Plenarprotokoll 14/130

Deutscher

Stenographischer Bericht

130. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Inhalt:

Gedenken an die Pogromnacht am 9. Novem- – zu dem Antrag der Abgeordneten ber 1938 und an die Öffnung der Berliner Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Klaus W. Mauer am 9. November 1989 ...... 12511 A Lippold (Offenbach), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion CDU/ Begrüßung der Präsidentin des Europäischen CSU: Vertragsstaatenkonferenz zur Parlaments, Frau Nicole Fontaine ...... 12512 A Klimarahmenkonvention in : Neue Impulse zur globalen Umwelt- Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- und Entwicklungspolitik (Rio-Pro- neten Bernd Reuter ...... 12512 B zess) Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag – zu dem Entschließungsantragder des Abgeordneten Meinolf Michels ...... 12512 B Abgeordneten Birgit Homburger, Wahl des Abgeordneten als or- Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter dentliches Mitglied in den Gemeinsamen Aus- und der Fraktion F.D.P. zur Abgabe schuss nach Art. 53 a ...... 12512 B einer Erklärung der Bundesre- gierung zu den Ergebnissen der Erweiterung der Tagesordnung ...... 12512 B 5. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 12512 D Geänderte Ausschussüberweisung ...... 12512 D – zu dem Entschließungsantragder Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Absetzung des Tagesordnungspunktes 28 c . . 12563 D Rosel Neuhäuser, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion PDS zur Er- klärung der Bundesregierung zu Tagesordnungspunkt 12: den Ergebnissen der 5. Vertrags- staatenkonferenz derKlimarahmen- a) Abgabe einer Regierungserklärung: Zur konvention in Bonn Sechsten Weltklimakonferenz – Ver- (Drucksachen 14/1956, 14/1853, 14/1998, pflichtung und Chance ...... 12513 A 14/1992, 14/3835) ...... 12513 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des c) Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Ruck, Dr. Peter Paziorek, weiterer Ab- und Reaktorsicherheit geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Offensive zur Reduktion von – zu dem Antrag der Fraktionen der CO2-Emissionen im Gebäudebestand SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE starten GRÜNEN: Klimaschutz durch öko- (Drucksache 14/4379) ...... 12513 B logische Modernisierung und Ver- besserung der internationalen Zu- Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 12513 C sammenarbeit Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 12516 D II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Ulrike Mehl SPD ...... 12518 C Tagesordnungspunkt 27: Birgit Homburger F.D.P...... 12520 D Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 12522 A a) Erste Beratung des von der Bundesre- Eva Bulling-Schröter PDS ...... 12524 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 12526 A vom 19. Mai 1999 zum Europipe-Ab- kommen vom 20. April 1993 zwi- Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 12528 A schen der Bundesrepublik Deutsch- BÜNDNIS 90/ land und dem Königreich Norwegen DIE GRÜNEN ...... 12530 A über den Transport von Gas durch eine neue Rohrleitung (Europipe II) Eva Bulling-Schröter PDS ...... 12531D vom Königreich Norwegen in die Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ Bundesrepublik Deutschland DIE GRÜNEN ...... 12532 B (Drucksache 14/4300) ...... 12562 D Hans-Michael Goldmann F.D.P...... 12532 C b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin Gesetzes zur Änderung des Versiche- BMZ ...... 12533 D rungsaufsichtsgesetzes, insbesondere Dr. Christian Ruck CDU/CSU ...... 12536 A zur Durchführung der EG-Richtlinie 98/78/EG vom 27. Oktober 1998 über die zusätzliche Beaufsichtigung der Tagesordnungspunkt 13: einer Versicherungsgruppe angehö- renden Versicherungsunternehmen Große Anfrage der Abgeordneten Norbert sowie zur Umstellung von Vorschrif- Geis, , weiterer Abgeordneter ten auf Euro und der Fraktion CDU/CSU: Erfolgreiche (Drucksache 14/4453) ...... 12563 A Verbrechensbekämpfung in Deutschland (Drucksachen 14/2592, 14/4113) ...... 12538 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs einesGe- CDU/CSU ...... 12538 C setzes zur Einführung einer Entfer- CDU/CSU ...... 12539 A nungspauschale und zur Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses Hans-Peter Kemper SPD ...... 12541 A (Drucksache 14/4435) ...... 12563 A Norbert Geis CDU/CSU ...... 12542 B d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Dr. Guido Westerwelle F.D.P...... 12542 D brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes Ulrich Irmer F.D.P...... 12544 A (Drucksache 14/4452) ...... 12563 A (Köln) BÜNDNIS 90/ e) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- DIE GRÜNEN ...... 12545 C schung und Technikfolgenabschätzung PDS ...... 12547 B gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD ...... 12548 D hier: Monitoring „Nachwachsende Ronald Pofalla CDU/CSU ...... 12550 B Rohstoffe“ – Einsatz nachwach- sender Rohstoffe im Baubereich Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ (Drucksache 14/2949) ...... 12563 B DIE GRÜNEN ...... 12551 A in Verbindung mit Dr. Guido Westerwelle F.D.P...... 12552 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 3: DIE GRÜNEN ...... 12552 D Weitere Überweisungen im vereinfach- Norbert Geis CDU/CSU ...... 12553 B ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 27) Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 12553 C a) Antrag der Fraktionen der SPD und des Norbert Geis CDU/CSU ...... 12554 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Er- kenntnisse der Verfassungsschutzbe- Günter Graf (Friesoythe) SPD ...... 12555 D hörden von Bund und Ländern zur Verfassungswidrigkeit der „National- Erwin Marschewski CDU/CSU ...... 12557 B demokratischen Partei Deutschlands“ , Bundesminister BMI ...... 12559 C (Drucksache 14/4500) ...... 12563 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 III

b) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried e) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- Wolf, Eva Bulling-Schröter, weiterer Ab- schusses geordneter und der Fraktion PDS:Ge- Übersicht 6 sellschaftliche Debatte zu den Ener- über die dem Deutschen Bundestag giepreisen für eine ökologische ver- zugeleiteten Streitsachen vor dem kehrspolitische Wende nutzen Bundesverfassungsgericht (Drucksache 14/4534) ...... 12563 C (Drucksache 14/4355) ...... 12565 A f) bis j) Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlungen des Petitions- Abschließende Beratungen ohne Aus- ausschusses sprache Sammelübersichten 207, 208, 209, a) Zweite und dritte Beratung des von der 210, 211 zu Petitionen Bundesregierung eingebrachten Ent- (Drucksachen 14/4404, 14/4405, wurfs eines Gesetzes über die Ausprä- 14/4406, 14/4407, 14/4408) ...... 12565 A gung einer 1-DM-Goldmünze und die Errichtung der Stiftung „Geld und Währung“ Tagesordnungspunkt 14: (Drucksachen 14/4225 [neu], 14/4481, 14/4482) ...... 12563 D Antrag der Abgeordneten , , weiterer Abgeordneter und der Frak- b) – Zweite und dritte Beratung des von tion SPD sowie der Abgeordneten Winfried der Bundesregierung eingebrachten Nachtwei, Dr. Uschi Eid, weiterer Abge- Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ rung der Grenze des Freihafens DIE GRÜNEN: Förderung der Hand- Emden lungsfähigkeit zur zivilen Krisenpräven- (Drucksachen 14/4223, 14/4480) . . 12564 A tion, zivilen Konfliktregelung und Frie- denskonsolidierung – Zweite und dritte Beratung des von (Drucksache 14/3862) ...... 12565 C der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Uta Zapf SPD ...... 12565 D rung der Grenze des Freihafens Clemens Schwalbe CDU/CSU ...... 12568 A (Drucksachen 14/4224, 14/4480) . . 12564 A BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 12570 A d) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Ulrich Irmer F.D.P...... 12571 C Joachim Stünker, weiteren Abgeord- Dr. R. Werner Schuster SPD ...... 12572 A neten und der Fraktion SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Carsten Hübner PDS ...... 12573 B Hans-Christian Ströbele, weiteren Ab- (Meschede) SPD ...... 12574 C geordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . 12576 A Entwurfs eines Gesetzes zur Verlän- Dr. Ludger Volmer, Staatsminister AA ...... 12577 C gerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern (Drucksachen 14/3370, 14/4542) . . 12564 C Tagesordnungspunkt 15: – Zweite und dritte Beratung des von Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, den Abgeordneten Norbert Geis, , weiterer Abgeordneter und Ronald Pofalla, weiteren Abgeord- der Fraktion F.D.P.: Zukunftsorientierte neten und der Fraktion CDU/CSU Energieforschung – Fusionsforschung eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- (Drucksache 14/3813) ...... 12579 A setzes zur Änderung des Gesetzes in Verbindung mit zur Entlastung der Rechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes (Drucksachen 14/2992, 14/4542) . . 12564 C Zusatztagesordnungspunkt 4: – Zweite und dritte Beratung des vom Antrag der Abgeordneten Dr. Martin Mayer Bundesrat eingebrachten Entwurfs (Siegertsbrunn), Dr. Gerhard Friedrich (Er- eines Gesetzes zu Änderungen im langen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Gerichtsverfassungsrecht (§ 76 Abs.2, tion CDU/CSU: Kernfusionsforschung für § 122 Abs.2 GVG, § 33 b Abs.2 JGG) eine zukünftige Energieversorgung (Drucksachen 14/3831, 14/4542) . . 12564 C (Drucksache 14/4498) ...... 12579 B IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Ulrike Flach F.D.P...... 12579 C NEN zum Klimaschutz durch ökologi- sche Modernisierung und Verbesserung , Bundesministerin BMBF 12580 B der internationalen Zusammenarbeit . . 12589 D Ulrike Flach F.D.P...... 12582 B 2. über den Antrag der Abgeordneten Klaus- Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU 12582 C Jürgen Hedrich, Dr. Klaus W. Lippold Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12584 D (Offenbach), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Eva Bulling-Schröter PDS ...... 12586 A CSU zur Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention in Bonn: Neue Ulrich Kasparick SPD ...... 12586 D Impulse zur globalen Umwelt- und Ent- wicklungspolitik (Rio-Prozess) ...... 12590 A Nächste Sitzung ...... 12587 D 3. über den Entschließungsantrag der Abge- ordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, Anlage 1 (Bayreuth), Dr. Wolfgang Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12589 A Gerhardt und der Fraktion der F.D.P. zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- rung zu den Ergebnissen der 5. Vertrags- Anlage 2 staatenkonferenz der Klimarahmenkon- vention in Bonn ...... 12590 A Erklärung des Abgeordneten Ulrich Heinrich (F.D.P.) zur Abstimmung über den Entschlie- 4. über den Entschließungsantrag der Ab- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur geordneten Eva Bulling-Schröter, Rosel Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Neuhäuser, Dr. Winfried Wolf, weiterer zur Sechsten Weltklimakonferenz – Verpflich- Abgeordneter und der Fraktion der PDS tung und Chance zur Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der 5. Vertragsstaaten- (Drucksache 14/4533) ...... 12589 D konferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn ...... 12590 A Anlage 3 Erklärung der Abgeordneten Dr. Anlage 4 (PDS) zu den Abstimmungen über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Um- Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Die Vereinten Nationen welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit an der Schwelle zum neuen Jahrtausend (Drucksache 14/3835) ...... 12589 D (Tagesordnungspunkt 10) (129. Sitzung am 1. über den Antrag der Fraktionen der SPD 8. November 2000) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Brigitte Adler SPD ...... 12590 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12511

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130. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Guten Morgen, liebe innerung schwer. Immer wieder taucht die Forderung auf, Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. nun doch endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Doch wir müssen uns wehren gegen die Gleichgültigkeit und Angst Erlauben Sie mir zu Beginn dieser Sitzung einige in uns selber und die Gewalt, die vor unseren Augen ge- Worte zum heutigen Tag. Wir gedenken heute, am 9. No- vember 2000, der Pogromnacht vom 9. November 1938 schieht. und wir erinnern uns zugleich an den 9. November 1989, Wir befinden uns in einer Zeit tief gehender Verände- die Nacht, in der die Mauer fiel. Die beiden Ereignisse, rungen. Auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung die die größten Gegensätze unserer Geschichte symboli- wird es keinen Stillstand geben. Es liegt an uns, welches sieren, machen den 9. November zu einem wider-Gesicht diese Gesellschaft für uns und für unsere Kinder sprüchlichen Gedenktag. Bei all der tiefen Freude, die wir haben wird. Heute, am 9. November 2000, findet hier in über den Mauerfall und die Wiedervereinigung empfin- Berlin eine Demonstration statt unter dem Motto„Wir den, sind wir uns doch zugleich bewusst, dass dies nur ein stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz“,die von Teil – der glücklichere – unserer Geschichte ist. Seine (B) zahlreichen Einzelpersonen, Initiativen und allen (D) im Dimension können wir aber nur erfassen, wenn wir uns Deutschen Bundestag vertretenen Parteien unterstützt auch des anderen Teils bewusst sind, der unvorstellbares wird. Das Leitthema der Abschlusskundgebung am Bran- Elend und Barbarei bedeutete. denburger Tor wird der Kernsatz unserer Verfassung sein: Als am 9. November 1938 in Deutschland die Synago- „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ gen brannten, Menschen in aller Öffentlichkeit gedemütigt, Toleranz und Menschlichkeit waren auch das Leitmo- verhaftet und ermordet wurden, hatte die Entrechtung und tiv der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die am 9. November Verfolgung der Juden bereits mit einer Reihe von Verord- 1989, dem Tag der Maueröffnung, ihren großen Sieg fei- nungen und Gesetzen, vor allem den so genannten Nürn- ern konnte. Wie kein anderer Tag symbolisiert der 9. No- berger Gesetzen, begonnen, die schließlich zu der Vernich- vember 1989 das Streben nach Freiheit, Demokratie, tung der Juden in Europa führen sollten. Doch diese Nacht Rechtsstaatlichkeit und staatlicher Einheit. Dieser Tag war der Moment, in dem man die Absichten der National- steht für die Überwindung der über 40 Jahre währenden sozialisten nicht mehr verkennen konnte, weil die Verbre- Teilung Deutschlands und für das Ende des vielfachen chen in aller Öffentlichkeit geschahen. Leides der voneinander getrennten Menschen. Für uns Dennoch wurde weggesehen, nicht nur aus Angst, son- Deutsche ist der 9. November 1989 daher ein bewegender dern auch aus Gleichgültigkeit. Mehr noch: Viele sahen und wahrhaft historischer Tag, auf den wir mit Freude und zu, als Juden gedemütigt, misshandelt und abtransportiert Dankbarkeit zurückblicken. wurden, oder beteiligten sich sogar an den Verwüstungen Die aktuellen Entwicklungen in unserem Lande zeigen der Reichspogromnacht, die keineswegs nur in der Nacht, aber, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht vorausset- sondern vielfach auch am helllichten Tag stattfanden. Jü- zungslos garantiert sind, sondern immer wieder Gefähr- dische Nachbarn wurden denunziert. Es gab Deutsche, die dungen unterliegen. Ein freiheitliches Gemeinwesen sich am Vermögen der Entrechteten bereicherten. Imbraucht die aktive Unterstützung couragierter Bürgerin- allgemeinen Sprachgebrauch wurden die Juden nicht ver- nen und Bürger, um fortexistieren zu können.Zivilcou- haftet oder vertrieben, sondern sie waren „plötzlich weg“. rage ist das Rückgrat unserer auf Humanität und Freiheit Die Sprache offenbart, dass der 9. November 1938 für gründenden Gesellschaftsordnung. Gerade jetzt, wo Ju- viele Deutsche keineswegs einen tiefen, schmerzhaften den, Andersdenkende, Minderheiten und Ausländer wie- Einschnitt bedeutete. Der Erinnerung an jüdische Nach- der bedroht werden und in vielfacher Weise Formen der barn, Kollegen und Bekannte ließ man keinen Raum. Ausgrenzung erfahren müssen, benötigen wir ein mutiges Auch nach dem Ende des nationalsozialistischen Re- und sichtbares Zeichen der wachsamen und zum aktiven gimes taten wir Deutsche in Ost und West uns mit der Er- Widerspruch bereiten Demokraten. 12512 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Präsident Wolfgang Thierse (A) Nur wenn wir begreifen, was geschehen ist und warum 3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren(Er- (C) es geschehen ist, sind wir imstande, die richtigen Lehren gänzung zu TOP 27) aus unserer eigenen Vergangenheit zu ziehen. Die Erinne- a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD und des rungen an die unterschiedlichen historischen Ereignisse, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Erkenntnisse der Verfas- sungsschutzbehörden von Bund und Ländern zur Verfas- die mit dem Tag des 9. November verbunden sind, sind so sungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei verstanden auch ein wichtiger Beitrag zur Festigung und Deutschlands – Drucksache 14/4500 – Stärkung unseres freiheitlichen demokratischen Gemein- Überweisungsvorschlag: wesens. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva (Beifall im ganzen Hause) Bulling-Schröter, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Gesellschaftliche Debatte zu den En- Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und ergiepreisen für eine ökologische verkehrspolitische Wende Kollegen! Ich habe das Vergnügen, zu Beginn unserer Ta- nutzen – Drucksache 14/4534 – gesordnung auf der Ehrentribüne die Präsidentin des Eu- Überweisungsvorschlag: ropäischen Parlaments, Frau Nicole Fontaine,be- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) grüßen zu können, die dort mit ihrer Delegation Platz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung genommen hat. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Beifall) Haushaltsausschuss 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martin Mayer (Sie- Liebe Frau Präsidentin, ich begrüße Sie auch von die- gertsbrunn), Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), , sem Platz aus noch einmal sehr herzlich im Namen aller weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, CSU: Kernfusionsforschung für eine zukünftige Energie- versorgung – Drucksache 14/4498 – von denen einige Ihnen schon gestern begegnet sind. Es ist uns eine große Freude, Sie und Ihre Begleitung zu ei- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- nem offiziellen Besuch zu Gast zu haben. abschätzung (f) Die Europäische Union steht vor großen Herausforde- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie rungen, die ohne die aktive Mitwirkung des Europäischen 5. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- Parlaments nicht zu bewältigen sind. Der Deutsche Bun- nes Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahl- destag – Sie wissen es – misst der Zusammenarbeit unse- gesetzes – Drucksache 14/4497 – rer beiden Parlamente sehr große Bedeutung bei. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (B) Ich freue mich zu hören, dass die Begegnungen in Ber- (D) lin wie auch in Sachsen informativ und ergebnisreich für Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so- beide Seiten waren und Ihr heute ausklingender Besuch in weit erforderlich – abgewichen werden. freundlicher Atmosphäre verlaufen ist, und wünsche Ih- nen, dass Sie ihn in guter Erinnerung behalten. Fühlen Sie Außerdem mache ich auf eine nachträgliche und eine sich sehr, sehr herzlich willkommen! geänderte Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: (Beifall) Der in der 118. Sitzung des Deutschen Bundestages Noch eine Vorbemerkung vor dem Eintritt in die ei- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg- gentliche Tagesordnung: Der Kollege Bernd Reuter fei- lich dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO-BT über- ert heute nämlich seinen 60. Geburtstag. Ich möchte ihm wiesen werden. im Namen des ganzen Hauses unsere Glückwünsche Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des aussprechen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Regelung (Beifall) der Bemessungsgrundlage für Zuschlagsteuern – Drucksache 14/3762 – Nachträglich gratuliere ich auch dem KollegenMeinolf Michels, der am 2. November seinen 65. Geburtstag be- überwiesen: Finanzausschuss (f) gehen konnte, ebenfalls im Namen des Hauses ganz herz- Innenausschuss lich. Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO (Beifall) Der in der 124. Sitzung des Deutschen Bundestages Die Fraktion der PDS teilt mit, dass der Kollege Gregor dem Innenausschuss federführend überwiesene nachfol- Gysi als ordentliches Mitglied aus dem Gemeinsamen gende Gesetzentwurf soll nunmehr federführend dem Ausschuss nach Art. 53 a ausscheidet. Als Nachfolger Ausschuss für Kultur und Medien und dem Innenaus- schlägt sie den Kollegen Roland Claus vor. Sind Sie da- schuss zur Mitberatung überwiesen werden. mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des ist der Kollege Claus als ordentliches Mitglied im Ge- Bundesarchivgesetzes meinsamen Ausschuss bestimmt. – Drucksache 14/3830 – Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene überwiesen: Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen Ausschuss für Kultur und Medien (f) vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Innenausschuss Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12513

Präsident Wolfgang Thierse (A) Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsan- (C) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. trag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 12 a bis vor. 12 c auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die 12 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung an- Sechsten Weltklimakonferenz – Verpflichtung derthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- und Chance spruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) torsicherheit, Jürgen Trittin. – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da- Klimaschutz durch ökologische Modernisie- rung und Verbesserung der internationalen men und Herren! Wieder einmal schrecken uns Berichte Zusammenarbeit von Überschwemmungen, von Erdrutschen und von Sturmkatastrophen auf, sei es im Aostatal oder – erinnert – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen sei an die jüngsten Hochwasser – in Yorkshire. Auch in Hedrich, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Europa, so die Anmerkungen von Experten, zeigen sich Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und die Auswirkungen des Klimawandels. Der neue Berichts- der Fraktion der CDU/CSU entwurf des zwischenstaatlichen Expertengremiums für Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmen- Klimafragen der Vereinten Nationen lässt keinen Zweifel konvention in Bonn: Neue Impulse zur globa- mehr: Es ist von einer beschleunigten Erderwärmung aus- len Umwelt- und Entwicklungspolitik (Rio- zugehen. Prozess) – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- Doch während sich Unwetter und Katastrophen häu- ten Birgit Homburger, Ulrike Flach, Horstfen, die Schadenslisten länger werden, insbesondere auch Friedrich (Bayreuth), Dr. und gerade in den besonders verwundbaren Entwick- und der Fraktion der F.D.P. zur Abgabe einer lungsländern, setzt sich fast überall auf der Welt der Trend Erklärung der Bundesregierung zu den Er- zu steigenden Emissionen fort. Wenn es ein Gebot gibt, (B) (D) gebnissen der 5. Vertragsstaatenkonferenz dann lautet es schlicht: Die Zeit ist überfällig; wir müssen der Klimarahmenkonvention in Bonn endlich Konsequenzen aus diesen Warnsignalen ziehen; – zu dem Entschließungsantragder Abgeord- der Klimawechsel muss gebremst werden. neten Eva Bulling-Schröter, Rosel Neuhäuser, Das Protokoll von Kioto war dafür ein Meilenstein. Dr. Winfried Wolf, weiterer Abgeordneter und Zum ersten Mal haben sich die Industrienationen gemein- der Fraktion der PDS zur Erklärung der Bun- sam verbindlich zu absoluten Reduktionen ihrer Treib- desregierung zu den Ergebnissen der 5. Ver- hausgasemissionen verpflichtet. Es war ein Durchbruch tragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkon- auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik, zu einer In- vention in Bonn dustriegesellschaft, in der der Verbrauch fossiler Brenn- – Drucksachen 14/1956, 14/1853, 14/1998, stoffe tatsächlich zurückgeführt wird. Seitdem geht es da- 14/1992, 14/3835 – rum, Kioto mit Leben zu füllen, das Protokoll ratifizierbar Berichterstattung: zu machen und in Kraft treten zu lassen. Doch es scheint, Abgeordnete Monika Ganseforth als wollten sich gerade jetzt viele der großen Industrie- Dr. Peter Paziorek staaten vor verantwortlichem Handeln drücken. Dr. Reinhard Loske Birgit Homburger Lassen Sie es mich offen aussprechen: Mit der bevor- Eva Bulling-Schröter stehenden Konferenz in Den Haag erreicht der Klima- prozess eine kritische Phase. Auf dem Spiel steht nicht nur c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian die Integrität des Protokolls, sondern auch die Glaubwür- Ruck, Dr. Peter Paziorek, Dagmar Wöhrl, weiterer digkeit eines großen internationalen Klimaprozesses, ei- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU nes Prozesses, der über 20 Jahre langsame, aber stetige Fortschritte gemacht hat. Offensive zur Reduktion von CO2-Emissionen im Gebäudebestand starten Dieses treibende Moment des Klimaprozesses ist ge- – Drucksache 14/4379 – fährdet. Von einigen Seiten droht faktisch eine Rückver- Überweisungsvorschlag: handlung des Kioto-Protokolls, bevor es überhaupt in Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Kraft getreten ist. Wir müssen verhindern, dass sich in den Finanzausschuss kommenden zwei Wochen in Den Haag diejenigen Kräfte Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen durchsetzen, die die Verhandlungen dazu nutzen wollen, Haushaltsausschuss um Hintertüren und Schlupflöcher zu öffnen, die die 12514 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Bundesminister Jürgen Trittin (A) klaren Verpflichtungen des Protokolls zu Appellen und tung in Annex-1-Staaten hinaus gehen, bis auf weiteres(C) Konferenzlyrik zurückdrehen wollen. nicht angerechnet werden sollten. Frühestens ab der zwei- ten Verpflichtungsperiode kann man über jenes reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dann hat man auch ein paar methodologische Fragen ge- bei der SPD und der PDS) klärt. Ich weiß, die Positionen in den zentralen Fragen liegen Das zweite Problem ist der Mechanismus für umwelt- noch weit auseinander. Es wird außerordentlich schwierig verträgliche Entwicklung, eine Idee zur Förderung der werden, umweltpolitisch tragfähige Brücken zu schlagen. nachhaltigen Entwicklung in Entwicklungsländern. Ein Wir brauchen, wie Sie wissen, zum Schluss die Einstim- Beispiel: Ein Industrieland baut ein Solarkraftwerk in migkeit von circa 180 souveränen Staaten. Ich habe mich seit Anbeginn meiner Amtstätigkeit dafür eingesetzt, ge- Afrika. Das spart dort Emissionen, die das Industrieland rade die Umweltintegrität des Protokolls zu wahren.schließlich mehr emittieren darf. Dieser Ansatz ist nach- Diese ist an mehreren wirklich neuralgischen Punkten ge- drücklich zu unterstützen, gerade weil er das Interesse der fährdet. Lassen Sie mich das an drei konkreten Beispielen Entwicklungsländer an einer Entwicklung und am Trans- beleuchten: fer von Technologie hin zu einer sauberen Entwicklung begünstigt. Erstes Problem: Die Anrechnung von so genannten Senken auf die Reduktionsverpflichtung. Wenn Sie Unter diesen Mechanismus kann man natürlich auch Äcker flacher pflügen, wenn Sie Brandschutzkorridore in andere Dinge als das erwähnte Solarkraftwerk fassen. Wäldern oder Windschutzhecken gegen Bodenerosionen Vorschläge gibt es zuhauf: konventionelle Kohlekraft- anlegen, dann kann dies unter bestimmten Annahmen zu werke, Atommeiler, Riesenstaudämme. Damit kann die- erheblichen Einbindungen von Kohlendioxid aus der At- ses Instrument auch für Technologien gebraucht und – ich mosphäre führen. Das kann in vielen großen Staaten, etwa sage – missbraucht werden, die in den Industrieländern in den USA oder in Kanada, so viel sein, dass diese ihre selber längst Ladenhüter sind und dort nicht mehr ak- Emissionen aus Industrie, Verkehr und allen anderen Sek- zeptiert werden. Konventionelle Kohlekraftwerke in toren zusammen noch einmal erheblich steigern könnten, China sind doch das Problem und nicht die Lösung des anstatt sie zu reduzieren. Dennoch hätten sie, würde man Problems. diese Senken anrechnen, ihr Protokollziel erfüllt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Anrechnung von Senken hat aber gleich mehrere DIE GRÜNEN) Haken. Atomkraftwerke in Indien, importiert von Japan unter Erstens hätten wir die Senken großenteils ohnehin;dem Gütesiegel der umweltverträglichen Entwicklung (B) denn, „gedüngt“ durch die vielen Kohlendioxidemissio- und jenseits aller Regelungen über die Nichtweiterver-(D) nen, wächst gerade auf der Nordhalbkugel die Vegetation breitung und Proliferation von nuklearen Waren – soll das derzeit stark an. etwa die versprochene Nachhaltigkeit im Klimaschutz sein? Es wäre absurd, wenn dieser vorgeblich umweltver- Zweitens ist schon jetzt absehbar, dass sich die Sen- trägliche Mechanismus Anreiz dafür böte, dass die Ent- kenspeicher in wenigen Jahren wieder entleeren werden. wicklungsländer noch einmal all die Fehler durchlaufen, Ich erinnere nur an die diesjährigen Waldbrände in den die wir in den Industrieländern gemacht haben, etwa in USA. Dabei ist in einem Sommer eine Fläche abgebrannt, eine Technologie einzusteigen, deren Müllproblem noch die ungefähr der Fläche von Baden-Württemberg ent-in keinem Industrieland gelöst wurde. Ich sage Ihnen mit spricht. Nachdruck: Das wollen wir nicht, jetzt nicht und in Zu- Drittens frage ich mich: Wie vieleEmissionsgut- kunft nicht. schriften wollen Sie eigentlich jemandem dafür geben, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dass er durch das Anlegen eines Brandschutzkorridors GRÜNEN und der PDS) seinen Wald jetzt nicht mehr abbrennen lässt? Emissions- gutschriften womöglich für den gesamten Wald, da dieser Deswegen finde ich es erfreulich, dass wir uns in Eu- ja komplett hätte abbrennen können? Ist dies nicht viel- ropa, mit Großbritannien, mit Frankreich zusammen, mehr eine Regelung, von der nun gerade und ausschließ- darauf verständigt haben, dass eine Positivliste der zuläs- lich diejenigen profitieren, die bisher besonders rück-sigen Projektkategorien für diesen Mechanismus sichtslos gewirtschaftet haben? umweltverträglicher Entwicklung bestimmt werden soll. Damit soll garantiert werden, dass nur hoch effiziente und Meine Antwort ist knapp: Senken können das Klima- wirklich nachhaltige Technologien zum Zuge kommen. schutzproblem nicht lösen. Sie drohen vielmehr selber zu Wir wollen sicherstellen, dass im Rahmen dieses Mecha- tickenden Kohlenstoffbomben zu werden. Jede zweifel- nismus eben keine Nuklearprojekte zugelassen werden. hafte Senkenaktivität bindet Ressourcen, die dann für Maßnahmen echter Emissionsminderungen fehlen. Diese gemeinsame Position der EU ist, wie Sie vermu- ten werden, noch weit davon entfernt, die ungeteilte Zu- (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmung aller Staaten zu finden. Aber die Diskussion und der SPD) zeigt, dass viele Entwicklungsländer nachdrücklich ins- Wir haben uns deshalb mit den europäischen Kollegen besondere an hoch effizienten und, was die Stromversor- auf die Linie verständigt, dass diese Art der Senkenakti- gung angeht, vor allem an dezentralen Technologien in- vitäten, das heißt, Senkenaktivitäten, die über die Auffors- teressiert sind, weil sie in ihren Ländern in der Regel nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12515

Bundesminister Jürgen Trittin (A) über das verfügen, was wir haben, nämlich ein entspre- sehr wir uns ein In-Kraft-Treten des Protokolls im Jahre (C) chendes Netz, über das Elektrizität auch in dünn besie- 2002 wünschen – nicht jedes Ergebnis ist ein gutes Er- delten Gebieten verbreitet werden kann. gebnis. Wir suchen einen Kompromiss, aber wir suchen keinen Kompromiss um jeden Preis. Wir wollen – wir Drittens. Es geht um die Frage der Zusätzlichkeit: Wel- greifen damit eine Forderung des Bundeskanzlers auf der chen Teil meiner angestrebten Reduktionen darf ich im 5. Klimakonferenz auf – die Ratifikation des Protokolls Ausland einkaufen und wie viel muss ich im eigenen im Jahre 2002, zehn Jahre nach demErdgipfel in Rio. Lande erbringen? Das ist eine Diskussion, die wir in der Bundesrepublik mit ziemlicher Eindeutigkeit bei der Ver- Zu diesem Ziel haben sich inzwischen viele Staaten be- abschiedung des Klimaschutzprogramms geklärt haben. kannt – neben Europa Japan, Norwegen und Russland so- Ich frage Sie allerdings – ich frage auch in Richtung an- wie viele Entwicklungsländer. derer Industriestaaten –: Wie glaubwürdig ist ein Proto- Ungeachtet der unterschiedlichen klimapolitischen Po- koll, bei dem die größten Verschmutzer im eigenen Land sitionen treffen bei der Frage des In-Kraft-Tretens des untätig sein können? Kann es sein, dass sich Länder wie Protokolls sehr unterschiedliche Interessen zusammen: etwa die USA, die allein mehr als ein Drittel der Emissio- Nur mit einem verbindlichen Protokoll wird es für die nen der Industrieländer aufweisen, fast ausschließlichEntwicklungsländer zusätzliche Maßnahmen für eine sau- über eingekaufte Emissionsreduktionen aus anderen Län- bere Entwicklung geben. Nur mit einem ratifizierten Pro- dern Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Lande erspa- tokoll wird ein internationaler Emissionshandel möglich ren? Kann das Treibhausproblem so gelöst werden? sein. Deshalb halte ich einen Kompromiss zwischen Eu- Kioto – darüber sind sich die Wissenschaftler einig – ropa, den konstruktiven Staaten der so genannten Um- kann mit dem 5-Prozent-Reduktionserfordernis für die In- brella-Group und Schlüsselländern der G 77, also den dustrieländer nur ein erster Schritt sein. Bis zur Mitte des Entwicklungsländern, für möglich. Jahrhunderts müssen die Industriestaaten ihre Emissionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch einmal um gut die Hälfte senken, um den Treibhaus- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der effekt wenigstens einigermaßen wirkungsvoll einzudäm- PDS) men. Das bedeutet eine drastische Kehrtwende in den meisten Industriestaaten. Um diese überhaupt vollziehen Die Messlatte für einen solchen Kompromiss liegt zu können, brauchen wir permanente und weit reichende heute schon auf: Die Umsetzung des Kioto-Protokolls technische Innovationen. muss zu echten, signifikanten Minderungen von Treib- hausgasemissionen in Industrieländern führen. Die Indus- Genau hier liegt das Problem des unbeschränkten grenz- trienationen haben mit ihren Emissionen die Hauptver- überschreitenden Emissionshandels und anderer Kioto-Me- antwortung für den Treibhauseffekt; deswegen müssen sie chanismen: Wenn Treibhausgase im Ausland immer nur da sie mindern. Nur wenn unter dem Strich der Einstieg in (B) reduziert werden, wo es am billigsten ist, dann drosselt dies (D) eine solche Entwicklung sichergestellt ist, können wir be- die frühe Entwicklung von Zukunftstechnologien; es för- haupten, dass Den Haag ein Erfolg war. dert nicht die notwendigen technischen Quantensprünge. Es wird dann unmöglich werden, die notwendigen Ziele für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommenden Dekaden zu vereinbaren. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich habe das Thema Klima bei allen Gesprächen mit in- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ner- und außereuropäischen Kollegen zu einem meiner PDS) Hauptpunkte gemacht. Immer wieder habe ich das Ge- Deswegen hat sich die EU bereits unter der deutschen spräch gerade mit schwierigen Verhandlungspartnern ge- Ratspräsidentschaft auf eine Position zur Zusätzlichkeit sucht, um sie besser zu verstehen, unsere Sicht darzulegen geeinigt, wonach höchstens die Hälfte der Reduktionen und für unsere Position zu werben. Den USA und den sie im Ausland erbracht werden darf. Diese Regelung be- unterstützenden Industrieländern sage ich Folgendes: So grenzt wirkungsvoll auch den Verkauf von nicht benötig- sehr ich mit den USA über die von ihnen angestrebten ten Emissionsrechten, etwa in einer Reihe von osteu-Schlupflöcher streite, so sehr verstehe ich eine der Haupt- ropäischen Ländern, die so genannte heiße Luft. Auch forderungen der USA. Der Treibhauseffekt ist ein globa- dies wird sicherlich ein zentrales Verhandlungsthema in les Problem und er verlangt nachglobalen Lösungen. Den Haag. Deshalb wird immer wieder eine frühzeitige Verpflich- tung auch von Schwellenländern gefordert. Nachdem die EU anfänglich mit dieser Position kaum Gehör fand, werden wir nach intensiven Gesprächen mitt- Es ist aber gleichzeitig wahr, dass 80 Prozent aller lerweile von Ländern wie Indien, China, von der Gruppe Treibhausgase in der Atmosphäre von den Industrienatio- der afrikanischen Staaten und von der Gruppe der kleinen nen stammen, die auch heute noch pro Einwohner etwa Inselstaaten unterstützt. Südafrika fordert sogar einen 70- fünfmal so viel Treibhausgase emittieren wie die Ent- prozentigen Anteil für Maßnahmen im eigenen Land, was wicklungsländer; die USA emittieren sogar etwa zehnmal die Verpflichtung der Industriestaaten angeht. mehr. Deswegen spreche ich mich nicht gegen Emissi- onsreduktionen in Entwicklungsländern aus, sondern Die Bundesregierung will in Den Haag ein Ergebnis er- setze mich dafür ein, dass die Industrieländer voran- reichen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir schreiten müssen. nachdrücklich an der Bildung der EU-Verhandlungsposi- tion beteiligt waren und sind. Nun geht es darum, diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abschließend zu verhandeln. Ich will aber auch sagen: So- und bei der SPD) 12516 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Nur so werden wir das Problem langfristig in den Griff be- Pfad abweicht und seine Klimaschutzziele verfehlt, dann (C) kommen. wird auch das Signalcharakter haben. Die Staaten der Welt schauen nach Deutschland und sie schauen genau Den Entwicklungsländern möchte ich sagen: Ich sehe hin. mit Sorge, dass im Zusammenhang mit der globalen Er- wärmung die Entwicklungsländer besonders verwundbar Die Bundesregierung ist für die Klimaschutzkonferenz sind. Die verstärkte Ausbreitung von Epidemien, diein Den Haag gewappnet. Wir freuen uns, mit einer Dele- Versalzung von Böden bis hin zu extremen Sturmschäden gation aus Mitgliedern dieses Hauses sowie Vertretern der oder der schiere Existenzkampf kleiner Inselstaaten, die Bundesländer und der Nichtregierungsorganisationen im wahrsten Sinne des Wortes abzusaufen drohen, sind dort verhandeln zu können. Ich glaube, wir haben in der bereits heute schwerwiegende Probleme; sie werden nicht Phase der Vorbereitung auf diese Verhandlungen unsere erst in der Zukunft sichtbar werden. Deswegen müssen Hausaufgaben gemacht und unsere Verhandlungslinie zu- wir die Entwicklungsländer dabei unterstützen, dem Kli- sammen mit unseren europäischen Partnern festgelegt. mawandel wirkungsvoll zu begegnen. Wir werden auf dieser Konferenz eine konstruktive, aber auch eine feste Haltung einnehmen, und zwar sowohl in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nerhalb der Europäischen Union als auch gegenüber un- und bei der SPD) seren Vertragspartnern aus Nord und Süd. Wir wissen, Hierzu gehören institutionelle Kapazitäten, hierzuwas wir erreichen wollen. Wir sind uns allerdings auch da- gehören aber schlicht und ergreifend auch Gelder fürrüber im Klaren, dass es Grenzen der Akzeptanz gibt. Deichbau und ähnliche Maßnahmen, die die Anpassungs- Die Bundesrepublik steht zu ihrer Vorreiterrolle im fähigkeit dieser Länder verstärken. Ich habe deshalb im Klimaschutzprozess und wird sie weiter aktiv gestalten; Rahmen des Mechanismus für umweltverträgliche Ent- denn wir haben nur eine Erde und der Erhalt ihrer natür- wicklung Regelungen vorgeschlagen, die die Nachhaltig- lichen Lebensgrundlagen sollte für uns alle oberstes Ge- keit der Projekte unterstützen sollen. Hierzu gehört insbe- bot sein. sondere die Bevorzugung kleiner Projekte. Hierzu gehört in meinen Augen auch ganz dringend, dass wir Sorge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dafür tragen müssen, diesen so genanntenClean Deve- bei der SPD und der PDS) lopment Mechanism möglichst frühzeitig in Bewegung zu bringen, bevor im Jahre 2002 das Protokoll in Kraft tre- Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort ten wird. dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion. Wir sind Teil des Problems und deswegen haben wir (B) eine Verantwortung. Die Bundesrepublik will internatio- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr (D) nal eine Vorreiterrolle einnehmen; denn nur wenn wir vor- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! machen, dass sich Klimaschutz lohnen kann, dass erLiebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin, Arbeitsplätze schafft und technologische Zukunft sichert, wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf der Konferenz in Den nur wenn wir vorleben, dass wir zu unseren Prinzipien Haag. Wir wollen, dass Sie dort erfolgreich sind, weil wir stehen und dabei Spitzenpositionen in der Wirtschaft be- der Meinung sind, dass das Problem, um das es geht, groß legen können, können wir erreichen, dass auch andere genug ist, um über Differenzen in Einzelheiten hinweg- diesen Weg einschlagen und aktive Klimaschutzpolitik zusehen. Es gibt sicherlich die eine oder andere Position, betreiben. bei der wir nicht einer Meinung sind. Aber das wird uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht davon abhalten, für die Positionen, wie Sie sie in den bei der SPD und der PDS) Grundzügen beschrieben haben, zu werben und zu deren erfolgreicher Durchsetzung beizutragen. Das ist unser Beitrag, um den Prozess des Klimaschutzes am laufen zu halten und vorwärts zu bringen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen ist es so wichtig, dass die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm vorgelegt hat, das die an- Wir können es uns nicht erlauben, in einer so zentralen spruchsvollen Ziele der Bundesrepublik zu einer Emissi- Frage wie der des Klimaschutzes weltweit keinen Erfolg onsreduktion – die übrigens in einem breiten Konsens von zu erzielen. Klimaschutz ist kein Randthema für Ökofeti- allen Kräften in der Bundesrepublik getragen werden – schisten. Vielmehr ist es eine der größten Herausforde- durch rein nationale Maßnahmen verwirklicht. Die Bun- rungen unserer Zeit. Wir arbeiten in der Bundesrepublik desrepublik setzt damit um, was auch Bundeskanzlerschon sehr lange an Strategien zur Beantwortung der Frage, wie die Probleme des Klimaschutzes erfolgreich Schröder bekräftigt hat: Reduktion der CO2-Emissionen um 25 Prozent bis zum Jahre 2005. angegangen werden können. Dass der Erfolg auf diesem Gebiet notwendig ist, wird deutlich, wenn man sich die Deutschland hat heute mit 180 Millionen Tonnen mehr Katastrophen anschaut, die es schon zurzeit gibt: Flutka- CO2 reduziert als ganz Europa zusammen. Wir wollen den tastrophen, Überschwemmungen und Erdrutsche. Im Ver- Emissionsausstoß noch einmal um 50 Millionen bisgleich zu dem, was uns noch erwarten wird, ist dies noch 70 Millionen Tonnen bis 2005 mindern. Das verpflichtet wenig. Wenn erst große Teile der Welt versteppt und ver- allerdings auch, wie eine philippinische Delegierte auf der ödet sind und wenn Völkerwanderungen wegen Hungers- 5. Vertragsstaatenkonferenz 1999 in Bonn unterstrich. nöten einsetzen, dann werden wir vor ganz anderen Pro- Wenn aber Deutschland, sagte sie, von seinem bisherigen blemen stehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir handeln, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12517

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) und zwar umgehend, dass wir uns die Ergebnisse der Wis- darauf angewiesen sein, einen Durchbruch in dieser Frage (C) senschaftler und Experten zu Eigen machen und so zu ent- zu erzielen. scheidenden Resultaten kommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Ein Ansatz zur Kritik, Herr Minister: Ich glaube, wir Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]) hätten wesentlich früher – das ist unter der damaligen Herr Minister, Sie haben mit einem warnenden Unter- Umweltministerin Merkel schon angegangen worden – ton die Mechanismen angesprochen, die wir brauchen. die Wissenschaft bei den essenziellen Fragen, um die es in diesem Protokoll geht, zurate ziehen müssen und die Ich habe festgestellt, dass Sie diese Mechanismen trotz- Ergebnisse der Wissenschaft früher instrumentalisieren dem nicht so einseitig dargestellt haben, wie ich das eine müssen, als Sie es getan haben. Vielleicht hätten wir dann Zeit lang befürchtet habe. Ich sehe zum Beispiel im Clean einen besseren Beitrag zur Beantwortung der Frage leis- Development Mechanism durchaus eine Chance, wäh- ten können, wie wir mit dem Problem des Emissions Tra- rend ein internes Papier Ihres Hauses zu dem Schluss ding auf der einen Seite und mit den Problemen der Clean kommt, dieses Instrument sei kein geeignetes Instrument Development Mechanism und der Senken auf der anderen zur Armutsbekämpfung. Ich glaube schon, dass man die Seite umgehen sollen. Synergieeffekte, die sich aus diesem Instrument ergeben, nutzen sollte, nämlich auf der einen Seite Fortschritte im (Beifall bei der CDU/CSU) Klimaschutz zu erreichen und auf der anderen Seite damit Wir hatten diese Probleme auf der Konferenz in Kioto da- die Armut zu bekämpfen. mals direkt angesprochen. Daher, so meine ich, hätte hier Wenn man sich anschaut, was Sie bei früheren interna- früher etwas geschehen können. tionalen Verhandlungen in Sachen Technologietransfer Wenn wir wollen, dass nach den – man muss dies un- und Entwicklungshilfe zugesagt haben – ich will Sie gar geschminkt sagen – erfolglosen Konferenzen in Buenos nicht an Ihre Versprechen erinnern, die Sie zu früheren Aires und in Bonn jetzt kein dritter Flop folgen soll, dann Zeiten in diesem Hause abgegeben hatten –, dann muss werden wir mit Klarheit – auch in diesem Punkt folgen man eindeutig konstatieren, dass das alles nicht eingetre- wir Ihnen, Herr Trittin –, aber auch, so will ich hinzufü- ten ist. Ich bin sehr dafür, mithilfe dieses Instruments den gen, mit einer gewissen Flexibilität argumentieren müs- Klimaschutz mit der Entwicklungshilfe und Armutsbe- sen, ohne das Leitziel aus den Augen zu verlieren. Ich kämpfung zu verbinden. Dies ist ein ganz entscheidender sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir ansonsten Punkt. scheitern werden, das große Ziel, dieRatifikation des Ein zweiter Punkt. Wenn wir über die Senken diskutie- Kioto-Protokolls bis 2002, zu erreichen. Ein solchesren – ich habe gerade schon gesagt, wir hätten den wis- Scheitern wäre katastrophal. (B) senschaftlichen Sachverstand schneller nutzen sollen, so (D) Unser Wille, Flexibilität zu zeigen, beruht auch auf der wie wir das vorgeschlagen haben –, dann muss man auch Einsicht, dass wir als Europäer – ich sage ganz deutlich: die Aufforstung als Möglichkeit in Betracht ziehen. Auch als Europäer – keine falsche Selbstgerechtigkeit an den hier, so habe ich gerade festgestellt, besteht zwischen uns Tag legen dürfen. Völlig zu Recht haben Sie hervor-kein Widerspruch. Es gibt eine Reihe von Schwellenlän- gehoben, dass die Erfolge im Klimaschutz in Europa nicht dern, bei denen demonstriert werden kann, dass schädli- europäische, sondern deutsche Erfolge sind. Wenn jetzt che Entwicklungen wie Versteppung und Erosion von anlässlich des Umweltministerrates gesagt wird, die Staa- Böden mit Aufforstung unter Einsatz des Klimaschutzin- ten der EU haben ihre Emissionen reduziert, dann muss strumentariums wieder rückgängig gemacht werden kön- man feststellen, dass dies nur möglich war, weil die Bun- nen. desrepublik Deutschland ihre Emissionen entsprechend (Monika Ganseforth [SPD]: Wichtiger ist, die reduziert hat. Wenn man sieht, dass viele, die den Mund Waldzerstörung zu stoppen!) voll genommen haben – zum Beispiel die nordischen Staaten und Dänemark –, weiterhin eine Erhöhung und Die Bundesrepublik Deutschland hat früher neben die- nicht Reduktion ihrer Emissionen anmelden, dann muss sem Mechanismus das Instrument Joint Implementation man den Finger in die Wunde legen und deutlich sagen, vorangetrieben. Angesichts der Tatsache, dass andere worauf es ankommt. Länder dieses Instrument viel stärker nutzen als wir, sehe ich in diesem wichtigen Bereich einen ganz großen Nach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. holbedarf. Birgit Homburger [F.D.P.]) Der Minister hat nicht zu Unrecht darüber gesprochen, Es hilft in diesem Zusammenhang dann auch nicht, dass derjenige, der im Ausland etwas bewirken will, zu wenn von einem Teil dieser Staaten die Forderung nach Hause etwas tun muss. Wir haben in der Bundesrepublik Ausstieg aus der Kernenergieunterstützt wird. Ich Deutschland in der Vergangenheit viel erreicht. Herr glaube, wir können die notwendigen Emissionsreduktio- Minister, ich möchte aber dennoch darum bitten – in an- nen im Durchschnitt auf Dauer nicht erreichen, wenn wir deren Debatten habe ich dies anders formuliert –, dass Sie aus der Kernenergie aussteigen. Ich fordere Sie, Herr das Tempo, mit dem wir im Klimaschutz voranschreiten, Minister, deshalb auf, Ihren Weg bezüglich dieser Frage endlich verschärfen. zu überdenken. Es geht dabei nicht um die Lösung des Problems bis 2005. Diesen Zeitpunkt hat Ihr Koalitions- Ich möchte in diesem Zusammenhang ein ganz klassi- partner Ihnen ohnehin schon ausgetrieben. Aber gerade in sches Beispiel anführen: Im Klimaschutzprogramm nen- der entscheidenden Phase, von 2020 bis 2050, werden wir nen Sie Ziele. Aber die meisten dieser Maßnahmen haben 12518 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Sie noch nicht einmal eingeleitet. Da liegen noch gardass Bush, wenn er denn Präsident werden sollte, ähnli- (C) keine konkreten Aussagen vor. Arbeiten Sie daran! Be- che Initiativen in diese Richtung ergreift. schleunigen Sie dies! (Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck Wir haben Ihnen vor gut zwei Jahren eine nahezu fer- [CDU/CSU]) tige Energieeinsparverordnung hinterlassen, mit der In vielen Gesprächen mit amerikanischen Politikern wir im Gebäudebereich in wesentlichen Teilen Verbesse- habe ich immer wieder deutlich gemacht, dass dies nicht rungen erreichen wollten. Nutzen Sie diese doch! Zwei zu einer Wettbewerbsverzerrung und zu einer Benachtei- Jahre haben Sie vertan. Sie diskutieren intern immer noch ligung der USA führen wird: Wenn wir gemeinsam Maß- über Dinge, die ich für Kleinigkeiten halte. Es ist viel zu nahmen ergreifen, dann ändern sich die zwischen den schade, dieses Instrument ungenutzt zu lassen. Sie vertun USA und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Zeit, die dringend erforderlich wäre. Wettbewerbsbedingungen nicht. Die „Denke“ der USA (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hatten auch wir vor 15 Jahren. Lassen Sie uns durch Dis- neten der F.D.P.) kussionen und mit viel Überzeugungsarbeit erreichen, dass auch andere Länder hier in Bewegung kommen. Herr Minister, springen Sie doch einmal über Ihren Denn ohne die USA werden wir den Weg des Klima- Schatten! Nutzen Sie nicht nur das Instrument der Zins- schutzes nur schwer mit Erfolg beschreiten können. bezuschussung, das im Rahmen der KfW-Programme be- steht, die wir seinerzeit eingeführt haben und die Sie Noch einmal, Herr Trittin: Wir wünschen Ihnen für die erfreulicherweise fortführen. – Ich akzeptiere auch, dass anstehenden Verhandlungen viel Erfolg im Sinne der ge- Sie auf diesem Gebiet mehr investieren wollen. – Ringen meinsamen Anstrengung, das Klimaschutzziel zu errei- Sie sich vielmehr dazu durch, auch auf eine steuerliche chen. Förderung zu setzen, damit wir das in diesem Bereich be- Herzlichen Dank. stehende Potenzial wirklich ausschöpfen können! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auch in meiner Fraktion waren in diesem Zusammen- neten der F.D.P.) hang lange Diskussionen nötig. Aber wir haben uns jetzt entgegen allen steuersystematischen Bedenken, die es auch bei uns gab, dazu durchgerungen, zu sagen: Damit wir Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort dieses Instrument voll ausreizen können, fordern wirder Kollegin Ulrike Mehl, SPD-Fraktion. eine steuerliche Förderung gerade im Altbaubestand. – Schließen Sie sich dem doch an! Dann haben Sie sogar die Ulrike Mehl (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Chance, das für 2005 vorgesehene Klimaschutzziel zu er- nen und Kollegen! Herr Lippold, ich habe noch nie hier (B) reichen. Das sollten Sie tun. im Plenum von Ihnen eine so moderate Rede gehört. Ich (D) bin ganz überrascht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Minister, diese Maßnahmen sollten Sie damit ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der binden, Ihren falschen Weg in Bezug auf die Erhebung der PDS – [CDU/CSU]: Auch wir Ökosteuer und den Kernenergieausstieg – das sage ich waren ganz überrascht!) ganz deutlich – aufzugeben. Ich dachte, jetzt kommt wieder unser aller Blutdruck in Im Hinblick auf das Instrument derSelbstverpflich- Wallung. Ich war vorher schon wach; deswegen störte tungen haben Sie hinzugelernt. Ich akzeptiere das und bin Ihre moderate Rede dann nicht. Ich freue mich, dass Sie sehr zufrieden. Früher haben Sie Selbstverpflichtungen mit uns an einem Strang ziehen wollen. Dieses internatio- abgelehnt; heute praktizieren Sie sie. Wenden Sie dieses nale Thema ist in der Tat nicht für innenpolitische Aus- Instrument nicht nur im Hinblick auf die Wirtschaft ins- einandersetzungen, wie sie üblicherweise ablaufen, ge- gesamt an, sondern treffen Sie Vereinbarungen zum Bei- eignet. spiel konkret mit der Automobilindustrie. Wir müssen das Instrument der Selbstverpflichtung im Bereich der Auto- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Jetzt ist Ihr mobilindustrie verstärken. Dazu höre ich von Ihnen Konzept völlig durcheinander!) nichts. Es kann nicht sein, dass der Fraktionsvorsitzende Aber lassen Sie mich eines anmerken: Ich finde es der Grünen hier positiv über die durch das Auto beste- hochspannend, dass Sie sagen, steuerliche Anreizinstru- hende Mobilität spricht und zusammen mit der Automo- mente hätten Sie während Ihrer Oppositionszeit als rich- bilindustrie eine entsprechende Strategie fordert, während tig erkannt, und dass Sie nun in eine Richtung gehen wol- Sie diesen Punkt völlig unerwähnt lassen und ihn nicht len, die Sie vorher, wie Sie sagten, nicht bzw. in zu aufgreifen. Ich meine, auch hier besteht Handlungsbedarf, geringem Umfang gegangen seien. damit wir die wesentlichen Felder, um die es geht, ab- decken. (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was haben wir bei der KFZ-Steuer gemacht?) Mein Appell am heutigen Tag geht dahin, dass auch der amerikanische Präsident – wie auch immer er heißenWäre Ihnen das ein bisschen früher aufgegangen, hätten wird – die in seinem Land gegen den Klimaschutz beste- wir beim Klimaschutz einige Probleme weniger. – Dabei hende Blockade lockert. Ich hatte mir früher von Al Gore will ich es zu diesem Thema belassen. mehr versprochen. Ich hoffe, er wird, wenn er denn Präsi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dent werden wird, diese Blockade beenden. Ich hoffe, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12519

Ulrike Mehl (A) Klar ist – hierin sind sich die Forscher weitgehend ei- von Reduktionsverpflichtungen und um Mechanismen für (C) nig –, dass der Klimawandelbereits begonnen hat und eine umweltverträgliche Entwicklung gehen. Dies wird ein Vorgeschmack durchaus schon zu spüren ist. So ist ein entscheidender Schritt sein. Wenn diese Konferenz – wie wir wissen – zum Beispiel eine drastische Zunahme scheitert, dann wird dies – dafür gibt es viele Gründe – ein schwerer Stürme zu verzeichnen. Die sieben der zehnherber Rückschlag für die internationalen Bemühungen heißesten Jahre seit der Messung und Aufzeichnung von um den Klimaschutz sein. Aber eines ist für mich klar: Wetter, nämlich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, Das kann nicht heißen, dass etwa Deutschland oder Eu- waren in den 90er-Jahren. Dies ist kein Zufall. Das deut- ropa von den selbst gesteckten Zielen, die spätestens mit liche Abschmelzen von Gletschern auch in den Alpen ist Kioto noch einmal festgelegt worden sind, abrückt. Die ein Beleg dafür, dass es hier einen Wandel gegeben hat Bemühungen müssen auf jeden Fall weitergehen. und wir handeln müssen, und zwar sehr schnell. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ Deshalb halte ich es für besonders wichtig und richtig, DIE GRÜNEN und der PDS) dass die Bundesregierung das nationale Klimaschutzpro- gramm bereits beschlossen hat, und zwar unabhängig von Auf der Konferenz muss erstens sichergestellt werden, den Ergebnissen der bevorstehenden Klimaschutzkonfe- dass es global zu echten überprüfbaren Emissionsreduk- renz in Den Haag. Damit werden wir Lücken im Klima- tionen kommt, die durch ein durchschaubares Kontroll- schutz schließen. Wir können es noch schaffen, das Ziel, und Sanktionssystem gesteuert werden können. Es nützt das sich schon die alte Regierung gesteckt hat und das die überhaupt nichts, nur Zahlen hinzuschreiben und zu for- neue Regierung aufrechterhält, nämlich eine 25-prozen- mulieren, was man erreichen möchte, wenn man nicht kontrollieren kann, ob diese Ziele tatsächlich erreicht tige CO2-Minderung gegenüber dem Stand von 1990, zu erreichen. werden, und wenn es nicht sanktioniert wird, sofern diese Ziele nicht ernsthaft angegangen, sondern nur auf dem Pa- Ich will mich nicht so sehr mit der Vergangenheit und pier festgelegt werden. der Frage beschäftigen, was in den letzten Legislaturperi- oden alles hätte erreicht werden können, wenn man es Zweitens. Die Kioto-Mechanismen dürfen nationale rechtzeitig angepackt hätte, denn damit kommen wir dem Klimaschutzmaßnahmen nicht ersetzen, sondern nur er- Klimaschutzziel keinen Millimeter näher. Vielmehr wird gänzen. Mindestens 50 Prozent der Treibhausgasminde- es neben der Umsetzung des vorhandenen Wissens für rungen müssen im eigenen Land erreicht werden. den innenpolitischen Erfolg der Klimaschutzpolitik ent- Drittens. Im Rahmen des Clean Development Mecha- scheidend sein, die Akzeptanz für diese lebensnotwendige nism und der gemeinsamen Umsetzung dürfen ausschließ- politische Weichenstellung zu fördern. Wir müssen den lich modernste, hoch effiziente, umweltfreundliche und von der Rio-Konferenz 1992 ausgesandten Impuls für die (B) sozialverträgliche Technologien von den westlichen In- (D) internationale und nationale Umwelt- und Klimapolitik dustrieländern in die Entwicklungsländer und in die Staa- aufgreifen und verstärken. Wir müssen es schaffen, die ten Mittel- und Osteuropas transferiert werden. Projekte Begriffe „Nachhaltigkeit“, „Klimaschutz“ und „Erhal- mit zweifelhafter Umwelt- und Sozialauswirkung darf es tung der biologischen Vielfalt“ mit klaren politischen In- nicht geben. halten zu untermauern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eines der Probleme ist – auch in der internen Diskus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sion –, dass es viele unterschiedliche Vorstellungen über den Inhalt und die Bedeutung dieser Begriffe gibt und Viertens. Der Einbeziehung derCO 2-Senken in die man uneins ist, welche Konsequenzen daraus zu ziehen Emissionsbilanzen stehen wir durchaus skeptisch gegen- sind. Umso wichtiger ist es, über sie zu kommunizieren über. Aufforstung und Wiederaufforstung sind zwar sinn- und klarzumachen, welche Ziele und welche Wege zum volle Maßnahmen des Klimaschutzes, können aber nur Erreichen dieser Ziele hinter diesen Begriffen stehen. Wir sehr schwer eingerechnet werden. Wir wissen aus den bis- werden das unter anderem mit der Einrichtung des Rates herigen Diskussionen, dass gerade in diesem Instrument für Nachhaltigkeit umsetzen. der Senken das höchste Missbrauchspotenzial steckt, weil die Möglichkeiten, abzugrenzen – Minister Trittin hat Immerhin haben in Rio 150 Staaten die Klimarahmen- Beispiele dafür genannt –, was tatsächlich klimaschutzre- konvention unterzeichnet und damit das Ziel der Konven- levant ist, sehr vage sind. Deshalb muss mit diesem In- tion, nämlich die Stabilisierung der Treibhausgaskonzen- strument mit allergrößter Skepsis umgegangen werden. tration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Kli- Würden sich die USA mit ihren sehr weit gehenden masystems verhindert wird, anerkannt. Im DezemberVorstellungen hinsichtlich der flexiblen Mechanismen 1997 verpflichteten sich die Industrieländer mit demund der Anrechnung von CO2-Senken durchsetzen, dann schon mehrfach genannten Kioto-Protokoll, die Emissio- könnten sie ihren CO2-Ausstoß sogar steigern – aus- nen der sechs festgelegten Treibhausgase um mindestens gerechnet die USA! Das – ich denke, da sollten wir uns ei- 5 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 in einem be- nig sein – gilt es zu verhindern, wenn wir acht Jahre nach stimmten Zeitrahmen zu reduzieren. Rio wirklich ernsthafte Schritte in der Klimaschutzpolitik vorankommen wollen. Jetzt steht die 6. Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag unmittelbar vor der Tür. Dort wird es um die For- Wie auch immer die Präsidentenwahl in den USA aus- mulierung und Festlegung der flexiblen Mechanismen, gehen wird: Das Verhältnis der USA zum Klimaschutz- um Emissionshandel, um die gemeinsame Umsetzung prozess und zum Kioto-Protokoll wird immer schwierig 12520 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Ulrike Mehl (A) sein. Aber es kann nicht sein, dass dieses Thema weltweit Ich denke, das Spektakel um Benzinpreise und Öko-(C) ins Stocken gerät oder sogar rückwärts geht, weil eine Na- steuer ist der beste Beweis dafür, dass wir weltweit eine tion nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese Schritte technologische und energiepolitische Revolution brau- zu gehen. Wir sollten uns als Europa und als Deutschland chen. Wenn wir heute schon das Zwei- oder Dreiliterauto dadurch überhaupt nicht davon abbringen lassen, diehätten oder gar Brennstoffzellen als Antrieb genutzt wer- Ziele, die wir bisher gesteckt haben, forsch anzugehen. den könnten, wenn die überwiegende Zahl der Häuser auf der Grundlage vonNiedrigenergiestandards gebaut (Beifall bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) würden, dann würde sich doch heute kein Mensch da- rüber aufregen, dass Energiepreise von Rohöl steigen. Im Zusammenhang mit der Überlegung, welche Dinge man einrechnen kann und welche nicht, will ich nicht un- (Detlev von Larcher [SPD]: Richtig!) erwähnt lassen, dass wir es nicht für verantwortbar halten, Wenn diese Schritte schon sehr viel früher eingeleitet und Kernkraftwerke oder die Kernkraft insgesamt im Rah- konsequenter gegangen worden wären, dann hätten wir men von CDM anrechenbar zu machen. Wir brauchen den heute eine ganz andere Diskussion. Ausstieg aus dieser Risikotechnologie und wir brauchen ihn nicht nur in Deutschland; denn das ist keine ideologi- (Beifall bei der SPD und dem BÜND- sche Debatte, sondern das ist eine Frage von Zukunfts- NIS 90/DIE GRÜNEN) technologien und von Sicherheit und damit eine interna- Diese Bundesregierung und diese Koalitionsfraktionen tionale Frage. Deswegen sind wir der Meinung, dass die haben in den zwei Jahren, in denen sie jetzt die Mehrhei- Kernkraft auf keinen Fall einem dieser Mechanismenten haben und die Regierung stellen, schon eine ganze angerechnet werden darf. Reihe von Projekten in Marsch gesetzt. Diese Chance hät- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-ten auch Sie vorher gehabt, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Na, na, na!) der PDS) liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Sie Ich will es deutlich sagen: Es wäre eine große Gefahr, haben sie leider nicht nutzen können; aber wir haben sie wenn die führenden Industrienationen allein durch die genutzt, insbesondere im Energiebereich. flexiblen Mechanismen rechnerisch in der Lage wären, ihre Emissionsverpflichtungen einzuhalten. Dann gäbe es Wir werden auf diesem Weg weitergehen, und wir wer- nämlich keinen Anreiz für mehr entsprechende Technolo- den diese Bundesregierung weiterhin intensiv dabei be- gien, für Energiesparmaßnahmen oder für regenerative gleiten, damit wir unsere Klimaschutzziele auch zukünf- Energien, die über den derzeitigen Stand der Technik hi- tig erfüllen können. (B) nausgehen. Es geht nicht darum, nur die Entwicklung, die (Beifall bei der SPD und dem BÜND- (D) wir bisher hatten, fortzusetzen, sondern wir brauchen ei- NIS 90/DIE GRÜNEN) nen besonderen Schwung – den haben wir jetzt in den An- fängen – für eine Effizienzrevolution und für die erneuer- baren Energien. Wir wollen nicht, dass dieser Trend einen Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile Kollegin empfindlichen Dämpfer bekommt. Deswegen dürfen wir, Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort. auch auf internationaler Ebene, nicht bestrebt sein, mit fossilen Energien, mit alten Technologien voranzukom- Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe men, sondern müssen die Klimaschutzziele überwiegend Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst an im eigenen Land erreichen und die neuen Technologien, Herrn Minister Trittin wenden und auf seine Rede einge- auch im Interesse der Entwicklungsländer, hier voran- hen. Ich muss sagen, es ist bemerkenswert: Es war eine bringen. richtige Energiesparrede, die Sie hier gehalten haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜND- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Da geht es um die Zukunft des internationalen Klima- schutzes, und Sie halten hier im deutschen Parlament eine Deshalb ist es wichtig, dass die deutsche Bundesregie- lustlose Vorlesung, die aller Welt noch einmal deutlich rung mit solchen Vorgaben nach Den Haag geht. Denn macht, dass Sie überhaupt kein Interesse an diesem Pro- Deutschland verhandelt in Den Haag ja nicht alleine, son- zess des internationalen Klimaschutzes haben. dern die Staaten der Europäischen Union verhandeln ge- meinsam und haben auch schon ein gemeinsames, bisher (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gutes Fundament gefunden. Die Devise muss lauten: weg Die Zeit für salbungsvolle Worte ist wirklich allmäh- von der Energieverschwendung, hin zu regenerativenlich vorbei. Es geht in Den Haag um sehr viel; es geht da- Energien und zu optimaler Ressourcennutzung, hin zu rum, ob der Prozess des internationalen Klimaschutzes Kreislaufwirtschaft und Produktverantwortung. Das be- endlich zu Ergebnissen führt. Werden die Verhandlungs- deutet nämlich auch ein Stück Unabhängigkeit von Ölim- ergebnisse zu weich, dann nützt es dem Klima nichts. porten und Dollarkursschwankungen. Wir müssen im Werden die Bedingungen zu hart, steigen die wichtigen Sinne der nachhaltigen Entwicklung und der Agenda-21- Industrieländer aus. Prozesse, die ja auch in Rio beschlossen worden sind, weiterdenken und an neuen Lebensstilen arbeiten und for- Natürlich ist auch uns klar, dass es bei den so genann- schen. ten Senken Mess- und Umrechnungsprobleme gibt, dass Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12521

Birgit Homburger (A) Waldprojekte keinen großen Beitrag leisten und auch nur war noch ein maßgeblicher Impulsgeber für die interna- (C) langfristig wirken. Und auch wir wollen, dass es in den In- tionale Klimapolitik. Grün war für manchen die Hoff- dustrieländern nationale Maßnahmen zur Reduzierung nung, aber sie wurde bitter enttäuscht. von Emissionen gibt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Auch mit der heutigen Rede haben Sie sich wieder öf- Aber hier nur zu sagen und im Antrag nur zu schreiben, fentlich in Schweigen gehüllt. Anders kann man das nicht was Sie nicht wollen und dass Sie da und dort skeptisch deuten. Ihr Fraktionskollege und Parteifreund Loske hat sind, das reicht meines Erachtens für einen Auftritt auf der an dieser Stelle vor einigen Tagen zu Ihrer Verteidigung internationalen Bühne absolut nicht aus. stolz eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema imBundes- umweltministerium erwähnt. Aber welche Ergebnisse (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hat denn diese Arbeitsgruppe erzielt? Ich bin der Mei- Was jetzt zählt, sind Taten. Was haben Sie denn dazu nung, dass der Vorabend der 6. Vertragsstaatenkonferenz beigetragen, dass es in Den Haag zu Ergebnissen kommt? der Klimarahmenkonvention kein schlechter Zeitpunkt Das ist die Frage, die wir uns hier stellen müssen. Selbst- wäre, um der Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundes- verständlich hat sich Deutschland an den Koordinations- tag konkrete Resultate zu präsentieren. sitzungen beteiligt. Selbstverständlich haben Sie diese (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Woche am Umweltministerrat teilgenommen. Aber glau- ben Sie denn wirklich, dass das reicht? Wie wollen Sie denn Emissionszertifikate einführen? An welche Maßnahmen haben Sie gedacht? Wie sieht der Die bisherigen Fortschritte beim internationalen Kli- Zeitplan aus? Befürwortet die Bundesregierung ein Han- maschutz wurden alle dadurch erreicht, dass man nicht delssystem auf Staatenebene, wie im Kioto-Protokoll vor- nur das Pflichtprogramm abgespult hat. Es waren immer gesehen, oder eines auf Unternehmensebene, wie im die besonderen, zusätzlichen Initiativen, die dazu beige- Grünbuch der EU-Kommission vorgesehen? An welche tragen haben, andere Länder zu überzeugen – und da ist Verfahren zur Überwachung, Durchsetzung und Sanktio- bei Ihnen absolute Fehlanzeige. nierung denkt die Bundesregierung dabei, zumal Sie der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Industrie – letzte Sitzungswoche haben wir das diskutiert – versprochen haben, auf ordnungsrechtliche Eingriffe zu Auch diese Woche beim Ministerrat kam von Ihnen nur verzichten? Zu alldem hört man von Ihnen nichts. Ich Bedenkenträgerei. Konstruktive Vorschläge, wie man in muss sagen, das ist wirklich eine ganz famose Arbeits- Den Haag zum Erfolg kommen kann, hat man von Ihnen gruppe. nicht vernommen. Sie stressen lediglich den Begriff der (B) Vorbildfunktion Deutschlands. Diese Vorbildfunktion, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (D) uns in den internationalen Verhandlungen tatsächlich Ge- Dann hat Ihr Fraktionskollege uns letzte Woche auch wicht verleihen könnte, haben wir längst nicht mehr. noch bestätigt, was wir längst wussten: Es existiert unter Die F.D.P. fordert Sie jetzt seit Monaten dazu auf, in Ihrer Mitwirkung und hinter verschlossenen Türen eine Deutschland endlich die Voraussetzungen Ein- zur Arbeitsgruppe zum Thema Emissionsrechtehandel bei der führung des Zertifikatehandels zu schaffen – wir haben Deutschen Börse, im Übrigen die einzige ernst zu neh- erst in der letzten Umweltdebatte auch über den entspre- mende Initiative zu einem Börsenhandel mit Emissions- chenden F.D.P.-Antrag beraten –, aber Sie haben hoch- zertifikaten in Deutschland. Sie wurde von privater Seite mütig während der ganzen Legislaturperiode nichtsergriffen. Private Unternehmen, Verbände, Wissenschaft- unternommen, um Deutschland konkret auf den Börsen- ler haben den Stillstand nicht länger ertragen, haben sich handel mit Emissionszertifikaten vorzubereiten. zusammengetan, sind aktiv geworden, und Sie haben sich drangehängt. Wirklich eine Glanzleistung, Herr Minister! (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Wenn man international einen solchen Zertifikate- Abgeordneten der CDU/CSU) handel will, muss man schlichtweg die Hausaufgaben ma- chen und das eigene Land darauf vorbereiten. Aber mit dieser Peinlichkeit noch nicht genug: Da exis- tiert diese Expertengruppe, die sich unter Beteiligung (Beifall bei der F.D.P. sowie bei aller einschlägigen Bundesministerien um diese Frage Abgeordneten der CDU/CSU) kümmert, und sie ist offenbar ein Geheimklub. Wer ist Während andere Länder den Börsenhandel mit Emissi- denn daran beteiligt? Man weiß es nicht genau. Es ist auch onsrechten längst vorbereitet haben und ein solcher Han- kaum zu fassen: Die Vertreter der Bundesregierung in die- del im Übrigen in Dänemark in wenigen Wochen tatsäch- ser Runde haben eine Verschwiegenheitserklärung unter- lich beginnen wird, verlautet jetzt immerhin, dass dieschrieben. Alle Vorlagen und Gesprächsinhalte sind ver- Bundesregierung der Einführung eines Emissionshan- traulich – Klimapolitik also hinter verschlossenen Türen dels aufgeschlossen gegenübersteht. Sie haben das auch mit anschließender Verkündigung. Das ist Umweltpolitik heute in Ihrer Rede so gesagt. Da sind wir aber beruhigt. nach Gutsherrenart. Gratulation, Herr Minister! Immerhin beobachten Sie, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) was auf der internationalen Bühne passiert, auf der Bühne, die im Augenblick im internationalen Klima- Ich kann nur bestätigen, was Herr Loske von den Grü- schutz bewegt. Aber die Bühne beherrschen jetzt nen in der letzten Sitzungswoche hier gesagt hat. Es wird andere. Das war früher anders. Die alte Bundesregierung immer deutlicher und immer offensichtlicher, dass 12522 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Birgit Homburger (A) Absprachen außerhalb des Parlaments stattfinden, dass Jetzt zu dem Thema Klimaproblematik. Erstens. Von (C) dem Parlament gewissermaßen nur noch ein Beobachter- mehreren Vorrednern wurde schon gesagt: Die wissen- status eingeräumt wird. Eine Frechheit, Herr Trittin, wie schaftlichen Fakten verdichten sich. Durch den neuen Sie mit dem Parlament umgehen! Bericht des Wissenschaftlergremiums der Vereinten Na- tionen werden sie noch einmal bestätigt. Sie sind besorg- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) niserregender als das, was wir bisher wussten. Die Wet- Die F.D.P. fordert Sie auf, dem Deutschen Bundestag terextreme nehmen zu, Klimazonen verschieben sich. bei der internationalen Klimapolitik endlich Rede und Ein zweites Indiz, das wir zur Kenntnis nehmen müs- Antwort zu stehen. Wir haben genug von salbungsvollen sen, ist, dass die Rückversicherer uns mit immer größerer Worten und Kaffeekränzchen hinter verschlossenen Sorge sagen, die Klimaschäden seien demnächst nicht Türen. Die F.D.P. will den Erfolg von Den Haag, und ich mehr zu versichern, wenn wir so fortfahren wie bislang. möchte, dass Sie endlich etwas dafür tun. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass Klimaschutz die Danke. beste Langzeitökonomie ist. Je länger wir mit dem Kli- maschutz warten, desto teuerer wird das Ganze später. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Das darf nicht sein. Detlev von Larcher [SPD]: Du liebe Zeit! Die F.D.P., die Vorkämpferin für die Umwelt! – Drittens – auf diesen Punkt möchte ich mit allem Nach- Gegenruf der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]: druck verweisen –: Es besteht ein elementarer Zusam- So ist es! Gut erkannt!) menhang zwischen nationaler Glaubwürdigkeit und der Art und Weise, wie man auf internationaler Ebene agieren kann. Sie müssen doch zugeben, dass das Problem in der Ich erteile das Wort Präsident Wolfgang Thierse: Vergangenheit in hohem Maße darin lag, dass man zu dem Kollegen Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/Die Hause so getan hat, als sei man der große Klimaschützer, Grünen. und international die Leute gefragt haben: Ja, was macht ihr denn wirklich? – Da sah die Bilanz dann doch sehr Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dünn aus. Sie haben früher Herrn Töpfer und Frau Merkel Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver- auf die großen Konferenzen geschickt und zu Hause ha- ehrte Kollegin Homburger, ich will erstens gerne noch ben dann Rexrodt und Waigel sozusagen obstruiert, so gut einmal darauf verweisen, dass das Instrument des Emis- es eben ging, und wir sind nicht weitergekommen. Diese sionshandels ein Mittel und kein Zweck ist. Die Art und Glaubwürdigkeitslücke ist jetzt dadurch geschlossen, Weise, wie Sie das Ganze hier idealisieren, geht wirklich dass wir das nationale Klimaschutzprogramm verabschie- völlig an der Sache vorbei. det haben. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der und bei der SPD) PDS) Zu den Konferenzen. Man muss vielleicht die Ge- Das Zweite. Wenn Sie wollen, dass Emissionshandel schichte der Konferenzen noch einmal rekapitulieren. Wir tatsächlich stattfindet, müssen Sie sich im Wesentlichen hatten 1992 in Rio die Konferenz über Umwelt und Ent- dafür einsetzen, dass das Kioto-Protokoll ratifiziert wird; wicklung. Man darf nicht vergessen: Es ging um beide Themen. Dort lag die Konvention zur Unterzeichnung (Zuruf von der SPD: Eben! Voraussetzung!) aus. Sie ist 1994 in Kraft getreten. 1995 war hier in Ber- denn ohne Kioto-Protokoll wird es keinen Emissionshan- lin die erste große Vertragsstaatenkonferenz. 1997 sind in del geben. Setzen Sie sich dafür ein, dann tun Sie etwas Kioto erstmalig klare Reduktionsziele festgeschrieben Gutes. worden. Jetzt, 2000, werden hoffentlich alle Hindernisse Nächster Punkt. Emissionshandel ist vom Kioto-Proto- aus dem Weg geräumt, damit das Protokoll ratifiziert wer- koll ohnehin erst ab dem Jahr 2007 vorgesehen. den kann. Idealerweise wird es so sein, dass wir im Jahr 2002 – also Rio plus zehn Jahre – das Kioto-Protokoll in (Birgit Homburger [F.D.P.]: Ja, aber vorberei- Kraft setzen können. Das wäre ein schöner Erfolg. Darauf ten müssen wir ihn!) sollten wir hinarbeiten. Wir brauchen hier überhaupt nichts übers Knie zu bre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen, wir haben nämlich noch ein paar Jahre Zeit. Wir und bei der SPD) sollten hier mit dem Instrument Erfahrungen sammeln, Pilotprojekte durchführen. Dennoch muss man sagen: Wir haben es hier mit einer schwierigen Balance zu tun. Auf der einen Seite müssen (Birgit Homburger [F.D.P.]: Ab 2007 oder wir ein Interesse daran haben – auch, um sozusagen das was?) Momentum im Prozess zu halten –, dass das Kioto-Proto- koll bis 2002 in Kraft tritt. Auf der anderen Seite können Aber jetzt unsere gesamte Klimapolitik daran auszurich- wir jetzt in Den Haag auf keinen Fall einem Kompromiss ten, dass Sie so gern Emissionshandel haben möchten, da zustimmen, der die Substanz aushöhlt und zu viele müssten wir völlig verrückt sein. Das sind wir aber nicht. Schlupflöcher zulässt. Denn dann hätten wir 2002 zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Protokoll, das ratifiziert werden könnte, aber es würde und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der nichts für den Klimaschutz bringen. Wenn wir vor PDS) dieser Wahl stehen, entscheiden wir uns ganz klar für die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12523

Dr. Reinhard Loske (A) Priorität Substanzerhaltung beim Kioto-Protokoll. Das stabilisieren. Die Höhe ihre Emissionen ist heute gegen- (C) hat für uns absoluten Vorrang. über 1990 aber um etwa ein Drittel geringer, weil ihre In- dustrie kollabiert ist. Deswegen haben die Russen natür- Jetzt zu den Fragen: Vor welcher Situation stehen wir lich ein Interesse daran, diese Differenz – wir bezeichnen aktuell? Wie ist die Konfliktlandschaft? Wo liegen die das gemeinhin als „heiße Luft“ – zu verkaufen. Solch ein Probleme? Vor welcher Situation stehen wir? Schlupfloch ist nicht unproblematisch. Wenngleich wir Klimaschützer der Meinung sind, es Die Russen haben aber auch ein Interesse an Investi- ist nicht hinreichend, haben wir es erstmalig geschafft, dass im Kioto-Protokoll Reduktionsziele vereinbart wor- tionen. Sie wollen einen Technologietransfer. Joint Im- den sind: bis 2010 für die Europäische Union minus 8 Pro- plementation als einer der Mechanismen schafft die Mög- zent, für die Vereinigten Staaten minus 7 Prozent, für lichkeit, Technologie zu transferieren. Wenn es uns Japan minus 6 Prozent, die Russen müssen auf dem Ni- gelänge, dass dieser Handel mit „heißer Luft“ wenigstens veau von 1990 stabilisieren. dazu führen würde, dass die Einnahmen der Russen in die Modernisierung des Energiesystems fließen, dann, glaube Wir sind der Meinung: Das ist nicht ausreichend, aber ich, wäre das ein akzeptabler Kompromiss zugunsten des es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Inso- Klimaschutzes. fern ist diese Vereinbarung positiv. Wir schwenken auf ei- nen Pfad ein, der tendenziell zukunftsfähig ist. Aber man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss auch hinzufügen, dass in Kioto weitere Dinge ver- und bei der SPD) abredet worden sind, die die Sache nicht gerade einfacher Zu den Entwicklungsländern. Die Entwicklungslän- machen, nämlich zum einen die so genannten flexiblen der haben in der ersten Verpflichtungsperiode bis zum Mechanismen und zum anderen die Einbeziehung derJahr 2010 keinerlei spezifische Reduktionsverpflichtun- Senken, also quasi des natürlichen Kohlenstoffkreislaufs, gen. Das ist auch gut so, vor allem dann, wenn man sich des Kohlenstoffs, der in den Böden und in den Wäldern die historische Verantwortung vor Augen führt. Es ist gespeichert ist. richtig: Langfristig wird Klimaschutz ohne China, ohne Was die flexiblen MechanismenEmissionshandel, Indien und ohne Brasilien nicht möglich sein. Wer aber Joint Implementation und Clean-Development-Mecha- jetzt quasi den dritten Schritt vor dem ersten fordert, der nismus betrifft, so haben sie sicherlich theoretische Vor- will in Wahrheit gar keinen Klimaschutz. Die Hausaufga- züge, aber sie haben natürlich auch enorme praktische ben müssen also wir machen. Wir müssen zeigen, dass Probleme. Man muss ganz klar erkennen: Wenn man die Klimaschutz möglich ist. konkrete Ausgestaltung dieser Instrumente falsch vor- Die Position der Entwicklungsländer lässt sich im Prin- nimmt, werden sich nicht die Emissionen reduzieren, son- zip in zwei Punkten zusammenfassen. Sie sagen erstens: (B) dern die Verpflichtungen der Staaten. Das werden wir (D) Wenn ihr wollt, dass wir in unserem Entwicklungsprozess nicht akzeptieren. nicht die gleichen Fehler machen wir ihr in der Vergan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genheit, wenn wir uns also nicht mit der gleichen Ener- und bei der SPD) gieintensität entwickeln sollen, dann müsst ihr uns helfen. Welche Konfliktfelder gibt es? DieEuropäische Ihr müsst den Finanz- und Technologietransfer sicherstel- Union ist – das darf man sagen – bei der Klimapolitik Vor- len. Sie sagen zweitens: Ihr müsst eure Hausaufgaben er- reiter. Sie hat das höchste Ziel übernommen, nämlich die ledigen, um uns zu zeigen, dass sich Klimaschutz und Reduktion der Emissionen um 8 Prozent bis 2010. Inner- wirtschaftliche Entwicklung vereinbaren lassen. Nur halb der Europäischen Union haben wir Deutsche und die wenn diese Dinge realisiert werden, dann können wir dem Briten sehr anspruchsvolle Ziele übernommen. Man muss Kioto-Protokoll zustimmen. – Ich glaube, diese Position aber feststellen – das sage ich versehen mit einem „leider“ –, ist legitim. Es ist jetzt an uns, klar zu machen, dass sich dass sich nicht alle Staaten an ihre Zusagen halten. Außer Klimaschutz sowie wirtschaftliche und soziale Entwick- der Bundesrepublik Deutschland, dem Vereinigtenlung vertragen; und außerdem müssen wir klar machen, Königreich und Luxemburg hat bislang kein Staat Emis- dass wir die Mechanismen des Kioto-Protokolls, vor al- sionen gemindert. Das ist problematisch und kann auf lem den Clean-Development-Mechanismus, dazu nutzen Dauer nicht akzeptiert werden. werden, moderne Technologien in die Entwicklungslän- der zu transferieren. Wir brauchen dezentrale Technolo- Auch folgender Punkt ist nicht unproblematisch: Ei- gien, die zu diesen Ländern passen. Dort brauchen wir nige Mitgliedstaaten der Europäischen Union geben Posi- gerade keine großen Kohlekraftwerke, keine großen tionen, die im Ministerrat verabredet wurden, gegenüber Staudämme oder gar, was völlig absurd ist, Atomkraft- den Amerikanern hinter vorgehaltener Hand wieder preis, werke. vor allen Dingen in Bezug auf die Senken und in Bezug darauf, dass man die flexiblen Mechanismen in Grenzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hält. Ich glaube, die EU hat nur dann eine Chance, sich in und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Den Haag durchzusetzen, wenn sie mit einer Stimme Seifert [PDS]) spricht und wenn sie eine Allianz mit den Entwicklungs- Zu der Rolle der Vereinigten Staaten. Wir tun gut da- ländern schließt, wie das schon in Kioto der Fall war. ran, die Ratifizierung des Protokolls bis zum Jahr 2002 Die Russen – der zweite große Akteur – haben bis zum durch die Europäische Union, durch die beitrittswilligen Jahr 2010 im Prinzip keine Reduktionsverpflichtungen; Länder, durch einen Kompromiss mit den Russen und sie müssen ihre Emissionen nur auf dem Niveau von 1990 durch die Einbeziehung der Japaner zu realisieren. Die 12524 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Dr. Reinhard Loske (A) Japaner haben, auch weil das Kioto-Protokoll mit dem zwar in der Tat dazu führen, dass in China die Wirkungs- (C) Namen ihrer Stadt Kioto verbunden ist, ein essenzielles grade der Kraftwerke steigen, was in Ordnung ist, aber Interesse daran, dass es in Kraft tritt. Das In-Kraft-Treten das würde keine weiteren technischen Innovationen in un- bis 2002 könnte also gelingen. Wir sollten natürlichserem eigenen Lande stimulieren. Wir wissen: Wenn wir großes Interesse daran haben, dass die Vereinigten Staa- den Klimaschutz ernst nehmen wollen, dann brauchen wir ten früher oder später beitreten. Aber wir müssen auch zur technologische Quantensprünge und nicht nur die einfa- Kenntnis nehmen, dass die Situation in Amerika sehrche Verbreiterung des heutigen technologischen Niveaus schwierig ist: Der Senat muss mit einer Zweidrittelmehr- der Bundesrepublik auf den Rest der Welt. heit zustimmen. Aber der Senat hat bereits eine Resolu- Zusammengefasst möchte ich sagen: Wir ermutigen tion verabschiedet, in der es heißt: Erstens. Wir ratifizie- die Bundesregierung auf der Basis dessen, was hier vor- ren nur dann, wenn die Entwicklungsländer schon jetzt getragen worden ist und was der Ministerrat vorgestern Verpflichtungen übernehmen. Zweitens. Wir ratifizieren beschlossen hat, in Den Haag zu agieren und auf der nur dann, wenn totale Flexibilität bei den Mechanismen Grundlage einer klaren gemeinsamen Position zusammen sichergestellt ist. – Das beides sind Forderungen, die wir mit den Entwicklungsländern für das In-Kraft-Treten des als Europäer in dieser Situation nicht unterstützen kön- Kioto-Protokolls zu streiten. nen. Danke schön. Wir haben mit dem Senat Erfahrungen. Der Senat hat beim Atomteststoppvertrag, beim Landminenvertrag und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes und bei der SPD) Schwierigkeiten gemacht. Es ist unrealistisch zu glauben, dass die Amerikaner das Protokoll bis zum Jahr 2002 ra- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle- tifizieren. Deswegen sollten wir alles daransetzen, die an- gin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort. deren – die Europäer, die Russen und die Japaner – dazu zu bewegen, das Protokoll 2002 zusammen mit den Ent- wicklungsländern in Kraft zu setzen. Das wäre ein gutes Eva Bulling-Schröter (PDS): Sehr geehrter Herr Prä- Ergebnis. Damit würde dann eine Dynamik entstehen, die sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als drohende erkennen lässt, dass das Ganze auch technologisch inte- Geiselnahme der EU-Staaten und vieler anderer Länder ressant und attraktiv sein kann, sodass früher oder später durch die USA beschreibt dpa das Kräfteverhältnis für auch die Vereinigten Staaten beitreten werden. Ich glaube, Den Haag. Ein interessantes ! In einer der wichtigsten das ist der richtige Weg. Fragen der Menschheit, dem internationalen Klima- schutz, droht wieder einmal der Weltpolizist Nummer (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eins: Entweder ihr lasst uns weiter die Umwelt verpesten (D) und bei der SPD) oder wir sprengen die Konferenz. Vielleicht sollte die Zum Thema Emissionshandel. Hier liegen Gefahren. Bundesregierung einmal ihr Verhältnis zum brüderlichen Die Aufgabe ist klar definiert: Wir müssen den Handel mit Bündnispartner überprüfen, und zwar nicht nur beim Kli- „heißer Luft“ in engen Grenzen halten. Ich glaube, für die maschutz; es gibt noch einige andere Themen. Entwicklungsländer liegt im Clean-Development-Mecha- Doch zurück zur Politik im eigenen Land. nismus eine große Chance, wenn er richtig ausgestaltet (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist wird. Deshalb brauchen wir eine Positivliste, die klar auch besser!) macht, welche Projekte wir unterstützen wollen. Das sind im Wesentlichen erneuerbare Energien, Energieeffizienz Die Bundesregierung hat einKlimaschutzprogramm und die Nachrüstung alter Kraftwerke. Wir müssen den verabschiedet. Das war höchste Zeit; denn die verblei- Entwicklungsländern die Möglichkeit geben, mit dem bende Deckungslücke für das deutsche Klimaschutzziel, Klimaschutz Erfahrungen zu sammeln, sodass sie in der wie die Bundesregierung die klimapolitische Altlast aus nächsten Verpflichtungsperiode ab 2010 ein wirkliches der Kohl-Ära nennt, beträgt 7 Prozent. Nun scheint das bis materielles Interesse daran haben, dem Protokoll beizu- 2005 nicht viel zu sein. Doch der Eindruck trügt. Das ver- treten, um in den Genuss von technologischen Entwick- einigte Deutschland zehrt diesbezüglich noch immer vom lungen zu kommen. Die Entwicklungsländer können und Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie. Ohne diesen müssen in diesem Prozess unsere Verbündeten sein. Sondereffekt hätten die produzierenden Bereiche seit 1990 niemals eine CO2-Reduktion von 18 Prozent er- Als Letztes zum Thema „cap“, zu der Frage, ob man reicht. Im Westen kommt unter dem Strich sogar eine die flexiblen Mechanismen begrenzen, ihnen also einen leichte Erhöhung des Ausstoßes heraus. Deckel auflegen soll. Die Position der Europäischen Union, maßgeblich durch die Bundesregierung bestimmt, Die Vereinigungsrendite hat allerdings auch etwas ge- ist Folgende: Wir wollen, dass der Löwenanteil zu Hause kostet, beispielsweise die Steuerzahler, die die Subven- erledigt wird, Domestic Action, wie es so schön heißt. tionen für westdeutsche Investoren bezahlt haben, und die Dafür gibt es einen wichtigen technologiepolitischenBeschäftigten in Ostdeutschland, die auf die Straße flo- Grund. Innovationen kommen dadurch zustande, dassgen. Nun gut, seien wir ein wenig zynisch, indem wir die man einen gewissen Druck in eine bestimmte Entwick- klimapolitische Dimension dieses Markterschließungs- lungsrichtung hat. Wenn wir Druck aus dem Kessel lassen programmes gutwillig zur Kenntnis nehmen. Doch lässt und es nur darum geht, unsere State-of-the-Art-Technolo- sich diese Entwicklung langfristig fortschreiben? Neh- gie auf den Rest der Welt zu übertragen, dann würde das men wir für die Analyse einmal die umweltökonomische Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12525

Eva Bulling-Schröter (A) Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes zur Wieder einmal wird eine Energiesparverordnung an- (C) Hand. Dessen Präsident gab vor einem Monat zu beden- gekündigt. Auch wir sind wie die Bundesregierung der ken, dass mehr als die Hälfte des gesamten Rückgangs des Auffassung, dass gerade die möglichen Energieein- CO2-Ausstoßes in Deutschland zwischen 1990 und 1999 sparungen im Gebäudebereich große Potenziale für den in den ersten zwei Jahren nach der Vereinigung realisiert Klimaschutz enthalten. Die Summe von 400 Millionen wurde. Seitdem verlangsamte sich die Reduktion dras- DM pro Jahr aus dem Bundeshaushalt dafür macht aber tisch. Dazu kommt ein internationaler Aspekt: Die Im- nicht einmal ein Fünftel des Betrages aus, den die Bun- porte von Energieträgern wie Kohle, Gas, Öl stiegen von desregierung im Zuge der Entlastungen dank der Öko- 1991 bis 1997 um fast 16 Prozent an, während die Ge- steuer den Unternehmen schenkt. winnung von einheimischen Energieträgern um 26 Pro- (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Da haben zent zurückgefahren wurde. So werden Umweltprobleme Sie leider Recht!) ins Ausland verlagert. Vor dem Hintergrund dieser Ge- sichtspunkte relativiert sich die Zahl von 16,2 Prozent Ich möchte noch einmal wiederholen, dass die Nettoent- CO2-Gesamtreduktion in der Bundesrepublik Deutsch- lastung der Wirtschaft in Höhe von 2,2 Milliarden DM land sowohl im Umfang als auch im Trend schon erheb- nicht nur von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlt wer- lich. den muss, sondern auch zulasten der Umwelt geht. Wenn gerade die Energiegroßverbraucher außen vor bleiben, ist Die Frage lautet also: Sind wir für die anspruchsvollen das Wort „Ökosteuer“ eher ein Witz. Ziele der Bundesregierung gerüstet? Schließlich geht es ja nicht nur um eine 25-prozentige Reduktion bis 2005. Es (Beifall bei der PDS) geht um 45 Prozent bis 2020. Als Kernprobleme identifi- Das Ganze ist nicht nur politisch – wegen der Proteste ziert die Bundesregierung den Verkehr und die Wärme- an der Zapfsäule, denen man sich stellen könnte, wenn dämmung. Im Verkehrsbereich wachsen die Emissionen man vernünftige und gerechte Konzepte hätte –, sondern unvermindert an. Nun soll bis 2003 eine entfernungs-auch volkswirtschaftlich ein teures Vergnügen. Denn die abhängige Schwerlastabgabe eingeführt werden. Dies ist Ressourcen für den Klimaschutz sind ja nicht uner- sicher zu begrüßen. Doch wo bleibt das Tempolimit? Wir schöpflich. Aus volkswirtschaftlicher Sicht geht es letzt- sind da in der EU völlig isoliert. Freie Fahrt für freie Bür- lich auch darum, Klimaschutzpolitik effizient zu gestal- ger – dies scheint jetzt auch der Schlachtruf von Rot-Grün ten. Jetzt springt leider niemand von der F.D.P. auf und zu sein. schreit nach flexiblen Instrumenten. Deshalb zum Ab- (Widerspruch des Abg. Winfried Hermann schluss noch einmal zurück zu Den Haag. (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Klimaschutz soll laut Modell mittelsEmissions- (D) Ich habe schon mehrmals in diesem Hause folgende handels für alle Beteiligten bei gleichen umweltpoliti- Aussage aus einer Studie des Wuppertal-Instituts zitiert: schen Ergebnissen billiger werden. Abgesehen von der Ohne wirksame Gegenmaßnahmen wird das Wachstum Tatsache, dass die als umweltpolitisches Ziel dienenden des Verkehrs bis zum Jahre 2020 sämtliche Einsparungen Kioto-Vorgaben für die Gemeinschaft von 8 Prozent Re- von Klimagasen in den anderen Bereichen zunichte ma- duktion aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig unzurei- chen. Die LKW-Emissionen werden drastisch, um 38 Pro- chend sind, ist eine solche Überlegung natürlich sinnvoll. zent, wachsen und der Flugverkehr wird im Jahr 2020 das Doch ist der Emissionshandel auch zielführend und Klima genauso stark belasten wie der PKW-Verkehr. praktikabel vollzugsfähig? Wir haben bezüglich des Han- Herr Mehdorn hat ja beim Kassensturz seines Unter- dels innerhalb Europas starke Zweifel. Für den Handel in nehmens graue Haare bekommen. Verdeckte Altlasten aus größerem Maßstab, beispielsweise zwischen den USA Zeiten ausgedienter CDU-Parteifreunde an der Spitze der und Osteuropa, lehnen wir ihn, Stichwort „heiße Luft“, Bahn AG, so wird jetzt das Milliardendefizit um-schlichtweg ab. schrieben. Das Grünbuch der EU stellt wirklich kluge Fragen, die (Widerspruch bei der CDU/CSU – Hans-Peter noch nicht beantwortet sind: Wie und zu welchem Preis Repnik [CDU/CSU]: Was soll denn diese Pole- werden die Emissionsmengen verteilt? Wie wird das Ver- mik?) hältnis zwischen am Handel teilnehmenden und am Han- del nicht teilnehmenden Staaten bzw. Unternehmen unter – Wer brüllt, fühlt sich betroffen. – Da ist zwar etwas dran, Wettbewerbsgesichtspunkten organisiert? Vor allem: Wie aber es ist nur die halbe Wahrheit. Die Streckenstilllegun- lässt sich ein so gewaltiges System mit vertretbarem Auf- gen gehen weiter und der Interregio steht zur Disposition. wand tatsächlich kontrollieren? Es geht nicht um die über- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das hat doch schlägige Abschätzung der CO2-Emissionen einzelner etwas mit Rot-Grün zu tun und nichts mit der Bereiche der Volkswirtschaft. Es geht um die genaue Er- CDU!) fassung des CO2-Ausstoßes jedes einzelnen beteiligten Unternehmens. Damit würden aber ganze Regionen von einem Zugver- kehr abgekoppelt werden, der größere Strecken auch in Das Problem der Schlupflöcher ist bekannt; es wurde vertretbarer Zeit zurücklegt. Wo soll eine solche Ver-schon angesprochen. Wir haben den Verdacht, dass der kehrspolitik hinführen? globale Klimaschutz mit den flexiblen Instrumenten auf 12526 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Eva Bulling-Schröter (A) eine falsche Fährte gelenkt werden soll, zugunsten cleve- hier große Verantwortung in einer immer mehr zusam-(C) rer Unternehmen und zulasten wirksamer Klimaschutz- menwachsenden Welt. programme – letztlich gerade zulasten der ärmeren Teile (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dieser Welt. Das, Herr Minister Trittin, muss verhindert werden. Wir werden das auf keinen Fall mittragen. Der zweite Grund, warum wir auf den Klimaschutz so viel Wert legen: Die Klimafrage ist wie kaum ein anderes Danke. Thema mit der Nachhaltigkeitsdebatte verbunden. Wir (Beifall bei der PDS) werden, was die Herstellung von Nachhaltigkeit angeht, nicht weiterkommen, wenn wir nicht koordinierte Schritte hin zu mehr Klimaschutz machen. Klimaschutz ist das Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- zentrale Thema. Darin bündelt sich alles, was an ökologi- gen Michael Müller, SPD-Fraktion, das Wort. schen, an technologischen, an sozialen und an umweltpo- litischen Herausforderungen der Zukunft zu sehen ist. In- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! sofern bedeuten Fortschritte beim Klimaschutz auch Meine Damen und Herren! Der Kollege Lippold hat zu Fortschritte bei der Nachhaltigkeit. Recht darauf hingewiesen, dass dieses Haus nicht nur we- Der dritte wichtige Punkt ist: Wir erleben, dass die gen der anstehenden Konferenz in Den Haag, sondern lange Phase der Industriegesellschaft, die vor allem mit auch weil es ebenfalls in der Vergangenheit zum Thema der Erwerbsarbeit verbunden war, also mit einer Arbeit, Klimaschutz wirklich wichtige Beiträge geleistet hat, bei die in hohem Maße auch auf Kosten des Naturkapitals ge- dieser Debatte eine besondere Verpflichtung hat. Das ist lebt hat, zu Ende geht. Die Zukunft wird andere Formen richtig. Das, was wir nach 1987, nach der Einsetzung der von Arbeit brauchen und es wird sich vor allem in den In- Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“, dustriestaaten entscheiden, ob die Erwerbsgesellschaft in an wissenschaftlichen und politischen Arbeiten geleistet Zukunft eine Organisationsform findet, die Frieden mit haben, ist etwas, worauf dieses Haus stolz sein kann. der Natur schließt, oder ob wir künftig weiter auf Kosten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommender Generationen leben. Der Klimaschutz ist für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) uns eine Chance, Arbeit und Umwelt miteinander zu ver- binden. Diese Chance müssen wir nutzen. Deshalb ist Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass diese Arbeiten übrigens auch die ökologische Steuerreform so wichtig. nicht kleingeredet werden. Sie sind ein Schwerpunkt des Es gibt weltweit kein Dokument zum Klimaschutz, in ökologischen und politischen Profils des Bundestages, dem sich nicht die Forderung nach mehr ökologischer das wir nicht verspielen und das sich jetzt bestätigenSteuerreform findet. (B) muss. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Es ist völlig richtig: Vor dem Hintergrund dieser Ar- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dagmar beiten stellten wir uns die Frage, wie es sein kann, dass Wöhrl [CDU/CSU]: Wenn sie mit Ökologie ver- noch immer ein so eklatanter Widerspruch zwischen un- bunden ist, ja, wenn nicht, dann nein!) serem weitgehend gesicherten Wissen und den nach wie vor in vielen Bereichen halbherzigen Konsequenzen be- Und natürlich ist der Klimaschutz auch eine Heraus- steht: Die Klimaveränderungen und die damit für dieforderung an die Effizienzrevolution. Wir haben die große Menschheit verbundenen Herausforderungen sind offen- Chance, die höhere Produktivität zu nutzen, die wir durch kundig eine Schlüsselfrage der Menschheit; trotzdem be- Energieeinsparung und rationelle Ressourcenverwen- wegt sich nur so wenig. Diese Problematik gehört insdung ermöglichen können. Zentrum unserer politischen Diskussion. Sosehr wir es akzeptieren und auch stolz darauf sind, Ich möchte zu den Chancen und zu den Risiken spre- dass wir in der Bundesrepublik die CO2-Emissionen ge- chen. genüber 1990 erheblich verringert haben – wir wissen auch, dass ein Großteil auf den Strukturwandel in den Der erste Grund, warum der Klimaschutz wichtig ist, neuen Bundesländern zurückzuführen ist –, ist es doch liegt darin, dass wir wissen: In der Zukunft wird es ohne alarmierend, dass das Wachstum derEnergieprodukti- ökologische Stabilität auf der Erde keinen Frieden geben. vität in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir hatten in den 70er-Jahren nach der ersten Energie- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der preiskrise ein Wachstum von rund 2,5 Prozent. In dem da- CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) rauf folgenden Jahrzehnt hatten wir einen Schnitt von et- was über 2 Prozent zu verzeichnen und heute liegen wir Ökologische Stabilität ist ein zentraler Punkt einer nach jetzt nur noch bei 1,5 Prozent im Wachstum der Energie- vorne gerichteten Politik. So wie in der Vergangenheit die produktivität. Wir nutzen bei weitem nicht das, was wir Frage der sozialen Gerechtigkeit wichtig war – und blei- könnten. Insofern müssen wir zugeben, dass ein Großteil ben wird –, so wird in der Zukunft die Behandlung der der CO2-Reduktion auf den Strukturwandel und – leider – Frage der ökologischen Stabilität darüber entscheiden, ob nicht auf eine aktive Energie- und Umweltpolitik zurück- wir zu einer partnerschaftlichen, friedlichen Welt kom- zuführen ist. Hier hätte unser Land mehr tun können; denn men oder ob Spannungen und Konflikte zunehmen. Des- wir haben erhebliche Produktivitätsreserven, die bisher halb ist diese Angelegenheit kein Randthema. Wir tragen aber nicht genutzt worden sind. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12527

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Meine Damen und Herren, ich will auch über die Risi- müssen die Fähigkeit zeigen, mit den begrenzten Res-(C) ken sprechen. Das größte Risiko – und auch eine gewal- sourcen der Erde umzugehen. Das ist der entscheidende tige Herausforderung an unser Denken – ist der zeitliche Punkt. An dem werden wir gemessen. Druck, die große Beschleunigung und Hektik, unter der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE die moderne Zivilisation steht. Wir wissen: Klimaände- GRÜNEN und der PDS) rungen haben einen zeitlichen Vorlauf von vier bis fünf Jahrzehnten. Das heißt: Das, was in den letzten 40 bis Wir haben heute bereits eine Situation, dass die Tem- 50 Jahren an Wärme stauenden Gasen freigesetzt wurde, peraturen etwa ein Grad Celsius über dem natürlichen werden wir erst in der Zukunft zu spüren bekommen. Ein Treibhauseffekt liegen. Wenn der Trend anhält, werden Teil der Zukunft ist also schon nicht mehr veränderbar. wir Ende dieses Jahrhunderts mit einem weiteren Anstei- Das ist für uns, die wir immer sehr auf die Gegenwart, auf gen der Temperatur um 1,5 bis 3,0 Grad Celsius rechnen die Aktualität bezogen sind, eine gewichtige Herausfor- müssen. Die kritische Erwärmungsobergrenze, die im derung an unsere Verantwortung und unser Handeln. Dies äußersten Fall noch vertretbar ist, liegt bei etwa 1,5 Grad fällt in einer Phase, in der wir durch die Globalisierung Celsius. Das heißt: Wir liegen heute schon knapp an der wie noch nie zuvor nur auf eine kurzfristige Verwertungs- Grenze dessen, was die Erde verkraften kann – und das logik ausgerichtet sind, umso schwerer. Um es deutlich zu vor dem Hintergrund der Zeitverzögerung, die Klimapro- sagen: Die heutigen Mechanismen der Globalisierungzesse haben. sind mit ökologischer Verantwortung nicht vereinbar. Die Klimaänderungen sind sehr viel dramatischer, als Hier brauchen wir eine ökologische Gestaltung. wir es uns in der Regel eingestehen. Das Schlimme ist: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Durch die alltägliche Berichterstattung haben wir uns DIE GRÜNEN) so an diese Meldungen gewöhnt, dass wir die Tragweite der Informationen scheinbar gar nicht mehr richtig wahr- Wir müssen auch wissen, dass wir in der Klimaproble- nehmen können. Umso mehr stellt sich die politische Ver- matik unterschiedliche Betroffenheiten haben. Auch das antwortung. Wir, die politisch Verantwortlichen, können macht einen Teil der Problematik aus, dass zu wenig ge- nicht sagen, dass wir die Fakten nicht gewusst haben. tan wird. Ein Teil dieser Welt wird weitaus später und ge- ringer von ökologischen Katastrophen betroffen sein als Insofern wünschen wir uns, dass der Umweltminister insbesondere die instabilen Länder in den tropischen und in Den Haag Erfolg hat. Die Grundlinie heißt: Wir müs- subtropischen Zonen. Auch dies ist eine Herausforderung sen in Europa und in Deutschland ein Beispiel dafür lie- an unsere Verantwortung, an unser Denken in globalen fern, dass Ökologie und Ökonomie dauerhaft miteinander Zusammenhängen und an unser Handeln für eine friedli- verbunden werden können und dass dieses vor allem so- (B) che Welt. zial verträglich organisiert werden kann. Das sind die bei- (D) den Herausforderungen an uns. Ich will einen weiteren Aspekt nennen. In vielen Fra- gen haben wir es mit einem hohen Maß an Nichtwissen zu Erste wichtige Schritte haben wir gemacht, beispiels- tun. Ein Beispiel: Das vielleicht aktivste Treibhausgas ist weise durch die Einleitung der Energiewende und durch Wasserdampf. Wir reden fast nur über den so genannten eine Reihe von anderen Programmen, wozu auch die trockenen Treibhauseffekt, also über Kohlendioxid, Me- Ökosteuer gehört. Natürlich ist die Ökosteuer unbequem, than und andere Wärme stauende Gase. Wir wissen nicht, aber es ist viel schlimmer, sich am Ende, wenn große Ver- welche Folgen beispielsweise die Erwärmung der Erde änderungen eintreten, vorwerfen zu lassen, dass nicht ge- und die hierdurch verstärkte Verdunstung in die Atmo- handelt hätten. Wir müssen die Verantwortung der Politik sphäre haben kann. Wir wissen aber, dass sich durch die auch wirklich wahrnehmen. Deshalb werden wir an der bisherige Erwärmung bereits etwa 5 Prozent mehr Was- Ökosteuer festhalten. serdampf in der Atmosphäre befinden und sich insofern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Wärmebilanz und der Energiehaushalt der Atmo- DIE GRÜNEN) sphäre verändern. Das kann auch schon kurzfristig zu sehr gravierenden Wetterextremen und -veränderungen Die Wissenschaft sagt – ich zitiere Professor Hasselmann führen. Wir wissen zu wenig über diese Prozesse. Umso vom Max-Planck-Institut –: Wir haben beim Klimawechsel wichtiger ist es, vorsorgend zu handeln und nicht zu war- von einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent auszugehen. ten, bis wir durch Ereignisse gezwungen werden, tätig zu Das ist eine Herausforderung, aus der man sich nicht werden. durch parteipolitische Tricks herausstehlen kann. Hier sind wir alle gefordert, auch unbequeme Wahrheiten zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sagen, aber auch die Chancen einer Klimapolitik zu er- DIE GRÜNEN) greifen. Die Chancen habe ich genauso aufgezeigt wie die Als letzter Punkt kommt hinzu – er ist noch nicht oft Risiken. Wir müssen beides sehen und handeln. genug angesprochen worden –: Wenn wir das heutige Ni- Vielen Dank. veau der Industrieländer beibehalten, müsste die Ressour- cenmenge für die Erde etwa zehn Mal höher sein, als sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) tatsächlich ist, um die Bedürfnisse der wachsenden Welt- bevölkerung zu befriedigen. Das ist nicht machbar. Inso- fern bringe ich es auf den Punkt: Klimaschutz bedeutet im Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort Kern ein radikales Umdenken in den Industriestaaten. Sie dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion. 12528 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Dr. Peter Paziorek(CDU/CSU): Herr Präsident! mir die Frage: Warum waren Sie heute Morgen so zurück- (C) Meine Damen und Herren! Die Konferenz in Den Haag haltend? darf nur ein Ergebnis haben: Es muss eine Einigung er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zielt werden, wie das weltweite Wirtschaftswachstum der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Jetzt re- endlich einen klimafreundlichen Weg einschlagen kann. den wir über Trittins Temperament! – Monika Herr Müller, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Im Ganseforth [SPD]: Wirklich kleinkariert!) Vorfeld dieser Konferenz müssen wir über den Tellerrand Im Rahmen der globalen Umweltpolitik ist es natürlich unserer nationalen Klimaschutzpolitik hinwegschauen. auch richtig, dass wir über unsere nationalen Maßnahmen Es kann heute nicht nur darum gehen, darüber zur reden, reden. Das können wir aber nur mit einem klaren Konzept wie gut wir sind und was wir noch besser machen müssen. und großer Begeisterungsfähigkeit; an beiden Punkten hat Vielmehr müssen wir heute auch darüber reden, dass die es heute gefehlt. Industrieländer handeln müssen, damit es anderen auf die- ser Erde nicht schlechter geht. Das müssen wir – das ist (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Richtig!) das große politische Problem – auch der Bevölkerung in Ich möchte hinsichtlich der Frage eines klaren interna- unserem Land verdeutlichen. Aber ich sage: Wenn man tionalen Konzeptes einige Zahlen nennen: Die Volksrepu- das so lustlos macht, wie das der Bundesumweltminister blik China hat 1995 3,3 Milliarden Tonnen CO 2 emittiert, heute Morgen hier getan hat, dann frage ich mich: Wo ist 1997 3,1 Milliarden Tonnen; mittlerweile – nach einem die Begeisterungsfähigkeit, um die Menschen von die- kurzzeitigen Rückgang durch eine Änderung der Wirt- sem Weg zu überzeugen und sie auf diesem Weg mitzu- schaftspolitik – hat man wieder 3,3 Milliarden Tonnen er- nehmen? reicht. Damit liegen in absoluten Zahlen gemessen viele (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Staaten in Südostasien vor den Staaten der Industrielän- der. Stellt man einen Pro-Kopf-Vergleich an, wird man er- Herr Minister, ich muss deutlich sagen: Ihr Redebei- kennen, dass pro Kopf die USA etwa achtmal so viel CO 2 trag heute Morgen war eine personifizierte Energieein- ausstoßen wie China. Die neuesten Forschungsergeb- sparverordnung. Es war falsch, sich bei diesem Punkt so nisse, die am Wochenende in der Presse veröffentlicht zurückhaltend zu verhalten. worden sind, machen deutlich: Es muss schnell gehandelt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Detlef werden, es muss nicht nur national, sondern auch global von Larcher [SPD]: Wenn das die Hauptkritik ist! sinnvoll gehandelt werden. Es ist nicht länger zu leug- Das Temperament! – Monika Ganseforth [SPD]: nen, dass Klimaschutzpolitik auch Wirtschafts- und Ent- So kleinkariert!) wicklungshilfepolitik ist. Die rasante Industrialisierung (B) Asiens, der Hunger nach immer mehr Energie und das Be- (D) Ich kann dafür nur einen Grund finden: Sie haben die Be- dürfnis der Länder Asiens, Konsum nachzuholen, stellen fürchtung, dass Den Haag scheitern könnte, und wollen uns in dem Bemühen, die globalen CO2-Emissionen zu wahrscheinlich nicht mit einem Misserfolg identifiziert reduzieren, vor gewaltige Herausforderungen. werden. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie sich ein Vorbild an Töpfer und Frau Merkel. Diese standen Jahr für Jahr Diese Herausforderungen können nicht allein national vor schwierigen Klimaschutzkonferenzen – die immer bewältigt werden; auch für die Europäische Union ist da- auf der Kippe standen – und haben sich sowohl bei in unter realistischer Sichtweise der Rahmen zu klein. Es Deutschland als auch international bei den Vorbereitun- hilft nur eine globale Sichtweise und hinsichtlich des glo- gen persönlich engagiert, um durch ihren persönlichen balen Klimaschutzes hat – das muss man leider feststel- Einsatz die Fronten aufzuweichen und trotz unterschied- len – die Bundesregierung in den letzten Monaten kon- licher Interessen zu einem Ergebnis zu kommen. Man hat zeptionell versagt. Das von Ihnen, Herr Umweltminister persönlich gespürt – ich war bei verschiedenen Konferen- Trittin, kürzlich vorgestellte Programm zum Klimaschutz zen, zum Beispiel in Rio, dabei –, wie beide versucht ha- enthält gute Ansätze – ich will das gar nicht leugnen –, be- ben, zu einem vernünftigen Kompromiss zu kommen. Sie zeichnet aber die vorgesehenen Maßnahmen nicht kon- sind aber niemals hier so aufgetreten, wie Sie es eben ge- kret genug und kommt zeitlich eindeutig zu spät. macht haben. Wer von einer Sache nicht selbst begeistert (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist, kann andere Menschen nicht mitnehmen. neten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Die Maßnahmen hätten schon vor zwei Jahren in Angriff Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Oskar genommen werden müssen. Lafontaine!) Weiterhin weisen Sie voller Stolz darauf hin, Sie hätten – Eben. eine Vereinbarung mit der deutschen Industrie hinsichtlich einer Selbstverpflichtung erzielt. Zunächst einmal, Frau (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wo er Recht Bulling-Schröter, muss ich Ihnen sagen: Ihre Zahl stimmt hat, hat er Recht!) nicht; der Fortschritt im gewerblichen Bereich der Indus- Wenn ich mir ansehe, wie Sie in der letzten Zeit bei trie bei dem Bemühen, die CO 2-Emissionen zu reduzieren, manchen Talkrunden – auch bei Angriffen gegen dieliegt seit 1990 bei minus 31 Prozent. Herr Trittin, Sie wei- Union – ganz massiv, teilweise überaus engagiert und sen auf die neue Vereinbarung zur Selbstverpflichtung hin. stark polemisch an die Sache herangegangen sind, muss Ich kann mich noch daran erinnern, dass dieses Instrument ich sagen: Sie können es auch anders. Deshalb stelle ich der Selbstverpflichtung, das wir 1995 in die deutsche Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12529

Dr. Peter Paziorek (A) Umweltpolitik eingeführt haben, vor wenigen Jahren von – Nein, Frau Ganseforth, Sie hätten mit Ihrer Regierungs- (C) Ihnen massiv bekämpft worden ist. mehrheit die Aufgabe gehabt, auf die Opposition zuzuge- hen, und zwar so, wie wir es 1992 auch getan haben. (Monika Ganseforth [SPD]: Sollen wir das jetzt wieder abschaffen?) (Monika Ganseforth [SPD]: Das ist doch nicht wahr! – Eva Bulling-Schröter [PDS]: Stimmt Sie haben es als ein Instrument bezeichnet, das zeigt, gar nicht!) dass wir nicht den Mut hätten, gegen den CO2-Ausstoß wirklich engagiert vorzugehen. Nun gehen Sie hin und sa- – Doch, das ist wahr. Am 6. Mai 1992 haben die Frak- gen: Das ist ein erfolgreiches Instrument. tionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. – die Grü- nen waren damals nur durch das Bündnis 90 in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hause vertreten, weil sie bei den Bundestagswahlen 1990 Monika Ganseforth [SPD]: Wollen Sie das wie- die Fünfprozenthürde nicht überwunden hatten – einen der abschaffen oder was wollen Sie?) gemeinsamen, also einen fraktionsübergreifenden, An- Sie kopieren das, was unter Töpfer und Merkel bahnbre- trag – er trägt die Unterschriften von Schäuble, Klose und chend entwickelt worden ist. Solms – verabschiedet, in dem es heißt: (Monika Ganseforth [SPD]: Es ist doch albern, Der Deutsche Bundestag begrüßt den jetzt vorgeleg- wenn man alles wieder zurückdreht!) ten Bericht der Enquete-Kommission und fordert die Wir geben natürlich zu: Die Situation ist sehr schwierig. Bundesregierung auf, die Empfehlung des Berichts Die Bereitschaft einiger internationaler Partner zu Kom- auf nationaler und internationaler Ebene bei ihren promissen in der Klimaschutzpolitik hat – ich will das mal Initiativen und Entscheidungen zu berücksichtigen. so formulieren – nicht zugenommen. Staaten wie USA (Monika Ganseforth [SPD]: Da haben wir doch und Japan versuchen in den angestrebten rechtlichen Ver- nicht gewartet, bis Sie gekommen sind! – Detlef einbarungen Schlupflöcher abzusichern; dies können wir von Larcher [SPD]: Das war auch richtig!) nicht akzeptieren. In diesem Punkt haben Sie die aus- drückliche Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion. So lautet der gemeinsame Beschluss der Fraktionen vor Wer bei der Bekämpfung der Folgen des Klimawan- der Rio-Konferenz 1992. Sie hatten überhaupt kein Inte- dels auf Schlupflöcher setzt, ist für die negativen Folgen resse an einer gemeinsamen Position. Ich finde es schade, einer solchen Politik mitverantwortlich. Wir müssen da- dass es jetzt keinen fraktionsübergreifenden Antrag gibt. mit an die USA appellieren: Macht bei glaubwürdigen Ich habe schon gestern gesagt, wir hätten einen solchen Vereinbarungen und effektiven Reduktionen mit undAntrag mitgetragen. setzt euch nicht immer von einer sinnvollen Klimaschutz- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (B) politik ab. Detlev von Larcher [SPD]: Dann stimmen Sie (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und doch unserem zu!) der F.D.P.) Ich darf Sie, Herr Trittin, daran erinnern: Es wird jetzt Wir werden heute Zeugen einer Verschiebung darauf des ankommen, eine Strategie zu entwickeln, die Ant- Schwergewichts an Emissionen vom Nordatlantikraum wort auf die Fragen gibt nach Asien. Die Reduktionserfolge in Deutschland und in ganz Europa werden binnen kürzester Zeit durch das (Monika Ganseforth [SPD]: Beim Erneuerba- Wirtschaftswachstum in Asien aufgezehrt werden. ren-Energien-Gesetz haben Sie nicht mitge- macht!) Um nicht missverstanden zu werden: Auch die CDU/CSU-Fraktion steht eindeutig zu dem Ziel, den na- – Frau Ganseforth, es hat Sie wohl ziemlich getroffen, dass ich mich daran erinnern konnte, was wir 1992 ge- tionalen CO2-Ausstoß um 25 Prozent bis zum Jahre 2005 zu reduzieren. Das mag im globalen Vergleich zwar nur meinsam verabschiedet haben; tut mir Leid! –: ein geringer Beitrag sein. Aber er ist notwendig, um bei (Monika Ganseforth [SPD]: Nein, wir haben den anstehenden internationalen Verhandlungen glaub- das ganz anders gemacht! Sie können noch von würdig auftreten zu können. Wir können mit den Ent- uns lernen!) wicklungsländern nur glaubwürdig verhandeln, wenn wir selbst unsere Hausaufgaben machen und Lösungen ent- Wie können flexible Instrumente auf globaler Ebene mög- wickeln und anbieten, die im globalen Rahmen effektiv lichst effektiv eingesetzt werden? Wie kann ein Techno- und auch finanziell sinnvoll sind. logietransfer zwischen den Schwellenländern und Europa Ich glaube, dass wir in diesem Hause in vielen Punkten organisiert werden? Wie kann das berechtigte Streben der des Klimaschutzes übereinstimmen. Es ist im Interesse Länder Asiens nach mehr Wohlstand mit der Sorge um das der Klimaschutzpolitik, dass wir gemeinsam agieren.Weltklima in Einklang gebracht werden? Es wird nicht Deshalb sage ich ganz deutlich: Es ist sehr schade, dass es ausreichen, dass man sich in Deutschland und in Europa nicht gelungen ist, in Vorbereitung auf Den Haag noch gegenseitig Erfolge bescheinigt; vielmehr wird es darauf kurzfristig, wie ich es erst gestern noch im Umweltaus- ankommen, dass wir in einen echten Dialog mit den schuss angeregt habe, einen fraktionsübergreifenden Ent- großen Emittenten von morgen treten und mit diesen eine schließungsantrag zu verabschieden. Das hätte die deut- Partnerschaft zum Schutze des Weltklimas begründen. sche Verhandlungsposition enorm verbessert. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, Vor- (Monika Ganseforth [SPD]: Das ist Ihnen ein schläge für eine Strategie, die zu einer echten Partner- bisschen spät eingefallen!) schaft zugunsten des Weltklimas führt, vorzulegen, die es 12530 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Dr. Peter Paziorek (A) den anderen Staaten ermöglicht, das Kioto-Protokoll zu rung bereits vorgelegt wurde und nachdem wir in vielen (C) ratifizieren, damit es endlich verbindlich wird, eine Stra- Bereichen einiges erreicht haben. Beispielsweise konnten tegie zu entwickeln, die Ökonomie und Ökologie ver- wir im Bereich der Energiepolitik die Wende einleiten. söhnt, den Belangen der Schwellenländer und der Ent- Was müssen wir tun? Was ist die neue Maxime? Man wicklungsländer Rechnung trägt und auch die zaudernden kann unsere Ziele als einen neuen Dreiklang formulieren: europäischen Partner motiviert, sich an ihre Reduktions- weniger Energieverbrauch und CO-Emissionen, effi- verpflichtungen zu halten. 2 zienterer Einsatz von Energie sowie intelligentere Nut- Herr Trittin, machen Sie die deutsche Klimaschutzpo- zung der Energie, was eine Nutzung regenerativer Ener- litik wieder glaubwürdiger in der Welt; engagieren Sie gien beinhaltet. sich auch persönlich stärker für eine solche Politik und Die Politik der Koalition hat auf diesem Gebiet zwei- verpassen Sie nicht die Chance, Den Haag zu einem Er- fellos große Fortschritte erzielt. Ich will Ihnen jetzt nicht folg für den Klimaschutz zu machen! Wenn Sie diese vorwerfen – das ist ja ansonsten ein beliebtes Spiel in die- Punkte berücksichtigen, aber nur dann, wird Ihnen die sem Hause –, was Sie nicht gemacht haben. Ich denke, wir Unterstützung der Umweltpolitiker der CDU/CSU sicher sind heute an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht sein. mehr zurückschauen sollten, sondern an dem sich alle Vielen Dank. bemühen sollten, neue Konzepte in die öffentliche De- batte einzubringen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – nen Vorschlag hinsichtlich eines Altbauprogramms vor- Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gelegt hat. NEN]: Eine wichtige Einschränkung!) (Zuruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]) Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grü- – Ja, das haben Sie schon öfter getan. Ich finde es gut, dass nen. Sie jetzt einen systematischen Katalog vorlegen. Sie haben sich immer wieder darüber beklagt, dass wir Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bei der Energieeinsparverordnung nicht schnell genug Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! vorankommen. Wir werden in den nächsten Monaten ei- Wenn man mit einer gewissen Distanz die internationalen nen Vorschlag vorlegen, der in Richtung Ihres Antrags Verhandlungen betrachtet und sie einmal ins Verhältnis zu geht. dem setzt, was viele Rednerinnen und Redner in der heu- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das ist auch tigen Debatte unter den großen Herausforderungen ver- (B) gut so!) (D) stehen, dann muss man festhalten, dass es eigentlich schier unerträglich ist, wie langsam der Prozess des Kli- Natürlich sehen wir Energiekennzahlen sowohl für die maschutzes vorangeht. Neubauten als auch für die Altbauten vor, damit transpa- rent wird, wie viel Energie in den Häusern verbraucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird. So werden wir sowohl im Neubaubereich als auch sowie bei Abgeordneten der SPD) im Altbaubereich die Wende einleiten. Ich finde es nur schwer erträglich, dass die Ziele nur (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Na, na!) minimal und – gemessen an den großen Herausforderun- gen – nicht ambitioniert genug sind. Schließlich ärgert – Warten Sie es ab und seien Sie nicht gleich so skeptisch! mich – das finde ich gar nicht mehr erträglich –, dass in Wir haben eine Reihe von Ihren Vorschlägen aufgegriffen. manchen Ländern offenbar die Mentalität vorherrscht, zu Im Übrigen kann ich Sie nur dazu auffordern, dass die von fragen, wie man es vermeiden kann, etwas zu tun. Das ist Ihnen regierten Bundesländer dazu beitragen, eine ambi- eine grundlegend falsche Haltung. Wir brauchen vielmehr tionierte und anspruchsvolleEnergieeinsparverord- die Einsicht, dass wir etwas tun müssen. Wir müssen uns nung durch den Bundesrat zu bringen. Man sollte hier fragen, auf welchem Wege wir etwas erreichen können. nicht starke Reden halten und auf Landesebene das Vor- haben ausbremsen. Ich bitte in diesem Punkt um Ihre Un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terstützung. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich beklage diesen schleppenden internationalen Pro- und bei der SPD – Dr. Peter Paziorek zess – ich habe bei Ihnen durchaus ähnliche Tendenzen [CDU/CSU]: Lassen Sie uns im Vorfeld besser ausgemacht – und bin der Meinung, dass es notwendig ist, zusammenarbeiten!) dass wir auf nationaler Ebene alles in unserer Verantwor- tung Stehende tun und dass wir nicht länger auf die ande- Herr Paziorek, Sie haben zu Recht darauf verwiesen, ren starren und sagen: Erst wenn die etwas machen, tun dass im Bereich des Klimaschutzes die Selbstverpflich- wir etwas. Wir müssen vielmehr sagen: Lasst uns ge-tung für uns inzwischen eine andere Rolle spielt als meinsam voranschreiten! Das ist unsere Verpflichtung. früher. Dazu möchte ich Ihnen sagen: Die ersten Selbst- verpflichtungen haben darunter gelitten, dass sie relativ Es kommt jetzt darauf an, im eigenen Land sinnvolle zahnlos, Projekte und Strategien für den Klimaschutz zu ent- wickeln. Ich bin froh, dass wir heute darüber diskutieren (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ein Jahr können, nachdem eine Klimaschutzstrategie der Regie- später waren wir schon weiter!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12531

Winfried Hermann (A) nicht präzise genug und nicht überprüfbar waren, sodass Gruppen, Organisationen, ja Bündnisse entstehen, die(C) sie relativ wirkungslos waren. Wir haben daraus gelernt sich für den Klimaschutz einsetzen. Das, was vor Jahren und in unser Klimaschutzprogramm die Selbstverpflich- auf kommunaler Ebene begonnen hat, muss in allen an- tung nur zu einem kleinen Teil – für den größeren Teil ha- deren Bereichen der Gesellschaft fortgesetzt werden, zum ben wir härtere Maßnahmen vorgesehen, dazu haben Sie Beispiel bei den Verbrauchern. Auch der ADAC sollte geschwiegen – aufgenommen. Aber diese Selbstver-nicht nur zum Spritsparen aufrufen, sondern in diesem pflichtung haben wir sozusagen so scharf gemacht, damit Zusammenhang eine richtige Kampagne durchführen. etwas Wirkungsvolles dabei herauskommt. Ich glaube, das ist ein wichtiges Element einer neuen Umweltpolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Auch die Bauindustrie und die Eigentümer von Wohn- häusern und Eigentumswohnungen sollte eine Kampagne Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur PDS. Ich dahin gehend durchführen, dass sie in ihrem Eigentum amüsiere mich manchmal darüber, dass Sie von der PDS den Klimaschutz beachten, da es zukünftig für alle sinn- im Umweltausschuss und auch hier in Ihren Reden immer voll ist, dem Klima etwas Gutes zu tun. Wir brauchen eins draufsetzen und sagen: Macht endlich mehr! Ihr habt auch in der Wirtschaft, dort, wo viel Energie verbraucht doch früher mehr gefordert! Immer dann, wenn einewird, Impulse bzw. Bündnisse, die dafür sorgen, dass in Maßnahme greift, seid ihr die Ersten, die larmoyant rufen, allen Bereichen möglichst wenig Energie verbraucht dass es irgendwie die Falschen trifft. wird. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Öko- Wenn wir es nicht schaffen, dass sich neben der Politik steuer!) viele Bürgerinnen und Bürger sowie Organisationen, also – Beispielsweise Ökosteuer. das, was man Zivilgesellschaft nennt, für den Klima- schutz stark machen und sich für ihn einsetzen, werden (Rolf Kutzmutz [PDS]: Ihr macht doch keine wir all die ambitionierten Ziele, die wir haben, nicht er- Ökosteuer!) füllen können. Ich bitte sehr darum, dass Sie in Ihren Krei- Ihr sagt andersrum: Bei der Ökosteuer werden die größ- sen und in Ihren Bereichen, in denen Sie tätig sind, dafür ten Verbraucher ausgenommen. werben, ein Bündnis für den Klimaschutz zu schaffen. (Rolf Kutzmutz [PDS]: Das ist doch so!) Vielen Dank. Das ist banal gedacht. Wir haben diese Regelung doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht eingeführt, weil wir die Großverbraucher schonen und bei der SPD) (B) wollen, sondern weil Arbeitsplätze dort gefährdet werden (D) würden, wo die Energie eine große Rolle bei der Produk- Präsident Wolfgang Thierse:Zu einer Kurzinter- tion spielt. Nachhaltige Politik heißt, soziales Denken mit vention erteile ich das Wort der Kollegin Eva Bulling- ökologischem Denken zu verbinden und in diesem Sinne Schröter. zu sagen: Wir brauchen eine Übergangsregelung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eva Bulling-Schröter (PDS): Kollege Winfried und bei der SPD – Rolf Kutzmutz [PDS]: Völ- Hermann hat festgestellt, die PDS beziehe eine unglaub- lig richtig! Aber machen muss man es!) würdige Position zur Ökosteuer. Ich möchte kurz die Man ist auch deswegen so vorgegangen, um nicht Arbeits- Position der PDS zur Ökosteuer darlegen – vielleicht ist plätze zu gefährden. Das müssen Sie doch verstehen.sie Ihnen nicht mehr im Gedächtnis –: Denn an anderer Stelle sind Sie immer diejenigen, die so- Erstens. Wir lehnen Ihre Ökosteuer ab. Wir sind nicht fort nach der – aus meiner Sicht nicht ausgeklügelten – gegen eine Ökosteuer, sondern gegen Ihre Ökosteuer, weil Strategie des sozialen Ausgleichs rufen. wir sie für sozial ungerecht halten. (Monika Ganseforth [SPD]: Unglaubwürdig (Beifall bei der PDS) ist das!) Denn mit dem Aufkommen aus dieser Ökosteuer werden Das alles sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Ich Lohnnebenkosten kompensiert. Alle diejenigen, die warte auf eine Kampagne der PDS, wie man in besonde- keine Lohnnebenkosten zahlen, erfahren keinen sozialen rer Weise in den neuen Bundesländern etwas zum Klima- Ausgleich. Das betrifft Sozialhilfeempfänger, BAföG- schutz beitragen kann. Empfänger sowie Rentnerinnen und Rentner, also eine (Rolf Kutzmutz [PDS]: Habe ich doch schon ganze Reihe von Menschen. erläutert!) (Detlef von Larcher [SPD]: Die werden Denn dort gibt es sowohl bei den Strukturen als auch bei schwer belastet!) den Menschen besondere Ansatzpunkte. – Sie sind zum Teil auch schwer belastet. Es gibt Rentne- Was wir heute wirklich brauchen, ist nicht das Rufen rinnen und Rentner, die sehr hohe Renten haben; aber es nach dem Staat und der Politik; denn an den Rahmenbe- gibt auch andere. – Wir meinen, auch Sozialhilfeempfän- dingungen haben wir viel geändert. Was wir vielmehrger sollten ökologisch leben können. Durch den Umver- brauchen, ist, dass auf allen Ebenengesellschaftliche teilungsprozess werden laut Herrn Minister Trittin 12532 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Eva Bulling-Schröter (A) 2,2 Milliarden DM von unten nach oben verschoben. Das sozial orientierte Steuerreform gemacht, die zu einer deut- (C) heißt, die Unternehmen erzielen dadurch Gewinne. lichen Entlastung der unteren und mittleren Einkom- mensgruppen geführt hat, und wir haben eine Reihe von Dass man das Ganze vielleicht stufenweise einführen Ersatz- und Stützmaßnahmen zum Beispiel für Sozialhil- könnte, darüber haben Sie offensichtlich nicht nachge- feempfänger, für Wohngeldempfänger oder auch für dacht. Rentner ergriffen. Wir haben uns darüber Gedanken ge- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Es gibt macht, wie man die Rentner dauerhaft auf einem hohen doch Stufen!) Niveau absichern kann. Dies muss man zusammenzählen Natürlich muss auch die Frage der Arbeitsplätze eine Rolle und darf es nicht auseinander dividieren. spielen; aber nicht nur diese Frage ist hierbei wichtig. (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Zweitens zur ökologischenLenkungswirkung. Sie Vollmer) könnte wesentlich größer sein. Dies wäre dann der Fall, Dasselbe gilt für die Investitionen. Wir haben zwar wenn man bei der Primärenergie ansetzen würde, wie die nicht die Einnahmen aus der Ökosteuer – wie Sie das wol- Umweltverbände das immer wieder fordern. len – für Investitionen genommen, aber wir haben in den (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das geht letzten zwei Jahren in erheblichem Umfang aus allgemei- doch europäisch gar nicht!) nen Steuereinnahmen im Sinne einer nachhaltigen Ent- wicklung in die Infrastruktur und die Modernisierung in- – Sie können gerne später darauf eingehen. vestiert, gerade im Bereich der Bahn, und zwar vom Drittens zum ökologischen Umbau. Wir meinen, dass Volumen her in einer Höhe, die sich auch im internatio- das Aufkommen aus der Ökosteuer komplett in den öko- nalen Vergleich wirklich sehen lassen kann. logischen Umbau fließen sollte. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie ha- Vizepräsidentin Dr. : Jetzt hat der Ab- ben keine Ahnung!) geordnete Michael Goldmann das Wort. Das hieße dann, dass zum Beispiel der öffentliche Nah- verkehr ausgebaut werden müsste. Auch im Gebäudebe- Hans-Michael Goldmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! reich wären Maßnahmen nötig. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von uns sitzen jetzt seit zwei Stunden hier und beschäftigen sich mit dem (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Die Frau Thema „Klimaschutz“. Wenn wir ein Fazit ziehen, kann weiß nicht, wovon sie redet!) man zu dem Ergebnis kommen: Wir haben viele schöne (B) Zu Ostdeutschland nur eine Zahl: Zu Zeiten der DDR Worte gehört, aber es fehlt an vielen Stellen an den ganz (D) wurden 80 Prozent der Güter auf der Schiene transpor- konkreten Taten. Schon früher habe ich den Slogan „Glo- tiert. Jetzt hat sich diese Zahl an die im Westen angegli- bal denken und lokal handeln“ ganz gut gefunden. Vorhin chen. Natürlich wird jetzt mehr Verkehr erzeugt. Manhabe ich die Worte von Herrn Müller gehört, der gesagt hätte das frühere Transportsystem belassen können. Die hat, die ökologische Herausforderung habe ganz ent- Binnenschifffahrt der DDR war zu 80 Prozent ausgelastet. schieden etwas mit Friedensbildung in der Welt insgesamt zu tun. Dies kann man nur unterstreichen. Herr Hermann Die Auslastung liegt in den neuen Bundesländern jetzt bei hat gesagt: Wir stehen vor großen Herausforderungen, es 30 Prozent. Hier wären Kapazitäten frei. Dies würde auch handelt sich um einen schleppenden internationalen Pro- zur CO2-Reduzierung beitragen. zess, der aber vor Ort mit Taten aufgefüllt werden muss. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Wenn das alles so ist, sollten wir uns mit einem Bereich einmal ganz konkret befassen. Ich meine die Wohnungs- Präsident Wolfgang Thierse: Zu einer Antwort er- baupolitik und die dort vorhandenen CO2-Einsparpoten- teile ich dem Kollegen Winfried Hermann das Wort. ziale. Herr Hermann, ich bin sehr gespannt auf das, was Sie vorlegen. Aber bis jetzt haben Sie nichts vorgelegt. Sie haben in diesem Bereich bis jetzt nichts auf den Weg ge- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bracht. Sie haben Ihre umweltpolitischen Hausaufgaben Frau Kollegin, worauf es mir ankam und was ich jetzt in schlicht und ergreifend nicht gemacht. Sie werden die Ihrer Antwort wieder nicht gehört habe, ist Folgendes: Sie CO2-Minderungsziele im Gebäudesektor durch Ihr müssen das Grundlegende zur Kenntnis nehmen. Wenn Nichtstun verfehlen. Das ist bedauerlich. Sie eine ökologische Steuerreform machen, also eine in- direkte Steuer erheben, treffen Sie zunächst alle gleich. Sie haben eine Energieeinsparverordnung nicht zu- Eine indirekte Steuer können Sie nicht sozial ausgewogen stande gebracht, weil Sie sich in technischen Details ver- erheben; sie trifft eben diejenigen, die wenig haben, här- loren haben, weil Sie sich von Interessenvertretern haben ter als diejenigen, die viel haben. beeinflussen lassen. Jetzt zum Schluss haben Sie auch noch Ärger in der eigenen Regierung, denn endlich ist der (Eva Bulling-Schröter [PDS]: Das ist aber un- Minister in dieser Hinsicht aufgewacht – auch wenn ich sozial!) ihn heute Morgen eher müde und einschläfernd erlebt Parallel dazu müssen Sie etwas Zweites tun. Das hat habe – und nimmt auch noch Einfluss. Das führt dazu, diese Koalition gemacht. Parallel dazu haben wir eine dass wir hier nicht weiterkommen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12533

Hans-Michael Goldmann (A) Die Folgen Ihrer Untätigkeit, meine Damen und Her- stellungen vornehmen, die dazu führen, dass die Men-(C) ren von den Koalitionsfraktionen, sind schon schlimm. schen das von sich aus machen. Dieses ökologische Durchwursteln (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Lachen des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) In diesen Bereichen haben Sie riesige Chancen ver- – ja, so ist das – führt zu einer massiven Verunsicherung passt. Wer Ökologie gestalten will, muss die Menschen beim Mittelstand und beim Handwerk, dabei mitnehmen. Das darf er nicht nur global machen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht nur in Den Haag, sondern das muss er durch prakti- sches Tun in der Politik machen. bei den Investoren, bei den Bauherren und den Energie- versorgern. Ein großer Bereich, ein volkswirtschaftlich (Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) wichtiger Sektor mit Arbeitsplätzen und Investitionschan- Was Herr Trittin sich heute Morgen hier geleistet hat, cen, weiß nicht, wie es weitergehen soll, welche Stan- war in meinen Augen so verletzend gegenüber denje- dards, wann und mit welcher Ausgestaltung sie kommen. nigen, die umweltpolitische Interessen haben, dass ich Es ist alles unklar. darüber nur noch erschüttert bin. Ich will hier ganz per- Herr Hermann, dass es nicht ganz so ist, wie Sie es dar- sönlich sagen: Ich habe Herrn Trittin auch im nieder- stellen, will ich anhand eines Beispiels belegen: In der sächsischen Landtag schon erlebt. Da war er zumindest letzten oder vorletzten Ausschusssitzung und auch hier im kämpferisch. Heute Morgen war er dilettantisch in allen Plenum haben wir klammheimlich eine Verlängerung des Fragen, in allen Herausforderungen, die an einen Minis- Ökobonus für einen langen Zeitraum, nämlich über die ter zu stellen sind. Das ist eine für die ökologische He- Legislaturperiode hinausgehend, beschlossen. Sie haben rausforderung betrübliche Entwicklung, die wir hier zu das klammheimlich gemacht, weil Sie wussten, dass die- beklagen haben. ses Thema Ihnen, der Bundesregierung und auch den sie Herzlichen Dank. tragenden Fraktionen, nicht gerade zur Ehre gereicht. Aber es ist Beweis dafür, dass in dieser Wahlperiode (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – nichts mehr passieren wird. Detlev von Larcher [SPD]: Aber ich finde es richtig gut, dass Sie ihn jetzt auffordern, noch Ich glaube, wir reden hier nicht nur über eine Kleinig- mehr zu machen!) keit. Im Rahmen der globalen Herausforderung ist das, was in diesem Bereich zu leisten ist, sicherlich nur ein unwesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Gesamtsi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat (B) tuation. Aber wenn man nicht in den kleinen, vor Ortjetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek- (D) wichtigen Dingen anfängt, wird man bei den großen Wei- Zeul. chenstellungen keinen Erfolg haben. Das Scheitern in dieser Frage wirft uns in genau den Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für Bereichen zurück, in Bezug auf die das vorhin beklagt wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Frau worden ist. Während wir früher, bei aller Auseinanderset- Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute zung in der Sache, ökologische Vorreiter waren, laufen Morgen ist mehrfach angesprochen worden, in welchem wir, läuft in besonderer Weise die Bundesregierung jetzt dramatischen Umfang auch europäische Länder bereits Gefahr, sich vor der gesamten Ökogemeinde zu blamieren. heute vom Klimawandel betroffen sind. Ich möchte an dieser Stelle einmal deutlich machen, was der Anstieg der (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist ja albern!) Durchschnittstemperatur, die Häufung von Klimakata- – Nein, das ist leider nicht albern. Sie werden bei Ge-strophen – Stürme, Regen, aber auch Dürre, häufig in den sprächen mit Umweltinteressierten sehr genau erleben, gleichen Regionen – und der Anstieg des Meeresspiegels dass das so eingeschätzt wird. bedeuten würden: nämlich dass Millionen von Menschen in den Küstengebieten von Bangladesch oder China ihr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Land verlieren, dass trockenheitsbedingte Missernten in Wir sollten die Situation hier nicht durch schöne Reden Afrika noch häufiger und bedrohlicher werden, als sie es und viele Worte wie Ökofrieden ganz generell übertün- heute schon sind, dass die Anbaugebiete für Kaffee, zum chen, sondern wir sollten uns wirklich ganz konkret daran Beispiel in Zentralamerika, bedroht sind und dass sich begeben, unsere Hausaufgaben vor Ort zu machen. Wir Malaria etwa in Brasilien oder auch Pakistan rapide aus- sind dazu sehr bereit. Wir haben im Ausschuss zu dieser breiten würde. Thematik mehrere Vorstöße unternommen. Wir haben im Wir können so viel über Entwicklungszusammenarbeit Ausschuss ein eigenes Modell vorgestellt, das wesentlich reden, wie wir wollen: Wir müssen in dem Bereich des effektiver wäre als das, was jetzt seitens der Bundesregie- Klimaschutzes alles tun, um eine solche Entwicklung zu rung angedacht wird. Denn das Modell der Bundesregie- verhindern. Dabei müssen wir in unseren eigenen Län- rung wird die Probleme, die wir haben, nicht lösen, weil dern beginnen. Deshalb ist zum Beispiel das ökologische die Standards sehr unterschiedlich sind und weil das Ver- Umsteuern durch die ökologische Steuerreform halten der Menschen sehr unterschiedlich ist. Sie werden in diesen Bereichen nicht von oben einen Umerziehungs- (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist prozess verordnen können, sondern Sie müssen Weichen- doch gar kein Umsteuern!) 12534 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) ein wichtiges Signal, auch an die Partnerländer, dass wir Wir stehen zu diesen Verpflichtungen und finanzieren das (C) es mit diesen Fragen ernst meinen. auch, und zwar in vollem Umfang. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zweitens. Wir fördern Photovoltaikanlagen in be- DIE GRÜNEN) stimmten Partnerländern, solare Systeme, die dazu beitra- Ausgerechnet diejenigen Staaten – das wäre die Dra- gen, die Stromerzeugung weiter zu entwickeln. Wir un- matik der Entwicklung –, deren Treibhausgasemissionen terstützen auch andereerneuerbare Energien, etwa pro Kopf der Bevölkerung am niedrigsten sind, nämlich Windkraftwerke in Indien und China oder auch die Nut- die Entwicklungsländer, würden am meisten unter den zung von Biogas in Nepal. Folgen des Klimawandels leiden, denn sie liegen in den Ein Ziel der Bundesregierung ist es – das habe ich eben Regionen, die besonders betroffen sind, etwa was den angesprochen; ich betone es an dieser Stelle noch einmal –, Monsun anlangt, und sie haben häufig nicht die die Erfüllung der Aufgaben in den Bereichen erneuerbare Finanzmittel, um sich frühzeitig zu schützen. Energien, Klimaschutz und Schutz des Tropenwaldes auf Wir wissen, dass die Schäden, von denen alle Länder hohem finanziellen Niveau zu stabilisieren. Ich bin über- betroffen wären, in Milliardenhöhe lägen, und es ist ganz zeugt, dass uns dies selbst in den laufenden Haushaltsver- sicher, dass der Wohlfahrtsverlust in Entwicklungslän- handlungen gelingen wird. dern mindestens etwa 10 Prozent des Bruttosozialproduk- tes betragen würde. Das ist eine dramatische Perspektive, Im multilateralen Bereich – das ist öffentlich viel zu der wir entgegenwirken müssen. wenig bekannt – ist die Bundesrepublik Deutschland nach den USA und Japan der drittgrößte Geber der so genann- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten Global Environment Facility, das heißt der Globalen DIE GRÜNEN) Umweltfazilität. Das ist eine Initiative, bei der es um die Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Hinsicht- Finanzierung von Know-how etwa im Bereich des Trans- lich der Entwicklung der Energienachfrage geht man je fers von konkreten Maßnahmen zur Minderung der Emis- nach Szenario davon aus, dass der Primärenergiever-sion von CO2 und auch bei der Hilfe für die Entwick- brauch in den nächsten Jahren jedenfalls drastisch anstei- lungsländer geht, sie dabei zu beraten, damit sie gen wird, schon allein deshalb, weil es einen berechtigten überhaupt Klimaschutz in Gang bringen und in diesen Nachholbedarf der Entwicklungsländer gibt. Wenn wir es Fragen einen Schwerpunkt setzen können. also tatsächlich schaffen wollen, den Anteil fossiler Brennstoffe signifikant zu senken, dann müssen wir sehr Die Global Environment Facility ist das Finanzie- große Anstrengungen zur Energieeinsparung, zur ratio- rungsinstrument der Klimarahmenkonvention, und sie nellen Energieanwendung und zur Verbreitung erneuerba- finanziert auch andere Bereiche – Biodiversität, interna- (B) rer Energien auch in den Ländern des Südens unter-tionalen Gewässerschutz und dergleichen. Unsere finan- (D) nehmen und fördern. Auch das ist Aufgabe unsererziellen Beiträge zur Global Environment Facility stellen Entwicklungszusammenarbeit. einen Beitrag dazu dar, die Verpflichtungen zu erfüllen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die wir bei dem Erdgipfel 1992 in Rio eingegangen sind. DIE GRÜNEN – Dr. Klaus W. Lippold [Offen- Wir sind jetzt in die Neuverhandlungen zur Wiederauffül- bach] [CDU/CSU]: Dann erhöht die Ansätze!) lung dieser entsprechenden Finanzen eingetreten. Wir werden auch unseren laufenden Verpflichtungen in Höhe Es ist an den Industrieländern als den Hauptverursa- von 420 Millionen DM in vollem Umfang nachkommen chern von Treibhausgasemissionen, beim Klimaschutz und damit bei den Verhandlungen unsere Entschlossen- die Führungsrolle zu übernehmen. In einer späteren Phase heit unterstreichen. – das sage ich allerdings ausdrücklich dazu – wird es auch darum gehen, Entwicklungsländer mit in verbindliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verpflichtungen einzubeziehen, vor allem diejenigen, die DIE GRÜNEN) hohe, stark anwachsende Treibhausgasemissionen haben. Das gebietet die globale Verantwortungsgemeinschaft, in Ich möchte an dieser Stelle, bezogen auf die anste- der wir stehen. hende Konferenz, sagen: Wir halten nichts davon, neue Töpfe neben dieser Global Environmental Facility zu ma- Was tut entwicklungspolitische Zusammenarbeit für chen. Das könnte nur zu mangelnder Kohärenz führen. den globalen Klimaschutz, und was kann sie dafür tun? – Das ist eine Orientierung, die manche Entwicklungslän- Das sind häufig schwierige bilaterale Verhandlungen mit der gerne möchten. Aber wir halten es für richtig, die Mit- den Partnerländern, aber ich will an dieser Stelle einfach tel in diesem Bereich zu konzentrieren. einmal sagen, welche praktischen Aktionen bisher statt- gefunden haben. Zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht Erstens ist die Bundesrepublik Deutschland der welt- – ich glaube, das ist heute Morgen deutlich geworden; weit größte Geber beim Programm für den Tropenwald- vielleicht sollten wir das hier im Plenum dann auch un- schutz, und das ist eine wichtige Leistung. Dieser Ver- termauern – um neue Partnerschaften im Klimaschutz. pflichtung kommen viele andere G-7-Länder nach wie Denn Klimaschutz liegt im Interesse aller Staaten. Wir vor nicht ausreichend nach. sind in einer Verantwortungsgemeinschaft. Wir sitzen im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Das stimmt!) CSU]: Das Boot ist voll, sagt der Schily!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12535

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Er liegt also im Interesse der Industrie- und der Entwick- – Darf ich das als Zwischenfrage verstehen, Frau Präsi- (C) lungsländer. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass dentin? Ich bin auch gleich fertig. die Konferenz in Den Haag glaubwürdig und wirksam das (Heiterkeit bei der SPD – Horst Kubatschka gesamte Kioto-Protokoll stärkt und wir dann die entspre- [SPD]: Das muss ich mir merken!) chenden Konsequenzen ziehen können.

(Unruhe – Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das bringt Ihnen [CDU/CSU]: Nun hört doch mal zu bei den Re- keinen Vorteil. gierungsfraktionen! – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: So falsch ist es auch nicht, was die Frau Ministerin sagt!) Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Dann Ich möchte an dieser Stelle auf den Zusammenhang wird es eben auf meine Zeit angerechnet. von Klimaschutz und Armutsbekämpfung hinweisen. Herr Repnik, das ist in Ordnung. Sie haben es gesagt. Das hat vorhin der Kollege Lippold angesprochen. Es ist richtig: Wir koppeln die Fragen Armutsbekämpfung und (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nein, ge- Klimaschutz. Es ist doch logisch, dass es Sinn macht, macht!) auch durch die Bekämpfung der Armut in den Partnerlän- Aber was ich im Amt vorgefunden habe, war ein klitze- dern dem Raubbau an der Natur, dem Raubbau an den kleines Pilotprojektchen „Entwicklungspartnerschaft mit Ressourcen entgegenzuarbeiten. Das tun wir zum Bei- der Wirtschaft“. Was bei uns neu ist – das wundert viel- spiel, indem die Armutsbekämpfungsstrategien ab dem leicht immer noch manchen der Konservativen –, ist, dass Jahr 2000 für alle ärmsten Entwicklungsländer verpflich- wir sagen: Wir wollen bei jeder Aktion prüfen, was die tend werden. Das ist ein Ergebnis, das mancher noch gar private Wirtschaft besser finanzieren und leisten kann und nicht zur Kenntnis genommen hat. was die öffentliche Hand machen muss. Das tun wir bei all unseren Projekten. Wir müssen bei diesen Armutsbekämpfungsstrategien darauf aufpassen, dass sie auf Energie sparende Technik Bei der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft und erneuerbare Energien setzen. Denn bei der wirt-geht es darum, dass wir erneuerbare Energien und neue schaftlichen Entwicklung dieser Länder brauchen wirTechnologien fördern und dass wir dies als einen Schwer- Technologien, die verhindern, dass das wirtschaftliche punkt betrachten. Wir arbeiten heute schon mit etwa 300 Wachstum dieser Länder sich weiter in dramatischen Um- Unternehmen auch in anderen Wirtschaftsbereichen zu- sammen. Das wollen wir ausweiten. Wenn der Clean De- welt- und Klimabelastungen auswirkt. So integriert müs- velopment Mechanism in all seinen Details entwickelt sen wir diese Bereiche sehen. (B) ist, wie der Kollege Trittin das heute Morgen dargestellt (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat, dann können wir bereits ab diesem Jahr erreichen, DIE GRÜNEN) dass dieser Clean Development Mechanism so eingesetzt wird, dass die Entwicklungsländer die Möglichkeit ha- Ich möchte, wenn es um ein neues Bündnis und neue ben, mit den Investitionen, die aus den Industrieländern Partnerschaft für Klimaschutz geht, einen weiteren Punkt kommen, eine neue Energieversorgung aufzubauen. Das ansprechen. Wenn wir im Verhältnis zu den Partnerlän- ist eine wichtige Voraussetzung für die Länder, damit sie dern auf erneuerbare Energien setzen, dann leisten wir neue Technologien, erneuerbare Energien bekommen und auch einen Beitrag zu einer Entwicklung weg vom Öl. große Potenziale erhalten. Es ist aber auch ein großes Po- Ein Land wie Bangladesch gibt in diesem Jahr doppelt so tenzial der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und öf- viel für seine Ölrechnung aus wie im letzten Jahr. Wenn fentlicher Hand und Entwicklungszusammenarbeit. wir dazu beitragen, dass die Entwicklungsländer bei Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte damit erneuerbaren Energien einen Schwerpunkt setzen können deutlich machen – jetzt stört den einen oder anderen wahr- – das wollen wir –, dann haben wir einen dramatischen scheinlich wieder die Leidenschaft –: Beitrag dazu geleistet, vom Öl wegzukommen, aber gleichzeitig auch Klimaschutz und eine sinnvolle, dezen- (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: trale Energieversorgung in den betroffenen Entwick- Nee, die wird hier gefordert!) lungsländern voranzubringen, und darum geht es. Es ist immer gut, in Diskussionen abstrakt darüber zu sprechen, wofür man eintritt. Aber es kommt darauf an (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – auch wenn das in der Bevölkerung manchmal schwierig DIE GRÜNEN) ist –, zu diesen Fragen zu stehen und keine widerwärtigen Wir reden aber nicht nur von solchen Ansätzen. Viel- Kampagnen, zum Beispiel in Sachen Ökosteuer, durchzu- mehr propagieren wir als Bundesregierung – das hat diese führen. Ich halte es nämlich für konsequent und richtig, Bundesregierung in Gang gesetzt – das KonzeptEnt- dass man, wenn man für Klimaschutz weltweit und für die wicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft. Wir sagen Ziele, die in Den Haag anstehen, eintritt, auch hier zu nämlich: Nur staatliche Investitionen werden in diesem Hause dafür einsteht und nicht an der einen Stelle so und Bereich nicht ausreichen. der anderen Stelle so spricht. (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das haben Ich danke Ihnen sehr. wir bereits in Rio mit der Wirtschaft gemeinsam (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gemacht, verehrte Frau Ministerin!) DIE GRÜNEN) 12536 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat Sie sind zum Beispiel damit angetreten, dass Sie die(C) jetzt der Abgeordnete Christian Ruck. Welt ökologischer gestalten wollten. Aber davon ist doch überhaupt nichts zu spüren. Das beginnt schon damit, dass (Beifall und Bravo-Rufe eines Abgeordneten Sie Ihre nationalen Hausaufgaben im Klimaschutz eben der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sie haben einen Fan!) nicht gemacht haben, dass Sie zwei Jahre gebraucht ha- ben, um überhaupt ein Klimaschutzprogramm auf die Beine zu stellen. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als letzter Red- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Herr ner in dieser Debatte kann ich festhalten, dass wir uns we- Ruck! Herr Ruck! Hören Sie doch auf!) nigstens in der Ausgangsposition einig sind. Einig sind – Herr Müller, dass in diesem Programm vieles drinsteht, wir uns, dass der Treibhauseffekt seine dramatischen Vor- was richtig ist, auch Vorschläge, die von uns mitgetragen boten schickt. Einig sind wir uns auch, dass die interna- werden, bleibt Ihnen ja unbenommen. Aber selbst der tionalen Klimaschutzbemühungen an einer sehr kriti-Wirtschaftsminister, Ihr Namenskollege Müller, und die schen Stelle stehen und dass in Den Haag sehr viel auf großen Naturschutz- und Umweltorganisationen in dem Spiel steht. Einig sind wir uns auch, dass sich einige Deutschland sagen, Länder wirklich noch weit bewegen müssen, zum Bei- spiel auch die Vereinigten Staaten, auf deren Verhand- (Zuruf von der SPD: Sie waren auch schon lungsführer eine große Verantwortung liegt. mal glaubwürdiger!) Als CSU-Abgeordneter möchte ich ausdrücklich dem dass Sie mit diesem Programm zu kurz springen, weil es grünen Umweltminister Glück und Verhandlungserfolg löchrig ist wie Schweizer Käse. bei dieser Konferenz wünschen. Es ist unser gemeinsames Was wir Ihnen bei der Ökosteuer vorwerfen, ist doch Ziel, dass Den Haag ein positives Datum im Kampf gegen nicht, dass Sie der Bevölkerung schmerzhafte Schritte ab- Klimarisiken wird. Allerdings bin ich auch der Meinung, verlangen, sondern dass Sie Maßnahmen ergreifen, die dass er dann schon mehr Überzeugungskraft und Begei- ökologisch inkonsistent sind und darüber hinaus wahn- sterung entwickeln müsste als heute Morgen bei seiner sinnig viel Geld kosten. Das fällt im Endeffekt auf den einschläfernden Rede. Umweltschutz zurück. (Zuruf von der SPD: Vorbildlich!) Ein gutes Beispiel ist das100 000-Dächer-Pro- Ich bin auch der Überzeugung, dass die rot-grüne Bun- gramm. Sie freuen sich, dass es gut läuft. Letzten Endes desregierung inzwischen die internationale Führungs-kostet es aber etwa 1 Milliarde DM und bringt für den Kli- (B) rolle, die die frühere Bundesregierung übernommen hatte, maschutz zumindest bei uns überhaupt nichts. (D) verspielt hat und dass sie deswegen mit einer schwäche- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- ren Verhandlungsposition nach Den Haag fährt, als es eigentlich sein könnte. NIS 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle möchte ich noch einmal Folgendes Sie verpassen also, was die eigenen Ziele anlangt, inter- zum Ausdruck bringen: Wenn sogar Rot-Grün zugibt,national den Anschluss beim Klimaschutz. Das wird von dass Deutschland bisher mehr an Reduktionsverpflich- den anderen Staaten natürlich registriert. Das ist ein tungen eingelöst hat als alle anderen europäischen Staaten Punkt, weshalb Ihre Verhandlungsposition in Den Haag zusammen, dann ist das sicherlich nicht das Resultat Ihrer nicht so stark ist, wie sie sein könnte. zweijährigen Amtszeit, Auch wir wollen Geld in die Hand nehmen. Sie, Herr (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Hermann, haben schon darauf hingewiesen. sondern das Resultat der Politik Ihrer Vorgänger. ( [SPD]: Aber anders!) Dass es Kioto, dass es Rio, dass es Den Haag überhaupt Wir glauben, dass es volkswirtschaftlich günstiger ist, gibt, ist auch das Resultat der Politik von Helmutwenn man eine Komplettsanierung des deutschen Ge- Kohl & Co. bäudebestandes macht. Dazu ist das, was Sie vorgelegt haben, zu kurz gesprungen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jetzt wollen wir nicht übertreiben! Er hat dazu bei- (Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- getragen!) NEN]: Das ist deutlich mehr, als es je gab!) Ich glaube, das muss man immer wieder klarstellen. Sie Wir wollen zum Beispiel eine massive Festbetragsför- behaupten nämlich immer wieder das Gegenteil, und das derung, weil damit auch die Hauseigentümer erreicht wer- Gegenteil ist falsch. den, die nichts von der Steuer absetzen können. Das betrifft oft gerade die Häuser, die dringend sanierungsbe- (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Müller dürftig sind. Außerdem wollen wir dadurch verhindern, [Düsseldorf] [SPD]: Der Stoiber war es!) dass es zu weiteren Preissteigerungsspiralen kommt, ohne – Herr Müller, ich glaube, das ist eine seriöse Debatte. Da dass sich klimapolitisch etwas ändert. kann man auch seriöse Argumente austauschen. Wir sind uns doch alle darüber einig, dass sich gerade (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ja eben! im Bereich der Gebäude sehr viel Einsparungspotenzial Das wollte ich damit sagen!) befindet. Wir könnten 50 Prozent der Energie, die im Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12537

Dr. Christian Ruck (A) Gebäudebereich verbraucht wird – dort werden immerhin Nabelschau betreiben, auf Absatzmärkte im eigenen Land (C) 40 Prozent der Gesamtenergie verbraucht –, einsparen. starren und die gewaltigen Anwendungsbereiche für ihre Allein für Bayern ergäbe sich dadurch eine Reduzierung wissenschaftlichen und technischen Kapazitäten in Ent- um bis zu 25 Millionen Tonnen CO 2. Ich glaube, dass die- wicklungs- und Schwellenländern übersehen. Beispiele ser Ansatz über zehn oder fünfzehn Jahre verfolgt werden dafür sind die Brennstoffzelle, die Wasserstofftechnologie muss. Dadurch könnten die Klimaschutzziele wesentlich oder die Photovoltaik, deren natürliche Voraussetzungen in billiger und wesentlich kosteneffizienter erreicht werden vielen Entwicklungs- und Schwellenländern weit günstiger als mit Ökosteuer, erneuerbaren Energien und KWK. sind als bei uns. Vielfach ist jede eingesetzte Mark in Ener- Es gibt aber leider noch einige andere Gründe, warum gieeffizienz, Energieeinsparungs-technik oder 2- CO unsere Verhandlungsposition in Den Haag nicht zu den al- Minderungstechnologien in China und Indien um ein Viel- lerstärksten gehört. Einer dieser Gründe ist die Entwick- faches mehr wert, als wenn sie in Deutschland, zum lungspolitik. Die Entwicklungspolitik befindet sich im Beispiel bei BASF oder BP, eingesetzt würde. freien Fall. Entgegen allen Ankündigungen im Koaliti- Dazu bedarf es aber auch vonseiten der Politik größe- onsvertrag und allen Regierungserklärungen auch von rer Anstrengungen, Wirtschaft, Forschung und alle be- Bundeskanzler Schröder verliert der Haushalt des BMZ troffenen Bundesministerien auf einen massiven Techno- innerhalb weniger Jahre über 1 Milliarde DM. logietransfer einzuschwören. Die Kioto-Instrumente, (Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] insbesondere der Clean Development Mechanism, böten [CDU/CSU]: Eine Schande!) dazu die Grundlage. Deswegen halten wir es für ganz ent- scheidend, dass wir gerade in diesem Punkt in Den Haag Davon massiv betroffen sind gerade die Sektoren Um- einen Durchbruch erzielen und die Verhandlungen nicht welt- und Ressourcenschutz sowie Bevölkerungspolitik. zum Beispiel an starren 50-Prozent-Grenzen scheitern. Der Anteil des Entwicklungshaushalts am Gesamthaus- halt wird von 1,7 Prozent im Jahr 1998 auf 1,3 Prozent im Ich möchte abschließend noch das Problem der CO2- Jahr 2003 sinken. Senken ansprechen. Auch ich habe dafür keine Patentlö- sung. Aber es ist unbestritten, dass die Zerstörung, dass (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) das Abbrennen der Wälder, insbesondere in den Tropen, Das hat natürlich auch Folgen für die Verhandlungsposi- den Treibhauseffekt zu einem erheblichen Teil mit be- tion gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern. wirkt. Es ist auch unbestritten, dass die Zerstörung unge- brochen voranschreitet, dass in einigen Ländern der Wald Wir waren uns alle doch darüber einig, dass wir gerade auf ein Minimum geschrumpft ist, zum Beispiel in vielen auch diese Länder ins Boot holen müssen, zum Beispiel Ländern Südostasiens oder Westafrikas, und dass uns die (B) Mexiko. Mexiko steht bei den globalen CO2-Emittenten (D) schon an 14. Stelle. Die entscheidende Frage ist, wie die Zeit davonläuft. Zudem sind gerade diese Ökosysteme Menschen in China, in Indien, in Brasilien oder in Mexiko gleichzeitig die Orte mit der höchsten Artenvielfalt der auch nur annähernd auf unser Wohlstandsniveau kom- Erde. men, ohne dass das Klima endgültig kippt. Wenn wir als Würde den Tropenwaldländern zumindest teilweise Deutsche darauf Einfluss nehmen wollen, dann dürfen wir oder in irgendeiner anderen Form die Bewahrung des die Entwicklungspolitik nicht zum Steinbruch machen, Waldes als CO2-Senken gutgeschrieben und so zu Ein- sondern müssen unsere Entwicklungszusammenarbeit nahmen führen, hätten diese ein größeres Eigeninteresse finanziell und konzeptionell deutlich verbessern. an der Erhaltung des Waldes und einen größeren finanzi- (Beifall bei der CDU/CSU) ellen Spielraum. Ich trete deshalb – trotz aller Schwierig- keiten und aller möglichen Missbräuche, die natürlich Ein Hearing unserer Arbeitsgruppe Entwicklungspoli- auch ich kenne – dafür ein, die Bemühungen um eine Ver- tik hat ergeben, dass hochnäsige Besserwisserei, gepaart knüpfung der Kioto-Mechanismen mit dem Schutz be- mit einer Einschränkung der Entwicklungshilfe, keindrohter Ökosysteme nicht aufzugeben, sondern mit Nach- Ausgangspunkt für einen Dialog mit Entwicklungs- und druck weiter zu betreiben. Schwellenländern ist. Das gilt im Übrigen auch für deren Wahl ihrer zukünftigen Energietechnologie. Kohlekraft- (Beifall bei der CDU/CSU) werke mit niedrigen Umweltstandards sind inzwischen Lippenbekenntnisse wie in der Entwicklungspolitik auch aus Sicht vieler Entwicklungsländer in der Tat keine oder Ideologien wie in der Energiepolitik der Bundesre- Lösung mehr. Deswegen werden, ob uns das passt oder gierung bringen uns national nicht weiter und kosten uns nicht, Länder wie China, Indien, Brasilien und andereunsere internationale Überzeugungsfähigkeit. Kehren Sie zukünftig noch erheblich mehr in Kernenergie investie- deshalb, liebe Kollegen von Rot-Grün, zu einer ergeb- ren. Eine gute deutsche Politik wäre es, in diesem Bereich, nisorientierten Umwelt- und Klimaschutzpolitik zurück, gerade im Sicherheitsbereich, technologische Hilfe und die mit pragmatischen Instrumenten den Erfolg sucht. Beratung anzubieten, statt erfolglos den moralischen Zei- gefinger zu heben. (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist wirklich frech!) (Beifall bei der CDU/CSU) Einen Erfolg auf der Klimakonferenz in der nächsten Wo- Ein anderes entscheidendes Ergebnis des Hearings che in Den Haag wünschen wir uns alle. war, dass Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in den In- dustrieländern, auch in Deutschland, noch immer zu sehr (Beifall bei der CDU/CSU) 12538 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des (C) mit die Aussprache. ganzen Hauses bis auf die Stimmen der PDS, die dagegen 2) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-gestimmt hat, angenommen worden. ßungsanträge zur Regierungserklärung. Zunächst stimmen Tagesordnungspunkt 12 c: Interfraktionell wird Über- wir über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD weisung der Vorlage auf Drucksache 14/4379 an die in der und des Bündnisses 90/Die Grünen auf DrucksacheTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. 14/4532 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der F.D.P. und eines Teils der CDU/CSU bei Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Enthaltung der PDS und eines Teils der CDU/CSU an- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten genommen worden. Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Drucksache 14/4533. Wer stimmt für diesen Entschlie- CDU/CSU ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? Erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Deutschland Koalitionsfraktionen, der F.D.P. 1) und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. – Drucksachen 14/2592, 14/4113 – Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre auf Drucksache 14/3835. Der Ausschuss empfiehlt unter keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der trages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Abgeordnete Norbert Geis. Grünen zum Klimaschutz durch ökologische Modernisie- rung und Verbesserung der internationalen Zusammenar- beit auf Drucksache 14/1956. Wer stimmt für dieseNorbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der stellt in ihrer Antwort vom 20. September dieses Jahres Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten fest, dass die Bekämpfung der Kriminalität eine der wich- Opposition1) angenommen worden. tigsten Aufgaben der Innen- und Rechtspolitik ist. Dies ist (B) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der eine richtige Feststellung. (D) Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der Wenn Menschen in ihren Wohnungen nicht mehr vor CDU/CSU zur Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarah- Einbruch sicher sind, wenn sie sich nicht mehr trauen, menkonvention in Bonn auf Drucksache 14/1853. Wer spätabends auf öffentlichen Straßen und Wegen zu gehen, stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Was machen Sie den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- dann?) men von CDU/CSU und F.D.P. bei einigen Enthaltungen wenn sie nachts nicht mehr in Ruhe und ohne Angst mit aus der PDS angenommen worden.2) der U-Bahn fahren können und diese Fahrt zu einem Alb- Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der traum wird oder wenn eine Frau nicht mehr ungefährdet Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der von der Bushaltestelle zu ihrer Wohnung gehen kann, Fraktion der F.D.P. zur Abgabe einer Erklärung der Bun- dann müssen bei uns die Alarmglocken läuten. Wenn Un- desregierung zu den Ergebnissen der 5. Vertragsstaaten- sicherheit und Angst in der Bevölkerung herrschen, kann konferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn aufeine ganze Gesellschaft aus den Fugen geraten. Deshalb Drucksache 14/1998. Wer stimmt für diese Beschluss- ist es richtig: Die Kriminalitätsbekämpfung ist die wich- empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die tigste Aufgabe der Innen- und Rechtspolitik. Das Zusam- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- menleben in unserer Gesellschaft und auch unser wirt- onsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und schaftlicher Fortschritt hängen davon ab. F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Dies ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes allein, son- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschlie-dern gleichermaßen auch eine der Länder. Der Bund hat ßungsantrages der Fraktion der PDS zur Abgabe einer die Gesetze zu erlassen, die Länder aber haben mithilfe ih- Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der rer Polizei die Verbrechen zu verfolgen, die Staats- 5. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention anwaltschaften haben zu ermitteln und die Gerichte haben in Bonn auf Drucksache 14/1992. Wer stimmt für diese entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu urteilen. Sie Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- haben dann auch entsprechend dem Urteil den Strafvoll- zug durchzusetzen. Hier ist mittlerweile eine Mangel- 1) Anlage 2 situation zu beklagen: In vielen Ländern wird der Straf- 2) Anlage 3 vollzug, wie wir leider feststellen müssen, zu lässig Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12539

Norbert Geis (A) gehandhabt. Der Strafvollzug ist niemals eine Freizeit- Die Polizeien dort verfolgen Verbrechen energischer. Die (C) veranstaltung. Es geht darum, dass der Täter die Konse- Staatsanwaltschaften ermitteln intensiver. Es wird ange- quenzen seiner Tat tragen muss und dass der Öffentlich- klagt und es wird, entsprechend dem gesetzlichen Rah- keit klargemacht wird: Unser Staat wehrt sich, wenn seine men, im Einzelfall geurteilt. Vor allem ist der Strafvollzug Rechtsordnung verletzt wird. dort stärker. Damit wird dem potenziellen Täter schon klargemacht, dass er, wenn er entdeckt wird, mit einer har- Aus dieser Antwort geht hervor, dass die Häufigkeits- ten Strafe rechnen muss – ich erinnere an die hohe Auf- zahlen in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich klärungsquote von 60 Prozent in Bayern –, die er – im sind. Bundesjustizministerium wird in Bezug auf schwere Straftaten im Erstfall überlegt, nach der Hälfte der Straf- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Herr Kollege zeit die Reststrafe auf Bewährung auszusetzen – komplett Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegenverbüßen muss. Vor diesem Hintergrund wird er sich viel- Marschewski? leicht überlegen, ob er die Straftat begeht. Die general- präventive Kraft des Strafrechts würde dann seine Wir- kung entfalten. Norbert Geis (CDU/CSU): Bitte sehr. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das nicht gelesen, Herr Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Geis?) Herr Kollege Geis, können Sie mir bestätigen, dass es sich heute um eine wichtige Debatte über Kriminalität und in- Die konsequentere Bekämpfung von Straftaten halte ich nere Sicherheit handelt? Können Sie mir vielleicht sagen, für den wesentlichen Grund dafür, dass wir in Bayern und wo eigentlich die Bundesjustizministerin ist? in Baden-Württemberg niedrigere Häufigkeitszahlen und eine höhere Aufklärungsquote als in allen anderen Bun- desländern haben. Norbert Geis (CDU/CSU): Unsere Große Anfrage hat sich an das Innenministerium und an das Justizministe- Das muss in der Öffentlichkeit endlich einmal disku- rium gerichtet. Ich habe keine Erklärung dafür, weshalb tiert werden. Diese Frage muss uns alle angehen; denn es das Justizministerium heute hier nicht vertreten ist. muss festgestellt werden, wo die Schuldigen für so exor- bitante Unterschiede sitzen. Vor allem geben die zum Teil sehr unterschiedlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Häufigkeitszahlen in den verschiedenen Bundesländern Anlass zur Besorgnis. Zwar ist die Kriminalität in Groß- Aus den gewonnenen Erkenntnissen müssen entspre- (B) städten schon immer stärker ausgeprägt gewesen; daschende Schlussfolgerungen gezogen werden. (D) liegt wohl in der Natur solcher Städte. Aber der Unter- Die Antwort der Bundesregierung vom 20. September schied zwischen den Großstädten im Norden, vor allem lässt keinen Zweifel daran, dass die Vorgängerregierung zwischen denen in SPD-regierten Bundesländern, und der Koalitionsparteien CDU/CSU und F.D.P. unter den Großstädten in südlichen Bundesländern wie Bayern ihre Hausaufgaben gemacht hat. Die Ant- und Baden-Württemberg ist exorbitant. Das kann derwort besagt nämlich ganz eindeutig, dass die jetzt beste- Bundesregierung nicht gleichgültig sein; denn sie trägt henden gesetzlichen Maßnahmen eigentlich ausrei- die Verantwortung für das ganze Land. chend sind, um Verbrechen wirksam zu bekämpfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denken Sie an das Gesetz zur Bekämpfung der organi- sierten Kriminalität aus dem Jahre 1992, an das Verbre- Es fällt schon auf, dass in Bayern und Baden-Würt- chensbekämpfungsgesetz aus dem Jahre 1994, an das temberg die Häufigkeitszahlen gering sind und dieAuf- neue Gesetz für den Bundesgrenzschutz, ebenfalls aus klärungsquote sehr hoch ist. dem Jahre 1994, und an die große Strafrechtsreform aus (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ja, natürlich!) dem Jahre 1996 mit einer Neuformulierung der Sexual- straftaten und einer Erleichterung der Möglichkeit, einen In Bayern liegt die Aufklärungsquote bei 60 Prozent. Die Täter in die Sicherungsverwahrung zu geben, wenn fest bundesweite Aufklärungsquote lag bei 46 Prozent; inzwi- steht, dass er sich voraussichtlich nach wie vor straffällig schen liegt sie bei 50 Prozent. Es hat sich gebessert; das verhalten wird. Wir haben im Jahre 1997 das Antikorrup- ist wahr. Dennoch ist die Aufklärungsquote in den südli- tionsgesetz beschlossen. chen Ländern, die von der CDU oder von der CSU regiert werden, noch immer viel höher als in den übrigen Bun- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE desländern. Das ergibt die Antwort der Bundesregierung GRÜNEN]: Aber sich selber nicht daran gehal- ganz eindeutig. ten!) Darüber muss man sich ein paar Gedanken machen. 1998 haben wir ein weiteres Gesetz gegen die organisierte Wir können ohne weiteres feststellen, dass Verbrechen in Kriminalität verabschiedet, und zwar mit Änderung des den südlichen Ländern, in Bayern und in Baden-Würt- Art. 13 Grundgesetz und der Einführung der Möglichkeit der akustischen Wohnraumüberwachung. Dies haben wir temberg, in der Tat konsequenter bekämpft werden. damals zusammen mit der F.D.P. und auch der SPD ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE macht, die an diesen Verhandlungen auch in Person des GRÜNEN]: Eine gewagte Behauptung!) heutigen Bundesinnenministers beteiligt gewesen ist. 12540 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Norbert Geis (A) Ich glaube also schon, dass eine gute gesetzlicheDeswegen geht es bei den Familien nicht um konservativ (C) Grundlage für den Bund besteht, um Verbrechen erfolg- oder progressiv, nicht um christlich oder unchristlich, reich bekämpfen zu können. Aber damit können wir uns sondern um die Menschlichkeit der Menschen. Deswegen nicht zufrieden geben. Im Augenblick stagniert zwar die müssen wir vor allen Dingen die Familien stützen. Inso- Kriminalitätsrate, aber – das sagt die Bundesregierung fern ist das morgen zu verabschiedende Gesetz in unseren selbst – kein Mensch kann sich jetzt ruhig zurücklehnen Augen destruktiv. und sagen: Jetzt haben wir es geschafft. Vielmehr geht es Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch die Flut weiter im Kampf gegen das Verbrechen. Deswegen brau- der Drogen, die nach Angabe der Bundesregierung längst chen wir nach unserer Meinung neben der akustischen nicht abgeebbt ist, sondern ansteigt, und die insbesondere Überwachung auch die Videoüberwachung. Wir brauchen über Kinder und Jugendliche hinweggeht, kann am besten auch die Kronzeugenregelung. Wir halten es für einen in den Familien bekämpft werden. Es hat aber keinen ganz großen Fehler, dass die jetzige Regierungskoalition Sinn, dass sich Familie und Schule gegen die Drogen die Kronzeugenregelung abgeschafft hat. Wir könnten sie wenden, wenn selbst ernannte Drogenspezialisten vielleicht gerade jetzt im Kampf gegen den Rechtsextre- draußen im Lande mismus gebrauchen, auch im Kampf gegen die Korrup- tion. Zudem brauchen wir nach wie vor, obwohl dies in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Verbrechensskala tiefer angesiedelt und nur ein Ver- GRÜNEN]: Vor allen Dingen auf dem Oktober- gehen ist, ein Gesetz gegen das Graffitiunwesen, weil ge- fest!) rade von diesem Milieu Verbrechen ausgehen, wie wir aus von der Entkriminalisierung von Einstiegsdrogen und von der Erfahrung wissen. der Freiheit des Drogenkonsums reden, wie dies leider oft (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geschehen ist. Das halte ich für kontraproduktiv. NEN]: Welche Verbrechen? – Hans-Christian (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Graffiti? – Angela Marquardt [PDS]: Alle ein- Den Menschen, die so etwas verkünden, müssen wir mit sperren!) aller Entschiedenheit entgegentreten. Der Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität Ein Wort noch zu den rechtsextremistisch motivierten muss uns Sorge machen. 30 Prozent aller Tatverdäch- Gewalttaten, die zu 90 Prozent von jugendlichen tigten sind jünger als 21 Jahre. Bei den JugendlichenSkinheads verübt werden. Ich glaube, dass Demonstratio- haben wir insbesondere einen starken Anstieg der Ge- nen allein nicht ausreichen. Sie sind wichtig – das will ich waltkriminalität zu verzeichnen. Das kann uns nichtnicht herabspielen –, aber sie reichen nicht aus. Es muss (B) gleichgültig sein. ein stärkerer polizeilicher Schutz bestehen. Es ist für mich (D) nicht zu erklären, weshalb Synagogen – obwohl bekannt Christian Pfeiffer, der Spezialist aus Hannover, wo er, war, dass sie Angriffsobjekte für solche Wahnsinnstäter wie ich gehört habe, als möglicher Justizminister im Ge- sind – so wenig geschützt werden. Hier kann vieles im spräch ist – er ist ein guter Mann; ich würde ihm gratulie- Vorfeld verhindert werden, wenn die Polizei stärker prä- ren –, sagt, dass das Nord-Süd-Gefälle gerade bei der Ju- sent ist. Ich möchte noch einmal das Beispiel Bayern her- gendkriminalität vielschichtige Gründe habe. Er findet vorheben. Dort gab es im ersten Halbjahr dieses Jahres die die Gründe vor allem darin, dass nicht so gute familiäre niedrigsten Häufigkeitszahlen pro 100 000 Einwohner im Bindungen bestehen, dass nicht so gute Bindungen an rechtsextremistischen Bereich. christliche Gemeinden bestehen – das sagt Pfeiffer, das sage nicht ich –, Im Juli und August ist die Situation in unserem Land umgeschlagen; die Kriminalität ist im ganzen Land außer (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Warum zitieren Sie Kontrolle geraten. Aber sie muss wieder auf normale Ver- das dann?) hältnisse zurückgeführt werden. Wir dürfen uns mit die- dass weniger Bindungen an Vereine und Jugendverbände sen Straftaten nie abfinden. Ausländerfeindliche Strafta- bestehen. Er zieht daraus den Schluss, dass dies allesten sind besonders hässliche Straftaten, die wir mit aller – auch die höhere Jugendarbeitslosigkeit – mit dazuEntschiedenheit bekämpfen müssen. Wir müssen im Vor- beiträgt, dass im Norden eine stärkere Jugendkriminalität, feld mehr tun, als dies vielleicht in manchen Ländern der vor allen Dingen auch Gewaltkriminalität, als im Süden Fall ist. zu verzeichnen ist. Das gilt auch für die rechtsextremis- Wir müssen überlegen – wir haben den Gesetzentwurf tisch motivierte Jugendkriminalität. Rechtsextremismus bereits im April dieses Jahres eingebracht –, ob wir nicht wird ja vor allem von Skinheads, die im heranwachsenden bei Heranwachsenden das Erwachsenenstrafrecht stärker Alter sind, verübt. Das alles führt Christian Pfeiffer auf heranziehen. Bei ganz schweren Delikten Jugendlicher die Gründe zurück, die ich angeführt habe. Ich meine, wie Mord und Totschlag, bei denen das Jugendstrafrecht auch der Bund müsste mehr dafür werben, dass solche herangezogen wird, weil das Verbrechen noch als jugend- Voraussetzungen, wie sie im Süden bestehen, auch im liche Straftat zu werten ist, müssen wir die Möglichkeit Norden geschaffen werden. schaffen, das Strafmaß von 10 Jahren auf 15 Jahre zu er- Ich glaube überhaupt, dass vor allem die Familie eine weitern. Das halte ich für dringend erforderlich. Ich sehe wichtige Aufgabe bei der Kriminalitätsbekämpfung hat. nicht ein, dass ein 20-Jähriger, auf den das Jugendstraf- Dort, wo intakte Familien bestehen, geraten die Kinder recht angewendet wird, bei einer schweren Straftat und Jugendlichen nicht so leicht auf die schiefe Bahn. mit nur 10 Jahren bestraft wird, ein 21-Jähriger aber im Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12541

Norbert Geis (A) gleichen Fall mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rech- sie auf diesem Gebiet eine hervorragende Leistung voll- (C) nen muss. Hier müssen wir zu einer Änderung kommen. bracht hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Vor allem glaube ich, dass wir insgesamt vor der Auf- Sie haben nicht zugehört!) gabe stehen, stärker Jugendarbeit zu betreiben. Im präventiven Bereich ist sehr viel möglich. Dies ist eine Das Ergebnis der Großen Anfrage liegt vor und es ist große Anstrengung, die die ganze Gesellschaft zu leisten erfreulich. Dennoch – insofern haben Sie Recht, Herr hat. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind gerne bereit, Geis – können wir uns nicht zufrieden zurücklehnen und hierbei mitzuhelfen. sagen, wir hätten alles geschafft. Ich will nur einige Punkte aufgreifen: Erstens. Seit 1993 haben wir beim Danke schön. Straftatenaufkommen stagnierende bzw. rückläufige (Beifall bei der CDU/CSU) Zahlen; die Häufigkeitsziffern machen das deutlich. Jede verhinderte Straftat bedeutet mindestens ein Opfer weni- ger. Ich denke, das ist ein ganz wichtiges Signal. Zwei- Das Wort hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tens. Wir haben steigende Aufklärungsquoten. Auch das jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Kemper. ist ein wichtiges Signal: Straftaten werden schneller und häufiger aufgeklärt. Beide Entwicklungen wirken sich po- Hans-Peter Kemper (SPD): Frau Präsidentin! Meine sitiv auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung aus. Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Anfang einige Ich will noch eines sagen, weil Sie die Regierung an- Bemerkungen zum Thema und zum Vorredner machen. gesprochen haben: Die Häufigkeit der Straftaten ist seit Zunächst einmal finde ich es sehr gut, dass wir das Pro- dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung in besonderer blem der Kriminalitätsbekämpfung und der inneren Si- Weise zurückgegangen, während gleichzeitig die cherheit heute bei Tageslicht diskutieren. Das ist nicht im- Aufklärungsquote auf über 50 Prozent angestiegen ist. mer so. Kriminalität findet oft im Dunkeln statt und unsere Diskussionen darüber auch oft zur Nachtstunde. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Überhaupt nichts Wichtig ist, dass wir dieses Thema heute in der Kernzeit ist zurückgegangen!) diskutieren; denn es bewegt die Menschen. Herr Geis, Sie Sie hätten Ihre Sache damals besser machen sollen, anstatt haben völlig Recht: Viele Menschen sind unsicher und heute das Ergebnis Ihrer 16-jährigen Politik zu kritisieren. haben Angst. Das ist nach 16 Jahren Kohl-Regierung auch kein Wunder. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Da kann man doch nur lachen! Wie kann man nur so polemisch (B) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Na ja, der Schluss (D) sein?) ist nicht ganz logisch!) Sie haben Recht: Die Menschen haben Angst – oft eine Ein angstfreies Leben ist ein Stück Lebensqualität und die irreale Angst –, denn das Sicherheitsgefühl der Bevölke- Menschen haben einen Anspruch darauf. rung hat sich sehr stark abweichend vom tatsächlichen Sie haben die Vorgänge um Kohl angesprochen und auf Straftatenaufkommen und von der Aufklärungsquote ver- das Gesetz zur Verbrechensbekämpfung und andere Ge- ändert. Die Menschen haben Angst, Opfer einer Straftat setze hingewiesen. Ich sage Ihnen: Die Vorgänge um Kohl zu werden und das hat zu Verhaltensänderungen geführt: haben auf die innere Sicherheit eine verheerende Wirkung Viele, besonders ältere Menschen trauen sich nach Ein- gehabt. Sie haben das Vertrauen der Menschen in denbruch der Dunkelheit nicht mehr, ihre Wohnung zu ver- Rechtsstaat erschüttert. lassen; sie vermeiden bestimmte Stadtteile, bestimmte Parks und öffentliche Verkehrsmittel. Sie geben ein Stück (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihrer persönlichen Freiheit auf, weil sie ihre Verwandten DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: und Bekannten abends nicht mehr besuchen und auch kei- Sie haben das aufgebauscht! Sie sollten ein nen Besuch mehr bekommen. Sie geben damit ein Stück Thema nicht durch ein anderes ausspielen!) Lebensqualität preis und soziale Bindungen gehen ver- – Wir haben das nicht aufgebauscht. loren. Deswegen ist es gut, dass wir dieses Thema heute diskutieren und dass wir diese positive Entwicklung deut- Sie haben eine Große Anfrage zur erfolgreichen Ver- lich machen können. Das wirkt sich letztlich positiv auf brechensbekämpfung in Deutschland gestellt. Ich sage Ih- das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung aus. nen: Sie haben Recht. Nomen est omen. Die Verbre- chensbekämpfung der Bundesregierung ist erfolgreich. – Sie haben die Kinder- und Jugendkriminalität ange- Herr Marschewski, ich habe gesehen, dass Sie als Nächs- sprochen. Ich greife diesen Bereich heraus, weil er für die ter für die CDU/CSU sprechen. Zukunft besonders wichtig ist. Hier entscheidet sich, wie die Kriminalitätsbekämpfung zukünftig aussehen wird, (Erwin Marschewski [Recklinghausen] ob wir Dauerstraftäter bekommen oder ob Straftaten pu- [CDU/CSU]: Nein, als Letzter!) bertierender Jugendlicher nur ein episodenhaftes Verhal- Es war lange guter Brauch, dass Sie der Bundesregierung ten darstellen. Es hat – auch insofern haben Sie Recht – für die hervorragenden Leistungen gedankt haben. Das einen explosionsartigen Anstieg der Kinder- und haben Sie oft unberechtigterweise getan. Aber heute ha- Jugendkriminalität gegeben; aber im Wesentlichen nur bis ben Sie einen Grund, der Bundesregierung zu danken, da 1997. Die Kinder- und Jugendkriminalität ist seit dem 12542 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Hans-Peter Kemper (A) Wechsel der Bundesregierung zurückgegangen. Das hat ist die Kriminalität bei ausländischen Kindern und Ju-(C) etwas mit Prävention zu tun. gendlichen zurückgegangen. Das steht im krassen Gegen- satz zu dem, was Sie über Jahre hinweg über Ausländer- Sie haben die Familien und die Perspektiven, die Kin- kriminalität und die Gefährlichkeit von ausländischen der und Jugendliche brauchen, angesprochen. Die jetzige Kindern und Jugendlichen verbreitet haben. Wir haben Regierung ist in diesem Bereich massiv tätig geworden: dagegen immer betont: Die ausländische Wohnbevölke- Wir haben die Situation der Familien durch die Erhöhung rung ist zum Teil gesetzestreuer als die deutsche. Sie ha- des Kindergeldes und die Ausweitung des Familienein- ben allen Grund, sich bei unseren ausländischen kommens stark verbessert. Mitbürgerinnen und Mitbürgern für das zu entschuldigen, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Morgen geben Sie was Sie in den letzten Jahren über sie gesagt haben. der Familie einen Tritt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben auch im Bildungs- und Ausbildungsbereich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eine Menge getan. So haben wir das BAföG erhöht und PDS) die Jugendarbeitslosigkeit massiv bekämpft. Das sind Ich möchte noch auf ein anderes Problem zu sprechen präventive Maßnahmen, die sich positiv auf die Jugend- kommen, das hier auch angesprochen worden ist, nämlich kriminalität auswirken. Das haben Sie in den vergangenen die Drogen. Dies ist in der Tat ein großes Problem, sowohl 16 Jahren versäumt. im Gesundheitsbereich als auch im Bereich der Krimina- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Norbert litätsbekämpfung. Ich nehme letzteren Bereich als Bei- Geis [CDU/CSU]: Die Jugendkriminalität spiel heraus, weil es hier um die Dealerproblematik und steigt doch nach wie vor!) die Beschaffungskriminalität geht. Die Aufklärungsquote ist sehr hoch. Sie liegt bei etwa 95 Prozent. Dabei liegt – Die Kinder- und Jugendkriminalität steigt längst nicht Deutschland im europäischen Vergleich hinsichtlich der mehr in dem Maße, wie wir das unter Ihrer Regierung be- Zahl jener Straftaten, die im Zusammenhang mit Drogen obachten konnten; in einigen Bereichen ist sie sogar rück- begangen worden sind, eher in der unteren Hälfte. gängig. Nun muss man wissen, dass sowohl die Entwicklung Ich will noch einen wichtigen Bereich ansprechen,der Drogenkriminalität als auch die Höhe der Auf- nämlich die ausländischen Jugendlichen. klärungsquote sehr stark von der Ermittlungsintensität der Polizei abhängen. Drogenkriminalität ist immer auch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Gestatten Sie Dunkelfeldkriminalität. Je mehr die Polizei ermittelt, des- eine Zwischenfrage des Kollegen Geis? to mehr Licht wird in das Dunkel der Drogenkriminalität (B) gebracht. Fast immer wird der Täter ermittelt. Die Fälle, (D) in denen kein Täter ermittelt werden kann, sind eher die Hans-Peter Kemper (SPD): Ja, bitte. Ausnahme. Ein Beispiel für einen solchen Fall – Stich- wort: Schneegestöber – ist der Bundestag: Es gibt zwar Norbert Geis (CDU/CSU): Ist Ihnen bekannt, dass den Verdacht einer Straftat, aber es gibt keine Täter, zu- der vorhin von mir zitierte Christian Pfeiffer in der von mindestens keine, die man benennen könnte. Aber das ist, mir genannten Studie festgestellt hat, dass der Höhepunkt wie gesagt, eher der Ausnahmefall. Man wird sehen, wie der Jugend- und Kinderkriminalität 1997 gewesen ist und sich das entwickeln und was dabei herauskommen wird. dass danach eine konsequente Abflachung zu verspüren Meine Redezeit ist weitestgehend abgelaufen. Deshalb war, also zu einer Zeit, als ganz offensichtlich noch die möchte ich das Ergebnis zusammenfassen: Die Große An- Kohl-Regierung noch im Amt war? frage hat gezeigt: Es gibt noch viel zu tun. Es gibt keinen Grund, dass wir uns zurücklehnen. Die Bekämpfung der Hans-Peter Kemper (SPD): Sie haben völlig Recht. Internetkriminalität und die Kooperation auf europäischer Ich sehe allerdings keinen Unterschied zu dem, was ich Ebene – Stichwort: Eurodac – müssen deutlich verbessert gesagt habe. Den Höhepunkt der Kinder- und Jugendkri- werden. Hier sind wir erst am Anfang. Die Große Anfrage minalität, die seit 1993 zunahm, gab es im Jahre 1997. Da hat aber auch gezeigt, dass Kriminalität und eine hohe haben Sie Recht. Es ist klar, wer damals regiert hat. Erst Kriminalitätsrate nicht gottgegeben sind. Man kann etwas danach flachte sie ab. Auch da ist klar, wer regiert hat. dagegen machen. Die rot-grüne Koalition und die Regie- rung haben etwas dagegen getan. Wir sind auf einem (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE guten Weg, den wir fortsetzen werden. GRÜNEN], zu Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] gewandt: Mit Ihrer Statistik können Sie alles (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beweisen!) DIE GRÜNEN) Ich möchte noch etwas zur Entwicklung der Krimina- lität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen sagen; Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat denn über dieses Problem streiten wir uns ständig. Auch jetzt der Kollege Guido Westerwelle. hier gab es bis 1997 einen Anstieg. Aber selbst während Ihrer Regierungszeit nahm die Kriminalität bei ausländi- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! schen Kindern und Jugendlichen nicht so stark zu wie bei Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Es den deutschen. Seitdem die SPD mit den Grünen regiert, muss zunächst einmal festgehalten werden, dass sowohl Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12543

Dr. Guido Westerwelle (A) die Große Anfrage als auch die Antwort der Bundesregie- strukturen absehe – für die Gesetze zuständig. Man muss (C) rung auf diese Anfrage in bemerkenswerter Weise geeig- aber kritisch sehen, dass in weiten Teilen ein Vollzugsde- net sind, einen Beitrag zur Versachlichung der öffentli- fizit besteht. Dieses Defizit besteht insbesondere im Be- chen Diskussion zu leisten. Als ich die Anfrage gelesen reich der Länder. Ich will in diesem Zusammenhang nicht habe, fand ich es bemerkenswert, wie zielführend die Fra- die spektakulären Fälle ansprechen. Aber trotzdem muss gen gestellt worden sind. Ich muss ausdrücklich anerken- ich sagen, die Tatsache, dass ein Gewalttäter wie Frank nen, dass die Antwort der Bundesregierung für die Arbeit Schmökel zum x-ten Male entkommen konnte, zeigt, dass der Parlamentarier wirklich weiterführend ist und erheb- es kein Gesetzesdefizit, sondern ein klar erkennbares liches Material beinhaltet, das geeignet ist, die Diskussion Vollzugsdefizit gibt. Ich wundere mich darüber, dass ein zu versachlichen. Staatssekretär zurücktreten muss, aber nicht diejenigen, (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) die diese Sache verbockt haben. Man muss im Grunde genommen feststellen, dass (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten manche in der Öffentlichkeit hysterisch geführte Diskus- der CDU/CSU) sion im Lichte der Großen Anfrage und der Antwort der Der zurückgetretene Staatssekretär gehört nicht meiner Bundesregierung wirklich lächerlich erscheint. Es gibt Partei an; ich habe mit ihm auch nichts zu tun. Aber den- Personen in der Öffentlichkeit – ich denke da an einen noch muss ich sagen, dass uns diese Art und Weise der speziellen Fall in Hamburg –, die meinen, sie könnten mit Diskussion nicht weiterführt. hysterischen Bemerkungen Menschen hinter sich brin- gen. Wir erleben immer wieder, wie bestimmte Personen Es ist auch viel zu kurz gegriffen, wenn man sagt, die die Durchsetzung ihrer politischen Interessen überPolitik habe eine Vorbildfunktion. Die Politiker sollten Katastrophenmeldungen versuchen. Die Große Anfrage sich diesbezüglich nicht überschätzen. und die Antwort darauf zeigen – und zwar jenseits der Par- Bei allem Respekt, Herr Kollege, muss ich Ihnen sagen teigrenzen –, dass die innere Sicherheit in Deutschland in – obwohl ich der Einschätzung in weiten Teilen zustim- einigen Bereichen ausgesprochen problematisch ist, aber men kann, der Fall Kohl habe Auswirkungen auf das überwiegend im Griff ist. Das muss man einmal festhal- Rechtsbewusstsein –: Meine Mitarbeiter haben mir ge- ten dürfen. rade telefonisch durchgegeben, dass gegen einen amtie- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten renden Bundesminister, nämlich gegen Herrn Klimmt, am der SPD und der CDU/CSU) heutigen Tage ein Strafbefehl von der Staatsanwaltschaft beantragt worden ist. Wer mit Steinen wirft, der sitzt in der Ich möchte davon abraten, dass man eine so kluge Regel im Glashaus. (B) Diskussionsgrundlage dafür nutzt, sozusagen das partei- (D) politisch kleine Karo zu fahren. Die Spekulation darüber, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten ob Helmut Kohl das Problem der Jugendkriminalität der CDU/CSU) schon 1997 gelöst hat oder ob die Jugendkriminalität an- Aus meiner Sicht haben die unzureichenden Schutz- gesichts der frohen Erwartung auf einen Regierungs- maßnahmen auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung wechsel zurückgegangen ist, sollten wir den Kabarettisten überlassen. Die Regel ist – das wissen diejenigen, die sich eine größere Auswirkung als manche theoretische politi- damit befassen –, dass kriminologische Entwicklungen in sche Diskussion, die wir führen. Ich frage mich – das fra- unserer Gesellschaft viel längerfristig angelegt sind. Wir gen sich sicherlich viele Kolleginnen und Kollegen –: Wie wollen doch nicht ernsthaft den Eindruck hier erwecken: muss sich eine junge Frau fühlen, wenn ihr Schänder zum Es gab einen Regierungswechsel 1998 und plötzlich ist fünften Mal wieder auf freiem Fuß ist und zum fünften die Kriminalität weg von den Straßen. Mal versucht, zu seinem früheren Opfer zu gelangen? Welches Martyrium muss diese junge Frau über Jahre hin- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Warum eigentlich weg durchgemacht haben? Ein Staat, der ein solches Pro- nicht! – Hans-Peter Kemper [SPD]: Gucken Sie blem nicht mit Schloss und Riegel lösen kann, der versagt. mal in die Statistik!) Dabei ist es für mich nicht entscheidend, auf welcher – Ich glaube Ihnen vieles. Ich glaube auch, dass Sie das Ebene dies passiert. meiste, das Sie sagen, ernst meinen. Aber ich glaube nicht, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten dass Sie das ernst gemeint haben. Dafür kenne ich Sie zu der SPD und der CDU/CSU) gut. Es geht selbstverständlich nicht darum, dass man dem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Wegsperren das Wort reden sollte. Jeder weiß, dass die der CDU/CSU) Resozialisierung und das Zurückführen der Straftäter auf Wir haben in Deutschland kein Gesetzesdefizit, son- den rechten Weg die beste Maßnahme ist. Wenn ein ehe- dern ein Vollzugsdefizit. maliger Straftäter nicht erneut straffällig wird, ist das der beste Opferschutz. Aber es gibt – das liegt in der Natur der (Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!) Sache – Straftäter, die nicht auf den rechten Weg zurück- Wir diskutieren im Deutschen Bundestag regelmäßig über zuführen sind. Wir sollten also unter dem Eindruck einer die Gesetze. Wir sind auf Bundesebene in erster Linie völlig überholten Diskussion, die einer bestimmten Phase – wenn ich einmal vom BGS und anderen Bundesbehör- unserer Republik entstammt, uns nicht davon abbringen den für die Bekämpfung von bestimmten Kriminalitäts- lassen, die Härte des Gesetzes anzuwenden. 12544 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Herr Abgeord- gibt in unserer gesamten Strafrechtskultur und -struktur (C) neter, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen kaum einen Bereich, in dem so erfolgreich gearbeitet wird Irmer? wie im Jugendstrafrecht. In kaum einem anderen Bereich ist man so erfolgreich, Menschen wieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Man muss eben auch hier vorsich- (F.D.P.): Ja. Aber Sie meinen: Dr. Guido Westerwelle tig sein, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüt- unseres Kollegen Irmer; denn er ist Kollege von uns allen. tet. Das wird regelmäßig vergessen. Ich will Ihnen sagen, wo aus meiner Sicht das größte (F.D.P.): Herr Kollege Westerwelle, ich Ulrich Irmer Defizit bei der Bekämpfung von Kriminalität im Bereich habe heute früh zu meiner Verblüffung Folgendes in der der Jugendlichen und Heranwachsenden besteht: Es be- Zeitung gelesen: steht darin, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tat, dem (Zurufe von der SPD: Oh!) Zeitpunkt der Festnahme und dem Zeitpunkt derVerur- teilung eine zu große Zeitspanne liegt. Der brandenburgische Gesundheitsminister Alwin Ziel, SPD, hat gestern nicht ausgeschlossen, dass der (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) am Dienstag gefasste Gewaltverbrecher FrankGerade in diesen Bereichen muss wieder folgender Satz Schmökel wieder in den Maßregelvollzug überstellt gelten – das ist nicht konservativ; das ist nicht „law and wird und dass er dann einen erneuten Freigang be- order“ –: Die Strafe muss der Tat auf dem Fuße folgen; kommt. denn nur dann ist eine entsprechende Wirkung auf einen Ich frage Sie, was Sie davon halten. Ich frage Sie auch, jugendlichen Straftäter zu erwarten. ob solche Meldungen nicht Wasser auf die Mühlen derje- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten nigen sind, die sich für die Todesstrafe einsetzen. der SPD und der CDU/CSU) Ich finde die Bemühungen – Sie werden mir gestatten, Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Das ist eine sehr ge- dass ich das ausdrücklich erwähne – von Herrn Professor fährliche Diskussion. Sie sprechen etwas an, hinsichtlich Goll in Baden-Württemberg und von Herrn Mertin in dessen es in diesem Hause zu Recht ein Tabu gibt, worü- Rheinland-Pfalz, um bewusst zwei Landesregierungen ber in der Bevölkerung aber diskutiert wird. Nur, eines unterschiedlicher Färbung zu nennen, ausgesprochen loh- muss ich genauso klar feststellen: Ich verstehe nicht, wie nend. man als Verantwortlicher – hierbei geht es mir wirklich nicht um die Parteizugehörigkeit – eine solche Erklärung (Heiterkeit bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der SPD, der CDU/CSU und des (B) zu einem solchen Zeitpunkt in die Presse setzen kann. Das (D) ist mir, ehrlich gesagt, unbegreiflich. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das ist wohl Gibt es denn da nicht doch etwas Gemeinsa- wahr!) mes?) Die Menschen müssen doch kirre werden, wenn sie so et- – Herr Beck, Sie haben völlig Recht: Die besten Landes- was lesen. Genauso klar muss ich Ihnen sagen: Wer be- regierungen werden mit von der F.D.P. gestellt. hauptet, dass die bestehende Gesetzeslage nicht das le- benslange Wegsperren von solchenpathologischen (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie bei Tätern erlaube, der kennt die Gesetzeslage nicht. Diese Abgeordneten der CDU/CSU) Menschen können und müssen weggesperrt werden. Ich erkenne an, dass dies auch Sie so wie mich stets zur Freude veranlasst. Man könnte so etwas – bei allem Res- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten pekt – von den Landesregierungen, an denen Sie beteiligt der CDU/CSU) sind, wirklich nicht behaupten, auch wenn Sie sich Mühe geben. Denn es gibt auf solche Menschen keine andere Antwort. Das sind, wie wir alle aus der Kriminologie wissen, Men- (Hans-Peter Kemper [SPD]: Nein, nein!) schen, die nicht auf den rechten Weg zurückzuführen sind, – Sie sind jetzt ruhig; Sie wurden gerade gelobt. weil sie bestimmte Fehlschaltungen nicht nur in ihrer Psy- che haben. Deswegen ist hier meiner Einschätzung nach Gerade der Jugendbereich zeigt aus meiner Sicht, dass nur die Härte des Rechtsstaates geboten. wir in der Lage sein müssen, Jugendlichen eine zweite Chance zu geben. Ich selber habe im Gerichtssaal gestan- Bei der Kriminalitätsbekämpfung geht es um weitden und erlebt, wie jemand verurteilt worden ist, dessen mehr. Ich finde sehr bemerkenswert, was in der Antwort Bruder – in bestimmten Verfahren sind ja nur Verwandte der Bundesregierung zu den jugendlichen und heran-zugelassen – anwesend war, und wie der Richter sagte: wachsenden Straftätern ausgeführt wird. Das ist eine Be- „Sie kenne ich doch auch“, worauf der Bruder antwortete: sorgnis erregende Entwicklung. Nur, ich empfehle allen Ja, von vor sechs Jahren. Der Richter fragte ihn: Was ma- hier, nicht sofort aus der Hüfte zu schießen und zu glau- chen Sie jetzt? – Mittlerweile ist aus ihm ein anständiger ben, das Problem werde dadurch gelöst. Kerl geworden, der in der Mitte der Gesellschaft lebt. Wer sich von Berufs wegen ein bisschen mit dem Ju- Man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Jugendliche gendstrafrecht befasst hat, der weiß eines ganz genau: Es in einem bestimmten Alter auch einmal verirren. Es ist ein Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12545

Dr. Guido Westerwelle (A) Fehler, dann lebenslang den Stab über diese Jugendlichen sehen zunächst einmal für die äußere und innere Sicher- (C) zu brechen. heit, für ein gedeihliches Zusammenleben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Ich habe die Nase voll, dass jedes Mal nach einer der SPD, der CDU/CSU und der PDS) Straftat nach einem neuen Gesetz gerufen wird, auch in diesem Hause. Wir haben in der letzten Legislaturperiode viele Geset- zesdefizite in der Regel nicht streitig, sondern einver- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) nehmlich – Herr Kollege Geis, Sie haben auf überpartei- Wir müssen endlich begreifen: Wir brauchen nicht mehr liche Maßnahmen im Deutschen Bundestag hingewie- Gesetze. Wir brauchen mehr und besser ausgestattete sen – beseitigt. Mittlerweile geht es aber nicht mehr um Vollzugs- und Polizeibeamte, die in der Lage sind, die Gesetzesdefizite, sondern ausdrücklich um Vollzugsdefi- Straftäter zu fassen. Man kann einen Straftäter nicht ver- zite. urteilen, wenn man ihn nicht vorher fasst. Es ist eine Katastrophe, wenn die Einsatzfahrzeuge der (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist Polizei eigentlich in das Polizeimuseum gehören. Es ist wahr!) eine Katastrophe, wenn sich Polizeibeamte auf eigene Rechnung Computer im Sonderangebot kaufen, damit sie Deswegen ist das Vollzugsdefizit der entscheidende wenigstens halbwegs auf dem neueren technischen Stand Punkt, über den wir gerade nach dieser bemerkenswerten sind. Antwort der Bundesregierung reden müssen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Aus meiner Sicht ist es eine Katastrophe, dass in einem Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der Ab- deutschen Bundesland Computer, die von Amts wegen geordnete Volker Beck das Wort. zur Verfügung gestellt werden, faktisch nicht genutzt wer- den können, weil die Programme nicht funktionieren. Es Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist eine Katastrophe, wenn das Budget für den Unterhalt, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Redner für Benzin und die Reparatur von Fahrzeugen zu knapp der Opposition haben versucht, bestimmte Länder gegen- bemessen ist und dies zur Folge hat, dass Streifenfahrten einander auszuspielen. nicht oder nicht in dem erforderlichen Umfang durchge- führt werden. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist kein Aus- spielen, das sind Tatsachen!) (B) Heute Morgen habe ich mit einem Abgeordnetenkolle- (D) gen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag, der selbst Ich denke, die Antwort der Bundesregierung auf die Polizeibeamter ist, Herrn Engel, telefoniert. Er berichtete Große Anfrage gibt das einfach nicht her. Die Antwort legt mir – in einer solchen Diskussion hört man sich ja ein we- dar: Bei der Kriminalitätsentwicklung gibt es zwischen nig um – von einem Erlass der nordrhein-westfälischen Stadt und Land eine viel stärkere Differenzierung als zwi- Landesregierung aus dem April 2000, in diesem Fall von schen den einzelnen Bundesländern. Wenn wir hier keine Innenminister Behrens, in dem steht, dass ein 400-DM- Wahlkampfdebatte machen, sondern ernsthaft darüber re- Zuschuss gewährt wird, damit sich Polizeibeamte eine ei- den wollen, was wir tun müssen, um die Verbrechens- gene schusssichere Weste kaufen können. Dieser Betrag bekämpfung voranzubringen – was wir alle wollen, weil reicht natürlich nicht aus, wie wir wissen, es eine zentrale Frage für das Lebensgefühl der Menschen im Lande ist –, sollten wir solche sachfremden Argumen- (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: In tationen mit billiger parteipolitischer Polemik hinten Bayern ist es nicht anders!) anstellen. weil Schusswesten in der Regel an den Körper angepasst (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind doch werden müssen, damit sie funktionieren können. Fakten!) (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: In Nieder- – Das gefällt Ihnen nicht. Da Sie aber fordern, dass wir die sachsen ist es noch viel schlimmer!) Länder miteinander vergleichen, will ich Ihnen zur War- Gleichzeitig wird in diesem Erlass hinzugefügt: Ihr be- nung eine statistische Größe entgegenhalten. Sie führen kommt zwar den Zuschuss in Höhe von 400 DM für die diese Debatte ja wegen des baden-württembergischen schusssichere Weste, aber, wenn ihr die Weste verwendet Landtagswahlkampfs. Bei den Fragen, die Sie nicht ge- und sie nicht in Ordnung war, übernimmt der Dienstherr stellt haben, sieht Baden-Württemberg nicht mehr so gut keine Haftung, wenn euch Polizeibeamten etwas passiert. aus. Im letzten Jahr gab es nach einer AP-Meldung 291 Dies zeigt in meinen Augen das Versagen des Staates in antisemitisch motivierte Straftaten. Davon fand mehr als einem Kernbereich, nämlich bei der inneren Sicherheit. jede sechste, nämlich 50, in Baden-Württemberg statt. Dieses Thema war Ihnen in der Anfrage keiner Erwäh- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nung wert. Das, finde ich, ist bezeichnend für den Fra- Deswegen appelliere ich an Sie, dass wir uns auf die gesteller. Kernaufgaben des Staateskonzentrieren und dass die Wir sollten hier ernsthaft über die Strategien zur Kernaufgabe des Staates in den Mittelpunkt gerückt wird. Kriminalitätsbekämpfung reden und solche Vergleiche Warum organisieren Menschen Staat? Geschichtlich ge- besser lassen. Wir alle könnten uns solche Zahlen um die 12546 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Volker Beck (Köln) (A) Ohren schlagen; ich habe noch andere dabei. Aber ich Wenn hier im Zusammenhang mit derBewährungs- (C) denke, wir sollten uns das ersparen. Auch die Menschen strafe denunziert wird, dass wir – Sie werden es sicher draußen im Land sind es müde, anzusehen, wie wir ein so noch ansprechen – dem Richter künftig ermöglichen, ernsthaftes Problem auf diesem Niveau diskutieren. auch jenseits der Zweijahresgrenze, nämlich zwischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwei und drei Jahren, eine Straftat zur Bewährung auszu- und bei der SPD) setzen, dann sage ich: Das bedeutet nicht unbedingt mehr Liberalität, sondern wir bringen das Spannungsverhältnis Rot-grüne Kriminalpolitik ist eine Trias von Präven- zwischen Schuldstrafrecht und dem Resozialisierungsge- tion, Repression und Maßnahmen der Resozialisierung. danken wieder ins Lot. Wir wissen doch alle, dass die Das heißt, wir wollen die Ursachen der KriminalitätRichter oftmals bei Ersttätern, die eine schwerere Straftat bekämpfen, auf Kriminalität deutlich und angemessen begangen haben und eigentlich eine Strafe von mehr als reagieren. Dabei müssen die Sanktionen so ausfallen, dass zwei Jahren verdient hätten, versuchen, unter die Zwei- sie dem Täter das Unrecht der Tat vor Augen führen und jahresgrenze zu kommen, damit sie noch eine Be- ihn möglichst von der Begehung weiterer Straftaten ab- währungsstrafe verhängen können, weil sie denken, dass halten. das noch am ehesten zu dem Ergebnis der Reintegration Eine Schwäche unseres heutigen Strafrechts ist, dass des Täters in die Gesellschaft führen wird. wir dem Richter nicht die Möglichkeit geben, auf die Per- Herr Westerwelle hat es gerade gesagt: Man kann sich sönlichkeit des Täters und die Umstände der Tat im Ein- einmal verirren und die Irrungen können sehr schlimm zelfall angemessen und differenziert zu reagieren. Diese ausfallen. Dann ist es besser, wir schaffen hier oberhalb Koalition wird deshalb sehr bald eine Sanktionenrechts- der Zweijahresgrenze – unter engeren Voraussetzungen reform auf den Weg bringen. Für die Bürgerinnen und als unterhalb der Zweijahresgrenze – eine Bewährungs- Bürger wird diese Reform am Ende auch mehr Schutz vor möglichkeit, mit Auflagen, mit gemeinnütziger Arbeit, Straftätern bedeuten; denn eine erfolgreiche Resozialisie- mit Wiedergutmachungsmaßnahmen. Das heißt nicht ein- rung bedeutet noch immer den besten Schutz vor Rück- fach Wegschauen, sondern das ist eine konkrete Reaktion, falltätern. Das hat die Bundesregierung auch in ihrer Ant- die vielleicht dazu führt, dass ein solcher Mensch reinte- wort ganz deutlich gemacht. griert wird; denn das ist das Beste für die Gesellschaft. Mit einem ausdifferenzierten Instrumentarium von Wir werden auch die Qualität des Strafvollzuges ver- Sanktionen werden wir den Gerichten die Mittel in die bessern. Wir haben alle nicht mehr Geld zu verteilen. Des- Hand geben, mit denen angemessen und nachhaltig auf halb ist es ein ganz entscheidender Schritt, dass wir in Zu- begangenes Unrecht reagiert werden kann. Wer eine sol- kunft damit Schluss machen, dass Ersatzfreiheitsstrafen che Reform, wie kürzlich der bayerische Justizminister abgesessen werden, also solche Strafen, die verhängt wer- Weiß, mit den Worten „Freiheit für Schwerverbrecher“ ti- (B) den, weil jemand eine Geldstrafe nicht bezahlen will oder (D) tuliert, will offensichtlich die Probleme, die wir haben, nicht verstehen und mag sich auch an einer Lösungsdis- kann. Sie sollen durch gemeinnützige Arbeit ersetzt wer- kussion nicht beteiligen. den. Das schafft Platz im Strafvollzug, und es wird auch von Beamten geäußert. – Herr Geis, ich würde mir wün- Selbstverständlich sind Sanktionen wie gemeinnützige schen, dass Sie öfter einmal eine Justizvollzugsanstalt be- Arbeit oder Ausweitung des Fahrverbots zur selbstständi- suchen. gen Hauptstrafe nicht für den Bereich der Schwerkrimi- nalität gedacht. Aber es ist wichtig, dass wir gerade bei (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich bin wahr- den kleineren kriminellen Handlungen reagieren. Gegen- scheinlich öfter dort als Sie! Sie sind ein wärtig ist es so, dass der Richter da im Erwachsenenstraf- Schwätzer! – [CDU/CSU]: recht nur die Möglichkeit der Geldstrafe oder der Be- Aber er muss keine Parteifreunde dort besu- währungsstrafe hat. Das beeindruckt oftmals nicht. chen! Das ist der Unterschied!) Deshalb ist es ein wesentlicher Gewinn für die Krimina- In Diskussionen mit den Beamten ist immer wieder zu litätsdebatte, wenn wir angemessen reagieren und beihören, es belaste sie in ihrer Arbeit mit den Mittel- und kleinen Delikten sagen: Wir schauen nicht weg, aber wir Langstraflern ungeheuer, dass Leute für eine Woche in holen auch nicht jedes Mal sozusagen die ganz großeden Strafvollzug kommen, eingecheckt werden müssen, Keule des Justizvollzugs heraus, ausgecheckt werden müssen; sie machen nur Arbeit. (Beifall des Abg. Hans-Peter Kemper [SPD]) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Am besten, Sie weil wir genau wissen, dass dort kriminelle Karrieren oft- hören auf zu reden!) mals erst begonnen werden. Deshalb sind solche differen- Das führt dazu, dass man für die Täter, mit denen man ar- zierten Maßnahmen notwendig. beiten muss, keine Zeit hat. Das sollten wir auch den Menschen draußen erklären. Wir haben festgestellt, dass sich die Jugendkrimina- Wir sollten ihnen nicht an den Stammtischen nach dem lität in bestimmten Deliktbereichen in der letzten Zeit Mund reden, aber wir sollten an den Stammtischen darü- eher rückläufig entwickelt hat. Die Statistik hat ergeben, ber reden. Ich habe erlebt, dass die Menschen das verste- dass 1999 die Delikte in diesem Bereich um 2 Prozent hen, wenn man es ihnen erklärt. Da ist Rot-Grün auf dem gesunken sind. Ich denke, das ist in der Tat nicht ganz un- richtigen Weg. beeinflusst von den Maßnahmen, die wir vonseiten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neuen Koalition getroffen haben, geschehen. Mit dem und bei der SPD) JUMP-Programm haben wir vielen Jugendlichen, die am Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12547

Volker Beck (Köln) (A) Rande der Gesellschaft standen, die perspektivlos waren, zum wiederholten Male –, dass ohne die Bekämpfung und (C) eine neue Perspektive gegeben. Korrektur der gesellschaftlichen und sozialen Ursachen alle Versuche, Kriminalität durch immer mehr Polizei, im- Das Gleiche gilt übrigens auch für ein Thema, das Ih- mer schärfere Gesetze, immer längere Strafen zurück- nen in der Anfrage schon wieder sehr viel Platz wert war, drängen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sind. für die Ausländerkriminalität. Auch diese ist 1999 wei- ter gesunken. Ich glaube, dass die Staatsbürgerschafts- (Beifall bei der PDS) reform dazu einen Beitrag leistet, Ich möchte sehr deutlich wiederholen, was Herr Beck hier (Widerspruch bei der CDU/CSU) auch schon gesagt hat. weil wir sagen: Ihr gehört zu unserer Gesellschaft, ihr be- Ursachenbekämpfung ist einer der wichtigsten Punkte, kommt ein Eintrittsrecht mit gleichen Rechten und glei- die in der Kriminalitätsbekämpfung beachtet werden sol- chen Pflichten, aber dann müsst ihr euch auch an die Re- len. Dabei möchte ich auf die Ausführungen von Herrn geln halten. – Das ist gerade bei denjenigen, die ein wenig Westerwelle eingehen. Ich gebe Ihnen in allem Recht. gefährdet sind, ein neues Angebot zur Integration und Er- mutigung. (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das ist zu viel! Al- les ist zu viel!) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt ist aber auch gleich der Straßenbau eine Krimi- – In fast allem. nalprävention! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir führen bei jedem Fall wie dem Fall Schmökel im- Mehmet lässt grüßen!) mer wieder solche Debatten, aber wir führen keine Dis- An diesem Kurs der Prävention durch mehr Integration kussion über die wirklichen Ursachen und darüber, was werden wir festhalten. wir bekämpfen müssen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Heben Sie nicht Ich bin seit 20 Jahren Strafvollzugshelferin. Seit immer den Zeigefinger! Das ist ja unangenehm! 20 Jahren steht in den Urteilen der Richter, dass Therapie Sie treten ja auf wie ein Oberlehrer!) gemacht werden muss, dass es bestimmte Auflagen gibt. Ich habe gerade wieder eine Tour durch nordrhein-west- Prävention ist bei uns ein ganz entscheidender Punkt. Das fälische Gefängnisse hinter mir und die Anstaltsleiter ge- haben der Innenminister und die Justizministerin auch mit fragt. Sie haben alle gesagt, dass diese Therapieauflagen der Gründung des Forums Kriminalprävention deutlich nicht eingehalten werden können, weil man das dafür qua- gemacht. Wir sind da auf einem guten Kurs. lifizierte Personal im Gefängnis nicht hat, weil es keine Repression und Prävention darf man nicht als Gegen- entsprechende Forschung gibt, weil es keine Ursachen- (B) sätze sehen, sondern man muss hier einen Policymix ha- bekämpfung gibt. (D) ben, mit dem das aufeinander abgestimmt wird. Ich Ich sage Ihnen: Solange dieses nicht möglich gemacht glaube, da sind wir auf einem guten Weg. Das tut Ihnen wird, wird man in den Gefängnissen weiter Zeitbomben natürlich Leid, denn eigentlich hätten Sie vonseiten der wie Schmökel produzieren. konservativen Opposition dieses Thema gern abonniert. Die Menschen draußen werden sehen, dass unsere Politik (Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. Guido dieses Land sicherer macht, Westerwelle [F.D.P.] – Norbert Geis [CDU/ (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das Außen- CSU]: In NRW waren Sie an der falschen ministerium ist im Rahmen der Kriminal- Adresse!) prävention noch nicht erwähnt worden!) – Es mag sein, dass Sie in Bayern da ein Stück weiter sind. ohne dass an der Rechtsstaatlichkeit Abstriche gemacht Ich würde auch das gern untersuchen, Herr Geis. werden müssen. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, zur Dro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – genpolitik. Sie haben das angesprochen und haben heute Norbert Geis [CDU/CSU]: Lassen Sie das Glas hier wieder gefordert, dass Drogenabhängige kriminali- besser dort oben stehen! – Dr. Guidosiert werden sollen. Westerwelle [F.D.P.]: Das ist Mundraub! – Sie haben hier vor allen Dingen sehr populistisch dar- Norbert Geis [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, gestellt, dass die Drogenkriminalität weiter ansteigt. Sie lassen Sie ihn das Glas nicht mitnehmen!) haben Recht. Auch Wissenschaftler und Forscher vertre- ten diese Auffassung und wir sind in den Anhörungen, die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Es spricht jetzt wir im Bundestag durchgeführt haben, ebenfalls immer die Abgeordnete Ulla Jelpke. wieder zu dieser Erkenntnis gekommen. Immerhin hat die neue Bundesregierung die Verantwortlichkeit für die Dro- genpolitik endlich vom innenpolitischen und Rechtsbe- Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen reich in den eigentlich zuständigen Gesundheitsbereich und Herren! Auch wir sind der Meinung, dass eine wirk- gelegt. same und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung nur durch eine wirklich effiziente soziale Prävention erreicht Deswegen appelliere ich an Sie: Drogenabhängige werden kann. Gerade weil wir die Sorgen der Bürgerinnen Menschen sind kranke Menschen. Sie müssen entkrimi- und Bürger ernst nehmen und keine populistischen Spiel- nalisiert werden. Deswegen müssen auch Drogen ent- chen treiben wollen, sagen wir ihnen – das sage ich heute kriminalisiert werden. Sie würden in Bezug auf die 12548 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Ulla Jelpke (A) Kriminalitätsbekämpfung eine Menge mehr erreichen, Bürger- und Menschenrechte gegenüber den Flüchtligen (C) wenn in diesem Bereich endlich Maßnahmen ergriffen einzuhalten. Diese Maßnahme, die im Übrigen noch nicht würden. beschlossen ist, darf auf gar keinen Fall durchgesetzt wer- den. Das nächste Thema: Videoüberwachung. Zu diesem Thema hat die CDU/CSU in Ihrer Großen Anfrage eben- (Beifall bei der PDS) falls Fragen gestellt. Auch hier wollen Sie jetzt verstärkt Ein letzter Punkt. Auch heute ist hier angesprochen Ihrem Vorbild Großbritannien nacheifern. Meine Damen worden, dass die CDU/CSU in denjenigen Bundesländern, und Herren, wer sich genau anschaut, was in Großbritan- in denen sie mitregiert bzw. regiert, im Zusammenhang nien, aber auch in den Teilen Deutschlands, in denen Vi- mit rechtsextremistischen Straftätern eine Strafverschär- deokameras aufgestellt werden, stattfindet, wird feststel- fung plant. Sie wollen einen § 224 a im Strafgesetzbuch len: Mit Videokameras wird die Kriminalität im einführen mit dem Ziel, dass die Körperverletzung aus nie- Wesentlichen vom Zentrum in die Randgebiete verlagert. derer Gesinnung mit schärferen Strafen belegt wird. Ich glaube nicht, dass dies die angestrebte Wirkung sein kann. Ganz im Gegenteil muss man sagen, dass mit Vi- Einmal abgesehen davon, dass das ein alter Hut ist, den deoüberwachung – wir werden in diesem Hause noch die die CDU/CSU hier wieder auf die Tagesordnung setzt, Debatte über das Datenschutzgesetz führen – Bürger- möchte ich Sie daran erinnern: Juristen, Kriminologen, rechte eingeengt und abgebaut werden. Das findet auf gar aber auch wir sagen ganz klar, dass wir dagegen sind, das keinen Fall unsere Zustimmung. Tatprinzip zum Täterprinzip zu machen und zu einem Ge- sinnungsstrafrecht zu kommen. Das werden wir auf gar Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendes keinen Fall mitmachen. hinweisen: Die Mitglieder des Innenausschusses waren in Großbritannien. Es gibt genügend Analysen, die aufzei- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dazu kriegen Sie gen, dass die Kriminalität dort eher gestiegen als gesun- sogar eine Gesetzesvorlage!) ken ist. Von daher muss diese Diskussion auch hier bei uns – Ja, wir haben die Gesetzesvorlage schon gesehen. sehr sorgfältig geführt werden. Der Ruf nach mehr Ka- meras reicht nicht aus. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wo denn?) (Beifall bei der PDS) – Im Bundesrat wird sie über die Länder bereits einge- bracht. Bisher war es so, dass vor allen Dingen die Kameraindus- trie profitiert hat, die Bürgerrechte aber abgebaut wurden. (Zuruf von der CDU/CSU: Welches denn?) Im Übrigen gibt es ein Beispiel für die Wirkungslo- Ich sage Ihnen: Gesinnungsstrafrecht machen wir nicht (B) sigkeit von Videokameras aus den letzten Wochen: den mit. Es ist höchste Zeit, § 129 a StGB abzuschaffen; (D) Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Dort gab (Beifall bei Abgeordneten der PDS) es Kameras. Diese haben aber nicht die Täter aufgenom- men – sie sind bis heute nicht gefasst –, sondern auf den denn dieser hat demokratische Rechte in diesem Land Bildern hat man die mutige Nachbarin, die über einenmassiv abgebaut. In diesem Zusammenhang kann ich Ih- Zaun gestiegen ist und die Brandsätze gelöscht hat, gese- nen nur sagen: Ich bin froh, dass wir die Kronzeugenre- hen. Das zeigt, wie unsinnig die Überwachung mit Vi- gelung nicht mehr haben. Sie wissen ganz genau, dass es deokameras ist. eine Maßnahme war, bei der man Prozesse auf Denunzia- tion aufgebaut hat. Das darf in einem demokratischen Stichwort: Kinder- und Jugendkriminalität. Ich ver- Staat nicht passieren. stehe nicht, warum der CDU/CSU seit Jahren nichts an- deres einfällt, als noch mehr geschlossene Heime zu for- Zum Schluss. Ich bin der Meinung, hier kann und muss dern. Wenn Sie sich einmal anschauen, um welche Kinder für alle Parteien die alte Parole gelten: Die beste Krimi- und Jugendliche es sich handelt, werden Sie feststellen: nalitätsbekämpfung sind immer noch die soziale Präven- Es sind meistens Kinder, die von Sozialhilfe abhängig tion und eine gute Sozialpolitik. Ich hoffe, dass wir das sind und aus armen Familien kommen. Auch hier fordern mit Ihrer Großen Anfrage ein Stückchen erreichen. wir soziale Maßnahmen für Kinder und kinderreiche Fa- (Beifall bei der PDS) milien, damit Kriminalität abgebaut bzw. entsprechende Prävention betrieben werden kann. Das Wort hat Ein weiteres Thema: Eurodac. Die Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer. spricht gar nicht mehr davon, was Eurodac eigentlich ist. Demnächst werden Ausländern zum Beispiel an den Grenzen ihre Fingerabdrücke abgenommen, egal, ob sie Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Frau Präsidentin! etwas getan haben oder nicht. Auch Kindern soll ihr Fin- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren gerabdruck abgenommen werden. Ich möchte ganz deut- heute über eine Große Anfrage, die nützlich ist, und die lich sagen: Ich finde es sehr unmenschlich, mit Flüchtlin- Antwort der Bundesregierung, die informativ ist. Sie, gen an der Grenze so umzugehen. Kein Steuerbetrüger, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, kein Parteispendenbetrüger und niemand anders würde haben dem Ganzen die zutreffende Überschrift „Er- solch eine Behandlung erfahren, bevor überhaupt ein Er- folgreiche Verbrechensbekämpfung in Deutschland“ mittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Auch hier sind gegeben. Insofern hätte es Ihnen gut angestanden, der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12549

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (A) Bundesregierung für ihre Arbeit zu danken. Wir tun das des Gremiums im Bundestag festgelegt: „Die Länder ge- (C) jedenfalls. währleisten eine gleichwertige parlamentarische Kon- (Beifall bei der SPD – Ronald Pofalla [CDU/ trolle.“ Wir haben deshalb übereinstimmend beschlossen, CSU]: Die Regierung ist beeindruckt!) die vier betroffenen Landesregierungen bis zum 31. De- zember zur Abgabe einer Stellungnahme aufzufordern. Herr Kollege Geis, was mir an Ihrer Rede nicht gefal- Ich hoffe, dass dieser Verfassungsverstoß, mit dem wir es len hat, ist, dass Sie erneut zu weit mehr als 90 Prozent hier zu tun haben, in Ordnung gebracht wird. über Repression gesprochen haben. Das entspricht der Po- litik (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich würde es nicht so dramatisieren, Herr Meyer!) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Anfrage! Das ent- spricht der Anfrage!) Zweite Anmerkung. Wir sind ja schon seit einigen Jah- ren einig darüber, dass es eine Novellierung derTele- der früheren Regierung. Auch die Anfrage richtet sich we- fonüberwachung in § 100 a StPO geben sollte, sentlich auf die Thematik Repression. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir warten immer (Norbert Geis [CDU/CSU]: Und die Antwort noch auf Vorschläge!) der Bundesregierung!) zum einen hinsichtlich der Delikte, deretwegen über- Es ist schon so – das unterstütze ich mit großem Nach- wacht werden kann, zum anderen hinsichtlich der Kon- druck –, dass die neue Bundesregierung einen behutsa- trolle. Leider hat der Bundesrat die mehrfach angekün- men Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Es soll nämlich digte Vorlage nicht geliefert. neben der notwendigen Repression zunehmend auch Prävention zur Verhinderung von Straftaten versucht (Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber die Bundes- werden. regierung auch nicht!) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben wir Deshalb, finde ich – da sind wir wahrscheinlich über- doch! Aber Herr Meyer! Das war immer ein An- einstimmender Auffassung –, ist jetzt die Bundesregie- satz!) rung am Zug. Denn inzwischen gibt es Staatsanwalt- schaften, die sehr viel mit typischen Delikten der Ich weise Sie auf ein kleines Beispiel hin, nämlich dass organisierten Kriminalität zu tun haben, nämlich Beste- seit dem Regierungswechsel das Forum für Kriminal- chung und Bestechlichkeit. Beide Tatbestände sind in prävention § 100 a StPO nicht aufgeführt. Das führt in der Praxis nach (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch erst meiner Information dazu, dass man sagt: Dann müssen (B) eingerichtet worden!) wir eben eine technische Wohnraumüberwachung durch- (D) gemeinsam von Innen- und Justizressort, gemeinsam von führen; denn eine derartige Maßnahme ist auch wegen Bund und Ländern und gemeinsam mit unabhängigenBestechung und Bestechlichkeit möglich. Wissenschaftlern und Initiativen engagiert aufgebaut Ich halte das für nicht vertretbar, weil wir in der Ver- wird. Ich finde, das ist ein wichtiges Signal, dass wir es fassung festgelegt haben, dass die Wohnraumüberwa- mit der Prävention sehr ernst nehmen. chung nur Ultima Ratio ist, also im äußersten Fall als letz- Weil dies in der bisherigen Debatte noch keine Rolle tes Mittel durchgeführt werden darf. Diese Praxis des spielte, will ich das Thema ansprechen, das Sie nur ge- Ausweichens auf § 100 c müssen wir ändern und deshalb streift haben, das uns aber in den vergangenen Jahren sehr eine Reform des § 100 a StPO durchführen. beschäftigt hat, nämlich organisierte Kriminalität. Jetzt möchte ich als dritten Punkt auf das eingehen, was Ich möchte dazu drei Anmerkungen machen. mir im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität am wichtigsten ist. Ich fordere in aller Freundlichkeit die Erste Anmerkung. Herr Innenminister, Sie werden sich Bundesregierung auf, genau erinnern, wie sorgfältig wir Art. 13 des Grundge- setztes, der eine bessereKontrolle der technischen (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wollen wir Wohnraumüberwachung ermöglichen sollte, formuliert hoffen!) haben. Ich freue mich, dass das Gremium zur Kontrolle sich mit dem Vorschlag auseinander zu setzen, der ein Vor- der technischen Wohnraumüberwachung im Bundestag in schlag der SPD-Rechtspolitiker ist, nämlich dieschwere dieser Woche erneut getagt hat. Ich meine, wir sind hier Steuerhinterziehung als Vortat in den Geldwäschetatbe- auf einem guten Weg. stand, § 261 StGB, aufzunehmen. Schwere Steuerhinter- Erstaunlich war für uns alle fraktionsübergreifend in ziehung ist in der Abgabenordnung definiert. Da geht es diesem Gremium aber, dass wir in der Mitteilung der Bun- um Steuerhinterziehung in großem Ausmaß, also in Mil- desregierung, die allgemein zugänglich ist, nämlich in der lionenhöhe, oder auch um Steuerhinterziehung unter Ver- Drucksache 14/3998, Anlage 3, lesen mussten: „Baden- wendung nachgemachter oder verfälschter Belege. Württemberg, Berlin, Sachsen und Thüringen haben mit- Ich erinnere an die Debatte im Fall Kanther zum Stich- geteilt, das Landesparlament werde nicht unterrichtet.“ wort „jüdische Vermächtnisse“. Das ist nach meiner Auffassung ein klarer Verfassungs- verstoß; denn wir haben gemeinsam in Art. 13 des Grund- (Norbert Greis [CDU/CSU]: Machen Sie doch gesetzes im Anschluss an die vorgesehene Einrichtung selber einen Gesetzesvorschlag!) 12550 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (A) Mein Vorschlag zum Thema schwere Steuerhinterziehung und im Rahmen von Rauschgiftdelikten gibt es erschre- (C) ist vor drei Jahren von Herrn Innenminister Kanther ab- ckende Zuwachsraten. Eine Antwort auf die Frage, wie gelehnt worden. dieser veränderten Situation begegnet werden kann, hat die Bundesregierung nicht gegeben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er wusste, warum!) Anhand des Besorgnis erregenden Beispiels der Kin- der- und Jugendkriminalität möchte ich zunächst die In- Dies muss jetzt in Ordnung gebracht werden. effizienz rot-grüner Kriminalpolitik verdeutlichen. Nach (Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum hat es die der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 1999 ist Bundesregierung bis jetzt nicht gemacht? ein Drittel aller Tatverdächtigen – ich betone: über 30 Pro- Machen Sie doch selber einen Vorschlag!) zent – jünger als 21 Jahre. Mit den herkömmlichen Me- thoden ist diese Entwicklung nach meiner festen Über- – Ich habe dazu einen Vorschlag vorgelegt, der zurzeit von zeugung nicht in den Griff zu bekommen. Doch was tut der Bundesregierung geprüft wird. die Bundesregierung? Nichts! Die Bedenken der (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das können Sie CDU/CSU-Bundestagsfraktion hinsichtlich der von der doch als Fraktion machen!) gesetzlichen Regelung abweichenden Anwendung des Organisierte Kriminalität ist aufGeldwäsche ange- § 105 des Jugendgerichtsgesetzes durch die Justiz werden wiesen. Welcher Kriminelle wird denn seinen Millionen- von der Bundesregierung ignoriert. gewinn steuerlich deklarieren, was er wegen der Wert- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] neutralität des Steuerrechtes eigentlich tun müsste? Er [CDU/CSU]: Hört! Hört!) würde sich dann ja den Ermittlungsbehörden geradezu Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion einge- ausliefern. Es gibt also keine organisierte Kriminalität brachte Gesetzentwurf zur Verbesserung der gesetzlichen ohne schwere Steuerhinterziehung, wenn auch nicht jede Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz schwere Steuerhinterziehung organisierte Kriminalität ist. könnte bestehende Unklarheiten beseitigen. Durch die in (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir kennen beide dem Entwurf beabsichtigte Änderung des § 105 des Ju- die Diskussion und wissen, wie schwierig das gendgerichtsgesetzes könnte die Regel-Ausnahme-An- zu machen ist!) wendung wieder hergestellt werden. Deshalb sage ich, Herr Kollege Geis: Es ist eine Frage Heutzutage wird der Heranwachsende im Alter zwi- der Gerechtigkeit, dass wir sowohl die bekannte Eigen- schen 18 und 21 Jahren entgegen dem Regelungsziel des tums- und Vermögenskriminalität mit einem jährlichen § 105 des Jugendgerichtsgesetzes in den allermeisten Fäl- (B) Schaden im einstelligen Milliardenbereich zum Gegen- len nach dem Jugendstrafrecht verurteilt, obwohl die(D) stand von Strafverfahren und gegebenenfalls von Geld- gesetzliche Regelung die Verurteilung nach dem Erwach- wäscheverfahren machen – für sich genommen ist das in senenstrafrecht als Regelfall vorsieht. Diese Entwicklung Ordnung – als auch die Schäden durch Steuerhinterzie- hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion für völlig inak- hung und schwere Steuerhinterziehung in dreifacher Mil- zeptabel. liardenhöhe mit aller Energie, also auch mit Geldwäsche- (Beifall bei der CDU/CSU) verfahren, bekämpfen. Meine Überzeugung ist im Übrigen, dass sich seriöse Kreditinstitute nicht dafür her- Die Anwendung des Jugendstrafrechts auf heranwach- geben dürfen, die durch schwere Steuerhinterziehung er- sende Schwer- und Schwerstkriminelle führt zu himmel- gaunerten Gelder auch noch zu waschen. schreiendem Unrecht und schädigt den Ruf der Justiz. Schönen Dank. Ich will jetzt auf das eingehen, was Herr Westerwelle gesagt hat. Herr Westerwelle hat einen Punkt genannt, den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ich unterstütze. Er hat dabei aber nach meiner Überzeu- DIE GRÜNEN) gung einen ganz wesentlichen Teil nicht angesprochen. Er hat richtigerweise gesagt, dass Heranwachsende, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat also die 18- bis 21-Jährigen, die das erste Mal straffällig jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla. werden oder bei denen es sich um eine jugendspezifische Tat handelt, mit der Nachsicht, die das Jugendstrafrecht Ronald Pofalla (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe zulässt, verurteilt werden sollen. Hierbei werden Sie die Kolleginnen und Kollegen! Was tut die Bundesregierung totale Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Sachen Verbrechensbekämpfung? Diese Frage beschäf- finden. tigt die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ganz Zu dem Teil, den Sie nicht angesprochen haben. Ich besonders. Die Antwort lautet kurz und bündig: nichts selber habe in Dutzenden von Verfahren, bei denen es Besonderes. Noch immer setzt die Bundesregierung auf eine entsprechende anwaltliche Vertretung gab, erlebt, dieselben alten Hausmittelchen, obwohl sich das Krank- dass bei schwerstkriminellen Wiederholungstätern im heitsbild verändert hat. Heranwachsendenalter die Anwendung des Jugendstraf- Die Kriminalität in Deutschland ist zwar insgesamt rechts in der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle rückläufig. Doch gerade im Bereich der Kinder- und Ju- trotz des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des § 105 JGG – gendkriminalität sowie vor allem bei Gewaltdelikten entgegen jeglicher Vernunft – zum Regelfall und die des Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12551

Ronald Pofalla (A) Erwachsenenstrafrechts zur Ausnahme wurde. Diese Ent- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Kollege – in (C) wicklung, die auch von Praktikern bestätigt wird, muss diesem Falle trifft das ja sowohl auf unsere Tätigkeit als gestoppt werden. Abgeordnete als auch auf die als Anwälte zu –, ich möchte bei dem nachhaken, was Sie zum Veränderungsbedarf bei (Beifall bei der CDU/CSU) der Anwendung des Heranwachsendenstrafrechtes gesagt haben. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie bei Mehr- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Herr Kollege, fachtätern öfter das Erwachsenenstrafrecht angewendet gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? sehen möchten? – Ich entnehme Ihrem Nicken, dass ich Sie richtig verstanden habe. Ronald Pofalla (CDU/CSU): Bitte. Ich bitte Sie, hierbei Folgendes zu bedenken: Erstens. Über die Zunahme der Jugendkriminalität brau- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen wir uns hier nicht zu streiten. Aber die Verantwor- NEN): Herr Kollege, Sie haben zutreffend darauf hinge- tungsreife eines Täters – darum geht es ja hier – kann nicht wiesen, dass sich aus der Antwort der Bundesregierung per Gesetz definiert werden, sondern sie wird von einem ergibt, dass die Kinder- und Jugendlichendelinquenz, vor Richter festgestellt, der sich vor Ort ein Bild darüber allen Dingen bei deutschen Kindern und Jugendlichen, macht. Es kann doch nur ein Richter entscheiden, wie weit sehr hoch ist. Sie haben aber nicht erwähnt, dass im Jahr die Persönlichkeit eines jungen Menschen entwickelt ist 1999 – nach einer Antwort der Bundesregierung – die und ob man ihn nach dem Jugendstrafrecht oder nach dem Zahlen straffälliger deutscher Kinder um 1,9 ProzentErwachsenenstrafrecht behandeln muss. zurückgegangen und auch die für jugendliche Straftäter rückläufig sind. Dagegen sind in den Jahren 1993 bis Zweitens. Teilen Sie nicht auch die Meinung, dass 1997 Zuwachsraten festzustellen, die teilweise im zwei- die Frage, ob jemand die nötige Verantwortungsreife be- stelligen Bereich liegen. Wenn ich mich recht erinnere, sitzt, nichts damit zu tun hat, ob jemand Mehrfachtäter gab es damals eine Bundesregierung, die von anderenoder Erst-täter ist? Hierbei geht es ausschließlich um die Fraktionen getragen wurde als das heute der Fall ist. Ich Persönlichkeitsentwicklung. Man erlebt sogar oftmals, möchte mir gerne Ihr Konzept anhören, das Sie damals dass gerade Mehrfachtäter eine geringere Verantwor- umgesetzt oder auch nur vorgeschlagen haben. tungsreife haben und weniger weit entwickelt sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Frage, oder was?) Ronald Pofalla (CDU/CSU): Ich will Ihre Frage be- antworten, indem ich von einem Fall berichte, mit dem ich Unter der neuen Bundesregierung – ich will nicht sa- es als Anwalt selber zu tun hatte. Zu mir kam ein Heran- (B) gen, dass das ihr Verdienst ist – sind die Zahlen rückläu- (D) wachsender, über 18 Jahre alt, der selber ein Unternehmen fig. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen – oder mit drei Mitarbeitern hatte. Es ging damals um den Vor- nicht? wurf, dass er eine Straftat mittlerer Schwere begangen habe. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn darüber in- Ronald Pofalla (CDU/CSU): Herr Ströbele, wenn Sie formiert, dass ich aufgrund des Eindrucks, den ich von es beruhigend finden, dass wir in dem Berichtszeitraum ihm hätte, keinen Antrag nach § 105 JGG stellen würde. von 1993 bis 1999 im Bereich der Kinder- und Jugend- Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm, wenn er sich auf die- kriminalität einen Anstieg von über 140 Prozent und im sen Paragraphen berufen wollte, empfehlen würde, zu letzten Jahr einen geringfügigen Rückgang hatten, dann einem Anwaltskollegen zu gehen, da ich aufgrund des muss ich sagen, dass mich das nicht beruhigt. Eindrucks, den ich von ihm gewonnen hätte, diesen Ich will Ihnen eine zweite Zahl nennen: DieKrimi- Antrag nicht stellen würde. Im Rahmen der sich dann nalstatistik des Jahres 1999 – wenn ich es richtig sehe, anschließenden Gerichtsverhandlung erhielt ich mit dem haben doch die Vertreter der Bundesregierung ihre Ämter Hinweis auf das Anwaltshaftungsrecht die gerichtliche in diesem Jahr über volle 365 Tage ausgeübt – weist aus, Belehrung, doch den Antrag nach § 105 JGG zu stellen. dass über ein Drittel aller Tatverdächtigen in Deutschland (Zuruf von der SPD: Das wird automatisch ge- jünger als 21 Jahre ist. Das muss uns doch alle gemeinsam macht!) beunruhigen. Ansonsten verstehe ich die Debatten, die wir hier führen, nicht mehr. So sieht die Realität aus; das erleben wir in unseren Ge- richten. (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Jede Straftat beunruhigt uns! Das kön- Nach der Regelung des § 105 JGG ist es natürlich rich- nen Sie doch nicht politisch drehen!) tig, wie Sie formuliert haben, dass die Verantwortungs- reife überprüft werden muss. Nur in der Realität prakti- – Auf die Position der Grünen werde ich gleich noch näher zieren unsere Gerichte – natürlich nach einer formalen eingehen. Prüfung – im Grunde genommen per se und kursorisch die Anwendung von § 105 JGG. Die Praxis der Gerichte, so Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie wie sie heute praktiziert wird, halten wir für falsch. auch eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Gestatten Sie Ronald Pofalla (CDU/CSU): Ja, gerne. eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? 12552 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Ronald Pofalla (CDU/CSU): Bitte. Tatsache ist: Der Bürger fühlt sich sicherer, wenn be- (C) stimmte Orte durch Videokameras überwacht werden. Straftäter werden abgeschreckt, Objekte können mit ge- (F.D.P.): Da ich glaube, dass Dr. Guido Westerwelle ringerem Aufwand als üblich bewacht werden und im sich diese Debatte lohnt und wir uns noch lange mit die- Falle der Rauschgiftkriminalität kann durch Videoüber- sem Thema beschäftigen werden, erlaube ich mir, noch wachung die Schaffung von Treffpunkten und Fixerplät- einmal nachzufragen. Wir wissen ja auch, dass entspre- zen verhindert werden. Ein klares Ja der Bundesregierung chende Initiativen vorbereitet werden. zu einer Verstärkung dieser Art der Kriminalitätspräven- Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass ein Richter, tion und -aufklärung wäre auch ein Zeichen für die Ver- der, nachdem er im Gerichtssaal Ihren Mandanten kennen antwortlichen in den Bundesländern. Doch auch hier wi- gelernt hat, zu einer anderen Einschätzung bezüglich der dersetzt sich Rot-Grün jeder vernünftigen, zeitgemäßen Verantwortungsreife des Angeklagten als Sie selbst ge- Lösung. Die Bundesregierung hat es im Rahmen der Be- kommen ist, gezwungen ist, Ihnen einen solchen Hinweis antwortung unserer Anfrage versäumt, ein klares und of- zu geben? fenes Bekenntnis zur Möglichkeit der Prävention abzule- gen. Ronald Pofalla (CDU/CSU): Nein. Zumindest in die- (Beifall bei der CDU/CSU) sem Fall wäre der Richter nicht gezwungen gewesen, ei- Ein letztes Beispiel für die Untätigkeit der Bundesre- nen solchen Hinweis zu geben. Um es noch einmal zu sa- gierung und der sie tragenden Regierungskoalition ist die gen: In den Schriftsätzen wurde der § 105 JGG – das ist Weigerung, wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des das Absurde – offen angesprochen. Es ist darauf auf- Graffiti-Unwesens einer gesetzlichen Regelung zuzu- merksam gemacht worden, dass weder der Mandant noch führen. Ideologisches Scheuklappendenken hat einen Ge- der Anwalt § 105 JGG anwenden will, weil es – um es setzentwurf der Union scheitern lassen, der eine Neure- deutlich zu sagen – ein völlig eindeutiger Fall war. Den- gelung der §§ 303 und 304 StGB vorsah und der Klarheit noch ergeht der richterliche Hinweis. – Das ist unsere Ge- zu dem Thema Graffiti geschaffen hätte. Sie, meine Da- richtspraxis. Wir beanstanden sie und wir halten sie für men und Herren von der Sozialdemokratie, haben sich auf veränderungsbedürftig. Druck der Grünen dazu bringen lassen, eine solche Ge- Herr Westerwelle, ich verstehe Ihre Einlassung auch setzesinitiative abzulehnen. so, dass Sie sehr wohl bereit sind, auch über diese Praxis Kriminalität fängt im Kleinen an, und zwar versteckt. des § 105 JGG zu reden. Das sollten wir im Rahmen der Wenn wir an dieser Stelle nicht genau hinsehen und zu Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundestagsfrak- klaren gesetzlichen Regelungen kommen, dann dürfen tion von CDU und CSU, der in erster Lesung bereits be- (B) Sie sich nicht darüber wundern, dass gerade im Bereich (D) raten worden ist, gemeinsam besprechen. von Kindern und Jugendlichen der Kriminalitätszuwachs (Beifall bei der CDU/CSU) so ist, wie er ist. Sie hätten einer Gesetzesinitiative der Unionsfraktion zustimmen können. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ha- ben sich im Rahmen der ersten Lesung unseres Gesetz- (Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie hatten doch entwurfs im Grunde genommen eher ablehnend zu einer die hohen Zuwachsraten!) Veränderung des § 105 JGG geäußert. Die Bestrafung Diesen entscheidenden Schritt haben Sie nicht getan. nach Jugendstrafrecht erzeugt bei einem schwerkrimi- Dafür tragen Sie die Verantwortung. Wir werden Sie im- nellen 18-, 19- oder 20-Jährigen doch nur Heiterkeit und mer wieder daran erinnern. Verachtung gegenüber der Justiz. Über entsprechende Fälle ist auch in der Öffentlichkeit an verschiedenen Stel- Herzlichen Dank. len berichtet worden. Ich würde mich freuen, wenn die Koalitionsfraktionen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat im Rahmen der Beratungen über den Gesetzentwurf der jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele. Unionsfraktion – Herr Professor Meyer, dies könnte im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Neuord- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nung des strafrechtlichen Sanktionensystems geschehen – NEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol- diese Frage einbeziehen. Wir sollten über – zumindest legen! Ich finde die Diskussion äußerst wichtig und fort- graduelle – Veränderungen in der gesetzlichen Formulie- führenswert. Deshalb möchte ich dort anschließen, wo rung des § 105 JGG sprechen. Sie, Herr Pofalla, aufgehört haben, und von dem abwei- Ein weiteres Beispiel macht deutlich, dass ein Krimi- chen, was ich eigentlich sagen wollte. nalitätsbekämpfungskonzept der Bundesregierung über- (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto haupt nicht existiert. So wird in der Antwort der Bundes- Solms) regierung auf die Große Anfrage unserer Fraktion die Videoüberwachung gefährdeter Plätze eher abgelehnt. Das Problem des § 105 JGG verkennen Sie meiner An- In der Antwort ist etwas diffus von „Länderzuständigkeit“ sicht nach aus folgendem Grund: Selbst wenn es richtig und „Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ die Rede, was ju- wäre, dass die Gerichte in der Bundesrepublik Deutsch- ristisch zwar durchaus einleuchten mag, den Kern des land – in Berlin, überall – heutzutage Heranwachsende zu Problems jedoch nicht trifft. häufig als Jugendliche behandeln, so unterstellt dies doch, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12553

Hans-Christian Ströbele (A) dass sie damit günstiger behandelt werden, dass sie damit gendelikte – ich komme nachher noch einmal darauf zu (C) besser wegkommen. Die Richter machen das aus ganz an- sprechen – wird häufig die Erfahrung gemacht, dass viele derem Grunde. Ich kenne genügend Beispiele, bei denen in die Städte gegangen sind bzw. gehen, weil es auf dem die Strafen, die verhängt worden sind, wesentlich gravie- Dorfe schwieriger ist – jedenfalls schwieriger war –, an il- render waren, als sie es gewesen wären, wenn die Heran- legale Drogen zu kommen. Dort werden sie dann erwischt wachsenden nach dem Erwachsenenstrafrecht behan- oder auch straffällig, wenn sie Beschaffungskriminalität delt worden wären. Die Richter machen das heutebetreiben. deshalb – dies nehmen jetzt auch Gesetzesinitiativen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen auf –, weil Das heißt, es hat etwas damit zu tun, dass die soziale sie damit viel flexibler auf Lebenstatbestände und auf die Kontrolle in den ländlichen Bereichen, in den kleineren, Verwirklichung von Straftatbeständen reagieren können. überschaubaren Regionen größer ist und dass die Metro- Das Jugendstrafrecht gibt diesbezüglich sehr viel bes- polen Kinder und Jugendliche und Heranwachsende sere, sehr viel modernere Möglichkeiten an die Hand.anziehen. Deshalb ist auch – da gebe ich Ihnen Recht – in dieser (Norbert Geis [CDU/CSU]: Es gibt in den süd- Hinsicht eine gewisse Tendenz zu spüren. Ich halte dies deutschen Ländern auch Großstädte!) für richtig und wichtig, solange das Erwachsenenstraf- recht noch so aussieht, wie es jetzt aussieht, und nicht geändert wird, so wie wir es vorhaben. Vizepräsident Dr. : Herr Kol- lege Ströbele, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Beck? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- lege Ströbele, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol- legen Geis? Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ja. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ja. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte sehr, Herr Beck. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte sehr, Herr Geis. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Ströbele, stimmen Sie mir darin zu, dass der (B) Norbert Geis (CDU/CSU): Können Sie mir dann er- Befund, auf den Herr Geis gerade hingewiesen hat, gar(D) klären, weshalb gerade in den nördlichen Bundesländern nicht den in der Antwort veröffentlichten statistischen und in den Stadtstaaten das Jugendstrafrecht viel häufiger Auswertungen des Bundesinnenministeriums entspricht, angewendet wird als im südlichen Bereich, und sehen Sie weil zum Beispiel im Jahre 1999 in der – nördlichen – so wie ich einen Zusammenhang mit der weit geringeren Freien und Hansestadt Hamburg ein Rückgang der Jugendkriminalität in den südlichen Bundesländern im Straftaten bei deutschen Heranwachsenden von 19,6 Pro- Vergleich zu den nördlichen Bundesländern? zent zu verzeichnen war, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist nicht zu Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- glauben) NEN): Herr Kollege Geis, den sehe ich nicht. Es gibt während Baden-Württemberg und Bayern Steigerungsra- natürlich Unterschiede in der Kriminalitätshäufigkeit und ten von mehr als 3 Prozent bzw. mehr als 5 Prozent auf- in der Straffälligkeit gerade von Kindern und Jugendli- chen aus Großstädten – oder gar Weltstädten – und aus wiesen, was auch gegenüber den nördlichen Bundeslän- kleineren Orten, und zwar nicht, weil die Menschen in den dern eher im oberen Bereich liegt, und dass wir vielleicht kleineren Orten besser sind als in den Großstädten, son- diese Debatte um Nord und Süd abbrechen sollten, weil dern weil die soziale Kontrolle in kleineren Gemein-dies statistisch keine Bestätigung findet, schaften – auf dem Dorf, auf dem Land, in kleineren Städ- (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Sie haben doch ten – sehr viel größer ist als in Großstädten. Außerdem damit angefangen!) gibt es – das dürfen wir auch nicht übersehen – in den grö- ßeren Städten, beispielsweise in Berlin oder in Hamburg, sodass wir versuchen könnten, über die Sache zu reden und vielleicht näher zu erläutern, dass das Jugendstraf- (Norbert Geis [CDU/CSU]: München ist auch recht gerade durch die Diversifizierung, die auf die indi- eine Großstadt!) viduelle Täterpersönlichkeit eingeht eine ganze Szene gerade von Kindern und Jugendlichen, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie können sich auf die aus den ländlichen Bereichen in die Großstädte kom- die Frage beschränken! Sie brauchen hier keine men, weil sie dort nicht mehr verwurzelt sind, weil sie Erklärung abzugeben!) sich dort nicht so entwickeln konnten, wie sie meinten, sich entwickeln zu müssen. Das ist natürlich eine be-– ich frage ja, ob Herr Ströbele dies auch so sieht –, eine stimmte Auswahl und das erklärt, warum die Kriminalität Resozialisierung in dieser Phase des Lebens leichter er- anders zusammengesetzt ist. Gerade im Hinblick auf Dro- möglicht? 12554 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Kollege Die Bundesregierung hat völlig zutreffend darauf hin- (C) Ströbele, bevor Sie antworten, darf ich darauf hinweisen, gewiesen, was die Gründe sein können. Die genauen dass die Fragen ausweislich der Geschäftsordnung kurz Gründe kennen wir alle nicht, auch nicht Herr Professor und präzise gestellt werden sollen; Pfeiffer. Vielmehr können wir nur vermuten, dass die un- terschiedlichen Fallzahlen unter anderem damit zusam- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann der menhängen, dass in Bayern oder Baden-Württemberg Beck nicht!) eine größere Zurückhaltung bei der Anzeige von Strafta- Gleiches gilt für die Antworten. ten besteht – aus welchen Gründen auch immer: weil man meint, man regelt das anders; weil man meint, man regelt das auf dem Zivilrechtsweg oder weil man meint, das re- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gelt man so in der Dorfgemeinschaft oder Kleinstadt. Je- NEN): Herr Kollege Beck, ich gebe Ihnen Recht, dass die denfalls gibt es genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Vertreter der CDU/CSU-Fraktion nicht nur die Antwort unterschiedlichen Fallzahlen auf solche Phänomene der Bundesregierung ganz offensichtlich in vielen Punk- zurückzuführen sind und so erklärt werden können – so ten nicht zu Ende gelesen haben, sondern dass sie auch auch die Antwort der Bundesregierung. versuchen, die Statistik zu parteipolitischer Profilierung zu missbrauchen. Nun darf ich fortfahren. Ich wollte zu drei Punkten noch etwas sagen. Bei den Rauschgiftdelikten haben Sie (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ bereits darauf hingewiesen, dass das, was wir hier an Zah- CSU]: Das haben Sie noch nie gemacht! Gut, dass len haben, nur ein ganz kleiner Bodensatz ist. Denn Sie so ein anständiger Kerl sind!) Rauschgiftdelikte werden ja in der Regel nicht ange- Sie können mit diesen Zahlen alles beweisen. Es ist zeigt. Nur wenige regen sich darüber auf und zeigen sie zwar richtig, was Sie gesagt haben, aber Sie können ge- an – hier im Deutschen Bundestag soll das ja anders sein. nauso belegen, dass die Aufklärungsrate etwa in Sachsen- Diese Zahlen – deshalb auch die hohen Aufklärungsquo- Anhalt oder in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten ten – werden eigentlich nur aus den Fällen gespeist, wo Jahren, seit 1993, um 15 Prozent, 18 Prozent oder 22 Pro- tatsächlich strafrechtliche Ermittlungsverfahren durchge- zent gestiegen ist und dass die Zahlen in den letzten zwei führt werden, die dann zu dem einen oder anderen Ergeb- Jahren – also in der Zeit der SPD/PDS-Regierung in Sach- nis führen. sen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern – sogar we- Für mich ist entscheidend, dass die Bundesregierung sentlich besser sind als die in Baden-Württemberg; da ha- festgestellt hat, dass sich die Bundesrepublik Deutschland ben wir eine Steigerungsrate von 3 bzw. 4 Prozent. Also, im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten im un- (B) lassen wir das doch bitte! Wir wissen alle, dass man mit teren Mittelfeld befindet. Und auch im Vergleich zu den (D) solchen Statistiken alles und nichts beweisen kann. So et- USA weisen wir in diesem Bereich eine deutlich günsti- was bringt nichts, sondern es lenkt vom eigentlichen Pro- gere Kriminalitätsrate auf. Alle Konzepte, die uns immer blem ab. wieder aus New York, aus Chicago oder anderen Städten zur Nachahmung angeboten werden, haben dort nicht Die wichtigen Probleme sind ja angesprochen worden. dazu geführt, dass ein exorbitanter Abfall dieser Rate fest- Ich möchte zu drei Punkten Stellung nehmen. zustellen ist. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland liegt relativ gut. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Lassen Sie mich einen Gedanken zur Frage hinzufü- lege Ströbele, erlauben Sie eine dritte Zwischenfrage,gen, was man gegen den „abuse“, also den Gebrauch von eine des Kollegen Geis? – Das ist aber die letzte Zwi- illegalen Drogen, tun soll. Bei dieser Frage kann man nur schenfrage, die ich zulasse. Bitte schön. dann zu richtigen Antworten kommen, wenn man endlich einmal zur Kenntnis nimmt, dass für Millionen von Bun- Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Ströbele, können Sie desbürgern – vor allen Dingen für Kinder, Jugendliche mir den Unterschied zwischen Prozentzahlen und Häu- und Heranwachsende – überhaupt nicht nachvollziehbar figkeitszahlen nennen? Stimmen Sie mir zu, dass sich aus ist, dass es auf der einen Seite legale Drogen gibt, mit de- der Antwort der Bundesregierung ergibt, dass die Häufig- nen man sich sein ganzes Leben, seine Gesundheit, seine keitszahlen in den nördlichen Bundesländern weit höher Familie, seine Umgebung, seinen Beruf und alles zer- sind als die in den südlichen Bundesländern? Stimmen Sie stören und für die Gesellschaft unendlichen Schaden an- mir auch zu, dass diese Feststellungen so nicht nur von der richten darf, während es auf der anderen Seite Drogen gibt Bundesregierung, sondern auch von dem kriminologi- wie zum Beispiel Haschisch, Hanf oder Marihuana, deren schen Institut in Hannover, von Herr Professor Pfeiffer, Gebrauch in einer Weise verfolgt wird, die überhaupt getroffen worden sind? nicht nachvollziehbar ist. All das, was sich im Illegalen und Unkontrollierten ab- spielt, führt vermehrt zu Straftaten. Das bedeutet: Solange Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Geis. Die wir diese Gerechtigkeitslücke nicht erkennen und etwas Zahlen kannten Sie vorher. Deshalb haben Sie sie ja auch dagegen tun, kommen wir auf diesem Feld nicht weiter. abgefragt, um Ihre Rede vorbereiten zu können. Aber Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben auch hier nicht weiter gelesen. sowie der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD]) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12555

Hans-Christian Ströbele (A) Sie haben auf die Kinder- und Jugendkriminalität der Gerichte zurückgegangen, sie ist vielmehr dadurch(C) hingewiesen. Für mich ist an der Antwort der Bundesre- zurückgegangen, dass man im Vorfeld bei den Fahrzeu- gierung das Wichtigste die Erkenntnis – in diesem Fall ist gen, vor allem den Luxuslimousinen, Nummern einge- die Statistik so eindeutig, dass es daran nichts zu kritteln brannt hat, die nicht mehr zu entfernen sind. Das hatte zur gibt –, dass all das, was durch Zeitungsberichte, durch Folge, dass die Anzahl der in Berlin gestohlenen und da- Medien allgemein und durch Wahlkampfslogans immer nach verschobenen Autos exorbitant zurückgegangen ist, wieder versucht wird, der Bevölkerung einzuimpfen,weil sie nicht mehr oder nur schwer zu verkaufen sind. nicht wahr ist: Es gibt keine erhöhte Kriminalität bei Kin- dern, Jugendlichen und Heranwachsenden nicht deut- Das bedeutet: Man muss durch alle, auch technische scher Herkunft. Wir stellen für diese Gruppe vielmehr Maßnahmen, dafür sorgen, dass Kriminalität erschwert eine vergleichsweise geringere Steigerung fest – sie liegt wird. Das fängt im Kaufhaus an und hört bei der Luxusli- bei 20 bis 30 Prozent, bei Heranwachsenden sind die Zah- mousine auf. len sogar fallend –; im Gegensatz dazu gibt es in den letz- ten Jahren bei deutschen Kindern, Jugendlichen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Heranwachsenden eine Steigerung bis zu 163 Prozent. lege Ströbele, kommen Sie bitte zum Schluss! Die Realität steht somit in krassem Gegensatz zu all dem, was immer wieder behauptet wird, nämlich dass die Bür- gerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden vor Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dieser drohenden Form der Kriminalität Angst habenNEN): Ich komme zum letzten Satz: Sie haben die Geld- müssten. Das ist einfach nicht richtig und das sollte man wäsche angesprochen. Die Verabschiedung des Gesetzes an dieser Stelle deutlich betonen, weil Fehlvorstellungen zur Bekämpfung der Geldwäsche, das vorschreibt, dass auf diesem Feld auch eine Grundlage für Rassismus und die Einzahlung von Summen über 20 000 DM von den Fremdenhass sein können. Wir müssen uns einer solchen Banken Entwicklung entgegenstemmen, indem wir die wahren (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Verhältnisse darstellen. CSU]: Nicht 20 000 DM, sondern 25 000 DM!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- genauso gemeldet werden muss wie der Name des Ein- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) zahlers, war gut und richtig. Der Bürgermeister von Pa- Nun die Frage nach den Konzepten: Was macht man? lermo hat einmal gesagt: Am besten bekämpft man die or- Keiner freut sich über steigende Kriminalität, sei es Ju- ganisierte Kriminalität dadurch, dass man rechtliche gendkriminalität, sei es Kriminalität von Erwachsenen. Möglichkeiten zur Einsicht in Konten und zu deren Be- Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Es ist nicht das Mit- schlagnahmung schafft, nicht durch die Vielzahl der an- (B) tel der Repression: Es gibt unendlich viele Untersuchun- deren Maßnahmen, auch nicht durch die Kronzeugenre- (D) gen darüber – auch im Bundestag wurde immer wieder gelung. über dieses Thema diskutiert –, dass Repression, dass schärfere Gesetze, ein Ausschöpfen des Strafrahmens, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Es gibt die was auch in Ihrer Anfrage angesprochen wurde, oder Kronzeugenregelung in Italien!) mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte nicht weiter- Hier müssen wir weitermachen. Vor allem muss in Zu- führten. Die entscheidenden Mittel sind Resozialisierung kunft sichergestellt werden, dass derartige Meldungen und Prävention. Resozialisierung muss bedeuten, dass von Einzahlern und Summen tatsächlich erfolgen. Wenn jede Mark, die wir in ein Resozialisierungsprogrammder Kriminalpolizei gemeldet worden wäre, dass ein stecken, durch das wir auch nur einen Jugendlichen oder CDU-Schatzmeister oder ein CDU-Steuerberater – Heranwachsenden davon abhalten, in Zukunft Straftaten zu begehen, nicht nur für den betroffenen Jugendlichen oder Heranwachsenden hervorragend angelegt ist, son- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- dern auch für die Gesellschaft weniger Gefahren bringt lege Ströbele, das ist bereits Ihr drittletzter Satz. und letztlich bedeutend billiger ist, als den straffälligen Jugendlichen oder Heranwachsenden mit einem Kosten- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufwand von täglich 200 bis 250 Mark ins Gefängnis zu NEN): – 100 000 DM oder 1 Million DM in bar auf der stecken. Bank eingezahlt hat, dann hätten wir uns und der Bun- Zudem gibt es unendlich viele Möglichkeiten derdesrepublik Deutschland viel ersparen können. Prävention; es wurden heute bereits eine Reihe von Mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teln genannt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch und bei der SPD) auf technische Mittel der Prävention aufmerksam ma- chen. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bei der Aus- stattung der Ermittlungsbehörden, das heißt der Polizei, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als der Staatsanwaltschaften sowie der Gerichte, mit PCs, nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Graf Faxgeräten – es gibt zum Beispiel bei der großen Justiz- von der SPD-Fraktion. verwaltung in Moabit nur ein Faxgerät – ungeheure Defi- zite zu verzeichnen haben. Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Präsident! Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: In Berlin gab es Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die juristi- eine hohe Zahl an Autodiebstählen. Diese große Zahl an sche Debatte, die in der letzten halben Stunde geführt Autodiebstählen ist nicht etwa durch drakonische Strafen worden ist, so nicht fortsetzen. Ich bin kein Jurist. Ich bin 12556 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Günter Graf (Friesoythe) (A) in erster Linie Bürger dieses Landes. Ich war ehemals Po- stellt worden, dass die Bundesregierung eine Menge für (C) lizeibeamter und bin nun Mitglied des Deutschen Bun- diejenigen, die mit der Bewahrung von Recht und Ord- destages. Ich sehe meine Aufgabe darin, deutlich zu ma- nung betraut sind – ich meine die Beamten des Bundes- chen, worum es eigentlich geht. Deswegen möchte ich grenzschutzes, die in Grenzbereichen und an den Bahn- mich nicht in Detailfragen, die juristischer Natur sind, höfen eingesetzt werden –, getan hat und damit auch verlieren; vielmehr möchte ich auf einige allgemeineanerkannt hat, dass diese Großartiges geleistet haben. Dinge eingehen. Wir alle erinnern uns an die letzten beiden spekta- Vorweg möchte ich Ihnen, Herr Westerwelle, für Ihre kulären Fälle, an den Fall Schmökel und an das so ge- Eingangsbemerkung danken. Es hilft uns überhaupt nicht nannte Balkonmonster, einen Sexualstraftäter, der die Be- weiter, wenn hier, wie Sie es, Herr Geis – leider wider bes- völkerung in Niedersachsen und Hamburg über Wochen seres Wissen –, und zum Teil auch Herr Pofalla getan ha- und Monate in Angst und Schrecken gehalten hatte, weil ben, der Eindruck erweckt wird, als ließe sich die Krimi- er über Balkone in Wohnungen eindrang und reihenweise nalitätsbekämpfung in unserem Lande durch immer neue Frauen vergewaltigte. Diese Täter sind gefasst worden. Gesetze mit immer höheren Strafen verbessern, wie Sie es Ich bin stolz darauf, dass es zwei junge Polizeibeamte, 22 fordern. Wir alle – davon bin ich überzeugt – sind uns über und 23 Jahre alt, aus meinem ehemaligen Dienststellenbe- Folgendes einig: Wenn es einen Mangel in Deutschland reich Hannover-Langenhagen in Niedersachsen waren, gibt, dann sind es Defizite beimStrafvollzug. Zudem die letzteren Täter stellen konnten, weil sie sehr aufmerk- dauert es zu lange, bis Straftäter abgeurteilt werden. Das sam und motiviert waren. Dieser Täter sitzt jetzt hinter ist zwar ein Mangel, aber die Voraussetzungen, um diesen Schloss und Riegel. Ich hoffe, dass er lange dort bleibt. Mangel zu beseitigen, sind vorhanden. Sie müssen nur ge- Das heißt für mich: Wir als Bundesgesetzgeber können nutzt werden. Ich bin froh darüber – das konnten wir in dazu beitragen, die Motivation der Beamten des Bundes- diesem Jahr gerade erst feststellen –, dass es auch Ge- grenzschutzes und des Bundeskriminalamtes zu erhöhen. richte gibt, die schneller handeln und aburteilen. Das hat Dort gibt es Anstrengungen, um verstärkt Verbrechen zu Wirkung. verhindern und Straftaten aufzuklären. Worum geht es uns, wenn wir über Verbrechens- Auf der anderen Seite sind in erster Linie – das sollte bekämpfung reden? Unser Anliegen muss es doch sein, man immer wieder betonen – die Länder gefordert und ist den Bürgern wieder das Gefühl zu geben, in einem Staat es nicht Aufgabe des Bundes, deren Verantwortung zu sicher leben zu können. Sie alle erinnern sich sicherlich übernehmen. Wir haben aus gutem Grund ein föderatives noch an die Diskussionen, die wir in den letzten Jahren System; die Zuständigkeiten sind klar verteilt. Wir haben geführt haben, als Umfragen veröffentlicht wurden, die genügend Gesetze; wir brauchen keine neuen. Wenn es zum Ergebnis hatten, dass etwa 75 bis 80 Prozent der Be- (B) marginal etwas zu verändern gibt, dann muss man keine (D) völkerung befürchteten – es gab allerdings Unterschiede großen Debatten führen, sondern handeln. Mit der Ant- zwischen alten und den neuen Bundesländern –, Opfer ei- wort der Bundesregierung auf die Große Anfrage haben ner Straftat zu werden. Das war beängstigend. wir eine gute Grundlage, in aller Sachlichkeit der Frage Wir haben heute zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die nachzugehen, wo wir in Sachen Verbrechensbekämpfung Zahlen nicht mehr auf einem solch hohen Niveau bewe- etwas verändern können, um ein Stück mehr Sicherheit zu gen. Sie sind rückläufig. Das ist gut so. Sie sind genauso gewährleisten. rückläufig wie die Gesamtzahl der Straftaten. Es ist auch Ich will dem Kollegen Ströbele noch ausdrücklich für gut, dass die Aufklärungsquoten gestiegen sind. Wenn seinen Hinweis bezüglich der Jugendkriminalität dan- man dann wie Sie, Herr Geis, versucht, Vergleiche zwi- ken, insbesondere was die ausländischen Jugendlichen schen den süddeutschen und den norddeutschen Ländern angeht. Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus einer anzustellen, Gegend, in der man mit diesem Phänomen viel zu tun hat. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das bietet Die getroffene Feststellung kann ich nur mit Nachdruck sich ja an!) unterstreichen: Wir sollten es tunlichst unterlassen – der heutige 9. November ist ein guter Anlass dafür –, der Öf- so ist das für mich ein Stück weit der Versuch, den Bür- fentlichkeit mit fragwürdigen Stellungnahmen weisma- gerinnen und Bürgern in unserem Land Sand in die Augen chen zu wollen – man spricht damit bestimmte Gefühle zu streuen. an –, dass einzelne Gruppen in unserem Land für die ge- (Beifall bei der SPD) genwärtige Situation verantwortlich sind. Das ist ein ge- fährliches Spiel, das Sie betreiben. Sie selber wissen genau, dass die Ursachen ganz woan- ders liegen. (Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wo ist das Spiel gefährlich? Kön- Ich will nicht verhehlen, dass das eine oder andere nen Sie nicht konkretisieren? Das ist ein enor- Bundesland mehr Mittel für bestimmte Maßnahmen auf- mer Vorwurf, Herr Graf!) wendet. Das mag zwar so sein. Aber letztlich kommt es darauf an, dass wir uns als Bundesgesetzgeber an unsere – Ich will Ihnen darauf antworten: Wir haben in diesem eigenen Pflichten erinnern und daran, welche Sicherheits- Hause eine Reihe von Maßnahmen debattiert, bei denen organe uns in unserem Zuständigkeitsbereich zur Verfü- unterschwellig immer der Eindruck entstand, als sei für gung stehen. Das Stichwort Bundesgrenzschutz ist schon die Kriminalität eine Gruppe verantwortlich, die wir in vorhin gefallen. In der letzten Sitzungswoche ist festge- unserem Land nicht wollen. Wir haben vor zwei Wochen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12557

Günter Graf (Friesoythe) (A) über mehr Sicherheit an der Grenze zu Tschechien ge- den. Und schließlich möchte ich den 9. November 1938 in (C) sprochen. Es ging um Menschen, die in unser Land wol- Erinnerung rufen, die wilden Pogrome gegen Deutsche len. Auch in dieser Debatte geht es wieder um Ausländer. jüdischen Glaubens. Jüdische Geschäfte und Wohnungen (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch wurden geplündert und zerstört, Synagogen wurden ver- wichtig! Oder?) brannt. Das waren Verbrechen gegen Menschen nach hasserfüllter Hetze. – Und heute, meine verehrten Damen Man nutzt die Situation aus, um eine bestimmte Stim- und Herren? Ohne Untersagung und Bestrafung durfte der mung im Land zu erzeugen, was nicht richtig ist. NPD-Pressesprecher vom „verjudeten Bonner System“, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das machen Sie vom „jüdisch-amerikanischen Protektoratsregieren über im Moment!) die Marionetten in Berlin“ faseln oder, genauso fatal, von „Rassenhygiene“ ein anderer. – Das mache ich nicht. Darüber hinaus ist leider auch wahr: Menschen werden (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wenn ich eine ein- bei uns durch Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen fache Frage stelle und die Bundesregierung gibt Opfer von Gewalt, nur weil sie anders aussehen, weil sie eine Antwort darauf, dann ist das doch keine eine andere Kultur haben, eine andere Sprache sprechen. Stimmungsmache!) Friedrich Merz hat Recht: Antisemitismus, Rassenhass Ich habe nur das ausdrücklich hervorgehoben, was Herr und Fremdenhass bilden oft einen Zusammenhang im Ströbele ausgeführt hat. Das halte ich für richtig und ver- Denken und Handeln vor allem der Rechtsextremisten. nünftig. Deswegen müssen wir dies alles zugleich bekämpfen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann müssen Sie Wir als Rechtspolitiker haben die Aufgabe, Gesetze zu die anderen aber nicht beschimpfen!) schaffen. – Es gibt weitere Aufgaben; darüber ist sehr lange diskutiert worden. – So haben wir in Zeiten der Re- Sie sollten sich überlegen, welche Anträge Sie einbringen. gierungsverantwortung der Union den Straftatbestand der (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sollten auf- Volksverhetzung erweitert. Wir haben das Bekennen hören, zu beschimpfen! – Lachen bei der zur Auschwitzlüge bestraft. Wir haben vor allem die SPD) Telekommunikationsüberwachung durch die Nach- – Manchen Kollegen aus Ihren Reihen würde ich diese richtendienste bei Verdacht verfassungsfeindlicher Tätig- Entrüstung abnehmen, Ihnen aber nicht. Es tut mir Leid, keit eingeführt, um die Regierung und die Strafverfol- ich hätte gerne etwas anderes gesagt. gungsbehörden zu informieren, um Abwehrmaßnahmen zu treffen. – Ich meine, das ist ein Ausdruck wehrhafter (B) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Habe ich ge- Demokratie. Denn nur die wehrhafte Demokratie und ein (D) schimpft?) wehrhafter Staat sorgen für die Sicherheit der Menschen Ich würde mich mit Ihnen jetzt gerne differenziert aus- und für demokratische Stabilität. einander setzen, wenn meine Redezeit nicht schon abge- Aber es ist kein Signum der Wehrhaftigkeit, wenn man, laufen wäre. Ich danke, Herr Präsident, dass ich noch die wie Herr Ströbele von den Grünen, denVerfassungs- Gelegenheit hatte, diese letzte Bemerkung zu machen. schutz abschaffen will. Wer den Verfassungsschutz ab- Vielen Dank. schaffen will, Herr Kollege Ströbele, verzichtet auf ein wirksames Mittel im Kampf gegen Extremisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Das hat gerade die Beschaffung von Material über die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als NPD – Herr Minister Schily gibt mir da Recht – gezeigt. nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von Wer den Verfassungsschutz abschaffen will, der schwächt der CDU/CSU-Fraktion das Wort. den Rechtsstaat im Einsatz gegen aktiv kämpferisches und aggressives Verhalten der Rechtsextremisten, aber auch im Kampf gegen Linksextremisten. Denn auch Letz- Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): tere haben ihre verfassungsfeindlichen Ziele nicht aufge- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! geben. Im Verfassungsschutzbericht steht – Zitat aus dem Diese Debatte hat viele Facetten. Aber ich meine, man Untergrundblatt „Radikal“ –: kann an diesem 9. November nicht einfach zur Tagesord- nung übergehen. Ich jedenfalls will und werde das nicht Wenn wir diese Gesellschaft umwälzen wollen, dann tun. gilt es, sie jetzt zu bekämpfen, mit allen Mitteln. Ich möchte in dieser Debatte daran erinnern, dass vor Und weiter: 80 Jahren Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichs- Gezielte politische Aktionen gegen Personen und Sa- tages den demokratischen Rechtsstaat gefordert hat. chen sind völlig legitim. Diese Tatsache sollte man gerade in einer rechtspoliti- schen Debatte erwähnen. Man sollte auch daran erinnern, Beide sind zu bekämpfen, auch die Linksextremen. Die dass vor elf Jahren das Schandmal von Sowjet- und SED- Straftatenzahl von 3 000 im letzten Jahr – bei den Rech- Unrechtsherrschaft, die Mauer, gefallen ist, an der Men- ten ist sie dreimal so hoch; auch das ist wahr – spricht für schen gegen jedes Recht verbrecherisch ermordet wur- sich. Man darf also nicht auf einem Auge blind sein. 12558 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Unsere Politik muss sich gegen Rechtsextremisten und muss. Frau Däubler-Gmelin hat sich damals mit Händen (C) gegen Linksextremisten richten. und Füßen dagegen gewehrt. Das war nicht gut. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist auch nicht gut, dass die Bundesjustizministerin so wenig Interesse an der für sie entscheidenden und sehr Wehrhafte Demokratie heißt auch,Kriminalität zu wichtigen Debatte zeigt. Wenn sich eine Bundesjustizmi- verhindern bzw. zu bekämpfen. Raubüberfälle, Drogen- nisterin nicht die Mühe macht, bei einer Debatte über Kri- handel und Diebstahl sind kein unabänderliches Naturge- minalitätsbekämpfung im Deutschen Bundestag zu sein setz, auch nicht, dass Chaoten prügelnd durch die Straßen – gut, dass Sie da sind, Herr Minister Schily –, ziehen, dass Dealer in Diskotheken immer mehr Pillen verkaufen und dass sich alte Menschen abends kaum (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mehr auf die Straße trauen. NEN]: Wir können doch nicht bei jeder Anfrage der CDU das ganze Kabinett antanzen lassen!) Es war eben nicht gut, dass Sozialdemokraten und Grüne jahrelang die Entkriminalisierung propagiert ha- ist dies kein gutes Zeichen. Es zeigt ihr fehlendes Inte- ben. Denn die Verharmlosung von Bagatelldelikten – das resse an dieser Debatte. wissen doch wir alle – führt zu mehr Kriminalität, weil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hemmschwellen gesenkt und Rechtsbrecher ermutigt neten der F.D.P.) werden. Wir haben den genetischen Fingerabdruck ermög- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ licht. Das ist gut. Wir haben Schleppern und Schleusern DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn!) ihr schmutziges Handwerk erschwert. Letzten Endes ha- Auch nicht gut ist, dass die Staatsanwaltschaft einen ben wir gemeinsam mit Ihnen denEinsatz technischer Mittel in Gangsterwohnungenbeschlossen. Das ist Strafbefehl gegen einen amtierenden Bundesminister, ge- wahr. Auch Herr Schily hat dabei Beträchtliches geleistet. gen den Sozialdemokraten Klimmt, beantragen musste. Aber das hat alles viel zu lange gedauert. Wir hätten das Wehret den Anfängen und gebt ein gutes Beispiel, muss Gesetz viel eher beschließen können. Dies zeigt, dass letz- da die Parole lauten. ten Endes die Union die entscheidende politische Kraft (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist, die den Schutz des Bürgers vor Verbrechen gewähr- NEN]: Das sagen Sie mal Herrn Kohl, der ist leistet, und nicht der Herr Ströbele und andere aus dem meines Wissens in Ihrer Fraktion!) grün-linken Bereich. – Auch das ist vielleicht ein Problem. Aber der von mir (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] Genannte ist ein besonderes Problem: Es geht um einen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben erst (B) amtierenden Bundesminister. Das ist der Unterschied. am Samstag den 11.11.!) (D) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bevor Sie noch lauter rufen und schreien, sage ich Ih- NEN]: Leider auch um einen amtierenden Mi- nen Folgendes: nisterpräsidenten, Herrn Koch!) (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Erwin sagt die – In einem Punkt sind wir sicherlich einer Meinung: Wir Wahrheit!) wollen null Toleranz für jeden Rechtsbruch. Es ist eigentlich gar nicht mehr zu ertragen, dass Sie in Ich freue mich, dass die Deliktzahl gesunken ist, Herr zwei Jahren Regierungsverantwortung keinen einzigen Bundesinnenminister, aber – hier sind wir einer Meinung – wirksamen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der organi- 6 Millionen Straftaten sind noch zu viel. Ich freue mich sierten Kriminalität vorgelegt haben – und dies, obwohl auch, dass die Aufklärungsquote gestiegen ist. Hier geht dort Handlungsbedarf besteht. der Dank an die Polizeibeamten, an meine Kollegen (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat vorhin – auch an die der SPD – und selbstverständlich auch an schon Herr Meyer bemängelt!) Ihre Kollegen, Herr Minister. Aber Sie können nicht leug- Herr Kollege Westerwelle, natürlich gibt es Defizite nen, dass dies auch die Früchte der Arbeit sind, die damals beim Vollzug, das ist wahr. Aber es gibt auch Gesetzesde- CDU/CSU und F.D.P. geleistet haben, damit zum Beispiel fizite. Dazu nenne ich nur einige Punkte. Mich fragen Po- die Strafe der Tat auf dem Fuß folgt. lizeibeamte: Wollt ihr nicht endlich eine Korrektur der (Hans-Peter Kemper [SPD]: Das tun wir auch Regelungen für die akustische Überwachungvorneh- gar nicht!) men? Dort gibt es zu viele Ausnahmen. Selbst der jetzige Bundesinnenminister war im ersten Gespräch und auch in Nach jahrelangem Ringen ist dieHauptverhand- den nachfolgenden Gesprächen anderer Meinung. Er lungshaft endlich durchgesetzt worden. Ich war im Ver- wollte diese Ausnahmen gar nicht, die die Linken in der mittlungsausschuss dabei. SPD letzten Endes durchgesetzt haben. (Norbert Geis [CDU/CSU]: 1994!) (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Immer Ich weiß, wie sich damals die jetzt amtierende Bun- die selben!) desjustizministerin mit allen Kräften gegen die Hauptver- Es darf doch nicht sein, dass Schwerstverbrecher die handlungshaft gesträubt hat, die bedeutet, dass jemand Wohnung als Rückzugsraum missbrauchen können, um unmittelbar nach einer Straftat festgenommen und ver- ihr kriminelles Treiben fortzusetzen. Deswegen wollen urteilt wird und er dann auch sofort die Strafe antreten wir auch die optische Überwachung, denn dadurch wird Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12559

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) die Identifizierung erleichtert. Deswegen wollen wir auch Otto Schily, Bundesminister des Innern: Herr Kollege (C) die Verschärfung der Vorschriften gegen Geldwäsche. Marschewski, ich habe Verständnis dafür, dass Sie die Wir sagen: Wer verdächtiges Geld hat, muss darlegen, Bundesjustizministerin heute vermissen. Aber ich glaube, woher das Geld kommt. wenn sie Ihre Rede im Protokoll nachliest, wird sie ihre (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Abwesenheit nicht bedauern. GRÜNEN]: Das stimmt! – Hans-Peter Kemper (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- [SPD]: Das habt ihr verhindert! Wir wollten die NIS 90/DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski Umkehr der Beweislast! – Volker Beck [Köln] [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das ist wirklich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher kommt frech!) denn das Geld von Herrn Kohl! Das soll er doch erst einmal darlegen!) Aber ich möchte auf den Ton eingehen, den Herr Kol- lege Westerwelle zu Beginn der Debatte angeschlagen Wichtig ist insbesondere die Verstärkung der interna- hat. Ich finde, das war die angemessene Tonlage bei einem tionalen Zusammenarbeit. Es ist gut, dassEuropol ge- so ernsten Thema. Jenseits der Polemik, in der sich heute gründet worden ist. Meine Damen und Herren, Sie haben einige vergeblich geübt haben, gibt es eines, das uns mit- das, was wir vorbereitet haben, vollzogen. Dafür herzli- einander verbindet: dass die innere Sicherheit zu den erns- chen Dank. Aber warum dehnen Sie die Zuständigkeiten teren und wichtigeren Fragen gehört, weil nämlich ein von Europol nicht aus? Es ist eigentlich gar nicht einzu- Kernbestandteil der Lebensqualität von Menschen ist, sehen, dass bei länderübergreifenden Straftaten gegen das angstfrei leben zu können. Leben oder das Eigentum oder bei Computerdelikten Eu- ropol gerade nicht zuständig ist. Wir können mit Stolz und Selbstbewusstsein sagen, dass Deutschland im internationalen Vergleich eines der (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ sichersten Länder ist. DIE GRÜNEN]: Nein! Das können die gar nicht!) (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: So ist es! – Ich denke an eine Aufgabenerweiterung im operativen, Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber nicht erst in nicht im exekutiven Bereich, Herr Minister Schily. den letzten zwei Jahren! Auch vorher schon!) Warum soll sich Europol nicht an Ermittlungsteams be- Das sollte man hier einmal an den Anfang stellen. Das ist teiligen dürfen? Warum soll es nicht um Einleitung oder zuallererst das Ergebnis der engagierten, zuverlässigen, Koordination von Ermittlungen ersuchen dürfen? In Ihrer risikobereiten und kompetenten Arbeit unsererSicher- Antwort auf unsere Große Anfrage erklären Sie, im Hin- heitskräfte, der Polizeibeamten und -beamtinnen in den blick auf operative Aufgaben von Europol bestehe kein Ländern und im Bund, des Verfassungsschutzes und (B) aktueller gesetzgeberischer Bedarf; man wolle zu gege- solcher Institutionen wie etwa des Bundesamtes (D) für bener Zeit prüfen, ob Maßnahmen erforderlich sind und, Sicherheit in der Informationstechnik. Ich finde, es gehört wenn ja, welche. Dies ist, meine ich, kein Erfolg verspre- sich, dass wir diesen Beamtinnen und Beamten in ei- chender Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Die ner solchen Debatte einen ganz herzlichenDank aus- Bedingungen für internationale Kriminalität verändern sprechen. sich ständig. Globalität ist gerade im Verbrechensbereich leider Realität. (Beifall im ganzen Hause) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Man kann diese günstige Diagnose anhand der Zahlen GRÜNEN]: Haben Sie schon mal was von In- belegen. Die Zahl der Straftaten geht deutlich zurück. Sie terpol gehört?) ist im vergangenen Jahr zurückgegangen und sie geht in diesem Jahr zurück. Die Aufklärungsquote erhöht sich. Ich meine, es besteht Handlungsbedarf. Wenn Sie nichts überzeugt, so doch dies: Wir sind uns einig darüber, (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) dass insbesondere die Schwachen leiden, wenn der Staat und die Verantwortlichen Schwäche zeigen. Daher sind Auch das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen Sie als Bundesregierung, Herr Bundesinnenminister, Frau hat sich deutlich verbessert. 80 bis 90 Prozent, sowohl im Bundesjustizministerin bzw. in Vertretung Herr Staatsse- Osten der Bundesrepublik Deutschland als auch im kretär – etwas später angekommen, aber immerhin; herz- Westen – es ist interessant, dass sich das angleicht –, lichen Dank –, gefordert. Daher unsere Große Anfrage: in sagen, sie seien mit der Sicherheitslage einigermaßen Sorge um dieses Land, in Sorge darum, dass sich Bürger zufrieden. Ich sage „einigermaßen“, weil natürlich an der in diesem Land frei bewegen können, ohne Kriminalität. einen oder anderen Stelle noch etwas verbessert werden Denn der Bürger hat ein Recht auf Sicherheit in diesem kann. Ich bin nicht derjenige – da stimme ich Herrn Lande und wir als Politiker haben die Pflicht, ihm dies zu Marschewski zu –, der meint: Weil wir diese Zahlen gewährleisten. haben, können wir uns zurücklehnen, uns ruhig verhalten und sagen, es sei nichts mehr zu tun. Das ist nicht der Fall. Herzlichen Dank. Die absolute Zahl der Straftaten ist noch viel zu hoch. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, es ist auch richtig, an dieser Stelle zu sagen, dass wir in Deutschland durch dieZusammenarbeit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letz- zwischen Bund und Ländernein sehr gutes System ter Redner hat der Bundesinnenminister Otto Schily das der Sicherheitspolitik haben. Wir haben eine sehr enge Wort. und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem 12560 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Bundesminister Otto Schily (A) Bundesinnenminister und den Länderinnenministern. Ich men, das ich im vergangenen Jahr mitRussland zur (C) will mich an dieser Stelle bei den Kollegen aus den Län- Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten dern dafür herzlich bedanken. Kriminalität abgeschlossen habe. Es hat auch andere Ab- kommen internationaler Art gegeben. Außerdem haben wir aber auch die Sicherheitsarchi- tektur über die Strukturen in unserem Lande hinaus – im Meine Damen und Herren, wir können auch im euro- europäischen Rahmen, bilateral, multilateral, also über päischen Rahmen auf große Erfolge verweisen. Herr Kol- die Grenzen unseres Landes hinweg – deutlich ausgebaut lege Marschewski, Sie haben behauptet, zu Europol seien und verstärkt. Ich will nur einige Beispiele dafür nennen. einige Vorarbeiten geleistet worden. Dass das so ist, will ich gar nicht bestreiten. Wir haben im vergangenen Jahr mit der Schweiz – ei- nem kleinen, aber, wie ich finde, durchaus beachtlichen (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Land – einen Vertrag zur Bekämpfung der organisierten CSU]: Nicht Vorarbeiten, sondern Entscheiden- Kriminalität geschlossen. Ich glaube, das ist ein muster- des!) gültiger Vertrag, das ist ein Modell für gute bilaterale Zu- Aber zu behaupten, so wie Sie es hier ein wenig lässig sammenarbeit. Wir werden demnächst einen ähnlichen meinten darstellen zu sollen, wir hätten das Ganze prak- Vertrag mit Österreich, mit meinem Kollegen Strasser, tisch nur noch vollzogen, ist falsch. So war es nicht. schließen. Uns ist es gelungen – das wird nun gerade von den EU- (Zuruf von der F.D.P.: Ach, jetzt plötzlich Ländern positiv vermerkt; ich habe dafür sehr viel Lob wieder?) und Anerkennung von den anderen europäischen Mit- Auch das ist eine vernünftige Zusammenarbeit, die wir gliedsländern erhalten, übrigens ausnahmslos, ganz egal, zustande gebracht haben. ob nun eher konservativ oder sozialdemokratisch regiert –, die großen Hindernisse, die hinsichtlich der Arbeitsfähig- Wir haben eine multilaterale Zusammenarbeit mit eini- keit von Europol noch bestanden, während der deutschen gen Ländern, die der Alpenregion zuzurechnen sind. Wir Präsidentschaft beiseite zu schaffen. Insofern bin ich haben eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dankbar dafür, dass uns das gelungen ist. den Ländern, die Beitrittskandidaten sind; auch das ist wichtig. Wir beteiligen uns an Programmen zur Errei- Das, was Sie angesprochen haben, ist eine Perspektive, chung der Beitrittsfähigkeit, die ja auch im Bereich der in- die man diskutieren muss, Herr Marschewski, wenn ich neren Sicherheit, der Grenzsicherheit, der Bekämpfung um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf. von Kriminalität notwendig ist. (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Entschuldigung, ich habe gerade mit (B) Es ist uns aber auch über die EU-Grenzen hinaus ge- (D) lungen, gute Strukturen zustande zu bringen. Ich habe meinem Freund Ströbele gesprochen!) kürzlich den FBI-Direktor Freeh getroffen, und wir haben Sie haben mich darauf angesprochen; deshalb verdienen verabredet, dass wir eine engere Kooperation zur Be-Sie ja, dass ich darauf eingehe. Wenn Sie es nicht wün- kämpfung einer Kriminalitätsform suchen, die uns neuer- schen, dann lassen wir es. dings Sorgen bereitet, nämlich der Kriminalität, die im Internet stattfindet. Wenn wir daran denken, dass die ab- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] scheulichsten rechtsextremen, nazistischen, antisemiti- [CDU/CSU]: Entschuldigung!) schen Inhalte auf heute etwa 400 Websites unsere Jugend – Nein, nein, ist ja in Ordnung. negativ beeinflussen, dann müssen wir etwas dagegen tun, und das tun wir in Zusammenarbeit auch mit den Ver- Die Hindernisse, die noch bestehen, bestehen auf exe- einigten Staaten von Amerika. Ich freue mich darüber, kutiver Ebene. dass Herr Freeh diese Zusammenarbeit zugesagt hat. (Erwin Marschewski [Recklinghausen] (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE [CDU/CSU]: Operativ, nicht exekutiv!) GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord- – Entschuldigung, auf operativer Ebene. Ich weiß, dass neten der CDU/CSU) Sie operative Maßnahmen meinen. Sie müssen, wenn Meine Damen, meine Herren, es gehört auch zurSie sich ein bisschen in Europa auskennen, sehen, dass Sicherheit, die wir nicht mehr borniert national definieren das eine schwierige Frage ist. Nicht zufällig ist die können, wenn wir mit unseren Polizeikräften etwa dafür Zusammenarbeit der Polizeien in der dritten Säule der sorgen, dass im Kosovo Strukturen der Sicherheit aufge- Verträge geregelt, und die polizeilichen Zuständigkeiten baut werden. Auch hier möchte ich den jungen Kollegin- sind nun für das Verständnis mancher das Herzstück der nen und Kollegen aus den Länderpolizeien und dem Bun- nationalen Souveränität. Es ist ja schon schwierig, unsere desgrenzschutz meinen ausdrücklichen Dank sagen, dass Mitgliedsländer dazu zu ermuntern, dass sie überhaupt sie sich zu solchen Missionen bereit erklären. Europol Daten liefern, damit Europol zunächst einmal – nach dem jetzigen Status – arbeitsfähig wird. Da beste- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hen also viele Schwierigkeiten. GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Wichtig ist aber, dass wir auch dafür sorgen, Herr Meine Damen und Herren, weiter möchte ich eineMarschewski, dass nicht Doppelarbeit zweier wichtiger Form der Zusammenarbeit im Ostseebereich erwähnen, Institutionen, Interpol und Europol, entsteht. Gerade ges- die Ostsee-Taskforce. Oder denken Sie an das Abkom- tern war ich bei Interpol zu Besuch und habe dem neuen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12561

Bundesminister Otto Schily (A) Generalsekretär Nobel, der übrigens fließend deutscheinmal angesehen. Dagegen habe ich gar keine Einwände. (C) spricht, was die Zusammenarbeit sicher fördern wird, gra- Denn hier kann es sich um Kriminalitätsschwerpunkte tuliert. Genau genommen spricht er bayrisch. Das ist ja handeln. Wenn man solche Installationen zur Verfügung auch ganz gut. hat, kann man für mehr Sicherheit sorgen. Dies hat sich als erfolgreich erwiesen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist besser! – Heiterkeit) Ich möchte jetzt nicht auf die Diskussion über das Ver- hältnis zwischen Repression und Prävention eingehen. Das ist hervorragend. Dass die Prävention für uns eine herausgehobene Bedeu- An dieser Stelle möchte ich übrigens auf den Erfolg zu tung hat, ist inzwischen wohl klar geworden. Ein Symbol sprechen kommen, dass der Präsident des Bundeskrimi- dafür – eigentlich ist es mehr als ein Symbol, weil es prak- nalamtes, Herr Dr. Kersten, in den Exekutivrat von Inter- tische Perspektiven bietet – ist das Deutsche Forum für pol gewählt worden ist. Auch ihm gratuliere ich von die- Kriminalprävention, dessen Implementierung wir im ser Stelle aus zu seiner Wahl. Bundeskabinett gerade beschlossen haben. Ich freue mich sehr darüber. Wir haben es als eine Zusammenarbeit zwi- Meine Damen und Herren, wir müssen eine enge Zu- schen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft angelegt. Denn sammenarbeit zwischen Interpol und Europol zustande man muss wissen, dass wir auf wissenschaftliche Er- bringen. kenntnisse angewiesen sind. Am gleichen Tage haben wir in Lyon eine ganz wich- Herr Geis, Sie haben Herrn Pfeiffer angesprochen, den tige Eröffnung zusammen mit dem französischen Innen- ich wie Sie sehr schätze. Dieser hat zum Beispiel auf ei- ministerkollegen Vaillant und dem Justiz- und dem In- nen interessanten Zusammenhang bei der Gewaltkrimina- nenminister Schwedens – das die Präsidentschaft künftig lität von Jugendlichen hingewiesen – hier hat er Feldfor- innehat – gefeiert. schung betrieben –, (Zuruf von der CDU/CSU: Ein Innenminister (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ja, die kenne ich!) kommt ganz schön in der Welt herum!) dass nämlich diejenigen Jugendlichen, die gewalttätig Wir haben nämlich eine deutsche Initiative auf den Weg werden, in ihrer Kindheit Opfer von Gewalt waren. Auf- gebracht, die in Tampere zum Beschluss geworden ist: die fälligerweise sind diejenigen Jugendlichen, die brutale Schaffung einer europäischen Polizeiakademie. Diese Gewalt ausüben, in ihrer Kindheit Opfer von brutaler Akademie ist gestern eröffnet worden. Gewalt gewesen. Das ist ein Hinweis darauf, was man tun (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sehr gut!) muss: Man muss gewaltfreie Erziehungdurchsetzen. Auch das ist Präventionsarbeit. (B) Das ist wichtig. Dort werden unsere Polizeibeamtinnen (D) und Polizeibeamten lernen, sich von den national (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE begrenzten Denk- und Handlungsgewohnheiten zu lösen GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord- und europäisch zu denken. Denn die heutige Krimina- neten der CDU/CSU und der PDS) litätsbekämpfung kann nur noch europäisch gesichert Hier ist viel Richtiges zum Thema technische Präven- werden. Das müssen wir alle wissen. tion gesagt worden. Es ist völlig richtig – Herr Ströbele (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der hat es erwähnt –: In Bezug auf Kraftfahrzeuge bestehen F.D.P.) zwei Möglichkeiten: nicht nur die Markierung, sondern auch die Wegfahrsperre. Diese ist das Entscheidende. Das Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den na- haben Sie wahrscheinlich auch gemeint. tionalen Rahmen zurückkommen. Herr Pofalla, Sie haben die Antworten der Bundesregierung – ich möchte das nur (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ kurz erwähnen; es ist ja schön, dass Sie die Antworten we- CSU]: Die Wegfahrsperre war entscheidend!) nigstens lesen – auf die Fragen zum ThemaVideoüber- Wir müssen dem Kreditkartenmissbrauch entgegentre- wachung nicht ganz genau gelesen. Die Position der Bun- ten. Denn hier gibt es einen Aufwuchs der Straftaten. desregierung ist in diesem Punkt ganz klar: Wir sind gegen eine flächendeckende Videoüberwachung, die jede (Erwin Marschewski [Recklinghausen] Ecke des privaten Lebens ausleuchtet. [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Deshalb ist es wichtig, die technische Prävention vo- GRÜNEN und der F.D.P. sowie des Abg. ranzutreiben. Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen. Ronald Pofalla [CDU/CSU]) Ich freue mich darüber, dass ich kürzlich in einem Das halte ich für mit Art. 1 des Grundgesetzes nicht ver- Kreis von hochrangigen Vertretern der Wirtschaft großen einbar. Zuspruch für die Unterstützung unserer Initiative gefun- den habe, die in Zusammenarbeit gemeinsam von den Aber an Kriminalitätsschwerpunkten werden solche beiden Bundesministerien Justiz und Inneres sowie den Maßnahmen – gerade auf der Bundesebene – schon heute Ländern getragen wird. Davon verspreche ich mir sehr praktiziert. Selbstverständlich ist es die Position der Bun- viel, weil beim Thema innere Sicherheit Ähnliches desregierung, in denjenigen Bereichen, in denen der Bun- gilt wie beim Umweltschutz: Vorsorge ist allemal besser desgrenzschutz zuständig ist – etwa im Bahnbereich – und billiger als Nachsorge. Es ist besser, die Jugendlichen solche Maßnahmen zu ergreifen. Ich selbst habe mir das an kriminellen Handlungen zu hindern und sie gegen 12562 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Bundesminister Otto Schily (A) Kriminalität zu immunisieren, als Jugendgefängnisse zu letzten Punkt –: Prävention hat auch eine kulturelle Di-(C) bauen. Das ist eindeutig. mension. Das ist das, was ich immer sage: Wir brauchen auch so etwas wie eine kulturelle Prävention. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord- Wenn ich mir vorstelle, in welcher Welt unsere Kinder neten der CDU/CSU und der PDS) und Jugendlichen eigentlich aufwachsen, mit welchen Gewaltbildern, Bildern scheußlichster Brutalität sie jeden Meine Damen und Herren, es fehlt mir die Zeit, zu al- Abend in den Medien, im Fernsehen, in den Printmedien, len Bereichen einen Hinweis zu geben. Ich will deswegen in ihrer unmittelbaren Umgebung traktiert werden, dann zum Schluss nur Folgendes sagen: Wir müssen ein ausge- muss man sich nicht wundern, welche Handlungsweisen, wogenes Verhältnis zwischen Repression und Prävention welche Charaktere unsere Kinder und Jugendlichen ent- haben! Es geht nie um ein Entweder-oder. wickeln. Ich gebe übrigens all denjenigen Recht, die das sagen: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Natürlich sind Resozialisierung, Therapie und Ähnliches GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) notwendig. Aber in einem Punkt gibt es für mich über- haupt keinen Zweifel: Die Sicherheit potenzieller Opfer Wenn Sie merken, dass die Würde des Menschen in den hat absoluten Vorrang. Medien zum Teil nichts mehr gilt, dann muss man sich nicht über das wundern, was passiert. (Beifall im ganzen Hause) Ich gebe in einem Punkt auch Ihnen Recht, Herr Geis: Wenn jemand seine Psyche und seinen Charakter nicht Man muss etwas für die Familientun. An dieser Stelle steuern kann, muss die Sicherheit potenzieller Opferkönnen wir uns alle selbst einmal fragen, welch ein kul- allerersten Rang haben. Wir haben schreckliche Fälleturelles Milieu wir den Kindern und Jugendlichen in un- – ich habe sie noch in deutlicher Erinnerung – in Bayern seren Erziehungsformen und -inhalten eigentlich anbie- erlebt, wo kleine Kinder Opfer von Sexualverbrechern ten. geworden sind und man den Sicherheitsgedanken ver- Zum Schluss wiederhole ich, was ich auch schon zu nachlässigt hat. Das können wir bei aller Humanität, die Beginn meiner Amtszeit gesagt habe: Es ist notwendig, auch im Strafvollzug und in der Therapie gelten muss, Jugendlichen in ihrer Entwicklung musische Erziehung nicht zulassen. Das nur einmal vorweg. anzubieten. Prävention hat viele Seiten. Prävention hat eine techni- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Seite, eine organisatorische Seite, eine soziale Seite. der F.D.P. und des Abg. Volker Beck [Köln] Natürlich stimmt es: Wenn Jugendliche keinen Ausbil- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dungsplatz oder keinen Arbeitsplatz finden, wenn sie in (B) einer schlechten Stadtgegend leben, sind sie gefährdeter. Man soll das nicht als Luxus betrachten. Yehudi Menuhin (D) Auch Städte können kriminalitätsfördernd sein, Stadtbil- hat auf einen interessanten Zusammenhang hingewiesen. der, alles das. Es gibt einen Distrikt in London, in dem die Jugendkrimi- nalität vergleichsweise besonders niedrig ist. In diesem (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sehr richtig! – Distrikt ist das Angebot an musischer Betätigung für Ju- Norbert Geis [CDU/CSU]: Graffiti!) gendliche und Kinder besonders groß. Das ist eine Die „broken windows“-Theorie ist richtig. Es gibt viele Botschaft. verwahrloste Städte. Es gibt vieles, was dazu zu sagen ist; (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE das ist ein ganz breites Feld. Mir fehlt die Zeit, das alles GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord- auszubreiten. Da müssen wir etwas tun. DasProjekt neten der CDU/CSU und der PDS) „Soziale Stadt“ ist ein gutes Projekt.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich GRÜNEN und der F.D.P.) schließe die Aussprache. Urbanität ist ein gutes Projekt. Es gibt vieles, was wir tun können und müssen. Natürlich ist das JUMP-Programm Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis e sowie Zu- auch ein Programm gegen Jugendkriminalität. satzpunkte 3 a und b auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- DIE GRÜNEN) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu- satzabkommen vom 19. Mai 1999 zum Euro- Dafür müssen wir dankbar sein. pipe-Abkommen vom 20. April 1993 zwischen Ich will jetzt nicht mit den Zahlen prunken. Aber es ist der Bundesrepublik Deutschland und dem Kö- in der Tat so: Das erste Mal, dass Jugend- und Kinderde- nigreich Norwegen über den Transport von Gas linquenz abnimmt, ist das Jahr 1999. Ich mache daraus durch eine neue Rohrleitung (Europipe II) vom wirklich keine große Sache; aber es ist eine Tatsache. Königreich Norwegen in die Bundesrepublik Deutschland (Norbert Geis [CDU/CSU]: 1997!) – Drucksache 14/4300 – Ich sage im Übrigen nicht, dass das alles ist. Zu glau- Überweisungsvorschlag: ben, dass Kriminalität nur aus der sozialen Umgebung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) entsteht, ist falsch. Deshalb sage ich – damit bin ich beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12563

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: (C) eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Innenausschuss (f) Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes, Rechtsausschuss insbesondere zur Durchführung der EG-Richt- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten linie 98/78/EG vom 27. Oktober 1998 über die Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versiche- Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und rungsgruppe angehörenden Versicherungsun- der Fraktion der PDS ternehmen sowie zur Umstellung von Vor- Gesellschaftliche Debatte zu den Energie- schriften auf Euro preisen für eine ökologische verkehrspoliti- – Drucksache 14/4453 – sche Wende nutzen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 14/4534 – Finanzausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Finanzausschuss gebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Ein- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- führung einer Entfernungspauschale und zur heit Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschus- Haushaltsausschuss ses Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten – Drucksache 14/4435 – Verfahren ohne Debatte. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4435 soll zu- sätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein- Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- Strafvollzugsgesetzes sungen so beschlossen. – Drucksache 14/4452 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie Überweisungsvorschlag: 28 d bis 28 j auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen Rechtsausschuss (B) zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. (D) e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Tagesordnungspunkt 28 c ist abgesetzt. dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a: (19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung 28 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Technikfolgenabschätzung gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes hier: Monitoring „Nachwachsende Roh- über die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze stoffe“ – Einsatz nachwachsender Roh- und die Errichtung der Stiftung „Geld und stoffe im Baubereich Währung“ – Drucksache 14/2949 – – Drucksache 14/4225 (neu) – Überweisungsvorschlag: (Erste Beratung 124. Sitzung) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ausschusses (7. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- – Drucksache 14/4481 – abschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Berichterstattung: lung Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Heinz Seiffert ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (Ergänzung zu TOP 27) schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und – Drucksache 14/4482 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichterstattung: Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehör- Abgeordnete Hans Jochen Henke den von Bund und Ländern zur Verfas- Hans Georg Wagner sungswidrigkeit der „Nationaldemokrati- Oswald Metzger schen Partei Deutschlands“ Dr. Günter Rexrodt – Drucksache 14/4500 – Dr. Uwe-Jens Rössel 12564 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist (C) che 14/4481, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh- in dritter Lesung einstimmig angenommen. men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Tagesordnungspunkt 28 d: men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter d) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und neten Alfred Hartenbach, Joachim Stüncker, der PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU und Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und F.D.P. angenommen. der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dritte Beratung Volker Beck (Köln), Christian Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist rung der Besetzungsreduktion bei Strafkam- in dritter Lesung mit demselben Stimmenverhältnis mern angenommen. – Drucksache 14/3370 – Tagesordnungspunkt 28 b: (Erste Beratung 105. Sitzung)

b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes neten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang zur Änderung der Grenze des Freihafens Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Emden der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines – Drucksache 14/4223 – ... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ent- lastung der Rechtspflege und des Jugendge- (Erste Beratung 124. Sitzung) richtsgesetzes – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 14/2992 – gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes (Erste Beratung 105. Sitzung) zur Änderung der Grenze des Freihafens Bre- men – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Än- – Drucksache 14/4224 – derungen im Gerichtsverfassungsrecht (§ 76 (Erste Beratung 124. Sitzung) Abs. 2, § 122 Abs. 2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG) (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – Drucksache 14/3831 – (D) schusses (7. Ausschuss) (Erste Beratung 121. Sitzung) – Drucksache 14/4480 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Berichterstattung: schusses (6. Ausschuss) Abgeordnete Detlev von Larcher – Drucksache 14/4542 – Jochen-Konrad Fromme Berichterstattung: Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa- Abgeordnete Joachim Stünker che 14/4480 unter Buchstabe a, den Entwurf eines Geset- Dr. Wolfgang Frhr. von Stetten zes zur Änderung der Grenze des Freihafens Emden un- Volker Beck (Köln) verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Jörg van Essen Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksa- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist che 14/4542 unter Buchstabe a, den Entwurf eines Geset- in zweiter Beratung einstimmig angenommen. zes zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Straf- Dritte Beratung kammern anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –damit in zweiter Lesung einstimmig angenommen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. Dritte Beratung Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem che 14/4480 unter Buchstabe b, den Entwurf eines Geset- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – zes zur Änderung der Grenze des Freihafens Bremen un- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demin dritter Lesung einstimmig angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksa- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist che 14/4542 unter Buchstabe b, den Entwurf eines Geset- damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. zes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechts- pflege und des Jugendgerichtsgesetzes für erledigt zu Dritte Beratung erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –fehlung ist einstimmig angenommen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12565

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksa-Sammelübersicht 209 auf Drucksache 14/4406. Wer(C) che 14/4542 unter Buchstabe c, den vom Bundesrat ein- stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält gebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im sich? – Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen Gerichtsverfassungsgesetz für erledigt zu erklären. Wer aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion ange- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- nommen. men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Sammelübersicht 210 auf Drucksache 14/4407. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 28 e: sich? – Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- ausschusses (6. Ausschuss) Sammelübersicht 211 auf Drucksache 14/4408. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesver- Die Sammelübersicht 211 ist damit einstimmig angenom- fassungsgericht men. – Drucksache 14/4355 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder ei- Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, nem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese Brigitte Adler, , weiterer Abgeord- Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- ordneten Winfried Nachtwei, Dr. Uschi Eid, nommen worden. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 f bis j: Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Krisenprävention, zivilen Konfliktregelung ausschusses (2. Ausschuss) und Friedenskonsolidierung – Drucksache 14/3862 – Sammelübersicht 207 zu Petitionen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 14/4404 – Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verteidigungsausschuss ausschusses (2. Ausschuss) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (B) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (D) Sammelübersicht 208 zu Petitionen Entwicklung – Drucksache 14/4405 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen ausschusses (2. Ausschuss) Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Sammelübersicht 209 zu Petitionen Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion das Wort. – Drucksache 14/4406 –

i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kollegin- ausschusses (2. Ausschuss) nen und Kollegen! Wir haben gerade eben in einem ande- Sammelübersicht 210 zu Petitionen ren Bereich von Prävention gesprochen. Dazu passt das Sprichwort, das Herr Schily zitiert hat, sehr gut – ich hatte – Drucksache 14/4407 – es als Eingangssatz vorgesehen –: „Vorbeugen ist besser als heilen.“ Es gibt ein weiteres Sprichwort, das, wie ich j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- meine, sehr gut in diesen politischen Kontext passt. Viel- ausschusses (2. Ausschuss) leicht klingt es ein bisschen makaberer: „Es ist leichter, Sammelübersicht 211 zu Petitionen Geld für den Sarg als für die Medizin einzusammeln.“ – Drucksache 14/4408 – Dies ist ein chinesisches Sprichwort. Sammelübersicht 207 auf Drucksache 14/4404. Wer Krisenprävention – darüber sind wir uns alle im Klaren – stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – ist eine zentrale Aufgabe der Außen-, Entwicklungs- und Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stimmen aller Frak- Sicherheitspolitik. Aber sie reicht darüber hinaus. Dazu tionen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenom- gehören Abrüstung und Rüstungskontrolle, regionale Si- men. cherheit mit vertrauensbildenden Maßnahmen, Transpa- renz und Kooperation. Dazu gehören natürlich auch Rüs- Sammelübersicht 208 auf Drucksache 14/4405. Wer tungsexportkontrolle und in zunehmendem Maße stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Maßnahmen gegen Gewaltökonomien. Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktio- Wir sind uns alle darüber einig, dass Krisenprävention nen angenommen. die beste Friedenspolitik ist. Aber Erfolge von Prävention 12566 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Uta Zapf (A) lassen sich leider schwer messen. Die Verhinderung von In der Realität haben wir es leider nicht nur mit Fällen (C) Gewalt ist nicht sichtbar. Der CNN-Faktor tritt nicht ein, von Prävention zu tun, sondern häufiger mit „post conflict weil kein Blut fließt. Dennoch sind dies Erfolge, die wir peace-building“, wie das so schön heißt. immer wieder bemerken sollten, damit wir sehen, dass die (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Die Gerichtssprache ist Instrumente, die wir nutzen, Erfolg haben. deutsch!) Eine Politik der Krisenprävention basiert auf einem – Ich wollte es gerade übersetzen, Herr Kollege Irmer, da- erweiterten Sicherheitsbegriff. Er umfasst nicht nur mili- mit auch Sie es verstehen. tärische Sicherheit, sondern auch die so genannte mensch- liche Sicherheit, also politische, ökonomische, ökologi- (Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ sche und soziale Sicherheit. Dieses beschreibt auch die DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Ursachen, die Konflikten zugrunde liegen, die – das wis- Dabei handelt es sich um Konflikte, bei denen das Kind sen wir doch – nicht militärisch bekämpft werden können. schon in den Brunnen gefallen ist, Blut geflossen ist und Vielmehr müssen die Konfliktursachen als solche ange- die ersten Schüsse gefallen sind. Außerdem haben wir es gangen werden. mit dem so genannten Peace-making zu tun – ich über- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setze es jetzt gleich wieder –, nämlich mit der Frage, ob DIE GRÜNEN) durch Interventionen Gewalt unterbunden werden kann. Das beinhaltet Achtung der Menschenrechte, Demokratie Ich denke, wir müssen dazu kommen, dass es gar nicht und Rechtsstaatlichkeit sowie die Bewahrung der natürli- erst so weit kommt. Wenn wir das, was wir heute als ei- chen Ressourcen und Entwicklungschancen für alle Welt- nen ganz wichtigen Bestandteil unserer Präventionspoli- regionen. tik betrachten, nämlich den Stabilitätspakt, früher konzi- piert und in dieser Region eingesetzt hätten, dann müssten Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist wahrlich ein wir diese Maßnahmen jetzt vielleicht nicht „post con- umfassender Politikansatz. Ich glaube, dass wir ihn ernst flict“, also nach dem Konflikt, anwenden, sondern hätten nehmen müssen. Wenn wir ihn umsetzen wollen, erfordert sie vielleicht schon vor dem Konflikt mit Erfolg anwen- das auch die Anwendung und die Nutzung friedlicher und den können. gewaltfreier Konfliktregelungsmechanismen. Diese Mechanismen sind vorhanden. Ganz sicher müssen sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausgebaut, gestärkt und weiterentwickelt werden. Es Es ist auch richtig – diese Tatsache darf man in diesem muss aber auch – diese Erfahrung haben wir gemacht – Zusammenhang nicht verschweigen –, dass in der politi- bei den Konfliktparteien dafür gesorgt werden, dass sie schen Diskussion die Entwicklung der militärischen In- (B) diese Instrumente akzeptieren und dann tatsächlich auch strumente zum Krisenmanagement viel größere Aufmerk- (D) in Anspruch nehmen. Nur wenn sie in Anspruch ge-samkeit findet und viel größere Bedeutung hat. Wir nommen werden, können sie auch wirken. müssen aber auch den anderen Bereich sehen, obwohl (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ natürlich die Entwicklung der entsprechenden Reaktions- DIE GRÜNEN) fähigkeit in Krisensituationen und die Möglichkeit, die so genannten Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können, In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir eine In- wichtige Fragen in unserer Diskussion sind. frastruktur für präventive Konfliktbearbeitung schaffen wollen. Ich denke, dies ist nach dem Ende des Ost-West- Genauso richtig ist, dass wir den Übergang von einer Konfliktes wichtiger denn je. Wir haben es mit inneren Kultur der Reaktion zu einerKultur der Prävention Konflikten zerfallender Staaten und den unterschiedli- schaffen müssen, wie es Kofi Annan 1999 gesagt hat. chen Schwierigkeiten derTransformationsländer zu Dazu leistet die Bundesrepublik einen guten Beitrag. tun. Allein 1999 hat es 34 Gewaltkonflikte gegeben, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heißt Konflikte, bei denen Blut geflossen ist. Keiner von DIE GRÜNEN) uns könnte sie hier jetzt vollständig aufzählen, wie ich glaube. Wir haben in Bosnien und Kosovo zwei Konflikte Auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarungen ha- vor unserer Haustür erlebt. Wir wissen inzwischen, dass ben wir – natürlich nicht als Einzige – auf der nationalen dort Prävention versagt hat. Aus den Fehlern, die dort ge- Ebene, auf der EU-Ebene und bei den internationalen Or- macht wurden, müssen und wollen wir die Lehren ziehen. ganisationen OSZE und UNO Initiativen ergriffen. Man muss hier einmal ganz deutlich sagen, dass die Bundesre- Wir fangen dabei ja nicht bei Null an, sondern stehen publik dort einen großen Anteil zur Förderung der präven- in der Tradition von Willy Brandts Entspannungspolitik tiven Instrumente geleistet hat. Zum Beispiel haben wir und des Brandt-Reportes, der hervorgehoben hat – genau im nationalen Rahmen einen zivilen Friedensdienst ein- dasselbe hat Kofi Annan erst kürzlich wieder getan –, dass gerichtet. Wir bilden Fachkräfte wie Rechtsexperten, Ju- Armutsbekämpfung, Investitionen in Bildung und Ge- risten, Diplomaten und andere Zivilexperten aus, die in sundheit wichtiger Bestandteil von Friedenspolitik sind. Friedensmissionen eingesetzt werden können. Es gibt – Frieden braucht Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kol- Frau Schmidt wird das näher beleuchten – eine Neuaus- legen. Deshalb ist Präventionspolitik natürlich auchrichtung der Entwicklungspolitik. Außerdem haben wir Weltwirtschaftspolitik und Entwicklungspolitik. Darauf einen Sonderbeauftragten für Konfliktprävention einge- wird nachher meine Kollegin Dagmar Schmidt intensiver setzt, der auf allen Ebenen, also auch auf der der interna- eingehen. tionalen Organisationen, die Aufgaben koordiniert. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12567

Uta Zapf (A) Wir haben auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul 1999 be- UNO, sondern die Mitgliedstaaten schuld, die sich zu Re- (C) schlossen – das war eine EU-Initiative zur Zeit der deut- formen nicht durchringen können und die immer auf- schen Präsidentschaft –, zivileKrisenreaktionskräfte, schreien, wenn etwas Geld kostet. die so genannten REACT-Kräfte – das heißt: Rapid Ex- Mit diesem Bahimi-Bericht sollten wir uns, denke ich, pert Assistance and Cooperation Teams –, aufzustellen. näher auseinander setzen. Ich möchte alle Fraktionen auf- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Thanks for the transla- fordern, unsere Regierung darin zu unterstützen, dass tion!) diese Maßnahmen so gut wie möglich in der UNO veran- Es handelt sich also um Experten, die zur Beratung und kert werden, sodass auch die Kapazitäten zur Planung von zur Unterstützung da sind. Sie sollen helfen, Konflikte zu Friedensmissionen geschaffen werden können, dass es lösen. Wir kommen auch auf dieser Ebene zu mehr Ver- Stand-by-Kontingente gibt – die Bundesregierung hat ja bindlichkeit und zu einer schnelleren Reaktion auf Krisen. bereits ihre Kontingente zugesagt –, dass die Polizeimis- Dies ist ein wichtiger Punkt. sionen gestärkt werden, dass eine Datenbasis vorhanden ist, um einen Pool von Experten schnell abrufen zu kön- Unsere Arbeit schlägt sich nicht nur auf nationalernen und wirklich zu „early warning“ und „early action“ zu Ebene – Herr Schily hat das vorhin erwähnt –, sondern kommen, damit wir nicht erst mit militärischen Kräften auch auf der Ebene der UNO und der EU nieder. ManFrieden stiften müssen. weiß, dass wir mehr Polizei brauchen, weil wir die zivile Ordnungsmacht über Ausbildung, Schulungen für solche Krisenprävention kostet auch Geld. Aber ich erinnere Einsätze und über das Vorhalten von in Krisenfällen ein- daran, dass Kriege ein Stückchen teurer sind: alleine satzbereiten Kontingenten stärken wollen. 13 Milliarden DM für den Golfkrieg, einen Krieg, an dem wir physisch gar nicht teilgenommen haben. Wenn man Nachdem wir zunächst über eine Gemeinsame Außen- dies so betrachtet, ist Prävention im Verhältnis sicherlich und Sicherheitspolitik diskutiert und in diesem Rahmen eine billige Maßnahme. Wenn wir über Prävention reden eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik – das tun wir alle seit vielen Jahren, ohne dass so viel ge- bzw. eine Verteidigungsinitiative konzipiert haben, haben schehen ist, wie ich meine, dass hätte geschehen müssen –, wir in der EU begriffen – ich finde das besonders erfreu- dann sage ich – Herr Irmer, Sie werden es mir verzeihen: lich –, dass wir – das geht auf eine deutsche Initiativewieder in Englisch –: „Take your money where your zurück; das muss man hier einmal ganz laut sagen – eine mouth is.“ Das heißt: Nimm das Geld in die Hand und zivile Komponente brauchen. Eine solche zivile Kompo- mach keine großen Sprüche. nente ist gleichrangig mit dem Militärischen eingebaut worden, indem man für das zivile, nicht militärische Kri- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Enjoy your food!) (B) (D) senmanagement einen Ausschuss eingerichtet hat. Dies – Thank you. zeigt den Stellenwert, den wir der Prävention mittlerweile Gott sei Dank beimessen. Ich halte das für wichtig. (Heiterkeit bei allen Fraktionen) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das heißt auch, dass wir die in den Haushalt 2000 einge- DIE GRÜNEN) stellten Mittel, die die Bundesregierung für Krisen- prävention vorgesehen hat, in der Tat verstetigen müssen. Lassen Sie mich als Letztes dieUNO erwähnen. Die Ich denke, alle Parteien werden unterstützend helfen, dass UNO wurde in den letzten Jahren immer als ein Papierti- diese Mittel in den Haushalten verstetigt werden. Präven- ger bezeichnet. Sie hat Missionen ausgeführt, die intion, meine Damen und Herren, ist eine Daueraufgabe und Schwierigkeiten geraten sind. Sie hat keine ausreichenden keine Eintagsfliege. Mittel gehabt, um die Aufträge des Sicherheitsrates sach- gemäß zu erfüllen. Wer der UNO keine sachgemäßen Mit- Deutschland hat großen Anteil daran – ich habe es ge- tel, sowohl was Geld als auch was Personalstärke, Kapa- schildert –, dass die Krisenprävention in der internationa- zitäten für Planung und Ähnliches angeht, an die Hand len Diskussion wieder in den Vordergrund gerückt ist. gibt und sie nach einer misslungenen Mission als Papier- Prävention kann aber nur greifen, wenn sich die beteilig- tiger bezeichnet, der argumentiert falsch. Nur wer hin- ten Konfliktparteien bereit erklären, die Hilfe anzuneh- sichtlich seiner Mittel in der Lage ist, zu tun, was man ihm men, die ihnen präventive Instrumente bieten können. In- aufträgt, der kann so agieren, wie man es von ihm erwar- soweit haben wir auch noch eine gewisse politische Arbeit tet. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Stärkung der vor uns, um es verbindlicher zu machen, Hilfe der UNO, UNO für ganz wichtig. Die Strukturen und die Fähigkei- Hilfe der OSZE oder auch Einzelhilfe von Beratungs- ten der UNO für Friedensoperationen müssen dringend teams anzunehmen, wo Konflikte auftauchen. gestärkt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Kom- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der men Sie bitte zum Schluss. CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen den Brahimi-Bericht, der, glaube ich, im Uta Zapf (SPD): Ich bin beim letzten Satz, Herr August erschienen ist, sehr ernst nehmen. Er beschreibt Präsident. – Wir wollen alle gemeinsam kein neues auf eine sehr offene und ungeschminkte Art und Weise die Bosnien, kein neues Kosovo, wir wollen aber auch keine vorhandenen Defizite. An diesen Defiziten sind nicht die militärische Interventionskultur, sondern wir wollen eine 12568 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Uta Zapf (A) politische, zivile Präventionskultur. Lassen Sie uns ge- Zweitens. Weniger zwischenstaatliche, sondern meist (C) meinsam darauf hinarbeiten. innerstaatliche Konflikte sind es, die den Frieden ge- fährden. Das frühere Jugoslawien hat es sehr deutlich ge- Danke sehr. macht. In Somalia war es ähnlich; plötzlich wurden aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den innerstaatlichen Unruhen aufgrund der hohen Opfer- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zahlen internationale Konflikte. Es geht also nicht mehr PDS) allein um die Sicherheit von Staaten vor Angriffen von Aggressoren von außen, sondern um die Sicherheit der in den Staaten lebenden zivilen Bevölkerungsgruppen, ins- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als besondere wenn deren physisches Überleben gefährdet nächster Redner hat der Kollege Clemens Schwalbe von und die allgemeinen Menschenrechte grundlegend und in der CDU/CSU-Fraktion das Wort. massiver Weise verletzt und missachtet werden. Waren früher Regierungen Ansprechpartner für Frie- Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Präsident! denslösungen, die eventuell durch internationale Verträge Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Konflikte Verpflichtungen eingehen konnten, stellt sich heute für der letzten Jahre haben die internationale Staatenge-die internationale Gemeinschaft oft die Frage: Wer ist meinschaft massiv überfordert, seien es die Konflikte im überhaupt Ansprechpartner für welche Verhandlung; wer ehemaligen Jugoslawien, seien es die Konflikte in Afrika hat von wem welches Mandat? oder Asien. Warum? Die herkömmlichen Konflikt- und Präventionsszenarien gingen zumeist von Konflikten zwi- (Beifall bei der CDU/CSU) schen zwei Staaten aus, bei denen die Vereinten Nationen Dies erfordert von den eingesetzten Vermittlern und als Vermittler und Schlichter dazwischentreten konnten. von dem Friedenspersonal umfassende Kenntnisse der re- Heute dagegen sind Konflikte mehr und mehr innerstaat- gionalen und kulturellen Gegebenheiten, die meist nicht lich, regional, religiös und ethnisch begründet, sodass die oder nur unzureichend vorhanden sind. Dies fängt bei der althergebrachten Eingriffsmittel nicht mehr anwendbar Sprache an und geht bis hin zu der Frage – das habe ich sind. Die Konflikte entwickeln sich durch die innerstaat- im Gespräch mit deutschen Soldaten im Kosovo, die dort liche Abgeschottetheit subtiler und langsamer, ehe sie der eingesetzt waren, selbst erlebt –: Wie unterscheide ich ei- Weltöffentlichkeit auffallen. Dann ist es meist zu spät und gentlich Bosnier und Serben? Das sind schlichtweg unbe- die Situation oftmals verfahren, weil die Ursachen viel antwortbare Fragen für Außenstehende, die eine Schlich- tiefer liegen und für Außenstehende zunächst schwer zu tung im Einzelfall ungemein erschweren. analysieren sind. Drittens. Sanktionsmechanismen wiehumanitäre (B) Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich daher Hilfe und wirtschaftliche Embargos, deren sich die Ver- (D) für die Vereinten Nationen völlig neue Handlungserfor- einten Nationen bedienten, haben sich weit weniger dernisse, insbesondere bei der Bewältigung von Krisen durchschlagskräftig erwiesen als vielfach angenommen. und Konflikten, gestellt. Deshalb ist der Antrag von SPD Vor allen Dingen treffen sie in erster Linie wieder die Zi- und Bündnis 90/Die Grünen in der Analyse der Situation vilbevölkerung, wie zum Beispiel die Sanktionen gegen und der erforderlichen Maßnahmen im Grundsatz zutref- den Irak oder gegen Restjugoslawien. Wirtschaftssanktio- fend. nen wirken in der Regel nur längerfristig und auch nur, (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- wenn diese konsequent durchgeführt werden. Aber so NIS 90/DIE GRÜNEN) lange können bedrohte Menschen in den jeweiligen Län- dern nicht warten. Präventionen, Eindämmungen und Beendigung der Vielfalt von ethnischen, religiösen und bürgerkriegsähnli- Viertens. Das zivile und militärische Personal der Frie- chen Konflikten sind eine der gegenwärtig wichtigsten si- denseinsätze ist oft durch die unkontrollierte Gewaltbe- cherheitspolitischen Herausforderungen der internationa- reitschaft der lokalen, regionalen und nationalen Gruppen len Politik. und Bürgerkriegsparteien gefährdet. Ohnemilitärische Absicherung bleibt bei diesen Einsatzkräften oft nur die Dass die Vereinten Nationen ebenso wie die meisten Resignation und der Rückzug aus den Krisengebieten. der regionalen Sicherheitseinrichtungen dieser Heraus- Denn es besteht die Gefahr für die UN-Einsatzkräfte, in forderung in der gegenwärtigen Ausgestaltung nicht ge- einen Konflikt hineingezogen zu werden und die Unpar- wachsen sind, ist nach den zahlreichen Erfahrungen zum teilichkeit zu verlieren. Die Einsatzgruppen müssen des- Beispiel in Somalia, Ruanda, Sudan oder Bosnien mehr halb besser ausgebildet und besser ausgestattet werden. als offensichtlich. Die Gründe hierfür sind verschieden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Erstens. Die Zahl der Konflikte ist überwältigend und neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ nimmt nicht ab, sondern eher zu. Sie erstrecken sich vom DIE GRÜNEN) Süden Afrikas über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Sie müssen diesen Herausforderungen gewachsen sein. Osten, das südliche Europa bis in die asiatischen Gebiete Das führt bis zu der Tatsache, dass sie ein klares Mandat der früheren Sowjetunion. Dabei geht es keineswegs um zum Selbstschutz haben müssen. kleine Auseinandersetzungen, sondern um Dimensionen, bei denen Millionen von Menschen umgebracht oder ver- All das zeigt: Die Aufgabe der internationalen Staaten- trieben werden. Dabei sind es meist Zivilisten, Frauen, gemeinschaft des 21. Jahrhunderts ist in erster Linie die Kinder und alte Menschen, die es am schwersten trifft. Krisenprävention. Deshalb unterstützen wir die in Ihrem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12569

Clemens Schwalbe (A) Antrag angemahnte Stärkung und Reform der Vereinten – das ist keine Gretchenfrage – beantworten Sie in Ihrem (C) Nationen einschließlich des Sicherheitsrates. Ich weise in Antrag nicht. Wir haben Haushaltsrealitäten, die eine an- diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass die dere Sprache sprechen. Im Haushaltsausschuss werden CDU seit langem ein umfangreiches Konzept zur Reform Ihre Forderungen durch Ihre eigenen Kollegen wieder der Vereinten Nationen formuliert hat. kassiert. Das ist eine Tatsache. Ich will auf diesen Fakt nicht näher eingehen, weil wir (Beifall bei der CDU/CSU) bereits gestern Abend in der Debatte zu den Vereinten Na- Ein weiteres Hauptproblem besteht ganz banal in den tionen ausgiebig darüber gesprochen haben. währungspolitischen Realitäten. Schließlich werden die (Uta Zapf [SPD]: Geschrieben haben!) Beiträge zu den Vereinten Nationen inDollar gezahlt, – Oder besser gesagt: geschrieben haben; denn wir haben wodurch sich aufgrund des sich ständig verschlechtern- die Reden zu Protokoll gegeben. Aber sie sind ja für jeden den Kursverhältnisses zum Euro die Aufwendungen für nachlesbar. Beide Anträge betreffen den Millenniumsgip- die UNO-Beiträge erheblich erhöhen. Über dieses Pro- fel und wir werden beide Anträge mit Sicherheit gemein- blem ist in der Haushaltsbereinigung noch kein Wort ge- sam behandeln. sprochen worden. Allerdings halte ich es für nicht gut – Frau Zapf, Sie ha- Die Forderung nach der Verankerung der Menschen- ben es ja etwas korrigiert –, dass im Antrag so formuliert rechtskriterien im Rahmen einer restriktivenRüstungs- wird, als würden erst seit 1998 von der deutschen Bun- exportpolitik halte ich für begrüßenswert; sie wird aber desregierung Konfliktprävention und Konfliktregelung von Ihnen selbst – ich nenne als Beispiel die Türkei – kon- betrieben. Es gab schon vor der heutigen SPD-Regierung terkariert. eine Zeit, in der maßgebliche Weichenstellungen erarbei- (Uta Zapf [SPD]: Also bleiben Sie ein bisschen tet wurden. mehr bei der Wahrheit! Opposition ist in Ord- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: nung! Aber das geht zu weit!) Eine gute Zeit!) – Frau Zapf, es ist doch Realität, dass Sie das, was Sie – Dies war eine sehr gute Zeit. früher an der Kohl-Regierung bemängelt haben, heute in der eigenen Regierung umsetzen. Das betrifft besonders Dies trifft übrigens auch für die Einrichtung des Inter- die Türkei; die Türkei ist NATO-Partner und deshalb müs- nationalen Gerichtshofes zu, die nicht allein auf die Ver- sen Sie sie anders behandeln. Auf diesem Feld hat die dienste der jetzigen Regierung zurückgeht; sie findetMacht des Faktischen auch eingeholt. ihren Ursprung vielmehr in der erfolgreichen Kohl-Ära. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass (B) ( [SPD]: Sagen wir: zu 90 Pro- es außerordentlich wichtig ist, das Personal, welches un- (D) zent!) ter großen Entbehrungen, mit großem Elan und Enthusi- Die hehren Forderungen, die verschiedenen nationalen asmus an internationalen Einsätzen teilnimmt, entspre- und internationalen Ansätze für die Einrichtung rasch ver- chend vorzubereiten. Auch dürfen die Auslandseinsätze fügbarer ziviler Friedens- und Katastrophenhilfseinheiten den Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen. Es muss zu überprüfen und weiter zu entwickeln, wie Sie sie in gewährleistet werden, dass ihr Auslandseinsatz respek- Ihrem Antrag formuliert haben, sind aus unserer Sicht tiert und gewürdigt wird. Die Tatsache, dass dies heute durchaus lobenswert und finden auch unsere Unterstüt- noch nicht der Fall ist, wird deutlich, wenn man sich die zung. Frage stellt: Warum gehen so wenige in die Auslands- einsätze? Dies liegt nicht zuletzt daran, dass den Betrof- Dennoch sei die Frage erlaubt: Aus welchen Mitteln fenen im Inland häufig nachgesagt wird, sie gingen auf sollen diese Hilfseinheiten eigentlich bezahlt werden? Vergnügungsreise. Die Haushaltsansätze sind doch in all diesen Bereichen gekürzt worden. Frühere Ausbildungshilfen der Bundes- Die UNO-Einsätze sind auch im Hinblick auf Personal republik für ausländische Polizeien,um vor Ort demo- und Material noch unzureichend ausgestattet. Die Zusage kratische Strukturen bei den Sicherheitskräften zu schaf- von Verteidigungsminister Scharping, mehr Material für fen, wurden von Ihrer Seite regelmäßig verurteilt. Heute UNO-Einsätze zur Verfügung zu stellen, ist zwar sehr fehlt uns auf diesem Feld entsprechendes Personal. Des- begrüßenswert, allerdings darf darunter nicht die Vertei- halb ist in Ihrem Antrag richtig erkannt worden, dass un- digungsfähigkeit der Bundesrepublik als solches leiden. sere Polizeien kaum in der Lage sind, diese Lücke zu fül- Wie die Bundesregierung in Anbetracht der massiven len. Einsparungen im Verteidigungshaushalt diesen Spagat bewerkstelligen will, muss ebenfalls noch geklärt werden. Des Weiteren klingen Ihre Forderungen nach einer Er- höhung der freiwilligen Beiträge der Bundesrepublik zu den Organisationen des Wirtschafts- und Sozialbereiches Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen der Vereinten Nationen, insbesondere zu demBevölke- Sie bitte zum Schluss. rungsfonds und dem Entwicklungsprogramm,eben- falls sehr großzügig. Aber schauen wir den Tatsachen in (CDU/CSU): Letzter Satz, Herr die Augen: Von welchem Geld soll das bezahlt werden? Clemens Schwalbe Präsident. – Der Tatsache, dass all diese genannten For- Diese Frage derungen Geld kosten, steht eine Haushaltspolitik gegen- (Uta Zapf [SPD]: Das ist die Gretchenfrage!) über, die dem nicht gerecht wird. Die Entwicklungshilfe 12570 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Clemens Schwalbe (A) wird gekürzt, und es werden – darauf wird mein Kollege Kosovo-Krieges ab. In der Entwicklungszusammenarbeit (C) Weiß noch eingehen – Botschaften in vielen Ländern ge- bekam die Krisenfrüherkennung einen deutlich höheren schlossen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Details Stellenwert. Endlich aufgenommen und gefördert wurden bei der Beratung des Antrages in den Ausschüssen klären die Initiativen der Kirchen und der Friedensbewegung für könnten, damit die von mir eben genannten Ziele und For- einen zivilen Friedensdienst, deren Vertreter bei der al- derungen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch ten Koalition – daran kann ich mich noch sehr deutlich er- umgesetzt werden. innern – immer gegen eine Wand der Ignoranz gelaufen sind. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Uta und bei der SPD) Zapf [SPD]: Wenn Sie nicht so viele Schulden gemacht hätten, hätten wir viel mehr Geld für In der nächsten Ausbaustufe sollten die Fachkräfte der Prävention!) Friedensdienste mit denen der anerkannten Entwick- lungsdienste gleichgestellt werden. Im Bereich des Aus- wärtigen Amtes wurde ein Training für Teilnehmer an in- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bünd- ternationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen nis 90/Die Grünen. und der OSZE entwickelt. Das bedarf unbedingt einer „richtigen“ finanziellen und personellen Absicherung und der Weiterentwicklung um Einsatzbegleitung und -aus- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wertung. Das Auswärtige Amt bestellt einen Krisenbeauf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kolle- tragten und unterstützt seit 2000 internationale Maßnah- gin Zapf und Kollege Schwalbe haben sehr deutlich ge- men der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung in macht: Gewalt- und Krisenprävention bei innerstaatli- einem erheblich höheren Maße als vorher. chen Konflikten sind keine Modewörter, sondern eine dringende Notwendigkeit. Auf multilateraler Ebene, sowohl auf der Ebene der G-8-Staaten, also der bedeutendsten Industriestaaten, als Die internationale Gemeinschaft hat seit geraumer Zeit auch auf der Ebene der Europäischen Union, gehörte die Erfahrungen mit innerstaatlichen Gewaltkonflikten. Da- Bundesregierung zu den tatsächlich treibenden Kräften raus ergeben sich sehr deutlich die Anforderungen an eine auf dem Feld der Krisenprävention und der Weiterent- Krisenprävention. Erstens. Sie sollte möglichst früh an- wicklung der entsprechenden Fähigkeiten. Das Beispiel setzen, vor allem auch strukturell. Hierzu hat die Kollegin der OSZE-React-Einheiten ist schon genannt worden. Zapf deutliche Ausführungen gemacht. (B) Wer weiß schon, dass im Rahmen dereuropäischen (D) Zweitens. Es ist notwendig, dass die internationaleSicherheits- und Verteidigungspolitik nun auch Mecha- Staatengemeinschaft Kohärenz in ihrem Handeln beweist nismen und Fähigkeiten der nicht militärischen Krisen- und dass die Akteure nicht gegeneinander arbeiten, dass bewältigung aufgebaut werden? Bis 2003 will die Euro- also die staatlichen und die nicht staatlichen Akteure ge- päische Union 5 000 Polizeibeamte für Kriseneinsätze nauso wie die internationalen und die einheimischen Ak- zur Verfügung haben. Planziele werden zurzeit für Fach- teure möglichst kooperieren und nicht nebeneinander her- personal entwickelt, das zur Stärkung des Rechtsstaats, arbeiten oder sogar gegeneinander arbeiten, beispielsweise dass im Justizwesen, eingesetzt werden soll. Es schließlich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den wurde inzwischen ein Sonderfonds zur schnellen Finan- verschiedenen Instrumenten der Krisenprävention besteht zierung von kurzfristigen Maßnahmen der nicht militäri- und dass natürlich eine kontraproduktive Politik unterlas- schen Krisenbewältigung eingerichtet; ein entsprechen- sen wird. der Koordinierungsausschuss wurde aufgebaut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die bisherigen Leistungen der Bundesregierung zu- und bei der SPD) sammengefasst: Das Jahr 2000 markiert einen Durch- Im Gegensatz zu diesen konkreten Anforderungen ist bruch beim Aufbau ziviler Krisenkräfte. in der Öffentlichkeit und in der Politik, auch in unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Politik, noch immer die Vorstellung verbreitet, Krisen- und bei der SPD) prävention und -verhütung wäre vornehmlich oder fast Dafür möchte ich den beiden Ministerien – hier vertreten ausschließlich eine militärische Aufgabe. Entsprechend durch die beiden Staatssekretäre, die diesen Politikbe- unausgewogen ist bisher das Verhältnis zwischen den reich vorantreiben – ausdrücklich danken. Zu danken ist Fähigkeiten militärischer Krisenreaktion und denen zivi- aber auch den Nichtregierungsorganisationen und den ler Krisenprävention, und zwar sowohl auf europäischer Friedensforscherinnen und -forschern, die zu dem Durch- Ebene als auch auf der weltweiten Bühne. Aus dieser Ein- bruch beigetragen haben. sicht heraus vereinbarten SPD und Bündnisgrüne in ihrem Koalitionsvertrag unter anderem den Aufbau einer Infra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN struktur für zivile Krisenprävention und Konfliktverhü- und bei der SPD) tung. Durchbruch heißt aber nicht, das Ziel erreicht zu ha- Die Bundesregierung machte sich sofort an die Umset- ben. Wir sollten uns nichts vormachen: Wir stehen am zung, wartete also nicht die schlimmen Erfahrungen des Anfang eines längeren Weges. Ich will an zwei Aspekten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12571

Winfried Nachtwei (A) verdeutlichen, was notwendig ist, um weiter voranzu- Wir Antragsteller sehen uns in der Pflicht, für den Kurs (C) kommen. der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Krisen- Erstens nenne ich die internationalen Polizeimissio- prävention die unbedingt notwendige Basis zu schaffen. nen. In den letzten Jahren haben sie sich immer deutlicher Danke schön. zu ganz zentralen Instrumenten der Friedenskonsolidie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung und der Gewalteindämmung herausgebildet. Hierzu und bei der SPD) leistet die Bundesrepublik quantitativ und qualitativ her- vorragende und vorbildliche Beiträge. Das wäre ohne die Mitwirkung der Länder nicht möglich gewesen. Den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als Ländern ist für diesen Beitrag, der zum Teil auf eigene nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer Personalkosten ging, vom ganzen Bundestag ausdrück- von der F.D.P.-Fraktion. lich zu danken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ulrich Irmer (F.D.P.): Sorry, Mrs. Zapf. I give my und bei der SPD) speach in German. I hope you understand nevertheless. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rot-Grü- Ich sagte vorhin schon, dass die Europäische Union bis nen haben uns hier wieder einen wunderschönen Antrag zum Jahr 2003 über 5 000 Polizisten für solche Einsätze vorgelegt. zur Verfügung haben will. Das heißt aber für die Bundes- republik, dass wir dafür erheblich mehr Polizeibeamte zur (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Verfügung stellen müssen als die zurzeit im auswärtigen SES 90/DIE GRÜNEN) Einsatz befindlichen rund 600 Beamten. Im Klartext be- Schon rein sprachlich ist er ein absoluter Genuss, wenn ich deutet das, dass wir in diesem Bereich ohne zusätzliche zum Beispiel lese: „humanitäre und gewalttätige Krisen“. Stellen beim Bundesgrenzschutz und bei den Länderpoli- zeien wohl nicht auskommen werden; denn die Länder- Ich wandle einen Spruch aus dem Film „Sein oder polizeien werden die erheblichen zusätzlichen Aufgaben Nichtsein“ von Ernst Lubitsch geringfügig ab: Was Sie wohl kaum aus eigener Kraft bewältigen können. mit der deutschen Sprache machen, das machen die Rus- sen mit Tschetschenien. Zweitens. Notwendig ist eine ausgewogene Beteili- gung aller Länder und des Bundes bei der Entsendung, (Beifall bei der F.D.P. – Zurufe von der SPD Ausbildung, Einsatzbegleitung und Reintegration der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Beamten. Es ist vorbildlich, wie viele Beamte Nordrhein- Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) (D) Westfalen entsendet und was es mit dem Polizeifortbil- Das war aber ein Fehlgriff!) dungsinstitut „Carl Severing“ bei der Ausbildungsbeglei- – Ich bin liberal; ich darf das. tung leistet. Es ist aber zugleich wenig verantwortlich, wenn einige Länder kaum oder gar keine Polizisten ent- Meine Damen und Herren, zur Sache: Zivile Krisen- senden und wenn es weiterhin die Auffassung gibt, dass prävention, ziviler Friedensdienst – wir haben das vorhin die Betreuung und Reintegration überflüssig sind. schon gehört – sind die letzten „leftovers“ des Koaliti- onsvertrages zur Bedienung der friedensbewegten rot- Die Weiterentwicklung des deutschen Beitrags zu in- grünen Stammklientel. ternationalen nicht militärischen Polizeimissionen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die sich endlich auch in Berlin (Uta Zapf [SPD]: Ach ja?) widerspiegeln muss. Wenn sich der Verteidigungsaus- Der vorliegende Antrag beeindruckt besonders durch schuss in besonderem Maße mit dem Thema beschäftigt seine Leistung, die Organigramme des Auswärtigen Am- hat, aber der Innenausschuss meines Wissens noch gar tes und des BMZ mit ihren Aufzählungen fachlicher Zu- nicht, dann muss man sagen, dass da etwas nicht stimmt. ständigkeiten zu einem literarischen Meisterwerk zu ver- (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dichten. Unter Prävention gewalttätiger Krisen versteht NEN]: Beide fehlen hier heute!) der Antrag das Zusammenwirken verschiedener staat- Ein letzter Punkt: die Finanzen. Die Krisenprävention licher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure und ist erheblich billiger als zu spätes Krisenmanagement; vermittelnder Kräfte zur Früherkennung und Behebung aber sie ist nicht zum Nulltarif zu haben und auch nicht von Krisensituationen. aus der Portokasse zu bezahlen. Die neuen Aufgaben und neuen Instrumente brauchen ausreichende, verlässliche Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- und mittelfristig steigende Finanzmittel. Meiner Auffas- lege Irmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen sung nach lassen sich diese aus den äußerst begrenzten Dr. Schuster? Haushalten des Auswärtigen Amtes, des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Innenministe- (F.D.P.): Gerne. rien nicht mehr erwirtschaften. Die Größenordnung Ulrich Irmer dieses Finanzbedarfs – es geht um einige Dutzend Milli- onen DM – dürfte und sollte aber unseren Finanzminister Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr nicht abschrecken. Schuster, bitte schön. 12572 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Dr. R. Werner Schuster (SPD): Ich kann ja verste- Wir sind ja schon gewöhnt, dass mehr oder weniger ge- (C) hen, dass Sie mit dem sprachlichen Duktus dieses Antra- fährliche schwarze Schafe der Vergangenheit einer be- ges nicht einverstanden sind. Aber halten Sie es in diesem sonderen Resozialisierung unterzogen werden. Bei Frau Hause für wirklich angemessen, einen Vergleich mitMaier-Witt ist es jetzt die Krajina; auch am Kabinettstisch Tschetschenien zu ziehen, wo Menschenrechte in einer gab es ja bereits einen Fall. Form verletzt werden, die wirklich unerträglich ist? (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Herr Solms, Sie sollten jetzt Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Kollege Schuster, ich habe eingreifen!) den Film „Sein oder Nichtsein“ zitiert. Ich spiele ihn Ih- Insgesamt 17 Millionen DM stellt die Bundesregierung nen gerne vor. Das ist erlaubte Satire. in diesem Jahr für den zivilen Friedensdienst zur Verfü- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten gung. Sie bestreiten dann auch noch, dass hier ein krasser der CDU/CSU) Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, wenn man auf der anderen Seite die Kürzungen im deut- Zur Satire fordert Ihr Antrag nun weiß Gott heraus. Dazu schen Entwicklungsetat betrachtet. Wissen Sie, was das, kann man nichts anderes sagen. was Sie hier machen, ist? Sie schmieren weiße Salbe auf Was Sie hier aufzählen, ist nichts anderes als das, was die grüne Seele. die klassische Diplomatie längst tut, nämlich das Zusam- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten menführen aller möglichen Kräfte. Das ist Querschnitts- der CDU/CSU) aufgabe der Diplomatie als des klassischen Instruments gewaltfreier Konfliktlösung. Was Sie hier unterstellen, ist, Zynisch ist auch Ihre Forderung in dem Antrag auf Er- dass ein Gegensatz zwischen der edlen zivilgesellschaft- höhung der Beiträge der Bundesrepublik Deutschland zu lichen Friedensinitiative, der moralisch eher fragwürdi- den UNO-Organisationen des Wirtschafts- und Sozialbe- gen klassischen Diplomatie und der moralisch geradezu reichs. Dies verlangen Sie, aber was machen Sie in der verwerflichen Sicherheitspolitik besteht. Das finde ich Praxis? Sie haben die freiwilligen Beiträge Deutschlands daran so bedenklich. Sie messen Ihren Dingen einen Edel- zum Kinderhilfswerk UNICEF und zum Flüchtlingshilfs- werk UNHCR um circa 10 Prozent gekürzt. Jetzt sind Sie mut bzw. eine moralische Herausgehobenheit über alles dran. andere zu, und in der Sache ist es ein Schmarren. (Gernot Erler [SPD]: Es ist doch gut, dass wir (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie bei dran sind!) Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Unerhört!) Was macht es denn auf unsere Partner für einen Eindruck, (B) wenn flächendeckend Botschaften geschlossen werden(D) Allerdings wollen Sie ja nicht nur friedlich sein. Sie und man dafür ein Heer von Friedensfachleuten in den wollen eine schnelle Einsatztruppe, die weltweit für Har- Busch schickt? monie unter den Völkern sorgen soll. Wissen Sie, was Ihre schnelle Eingreiftruppe ist? Das ist eine Art Heilsarmee Sie verlangen den Einsatz deutscher Soldaten im Rah- men eines Stand-by-Abkommens. Haben Sie sich eigent- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich einmal darüber Gedanken gemacht, dass Sie damit NEN]: Quatsch! – Zuruf von der SPD: Unver- die verfassungsrechtliche Lage völlig aushebeln? Der schämt!) Deutsche Bundestag ist der Einzige, der über Friedens- von Gutmenschen und Fernethikern, die, mit guten Rat- einsätze deutscher Soldaten zu entscheiden hat. Diese schlägen bewaffnet, auf diversen Kontinenten zwischen kann man doch nicht dem Kommando irgendeines UNO- die Kampfhähne laufen und dort für Friede, Freude, Eier- Befehlshabers unterstellen. Die schnelle deutsche Ein- kuchen sorgen sollen. satztruppe, die Sie fordern, ist eine feine Sache. Aber da- rüber, dass wir vielleicht im Sicherheitsrat der Vereinten (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nationen als ständiges Mitglied Verantwortung überneh- NEN]: Das ist ein böswilliges Missverständnis!) men dürfen, sagen Sie kein Wort. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, das ist die rot- Nun will ich Ihnen am Schluss noch eines draufsetzen. grüne Leitkultur. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Widerspruch bei der SPD) NEN]: Sie setzen sich die ganze Zeit selbst ei- Wissen Sie, wie das in der Praxis aussieht? Das können nen drauf!) Sie nächsten Donnerstag erleben. Nächsten Donnerstag Als ich Ihren Antrag gelesen habe, ist mir spontan eine wird im Mitteldeutschen Rundfunk, der eine öffentlich- Geschichte von Heinrich Böll eingefallen. Wenn Sie diese rechtliche Anstalt ist, ein von unseren Gebühren finan- Geschichte gekannt hätten, hätten Sie Ihre Stiftung im ziertes Feature über die Ex-RAF-Terroristin Silke Maier- Zweifel nicht nach ihm benannt. Ich werde Ihnen einen Witt gezeigt. Die macht nämlich zurzeit in der Krajina Teil dieser Geschichte erzählen, denn ich habe noch ein ein Praktikum im Rahmen ihrer Ausbildung zur staatlich wenig Zeit, und für gute Literatur muss immer Zeit sein. alimentierten Friedensfachkraft. Ich halte das für einen Die Geschichte handelt von einem permanent gefeier- Skandal. ten Weihnachtsfest. Dort ist von gläsernen Zwergen (Beifall bei der F.D.P.) die Rede, die in ihren hoch erhobenen Armen einen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12573

Ulrich Irmer (A) Korkhammer hielten und zu deren Füßen glockenförmige Militärpolitik der Bundesregierung gezogen werden soll, (C) Ambosse hingen. Unter den Fußsohlen der Zwerge waren um all das in Unkenntlichkeit zu hüllen, was dem Koali- Kerzen befestigt. Als ein gewisser Wärmegrad erreicht tionsvertrag, den Ankündigungen aus der Oppositionszeit war, geriet ein verborgener Mechanismus in Bewegung, oder schlicht den offenkundigen tagespolitischen Not- eine hektische Unruhe teilte sich den Zwergenarmen mit, wendigkeiten widerspricht? Die Länge des Antrages – er sie schlugen wie irr mit ihren Korkhämmern auf diehat im Feststellungs- und Forderungsteil immerhin rund glockenförmigen Ambosse ein. Dann war dort der Engel, 50 Anstriche – der immer flüsterte: Frieden, Frieden. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Gernot Erler [SPD]: Weihnachten ist erst in NEN]: Das sind Feststellungen von Tatsachen!) sechs Wochen!) und vor allem die Lobhudelei auf das, was die Bundesre- Am Schluss heißt es: Als die Lampen gelöscht, diegierung bereits auf den Weg gebracht haben soll, könnten Kerzen angezündet waren, als die – das ergänze jetzt ich: für diese Variante sprechen. rot-grünen – Zwerge anfingen zu hämmern, der Engel Wie dem auch sei, liebe Kolleginnen und Kollegen, er- „Frieden, Frieden“ flüsterte, fühlte ich mich lebhaftlauben Sie mir anhand des Antrages an fünf Punkten zu zurückversetzt in eine Zeit, von der ich angenommenverdeutlichen, welches strukturelle und nicht zuletzt per hatte, sie sei vorbei. Liebe Rot-Grüne, herzlich willkom- se politische Defizit bei dieser Bundesregierung in men im Jahre 1968. der Frage ziviler Konfliktvorbeugung, -bearbeitung und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – -nachsorge auszumachen ist: Gernot Erler [SPD]: Sie waren heute ein Erstens. Da wird etwa im sechsten und siebten Anstrich Giftzwerg! – Winfried Nachtwei [BÜND- von Punkt 1 des Feststellungsteils und in Punkt 3 des For- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine völlige Ignoranz derungsteils ausgedrückt, welchen wichtigen Anteil die gegenüber den Erfahrungen aus Bosnien und Entwicklungspolitik und ihre angemessene Finanzie- Kosovo! – Weitere Zurufe von der SPD: Nichts rung beim zivilen Handling von Konflikten hat, kapiert! – Der 11.11. ist erst übermorgen!) (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Jetzt hat gerade was die strukturellen und sozialen Bedingungen der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion das betrifft. Das ist wahr. Nur, was ist denn mit dem BMZ- Wort. Haushalt? (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Richtig! Das (B) Carsten Hübner (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolle- habe ich auch schon gefragt!) (D) ginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich feststellen, Er sinkt und sinkt und sinkt. Das ist die Realität. Er liegt dass aus Sicht der PDS-Bundestagsfraktion die Förderung nicht etwa, wie eigentlich international vereinbart, bei ziviler Krisenprävention, des zivilen Konfliktmanage- 0,7 Prozent, sondern bei rund 0,2 Prozent des Bruttoin- ments und der Konfliktnachsorge das Gebot der Stunde, landsprodukts und – so Leid es mir tut – unter Rosa-Grün die einzig adäquate Antwort auf eine Welt der Bürger- niedriger als unter Schwarz-Gelb. kriege und der militärischen Bedrohungsszenarien ist. Hierzu habe ich eine gänzlich andere Einstellung als der (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sehr richtig! Kollege Irmer. Insoweit gehe ich mit dem Antrag der Ko- So ist es!) alitionsfraktionen durchaus mit. Schöne Worte ändern daran nichts. (Beifall bei Abgeordneten der PDS, der SPD (Beifall bei der PDS – Winfried Nachtwei und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss sich Dennoch habe ich mich bei der Lektüre dieses Antrages auch wieder ändern!) ernsthaft gefragt, was er eigentlich soll, welches Ziel er hat. – Das hoffe ich sehr. Ich habe mich gefragt, ob er eher so etwas wie das Pfeifen im dunklen Walde ist, weil eigentlich nichts von dem, was Zweitens. Im neunten Anstrich unter Punkt 1 wird her- in diesem Antrag an Substanziellem enthalten ist, von der vorgehoben, mit der Aufnahme des BMZ in den Bundes- Bundesregierung wirklich in Angriff genommen, sicherheitsrat sei eine Weichenstellung hin zu einemer- weiterten Sicherheitsbegriff vollzogen worden. Ich (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE möchte gern wissen, wo sich dieser erweiterte Sicher- GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) heitsbegriff eigentlich ausdrückt. In der Teilnahme der Bundeswehr an einem völkerrechtswidrigen Angriffs- letztlich wohl nicht einmal wirklich ernst genommen krieg? In der Umgestaltung der Bundeswehr zu einer glo- wird, obwohl es auf den Vereinbarungen im Koalitions- bal handlungsfähigen Interventionsarmee? Oder in der vertrag fußt. Entsendung eines völlig unsinnigen militärischen Sa- Ist der Antrag also eine stille Revolte gegen die real nitätskontingents nach Osttimor, obwohl dort dringend existierende Außen- und Militärpolitik von Fischer,um zivile Hilfe, nämlich um das THW, gebeten worden Scharping und nicht zuletzt natürlich von Gerhardwar? Mir ist deshalb bis heute völlig rätselhaft geblieben, Schröder? Oder ist er stattdessen eher so eine Art Nebel- was sich eigentlich dank des BMZ am Sicherheitsbegriff, wand, die durchaus im Einverständnis mit der Außen- und an der Militärpolitik de facto geändert haben soll. Denn 12574 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Carsten Hübner (A) als Selbstzweck überzeugt die Teilnahme am runden Ein Satz zum Schluss. Sie schreiben im Forderungsteil, (C) Tisch der Sicherheit nicht. Absatz 4, erster Anstrich, dass darauf zu achten sei, „dass das Monopol der Vereinten Nationen zur Ermächtigung (Beifall bei der PDS) von Einsätzen nach Kapitel VII der VN-Charta bewahrt“ Drittens nenne ich die Frage derWaffenlieferungen, bleiben soll. Nun wissen Sie, dass ich Kapitel-VII- des Geschäfts mit dem Tod, einer Säule der ausufernden Einsätze, dass ich Kampfeinsätze aus prinzipiellen Erwä- Konflikte überall auf der Welt. So hat die rosa-grüne Bun- gungen ablehne. Aber ich kann mich durchaus in Ihre desregierung 1999 Waffenexporte in Höhe von 5,92 Mil- Logik versetzen und frage mich – mit aufrichtigem Er- liarden DM genehmigt, unter anderem in die Türkei und staunen –, wer wohl mit dieser Formulierung gemeint ist, in die Vereinigten Arabischen Emirate. Allein Handfeuer- wer wohl davon abgehalten werden soll, sich statt der VN waffen wurden in einer Größenordnung von 461 Milli- Kompetenzen anzueignen, etwa nach Kapitel VII. Da fällt onen DM exportiert. Die Kindersoldatenproblematikmir mit Blick auf die letzten Jahre eigentlich nur die spreche ich bloß am Rande an. Lediglich 85 Anträge, ins- NATO ein, besonders natürlich die USA und Großbritan- gesamt in Höhe von 10,2 Millionen DM, wurden abge- nien, aber nicht zuletzt auch die Bundesrepublik Deutsch- lehnt. land. Mit fällt da vor allem der Kosovo-Krieg ein, bei dem Das Ganze ging 2000 ungebremst weiter, zum Beispiel offenkundig planmäßig die UNO ausgeschaltet worden mit der Munitionsfabrik für die Türkei. Auch der Leo 2 ist ist. Ein solches Verfahren hier derart zu kritisieren und für ja noch immer nicht endgültig vom Tisch. Der Punkt je- die Zukunft ausschließen zu wollen begrüße ich aus- denfalls, in dem Sie in Ihrem Antrag auf die angeblich drücklich; das möchte ich hier schon sagen. menschenrechtsgeleitete restriktive Rüstungsexportpoli- Vielen Dank. tik verweisen, ist vor diesem Hintergrund wohl eher als Irrläufer zu bezeichnen – oder als Trauerspiel, wie Sie (Beifall bei der PDS) wollen. Viertens. Mit Blick auf die Stärkung und Reform der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als Vereinten Nationen heißt es bei Ihnen unter Punkt 4, vier- nächste Rednerin hat Kollegin Dagmar Schmidt von der ter Anstrich, des Forderungsteils, Sie fordern die Bundes- SPD-Fraktion das Wort. regierung dazu auf, „sich für effektivere, zielgenaue und flexible nicht militärische Sanktionen einzusetzen“. Sehr (Gernot Erler [SPD]: Jetzt wird es hier endlich richtig! Aber wie wäre es denn, wenn sich die Bundesre- wieder sachlich!) gierung zunächst einmal offensiv gegen die völlig inak- zeptablen Sanktionen einsetzte, die zielgenau ganze Be- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Herr Präsident! (B) völkerungen an den Rand der Verelendung gedrängtLiebe Kolleginnen und Kollegen! Als Entwicklungspoli- (D) haben, wie etwa im Falle Kubas oder des Iraks, wo bereits tikerin frage ich mich: Was hat sich in der Welt verändert, Hunderttausende Zivilisten ums Leben gekommen sind, dass wir nach neuen Ansätzen im Umgang mit Krisen und zumeist Kinder und alte Menschen, ohne dass am Stuhl Konflikten suchen? Weshalb wollen wir den Begriff der von Saddam Hussein auch nur ernsthaft gerüttelt worden Krisenprävention einer Neubewertung unterziehen? Wel- wäre? che Folgerungen müssen wir in der Entwicklungspolitik (Beifall bei der PDS) ziehen? Womit ich bei Punkt fünf wäre: Im Begründungsteil Mit dem Fall der Mauer ist das 20. Jahrhundert zu Ende haben Sie unter Punkt 4 formuliert, dass originärzivile gegangen. Wir haben lernen müssen, dass an die Stelle der Aufgaben in Krisenregionen auch zivil und nicht durch waffenstarrenden Konfrontation von Allianzen und Soldaten wahrgenommen werden sollen. Aber fragen Sie Blöcken eine alles andere als friedliche Welt getreten ist. doch einmal Ihren Verteidigungsminister und seine mi- Ohne Frieden ist nachhaltige Entwicklung aber schwierig, litärischen Berater, ob sie das auch so sehen wenn nicht sogar unmöglich. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das 21. Jahrhundert darf kein Jahrhundert zunehmen- NEN]: Doch! Die sehen das auch so!) der sozialer Unterschiede werden. Die ärmsten Länder oder ob sie sich diese Aufgabenfelder nicht geradezu als und Regionen drohen mehr und mehr marginalisiert zu Feigenblatt heranziehen. Die UN-Kommissarin fürwerden. Armut, Umweltzerstörung, knappe Ressourcen, Flüchtlinge, Ogata, hat vor einigen Monaten genau auf zerfallende Staaten – das alles birgt viel Konfliktstoff und diesen Umstand, auf die Militarisierung der humanitären beeinträchtigt das Recht auf Entwicklung. Hilfe, verwiesen, und zwar sehr kritisch. Rot-grüne Regierungsverantwortung mit ihrem erwei- terten Sicherheitsbegriff schließt die entwicklungspoliti- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen sche Komponente ein. Die drei Kernbereiche der interna- Sie bitte zum Schluss. tionalen Beziehungen, Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik, bilden ein gleichschenkliges strate- gisches Dreieck. Wir in der Entwicklungspolitik gehen Carsten Hübner (PDS): Jetzt mache ich „fast spea- natürlich davon aus, dass unser Ressort die Basis dieses king“, okay? Dreiecks bildet, auf der die beiden anderen Schenkel auf- (Heiterkeit) bauen. Ich bin gleich am Ende. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12575

Dagmar Schmidt (Meschede) (A) Sicher, Entwicklungspolitik verspricht nicht blühende Es geht also um die Stärkung eigener Strukturen in den (C) Landschaften überall, sofort und gleichzeitig, aber sievon Konfliktszenarien bedrohten oder betroffenen Län- stößt Prozesse an, die in vielfältiger Weise Beiträge zu ei- dern. Es geht um den Abbau struktureller Konfliktursa- genständiger Entwicklung leisten. Derzivile Friedens- chen. Es geht schlicht um Entwicklung. dienst kann nicht oft genug genannt werden. Auch der Stabilitätspakt für Südosteuropa ist in unserem Ressort in Vertrauensbildende Maßnahmen, Dialogprogramme guten Händen. und Friedenserziehung, Versöhnungsarbeit und gesell- schaftlicher Wiederaufbau – das sind aus entwicklungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter Weiß politischer Sicht entscheidende präventive Maßnahmen, [Emmendingen] [CDU/CSU]: Deshalb gibt es Maßnahmen der Friedenskonsolidierung. weniger Geld als im vorigen Jahr! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Eine Milliarde weni- Ist es nicht ökonomischer und vor allem menschlicher, ger!) Konflikte im Vorfeld ohne den Einsatz militärischer Mit- tel zu entschärfen? Das Engagement der Bundesregierung Die Mitgliedschaft des Bundesministeriums für wirt- gibt eine klare Antwort, auch auf der internationalen schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung imEbene. Die Beschlüsse des Europäischen Rates von Hel- Bundessicherheitsrat und die Verankerung der Menschen- sinki und Santa Maria da Feira zeigen: Europa insgesamt rechtskriterien im Rahmen einer restriktiven Rüstungsex- will die Stärkung der nicht miliärischen Krisenpräven- portpolitik gehören ebenfalls dazu. tion. Die entwicklungspolitische Komponente muss daher Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie wis- bei der Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und sen, wir wollen eine weltweite Festlegung des Mindestal- Sicherheitspolitik unbedingt berücksichtigt werden. ters für Soldaten auf 18 Jahre. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Clemens Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Schwalbe [CDU/CSU]: Das erzählen Sie mal Annan, hat im vergangenen Jahr zu einerKultur der den Leuten dort!) Prävention aufgerufen. Das Problem ist also auf interna- Wir wollen ein unabhängiges deutsches Menschenrechts- tionaler Ebene erkannt. Es geht jetzt um die Umsetzung institut. des als richtig Erkannten. Es bedarf eines leistungsfähigen Frühwarnsystems, das es uns erlaubt, politische Maßnah- Auswärtiges Amt, BMZ und andere Ressorts wirken men krisenpräventiv auszurichten. Endlich wird es zudem im Sinne einer globalen Strukturpolitik zusammen, wieder staatliche Unterstützung für die Friedens- und um den neuen globalen Herausforderungen zu be- Konfliktforschung geben. (B) gegnen. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das hat Herr Kollege Hedrich vor vier Jahren gesagt, meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer Sie dürfen mir glauben, dass mich das persönlich sehr Zeit recht vernünftige Erkenntnisse, aber eben nur Er- freut, weil ich dies in meiner allerersten Rede an der alten kenntnisse. Heute wird es gemacht. Regierung moniert habe. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Globale Strukturpolitik, das ist rot-grüne Praxis. Glo- Entwicklungspolitik verfügt über das Instrument der bale Strukturpolitik, das ist die Grundlage dieses Antrags. Evaluierung. Wir sind es gewohnt, die Mittel-Ziel-Rela- Was sind die Ziele und Maßstäbe einer Entwicklungs- tionen zu bestimmen und die eingesetzten Instrumente politik, die sich in dieses Konzept des neuen Sicherheits- ständig zu überprüfen. begriffs einfügt? – Menschenrechte, Demokratie, Gleich- (V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss) berechtigung, Recht auf Entwicklung, Bekämpfung der Armut und ökologische Nachhaltigkeit, das alles gehört Regionale Zusammenarbeit und Dialog – Wasser kann in zusammen. Entwicklung hat viele Dimensionen. diesem Zusammenhang eine Quelle des Friedens sein – sind entscheidend für die Kultur der Prävention, von der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Generalsekretär gesprochen hat. Eine Kultur der Deshalb bedarf es eines integrierten Ansatzes, derEnt- Prävention und der Konfliktvermeidung fängt beim Men- wicklung als Querschnittsaufgabebegreift. Frieden schen an. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich kann es nur geben, wo menschenwürdige Lebensbedin- für das Engagement der Nichtregierungsorganisationen gungen herrschen. und der Kirchen bedanken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Zivile Kräfte zu stärken, das gehört seit Jahren zu den Auch die Wirtschaft kann, wenn sie verantwortlich Zielen sozialdemokratischer Entwicklungspolitik. Zivile handelt, in vielen Regionen der Welt zu größerer Stabilität Kräfte bauen auf, wo militärische zerstören. Zivile Kräfte beitragen. Noch vor wenigen Tagen hat unsere Ministerin sind unerlässlich für intakte demokratische Strukturen ei- auf dem Petersberg in Erinnerung gerufen, woran sich un- nes jeden Staates. sere Politik orientiert. Sie hat die Friedenspolitik Willy 12576 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Dagmar Schmidt (Meschede) (A) Brandts zitiert, das Wort vom Frieden, der nicht alles, aber bildet haben, entsenden zu wollen; denn dann ist es bereits (C) ohne den alles nichts ist. Unsere Politik der zivilen Kri- zu spät. senprävention steht in der Kontinuität der Friedenspolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Uta des Nobelpreisträgers . Wir halten daran fest, Zapf [SPD]: Herr Kollege, Sie wissen doch, weil sie in ihrer damaligen Form zum Frieden in Europa dass die schon vorher dort sind!) beigetragen hat. Wir sind uns sicher, dass sie in ihrer heu- tigen Gestalt ihren Beitrag zum Frieden in der Welt leistet. Sie führen neue Instrumente ein. Die alten, bewährten In- Sie alle sind herzlich eingeladen, uns auf diesem Wege zu strumente zerstören Sie. begleiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Uta Schönen Dank. Zapf [SPD]: Das ist doch völliger Unsinn, was Sie da sagen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zweitens. Wie wissenschaftliche Untersuchungen be- legen, ist Armut die tief sitzende Ursache für vielfältige Konflikte in der Welt. Ohne aktive Armutsbekämpfung Vizepräsidentin Petra Bläss:Nächster Redner ist sind alle anderen Maßnahmen der Krisenprävention ver- der Kollege Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU. gebens. Deshalb ist die von Rot-Grün zu verantwortende Kürzung der Mittel für die deutsche Entwicklungszusam- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsi- menarbeit eine Katastrophe für all diejenigen, die wirk- dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! lich zivile Friedensprävention betreiben wollen. Eine Politik, die sich zum Ziel setzt, internationale (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Gewaltursachen abzubauen, zivile Konfliktlösungen Gernot Erler [SPD]: Noch nie etwas von Schul- zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für ei- denerlass gehört?) nen selbsttragenden gerechten und stabilen Friedens- Auch die so genannte Konzentration der deutschen Ent- prozess zu schaffen, kann nur erfolgreich sein, wenn wicklungszusammenarbeit auf weniger Länder erweist schrittweise die notwendigen Ressourcen bereitge- sich als zusätzlicher Tiefschlag für die Armutsbekämp- stellt werden. Der Aufbau einer effektiven Infra-fung. struktur und die Beseitigung struktureller Konflikt- ursachen benötigen nicht nur Zeit, sondern auch (Uta Zapf [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr! Personal, Infrastruktureinrichtungen und Geld. Im Gegenteil! Und Sie wollen Entwicklungspo- litiker sein?) (B) Das sind zwei der letzten Sätze in der Begründung des An- (D) trags von Rot-Grün, über den wir hier diskutieren. – Doch, Frau Kollegin; denn von den 48 am wenigsten entwickelten Ländern der Welt werden 26 Staaten von (Gernot Erler [SPD]: Lesen können Sie ja!) Rot-Grün schlichtweg vor die Tür gesetzt. Er ist voll und ganz zu unterstreichen. Nur eines stimmt (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Und dafür Kuba reinge- nicht: Ihre Praxis. nommen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Von 40 hoch verschuldeten armen Ländern der Welt wird Erstens. Sie von Rot-Grün schließen Botschaften,vor 18 Staaten von Rot-Grün die Tür schlichtweg zuge- Konsulate und Goethe-Institute. Sie kürzen die Mittel für schlagen. Wer bei den Kernaufgaben deutscher Entwick- die deutschen Auslandsschulen und für die Wissen-lungszusammenarbeit so versagt wie Rot-Grün, der schaftskooperation. Sie kürzen den politischen Stiftungen braucht gar nicht erst zu versuchen, mit eilig gestrickten die Mittel, sodass sie ihre Auslandsbüros abbauen oder Reparaturinstrumenten noch hinterherzukommen. personell ausdünnen müssen. Indem Sie diese verschie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) denen Formen deutscher außen-, sicherheits- und ent- wicklungspolitischer Präsenz und Fachkompetenz welt- Drittens. Sie tun in dem Antrag so, als sei zivile Kri- weit abbauen und ausdünnen, beschädigen Sie dassenprävention eine Erfindung von Rot-Grün. Sie war wichtigste, ja das zentrale Instrument ziviler Konflikt- schon immer – und sollte es auch bleiben – wesentlicher prävention und Konfliktbearbeitung, nämlich die nur über Inhalt und grundlegende Zielsetzung deutscher Außen-, konkrete Personen wahrnehmbare und auf langjährige Ar- Sicherheits- und Entwicklungszusammenarbeit. Die in beit und auf Vertrauen begründete Vermittlung zwischen der Entwicklungszusammenarbeit aktiven kirchlichen Hilfswerke haben im vergangenen Jahr gemeinsam unter möglichen Konfliktparteien. Auch Früherkennung von dem Titel „Frieden muss von innen wachsen – Zivile Kon- und Frühwarnung vor möglichen Krisenherden ist nur fliktbearbeitung und Entwicklungszusammenarbeit“ ei- über persönliche Präsenz und Kenntnis vor Ort möglich. nen Bericht über ihre Tätigkeit vorgestellt, aus dem deut- Die von Rot-Grün zu verantwortende schwere Beschädi- lich hervorgeht, dass Krisenprävention gerade in der gung der deutschen Möglichkeiten, wirklich etwas zur zi- nicht staatlichen Entwicklungszusammenarbeitseit vilen Krisenprävention und zur zivilen Konfliktregelung Jahren durchgängig Zielsetzung und Aufgabe ist. Zu beizutragen, wird eben nicht dadurch ausgeglichen, dass Recht stellen die kirchlichen Hilfswerke fest: Sie nun ankündigen, dann, wenn es einmal irgendwo kracht oder zu krachen droht, schnell einen Zivilen Frie- Frieden muss von innen kommen. Erfolgreiche Kon- densdienst oder zivile Friedensfachkräfte, die wir ausge- fliktbearbeitung und nachhaltiger Friedensaufbau Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12577

Peter Weiß (Emmendingen) (A) muss in erster Linie von der lokalen Bevölkerung ge- Angesichts dieser Tatsachen ist Folgendes festzustel- (C) tragen werden. Und deshalb ist Friedensförderung len: Der Antrag von Rot-Grün beschwört vieles, was auch nicht als gesonderter Arbeitsbereich der Entwick- wir unterstreichen können; Herr Kollege Schwalbe hat es lungszusammenarbeit zu verstehen, sondern sie ent- vorgetragen. Aber der Antrag muss einem schlichtweg als steht aus der Art und Weise, wie Hilfsmaßnahmen der untaugliche Versuch von Rot-Grün erscheinen, das ei- durchgeführt werden. gene schlechte Gewissen zu beruhigen. Wer jedoch wie Rot-Grün die Kernaufgaben der Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wicklungszusammenarbeit vernachlässigt, der beschädigt Dieser Antrag ist kein Aufbruch zu neuen Ufern, sondern diese Friedensförderung und rettet nichts, wenn er zur Be- Ausdruck schlechten Gewissens. Die CDU/CSU-Bundes- seitigung seines schlechten Gewissens ein neues Wunder- tagsfraktion ist mit der Bundesregierung einig, dass einer mittel namens Ziviler Friedensdienst einführt. Politik ziviler Krisenprävention und ziviler Konfliktrege- (Beifall bei der CDU/CSU – Uta Zapf [SPD]: lung höchste Priorität beizumessen ist. Aber Ihr schlech- Das ist doch Unsinn, was Sie da erzählen! – tes Gewissen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, können nicht wir von der Opposition beruhigen. Das kön- Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen nur Sie, indem Sie die Fehler Ihrer Politik schnells- NEN]: Das ist kein Wundermittel, das ist ein tens korrigieren. wichtiges Instrument!) Vielen Dank. – Der Zivile Friedensdienst ist sicherlich eine sinnvolle Ergänzung der Entwicklungszusammenarbeit; dem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stimme ich gerne zu. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in die- NEN]: Ja, „eine sinnvolle Ergänzung“!) ser Debatte ist der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer. Sowohl die Friedensfachkräfte als auch der Zivile Frie- densdienst sind sinnvolle Ergänzungen der Entwick- lungszusammenarbeit. Es entsteht mit Ihnen aber nichts Dr. Ludger Volmer,Staatsminister im Auswärtigen Neues; denn wenn man sich das einmal genau anschaut, Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sieht man: Über 90 Prozent der Projekte, die bislang aus Die Bundesregierung knüpft ihre Politik der Krisenprä- dem neuen Haushaltstitel des Bundesministeriums für vention an die schon von VN-Generalsekretär Boutros- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für ei- Ghali 1992 in der „Agenda for Peace, Development and Democracy“ getroffene Feststellung an, dass Konflikte nen Zivilen Friedensdienst bedacht worden sind, hätten (B) zwar unvermeidlich und nötig seien, ihre Eskalation aber (D) ohne jeden Abstrich am Konzept auch durch die bisheri- sehr wohl vermeidbar sei. Obwohl die Politik seit Anfang gen entwicklungspolitischen Instrumente staatlicherseits der 90er-Jahre dies erkannt hatte, standen bei Regie- mit gefördert und mit finanziert werden können. rungsübernahme 1998 die Mittel für militärische und die Viertens. Die kirchlichen Hilfswerke stellen in ihrer Mittel und Instrumente für nicht militärische, zivile Kon- Dokumentation „Frieden muss von innen wachsen“ wei- fliktprävention in einem eklatanten Missverhältnis. ter fest – ich zitiere –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konflikte entstehen aber heute – manchmal unbe- und bei der SPD) merkt – in vielen anderen Sektoren der Arbeit: bei Als wir frisch in die Regierung gekommen sind und die der Organisation von Basisgesundheitsdiensten,Kosovo-Verifikationsmission mit 80 Personen be- schon bei der Organisation von Grundbildung, beim schicken mussten, haben wir allergrößte Mühe gehabt, Zugang zur Grundbildung, bei der Frage der Finan- diese Personen zusammenzutrommeln, weil von der alten zierung der Grundbildung, beim Zugang zum Trink- Regierung nicht die mindeste Vorkehrung getroffen war. wasser, zum Wasser, zum Wald, zum Markt, zur Aus- Daraus haben wir jetzt die Konsequenzen gezogen. bildung. Alle natürlichen und sozialen Ressourcen Heute, zehn Jahre nach Öffnung der Berliner Mauer werden knapper, sind umkämpft. und dem Ende des Ost-West-Konfliktes, machen die stei- Diese Feststellung zeigt, wie notwendig es ist, Investitio- gende Zahl mit großer Brutalität und Härte ausgetragener nen in soziale Grunddienste zu verstärken. innerstaatlicher Konflikte und die im Zuge der Globali- sierung gewachsenen Interdependenzen ökonomischer Nun hat kürzlich die Arbeitsgruppe 20:20 des deut- und ökologischer, technologischer und medialer Art die schen Nichtregierungsforums „Weltsozialgipfel“ belegt, Förderung einer weltweiten Kultur der Prävention zum dass im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaft- vordringlichen Politikfeld. Ein ganzheitlicher Ansatz, die liche Zusammenarbeit und Entwicklung ein dramatischer Verzahnung der Außen- und Sicherheitspolitik mit Ele- Abbau der bilateralen Zusagen für soziale Grunddienste menten der Entwicklungs-, Wirtschafts-, Finanz-, Um- stattfindet: von 18,9 Prozent im Jahr 1998 auf nunmehr welt- und Rechtspolitik, ist ebenso vonnöten wie eine 13,5 Prozent in der Planung für 2001. Grundbildung ist strukturelle, langfristig angelegte Krisenpräventionsstra- für das Jahr 2001 nur noch mit 3,3 Prozent oder 80 Milli- tegie und die Entwicklung geeigneter Instrumente. Dieser onen DM ausgewiesen. Basisgesundheitsdienste kommen Ansatz basiert auf einem erweiterten Sicherheitsbegriff gerade noch auf 2,1 Prozent oder 51,3 Millionen DM. und schließt Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Der 12578 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Staatsminister Dr. Ludger Volmer (A) Antrag der Koalitionsfraktionen betont zu Recht, dass Es geht auf die Initiative der Bundesregierung zurück, (C) dieser Ansatz subsidiär, multilateral und multidimensio- dass heute in der NATO wie auch in der EU verstärkt über nal angelegt sein muss. die nicht militärischen Elemente der Außen- und Sicher- heitspolitik nachgedacht wird. Unter Federführung des Auswärtigen Amtes wurde da- her in diesem Jahr mit demressortübergreifenden Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN samtkonzept zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlö- und bei der SPD) sung und Friedenskonsolidierung eine politische Die prägnante deutsche Position im Kosovo-Konflikt, die Gesamtstrategie der Bundesregierung ausgearbeitet und verabschiedet. Im nationalen Bereich sind die hauptsäch- Forderung, wirklich alle Möglichkeiten einer zivilen und lich betroffenen Ministerien und die enge Zusammenar- präventiven Konfliktlösung auszuloten und den militäri- beit mit Nichtregierungsorganisationen die tragendenschen Einsatz nur als Ultima Ratio zu verwenden, wie Säulen dieses Konzeptes. auch der deutsche Friedensplan, der letztlich zum Erfolg führte, haben sowohl unser Ansehen bei unseren Partnern Entscheidendes hat sich seitdem verbessert: Das Aus- gestärkt als auch auf internationaler Ebene einen nicht zu wärtige Amt hat im Juli 1999 ein Ausbildungszentrum für unterschätzenden Politikwechsel herbeigeführt. ziviles Friedenspersonal geschaffen. Seitdem sind in 16 Kursen 280 Teilnehmer ausgebildet worden. Dies ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keine weiße Salbe, verehrte Kolleginnen und Kollegen. und bei der SPD) 60 von ihnen sind mittlerweile in Langzeitmissionen der Seit der deutschen G-8-Präsidentschaft 1999 und auf VN und der OSZE tätig; 100 weitere sind in Kurzzeit- unsere Initiative hin ist Krisenprävention für die G 8 ein missionen eingesetzt. Diese Woche haben wir begonnen, zentrales Politikziel. Ich verweise hier beispielhaft auf international auszubilden und unser Konzept auch ande- die Erklärung zur koreanischen Halbinsel und die ren Ländern zur Verfügung zu stellen. Kleinwaffeninitiative. Die EU – darauf wurde hingewie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen – hat sich zur Verbesserung ihrer außen- und sicher- und bei der SPD) heitspolitischen Handlungsfähigkeit als erstes Planziel im Rahmen der ESVP vorgenommen, bis zum Jahre 2003 Der erreichte Umfang und der Erfolg dieses Pro-bis zu 5 000 Polizisten für nicht militärische Auslands- gramms legen nahe, dass über eine strukturelle Sicherung einsätze zur Verfügung zu stellen. Auch dies trägt die auch in haushaltspolitischer Hinsicht entschieden werden Handschrift der Bundesregierung. muss. Wir werden eine Verstetigung der Mittel und eine institutionelle Förderung brauchen. Ich rechne wirklich Der OSZE kommt eine zentrale Bedeutung für Kri- mit Ihrer Unterstützung. Wir brauchen sie spätestens im senprävention und Krisenmanagement in ihren Teilneh- (B) Jahr 2002. merländern zu, wie der Antrag zu Recht betont. Die Spra- (D) chengesetze in Lettland und Estland sind ein wunderbares (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beispiel für die Entschärfung eines Konfliktes um die rus- und bei der SPD) sische Minderheit. Wie auch viele andere verhütende Parallel zu diesem Ansatz hat das BMZ dieZivilen Tätigkeiten findet ein solches Beispiel kaum die Auf- Friedensdienste als neues und zusätzliches Element der merksamkeit der Medien; denn es knallt nicht, es gibt kei- Krisenprävention und Konfliktbearbeitung in enger Ab- nen Rauch. stimmung mit NGOs und dem AAins Leben gerufen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist keine Wunderwaffe, wie hier suggeriert worden ist, und bei der SPD) sondern ein weiteres Element der Infrastruktur, die wir ausbauen. Die bei der OSZE konsequenterweise beschlossene Schaffung von zivilen Krisenreaktionskräften wird seit (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Juli 2000 bereits schrittweise implementiert. Ziel ist der Aber es wird dabei nichts Neues gemacht!) Ausbau einer Personalreserve. Daher begrüßt die OSZE Aus dem Bereich des BMI und der Landesinnenbehör- nachhaltig und nachdrücklich unser deutsches Ausbil- den haben sich Bundes- sowie auch Länderpolizeien in ih- dungsprogramm und empfiehlt es anderen Ländern zur rer substanziellen Beteiligung an internationalen Missio- Teilnahme und Nachahmung. nen einen hervorragenden Ruf erworben. Hier werden im Die Bundesregierung hat den Ausbau des Instrumenta- Bereich des nicht militärischen Krisenmanagements der riums der Konfliktbearbeitung zur außenpolitischen Prio- EU wie auch der VN und der OSZE noch erhebliche wei- rität erklärt. Für ein weltumspannendes System eignet tere Anforderungen auf Deutschland zukommen. Ichsich allerdings keiner so gut wie die VN, um diesen An- danke den Ländern ausdrücklich für ihr Engagement und satz durchzusetzen. Daher unterstützt Deutschland die möchte sie herzlich bitten, damit fortzufahren. „peace building unit“ der VN und zahlt in den Treuhand- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fonds für „Preventive Action“, der die frühzeitige Eva- und bei der SPD) luierung eines möglichen vorbeugenden VN-Engage- ments ermöglichen soll. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Tech- nische Hilfswerk, das, in regionale Konzepte integriert, Der jüngste „Brahimi-Bericht“ bestätigt mit dem Ruf mit den anderen Institutionen zusammenarbeitet. Zu er- nach „early warning“, „early action“ und „post conflict wähnen sind auch die friedenserhaltenden Einsätze der peace building“ die Richtigkeit der politischen Forderun- Bundeswehr. gen der Bundesregierung. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12579

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss:Herr Staatsminister, Ulrike Flach (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Da- (C) ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. men und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat begin- nen: Dr. Ludger Volmer,Staatsminister im Auswärtigen Das Projekt Wendelstein 7-X ist die bedeutendste Amt: Ich komme zu meinem letzten Satz, Frau Präsiden- Experimentier-Einrichtung des europäischen Fu- tin. – Deshalb wird die Bundesregierung ganz im Sinne sionsprogramms. des vorliegenden Antrags die Bemühungen um diesesDies sagte – das ist Ihnen wahrscheinlich besser bekannt Kernstück nicht militärischer Friedenspolitik unterstüt- als mir – Bundeskanzler Schröder bei seinem Besuch am zen. Sie sieht sich dabei völlig einig mit der Politik des 7. Juli in Greifswald und fügte hinzu: Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, und der Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger dieses Die Bundesrepublik steht zu dem Großexperiment, Landes auf eine friedlichere Welt. weil es Raum gibt für eine qualifizierte Grundlagen- forschung. Ich danke Ihnen. Das BMBF beteiligt sich mit insgesamt 690 Millio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen DM an Wendelstein 7-X. Liebe Kollegen, das gibt es und bei der SPD) nicht sehr oft, aber ich kann Ihnen versichern, dass es von Herzen kommt: Die F.D.P. stimmt dem Bundeskanzler Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- voll zu. sprache. Wir brauchen diese zukunftsorientierte Grundlagen- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufforschung im Energiebereich mehr als dringend. Der Drucksache 14/3862 an die in der Tagesordnung aufge- weltweite Energiebedarf steigt an. Fossile Energieträger führten Ausschüsse sowie an den Innenausschuss und an sind endlich. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Wind- den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen und Solarenergie werden den wachsenden Bedarf nicht Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – decken können, Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wer denn sonst?) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatz- aus der Kernkraft jedoch steigen Sie aus. Kurz: Wir brau- punkt 4 auf: chen Optionen. Vor diesem Hintergrund ist die Kernfu- 15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike sion eine wichtige Option für eine zukunftsfähige, sichere (B) Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer und umweltfreundliche Energieversorgung. (D) Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zukunftsorientierte Energieforschung – Fu- Bei Wendelstein 7-X soll die Kernfusion nach dem sionsforschung Stellarator-Prinzip erprobt werden. Dieses Prinzip steht in – Drucksache 14/3813 – Konkurrenz zum so genannten Tokamak-Verfahren. Eines Überweisungsvorschlag: dieser Prinzipien soll Grundlage für den geplantenVer- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- suchsreaktor ITER sein. In Greifswald, Jülich, Karls- zung (f) ruhe und Garching laufen Forschungs- und Entwick- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lungsvorhaben, um in internationaler Kooperation einen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Versuchsreaktor zu bauen. Um den Standort von ITER konkurriert Europa mit Ja- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.pan, Russland und Kanada. Die Kanadier haben bereits im Martin Mayer (Siegertsbrunn), Dr. GerhardFrühjahr 2000 ihr Interesse an einem Standort in ihrem Friedrich (Erlangen), Thomas Rachel, weitererLand angemeldet; in Japan werden seit 1998 Standort- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU erkundungen durchgeführt. Frankreich hat nun kürzlich Kernfusionsforschung für eine zukünftigeeinen konkreten Standort, nämlich Cadarache, vor- Energieversorgung geschlagen und wird diesen Vorschlag auf der EU-For- schungsministerkonferenz am 16. November durchzuset- – Drucksache 14/4498 – zen versuchen. Liebe Kollegen, als wir unseren Antrag Überweisungsvorschlag: eingebracht haben, war die französische Entscheidung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- noch nicht gefallen. Wir halten den Standort Cadarache abschätzung (f) für geeignet. Uns geht es vor allem darum, ITER in Eu- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ropa zu realisieren. Das möchte ich deutlich und klar sa- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gen. Wir werden also unseren Antrag in den Ausschuss- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- beratungen entsprechend modifizieren. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Unsere Forderungen an die Bundesregierung sind Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- allerdings ebenso klar: Deutschland soll sich an der nerin der Kollegin Ulrike Flach für die F.D.P.-Fraktion Entwicklung von ITER beteiligen. Die Bundesregie- das Wort. rung wird aufgefordert, die französische Bewerbung zu 12580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Ulrike Flach (A) unterstützen. Die F.D.P. lehnt entschieden die Versuche ihrem Schlussdokument zum Energiedialog 2000 im(C) von Bündnis 90/Die Grünen ab, aus der Fusionsforschung Sommer überzeugend dargelegt. auszusteigen, und setzt sich für einen ausreichenden An- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] satz im BMBF-Haushalt ein. [CDU/CSU]: Na ja!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Die Ziele unserer Energiepolitik lassen sich mit den Stephan Hilsberg [SPD]: Der ist ausreichend!) Begriffen Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Herr Fell, ich spreche Sie ganz konkret an, weil es ja Umweltverträglichkeit zusammenfassen. gerade die Grünen sind, die bei modernen Technologien (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ reflexartig zu Magenschmerzen neigen: DIE GRÜNEN) (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Mit dem Klimaschutzprogramm, mit der Ökosteuer, mit Sehr schön formuliert! – Hans-Josef Fell dem 100 000-Dächer-Programm und vor allem mit dem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, völlig Einspeisungsgesetz für erneuerbare Energien haben wir falsch! Wir wissen doch, welche Technologien die Weichen bereits richtig gestellt. sinnvoll sind!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei Kernenergie, Magnetschwebetechnik, Gentechnik DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe- und nun auch bei der Fusionsforschung. In Ihrem Eck- Land] [CDU/CSU]: Die Ökosteuer als richtige punktepapier Energieforschung fordern Sie: Weichenstellung zu bezeichnen ist schon ein Die Bundesregierung sollte daher … offiziell den starkes Stück!) Ausstieg aus dem Kernfusionsprojekt ITER erklä- Wir verringern mit diesen Maßnahmen, mit diesen Instru- ren. menten den Energieverbrauch. Dies ist ein wichtiges Für die Nuklearforschung sei nur noch der Erhalt der Min- Ziel, das wir langfristig verfolgen. Mit den Mitteln für die destkompetenz zu berücksichtigen. Auch wenn Sie, Herr eingesparten Zinsausgaben aus den UMTS-Mitteln för- Fell, Mindestkompetenz für ausreichend halten: Für eine dern wir zum Beispiel bis zum Jahre 2003 Wärmeschutz- moderne, zukunftsfähige Energieversorgung ist uns das maßnahmen bei Altbauten mit 1,2 Milliarden DM. Auf entschieden zu wenig. diesem Gebiet gibt es noch einen erheblichen Nachholbe- darf. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Wir als Gesetzgeber schaffen Rahmenbedingungen, der CDU/CSU) (B) damit es sich für die Wirtschaft lohnt, auf die Ökologie zu (D) Das kanadische Interesse wird von der Regierungsetzen. Ziel der Bundesregierung ist eine kostengünstige Kanadas, von der Provinzregierung Ontarios, von den und sichere Energieversorgung ohne Subventionen und Gewerkschaften und von einer Unternehmensgruppe un- ohne Kernenergie. terstützt. Hier herrscht also ganz offensichtlich Gemein- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] samkeit. Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung, [CDU/CSU]: Sehr fragwürdig!) dem zu folgen: Frau Bulmahn, machen Sie am 16. No- vember den Weg für eine gemeinsame Bewerbung der Eu- Mit unserer Energieforschung unterstützen wir diese ropäer um den Standort in Frankreich frei. Ich bin ge-Neuorientierung. spannt, was Sie gleich dazu sagen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spanien und Italien haben ihre Unterstützung bereits DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe- signalisiert. Wenn Europa mit einer Stimme spricht, dann Land] [CDU/CSU]: Wo denn?) haben wir gute Chancen, das Projekt zu realisieren. Es Wir konzentrieren uns auf die Entwicklung der Brenn- geht hier nicht um Mindestkompetenz, sondern um For- stoffzelle, auf die Solarforschung – dort gibt es noch er- schung zum Zwecke der Energieversorgung des 21. Jahr- hebliches Entwicklungs- und Forschungspotenzial –, auf hunderts. Frau Bulmahn, packen Sie es an! die Entwicklung von Speichertechnologien, die ein wich- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tiges Instrument sind, um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, und auch auf kostengünstige Photovol- taikanlagen. Es darf nicht vergessen werden, dass die In- Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Bun- formations- und Kommunikationstechnologien, zum Bei- desministerin für Bildung und Forschung, Edelgardspiel die Sensorik, neue Antriebstechnologien und neue Bulmahn. Materialien natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle spie- len, um das Ziel einer ressourcenschonenden Energie- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung versorgung zu erreichen. und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Viele Diskussionen in unserem Land haben eines im- sehr geehrten Herren und Damen! Eine zukunftsorien- mer wieder deutlich gemacht: dass die Menschen in un- tierte Energieforschung muss sich an den Leitbildern und serem Land eine Politik wollen, die sich konsequent an den Zielen orientieren, die auch für eine Energiepolitik am Ziel der Zukunftsfähigkeit orientiert. Das heißt, der Zukunft gelten. Die Bundesregierung hat dies mitsie wollen eine Energieforschung, die eine klare Strategie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12581

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) verfolgt. Auf den Punkt gebracht: Sie wollen einehier Abstriche machte, um sich stärker auf eine Technolo- (C) Energieforschung, deren Ziel es ist, Innovationen, diegie zu konzentrieren, die Ergebnisse erst in 40, 50 oder wirtschaftlich und umweltverträglich sind und gleichzei- 60 Jahren bringen wird, also nicht die Umweltprobleme tig Versorgungssicherheit gewährleisten, zu beschleuni- von heute oder morgen löst. gen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [F.D.P.]: Aber DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe- dann leben die anderen auch noch! – Axel E. Land] [CDU/CSU]: Dann müssten Sie es end- Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Auch lich mal machen und nicht nur drüber reden! langfristiges Denken ist nicht verkehrt! Die Zu- Hohle Phrasen!) kunftsfähigkeit sollte man schon noch erhal- ten!) Mit unseren Programmen, die im Ausschuss diskutiert werden – wir haben darüber geredet; ich gehe davon aus, Denn der Klimawandel und die Energieprobleme warten dass Sie sowohl ein Kurzzeit- als auch ein Langzeitge- nicht 40, 50 oder 60 Jahre. Vielmehr entwickeln sie sich dächtnis haben –, haben wir diese Ziele in Angriff ge- jetzt, sie sind jetzt schon vorhanden. Deshalb müssen wir nommen. eben auch Technologien haben, die bereits heute und mor- gen wirksam sind. Daher verfolgen wir eine Politik des (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Energiemix, des Mix von Technologien Da täuschen Sie sich aber!) (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Wir haben sowohl mit den Verkehrsforschungsprogram- Das tun wir doch auch! Darum geht es ja!) men als auch mit dem Wohnforschungsprogramm zur Entwicklung einer neuen Methodik und neuer Materialien und wir verfolgen eine Strategie, die gleichzeitig Optio- wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Ich habe vor- nen offen hält. hin ebenfalls die anderen Bereiche genannt. Man kann (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: zum Beispiel keine optimale Energieverbrauchssteuerung Die machen Sie doch gerade zu! Wie sieht es ohne Sensorik und ohne IuK-Technologien durchführen. mit der Fusion aus?) Deshalb wäre es kurzsichtig, wenn man diese notwen- – In der Fusionsforschung haben wir eine ganz klare dige Querschnittsbetrachtung nicht ins Auge fasste und Position. Deswegen gibt es auch gar keinen Grund zur durchführte. Aufregung. Sie ist jedoch – bei allem Stolz auf das in der Bundesrepublik Erreichte – von Nüchternheit gekenn- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: zeichnet. Das halte ich auch für notwendig. (B) Zur Fusion haben Sie noch gar nichts gesagt! (D) Wo bleibt das Thema?) Ich fasse in vier Punkten zusammen. Diese Bundesregierung räumt dem Klimaschutz end- Erstens. Die Bundesregierung wird dieFusionsfor- lich Priorität ein. Wir werden die vereinbarten CO2-Re- schung auch in den kommenden Jahren auf einem ange- duktionsziele erreichen messenen Niveau weiterführen. Für das Jahr 2001 sind Programmförderungen in Höhe von 213 Millionen DM (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: vorgesehen, so wie wir das gerade vor zwei Tagen im Aus- Da bin ich mir nicht so sicher!) schuss diskutiert haben. Das brauchen wir, um die Aufga- und aufgrund des besonderen Engagements der Wirt-ben angemessen durchzuführen. schaft sogar übertreffen. Außerdem haben wir – das ist ein Zweitens. Die Bundesregierung steht zu dem Großex- wichtiger Schritt – endlich auch Chancengleichheit im periment Wendelstein 7-X des Max-Planck-Instituts für Wettbewerb der Energieträger hergestellt, Plasmaphysik in Greifswald, weil dies Raum gibt für (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: wichtige Grundlagenforschung. Wettbewerb? Subventionen bis zum Gehtnicht- Drittens. Ich zitiere: mehr!) Unter diesen Bedingungen können und wollen die es jahrelang nicht gab. Dahinter steht die Vision einer Frankreich und Deutschland sich nicht als ITER- hoch entwickelten Industrienation, die für Europa und Standorte bewerben. weltweit den Weg in eine postnukleare Wirtschaftsweise weist. Das EEG hat eine Leuchtturmfunktion für andere (Ulrike Flach [F.D.P.]: Oh! – Axel E. Fischer Industrieländer. [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Wen haben Sie denn jetzt zitiert?) (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Glauben Sie, was Sie da sagen? Das ist der – Das hat mein Amtsvorgänger Jürgen Rüttgers gemein- sam mit seinem französischen Kollegen vor ungefähr vier Hammer!) Jahren, genau am 17. Juli 1996, in einer Presseerklärung Unsere Energieforschung flankiert dies und setzt hier festgestellt. Die damalige Bundesregierung wurde auch einen Schwerpunkt. Forschung in diesem Bereich von CDU/CSU und F.D.P. getragen. Die jetzige Bundes- zahlt sich nämlich heute und auch morgen unmittelbar regierung setzt in diesem Punkt – ich betone: in diesem aus. Deswegen wäre es geradezu widersinnig, wenn man Punkt – die Politik ihrer Vorgängerin fort. Wenn also die 12582 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Opposition meinen sollte, hier sei eine Chance verpasst scheidet – über alle relevanten Informationen und Fakten (C) worden, dann hätte sie dies in allererster Linie selbst zu verfügen. Erst dann kann man eine solide, begründete verantworten. Entscheidung treffen. Darin sind wir uns einig. Ich halte das für ein logisches, rationales und nachvollziehbares (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorgehen. Es wäre falsch, wenn wir erst die Entscheidun- DIE GRÜNEN) gen treffen und hinterher die Fragen klären. Viertens. Die Bundesregierung hält das ITER-Projekt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ noch nicht für spruchreif. Deshalb bemühen wir uns in DIE GRÜNEN) dem Entscheidungsprozess um einen weitgehenden Ein- klang mit unseren europäischen Partnern. Wir sind uns Angesichts dieser Aufgabe – damit lassen Sie mich mit Frankreich einig, dass zunächst eine Reihe von Fra- schließen – ist meine Begeisterung, offen gesagt, gering, gen geklärt werden muss, so zum Beispiel die Frage der mich mit missglückten Versuchen parteipolitischen Chancen und Risiken der Fusionstechnik, die wissen-Schaulaufens zu beschäftigen. Wir sollten uns der Sache schaftlich-technischen Fragen, die wir noch haben, wo widmen. man beispielsweise in der Materialentwicklung und Ma- terialforschung Schwerpunkte setzt, welche Schritte man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zuerst bzw. an zweiter oder dritter Stelle macht. Wir sind DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe- uns auch darin einig, dass wir eine wirtschaftliche Be- Land] [CDU/CSU]: Das hätte ich jetzt aber von trachtung anstellen, dass die ökologischen Gesichts- der Ministerin erwartet: dass sie etwas zur Sa- punkte berücksichtigt werden und dass wir auch die Ver- che sagt!) sorgungsunternehmen in die Verantwortung einbeziehen müssen, bevor weitreichende Beschlüsse gefasst werden. Vizepräsidentin Petra Bläss: Der nächste Redner ist Dies ist die übereinstimmende Meinung von Frankreich Kollege Dr. Martin Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. und Deutschland und von vielen Partnern in Europa. Alle Forschungsminister sind sich ebenfalls einig, dass Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Frau Rahmenbedingungen wie Angebot und Nachfrage von Präsidentin! Meine Damen und Herren! Energie ist Leben Energie, Preise und Umweltbelastungen einzubeziehen und letztlich von großer Bedeutung für all das, was in der sind. Über eine Großtechnik kann ohne Kenntnis derPolitik geschieht. Wir hatten heute schon zwei Debatten Märkte und ohne Beteiligung der Industrie heute nicht – die Debatte zum Klimaschutz und die Debatte zu fried- entschieden werden. Das ist unsere gemeinsame Position. lichen Konfliktlösungen –, bei denen es im Wesentlichen Was Sie, Frau Flach, gesagt haben, ist insofern nicht um die Energie ging. Wo Energie knapp wird, gibt es Kon- (B) richtig, als auf dem Forschungsministerrat kein Vorschlag flikte. Was es für das Leben des Einzelnen bedeuten kann, (D) über einen Standort vorgebracht werden wird. Vielmehr haben wir schon in den 70er-Jahren gespürt. Auch jetzt ha- wird in Frankreich intern darüber diskutiert, ob und mit ben wir wieder eine Lektion gelernt. Beim Blick auf die welchen Standorten man sich bewerben soll. Wir sind uns Heizkostenabrechnung wird uns mittlerweile schwindelig. darüber einig, dass wir die Kommission bitten, genau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Axel diese Fragen zu beantworten, bevor wir Entscheidungen E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das treffen. In der Politik ist nichts schlimmer, als wenn Ent- liegt aber nicht an der Ökosteuer! – Hans-Josef scheidungen ohne wirklich fundierte Kenntnisse aller re- Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind levanten Aspekte und Faktoren getroffen werden. doch Versäumnisse der letzten 20 Jahre! Sie ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben keine Vorsorge getroffen!) DIE GRÜNEN) Die Frage der Energieversorgungist eine der ent- scheidenden Zukunftsfragen. Die Statistik zeigt klar: Die Vizepräsidentin Petra Bläss:Frau Ministerin, ge- westlichen Industrienationen, Europa und die USA, ver- statten Sie eine Frage der Kollegin Flach? – Ich bitte aber brauchen pro Kopf ein Vielfaches der Energiemenge der um eine kurze Fassung. Wir wissen alle: Der Demonstra- großen Nationen Indien, China und anderer Länder. Wenn tionstermin steht bevor. diese Länder – was wir alle hoffen – einmal unseren Wohlstand erreicht haben werden, dann wird es einen enormen Energiebedarf geben. Es entsteht eine riesige Ulrike Flach (F.D.P.): Ich bitte nur um Präzisierung. Energielücke, die mit den herkömmlichen Mitteln allein Heißt das, dass sich Frankreich nicht weiter bewirbt?nicht geschlossen werden kann – zumindest nicht ohne Wenn es sich doch weiter bewirbt: in welchem Zeitraum, Kernenergie und eine neue alternative Energie. Frau Bulmahn? (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Doch! Nur die Unerschöpflichen kön- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung nen ausreichen!) und Forschung: Frau Flach, dass heißt genau das, was ich eben gesagt habe. Entscheidungen über ITER selbst und Gleichzeitig ist absehbar, dass die fossilen Energieträ- über mögliche Standorte von ITER können erst dannger Öl, Gas und Kohle, die wir eigentlich künftigen Ge- getroffen werden, wenn die Fragen, die ich Ihnen eben ge- nerationen als Rohstoffe erhalten sollten, zur Neige ge- nannt habe, geklärt sind und wenn wir als Forschungs- hen. Deshalb ist die Energiefrage eine der größten minister – ich hoffe, dass das Parlament genauso ent-Herausforderungen unserer Zeit. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12583

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) Da die Beiträge von Solarenergie, Wind, Wasser und Aufgrund der sektiererischen Stimmungsmache der Grü- (C) Biomasse sowie eine effizientere Energienutzung dasnen und von Teilen der SPD gegen die Atomkraft im All- Energieproblem allein nicht lösen können, muss eine ver- gemeinen wäre eine Bewerbung Deutschlands schon im antwortungsvolle Energiepolitik, -forschung und -vor- eigenen Land gescheitert. sorge auch andere Energiequellen erkunden und erfor- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] schen. Eine der möglichen Optionen ist die kontrollierte [CDU/CSU]: So ist es!) Kernfusion. Sie könnte die entscheidende Option für eine nachhaltige, sichere und verträgliche Energieversorgung Eine Chance für einen Standort in den neuen Bundeslän- ab der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sein – bei der dern wurde damit durch die Stimmungsmache der Grünen Frage des Zeitpunktes stimme ich mit Ihnen überein, Frau vertan. Ich halte das für schade, da mit ITER hoch quali- Ministerin Bulmahn. fizierte, neue Arbeitsplätze in Greifswald hätten entstehen können. Bei der Kernfusion wird der physikalische Vorgang des Verschmelzens von Atomkernen, der in der Sonne natür- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ lich abläuft, auf der Erde künstlich nachvollzogen und CSU]: Das wäre eine Chance gewesen!) technisch zur Energieerzeugung genutzt. Für diese Ener- Mecklenburg-Vorpommern hätte auf diese Weise ein zu- giequelle wird weltweit seit vier Jahrzehnten intensive kunftsweisendes Forschungs- und Entwicklungsprojekt Forschung betrieben. Dabei spielt Deutschland innerhalb erhalten. Doch das ist Vergangenheit. Europas eine führende Rolle. Zu nennen sind hier das Max-Planck-Institut in Garching und in Greifswald sowie Nunmehr geht es um ein neues Projekt. Frau Ministe- die Forschungszentren Jülich und Karlsruhe. Die Eu-rin Bulmahn, Sie haben vorhin eine Vereinbarung von ropäer haben mit dem Fusionsreaktor JET – Joint Euro- Frankreich mit der Bundesrepublik zitiert, die zur Amts- pean Torus – in Culham bei Oxford in Großbritannien zeit von Minister Rüttgers getroffen wurde. Sie haben da- weltweit eine führende Rolle. Mit JET wurde bereits kurz- bei aber unterschlagen – das muss ich Ihnen vorwerfen –, zeitig eine Fusionsleistung von 16 Megawatt erreicht. Mit dass es sich bei ITER um ein neues Projekt handelt. diesem erfolgreichen Experiment haben die Europäer fast (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: den „break even“ erreicht, das heißt, die Fusion liefert Das hat sie vielleicht gar nicht gemerkt! – Hans- schon fast so viel Energie, wie man zum Ingangsetzen des Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Prozesses braucht. die Kosten zu hoch sind, muss es abgespeckt (Zuruf von der SPD: Falsch! Die Quote liegt werden! Nicht finanzierbar!) darunter!) Es ist sowohl von den Kosten als auch von den Leis- (B) Zu diesem Erfolg beglückwünsche ich alle Beteiligten. tungen ein wesentlich reduziertes Projekt, aber es ist nach (D) Ich möchte an dieser Stelle auch allen Wissenschaftlern wie vor ein Projekt, das die notwendigen Forderungen er- und Technikern aus Jülich, Karlsruhe, Greifswald und füllt. Es gibt inzwischen Überlegungen zur Standortbe- natürlich auch aus Garching – meinem Heimatlandkreis – werbung aus Japan, Kanada und – neuerdings – auch aus ein sehr herzliches Wort des Dankes sagen. Frankreich. Ein Standort in Frankreich wäre für ganz Eu- ropa eine einmalige Chance, die bisher erreichten Erfolge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – weiterzuführen. Zuruf von der SPD: Daher weht der Wind!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ein wichtiger Schritt, nämlich der Schritt zu einem Energie erzeugenden Plasma, ist nun nicht mehr groß. Im Ich habe gehofft und hoffe immer noch, dass die Bun- internationalen Fusionsreaktor ITER – Internationaler desregierung das auch so sieht und die Bewerbung Frank- Thermonuklearer Experimental-Reaktor – wollen die Eu- reichs unterstützt. Ich gebe Ihnen insofern Recht, als man ropäer gemeinsam mit Kanada, Russland und Japan die- vor einer endgültigen Entscheidung viele Fragen – nicht sen Schritt gehen. Das Konzept für den ITER ist weitge- zuletzt Rechtsfragen – prüfen muss. hend fertig; nunmehr geht es um Fragen des Standortes, (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] der Rechtsform und der Finanzierung. [CDU/CSU]: Das lernt die nicht!) Sehr geehrte Frau Bundesministerin, nach dem, was Bei Ihnen aber hört sich das so an: Wir prüfen und prüfen mir der Wind zuträgt, ist es wohl Ihre Absicht, die Prü- und prüfen. Dazu sage ich: Wenn sie nicht gestorben sind, fungen zu verzögern, um damit Ihren grünen Koalitions- prüfen sie noch heute. Das ist eine reine Verzögerungs- partner zufrieden zu stellen. taktik. (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) NEN]: Unglaubliche Unterstellung! – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Jetzt ist Die Entwicklung der Fusionsenergien muss deshalb die Katze aus dem Sack!) vorangetrieben werden, weil sie gegenüber anderen Ener- gieträgern eine Reihe von Vorteilen hat: Die Grundstoffe Ich fordere Sie auf, alle diese Fragen einer zügigen Prü- sind in nahezu unbegrenzter Menge verfügbar. Bei der Fu- fung zu unterziehen. sion entstehen – im Gegensatz zur Verbrennung von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kohle, Erdöl und Erdgas – keine Schadstoffe. Es gab Überlegungen, Greifswald als Standort für ITER (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vorzuschlagen. Diese wurden aber bald wieder begraben. NEN]: Was ist mit der Radioaktivität?) 12584 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) Bei dem Fusionsreaktor haben wir eine inhärente Si- Der Kanzler wird wohl bald eine neue Green-Card-Initia- (C) cherheit und wir haben – im Gegensatz zur Kernspal- tive für Kernenergieingenieure ankündigen müssen. Wir tung – keine abgebrannten Kernelemente. sollten besser jetzt Zeichen setzen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der NEN]: Aber verstrahlte Stoffe!) SPD: Kann es sein, dass unter Ihrer Regierung kein Reaktor mehr geplant und gebaut wurde?) Ich streite allerdings nicht ab, dass es auch bei der Kernfusion Probleme gibt. Die Bauelemente würden nach Die Erforschung und Entwicklung der Kernfusion zum Zweck der Energieerzeugung sind eine große Herausfor- dem Abbau des Reaktors wahrscheinlich eine höhere Ra- derung, für die wir gerade junge Menschen begeistern dioaktivität aufweisen als die eines Spaltungskraftwerks. sollten. Die Kernfusion ist zwar keine Technik, die heute Aber das ist im Vergleich zu der radioaktiven Belastung, oder morgen Nutzen bringt. Aber sie ist sehr wahrschein- die von abgebrannten Brennelementen heutiger Kern-lich die Technik, die es unseren Enkelkindern ermögli- kraftwerke ausgeht, ein relativ geringes Problem. Ichchen wird, genauso gut wie wir zu leben. Ich rufe daher möchte auch nicht verschweigen, dass es bei der Fusions- die Regierung auf – forschung das Sonderproblem gibt, wie mit dem radioak- tiven Wasserstoff umgegangen werden soll. Aber auch Herr Kollege, kom- das ist begrenzbar. Vizepräsidentin Petra Bläss: men Sie bitte zum Schluss. Die USA beschäftigen sich inzwischen mit vielen Grundsatzfragen der Kernfusion, zum Beispiel mit der Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): – nur Transmutation und mit der Trägheitsfusion. Sie haben noch einen Satz –, die kurzfristige Strategie, die nur auf mittlerweile andere Schwerpunkte als die Europäer ge- die Tagespolitik abzielt, aufzugeben und auf das Zukunfts- setzt. In den USA wird die Fusionsforschung wie auch die projekt ITER zu setzen. Geben Sie der Kernfusion in gesamte Atomforschung auch unter militärischen Ge-Deutschland den notwendigen Rückhalt und kämpfen Sie sichtspunkten gesehen. dafür, dass Europa der Standort für das ITER-Projekt wird! Außerdem beteiligen sich die USA kaum an Koopera- tionen und an strategisch bedeutsamen Projekten, wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sie nicht selbst die Führerschaft haben. Deshalb beteiligen sich die USA nicht mehr an ITER. Aus der Sicht der USA Vizepräsidentin Petra Bläss:Für die Fraktion mag das zwar richtig sein. Aber, Herr Fell, es ist abwegig, Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Hans- (B) wenn die Grünen das Ausscheiden der USA aus ITER Josef Fell. (D) nunmehr als Argument gegen dieses Projekt verwenden; denn hinter dem Ausscheiden stecken ganz andere Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gründe, als Sie vermuten. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ren! Mich hat heute ein Zitat – Herr Mayer, hören Sie gut zu! – sehr erstaunt, das ich Ihnen jetzt vortragen möchte: Eine der wichtigsten Fragen bei der Fusionsforschung lautet: Wann wird es so weit sein? Ich teile die Auffassung Aus prinzipiellen physikalischen Gründen sind in der der Ministerin, dass es wohl noch ein halbes Jahrhundert Fusion keine Unfälle wie beim Kernspaltungsreaktor in Tschernobyl mit katastrophalen Folgen denkbar. (Zuruf von der SPD: Ein Jahrhundert?) (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: – 50 Jahre! – dauern wird. Umso wichtiger ist es, dass wir Tschernobyl hat doch katastrophale Folgen ge- bald anfangen und keine Zeit verstreichen lassen. habt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich denke, Sie würden dieses Zitat sicherlich als grüne Po- lemik bezeichnen; denn es wird behauptet, dass Kern- Die Einschätzungen sind mittlerweile wesentlich sicherer spaltung katastrophale Folgen habe. Wissen Sie, woher geworden, weil es schon viele Erfahrungen und Fakten ich das Zitat habe? Es stammt aus Ihrem der heutigen De- gibt. Ich meine, dass wir letztlich mit derFusionsfor- batte zugrunde liegenden Antrag. Ich begrüße es, dass Sie schung einen wichtigen Beitrag zur künftigen Energie- zu der Erkenntnis gekommen sind, dass dieKernspal- versorgung leisten können. tung ein katastrophal schlimmes Problem darstellt. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Wann? In 70 Jahren?) und bei der SPD – Dr. Martin Mayer [Siegerts- brunn] [CDU/CSU]: Was für ein Quatsch!) Die grüne Polemik gegen die Atomkraft hat übrigens auch dazu geführt, dass sich in Deutschland kaum noch je- – Lesen Sie es doch in Ihrem Antrag nach. mand mit der Kernkraft und der Ingenieurwissenschaft Auch Sie, Frau Flach, wollen den Grünen – das ist der befasst. Grundgedanke – schon wieder Technikfeindlichkeit un- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] terstellen. [CDU/CSU]: So ist es!) (Ulrike Flach [F.D.P.]: So ist es doch!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12585

Hans-Josef Fell (A) Wir sind schon lange nicht mehr technikfeindlich. Auch des Ignorierens der Klimaprobleme immer mehr ver-(C) Sie erkennen allmählich, dass die Techniken, die nach un- stärkt. serer Meinung schon immer verstärkt auf den Markt ge- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: bracht werden sollten, wichtig sind. Das sind die Techni- Das sind doch Positionen von gestern!) ken, mit denen sich die erneuerbaren Energien nutzen lassen, die so genannten Effizienztechnologien. Sie aber Herr Mayer, Sie sagten, wir sollten einmal über den haben 16 Jahre lang in der Bundesrepublik diese Techno- Tellerrand hinaus nach den USA schauen. logien ganz massiv blockiert. (Zuruf von der SPD: Die können ja nicht mal (Widerspruch bei der CDU/CSU) Stimmzettel auszählen!) Jetzt kommen Sie angesichts der knapper werdenden Öl- Ich will Ihnen anhand der Debatte in den USA einige vorräte darauf, dass die erneuerbaren Energien – aus Ihrer Punkte deutlich machen. Sie könnten auch Ihre Kollegen Sicht: möglicherweise – eine Ergänzung sein könnten. Sie fragen. Herr Friedrich, Frau Flach und Frau Pieper – sie können aber in einem weitaus größeren Umfang dieist nicht mehr anwesend – waren mit dem Forschungs- Energielücke, von der Sie immer sprechen, schließen. Wir ausschuss im letzten Herbst in den USA. Wir haben uns brauchen nicht mehr die Energie aus fossilen Brennstof- dort über das Thema Fusion sachkundig gemacht. Wir fen und schon gar nicht die aus Fusions- und Kerntechno- hatten ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des For- logie gewonnene Energie. schungsausschusses, Herrn Sensenbrener, einem Repu- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ blikaner. Wir haben ihn gefragt, was er von ITER hält. Er CSU]: Wir machen die Lichter aus!) hat uns in deutlichen Worten gesagt: ITER ist ein Kind des Kalten Krieges und sollte so schnell wie der Kalte Krieg Ich möchte auf diesen Punkt etwas näher eingehen: Die selbst verschwinden. Fusionstechnologie ist nämlich keine Zukunftsoption, wie Sie sagen. Wir haben schon jetzt ein Klimaproblem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und auch ein Energieproblem. Mittelfristig werden auch und bei der SPD) die zur Neige gehenden Ressourcen ein Energieproblem Die USA haben sich längst aus der Technologie verab- darstellen. schiedet, die Sie hier fordern. Es kommt immer das Argu- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: ment, die USA wollten weiterhin Forschung im Bereich Wenn man aus der Kernenergie aussteigt, ist das der Fusion betreiben. Die USA, so heißt es, wollen wei- kein Wunder!) terhin in der Laserfusionsforschung vorankommen und die Fusionstechnologie vorantreiben. Ich kann Ihnen sa- (B) Für uns muss die Frage wichtig sein, wann die Kernfu- gen, was der Senat kürzlich bei den Haushaltsberatungen (D) sion überhaupt zur Verfügung steht. Vor 40 Jahren sagten beschlossen hat. Die Zweifel des Senats in Bezug auf NIF, uns die Fusionsforscher, in 30 bis 40 Jahren werde die Fu- das große Laserfusionsexperiment in Lawrence Liver- sion zur Verfügung stehen. Heute sagen die Kernfusions- more, für das bis 2008 4 Milliarden US-Dollar investiert forscher: werden sollten, sind inzwischen so groß geworden, dass (Zuruf von der SPD: Heute sagen sie das im- er vor kurzem die im Haushalt bereitgestellten 95 Milli- mer noch!) onen US-Dollar Fusionsforschungsmittel blockiert hat. Er hat dies aus der Erkenntnis heraus getan, dass es noch zu Vielleicht in 50 Jahren werden wir einen kommerziell be- viele offene Fragen gibt und dass die Laserfusionstechno- triebenen Reaktor haben. Ich sage in aller Deutlichkeit: logie keine sinnvolle Perspektive hat. Dies ist keine Lösung, die zeitnah angestrebt werden kann. Sie kommt für die drängenden Energieprobleme Die Zweifel in den USA sind groß. Ich rate Ihnen drin- dieser Welt zu spät gend: Beachten Sie die Ergebnisse aus den USA! Wir werden dies tun. Wir werden keinerlei Schnellschüsse (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen und schon jetzt einen ITER-Standort für Deutsch- und bei der SPD) land festlegen. und sie blockiert die Gelder, die notwendig sind, um die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirklichen Alternativen voranzubringen. und bei der SPD – Abg. Dr. Martin Mayer [Sie- (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: gertsbrunn] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Die Enkelkinder sind ihm Wurscht! – Axel E. Zwischenfrage) Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Nach mir die Sintflut! Das ist Ihre Politik! – Ulrike Vizepräsidentin Petra Bläss:Liebe Kolleginnen Flach [F.D.P.]: Dann gibt es doch auch noch und Kollegen, wir hatten per Blickkontakt vereinbart, Menschen!) dass keine Fragen mehr zugelassen werden sollen. Die – Herr Fischer, die Sintflut haben wir schon jetzt. Schauen Großdemonstration, die ein außergewöhnliches gesell- Sie nach England und auf andere Teile Europas, wo die schaftliches Ereignis ist, beginnt um 16.30 Uhr. Ich denke Regenfälle als Sintflut infolge des Klimaproblems massiv daher, dass wir die Debatte jetzt zu Ende führen sollten. – über uns hereinbrechen. Diese vorhandene Sintflut hat Herr Kollege, auch Sie müssten bitte zum Schluss kom- sich aufgrund der Nutzung der fossilen Energieträger und men. 12586 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000

(A) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stromerzeugung dürfte danach allerfrühestens in der zwei- (C) Dann komme ich zu meinem letzten Satz: Wir sind nicht ten Hälfte dieses Jahrhunderts möglich sein. gegen die Fusionsenergie. Wir wollen den Fusionsreaktor (Ulrike Flach [F.D.P.]: Denken wir an diese der Sonne massiv nutzen. Die Energien, die sie auf die Zeit eigentlich nicht mehr?) Erde strahlt, reichen dicke aus. Wir brauchen auf der Erde kein Nachahmen dieser Fusionsenergie. – Doch, natürlich tun wir das. Ich bin ja Mitglied der entsprechenden Enquete-Kommission. Wir diskutieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, darüber. bei der SPD und der PDS – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: So ein Nun stellen Sie sich einmal nur für einen kurzen Mo- Quatsch! Positionen von vorgestern sind das!) ment das Fortbestehen der heutigen Produktion in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in seiner globalen Di- mension vor: Die Reichtumsschere zwischen den Indus- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die PDS-Fraktion trienationen und der heutigen so genannten Dritten Welt spricht jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter. würde so extreme Ausmaße angenommen haben, dass bei der Lösung von Energiefragen an gemeinsame Strategien Eva Bulling-Schröter (PDS): Sehr geehrte Frau Prä- überhaupt nicht mehr zu denken wäre. sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag Nach heutigen Kenntnissen können allein die regene- der CDU/CSU und in dem der F.D.P. werden keine Argu- rativen Energien Sonne, Wind, Geothermie, etwas Was- mente für die Entwicklung und den Bau des Internationa- serkraft und Biomasse die Basis einer gemeinsamen welt- len Thermonuklearen Experimentierreaktors ITER gelie- weiten Energieerzeugung abgeben. Für den erfolgreichen fert. Eine Weiterführung der Fusionsforschung wird durch Ausbau dieser Technologien werden allenfalls lokale und Aufzählung energiepolitischer Allgemeinplätze beschwo- regionale Netze benötigt und keine Stromtrassen konti- ren. In Form von Spiegelstrichen wird unter anderem ge- nentalen Ausmaßes. Das heißt, wir wollen dezentrale nannt – ich zitiere –: „Energieversorgungssicherheit“, Energien. „Erhaltung einer lebenswerten Umwelt“, „Erhaltung ei- nes angemessenen Energie-Preis-Niveaus“ und die „Ver- Wir lehnen – leider ist meine Redezeit fast abgelaufen; ringerung der ... energiebedingten Spannungspotenziale ich kann das nicht mehr genauer ausführen – die Fortset- angesichts der absehbaren Verknappung von Energieres- zung der Fusionsforschung auf dem bestehenden Niveau sourcen“. – Das ist die eine Seite. Es ist klar, das ist ein ab. Weder sollte sich die Bundesregierung weiterhin Problem; da stimmen wir alle überein. am ITER-Projekt beteiligen noch seine Errichtung in Deutschland anstreben. (B) Auf der anderen Seite sollen die sich langfristig ab- (D) zeichnenden „Herausforderungen des Weltenergiever- Danke. brauchs und der Entwicklung in der Dritten Welt“ mit ei- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten nem „Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien“ und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit der „Weiterführung der Fusionsforschung“ beantwor- tet werden. Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in die- Das in den Anträgen von F.D.P. und CDU/CSU skiz- ser Debatte ist der Kollege Ulrich Kasparick für die SPD- zierte Langfristszenario ist unserer Meinung nach falsch. Fraktion. In diesen Anträgen wird ein entscheidender Schritt ausge- lassen, nämlich der, dass am Anfang aller langfristigen Ulrich Kasparick (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! Überlegungen der Gedanke des Umbaus aller wirtschaft- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Flach, ich beziehe lichen Vorgänge hin zu einerRessourcen schonenden mich auf die Begründung Ihres Antrages. Sie haben fest- Produktion und Verteilung stehen muss. Dieser Schritt gestellt, die Fusionsenergie sei eine zentrale Option zur ist unabdingbar und der wichtigste von allen daraus fol- Energieversorgung des 21. Jahrhunderts. Als ich diese Be- genden. gründung hörte, dachte ich an den schönen Spruch: Wenn Denn auf ein Business-as-usual-Szenario mit unregu- die Katze ein Pferd wäre, dann könnte man die Bäume liertem Wachstum der Weltenergieverbräuche gibt es nach hinaufreiten. allem, was wir heute im Hinblick auf die begleitenden (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) stofflichen Folgen des Anwachsens von Energieverbräu- chen abschätzen können, schlicht keine Antwort. Darüber Denn jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß: Im diskutieren wir auch in der Enquete-Kommission „Ener- Hinblick auf die Energieversorgung ist diese Option die gie“. Dabei sind Klimaveränderungen durch die Verfeue- teuerste und die ineffektivste Lösung überhaupt. rung von Kohlenwasserstoffen nur ein Problem unter an- (Ulrike Flach [F.D.P.]: Das können Sie nicht deren. wissen! Auf diesem Weg sind wir doch gerade!) Sie erhoffen sich von Kernfusionsreaktoren unerschöpf- Deshalb hat diese Regierung, die Ihre Regierung abgelöst liche Energien. Optimisten rechnen frühestens in 30 Jahren hat, in der Koalitionsvereinbarung eine kleine Sensation mit der Fertigstellung eines Prototyps eines leistungsstar- festgelegt. Diese kleine Sensation wird meist überlesen. ken Fusionsreaktors. Ein nennenswerter Beitrag zurIn unserem Koalitionsvertrag steht: Diese Regierung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12587

Ulrich Kasparick (A) räumt der Effizienzsteigerung Vorrang vor neuen Ener- Wir haben in den eigenen Reihen führende Politiker, (C) giegewinnungstechniken ein. die die Energiedebatte weit vorangebracht haben. Ich er- innere an Ernst Ulrich von Weizsäcker mit dem Buch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „Faktor 4“. Das Stichwort heißt „Effizienzsteigerung“, DIE GRÜNEN) denn dadurch gibt es neue Jobs. In diese Richtung gehen wir. Diese Regierung sorgt Letzter Punkt: Neue Energietechnologien müssen sich dafür, dass wir das Geld intelligenter ausgeben, dass wir auf den internationalen Märkten behaupten. Gerade dann, mit den erheblichen Mitteln, die der ITER kosten würde, wenn man eine Technologie entwickeln möchte, die auch vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Effekte in der Dritten Welt angewendet werden kann, sieht man erzielen können. Deswegen ist die Linie der Regierung schon allein bei einem Blick auf die Kosten, dass der völlig richtig. ITER diese auf keinen Fall sein kann. Wir sagen, wir machen mit der Grundlagenforschung (Ulrike Flach [F.D.P.]: Das eine schließt doch bei der Kernfusion genauso wie in der Physik und der Ma- das andere nicht aus!) thematik weiter. Aber als Energieerzeugungs- und -ver- sorgungsoption ist diese zu teuer und zu ineffektiv, wes- Wir brauchen vielmehr kleine, preiswerte Lösungen. halb die Franzosen und die Deutschen zusammen dieDiese liegen im Bereich derEnergiespartechnologien. Kommission bitten werden, diesen Sachverhalt noch ein- Diesen Weg haben wir beschritten und den werden wir mal sehr genau zu prüfen. Auch der Kanzler hat in Greifs- weiter gehen. Das Energieforschungsprogramm der wald noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass die neuen Bundesregierung geht genau in diese Richtung. Option neu zu prüfen und zu bewerten sei. Genau dies Hierfür hat die Regierung die volle Unterstützung des muss jetzt erfolgen. Parlaments. Ich möchte Ihnen noch eine Zahl mitgeben. In der Vor- Schönen Dank. gängerregierung wurde der Wirtschaftsminister von der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ F.D.P. gestellt. Es gibt ein Gutachten des Wirtschaftsmi- DIE GRÜNEN) nisteriums von 1997. Darin steht, dass nach den vorlie- genden Untersuchungen die unausgenutzten Potenziale zur rationellen Energiewandlung und zum Einsatz er- Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- neuerbaren Energien aus Sicht der Technik schon heute sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- ausreichend sind, um die Energieversorgung Deutsch- gen auf den Drucksachen 14/3813 und 14/4498 an die in lands sicherzustellen. der Tagesordnung ausgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensicht- (Ulrike Flach [F.D.P.]: Das widerspricht dem (B) lich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (D) doch nicht! – Stephan Hilsberg [SPD]: So ist das! Recht haben wir gehabt!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, die Mit- glieder des Bundestages werden geschlossen an der heu- Das bedeutet, dass wir die Option Fusionsenergie zur Ener- tigen Großdemonstration zum Thema „Wir stehen auf für gieversorgung überhaupt nicht benötigen. Menschlichkeit und Toleranz“ teilnehmen. Deshalb sind (Ulrike Flach [F.D.P.]: Wir haben offensicht- wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Dies war lich Denkverbot!) interfraktionell vereinbart worden. Die jetzigen unausgenutzten Potenziale genügen, um Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- die Energieversorgung sicherzustellen. Allein die stärkere tages auf morgen, Freitag, den 10. November, 9 Uhr, ein. Nutzung der rationellen Energiewandlung bringt uns Die Sitzung ist geschlossen. 50 bis 60 Prozent des gegenwärtigen Endenergiever- brauchs. In diese Richtung muss der Weg gehen. (Schluss: 16.03 Uhr)

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2000 12589

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Balt, Monika PDS 09.11.2000 Dr. Schmidt-Jortzig, F.D.P. 09.11.2000 Edzard Behrendt, Wolfgang SPD 09.11.2000* Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 09.11.2000 Büttner (Ingolstadt), SPD 09.11.2000 Hans Peter Hans von Schmude, Michael CDU/CSU 09.11.2000 Catenhusen, SPD 09.11.2000 Wolf-Michael Schuhmann (Delitzsch), SPD 09.11.2000 Richard Ehlert, Heidemarie PDS 09.11.2000 Elser, Marga SPD 09.11.2000 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 09.11.2000 Christian Fischer (Berlin), Andrea BÜNDNIS 90/ 09.11.2000 DIE GRÜNEN Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 09.11.2000 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 09.11.2000 Thönnes, Franz SPD 09.11.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 09.11.2000 Wiesehügel, Klaus SPD 09.11.2000 Gröhe, Hermann CDU/CSU 09.11.2000 Wülfing, Elke CDU/CSU 09.11.2000 Hempelmann, Rolf SPD 09.11.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 09.11.2000* Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 09.11.2000 Dr. Zöpel, Christoph SPD 09.11.2000 DIE GRÜNEN (B) * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- (D) Hiller (Lübeck), SPD 09.11.2000 lung des Europarates Reinhold Hintze, Peter CDU/CSU 09.11.2000 Anlage 2 Hirche, Walter F.D.P. 09.11.2000 Jünger, Sabine PDS 09.11.2000 Erklärung Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 09.11.2000 des Abgeordneten Ulrich Heinrich (F.D.P.) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag Kramme, Anette SPD 09.11.2000 der Fraktion der CDU/CSU zur Abgabe einer Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 09.11.2000 Erklärung der Bundesregierung zur Sechsten Weltklimakonferenz – Verpflichtung und Kühn-Mengel, Helga SPD 09.11.2000 Chance (Drucksache 14/4533) Lamers, Karl CDU/CSU 09.11.2000 Das Votum meiner Fraktion lautet Ja. Lehder, Christine SPD 09.11.2000

Lötzer, Ursula PDS 09.11.2000 Anlage 3 Michels, Meinolf CDU/CSU 09.11.2000 Erklärung Müller (Berlin), PDS 09.11.2000 Manfred der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs (PDS) zu den Abstimmungen über die Beschlussempfehlung Poß, Joachim SPD 09.11.2000 des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Rühe, Volker CDU/CSU 09.11.2000 Reaktorsicherheit ( Drucksache 14/3835 ) Schauerte, Hartmut CDU/CSU 09.11.2000 1. über den Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Klima- Schloten, Dieter SPD 09.11.2000 schutz durch ökologische Modernisierung Schmidt (Fürth), CDU/CSU 09.11.2000 und Verbesserung der internationalen Christian Zusammenarbeit, 12590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) 2. über den Antrag der Abgeordneten Klaus- Die aktuellen Reformprozesse von Internationalem Wäh- (C) Jürgen Hedrich, Dr. Klaus W. Lippold rungsfonds und Weltbank gehen nicht zuletzt auf den (Offenbach), Dr. Christian Ruck, weiterer deutschen Beitrag in der Reformdebatte zurück und sind Abgeordneter und der Fraktion der mit ein Erfolg für die deutsche Entwicklungszusammen- CDU/CSU zur Vertragsstaatenkonferenz arbeit. Deshalb muss jetzt nachgehakt werden, damit zur Klimarahmenkonvention in Bonn: Strukturanpassungsprogramme tatsächlich nach den Krite- Neue Impulse zur globalen Umwelt- und rien Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Sozialver- Entwicklungspolitik (Rio-Prozess), träglichkeit ausgerichtet werden. Die Weichen dafür sind 3. über den Entschließungsantrag der Abge- gestellt. Eine engere Zusammenarbeit der Bretton-Woods- ordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, Institutionen mit den Aktivitäten der VN-Organisationen Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Wolfgang wurde bereits vereinbart und ist im Übrigen unverzichtbar Gerhardt und der Fraktion der F.D.P. zur zur Bewältigung sozialer und struktureller Schlüsselpro- Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- bleme. rung zu den Ergebnissen der 5. Vertrags- staatenkonferenz der Klimarahmenkon- Und weil es so ist, dass 80 Prozent der VN-Fonds und vention in Bonn, VN-Programme sich die nachhaltige wirtschaftliche und 4. über den Entschließungsantrag der Abge- soziale Entwicklung zum Ziel gesetzt haben, macht es ordneten Eva-Maria Bulling-Schröter, Sinn, gerade jetzt die multilaterale Entwicklungszusam- Rosel Neuhäuser, Dr. Winfried Wolf, weite- menarbeit zu stärken und die Entwicklungsprogramme rer Abgeordneter und der Fraktion der mit aller Konsequenz weiter zu reformieren und deren PDS zur Erklärung der Bundesregierung Kohärenz und Effizienz zu steigern. zu den Ergebnissen der 5. Vertragsstaaten- konfrenz der Klimarahmenkonvention in Klar ist aber auch: Die Vereinten Nationen sind kein Bonn Selbstbedienungsladen. Die Entwicklungsländer müssen ebenso ihre Hausaufgaben machen. Dazu zählen zum Bei- Die Voten meiner Fraktion lauten wie folgt: spiel nationale Armutsbekämpfungsprogramme, die För- Nr. 1: Enthaltung derung und Weiterentwicklung demokratischer Struktu- Nr. 2: Enthaltung ren, mithin die Achtung, Gewährleistung und der Schutz der bürgerlichen und politischen, aber insbesondere auch Nr. 3: Ja der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschen- rechte. Der UNDP-Bericht über die menschliche Ent- (B) Nr. 4: Nein (D) wicklung 2000 ist ein wichtiger Beleg für diese These. Die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen Anlage 4 bis zum Jahr 2015 zu halbieren und damit 1 Milliarde Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede Menschen ein würdigeres Leben zu ermöglichen, wird sich ohne einschneidende Veränderungen nicht realisieren zur Beratung des Antrags: Die Vereinten Natio- lassen. Dazu zählt für mich auch die von Kofi Annan ge- nen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend (Ta- forderte zoll- und quotenfreie Marktöffnung der Industrie- gesordnungspunkt 10) (129. Sitzung am 8. No- länder, die wir ausdrücklich unterstützen. vember 2000) Das soll nicht heißen, dass der Markt schon alles rich- Brigitte Adler (SPD): Ein großer Teil der Milleniums- ten wird. Nein! Aber zusammen mit flankierenden Maß- erklärung der Vereinten Nationen beschäftigt sich mit nahmen können wir die soziale Marktwirtschaft effizient Entwicklung und Armutsbeseitigung. Zu Recht, wie ich nutzen, und zwar zur Wohlfahrtssteigerung aller Völker. meine. Die Staatengemeinschaft muss sich der Entwick- Das ist die Zielvorgabe für die Welthandelsorganisation. lung und Armutsbeseitigung in nachhaltigster Art und Flankierende Maßnahmen betreffen gerade auch die Weise annehmen, um dem in der Charta der Vereinten Nationen in Art. 1 festgelegten Ziel näher zu kommen, internationale Umweltpolitik. Zehn Jahre nach der Um- nämlich: „eine internationale Zusammenarbeit herbeizu- weltkonferenz in Rio de Janeiro müssen die Anstrengun- führen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, so- gen forciert werden, damit wir in Bezug auf den Erhalt der zialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen...“. Mit Umweltressourcen, ganz besonders gilt dies für Klima, unserem Antrag wollen wir nochmals ein deutliches Si- Wasser und den Erhalt der biologischen Vielfalt, nach- gnal geben und dafür sorgen, dass die in Gang gesetzten weisbar positive Ergebnisse vorweisen können, die den Reformen weiterentwickelt und intensiviert werden. vertraglich festgelegten Zielen mindestens entsprechen. Es gibt keine Alternative zu den Vereinten Nationen als Und deshalb setzen wir auf eine verbesserte Kooperation globalem Forum zur Bewältigung der aktuellen und künf- des Entwicklungs- und Umweltprogramms der Vereinten tigen Probleme. Nationen. Mit der Entschuldungsinitiative wurden international Mit diesem Antrag bekennen wir uns ausdrücklich zu die Bemühungen um die Armutsbekämpfung forciert.den Grundsätzen und Praktiken des Multilateralismus.

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