrete Kunst zu: skizziert – für die primär figurativ arbeitenden Brüder Huber.Huber «Erstaunlich jedoch ist es, dass die junge Generation diese an eignen, weil die Künstlerin geometrische Konstellationen in Instal- einer noch heilen Welt orientierte Kunst übernimmt, ohne sie mit lationen selbst auch immer wieder mit Figuren bevölkert. Oft sind den Elementen der Gegenwart zu konfrontieren.» 5 So grotesk es ist. Die Künstlerbrüder Huber.Huber haben im Helm- Kunstgeschichte würde sich also eine wahre Zürcher Kunstgeschichte sie Stellvertreterinnen für die Mitglieder einer fiktiven Frauenkom- So grotesk das heute wäre. haus Zürich zwei ihrer eigenen Arbeiten mit einer Rasierklinge auf- wiederholen. mune in der Wüste New Mexicos. Obwohl Mai-Thu Perret auch figu- geschlitzt. Weil Mai-Thu Perret, die Künstlerkuratorin der Ausstel- Tut sie aber eben nicht. Weshalb nicht? Weil heute nicht mehr rativ wird, findet bei ihr also «die Auseinandersetzung zwischen 1 Varlin: Wenn ich dichten könnte – Briefe und Schriften, Patrizia Guggenheim, Tobias Eichelberg (Hg.), Scheidegger & Spiess, Zürich 1998, S. 72. lung, dazu geschrieben hat: «Wenn figurative Kunst eine wirkliche in jeder Zürcher Bank ganz selbstverständlich ein konkretes Kunst- Menschen und innerhalb der Gesellschaft», die Bill 1970 bei den Fi- 2 Ebd., S. 301. Funktion in unserer Zeit bekommen soll, sind neue Überlegungen werk hängt. Und weil sich vornehmlich figurativ arbeitende Künstler gurativen vermisst, durchaus in einer Form statt. dringend erforderlich.» Nachdem die beiden eine Zeichnung zerstört wie Huber.Huber nicht mehr durch die Vorherrschaft des Konkreten Aber weder Perret noch Netzhammer sind im Gemeinde- oder 3 Ebd., S. 70. hatten und schon das Limmatquai hinuntergegangen waren, kehrten bedroht fühlen müssen. Dies wiederum, weil den Erbinnen und Nationalrat. Max Bill hat nicht nur während des Zweiten Weltkriegs 4 Ebd., S. 72. sie noch einmal in die «Höhle des Löwen» zurück, um – obwohl bei ­Erben der Konkreten etwas fehlt, was bei Max Bill und seinen Mit- Verfolgten Zuflucht geboten, er war auch selbst Politiker. Und auch 5 Ebd., S. 72. dem Werk bereits eine Ansammlung von Publikum war – auch eine streiterinnen und Mitstreitern buchstäblich sehr ausgeprägt war: die wenn sich bei den letzten Nationalratswahlen 2015 aus der Liste zweite Arbeit zu schleissen. Linientreue. Kunst + Politik Protagonistinnen und Protagonisten aus der Kultur­ Wäre die richtige Zeitung in den richtigen 20 Minuten vor Ort Das zeigt sich heute schon im Eingangsbereich des Museums szene wählen liessen, ist die allgemeine Tendenz doch eher, dass sich Daniel Morgenthaler, 1978 geboren, studierte Anglistik, Germanistik und Philo­sophie in Zürich und Sheffield. Freier Autor für ver­schiedene Zeitschriften – oder eine ihrer Leserreporterinnen oder Leserreporter –, hätte das Haus Konstruktiv: Da hängen auf abgerundete Chassis aufgespannte Künstlerinnen und Künstler aus der politischen Diskussion heraus- und Zeitungen wie Kunstbulletin, Züritipp, Tec21 oder Apartamento und auch heute noch das Zeug zum Skandal. Leinwände der Lausannerin Claudia Comte. Sie könnten durchaus halten und Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus anderen Ge- Verfasser von Katalogbeiträgen. Seit 2011 Kurator am Helmhaus Zürich. Es ist aber nicht passiert. Und es wird nicht passieren. Ist aber geometrischer Kopfarbeit entstammen. Aber eben auch den Köpfen bieten stammen. Die neokonkrete Kunst hat die teilweise lähmende Er lebt in Zürich. schon passiert. Willy Guggenheim alias Varlin hat 1970 in der Helm- des Road Runner, der im Cartoon immer wieder spektakulär Wile haus-Weihnachtsausstellung zwei seiner eigenen Bilder «geschlis- E. Coyote entkommt. Sie sind sowohl «Gute Form» – nach Max Bill – sen». Aus Protest dagegen, dass Max Bill, seit 1968 für drei Jahre als eben auch «Lustige Form». ­Juryvorsitzender, im Vorwort zum Katalog zur Ausstellung, die der Paul Nizon hat im Diskurs in der Enge die Gute Form als Alibi figurativen Kunst gewidmet war – als letzte von drei Ausstellungen, bezeichnet: «Jedenfalls fällt es heute ungemein schwer zu glauben, nach einer Schau zur abstrakten Kunst (1968) und einer mit dem Titel dass sich eine Gesellschaft dadurch bessere, dass sie in Häusern gu- CARLA ALBRECHT ABRAHAM ROXANE JOEL STANLEY JURI SCHUCH DURAN BASMAN WEBER Konkrete und Phantastische Kunstrichtungen (1969) –, über Varlin und ter Form aus Löffeln guter Form esse.» 3 Weniger Gute Form – streng die anderen Figurativen herzog: «Es fehlt die Auseinandersetzung nach Bill – sind denn auch die bemalten Keramiken der Zürcherin DIE SCHÖNSTEN zwischen Menschen und innerhalb der Gesellschaft.» 1 Und aus Pro- Athene Galiciadis, die die Künstlerin neben organisch-geometrische MUSEEN DER SCHWEIZ test dagegen, dass seine Bilder erst noch ohne Varlins Wissen und Wandarbeiten stellt. Und doch ist sie insofern mit dem Konkreten, Einverständnis ausgestellt wurden. In einem Brief an Leida Feld­ oder den Konkreten, verwandt, als sie in ihrer Praxis ebenfalls die ENTDECKEN SIE pausch vom 23. Februar 1971 schreibt der Maler: Grenzen zum Design und auch zum Handwerk weich knetet. «Zuerst zerstörte ich nur Ihr Porträt, als ich dann nach Verlas- Raphael Hefti hingegen nimmt die in Bills Katalogvorwort, das 50 ORTE DER KUNST sen des Helmhauses den Limmatquai herunterschritt, kam mir zum Varlin so schwitzen liess, formulierte Forderung, dass Kunst zumin- Bewusstsein, wie ungalant, ja unfair ich öffentlich bezeichnet wer- dest eine «Andeutung auf die spezifischen Merkmale unserer Zeit, 4 DIE SCHÖNSTEN den musste, denn meine Geste musste durch Zerstörung nur Ihres die Welt der Wissenschaft, der Technik, des Bauens, des Verkehrs» MUSEEN DER SCHWEIZ Porträts so ausgelegt werden, dass es gar nicht gegen die Jury ging, enthalten sollte, zwar durchaus ernst. Indem der in Zürich und Lon- BAND 2 VOLUME sondern ausschliesslich gegen Sie, da ich ja nur Ihr Bild zerstört hatte. don arbeitende Künstler etwa Cutting-Edge-Fräsmaschinen ausstellt, LES PLUS BEAUX Ich versichere Sie, ich schwitzte innerlich und äusserlich vor Auf­ in denen Aluminiumelemente nach einer hochpräzisen Choreogra- MUSÉES DE SUISSE regung. Die Situation war nur zu retten, indem ich ein zweites Bild fie bearbeitet werden. Nur: Von der guten, technisch hergestellten zerstörte. Wissend, dass vor Ihrem zerstörten Porträt bereits eine Form bleibt am Ende nichts übrig. Das Aluminium fräst sich in nichts LIEUX D’ART LIEUX

Ansammlung von Publikum war, kehrte ich noch einmal in die auf. Was im Gedächtnis bleibt ist ein «Guter Prozess». KUNST DER ORTE ‹Höhle des Löwen› zurück und schliss, so grotesk es ist, nur um Sie zu entlasten, auch noch den Emil.» 2 «Erstarrte Stäblikunst» Auch dass Huber.Huber als Replik auf Mai-Thu Perrets Kritik deren Der gute Prozess Kunst als «erstarrte Stäblikunst» bezeichnen würden – Zitat Varlins Der «Emil» war der damalige Stadtpräsident Emil Landolt. Huber.Hu- in einem an Buffalo Bill adressierten Brief von 1971 –, funktioniert ber haben zwar die heutige Stadtpräsidentin Corine Mauch nicht nur noch in der Kunstgeschichtsfiktion. Nur schon eine Ausmar- porträtiert, in ihrem Werk aber figuriert, wie bei Varlin, der Friedens- chung der Teilnehmer von Helmhaus-Jahresausstellungen in abs- Mein Leben s ein Fest sein JETZT FÜR 16 FRANKEN PAULA MODERSOHN BECKER aktivist Max Daetwyler: zum Beispiel in Protest, 2010, einer Kohle- trakt, konkret und figurativ arbeitende Künstlerinnen und Künstler zeichnung, die ein Wandbild der Zürcher Antoniuskirche zeigt, in würde sich heute nicht mehr einfach gestalten. BESTELLEN: Ein Film von Nach einem Drehbuch von ARTWORK: PROPAGANDA B PROPAGANDA ARTWORK: dem Daetwyler einen Soldaten mit weisser Farbe übermalt hat. Und Claudia Comtes Augen zum Beispiel könnten dann drei Jahre Christian Schwochow Stefan Kolditz und Stephan Suschke Mai-Thu Perret könnte, wenn man so wollte, als Exponentin einer hintereinander ausgestellt werden: Sie sind gleichzeitig figurativ – WWW.HEIMATSCHUTZ.CH www.Paula-Film.de www.filmcoopi.ch neokonkreten Kunst gelten, also als Erbin von Max Bill und den übri- Roadrunner-Augen –, abstrakt – eine reduzierte, visuelle Idee der gen originalen Zürcher Konkreten. In der eingangs fingierten fiktiven Augen richtiger Roadrunner aus Australien – und konkret – verges- AB 22. DEZEMBER IM KINO

70 | 71 *Paula_InsD_100x135_du.indd 1 01.11.16 16:43 Du 872 ETABLIERTE KONKRETE

CHRISTIAN HERDEG

Das Licht stand schon immer im Zentrum der Arbeit von Christian Herdeg. Nachdem er seine Ausbildungen als Fotograf, Kameramann und Beleuchter abgeschlossen hatte, begann er zunächst, Dokumentarfilme und Reportagen zu drehen. Im Alter von 26 Jahren ging der 1942 geborene Zürcher für drei Jahre nach Kanada, wo er seine ersten lichtkinetischen Objekte schuf, die rasch ihren Weg in die Ausstellungsräume­ fanden, in Montreal, Toronto und Chicago. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1971 nahm ihn die aufstrebende Galerie Bob Gysin, damals noch in Dübendorf ansässig, in ihr Programm auf, 1982 erwarb das Zürcher Kunsthaus Werke von Christian Herdeg für seine Sammlung. Inzwischen gilt Christian Herdeg als einer der grossen Pioniere der Lichtkunst und ist als europäischer Gegenpart zum kalifornischen Weltstar James Turrell zwischen Warschau und Aarau, Seoul und Schaff­hausen, Madrid und Basel auch immer wieder in Zürich präsent. Der Zürcher Kunstkritiker und Kurator Juri Steiner hat die Arbeit von Christian Her- deg einleuchtend beschrieben: «Christian Herdeg kennt die Formeln der gebündel- ten Leuchtstoffröhren, des Kunstlichts im Industriedesign, der Leuchtschriften und Leuchtreklame-Ästhetik in der Kunst; sie alle sind parallel zu seinem Werk entstan- den. Doch Herdeg geht seinen eigenen Weg, vermeidet rigorose Aussagen, verzich- Christian Herdeg, Magic Circle tet ganz auf die abweisenden Gesten, zu denen Neon gerne verlockt. Seine Lichtach- Meets Square, 2012, Schwarzlicht­ sen und Zirkel leuchten nichts aus. Sie skizzieren den Raum, in den sie ausstrahlen, röhren, fluoreszierende Acrylfarbe, oder sie beschreiben den Bildträger, auf den sie leuchten. Dadurch schaffen seine 152 × 152 × 7 cm. Werke eine differenzierte Atmosphäre der Kontraste und Schattierungen.»

Links: Christian Herdeg, Neon/Argon Noch bis zum 15. Januar 2017 zeigt das Haus Konstruktiv in Zürich die retrospektiv Square, 2011. angelegte Ausstellung zu Christian Herwegs Werk.

72 | 73 Du 872 | Etablierte Konkrete

74 | 75 Christian Herdeg, Light Stage, 2011, Argon- und Neonlichtröhren, MDF, 60 × 240 × 330 cm, Ausstellungsansicht Museum Haus Konstruktiv, Zürich, 2016. Du 872 | Etablierte Konkrete

MARGUERITE HERSBERGER

Nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule war für Marguerite Hersberger, 1943 in Basel geboren, ein dreijähriger Studienaufenthalt in Paris prägend. Sie arbeitete im Atelier des vom Bauhaus beeinflussten Bildhauers François Stahly, kehrte dann wieder in die Schweiz zurück, wo sie in Zürich seit 1970 lebt. Sie entscheidet sich in ihren auf elementare Strukturen reduzierten Plastiken für das ungewöhnliche Mate­rial Acrylglas. Ende der 1960er-Jahre beginnt sie, in farbig bemalte Holzwürfel Prismen aus Acrylglas einzusetzen mit dem Ergebnis, dass Licht und Raum sich wechselseitig auf geheimnisvolle Weise reflektieren. Zusätzlich baut sie Drähte und feine Schnüre ein, bildet doppelte Ebenen mit weissen und silbernen Rückwänden, auf denen irritierende Schattenfiguren entstehen. Sie arbeitet mit abgeschmirgel- ten Glasflächen und steigert Schritt für Schritt die Komplexität ihrer Werke, in de- nen sich Licht und Schatten, Vordergrund und Hintergrund in einer transparenten und zugleich undurchschaubaren Weise durchmischen und den Beobachter ver- zaubern. Ab Mitte der 1980er-Jahre beginnt Marguerite Hersberger, mit einem leuchtenden Rot und Blau zu arbeiten und verwendet grössere Formate. Ihre Auseinandersetzung mit Licht und Raum führt sie von selbst zu einer intensiven Beschäftigung mit Kunst im öffentlichen Raum. Sie konzipiert grosse, begehbare Lichträume und verwendet statt Farbflächen farbiges Licht, das durch in die Archi- tektur eingelassene Acrylgläser dringt, zum Beispiel bei den grossen Farblichtfeldern, die Hersberger 1980 bis 1983 für die Universität Zürich-Irchel entwirft. Weitere eindrückliche Werke von Marguerite Hersberger sind etwa die Personen­ unterführung im Bahnhof Winterthur mit Lichtpassagen (1991), am Flughafen ­Zürich die Wand- und Lichtgestaltung des Airport Forum (1995), für die deutsche Allianz AG in Leipzig Lichtbrücken und Lichtsäule (1996/97) und die Skylines in der Schweizerischen Epi-Klinik, Zürich (2013).

Marguerite Hersberger, Lichtvolumen No. 3, 2015, LED-Licht und Farbfolien, 40 × 160 cm.

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Marguerite Hersberger, Dreiklang No. 23, 2014, 3-D-Objekt, Acrylfarbe, Acrylglas, 40 × 120 cm.

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BEAT ZODERER

Beat Zoderer ist durch und durch konstruktiver Künstler – und zugleich dessen Gegenteil.­ Der 1955 in Zürich geborene und jetzt im Aargau lebende Zoderer hatte ursprünglich eine Ausbildung als Bauzeichner gemacht und auch eine kurze Zeit in einem Architekturatelier gearbeitet. Seit 1979 ist er als freischaffender Künstler präsent. In seinen Zeichnungen, Bildern, Plastiken und Installationen arbeitet er daran, die Perfektion der geometrischen Ordnungssysteme, mit der sich konkrete Kunst immer wieder neu zu erfinden sucht, mit Humor und Raffinesse zu unterlau- fen und dabei neue sinnliche, emotional erfahrbare Welten zu erschaffen. Bereits die Titel seiner Ausstellungen wie zum Beispiel Der doppelte Boden ist tiefer, als man denkt (Kunstmuseum Bonn, 2003) machen deutlich, dass hier kein stringenter Konzeptionalist am Werk ist, sondern einer, der immer wieder über den Tellerrand der eigenen Profession hinausschaut und sich manchmal auch sehr weit darüber hinauslehnt. Doch bei all seinen Balanceakten behält er mit seinem schrägen Blick auf die Welt immer die Bodenhaftung in der Tradition der konkreten Moderne. Beat Zoderer selbst borgt sich interessanterweise als «konstruktiver» Künstler den im Theoriekosmos der französischen Poststrukturalisten hoffähig gewordenen Be- Räumliches Pentagramm No. 2, 2016, griff der «Dekonstruktion» aus, um sein Vorgehen zu beschreiben. Dabei nimmt er Airplane cardboard, Acrylic, diesem Begriff jede theoretische Abstraktion, indem er ihn ganz konkret auf seinen 1335 × 83,5 × 25,5 cm. Umgang mit der Materialität des Kunstwerks anwendet. Mit seinen eigenen Worten gesagt, geht es ihm zum Beispiel auch darum, «den Versatzteilen von alten Möbel- Links: Beat Zoderer, Quadratur des stücken, den weggeschmissenen Dingen, wie man sie auf der Strasse findet, die ich Kreises No. 8, 2012, Acrylic on steel zersägt und wieder neu zusammengebaut habe, hier und da eine neue Utopie oder pannel, 119 × 92 cm. einen neuen Inhalt zu verschaffen».

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82 | 83 Beat Zoderer, Flicken-Pavillon Nr. 1/08, 2008, Acryllack auf Alublech, 440 × 770 × 580 cm, Ausstellungsansicht Museum Haus Konstruktiv, Zürich, 2008. Du 872 | Etablierte Konkrete

CHRISTIAN MEGERT

Die Avantgarde der späten Fünfziger- und Sechzigerjahre war die prägende Erfah- rung für den 1936 in Bern geborenen Christian Megert. In seiner Heimatstadt, wo er 1952 bis 1956 die Kunstgewerbeschule besuchte, war es die Galerie 33, in deren Umfeld der noch nicht mal 20-Jährige auf die beiden sechs Jahre älteren Dieter Roth und Daniel Spoerri traf. Er begann früh zu reisen, nach Stockholm, Berlin und Paris, wo er in der legendären Galerie Iris Clert mit Zero-Künstlern wie Yves Klein, Jean Tinguely und Piero Manzoni in Kontakt kam. In Paris findet Christian Megert, der bereits den Schritt von der gegenständlichen zur informellen und monochromen Malerei vollzogen hat, den entscheidenden Weg zum Materialbild und Objekt, indem er – inspiriert von den Zero-Künstlern – erstmals einen Spiegel in ein Bild integriert Er beginnt, Spiegelfragmente zu kleinen Objekten zusammenzubauen. Damit hat Christian Megert das Material gefunden, das sein komplettes Werk bis heute prägt. 1960 kehrt er wieder nach Bern zurück, ein Jahr später wird er selbst im Alter von 24 Jahren Mitglied der Zero-Gruppe und verfasst ein Manifest mit fol- genden Worten: «ich will einen neuen raum bauen, einen raum ohne anfang und ende, in dem alles lebt und zum leben aufgefordert ist, der gleichzeitig ruhig und laut, unbewegt und bewegt ist.» Auf der Documenta 4 löst Christian Megert 1968 diesen Vorsatz spektakulär ein mit einer begehbaren, allseitig verspiegelten, opu­ len­ten Rauminstallation. In den folgenden Jahren entwickelt er seine «Spiegel- kunst» immer weiter, in welcher der Betrachter den gespiegelten Raum von aussen Christian Megert, 2012, Mirror, Wood beobachten kann und zugleich selbst von innen zum Mitspieler des räumlichen acryl under glass, 164 × 132 × 14 cm. Geschehens wird. Ab 1980 integriert er neben hochglanzpoliertem und stark reflektierendem schwar- Nächste Doppelseite: zem Granitstein auch Farben in seine Arbeit und entwirft – inzwischen Professor an Christian Megert, Spiegellabyrinth der Kunstakademie Düsseldorf – zahlreiche Grossinstallationen. Im breiten Spek­ im Container, 2016, Schiffscontainer: trum seiner Arbeiten von Skulptur, Plastik, Siebdruck, Zeichnung, Relief, Collage, 2591 × 2438 × 6058 cm, Ausstellungs­ Buch, Environment, Land-Art, Umweltgestaltung, Video, Foto-Art, kinetischer Kunst ansicht Un percorso d’arte in Morcote, und Kunst im öffentlichen Raum nähert sich Christian Megert dabei immer wieder 2016. der Formensprache der konkreten Kunst an.

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Der Arzt und die Farben

Frédéric Belser ist 87 Jahre alt und blickt auf ein langes Leben als Künstler zurück. Der Zürcher Arzt und Verehrer von Max Bill begann schon früh, in seinen Werken mit Farben und Geometrie zu experimentieren.

Text OLIVER PRANGE

Schon als kleiner Bub war Frédéric Belser von den Farben fasziniert. abkauft.» Belser und Bill blieben lange in gutem Kontakt. Bill urteilte In der Bibliothek seines Vaters in Küsnacht fand er viele bunt illust­ auch über Belsers Kunst: «S isch guät, witermache.» (Es ist gut, mach rierte Kunstbücher sowie Goethes Farbenlehre von 1810 und Johannes weiter). Das motivierte Belser ungemein. Er arbeitete fortan in ver­ Ittens bedeutendstes Werk Kunst der Farbe aus dem Jahr 1961, in dem schiedenen Techniken: Serigrafien, Aquarelle, Siebdrucke, Pastelle dessen zwölfteiliger Farbkreis erklärt wird. Es wurde zu Belsers «Farb­ entstanden, er arbeitet auch mit Kohle und auf verschiedenen Mate­ bibel». Darin stand: «Man muss die zwölf Farbtöne der Farbleiter so rialien wie Leinwand, Plastik, Alu, Wellkarton, Holz. interpretieren wie ein Musiker die zwölf Töne der Tonleiter.» Und Nach seiner Pensionierung im Jahr 1994 zog Belser nach Süd­ weiter: «Das tiefste und wesentlichste Geheimnis der Farbwirkungen frankreich in die Region Languedoc, in ein kleines Dorf mit Oliven- bleibt selbst dem perfekten Auge unsichtbar und kann nur mit dem und Feigenbäumen und Lavendelfeldern. Die Düfte der herbes de Pro- Herzen geschaut werden. Der Begriff Farbenharmonie muss aus der vence vom Mont Bouquet, die Farben und besonders das Licht waren subjektiv bedingten Gefühlslage herausgehoben werden in eine ob­ für ihn und seine Kunst äusserst stimulierend. Belsers Bilder waren jektive Gesetzmässigkeit.» an mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen in Brouzet-lès-Alès, Der Künstler-Arzt wurde am 13. Juli 1929 in Genf geboren, kam Nîmes und Montpellier zu sehen. 1993 stellte er in Zürich aus, zur dann als Dreijähriger nach Küsnacht. Später bildete er sich in Zürich, Vernissage kam auch alt Bundesrat Leon Schlumpf. Weitere Ausstel­ Genf und Paris zum Arzt aus und eröffnete 1962 die eigene Praxis für lungen folgten. innere Medizin mit Spezialisierung auf Diabetologie. Belsers Werke sollen nicht nur schön sein, sondern auch spie­ Mit der Malerei begann Belser früh. Eine Ausstellung wurde zu lerisch anregen. Er erinnert an Isaac Newton und dessen Entdeckung seiner Erleuchtung: Max Bill organisierte und kuratierte 1949 die der Spektralfarben, ärgert sich aber etwas über Goethe, der sich in Ausstellung Zürcher konkrete Kunst, die als grosser Erfolg auch durch Band zwei (von drei Bänden) abfällig über Newton äusserte. Nicht nur Deutschland wanderte. «Sie war mein Erweckungserlebnis.» Farben, sondern auch Geometrie zogen den Konstruktiv-Künstler in Während des Medizinstudiums zeichnete und malte Belser Ent­ seinen Bann. «Als ich 1946 das erste Mal in Versailles war, faszinier­ würfe und Skizzen auf Papier, aber schon bald auch auf Leinwand. ten mich die geometrisch angelegten Gärten von André Le Nôtre, dem 1963 traf er erstmals Max Bill, der zwei seiner ausgestellten Serigrafien, Chefgärtner der Könige, mehr als der pompöse Spiegelsaal.» die Belser erworben hatte, mit dem Rolls-Royce bei ihm zu Hause Seine letzte erfolgreiche Einzelausstellung fand im Frühling in Küsnacht vorbeibrachte. Bill sagte: «Ich wohne ja etwas weiter oben 2016 im Kunstforum Tertianum Zollikerberg zugunsten der Médecins in Zumikon und wollte den Arzt kennenlernen, der mir meine Sachen Sans Frontières statt.

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DAS KONSTRUKTIVE TRIO

Die bekannte Galeristin, Kunstexpertin und Kuratorin Arlette Quattropani, die 2016 verstarb, brachte drei Künstler zusammen, die sich künstlerisch mit demselben Kunststoff auseinandersetzten und in dieser Du-Ausgabe zu sehen sind. Quattro­ pani nannte das Triumvirat den Acryl-Stammtisch Be-Bi-Bo. Es sind dies: Frédéric Belser – seine Objekte sind vorwiegend spielbar, veränderbar und wechseln je nach Lichteinfall die Farbe (Art ludique – vom lateinischen ludere: spielen); Peter Binz – er verschmilzt, verkrümmt, gestaltet, verklebt verschiedenfarbiges Acryl zu kleinen­ Objekten (Parfumfläschchen) und grossen in Kombination mit den verschiedens­ ten Metallen in allen Grössen und Formen; Heinrich Bobst – typisch und einmalig sind seine dichroitisch beschichteten mittelgrossen bis grossen, eleganten Acryl­ plastiken, die je nach Standpunkt des Betrachters die Farbe verändern. Diese gra­ zilen, eleganten Kunstwerke nennt er Raumobjekte. Frédéric Belser, drei­ Frédéric Belser, drei Von Anfang an verstanden sich die drei Künstler blendend und befruchteten sich teiliger Würfel (spiel­bar), zusammensteckbare, gegenseitig in ihrer Arbeit. Einzelne gemeinsame Werke werden mit beiden Namen 2012, Acrylglas,­ farbige Acrylplatten, signiert, zum Beispiel Belser-Binz. 35 × 35 × 35 cm. 2016, 20 × 50 cm.

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Frédéric Belser, Gelbes und grünes Band, sich kreuzend, mit schwarz- Frédéric Belser, Grau­ weissem Zentrum, 2009, stufen bis zum roten Acryl auf Leinwand, Zentrum, 2006, Acryl auf 80 × 80 cm. Leinwand, 100 × 100 cm.

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HEINRICH BOBST

Der in Zürich arbeitende Heinrich Bobst hat sich nach seiner Laufbahn als Che­- miker­ der Kunst zugewandt. Seine Arbeiten führten vorerst über die Acrylmalerei zu dreidimensionalen Stahlwinkelprofilobjekten und konzentrieren sich derzeit auf dichroitisch beschichtete Glas- und Acrylglasobjekte, die je nach Blickwinkel und je nach Lichteinfall ihre Farbe verändern. Sie lassen sich daher nur schwer beschrei­ ben und fotografieren. Dichroismus ist eine Spielart des Lichtes. Dichroitische Beschichtungen bestehen aus hauchdünnen Belägen, die das einfallende Licht teilweise auf ihrer Ober­fläche, zum Teil aber auch an der Grenzfläche zum Untergrund reflektieren. Dadurch entstehen Interferenzeffekte, die derartige Oberflächen in verschiedenen Spektral­ farben erscheinen lassen. Die Natur offenbart uns solche Effekte beispielsweise bei Perlmutt, sei es auf Perlen oder auf Muscheloberflächen. Ist der Untergrund trans­ parent, wie dies bei Glas oder Acrylglas der Fall ist, können dichroitische Beschich­ tungen teilweise spiegelnd oder aber weitgehend transparent erscheinen und Heinrich Bobst, Wand­ Heinrich Bobst, Raum- wechseln somit, je nach Lichtverhältnissen und dem Blickwinkel des Betrachters, objekt 080316, Acrylglas, objekt 250516, Acrylglas, ihr Erscheinungsbild. dichroitisch beschichtet, dichroitisch beschichtet, Bobst bezeichnet seine Werke als Raumobjekte und überlässt eine allfällige Inter­ ca. 50 × 50 × 7 cm. ca. 30 × 30 × 25 cm. pretation dem Betrachter.

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Heinrich Bobst, Raum- objekt 270508, Stahl­ profil, geschweisst, roh, Heinrich Bobst, Experiment verwittert, und ein- 081205, Acryl auf Leinwand, gefärbte PVC-Platten, 90 × 90 cm. ca. 75 × 75 × 200 cm.

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PETER BINZ

Peter Binz wurde in Schaffhausen geboren und lebt in Zürich. Schon während sei­ ner Schulzeit interessierte er sich für Fotografie. Er richtete sich im Estrich eine Dunkelkammer ein. Da sich Peter Binz Vergrösserungsgeräte nicht leisten konnte, baute er sie sich selbst, zuerst aus Holz, dann, während seiner Ausbildung als Feinmechaniker, aus Metall. Mit 25 Jahren versuchte er sich erstmals an ungegen­ ständlicher Fotografie. Lichtreflexe, Sonnenlichtspiegelungen auf einer Wasser­ oberfläche faszinierten ihn. Eine eigene visuelle Welt tat sich auf. Feine, sehr schwer einzustufende Arbeiten, Lichtskulpturen wie aus einer anderen Welt. Mehr als zehn Jahre dauerte diese Arbeitsphase. Die Stiftung für Fotografie des Kunsthauses Zürich sowie die Bibliothèque nationale de France erwarben in den Achtzigerjahren je ein Portfolio mit diesen Arbeiten. Die experimentelle Fotografie nahm einen immer grösseren Platz im künstlerischen Schaffen von Peter Binz ein. Mit einem Lichtpinsel aus Glasfaser malte er bei totaler Dunkelheit auf Schwarz-Weiss-Film und in verschiedenen Farben auf Diafilm 20( × 25 cm). Dazu kamen Experimente mit Hochspannungsentladungen auf fotografischem Material. Diese Technik war faszi­ nierend, aber auch gefährlich. Mit einem Heliumlaser (rotes Licht) und einem Argon­ laser (blaues Licht) erweiterte er sein Experimentierfeld. Mit Mikroskop-Optiken weitete er die Laserstrahlen zu einem Lichtkegel aus. Mit einem Heissluftföhn bog er Plexiglasstreifen, die als Lichtmodulatoren dienten. Er hielt die Plexiglasstreifen in den Laserstrahl und drehte sie so lange, bis ihn das Lichtspiel auf der Projektions­ wand ansprach. Dann fixierte er das Plexiglasstück in dieser Position und ersetzte die Projektionswand durch eine Farbfilm- oder eine Schwarz-Weiss-Platte. Er nann­ te diese Bilder Lasergrafien. Das Musée de l’Elysée in Lausanne besitzt ein Portfolio aus dieser Zeit. Eine dieser Lasergrafien mit dem Titel Solaris war 1995 anlässlich der Ausstellung Ars ad astra zusammen mit Arbeiten von neunzehn anderen Künst­ Peter Binz, Parfum­ lern aus aller Welt für ein halbes Jahr in der russischen Raumstation Mir und um­ flaschen Plexiglas, 1993, kreiste die Erde ungefähr 3500-mal. Jetzt hängt das Bild mit einer Widmung der 6 × 6 × 12 cm. Mir-Besatzung in Binz’ Atelier. Im Bereich der Digitaltechnik ist Peter Binz auf dem neuesten Stand, sei es digitale Fotografie, Grafik oder Konstruktion für Kunst und Nächste Doppelseite: Wissenschaft. Die Fotografie nimmt in seinem Schaffen immer noch eine Schlüssel­ Peter Binz, Aura, 1983, stellung ein. 2013 fotografierte er Besucher des New Yorker Museum of Modern Art vier Leuchtkästen, rote, (MoMA). Das darauf entstandene Buch wurde in die Bibliothek des MoMA aufge­ blaue, grüne und gelbe nommen. Auch die Skulptur hat einen hohen Stellenwert im Schaffen von Peter Binz, Peter Binz, Digital­ Leuchtstoffröhren, Kugel von Parfumflaschen aus Plexiglas bis zu kleinen und grossen Arbeiten aus diversen fotografie aus der Serie aus Messing mit Acryl­ Metallen: Kupfer, Messing, Eisen und Chromstahl. MoMA Visitors, 2013. streifen, 280 × 120 cm.

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RITA BURKART

Rita Burkart wurde in Rain LU geboren und lebt seit 1974 in Männedorf. 1991 ent­ AFRA FLEPP deckte sie auf einer Reise durch Korsika ihr Interesse für die Bildhauerei. Im Atelier des Bildhauers Al’Leu erwarb Burkart anschliessend das Grundwissen in der Bear­ Afra Flepp, geboren in Truns, lebt in Zürich, arbeitet heute im Wesentlichen mit der beitung von Steatit. Bei der bekannten japanischen Künstlerin Akiko Sato lernte sie Spritzpistole. Ihre Formen sind streng rechtwinklig, die Aufteilung in einzelne Farb­ zusätzlich den Umgang mit Alabaster. 1998 traf sie im Hause von Max Bill seinen felder ist ebenfalls streng. Doch kommt immer etwas hinzu, was die Ordnung in Steinmetz Silvio Santini. Diese Begegnung eröffnete ihr den Weg nach Carrara in Schwingung versetzt: Die Farben sind nicht monochrom, sondern fein abgestuft. Italien. Seit 1999 besucht sie regelmässig die dortige Bildhauerwerkstatt SGF, wo Flepp arbeitet meistens mit den drei Grundfarben und ihren Mischverläufen, einer sie mit Marmor arbeitet und immer wieder neue Techniken erlernt. Zu Hause verfei­ Art Regenbogenpalette. Die Vielfalt der Farben erlaubt keine freien Formen, sonst nert sie in aufwendiger Handarbeit mit Feilen und Schleifen die Kunstwerke. Sämt­ würde es zu üppig. Darum die strenge Begrenzung. Es werden Konfrontationen ge­ liche Skulpturen der Künstlerin strahlen eine Aura von Eigenständigkeit aus und schaffen, aber nicht als harte Auseinandersetzung, sondern wie in einer schwin­ haben einen stillen, expressiven Charakter. Rita Burkart setzt ein inneres Bild in eine genden Bewegung. Die Gegensätze sind nur scheinbar wie im Leben. Ihre Bilder sichtbare und greifbare Form um. Das erfordert gleichzeitig viel Kraft und Ausdauer. sollen gleichzeitig ruhig als auch dynamisch sein. Rita Burkart führt von Anfang an einen intensiven Dialog mit dem zu bearbeitenden Die gelernte Grafikerin Flepp arbeitete über zwanzig Jahre mit dem Kunsthaus Zürich Stein. Mit grossem Respekt vor der Materie arbeitet sie sehr genau und konzent­ zusammen, gestaltete bis zu sechzehn Quadratmeter grosse Malereien, bei welchen riert. So wird die Form der Skulptur aus dem Stein herausgearbeitet. Dies erfordert Rita Burkart, Eigen­ sie die Motive der Plakate übernahm. Damals gab es noch keine Grossdrucker, sie viel Kraft und Ausdauer. Die Skulptur soll zum Betrachter in Harmonie stehen. Die ständigkeit, Afra Flepp, Fly Robin Fly, malte Picabia, Moreau, Mondrian als auch fotorealistische Vorlagen auf vier mal vier Werke strahlen Schönheit, Ruhe, Kraft und Würde aus, widerspiegeln einen medi­ Marmor Nero Belgio, 2012, Acryl auf Leinwand, Meter. 1975 realisierte sie die erste Fassadenmalerei in Zürich, das Regenbogenhaus tativen, beseelten Charakter. 27 × 20 × 14 cm. 70 × 70 cm. am Kreuzplatz.

102 | 103 Du 872 Fritz Glarner Rockefeller Dining Room

Text MARGIT WEINBERG STABER

Die Eroberung des Raumes gehört zu den Wunschträumen der kon­ struktiven Bewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel ist die von Sophie Taeuber-Arp zusammen mit Theo van Doesburg realisierte Innenausstattung der Aubette in Strassburg 1927 bis 1928. In der Hülle eines historischen Gebäudes entfaltete sich die kühne, geometrisierte Dekoration. Das Ensemble existiert nicht mehr. Wenig dieser Art fand vom Entwurf in die Realität; wenig ist erhalten. Mehr als dreissig Jahre später blieb es Fritz Glarner vorbehalten,­ ein Raumkonzept konstruktiven Charakters verwirklichen zu können. Es grenzt an ein Wunder, dass das vom Künstler für die Stadtwohnung Nelson A. Rockefellers in New York (Manhattan) 1963 und 1964 aus­ gemalte Esszimmer in seiner ursprünglichen Dimension heute im Museum Haus Konstruktiv in Zürich steht. Fritz Glarner übertrug die Gestaltungsgesetze seines Relational Painting auf den Massstab eines täglich benutzten Raumes. Relational Painting nannte Glarner seine Bilder seit der Mitte der Vierziger. In Zürich geboren, in den Zwanziger- und Dreissiger­ jahren in Paris ansässig, in engem Kontakt mit der aktuellen Szene unter dem Stichwort Abstraction-Création, wanderte er 1936 nach New York aus. Als Piet Mondrian, den er von Paris her kannte, 1940 in die amerikanische Metropole übersiedelte, entstand zwischen den beiden Malern eine enge, inspirierende Freundschaft. Noch in Paris hatte Glarner den Weg zu den Primärfarben gefunden, die ihm für seine bildnerischen Ideen sinnvoll erschienen. Er entwickelte seine Bilder sowohl im Rechteckformat wie auch in der Rundform, Tondo genannt. Grau abschattierte und modulierte Formblöcke in fast un­ merklicher Schräglage, verbunden mit Weiss und Schwarz, harmoni­ sieren das von den Primärfarben bestimmte Bildganze. Das Relational Painting wurde zu Glarners Lebensthema, das sich in subtilen Varia­ tionen ohne ästhetische Ermüdung fortsetzte. Das räumliche Kon­ zept für das Rockefeller-Esszimmer beruht auf demselben maleri­ schen Prinzip. Ohne Einbusse bei der Stimmungsdichte setzt es sich in einen simultan lesbaren Ablauf um. Alle Wand- und Decken­ paneele sind individuell auf Leinwand mit dem Pinsel aufgetragen, sodass der Duktus des Pinselstriches im Rhythmus des räumlichen Gesamteindruckes mitschwingt. Die ursprüngliche Möblierung mit roten Stühlen war der Wunsch des Aufraggebers. Wie die Beleuchtung, eingelassen in die Der originale Rockefeller Dining Room in New York in den Sechzigerjahren. Deckenpaneele, beschaffen war, ist nicht mehr festzustellen. Das En­ semble wurde nach der Auflösung der Wohnung ausgebaut, sollte in Einzelstücken verkauft werden. Es konnte dank dem Engagement der New Yorker Kunsthändlerin Joan Washburn und der Zürcher Galeris­ tin Anne Rotzler sowie der Verhandlungsführung von Rolf Weinberg integral in die Schweiz überführt werden. Zunächst erhielt es sein erstes Domizil provisorisch im Museum Haus Konstruktiv im Zür­ cher Seefeld. Heute befindet sich der Dining Room als ein Glanzstück der Sammlung im Museum an der Selnaustrasse in Zürich. Er wurde gemäss dem originalen Esszimmergrundriss installiert und ist ein Geschenk der Paul Büchi-Stiftung.

104 | 105 106 | 107 Margit Weinberg Staber – Fritz Glarner, Rockefeller Dining Room | Du 872 Haus Konstruktiv, Zürich. Dining Room im Fritz Glarners Rockefeller

Du 872

Rockefeller Dining Room Reloaded

Text ALFREDO HÄBERLI

Ausgangspunkt der Idee war, die originale Funktion des Rockefeller Dining Room von Fritz Glarner im Haus Konstruktiv in Zürich wieder- herzustellen – auch wenn «richtiges» Dinieren wohl nur sehr selten stattfinden wird. Der ursprüngliche Ausstellungsraum als Abschluss der verschiedenen Ausstellungsräume des Museums fristete ein re- gelrechtes Mauerblümchendasein: Der «Speisesaal» hatte nicht die potenzielle Kraft eines würdigen Finales und nicht die Ausstrahlung einer ganzheitlichen Raumgestaltung, die das begehbare Gemälde aus den Jahren 1963/1964 adäquat würdigte. Gestaltet wurden Elemente, die in Fotografien damaliger Zeit zu sehen sind: Tisch, Teppich und Stühle mit Polster sowie Vorhänge und ein – ausstellungstechnisch erforderliches – Deckenlicht. Es war klar, dass sich diese Intervention zurücknehmen und vor allem das Kunstwerk unterstützen muss. In Glarners Gemälde finden sich Flächen und Linien; beim genauen Hinschauen sind diese nicht rechtwinklig. Auch die neuen Gestaltungselemente bestehen aus Linien (Draht) und Flächen (Blech, Glas und Teppich). Der grosse hochglanzschwarze Lacktisch wurde durch einen Glastisch ersetzt, der einerseits das Raumbild widerspie- gelt und sich anderseits dank seiner Transparenz trotz der immensen Dimensionierung von 4,80 Meter mal 1,20 Meter weitestgehend zu- rücknimmt. Die Stühle wirken ohne Polster wie eine dreidimensio- nale Skizze. Bei der Verwendung für ein Dinner werden sie mit einem Polsterkissen mit einem speziellen Textilentwurf ergänzt, das für die erforderliche Bequemlichkeit für einen solchen Anlass sorgt. Die De- ckenleuchte strahlt individuell steuerbares indirektes und direktes Licht, orientiert sich formal an der Gestaltung des Tischuntergestells und fügt sich dank der Reduktion trotz ihrer grosszügigen Länge sehr gut in das Ensemble ein. Die «falschen» Fensternischen sind nun mit «echtem» Vorhangstoff versehen, der die ursprüngliche Funktion der Raumbeleuchtung massgeblich unterstützt. Die gesamtheitliche Farbwahl von unterschiedlichen Grauwerten orientiert sich an der Farbe des Betonbodens und der Hauptflächen des Kunstwerks. Diese zurückhaltende Farbgebung ist gleichzeitig eine weitere Möglichkeit, sich dem Kunstwerk unterzuordnen – beziehungsweise sich als Desi- gner mit einer zeitgemässen Intervention respektvoll gegenüber der Arbeit von Fritz Glarner zu zeigen.

Alfredo Häberli, 1964 in Buenos Aires geboren, studierte Industrial Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich und eröffnete dort1991 sein eigenes Studio. Für führende Designfirmen wie Vitra oder Pfister (für die Marke Atelier Pfister) entwirft er nicht nur Möbel, Leuchten und Accessoires, sondern gestaltet auch Ausstellungen und Interieurs für innovative Gebäude. Alfredo Häberli ist einer der prägenden Produktdesigner der Gegenwart.

Fritz Glarners Rockefeller Dining Room, wiederhergestellt von Alfredo Häberli, Ausstellungsansicht Museum Haus Konstruktiv, Zürich, 2016.

108 | 109 Du 872

Es trete niemand hier ein, der nicht Geometer ist Die komplexe Kunst des Andrei Proletski

Andrei Proletski zählt auf den ersten Blick nicht zu den Stars der konstruktiven Kunst der Gegenwart. Dabei ergründen seine von Operationssälen, Fabriken und Chemiekomplexen inspirierten Werke ungeahnte Tiefen des kosmischen Daseins und schaffen faszinierende Verbindungen zwischen der sichtbaren Welt und deren verborgenen Dimensionen.

Text DAVID ROSENBERG

Obenauf formte der Gott [Hephaistos] die Erde, das Meer und den Him- ­gepaart mit einer aufmerksamen und zugleich neuartigen Interpre- mel / ferner den vollen Mond und die unermüdliche Sonne / dann auch alle tation der Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst. die Sterne dazu, die den Himmel umkränzen / oben das Siebengestirn, die Hinter einem bestechenden und mitunter fast spielerischen Hyaden, die Kraft des Orion / und die Bärin, die auch mit Namen den Äusseren – einer geometrischen Kunst mit schillernder Chromatik – Wagen sie nennen / die auf der Stelle sich dreht und stets den Orion belau- erweist sich das Werk Proletskis doch als sehr viel komplexer, als es ert / und der einzig verwehrt das Bad in Okeanos’ Fluten. auf den ersten Blick scheint. Man könnte sagen, dass Proletski in formaler Hinsicht Künstlern wie Matt Mullican, Absalon, John Arm- Homer, Ilias, XVIII, S. 483–489, leder oder auch Julian Opie (der grafischen Vereinfachung wegen) Übersetzung von Hans Rupé, München/Zürich 1989. nahesteht. Seine Werke – in erster Linie Zeichnungen und Leinwand- gemälde ebenso wie einige digitale Experimente, bei denen digitale Bilder und Musik miteinander kombiniert werden – erinnern an eine Als ich Andrei Proletski kennenlernte, lebte er in Paris, mitten im Panoramaorientierungstafel, nur mit dem Unterschied, dass diese Viertel Saint-Germain-des-Prés. Er wohnte und arbeitete in einer keine physische Landschaft darstellt, sondern vielmehr einen geis- kleinen Mansardenwohnung, durch deren Fenster er nachts den tigen Raum, der sich in zahlreiche Dimensionen öffnet. Durchdrun- Sternenhimmel und insbesondere Saturn, den sechsten Planeten un- gen von klassischer Kultur, begeistert von den alten Religionen, von seres Sonnensystems, beobachten konnte; dieser wurde früher mit der Kunst der Pyramiden bis hin zu den Kathedralen, von den herme- dem römischen Gott der Saturnalien und mit der griechischen Gott- tischen Traditionen, von der Alchemie und dem Freimaurertum, ist heit Kronos in Verbindung gebracht. Saturn ist auch der Planet, des- Proletski einer der seltenen zeitgenössischen Künstler, die versu- sen nördliche Hemisphäre ein riesiger Sechsstern ziert, von dem chen, an eine symbolische und kosmogonische Kunst universalen man vermutet, dass er aus einem Wasserwirbel oder einem Sturm Charakters anzuknüpfen. epischen Ausmasses hervorgegangen ist. Doch wie dem auch sei: Was Der in Russland, oder genauer in Sibirien, geborene Proletski hier allein zählt, ist das Vereinen aller Bestandteile, um einen so ein- wurde sicher von der naturwissenschaftlichen Neigung seines Vaters, zigartigen Künstler wie Proletski angemessen zu beschreiben. Eine eines Chemieingenieurs, beeinflusst, aber auch vonseiten seines Wohnung, die auch Atelier und Sternwarte ist, der «Sternenhimmel» Grossvaters, der Architekt von Beruf war. Er hat sich schon sehr früh als Basis für Meditation und Reflexion, eine ausgeprägte Vorliebe für Kunst interessiert und eine klassische Ausbildung genossen – er für Geometrie als symbolische und allegorische Ausdrucksform, ein ging zunächst auf die Mittelschule und dann aufs Gymnasium, die deutliches Interesse für Esoterik und Okkultismus, und das alles beide künstlerisch ausgerichtet waren –, bevor er in der Marine unter Andrei Proletski, Rahensky Metallurgical Plant, 2013, Gouache, Bleistift auf Papier, 29,7 × 21 cm.

110 | 111 Andrei Proletski, Operation Room, 1998, Tempera auf Papier, 48 × 64 cm. Du 872 |

dem zumindest originellen Titel eines Kunstjournalisten diente. Ob- sionen existieren, ohne dass es deshalb weder sein Wesen noch seine wohl er brillant und von seinen Lehrern geschätzt war, blieben für eigene Identität verliert. ihn dennoch wegen seines nachweislichen Desinteresses an jeglicher Fabriken und Chemiekomplexe stellen das zweite immer wie- Form von Ideologie die Türen der Akademie verschlossen. In dieser derkehrende Bildelement im Werk des Künstlers dar. Visuell verfährt Zeit entdeckte er die Künstler der russischen Avantgarde von Ljubow er auf die gleiche Weise, indem er die stilisierte oder gesäuberte Form Popowa bis hin zu Kasimir Malewitsch, des Fauvismus, des Post­ der Gebäude in einem Raum aufnimmt, der aus einem aus gleich gros­ impressionismus, von Hans Arp bis hin zu Wassily Kandinsky. sen Quadraten gebildeten Raster oder Gerüst besteht. Doch die Male- Einige Jahre später reiste Proletski nach Indien, nach Vietnam rei Proletskis beschränkt sich nicht auf ein einfaches geometrisches

David Rosenberg – Die komplexe Kunst des Andrei Proletski Kunst – Die komplexe Rosenberg David und nach Afrika, wo er Kunstbücher kaufte, in denen er die amerika- «Spiel», sondern ist eine gekonnte ästhetische Schilderung des Sicht- nische Pop-Art und die grossen Künstler der Minimal Art wie Donald baren. Die Umsetzung eines realen Gegenstandes im Raum oder in Judd und Sol LeWitt entdeckte. Der Künstler lebte danach einige Zeit einer neuen Dimension ähnelt seiner Auffassung nach einem alche- in Europa, in Deutschland und in der Schweiz und landete schliess- mistischen Umwandlungsprozess, einer «Sublimierung» der Elemente. lich in Paris. Auch die Gasanlagen oder petrochemischen Fabriken des Künstlers Proletski hat bereits Hunderte von Werken in schillernden Far- erinnern wahrscheinlich auf ihre Weise an den Athanor, den Ofen der ben gemalt, die – wenn das nicht die Synthese der zuvor erwähnten Alchemisten. Das ist auch seine Art, Ruhmeshallen für die Verstorbe- Strömungen bedeutet – mit einer völlig neuartigen Form von Synkre- nen heraufzubeschwören, wie das Pantheon der chthonischen Götter tismus aufzuwarten scheinen. Doch alles ändert sich, als er 1995 in (die aus dem Inneren der Erde stammen), dominiert von der Figur New York zufällig eine Zeitung von der Strasse aufliest, in der die der Göttermutter und den Giganten. Schwarz-Weiss-Fotografie eines chirurgischen Operationssaales abge- So erklärt sich auch der Verweis auf Hephaistos in dem voran- bildet war. Nun entsteht die plastische Formensprache des Künstlers: gestellten Zitat. Dieser merkwürdige hinkende griechische Gott von axonometrische Darstellung, schwarze Verschattung, glatte, zu­meist plumper Gestalt, der als Schmied seines Amtes waltet, treibt Prolet­ leuchtende Farben. Doch jenseits der malerischen Sprache deutet skis Fantasie unentwegt um. Der berühmte Schild des Schöpfers ma- sich eine tiefgründige Reflexion über die Malerei als hermetisches gischer Kunstwerke stellt den Kosmos in seiner Gesamtheit dar, vom Symbol an. Auf der einen Seite steht eine Folge von Bildern aus der Sternenhimmel bis zur Erde, den Menschen, den Tieren und den Aussenwelt (Fotografien von Fabriken oder Operationssälen), auf der Pflanzen. Es ist ein verblüffend lebendiges Bild der Wahrheit, ver- anderen Seite Kompositionen, die allein der Fantasie des Künstlers gleichbar mit einem Spiegel, in dem sich alles widerspiegelt. Nur entspringen (die Frozen Cities zum Beispiel). Die ganze Kunst besteht dass es sich hier um einen «geometrischen» Spiegel handelt, der Proletski zufolge darin, die Beziehung zwischen unserer Welt und nicht mehr das Bild der Realität widerspiegelt, sondern die Struktu- anderen Parallelwelten oder auch zwischen unserer Dimension und ren seiner zugrunde liegenden Architektur. anderen verwandten Dimensionen zu finden. Kehren wir nun wieder an unseren Ausgangspunkt zurück: Die Die Thematik des Operationssaals hat in dieser Hinsicht eine Kunst, die geometrisch und symbolisch oder allegorisch ist, erlaubt ganz besondere Bedeutung im Werk des Künstlers, insofern als sie Proletski zufolge die Schaffung einer Verbindung zwischen unserer subtil und verschleiert auf die Thematik des Todes und der Wieder- Welt und verwandten, verborgenen Dimensionen, deren Existenz wir geburt beziehungsweise auf die Thematik vom Fortbestehen des Be- erahnen. Das ist genau eine der wesentlichen Lehren der Quanten- wusstseins verweist. In semiotischer Hinsicht kommt das durch den physik und der Stringtheorie, deren 1995 von Edward Witten ange- Aufbau einer geometrischen Form zum Ausdruck, die den Sarkophag nommene M-Theorie nicht weniger als elf Dimensionen voraussetzt des Osiris und das Kreuz Christi in Personalunion in Erinnerung ruft, sowie die Existenz von Tunnels und Wurmlöchern, die alles mit-­ zwei Traditionen, die in den Augen des Künstlers nicht getrennt von- ei­nander verbinden. Selbstverständlich geht es nicht darum, zu ver- einander oder gegensätzlich zu betrachten sind, sondern von denen mitteln, dass der Maler an die Stelle des Physikers oder des Metaphy- seiner Meinung nach tatsächlich die eine aus der anderen hervorge- sikers treten könne, jedoch dass dieser auf seine Weise eine Form zu gangen ist. Vom streng geometrischen Standpunkt aus geht es darum, geben versteht, die für grundlegende Intuitionen empfänglich ist, ein Bild in einem Vektorraum entsprechend einer axonometrischen die den Horizont unseres heutigen Gedankenkreises bilden. All das Perspektive zu projizieren oder zu rekonstruieren; die zweidimensio­ macht die Bedeutung und die Schönheit von Proletskis Werk aus. nale Fläche der Leinwand manifestiert das, was Proletski als eine parallele und mit unserer Dimension isomorphe Dimension bezeich- net. Vergegenwärtigen wir uns einfach, dass chemische Körper als isomorph bezeichnet werden, wenn sie eine ähnliche kristalline Struktur aufweisen. Ebenso werden zwei mathematische Mengen als isomorph bezeichnet, die eine offenkundige Ungleichheit zeigen, David Rosenberg, 1965 geboren, französischer Kurator und Autor mit dem die aber, wie sich herausstellt, eigentlich alle beide auf identischen Schwerpunkt moderne und zeitgenössische Kunst. In diesem Jahr war Strukturen beruhen. Folglich kann und muss alles, was wir um uns er Kokurator der Ausstellung Goldenes Wasser – Apokalyptische schwarze herum in drei Dimensionen beobachten, in Parallelräumen zu x Dimen- Spiegel II in Rom.

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