Unverkäufliche Leseprobe Brigitte Fassbaender
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Unverkäufliche Leseprobe Brigitte Fassbaender „Komm‘ aus dem Staunen nicht heraus“ Memoiren 2019. 381 S., mit 49 Abbildungen ISBN 978-3-406-74115-9 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27777185 © Verlag C.H.Beck oHG, München Brigitte Fassbaender «Komm’ aus dem Staunen nicht heraus» MEMOIREN C.H.Beck Mit 49 Abbildungen Vorderer Vorsatz (von links oben): Als Eboli, Carmen, Marina, Fricka, Gräfin Geschwitz, Marie, Sesto, Dorabella, Orfeo, Amme Hinterer Vorsatz (von links oben): Als Gräfin Geschwitz, Amneris, Octavian, Orlofsky, Clarissa, Waltraute, privat, als Hänsel, Charlotte, Eboli © Verlag C.H.Beck oHG, München 2019 www.chbeck.de Satz: Fotosatz Amann, Memmingen Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 978 3 406 74115 9 klimaneutral produziert www.chbeck.de/nachhaltig Daß wir sie überschätzen, dazu ward die Vergangenheit unserem Gedächtnis einverleibt. HUGO VON HOFMANNSTHAL Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger … Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen. RAINER MARIA RILKE Für J. S. und alle Freunde und Wegbegleiter, die nicht namentlich genannt sind, die aber mein Leben mit ihrem Verständnis und ihrer Treue bereichern Inhalt Zu Beginn 11 1 Herkunft 13 Der Vater 13 Die Mutter 20 Die Anders-Schwestern 25 2 Eine Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeit 30 Als ich geboren wurde 30 Dresden 35 Russenzeit 39 Die Schulzeit beginnt 43 Zwischenspiel am Meer 49 3 Jugendjahre 50 Hannover 50 Die Gefangenschaft des Großvaters 53 Wieder in Berlin 55 Aufbruch 60 4 Studienzeit und Anfänge in München 64 Nürnberg 64 Anfang in München 70 Abschweifung 71 Typen und Prägungen 75 Erste Partien 77 Privates 82 5 Von München in die Welt 86 Ensembleleben und erste Reisen 86 Die neue Ära in München 92 Hundesuppe in Mailand 97 Krankheit und Tod 101 Abschweifung 108 6 «O Wandern, Wandern, meine Lust» 110 Plateauwanderung 110 Wien 111 Veränderung und Orientierung 114 Sawallisch & Co. 117 Die Italiener 118 Im Aufnahmestudio 121 Und immer wieder: Lieder 125 Meine «Winterreise» 126 Liebesbrief an F. S. 128 Abschweifung 131 7 Übergänge 133 Eine zu frühe Verpflichtung 133 Anbahnungen 135 Zwischenbemerkung: Mein «Rosenkavalier» 137 Regisseure 141 Dirigenten 146 Ausflug nach Prag 151 Anekdoten 153 Die ständigen Begleiter 158 Der Bahnhof 164 Kollegen 166 8 Vom Glück der logischen Schritte 172 Abschied und Neubeginn 172 Intendanz 176 Shakespeare und andere Abenteuer 187 Meine Festivals 192 9 Menschenreichtum 196 Ein paar Legenden und ein paar Freunde 196 Erlebnisse 203 Was noch gesagt sein muss 206 Stille Kompagnons 207 Eine Art Fazit 208 Zu guter Letzt 212 Seitenwechsel: Ein Theatertagebuch 217 «A Midsummer Night’s Dream»: Man sieht den Wald vor lauter Träumen nicht … 218 Tagebuch: September 1991 – Oktober 1993 219 Israel 307 Nachspiele 310 Regiegedanken 315 «Die Zauberflöte» 318 «Tristan und Isolde» 320 «Carmen» 322 «Fidelio» 323 «Die Frau ohne Schatten» 325 «Peter Grimes» 328 «Salome» 329 «Der Freischütz» 332 «Pelléas und Mélisande» 335 «The Turn of the Screw» 338 «Die Trojaner» 341 «Arabella» 346 «Falstaff» 349 Anhang 353 Dank 355 Zeittafel 356 Auszeichnungen (Auswahl) 360 Tonträger (Auswahl) 361 Übersetzungen und Musical-Libretti 368 Inszenierungen 369 Bildnachweis 372 Personenregister 374 Zu Beginn Eigentlich wollte ich mit 44 sterben. So hatte ich es mir jedenfalls als Schulmädchen vorgenommen. Genauso wie mein geliebter Chris- tian Morgenstern, dessen Lyrik ich damals verschlang und dessen Le- ben mich so beeindruckte. Es ist anders gekommen – ich lebe immer noch und habe das erreicht, was man «Alter» nennt. Die großen halbrunden und runden Geburtstage häufen sich. Ich soll ein Buch über mein Leben schreiben, so werde ich gebeten, ermuntert und aufgefordert. Man fürchtet ein Verstummen, ein Gehen, ohne die Zeitzeugenschaft meines Lebens hinterlassen zu wissen. Man bietet mir Hilfestellung und Ghostwriting an – ich will es nicht. Wenn schon, denn schon. Das Wort war mir immer nah und das Schreiben eine vielgeübte Tätigkeit, die in vielfältiger Form mein Leben begleitete und ihren Niederschlag fand. Artikel, Be- gleittexte, Vorworte, skurrile Kurzgeschichten, Gedichte sind hie und da entstanden, manches wurde sogar in diversen Druckwerken veröffentlicht. Aber ein Buch? Ein richtiges Buch? Im Schreiben war ich bislang Kurzstreckenläuferin. Für einen Menschen voller Skrupel und Selbstzweifel ist es schwer vorstellbar, dass aus seinem Leben ein Buch werden sollte, das andere interessieren könnte. Doch an Erleb- nissen und Begegnungen ist dieses Leben reich – und es begann zu einer Zeit, die mich zur «Zeitzeugin» macht, deren Wachsen und Werden offensichtlich interessant genug erscheint, um festgehalten zu werden. Also unternehme ich den Versuch, tatsächlich ein Buch zu verfas- sen, bevor es zu spät sein könnte. Bei dem Wort «Versuch» fühle ich mich einigermaßen geborgen. Denn Versuch ist und bleibt alles, was ich beginne, solange ich fähig sein werde, mein Leben eigenständig zu gestalten. Versuch war und ist jede künstlerische Äußerung; Ver- such war, Kreativität zu leben und zu bewältigen. Ein ununterbro- 11 Zu Beginn chener Vorgang. Ich stürze mich hinein in das Abenteuer meiner «Memoiren» und nehme die Herausforderung an, nicht ohne wieder einmal bei Shakespeare das Wort zu finden, das mir Hilfe und Ent- schuldigung ist: «Mir ist Geschehenes abgetan. Oh Zeit! Du selbst entwirre dies, nicht ich: Ein zu verschlungener Knoten ist’s für mich.» B. F. im Februar 2018 1 Herkunft Der Vater Mein Vater sprach nicht gern und nur selten über seine Familie. Was ich von ihm über sie weiß, ist bruchstückhaft und vage. Den bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgten Stammbaum der Familie habe ich nach dem Tod meines Vaters in seinen Unterlagen gefunden. Die Auszüge aus Kirchenbüchern und Registern hat er wohl zusammen- getragen, als es in Deutschland nötig war, den «Ariernachweis» zu erbringen. Viele der Vorfahren stammten aus Aachen und Umgebung. Der Ururgroßvater, Johann Heinrich Josephus Fassbaender, war Küster, Organist und Nadelmacher, so steht es in den alten Registeraus- zügen von 1798. Mit seiner Frau Anna Katharina Sibylla Schürfeld hatte er zwei Söhne. Der Erstgeborene, Karl Wilhelm, war Lehrer, heiratete zweimal und hatte acht Kinder. Der Zweitgeborene, Adolf Johann Ludwig, war Bäcker und zeugte mit seiner Frau, der Nieder- länderin Maria Theresia Printz, sechs Söhne, von denen der vierte, Albert Johann, mein Großvater und der Vater meines Vaters werden sollte. Geboren 1861, wurde Albert Johann Schreiner und heiratete Elisabeth Brodmühler, deren Vater ebenfalls Schreiner war – ein Be- ruf, der in der weitverzweigten, immer wieder in die Niederlande reichenden Ahnenreihe häufig vorkommt. So ist mir klar, woher meine Neigung zu Bäumen, zu Holz, zum Schreinern und Hand- werken stammt. Es gab unter meinen Vorfahren auch einen Huf- schmied, einen Gastwirt, zahlreiche Bürgermeister und Schöffen, nur weit und breit keinen Musiker oder Künstler, bis auf den orgel- spielenden Küster, meinen Ururgroßvater. Mein Großvater Albert Johann, der Aachener Schreiner und Holz- händler, starb sehr früh, als mein 1897 geborener Vater, Wilhelm Josef 13 Herkunft Albert Fassbaender, Elisabeth Fassbaender, geb. Brodmüh- der Großvater väterlicherseits ler, die Großmutter väterlicherseits Maria, zwei Jahre alt war. Dieser wuchs nun in der Obhut seiner streng katholischen, einfachen Mutter Elisabeth auf, die eine schöne Frau gewesen sein muss. Er hatte zwei ältere Brüder und eine Schwes- ter mit Namen Philomene. Zu seinen Brüdern brach er jedoch als junger Mann jeglichen Kontakt ab – ich habe sie nie gesehen. Sie hatten ihn beim Tod der Mutter um das Erbe betrogen, wie er sagte. Zu Philomene hingegen, die ein Leben lang in der Geburtsstadt Aachen lebte, bestand eine lose Verbindung. Ich lernte sie kennen, als sie meinen Vater einige Jahre vor seinem Tod noch einmal be- suchte: eine kleine, dickliche Person, eine Miniaturausgabe meines Vaters, still und verschlossen. Man schwieg miteinander. Die Mutter, die von den Geschwistern heftig geliebt wurde, war Ende der Zwanzigerjahre gestorben. Mein Vater bewahrte ihr zeit- lebens eine zärtliche Erinnerung. Er hütete ihren Rosenkranz in einem kleinen Etui, das er immer bei sich trug und küsste, wenn er es aufnahm oder ablegte. In seiner Hinterlassenschaft habe ich einen Brief von ihr an den karrieremachenden Sohn gefunden, mit Bleistift geschrieben, in schütterer Rechtschreibung, in dem sie ihn zu Anstand und Ordnung und zum sonntäglichen Kirchgang mahnt. 14 Der Vater Schon früh wurde mein Vater in den Aachener Domchor auf- genommen, in dem er zum Sopransolisten heranwuchs. Von dieser Zeit erzählte er später viel – von den Konzertreisen ins benachbarte Ausland, nach Belgien, wo er auch ins Gymnasium ging, und in die Niederlande, wo die Großmutter eine Tulpenfarm hatte. Und vom Besteigen des steinernen Throns Karls des Großen im Dom, das natürlich streng verboten war, was aber die Chorbuben überhaupt nicht kümmerte. Mein Vater war ein wildes, ungebärdiges Kind und hatte daher seinen Spitznamen «der wilde Dumgrof»: So wurden im Aachener Dialekt die Raubritter genannt. Sein Lehrer, der Chor- direktor Felix Knubben, förderte den talentierten Chorbuben und riet zum Gesangsstudium. Nach dem Stimmbruch entwickelte sich die Stimme zu einem prachtvollen Bariton. Nun wurde Wilhelm Josef Maria zielstrebig zum Musiker ausgebildet. Nebenbei lernte er das Handwerk