Marcello Viotti Dirigent Im Gespräch Mit Dr. Norbert Christen Christen
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BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0304/20030407.shtml Sendung vom 07.04.2003, 20.15 Uhr Marcello Viotti Dirigent im Gespräch mit Dr. Norbert Christen Christen: Willkommen, verehrte Zuschauer, bei Alpha-Forum. Auch wenn die Zeit, die Epoche der allmächtigen Pultdirigenten längst vorbei ist, so ist doch die Gestalt des Dirigenten heute nach wie vor von großer Faszination umgeben. Ich begrüße hier im Studio sehr herzlich Marcello Viotti, den Chefdirigenten des Münchner Rundfunkorchesters und des "Gran Teatro La Fenice". Herr Viotti, Sie sind in der französischen Schweiz geboren, aber wie ihr Name verrät, sind Sie italienischer Herkunft. Wann ist denn Ihre Familie aus Italien in die Schweiz übergesiedelt? Viotti: Das war mein Großvater: Er war Schmied, denn in unserer Familie gibt es eine große Schmiede-Tradition. In der Krise der zwanziger Jahre ist mein Großvater von Italien aus in die Schweiz gegangen. Er ging sogar zu Fuß dorthin. Dort ist dann mein Vater geboren, der allerdings wieder nach Italien gegangen ist, um dort eine Frau für sich zu finden. Er hat also ein Italienerin geheiratet. Ich selbst wurde dann wieder in der Schweiz als erstes von vier Kindern geboren. Wir haben zu Hause immer Italienisch gesprochen und selbst heute sprechen wir innerhalb der Familie - meine Eltern leben Gott sei Dank noch - immer noch Italienisch. Meine Schulzeit habe ich jedoch auf Französisch absolviert. Christen: Wann haben Sie Deutsch gelernt? In der Schule? Viotti: Ja, in der Schule, aber in der Schule lernt man natürlich keine Sprache richtig sprechen. Wobei ich mich gleich mal bei allen Lehrern, die uns zusehen, für diese Aussage entschuldigen möchte. Gut, man lernt dort in der Schule höchstens die Basis einer Sprache. Richtig lernt man eine Fremdsprache aber nur dann, wenn man auch in diesem Land lebt. Bei mir war das der Fall, als ich angefangen habe, auch in Deutschland zu dirigieren. Vor allem in meiner Zeit in Bremen habe ich mein Deutsch verbessern können. Es ist noch nicht perfekt, denn Deutsch ist ja eine schwere Sprache. Aber, wie gesagt, gelernt habe ich mein Deutsch erst hier. Christen: Herr Viotti, zu Ihren Vorfahren zählt ein berühmter Geiger und Komponist, Giovanni Battista Viotti, der ja ein Zeitgenosse von Mozart und Beethoven war. Gibt es denn in Ihrem Familienbesitz noch Briefe oder sonstige Dokumente aus dieser Zeit? Viotti: Ja, es gibt da noch ziemlich viel. Von diesen Dingen besitze ich selbst sogar ziemlich viel, weil ich es einfach wichtig finde zu wissen, wer man eigentlich ist und von wo man kommt. Die Historie, die Geschichte meiner Familie ist mir also ziemlich wichtig. Dieser Komponist ist ein Urgroßonkel von mir: Er selbst hatte keine Kinder. Wir besitzen natürlich viele Briefe von ihm und auch viele Musik-Manuskripte. Es gibt aber auch viele Dinge von ihm im Nationalmuseum in Turin, weil er genau wie wir aus dem Piemont stammte. Er war aber letztlich genau wie ich: Erst ist überall herumgereist. Seine erste Reise führte ihn z. B. bis nach St. Petersburg, wo er vor dem Zaren gespielt hat. Er war nämlich ein sehr, sehr guter Geiger. Er hat darüber hinaus auch selbst viele Geigenkonzerte komponiert. Diese Stücke kennt jeder Student einer Musikhochschule, weil sie einerseits ziemlich einfach und andererseits ziemlich schwer sind. Danach war er dann Chef der Oper in Paris, später war er in London usw. Er ist also ziemlich viel herumgereist. Christen: In Ihrer eigenen Familie wurde dann aber Musik nicht mehr professionell betrieben. Gab es aber dennoch eine Neigung zur Musik? Wurde z. B. gesungen? Viotti: Wie in vielen italienischen Familien hat natürlich auch meine Mutter immer ziemlich viel gesungen, z. B. Opernarien. Auch mein Vater hat recht viel gesungen. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass meine Mutter aus einem Tal in Piemont stammt, das protestantisch geprägt ist: Das ist die Region Valdese, das ist das Pellice-Tal in Piemont. Dort gibt es das erstaunliche Moment, dass die Leute vom Dogma her protestantisch sind, ihre kirchlichen Rituale aber katholisch ausgeprägt sind. Meine Mutter kommt also aus dieser Gegend und wir haben zu Hause daher immer auch vierstimmige Choräle von Bach gesungen: zusammen mit meinem Bruder, mit meiner Mutter und meinem Vater. Wir haben also schon ziemlich viel gesungen zu Hause. Wir haben sogar vom Blatt gesungen. Diese Liebe zum Gesang ist mir bis heute geblieben: Der Gesang ist also in meinem Leben wirklich sehr wichtig. Christen: Der Berufswunsch eines Kindes, eines Heranwachsenden ändert sich ja im Laufe der Jahre mehrfach. Es gibt bei den Buben z. B. zunächst einmal oft den Wunsch, Lokomotivführer oder Pilot zu werden. Wie war das bei Ihnen? Wann war es denn für Sie selbst klar, dass Sie Musiker werden würden? Viotti: Ich hatte auch diese Phase davor. Ich wollte zwar kein Lokomotivführer werden, aber immer Stationsleiter bei der Eisenbahn. Ich glaube, das geht wohl jedem Kind irgendwie so ähnlich. Daneben habe ich aber auch schon ziemlich früh damit angefangen, Klavier zu spielen: schon mit sieben Jahren! Ich hatte dabei zunächst einmal Privatunterricht. Als ich dann am Ende der Schulzeit den Entschluss fasste, Musiker zu werden, waren meine Eltern zunächst einmal dagegen. Ich war ja der älteste Sohn und insofern hätte es mein Vater natürlich gerne gesehen, wenn ich die Tradition der Schmiede in unserer Familie fortgesetzt hätte. Dies habe ich nicht gemacht, obwohl ich zunächst einmal für ein Jahr in der Fabrik meines Vaters gearbeitet habe. Ich konnte damals einfach nichts anderes machen: Ich war ja erst 16 Jahre alt! Christen: Haben Sie nicht Probleme mit Ihren Händen bekommen? Viotti: Ja, das war schon ziemlich hart. Ich hatte damals eine wirklich harte Zeit. Dafür kann ich heute bei solchen Dingen wie Sozialismus oder Arbeit mitreden: Ich habe damals von sieben Uhr in der Früh bis zwölf Uhr mittags und dann von ein Uhr dreißig nachmittags bis fünf Uhr dreißig in dieser Fabrik gearbeitet. Das war nicht schlecht für mich. Gut, in der Zeit damals habe ich das natürlich als furchtbar empfunden, aber heute sehe ich doch, dass diese Zeit für meine Persönlichkeitsbildung sehr, sehr wichtig gewesen ist. Ich war dort auch nur mit Italienern zusammen. Mit 16 Jahren so hart arbeiten zu müssen, war nicht so einfach. Danach dann bin ich aber von zu Hause rausgeflogen und habe von da an mein Studium an der Musikhochschule in Lausanne selbst bezahlt. Christen: Haben Sie da nebenbei jobben müssen? Viotti: Ja, natürlich, da habe ich viele Jobs machen müssen. Diese Geschichte ist aber nicht wichtig. Es war jedenfalls so, dass ich mir mein Studium in Klavier und Gesang und im Nebenfach Violoncello selbst bezahlt habe. Christen: Sie sind dann aber kein Pianist oder Sänger geworden, sondern Dirigent. Wie ist es dazu gekommen? Viotti: Ich habe also mein Gesangsdiplom gemacht und habe dann im Rundfunkchor von Radio Suisse Romande in Genf gesungen, um mir ein wenig Geld zu verdienen. Der Chef dieses Orchesters war damals Wolfgang Sawallisch. Dieser sehr berühmte Dirigent ist ja ein Begriff für alle Musikliebhaber in Bayern. Ich habe dort mal einen ganzen Tag lang mit ihm gesprochen, weil ich von seinen Proben so begeistert war. Er hat wirklich wunderschön geprobt. Bei ihm habe ich viel, viel gelernt. Aber das war mir nicht genug und so habe ich ihn gefragt, wie ich das wirklich voll und ganz lernen könnte, wie ich also Dirigent werden könnte. Er meinte, ich müsste dafür an ein Theater gehen. Damit hatte er natürlich Recht: Er wusste einfach, dass diese Arbeit am Theater das Richtige ist für einen Dirigenten. Er meinte also, ich solle als Korrepetitor und Pianist an ein Theater gehen. Das habe ich dann tatsächlich so gemacht. Davor habe ich aber in Genf mit Studenten der Hochschule noch ein kleines Orchester gegründet. Dort habe ich angefangen zu dirigieren. Danach dann habe ich eben diesen Wettbewerb in Italien gewonnen, sodass ich anschließend ans Teatro Reggio di Torino als Kapellmeister gehen konnte. Christen: Haben Sie sich denn die Voraussetzungen dafür, die man braucht wie z. B. die Schlagtechnik oder das Partiturspiel, selbst beigebracht? Haben Sie sich das irgendwo abgeschaut? Oder haben Sie dafür irgendwelche Kurse belegt? Viotti: Ich habe mir von Sawallisch in der Tat einiges abschauen können. Ich habe jede Probe und jeden Moment seiner Arbeit in mich hineingezogen. Ich bin z. B. sogar extra nach München gefahren, um ihn bei seinen Strauss- Proben meinetwegen zu "Arabella" oder "Frau ohne Schatten" zu erleben. Ich habe also sehr viel gelernt von ihm. Wenn man ein bisschen intelligent und wach ist, kann man da wirklich viel lernen. Sawallisch hat mir z. B. auch gesagt, dass eigentlich jeder eine andere Schlagtechnik hat. Es gibt nicht die eine richtige Schlagtechnik: Jeder hat seine eigene. Das ist aber auch gar nicht das Wichtigste. Gut, es ist schon wichtig, dass man das beherrscht, aber wichtiger ist, dass man weiß, was man will. Ich spreche jetzt vom Umgang mit einer Partitur: Man weiß, man will etwas ganz Bestimmtes, und so muss man eben versuchen, genau das dem Orchester zu vermitteln. Das ist das Wichtigste, die Vermittlung. Wie kann man anderen Musikern mit Worten sein eigenes Konzept vermitteln? Das ist das Wichtigste, aber das ist auch gleichzeitig nur schwer zu lernen. Das hat man oder das hat man nicht oder das kriegt man mit den Jahren eben doch irgendwie mit. Christen: Haben Sie denn auch Kurse meinetwegen bei Franco Ferrara, bei Sergiu Celibidache belegt? Viotti: Ja, ich weiß, das sind alles große Namen. Ich habe bei ihnen aber keine Kurse belegt, ich bin stattdessen einzelnen Leuten gefolgt: Das war mir wichtiger. Ich habe z. B. mit dem großen Lovro von Matacic in Italien ein paar Monate arbeiten dürfen. Ich wollte einfach sehen, wie er Beethoven macht, denn für mich war Matacic ein Begriff im Beethoven-Repertoire.