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Mychael Danna „Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger“ Sony Classical

Musikalische Poesie zwischen indischer Folklore und westlicher Sinfonik von Marc Hairapetian

Was hat nicht schon alles für atemberaubende Filmmusiken geschrieben! Man denke vor allem an die Kooperation mit dem armenisch-kanadischen Regisseur Atom Egoyan („Exotica“, „“Das süße Jenseits“, Ararat“). Auch bezeichnet ihn seit dem Familiendrama „Der Eissturm“ als seinen Lieblingskomponisten. Und für dessen philosophisches 3-D-Meisterwerk „Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger“, dass auf Yann Martels gleichnamigen Bestseller basiert, hat er jetzt einen magischen geschaffen, der mühelos zwischen asiatischer Pop-Folklore und westlicher Sinfonik wandelt. Das zauberhafte „Lullaby“ am Anfang könnte noch den Eindruck erwecken, dass es sich bei „Life of Pi“ um einen besinnlichen Familienfilm handelt, doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Den Schiffstransport eines ganzes Zoos von Indien nach Kanada überleben bei einem Unwetter nur ein Junge und ein bengalischer Tiger auf einem Rettungsboot - und Danna zieht musikalisch alle Register seines Könnens. Den Überlebenskampf des halben Kindes, dem es gelingt, die wilde Bestie zu zähmen, untermalt der mehrfache Genie-Awards-Gewinner mit einem epischen Score, bei dem sich die Orchesterinstrumente langsam, aber gewaltig wie aus den Fluten des sturmgepeitschten Meeres erheben! Eines der schönsten Stücke ist „Flying Fish“: Pi, dieser moderne Robinson auf dem Meer, und der Tiger namens Richard Parker (eine Hommage an Edgar Allan Poes Roman „Der Bericht des Arthur Gordon Pym“, indem der Hund der Titelfigur Tiger heisst und einer der vier überlebenden Schiffbrüchigen Richard Parker genannt wird) sind auf dem Rettungsboot am Verhungern, als sich nicht mehr erhoffte Nahrung selbst anbietet. Wie im Schlaraffenland katapultieren sich die Knochenfische an Deck und bewahren das ungleiche Pärchen vor dem Tod. Danna setzt die Violinen als Rhythmussektion ein, ein Chor singt eine Art „Ave Maria“, dazu erklingen Trommelwirbel und markante Bläsersätze, die von einem Glockenspiel konterkariert werden. Danna verwendet immer wieder exotische Instrumente wie das indische Sitar oder das indonesische Gamelan. Seine Musik zum Track „The Island“ erinnert allerdings in seiner naiven Verspieltheit an die Neue-Deutsche-Welle-Formation Der Plan oder das Stück „Im Zoo“ vom Soloalbum „Wunderland“ des Synthesizer-Spezialisten Pyrolator. Kein Wunder, wird die kleine Insel an der Pi und Tiger später stranden nur von Erdmännchen bewohnt. Protagonist Piscine Molitor Patel, kurz Pi (gespielt vom 17jährigen Suraj Sharma)konvertiert als gläubiger Hindu zum Christentum und nimmt als dritte Religion noch den Islam an. Am Ende, nachdem der Tiger ohne von ihm Abschied zu nehmen, im Dschungel verschwunden ist, erzählt er sein Abenteuer zwei Angestellten des japanischen Verkehrsministeriums. Sie glauben ihm nicht - und er wählt eine andere, konventionellere Geschichte. Dieses reflexive Gespräch erinnert an Lessings Ringparabel „Nathan der Weise“. Danna unterlegt es mit bedauerndem, traurigem Flötenspiel. So macht der Komponist deutlich auf wessen Seite er sich stellt: Die Realität ist trist, es lebe die Poesie! Ein nicht nur schöner, sondern auch intelligenter Soundtrack!

Marc Hairapetian für SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de am 9. November 2012