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Sendung vom 07.04.2003, 20.15 Uhr

Marcello Viotti Dirigent im Gespräch mit Dr. Norbert Christen

Christen: Willkommen, verehrte Zuschauer, bei Alpha-Forum. Auch wenn die Zeit, die Epoche der allmächtigen Pultdirigenten längst vorbei ist, so ist doch die Gestalt des Dirigenten heute nach wie vor von großer Faszination umgeben. Ich begrüße hier im Studio sehr herzlich Marcello Viotti, den Chefdirigenten des Münchner Rundfunkorchesters und des "Gran Teatro ". Herr Viotti, Sie sind in der französischen Schweiz geboren, aber wie ihr Name verrät, sind Sie italienischer Herkunft. Wann ist denn Ihre Familie aus Italien in die Schweiz übergesiedelt? Viotti: Das war mein Großvater: Er war Schmied, denn in unserer Familie gibt es eine große Schmiede-Tradition. In der Krise der zwanziger Jahre ist mein Großvater von Italien aus in die Schweiz gegangen. Er ging sogar zu Fuß dorthin. Dort ist dann mein Vater geboren, der allerdings wieder nach Italien gegangen ist, um dort eine Frau für sich zu finden. Er hat also ein Italienerin geheiratet. Ich selbst wurde dann wieder in der Schweiz als erstes von vier Kindern geboren. Wir haben zu Hause immer Italienisch gesprochen und selbst heute sprechen wir innerhalb der Familie - meine Eltern leben Gott sei Dank noch - immer noch Italienisch. Meine Schulzeit habe ich jedoch auf Französisch absolviert. Christen: Wann haben Sie Deutsch gelernt? In der Schule? Viotti: Ja, in der Schule, aber in der Schule lernt man natürlich keine Sprache richtig sprechen. Wobei ich mich gleich mal bei allen Lehrern, die uns zusehen, für diese Aussage entschuldigen möchte. Gut, man lernt dort in der Schule höchstens die Basis einer Sprache. Richtig lernt man eine Fremdsprache aber nur dann, wenn man auch in diesem Land lebt. Bei mir war das der Fall, als ich angefangen habe, auch in Deutschland zu dirigieren. Vor allem in meiner Zeit in habe ich mein Deutsch verbessern können. Es ist noch nicht perfekt, denn Deutsch ist ja eine schwere Sprache. Aber, wie gesagt, gelernt habe ich mein Deutsch erst hier. Christen: Herr Viotti, zu Ihren Vorfahren zählt ein berühmter Geiger und Komponist, Giovanni Battista Viotti, der ja ein Zeitgenosse von Mozart und Beethoven war. Gibt es denn in Ihrem Familienbesitz noch Briefe oder sonstige Dokumente aus dieser Zeit? Viotti: Ja, es gibt da noch ziemlich viel. Von diesen Dingen besitze ich selbst sogar ziemlich viel, weil ich es einfach wichtig finde zu wissen, wer man eigentlich ist und von wo man kommt. Die Historie, die Geschichte meiner Familie ist mir also ziemlich wichtig. Dieser Komponist ist ein Urgroßonkel von mir: Er selbst hatte keine Kinder. Wir besitzen natürlich viele Briefe von ihm und auch viele Musik-Manuskripte. Es gibt aber auch viele Dinge von ihm im Nationalmuseum in , weil er genau wie wir aus dem Piemont stammte. Er war aber letztlich genau wie ich: Erst ist überall herumgereist. Seine erste Reise führte ihn z. B. bis nach St. Petersburg, wo er vor dem Zaren gespielt hat. Er war nämlich ein sehr, sehr guter Geiger. Er hat darüber hinaus auch selbst viele Geigenkonzerte komponiert. Diese Stücke kennt jeder Student einer Musikhochschule, weil sie einerseits ziemlich einfach und andererseits ziemlich schwer sind. Danach war er dann Chef der Oper in Paris, später war er in London usw. Er ist also ziemlich viel herumgereist. Christen: In Ihrer eigenen Familie wurde dann aber Musik nicht mehr professionell betrieben. Gab es aber dennoch eine Neigung zur Musik? Wurde z. B. gesungen? Viotti: Wie in vielen italienischen Familien hat natürlich auch meine Mutter immer ziemlich viel gesungen, z. B. Opernarien. Auch mein Vater hat recht viel gesungen. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass meine Mutter aus einem Tal in Piemont stammt, das protestantisch geprägt ist: Das ist die Region Valdese, das ist das Pellice-Tal in Piemont. Dort gibt es das erstaunliche Moment, dass die Leute vom Dogma her protestantisch sind, ihre kirchlichen Rituale aber katholisch ausgeprägt sind. Meine Mutter kommt also aus dieser Gegend und wir haben zu Hause daher immer auch vierstimmige Choräle von Bach gesungen: zusammen mit meinem Bruder, mit meiner Mutter und meinem Vater. Wir haben also schon ziemlich viel gesungen zu Hause. Wir haben sogar vom Blatt gesungen. Diese Liebe zum Gesang ist mir bis heute geblieben: Der Gesang ist also in meinem Leben wirklich sehr wichtig. Christen: Der Berufswunsch eines Kindes, eines Heranwachsenden ändert sich ja im Laufe der Jahre mehrfach. Es gibt bei den Buben z. B. zunächst einmal oft den Wunsch, Lokomotivführer oder Pilot zu werden. Wie war das bei Ihnen? Wann war es denn für Sie selbst klar, dass Sie Musiker werden würden? Viotti: Ich hatte auch diese Phase davor. Ich wollte zwar kein Lokomotivführer werden, aber immer Stationsleiter bei der Eisenbahn. Ich glaube, das geht wohl jedem Kind irgendwie so ähnlich. Daneben habe ich aber auch schon ziemlich früh damit angefangen, Klavier zu spielen: schon mit sieben Jahren! Ich hatte dabei zunächst einmal Privatunterricht. Als ich dann am Ende der Schulzeit den Entschluss fasste, Musiker zu werden, waren meine Eltern zunächst einmal dagegen. Ich war ja der älteste Sohn und insofern hätte es mein Vater natürlich gerne gesehen, wenn ich die Tradition der Schmiede in unserer Familie fortgesetzt hätte. Dies habe ich nicht gemacht, obwohl ich zunächst einmal für ein Jahr in der Fabrik meines Vaters gearbeitet habe. Ich konnte damals einfach nichts anderes machen: Ich war ja erst 16 Jahre alt! Christen: Haben Sie nicht Probleme mit Ihren Händen bekommen? Viotti: Ja, das war schon ziemlich hart. Ich hatte damals eine wirklich harte Zeit. Dafür kann ich heute bei solchen Dingen wie Sozialismus oder Arbeit mitreden: Ich habe damals von sieben Uhr in der Früh bis zwölf Uhr mittags und dann von ein Uhr dreißig nachmittags bis fünf Uhr dreißig in dieser Fabrik gearbeitet. Das war nicht schlecht für mich. Gut, in der Zeit damals habe ich das natürlich als furchtbar empfunden, aber heute sehe ich doch, dass diese Zeit für meine Persönlichkeitsbildung sehr, sehr wichtig gewesen ist. Ich war dort auch nur mit Italienern zusammen. Mit 16 Jahren so hart arbeiten zu müssen, war nicht so einfach. Danach dann bin ich aber von zu Hause rausgeflogen und habe von da an mein Studium an der Musikhochschule in Lausanne selbst bezahlt. Christen: Haben Sie da nebenbei jobben müssen? Viotti: Ja, natürlich, da habe ich viele Jobs machen müssen. Diese Geschichte ist aber nicht wichtig. Es war jedenfalls so, dass ich mir mein Studium in Klavier und Gesang und im Nebenfach Violoncello selbst bezahlt habe. Christen: Sie sind dann aber kein Pianist oder Sänger geworden, sondern Dirigent. Wie ist es dazu gekommen? Viotti: Ich habe also mein Gesangsdiplom gemacht und habe dann im Rundfunkchor von Radio Suisse Romande in Genf gesungen, um mir ein wenig Geld zu verdienen. Der Chef dieses Orchesters war damals . Dieser sehr berühmte Dirigent ist ja ein Begriff für alle Musikliebhaber in Bayern. Ich habe dort mal einen ganzen Tag lang mit ihm gesprochen, weil ich von seinen Proben so begeistert war. Er hat wirklich wunderschön geprobt. Bei ihm habe ich viel, viel gelernt. Aber das war mir nicht genug und so habe ich ihn gefragt, wie ich das wirklich voll und ganz lernen könnte, wie ich also Dirigent werden könnte. Er meinte, ich müsste dafür an ein Theater gehen. Damit hatte er natürlich Recht: Er wusste einfach, dass diese Arbeit am Theater das Richtige ist für einen Dirigenten. Er meinte also, ich solle als Korrepetitor und Pianist an ein Theater gehen. Das habe ich dann tatsächlich so gemacht. Davor habe ich aber in Genf mit Studenten der Hochschule noch ein kleines Orchester gegründet. Dort habe ich angefangen zu dirigieren. Danach dann habe ich eben diesen Wettbewerb in Italien gewonnen, sodass ich anschließend ans Teatro Reggio di Torino als Kapellmeister gehen konnte. Christen: Haben Sie sich denn die Voraussetzungen dafür, die man braucht wie z. B. die Schlagtechnik oder das Partiturspiel, selbst beigebracht? Haben Sie sich das irgendwo abgeschaut? Oder haben Sie dafür irgendwelche Kurse belegt? Viotti: Ich habe mir von Sawallisch in der Tat einiges abschauen können. Ich habe jede Probe und jeden Moment seiner Arbeit in mich hineingezogen. Ich bin z. B. sogar extra nach München gefahren, um ihn bei seinen Strauss- Proben meinetwegen zu "Arabella" oder "Frau ohne Schatten" zu erleben. Ich habe also sehr viel gelernt von ihm. Wenn man ein bisschen intelligent und wach ist, kann man da wirklich viel lernen. Sawallisch hat mir z. B. auch gesagt, dass eigentlich jeder eine andere Schlagtechnik hat. Es gibt nicht die eine richtige Schlagtechnik: Jeder hat seine eigene. Das ist aber auch gar nicht das Wichtigste. Gut, es ist schon wichtig, dass man das beherrscht, aber wichtiger ist, dass man weiß, was man will. Ich spreche jetzt vom Umgang mit einer Partitur: Man weiß, man will etwas ganz Bestimmtes, und so muss man eben versuchen, genau das dem Orchester zu vermitteln. Das ist das Wichtigste, die Vermittlung. Wie kann man anderen Musikern mit Worten sein eigenes Konzept vermitteln? Das ist das Wichtigste, aber das ist auch gleichzeitig nur schwer zu lernen. Das hat man oder das hat man nicht oder das kriegt man mit den Jahren eben doch irgendwie mit. Christen: Haben Sie denn auch Kurse meinetwegen bei Franco Ferrara, bei Sergiu Celibidache belegt? Viotti: Ja, ich weiß, das sind alles große Namen. Ich habe bei ihnen aber keine Kurse belegt, ich bin stattdessen einzelnen Leuten gefolgt: Das war mir wichtiger. Ich habe z. B. mit dem großen Lovro von Matacic in Italien ein paar Monate arbeiten dürfen. Ich wollte einfach sehen, wie er Beethoven macht, denn für mich war Matacic ein Begriff im Beethoven-Repertoire. Er kam ja noch von der Boheme her und hatte daher diese Tradition noch in sich, dieser alte Mann. Ich habe natürlich auch Giuseppe Patané kennen lernen dürfen. Auch er ist hier in München natürlich ein Begriff, war er doch einer meiner Vorgänger als Chef des Rundfunkorchesters. Bei ihm habe ich z. B. fünf Jahre assistiert. Ich war wirklich sein Assistent. Er hatte zwar mehrere Assistenten, vier, fünf an der Zahl, aber einer von diesen war eben ich. Ich hatte jedenfalls das Glück, viele Proben für ihn machen zu können: dies auch in großen Opernhäusern wie La Scala in Mailand, den Opernhäusern in Bologna, Monte Carlo usw. Das war wichtig für mich, denn ich habe in der Zusammenarbeit mit ihm wirklich viel gelernt. Ich habe von ihm viel über die Tradition der italienischen Oper gelernt, Dinge, die man einfach weitervermitteln muss. Christen: Ihre erste Station war Turin. Was haben Sie dort gemacht? Waren Sie dort mehr der Korrepetitor? Viotti: Ich habe alles gemacht, wie ein Kapellmeister eben. Ich war dort allerdings nicht erster Kapellmeister, weil es in Italien diesen Titel ganz einfach nicht gibt. Ich war einfach ein Kapellmeister. In dieser Funktion habe ich wirklich alles gemacht: Ich habe die Musik zum Ballett gemacht, ich habe nachdirigiert, ich habe die Bühnenmusik dirigiert und ich habe in "Tosca" die Glocken gespielt oder die Orgel in "La Forza del Destino". Ich habe eben alle diese kleinen Berufe ausgeübte, die man an einem Theater machen muss. Diese Tätigkeiten sind auch alle sehr wichtig, weil man dann später, wenn man selbst am Pult steht, genau weiß, wie schwer es ist, dass meinetwegen in der Oper "La Traviata" oder im "Rigoletto" das Orchester genau zusammenkommt oder wie schwer es ist, die Glocken in "Tosca" richtig zu spielen. Denn es ist gar nicht so einfach, da im letzten Akt diese drei verschiedenen Momente richtig zu koordinieren. Wenn man das selbst einmal gemacht hat, dann weiß man, wie schwer das ist und dann nervt es einen auch nicht so, wenn es bei den Proben auf diesem Gebiet eine Panne gibt. Hierbei lernt man also seinen Beruf: Ich habe da wirklich viel gelernt, als ich diese fünf Jahre in Turin war. Ich habe dabei aber auch kleine Konzerte in meiner Heimatgegend, also im Piemont, gegeben. Auch dabei habe ich viel gelernt, auch über die Leute dort und z. B. diese berühmten Kirschen oder diese kleinen, wunderschönen Orte. Von dort kommen ja auch diese berühmten Weine wie der Barolo, der Barbera, der Alba usw. Und von dort kommen auch die Trüffeln, die ebenso berühmt sind. Das war damals schon eine schöne Zeit in meinem Leben. Christen: Ihr erste Chefposition war dann in Luzern. Viotti: Ja, das war 1987 meine erste wirkliche Chefposition. Ich hatte dort die große Chance, in ein tolles Team einsteigen zu können. Der Intendant Horst Statkus war ebenso wie ich neu, es gab einen neuen Chordirektor und ebenfalls einen Chefdramaturgen. Wir waren alle neu: So eine Situation ist natürlich phantastisch. Sicher, man macht auch Fehler, wenn man neu ist, aber man macht zumindest überhaupt etwas. Man geht einfach los in die Richtung, die man erreichen will. Genau so haben wir das eben auch gemacht. Wir hatten dort auch sehr gute Sänger, obwohl wir dort in Luzern nur ein kleines Theater waren. Wir hatten damals z. B. auch den jungen Ramon Vargas mit in unserem Ensemble: Damals war er noch total unbekannt. Mit ihm habe ich angefangen - oder er mit mir. Deswegen sind wir auch bis zum heutigen Tage sehr verbunden miteinander. Wir sind heute nicht mehr nur über die Musik alleine Freunde. Christen: Danach dann gingen Sie weiter nach Bremen und von dort aus nach Saarbrücken. Im Anschluss daran waren Sie dann einer der Hauptdirigenten am Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig. Viotti: Ja, damals hat mein Leben im deutschen Raum quasi angefangen. Bremen war dabei meine erste Stelle. Das war zu Beginn der neunziger Jahre. Dort war ich ebenfalls Mitglied in einem ganz neuen Team: Tobias Richter war dort gerade Intendant geworden. Heute ist Tobias Richter ja in Düsseldorf. In Bremen waren wir also ebenfalls ein ganz junges Ensemble mit ganz neuen Leuten. Dort habe ich viele Dinge gemacht, die die Leute von mir gar nicht so genau wissen. Meine erste Oper in Bremen war z. B. die Oper "Palestrina" von Pfitzner. Sehen Sie, auch Sie machen hier an dieser Stelle fast schon ein ungläubiges Gesicht. Ich habe dort aber auch "Frau ohne Schatten", "Arabella" und überhaupt sehr viele deutsche Komponisten aufgeführt, denn ich liebe diese Musik. Ich glaube, es war auch gar nicht so schlecht, was ich dort gemacht habe. In Bremen habe ich aber natürlich auch Musik gemacht, die mir quasi nahe ist, nämlich italienische und französische Musik. Ich habe dort jedenfalls auch viele deutsche Komponisten aufgeführt. In Saarbrücken habe ich im saarländischen Rundfunksymphonieorchester gearbeitet. Das war ebenfalls ein wichtiger Moment in meinem Leben, denn dort habe ich mein erstes Symphonieorchester dirigiert. Vielleicht war das sogar noch ein bisschen zu früh für mich, wie ich von heute aus sagen würde. Denn dieses Orchester hatte davor ja diese phantastische Zeit mit Hans Zender. Chung vor mir war hingegen nur recht selten da gewesen, weil er damals ja sofort ein anderes Engagement bekommen hatte. Ich habe in Saarbrücken viel gelernt, aber es war vielleicht nicht so ganz das richtige Orchester für mich, um etwas zu lernen. Ich habe mich jedenfalls mit ganzer Liebe meiner Arbeit gewidmet und dort dabei auch die moderne Musik für mich entdeckt. Aufgrund der Redakteure, die dort beim Rundfunk für mich zuständig waren, habe ich wirklich viel über moderne Musik gelernt. Auch vom Orchester habe ich in dieser Richtung wichtige Impulse bekommen. Man sagt ja immer, die Orchester würden von den Dirigenten lernen. Ich glaube vielmehr, dass das ein richtiges Geben und Nehmen ist. Ich habe deswegen von diesem Orchester auf dem Gebiet der modernen Musik so viel gelernt, weil dieses Orchester seinerseits mit dieser Musik sehr, sehr umgehen konnte. Ich kann im Nachhinein nur hoffen, dass diese Periode auch für das Orchester selbst wichtig gewesen ist. Für mich war sie jedenfalls sehr wichtig, weil wir dort wirklich sehr gute Sachen gemacht haben. Ich muss aber noch einmal sagen, dass das Ganze für mich möglicherweise ein bisschen früh gekommen ist, wenn ich mich da mal ein wenig selbst kritisieren darf. Heute könnte ich einem Symphonieorchester jedenfalls mehr bringen als damals vor zwölf Jahren. Danach dann war ich in Leipzig; auch das war eine ganz tolle Zeit, wenngleich leider viel zu kurz, weil ich nur drei Jahre lang dort gewesen bin. Dort waren wir drei Dirigenten. Christen: Das ist ja eine seltene Konstruktion. Viotti: Ja, ganz selten. Es hat auch drei Jahre lang nach der Wende gut funktioniert. Man hatte dort auch drei Klangkörper: ein Symphonieorchester mit 140 Musikern, ein Kammerorchester und einen Chor. Wir waren dabei zuständig für alles. Das hat, wie gesagt, drei Jahre lang funktioniert, weil wir unser Repertoire geteilt haben. Aber dann brauchte es doch einen Chef: ist dort dann der Chef geworden. Für mich war diese Zeit jedenfalls sehr schön, weil ich entdecken konnte, was es mit diesem Streicherklang im Osten Deutschlands auf sich hat, wie sich dort diese Schule des wunderschönen, breiten und tiefen Streicherklangs auswirkt. Man hatte - und hat bis jetzt - einfach diese Schule im Osten Deutschlands, die einen solch wunderschönen Klang produziert. Die Staatskapellen Dresden, Leipzig und Berlin und das Gewandhausorchester haben einfach diesen wundervollen Klang. Mir hat das sehr gut gefallen. Dort in Leipzig habe ich auch angefangen, wirklich für den Rundfunk zu arbeiten: mit ganz seltenen Stücken, mit unbekannten Werken usw. Denn Ihre nächste Frage wird ja sicherlich sein, was ich denn heute in München mache. Christen: Genau. Sie sind laut Vertrag seit dem 1. September 1998 Chef des Münchner Rundfunkorchesters. Aber Ihren Einstand, Ihr erstes Konzert, haben Sie bereits zu Beginn des Jahres 1998 gegeben. Wie mir scheint, war das sogar ein richtig programmatischer Einstieg, nämlich mit einer absoluten Rarität: mit der Schauspielmusik "Les Deux Reines de France" von Gounod. Das ist ein Werk, das wohl ansonsten überhaupt nirgends existiert auf Schallplatte. Daher kennt dieses Werk auch wirklich kaum jemand. Wie sind Sie denn gerade auf dieses Werk gekommen? Viotti: Ich bin darauf gekommen, weil mir die Mitarbeiter im Funk ganz einfach die Partitur dazu gegeben und zu mir gesagt haben: "Interessiert es Sie, dieses Stück zu machen?" Ich habe mir dann diese Partitur angesehen und sie ein wenig gelernt und dann gemeint: "Natürlich, das mache ich sehr, sehr gerne!" Man wusste einfach aufgrund meiner Biographie, dass ich immer schon ein Interesse an solchen Raritäten habe. Ich habe also dieses Stück gemacht und es war ein großer Erfolg, wie ich glaube. Das war der erste Einsatz im Januar 1998 mit "meinem" Orchester. Christen: Ihre Vorliebe für Raritäten war also schon relativ früh ausgeprägt. Das ist keine Entwicklung, die sich erst später vollzogen hat. Ich kann mich z. B. daran erinnern, dass Sie bereits vor zehn, zwölf Jahren alle frühen Rossini- Opern aufgenommen haben, diese einaktigen Farcen, die man heute natürlich schon ein bisschen besser kennt. Früher hat man sie hingegen kaum richtig gekannt und geschätzt. Mit dem Münchner Rundfunkorchester haben Sie dann in den letzten Jahren Raritäten gemacht wie z. B. Cileas "L´Arlesiana" oder Montemezzis "L'Amore dei tre Rei". Ich kann mich aber auch an eine konzertante Aufführung von "Cristofero Colombo" von Franchetti erinnern, den man bestenfalls wirklich nur noch aus dem Lexikon kennt, aber ansonsten hier bei uns nie hören kann. Worin liegt der Grund, dass Sie sich so auf diese Raritäten geworfen haben? Haben Sie denn ein spezielles Interesse gerade an der post-verdianischen Oper, die man, populär ausgedrückt, ja normalerweise als Verismo bezeichnet? Viotti: Alle Beispiele, die Sie – mit Ausnahme von Rossini – soeben genannt haben, zeigen, dass ich wirklich ein Interesse habe an diesen 40 Jahren zwischen 1880 und 1920 in Italien. Man muss einfach erkennen, dass nach Verdi Puccini das ganze musikalische Leben in Italien quasi an sich gezogen hat. Christen: Er hat es einfach absorbiert. Viotti: Ja, er hat das einfach absorbiert: Das galt auch für die Kollegen in seiner Zeit. Diese Kollegen waren aber beileibe keine "kleinen" Künstler. Man muss hier nur einmal an Mascagni, Leoncavallo, Cilea usw. denken. Das war diese so genannte veristische Schule. Puccini hat jedenfalls das Ganze an sich ziehen können. Dies auch deshalb, weil Giulio Ricordi, der große Musikverleger von Puccini, seine Musik mit Nachdruck verbreitet hat. Christen: Puccini war einfach so etwas wie der Ziehsohn von Giulio Ricordi. Viotti: Genau. Ich liebe Puccini auch, das ist klar, und jeder kennt seine Opern. Die anderen Opernkomponisten aus seiner Zeit kennt man jedoch nicht so gut. Wir kennen vielleicht gerade noch "Andrea Chenier" von Umberto Giordano. Aber wer kennt z. B. von Cilea die Oper "Gloria" oder die Oper "Siberia" von Giordano? Wer kennt von Franchetti "Asrael"? Ich habe diese Oper zu Hause bei mir in einer Ecke als Partitur stehen: Ich werde sie in absehbarer Zeit auch noch machen. Das sind jedenfalls wunderschöne Stücke, die kaum bzw. überhaupt nicht gespielt werden bei uns. Die Partitur zu "Cristofero Colombo" habe ich aus dem Keller von Ricordi bekommen. Das war nur die Partitur und kein weiteres Material. Das heißt, wir mussten das ganze Material erst noch selbst machen. So etwas dauert natürlich lange, auch wenn man das heute mit dem Computer machen kann. Solche Sachen sind schon angenehm zu machen, aber sie beanspruchen einfach viel, viel Zeit. In meiner jetzigen Position habe ich natürlich nicht so arg viel Zeit, um das machen zu können, aber ich habe Mitarbeiter, die das für mich machen können. Vor 15 Jahren habe ich das allerdings noch selbst gemacht: Das war eine gute Schule für mich, weil man sich mit dieser Arbeit diesen Kompositionen wirklich sehr gut annähern kann. Die Liebe zu dieser Musik habe ich mir jedenfalls bis heute bewahrt. Ich werde daher noch einmal "L'Amore dei tre Rei" in Venedig machen. Denn ich finde dieses Stück sehr wichtig. Christen: Ein hinreißendes Werk. Viotti: Solche Titel muss man einfach machen. Für mich als Dirigent ist das jedenfalls eine Pflicht. Christen: Können wir denn in Zukunft auch mit Werken von Zandonai rechnen, also mit Werken wie "Francesca da Rimini" oder "Giulietta e Romeo"? Viotti: Das werde ich, wenn ich das richtig sehe, 2004 hier in München machen: als eines von unseren Sonntagskonzerten in einer konzertanten Aufführung. Wir haben für dieses Stück auch wirklich hinreißende Sänger bekommen. Ich muss das deshalb so ausdrücklich betonen, weil das der Grund ist, warum man dieses Stück so selten macht: Die Sänger haben einfach keine Lust, neue Stücke zu lernen, die sie dann in ihrem Leben nur ein oder zwei Mal singen werden. Ich muss hier wirklich mal die Ausnahme Placido Domingo erwähnen, weil er wirklich laufend neue Stücke lernt: Er ist einfach neugierig auf neue Sachen. Das ist phantastisch, denn wenn es überhaupt einen Sänger gibt, der es nicht mehr nötig hätte, neue Stücke einzuüben und zu lernen, dann ist das Placido. Er bräuchte das nicht machen, aber er macht das dennoch: Er fühlt sich als Bote für diese unbekannte Musik. Wer könnte ein besserer Bote dafür sein als Placido Domingo? Jeder kennt ihn! Er wird im Jahr 2004 z. B. auch ein neues Stück von Menotti machen: "Goya". Ich finde es wirklich unglaublich, dass er sich die Zeit nimmt, immer wieder neue Stücke zu lernen. Christen: Zumal er auch nicht mehr der Jüngste ist, wie man ganz ehrlich sagen muss. Viotti: Eben. Christen: Es wäre also die Aufgabe von jüngeren Sängern, diesem wirklich tollen Beispiel zu folgen. Viotti: Leider gibt es unter den jungen Sängern nur wenige, die überhaupt Lust haben, neue Stücke zu lernen. Der Grund hierfür könnte vielleicht sein, dass sie Folgendes denken: "Ich lerne das, ich mache mich zwei Monate lang kaputt, um das alles auswendig zu lernen, nur damit ich das dann eine oder zwei Vorstellungen singen soll? Nein, das mache ich nicht!" So eine Einstellung finde ich natürlich schade. Denn ich selbst mache es ja auch so: Ich lerne auch ein Stück auswendig und dirigiere es dann vielleicht nur ein einziges Mal. Ich finde nun einmal das Gefühl so phantastisch, ein unbekanntes Stück mit all seinem Herzen und Glauben und all seinen Kräften dem Publikum, den Sängern, dem Orchester und dem Chor nahe bringen zu können. Christen: Es wäre ja u. U. auch möglich, das an anderen Häusern ein weiteres Mal aufzuführen: vor allem zusammen mit einem Dirigenten wie Sie, der sich für solche Raritäten interessiert. Da könnte man dann versuchen, ein Werk, das man einmal einstudiert hat, auch noch an anderen Orten herauszubringen und andere Häuser dafür zu interessieren. Ich weiß z. B., dass das Züricher Opernhaus bekannt dafür ist, wirklich viele Raritäten aufzuführen, die man ansonsten kaum oder gar nicht zu hören bekommt. So könnte man vielleicht auch vorgehen. Ich glaube aber, dass das Problem vor allem auch darin liegt, für dieses Repertoire die geeigneten qualitätvollen Stimmen zu bekommen. Wie sehen Sie das? Viotti: Das ist richtig. Denn dieses Repertoire ist in einer Zeit geschrieben worden, in der es unglaublich starke und schwere Stimmen gegeben hat. Denken Sie nur mal an Caruso und seine Zeitgenossen: Das waren noch starke und schwere Sänger. Ich habe ja vor einiger Zeit mal von Leoncavallo "I Medici" gemacht: Dieses Stück ist damals speziell für Caruso geschrieben worden. Heute fehlen diese schweren Stimmen, diese schweren Tenorstimmen schon ein wenig. Christen: Gilt das auch für Italien? Viotti: Ja, natürlich, das gilt auch für Italien: Das gilt für die ganze Welt. Heutzutage einen "Andrea Chenier" zu besetzen, ist wirklich sehr schwer. Warum ist das schwer? Denn es gibt ja jedes Mal auch einen riesige Orchesterklang, gegen den der Sänger ansingen können muss. Dafür braucht man wirklich eine große Stimme. Einen "Giocondo" zu singen, ist also wirklich schwer. Auch ein "Othello" ist schon recht schwer zu singen. Auf der anderen Seite gibt es und gab es in Italien aber auch eine ganz andere Schule seit einiger Zeit: Das ist diese Rossini-Schule, diese Donizetti-Schule bzw. Belcanto- Schule. Aus diesem Grund gibt es heute wunderbare Sänger für solche Stücke. Daher kann man nun auch völlig unbekannte Stücke wie meinetwegen "Maria de Rudenz" von Donizetti machen. Denn die ganz jungen Sänger haben genau dieses Repertoire nun gelernt in ihrer Ausbildung. Vor einigen Jahren war das noch unmöglich. Christen: Ist das ein Gebiet, auf dem Sie weiterarbeiten wollen, diese so genannten Belcanto-Komponisten wie Rossini, Donizetti usw. Viotti: Ja, das will ich auch in Zukunft unbedingt machen. Christen: Denn gerade Donizetti hat ja unendlich viel geschrieben. Viotti: Ich habe ja, wie Sie wissen, schon überall sehr viel von dieser Art von Musik dirigiert. In Zürich habe ich z. B. vor einiger Zeit "Beatrice di Tenda" von Bellini gemacht oder von Donizetti "Maria Stuarda" usw. Es ist wichtig, dass man das macht, vor allem deshalb, weil man heutzutage die passenden Stimmen dafür hat. Es gibt heute wahnsinnig gute Sänger, die das machen können. Christen: Wie sieht es denn bei Ihnen mit dem französischen Repertoire aus? Viotti: Ein wichtiger Komponist aus Frankreich ist z. B. Albéric Magnard. Das ist ein phantastischer Komponist. Magnard hat z. B. ein Stück mit dem Namen "Guercoeur" gemacht. Das ist eine wunderschöne Musik: Das müsste man eigentlich mal machen, aber ich habe halt nur ein Leben, lieber Herr Christen. Ich kann daher nicht alles machen. Das ist jedenfalls ein Stück, das ich gerne mal machen würde, dieses symbolische Stück. Auch von Massenet gibt es viele Opern, die man nicht kennt. Wer kennt z. B. "Griseldis" von Massenet? Das ist eine wunderschöne Oper mit einer riesengroßen Baritonrolle. Solche Musik interessiert mich also schon sehr. Ich mache das auch viel. Ich habe soeben meine Eröffnungspremiere im "La Fenice" hinter mich gebracht: mit "Thais" von Massenet! Auch das ist ein Stück, das nicht so bekannt ist. Gut, man kennt daraus diese Romanze für Geige, aber ansonsten kennt man dieses Stück überhaupt nicht, obwohl es sehr, sehr schön ist. Die französische Musik spielt also in meinem Leben sehr wohl eine wichtige Rolle. Wir haben bisher noch nicht darüber gesprochen, aber ich möchte das an dieser Stelle jetzt doch erwähnen: Ich hatte in der Schweiz einen Meister mit Namen Jean-Marie Auberson. Er war der einzige Schüler von Ernest Ansermet. Ich habe von ihm sehr viele Partituren von Ansermet bekommen wie z. B. "La Mer" oder "Pelleas". Diese Musik ist also für mich sehr wichtig, weil ich auch in dieser Tradition groß geworden bin. Christen: Verlassen wir mal für einen Augenblick den Operndirigenten Marcello Viotti und kommen zu unserer Reihe "Paradisi Gloria", die Sie hier bei uns beim Bayerischen Rundfunk initiiert haben. Das sind geistliche Werke des zwanzigsten Jahrhunderts. War denn dieser Gedanke bei Ihnen schon seit längerem virulent oder welche Umstände haben Sie denn veranlasst, das gerade hier zu realisieren? Viotti: Ich hatte diesen Gedanken tatsächlich schon seit längerem. Schon als ich beim MDR in Leipzig gewesen bin, hatte ich diesen Gedanken. Denn ich hatte damals auch einen Chor und ich wollte immer schon Chorliteratur machen. Als ich dann in München angekommen bin, habe ich mir gesagt, dass hier eigentlich alles versammelt ist, um ein solches Projekt endlich in die Tat umsetzen zu können. Die Idee dazu hatte ich, wie gesagt, schon längst. Ich habe dann dieses Projekt hier einfach bei meinem Manager auf den Tisch gelegt. Auch zur katholischen Kirche habe ich gesagt, dass Bayern doch eigentlich sehr katholisch sei und dass deshalb auch die katholische Kirche bei diesem Projekt unbedingt mitmachen müsse. Es lief dann wirklich alles perfekt. Auch im früheren Intendanten, Herrn Scharf, habe ich einen phantastischen Gesprächspartner dafür gefunden. Er war einverstanden damit, diese neue Reihe auf die Beine zu stellen. Nach mehr als drei Jahren kann man nun sagen, dass diese Reihe wirklich ein großer Erfolg geworden ist. Sie ist quasi immer ausverkauft. Obwohl wir dabei doch nur religiöse Musik des zwanzigsten Jahrhunderts spielen! Christen: Das ist ja das eigentlich Erstaunliche dabei: Diese Musik ist damit so ein bisschen aus der vorherigen Ghettosituation herausgekommen und hat wirklich ein neues Publikum angesprochen. Zumindest habe ich den Eindruck, dass sich das Publikum bei diesen Veranstaltungen in der Kirche doch sehr vom so genannten normalen Musikpublikum meinetwegen im Gasteig unterscheidet. Viotti: Es gibt da tatsächlich auch Leute, die einfach aus der Nachbarschaft dorthin gehen und die sonst nie in ein Konzert gehen. Wir haben mehrere Briefe von Leuten bekommen, die sonst nie in ein Konzert gehen: In die Kirche sind sie jedoch sehr wohl zu diesen Konzerten gekommen, um dort meinetwegen ein Stück wie "Litanei" von Arvo Pärt oder einen Schnittke oder einen Rihm zu hören. Sie sind begeistert von dieser Musik. Wissen Sie, es gibt ja dieses berühmte Wort von André Malraux, dem berühmten Kulturminister in Frankreich unter Charles de Gaulle. Malraux hat doch mal gesagt, das 21. Jahrhundert wird ein religiöses Jahrhundert sein oder es wird nicht sein. Ich finde, er hat das doch ein wenig falsch prognostiziert: Denn schon das 20. Jahrhundert war bereits sehr religiös. Alleine im 20. Jahrhundert sind nämlich mehr als 200 Stücke mit einem religiösen, einem spirituellen Thema komponiert worden! Christen: Glauben Sie, dass man als Skeptiker oder gar als Agnostiker geistliche Musik adäquat interpretieren kann? Oder muss man dazu doch ein gläubiger Mensch sein? Viotti: Man kann alles machen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel dafür: Ich könnte ja auch "Katja Kabanova" von Janacek dirigieren, obwohl ich kein Wort Tschechisch spreche. Aber das wäre natürlich ein Blödsinn! Daher werde ich so etwas nie machen – obwohl es natürlich viele gibt, die so etwas machen. Ich mache das nicht. Ich dirigiere nicht "Eugen Onegin", weil ich einfach kein Wort Russisch spreche. Gut, dieses Beispiel bezieht sich auf die Sprache. Aber auch die religiöse Musik hat Worte. Christen: Mit diesen Wörtern schwingt ja auch immer etwas mit. Viotti: Natürlich, wenn man gläubig ist – und ich bin gläubig –, kann man die eigene Spiritualität in diesen Worten wiederfinden. Manchmal, zu bestimmten Zeiten in der jeweiligen Biographie, sind diese Worte unglaublich tief in die Gedanken der Komponisten eingegangen. Man kann sich vorstellen, dass ein Komponist meinetwegen ein Requiem geschrieben hat, weil z. B. seine eigene Mutter gestorben ist. Ich denke hierbei natürlich an ganz spezielle Beispiele. Wenn man gläubig ist, kann man also diese Musik ganz anders umsetzen. Dies besagt aber nun nicht, dass die Musik, die ich mache, besser wird oder nicht: Nein, ich denke hier ganz egoistisch. Ich kann mir schon vorstellen, dass auch ein totaler Agnostiker ein wunderschönes Requiem von Brahms dirigieren kann. Warum auch nicht? Wer sagt denn, dass man ein gläubiger Mensch sein muss, um ein Requiem dirigieren zu können? Ich trete hier jedenfalls nicht dafür ein, die Leute zu missionieren oder sie in Kategorien zu stecken. Ich bin jedenfalls ein gläubiger Mensch: Diese Reihe habe ich aus ganz egoistischen Gründen gemacht – weil ich einfach gläubig bin. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich nicht auf diese Idee gekommen. Wir haben also diese meine Idee gemeinsam umgesetzt und es ist uns ganz gut gelungen. Aber in der Zwischenzeit haben bei uns auch schon Dirigenten gearbeitet, die wir für diese Reihe engagiert haben, die vielleicht nicht gläubig sind. Ich weiß das nicht. Aber sie haben das ebenfalls wunderschön umgesetzt. Christen: Kehren wir wieder zur Oper zurück. Seit 2001 sind Sie auch künstlerischer Direktor und seit 2002 Chefdirigent des La Fenice in Venedig. Wir wissen ja alle um das Schicksal dieses hervorragenden und einmaligen Theaters, das gerade wieder aufgebaut wird. Noch in diesem Jahr soll es wiedereröffnet werden. Wann wird das voraussichtlich der Fall sein? Viotti: Das Datum steht schon genau fest: Es wird der 13. Dezember 2003 sein. Das ist toll und wir freuen uns auch alle sehr darüber. Bislang arbeiten wir ja im Teatro Malibran bzw. im alten Teatro San Giovanni Chrisostomo. Das ist ebenfalls ein wunderschönes Theater aus dem 18. Jahrhundert mit 1000 Plätzen. Aber wir freuen uns natürlich, dass wir bald La Fenice wiedereröffnen können. Wir werden dann zwei Theater haben in Venedig. Die Stadt Venedig wird damit wie ein Phoenix aus der Asche steigen mit diesen beiden Theatern. Das Teatro Malibran wird dann der Spielort für klassische und barocke Musik sein. Die Stücke mit großer Besetzung werden wir im La Fenice machen. Wir eröffnen also am 13. Dezember und bis dahin werden auch alle Arbeiten fertig werden. Wir machen aber zunächst einmal nur Konzerte und keine Opern, weil erst noch die ganze Technik wirklich perfekt eingebaut werden muss. Für diese ganze Bühnentechnik mitsamt den Computern braucht man einfach viel Zeit, um sie installieren zu können. Auch die Akustik werden wir wohl sukzessive noch verbessern müssen. Wir machen also zunächst einmal eine Serie von Konzerten: Wir machen zwei Wochen lang große Konzerte auch mit berühmten Gastorchestern. Das Ganze wird also schon ein wenig feierlich werden. Am 13. Dezember werden wir allerdings noch nicht offiziell die Wiedereröffnung feiern, sondern nur das Ende der Wiederaufbauarbeiten an diesem Theater. Christen: Womit wird dann das La Fenice wieder ins "Operngeschäft" einsteigen? Viotti: Wir werden ganz sicher ein Jahr später mit "La Traviata" beginnen. Wir werden also noch ein Jahr warten, bis wir uns sicher sein können, dass auch wirklich alles in Ordnung ist. Wir wollen nicht wie so viele andere Theater den Fehler machen, sofort mit allem komplett einzusteigen – nur um das Theater dann gleich wieder schließen zu müssen, weil mit der Technik dann doch etwas nicht funktioniert. Wir werden also ganz sicher mit "La Traviata" wieder anfangen, denn das ist das Stück, das damals ja wirklich für das La Fenice komponiert worden ist. Es gibt freilich insgesamt mehr als 30 Stücke, die extra für dieses Theater komponiert worden sind. Aber die Oper "La Traviata" ist eben ein sehr wichtiges und populäres Stück. Christen: Wenn sich eine nicht so große Stadt wie Venedig zwei Theater leistet, dann ist das in der heutigen Zeit doch ein ziemliches finanzielles Wagnis. Wie wird das von der Stadt bewältigt? Viotti: Venedig ist in der Tat keine große Stadt. In Venedig selbst leben nur an die 80000 Menschen. Aber es gibt natürlich auch noch viele, viele Menschen um Venedig herum wie z. B. in Mestre. Diese ganze Region heißt ja Venezia Giulia. Diese Gegend nun wiederum ist sehr reich. Christen: Dort gibt es viel Industrie. Viotti: Ja, viel Industrie und vor allem viel Modeindustrie. Die ganzen großen Modeschöpfer wie z. B. "Benetton" usw. arbeiten alle in dieser Region. Es gibt in dieser Region also ziemlich viel Geld. Das Theater La Fenice ist ja in eine Stiftung umgewandelt worden: Es wird vom Staat Italien nur zu sehr geringen Anteilen unterhalten. Die Region hingegen gibt sehr viel Geld, ebenso wie die Stadt Venedig. Der Rest des Geldes kommt über Sponsoren und wie bei jedem Theater über die Eintrittskarten herein. Die einzelnen Prozentanteile dabei weiß ich aber nicht auswendig. Wir haben dort in Venedig nun ein Orchester, das gerade zehn neue Stellen zusätzlich bekommen hat. Das ist auch selten in der heutigen Zeit in Italien, wo man ja, wie Sie wissen, alles viel schneller ab- als aufbauen kann. Wir werden dann also mit 120 Musikern arbeiten. Dieses Orchester wird man dann sogar teilen können in zwei einzelne Orchester, sodass wir dann sogar an einem Abend mit unseren beiden Orchestern arbeiten können. Wir werden meinetwegen im "Malibran" einen Monteverdi machen können und im La Fenice einen Puccini. Christen: Das werden aber nicht zwei separate Orchester sein, sondern es wird ein großes Orchester werden, das man gegebenenfalls aufteilen kann. Wie wird denn dort Ihre Spielplanpolitik aussehen? Wo werden die Akzente liegen? Viotti: Mein erster Akzent liegt darauf, dass ich die Tradition dieser Stadt nicht brechen wollte. Diese Stadt hatte nämlich immer eine sehr große Tradition auf dem Gebiet der modernen Musik gehabt. Unsere Zuschauer wissen das vielleicht nicht, aber dort ist z. B. "The rake's progress" von Strawinsky uraufgeführt worden, ebenso wie "The Turn of the Screw" von Britten usw. In diesem Jahr haben wir dort das Stück "Medea" des zeitgenössischen italienischen Komponisten Guarnieri uraufgeführt. Diese Tradition wird aufrecht erhalten. Wir werden also alle zwei Jahre ein Auftragswerk bei einem jungen Komponisten bestellen. Das ist schon fix. Darüber hinaus ist im Hinblick auf den Spielplan die französische Musik für mich sehr wichtig. Ich habe mir mal die letzten 100 Jahre in der Geschichte dieses Theaters angesehen: Da hatte man nur wenige französische Stücke im Repertoire. Hier werde ich wirklich einen neuen Akzent setzen. Christen: Sie meinen die französische Musik des 19. Jahrhunderts? Viotti: Ja. Ich werde mit "Thais" anfangen und dann weiter dieser Schiene folgen. Es gibt in diesem Theater darüber hinaus auch ein Manko bei den großen Repertoirestücken, die man immer wieder mal aufführen kann. Nehmen Sie als Beispiel meinetwegen so wichtige Stücke wie "La Traviata" oder "Carmen" oder "Die Zauberflöte" usw. Es ist daneben natürlich auch sehr, sehr wichtig, das große italienische Repertoire weiterzuführen. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich ein Faible für unbekannte Opern habe. Deswegen muss ich einfach einmal pro Saison einen Montemezzi oder einen Cilea machen. Eine weitere wichtige Schiene wird die Barockmusik sein. Ich werde daher nun eine ganze Serie mit Stücken von Mozart machen. Ich werde also, wie erwähnt, alle Opern von Mozart machen. Christen: Und Sie werden bestimmt auch Vivaldi machen. Viotti: Ja, unbedingt. Ach, es gab doch in Venedig großartige Barockkomponisten: von Monteverdi über Cavalli bis zu Vivaldi usw. Man kann in Venedig wirklich 20 Jahre lang jeden Tag ein anderes barockes Werk zur Aufführung bringen, so viele von diesen Komponisten hat es dort gegeben. Sogar Händel war einmal in Venedig gewesen: Er hat mehrere Stücke für diese Stadt geschrieben. Christen: Nun noch eine aktuelle Frage: Was sind denn Ihre Erfahrungen mit dem so genannten Regietheater, mit modernen Regisseuren, die vom Schauspiel herkommen? Viotti: Ich habe auf diesem Gebiet ziemlich viel Erfahrung, weil ich z. B. viel mit Hans Neuenfels gearbeitet habe: in Berlin "Nabucco", in Wien "Le Prophete". Ich finde es jedenfalls wichtig, wenn die Musik sozusagen die erste Geige spielt. An ein paar Regisseuren stört es mich schon, dass es ihnen immer nur um ihre eigenen Ideen geht und sie dabei den musikalischen Text überhaupt nicht analysiert haben. Dabei ist es doch so phantastisch, wenn man den musikalischen Text analysieren kann, wenn man wirklich quasi zu den Quellen hinabsteigt. Verdi hat ja schon in "La Traviata" alles in die Musik hineingeschrieben: Wenn sie dort ihre Liebe zum Ausdruck bringt, dann spürt man das im Orchester mit all diesen Triolen, auf die dann plötzlich Duolen folgen usw. Er hat bereits alles selbst in die Musik eingeschrieben. Mir ist es also egal, ob ein Regisseur nun ein solches Stück in Italien oder meinetwegen in der Bronx in New York spielen lässt: Mich stört nur, wenn Fehler gemacht werden, die einfach mit mangelnder Analyse der Musik und des Textes zusammenhängen, wenn die Regisseure meinetwegen die italienische Sprache nicht gut genug kennen oder sich diese Sprache nicht gut genug erklären lassen. Da gibt es z. B. in "Rigoletto" die Textstelle: "In testa che avete, signor di Ceprano?" Auf Deutsch heißt das: "Was haben Sie im Kopf, lieber Herr Ceprano?" In manchen modernen Regietheateraufführungen sieht man dann, wie über dem guten Mann ein Eimer Wasser ausgekippt wird, weil Rigoletto ihn auf Deutsch fragt: "Was haben Sie auf dem Kopf?" Nein, der Sinn dieser Textstelle ist anders, es muss heißen: "Was haben Sie im Sinn?" Dies zeigt mir immer, dass der Regisseur entweder den Text gar nicht oder die italienische Sprache eben nicht gut genug kennt. Das nervt mich. Aber so etwas passiert einfach zu oft, denn man sieht zu oft Regisseure mit diesen Booklets von der Schallplatte oder der CD unter dem Arm herumlaufen. Ich wünsche mir also mehr Regisseure, die wirklich in die Musik einsteigen. Klar, ich spreche hier für meine "Kirche", aber die Musik ist nun einmal das wichtigste bei solchen Inszenierungen. Ich bin also nicht so wie einige meiner Kollegen, die das Regietheater ganz ablehnen. Ich bin nur davon überzeugt, dass man auch als Regisseur die Musik an die erste Stelle setzen muss. Christen: Dies war ein Gespräch mit dem Dirigenten Marcello Viotti. Vielen Dank, Herr Viotti. Viotti: Bitte.

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