Schmitz: Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung? 87

Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung?

Friederike Schmitz

Inhaltsverzeichnis chend und es ist die Rede von einem „politi- I. Einleitung cal turn“: Das Mensch-Tier-Verhältnis wird II. Ethik zunehmend auch oder sogar vorrangig als III. Moralische Tierrechte? ein Gegenstand der politischen Theorie an- IV. Die Nutzung von Tieren gesehen.1 V. Ethik und politische Theorie der Nutztierhaltung Nicht alle Gründe, die innerhalb dieser Dis- VI. Tierrechte oder Tierbefreiung? kussion für den Übergang von einer ethi- schen zu einer politischen Betrachtungs- weise angeführt werden, sind überzeugend, I. Einleitung aber ein Motiv ist sehr nachvollziehbar: Während sich die Ethik typischerweise auf Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe Individuen und ihre Handlungen konzent- wirft eine Vielzahl interessanter theoreti- riert, beschäftigt sich die politische Theorie scher Fragen auf. Unser Verhältnis zu Tieren mit Institutionen. Und unser Umgang mit hat allerdings gleichzeitig eine außerordent- Tieren ist in der Tat stark institutionalisiert. liche praktische Relevanz. Milliarden von Er wird von einer Reihe von sozialen, po- fühlenden Tieren weltweit sind in dem Au- litischen und wirtschaftlichen Institutionen genblick, in dem Sie diesen Text lesen, von bestimmt, die durch die Handlungen von menschlicher Gewalt betroffen. Das Leiden einzelnen Menschen kaum zu verändern der Tiere passiert überall um uns herum – in sind. Wenn wir das Mensch-Tier-Verhältnis Ställen, Mastanlagen und Schlachthöfen, in normativ diskutieren, müssen wir also nicht Laboren an Forschungsinstituten und Uni- nur fragen, was wir als Individuen tun soll- versitäten, in Zoos, Zirkussen, Reiterhöfen, ten, sondern auch, wie die Gesellschaft als in zahlreichen Privatwohnungen und an Ganze organisiert sein sollte. Die politische vielen anderen Orten. Niemand von uns Theorie kann dazu dienen zu untersuchen, kommt dabei darum herum, sich zu dieser auf welche Art von institutioneller Struktur Gewalt auf die eine oder andere Weise zu wir hinarbeiten sollten – sie kann dazu die- verhalten: Entweder unterstützen wir sie nen, eine ideale Theorie der Beziehungen (indem wir z. B. die Produkte der Nutztier- zwischen Menschen und Tieren zu entwi- industrie kaufen), oder wir versuchen unse- ckeln. Darüber hinaus kann sie im Bereich re direkte Unterstützung zu verweigern (in- nicht-idealer Theorie zur Diskussion darü- dem wir eine vegane Lebensweise wählen), ber beitragen, auf welchem Wege die ideale oder wir setzen uns selbst aktiv für eine Än- derung des Umgangs mit Tieren ein (durch politischen Aktivismus). In keinem Fall aber sind wir neutral oder unbeteiligt. 1 Neuere Publikationen dazu sind u. a. , The Political Theory of , 2005; , An Introduction to Ani- Was kann uns nun die Philosophie darüber mals and Political Theory, 2010, / sagen, wie wir uns verhalten sollten? In der , Zoopolis. A Political Theory of akademischen Debatte wurde der Umgang Animal Rights, 2011; Garner, A Theory of Ju- mit Tieren lange primär als Teilgebiet der stice for Animals, 2013; Marcel Wissenburg/David angewandten Ethik, in der Tierethik, behan- Schlosberg, Political Animals and Animal Politics, 2014; Heft „Politische Tiere“, Mittelweg 36, Zeit- delt. In jüngster Zeit halten allerdings viele schrift des Hamburger Instituts für Sozialfor- die ethische Herangehensweise für unzurei- schung 2014. 88 MRM – MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2015

Situation herbeigeführt werden könnte und ist er allerdings zur Artikulation derjenigen welche Schritte dabei am dringensten sind.2 ethischen und politischen Forderungen, für die ich eintrete, nicht notwendig und mög- Ethische und politische Dimension sind licherweise weniger zielführend als der Be- natürlich nicht unabhängig voneinan- griff der Tierbefreiung. der: Einerseits lässt sich aus meiner Sicht eine normative, politische Theorie des Mensch-Tier-Verhältnisses nur auf der II. Ethik Grundlage tierethischer Prinzipien begrün- den – denn wir müssen zunächst klären, In diesem Abschnitt möchte ich keine de- welche Art von Berücksichtigung wir Tieren tailliert ausgearbeitete ethische Theorie schulden, bevor wir diskutieren können, über unseren Umgang mit Tieren entwi- wie dies auf institutioneller Ebene am bes- ckeln oder verteidigen, sondern eher eine ten verwirklicht werden kann.3 Andererseits grundlegende Festlegung begründen, die ergeben sich aus einer politischen Theorie allerdings den Vorteil haben soll, dass sie des Mensch-Tier-Verhältnisses immer auch mit mehreren unterschiedlichen Theorien Konsequenzen für das Handeln von uns als vereinbar und so möglichst breit zustim- einzelnen Menschen insofern, als wir uns ja mungsfähig ist. zu den bestehenden Institutionen verhalten müssen und auf eine Veränderung der Or- Heutzutage denkt so gut wie niemand ganisationformen der Gesellschaft hinwir- mehr, dass Tiere moralisch überhaupt nicht ken können. zählen, dass man sie also beliebig behan- deln könnte. Stattdessen besteht weitgehen- Im Folgenden werde ich einen solchen Ar- de Einigkeit – sowohl in der Gesellschaft als gumentationsgang – von der ethischen zur auch unter TierethikerInnen – darin, dass politischen Perspektive und zurück – in sehr wir in unserem Handeln auf Tiere Rücksicht groben Umrissen skizzieren. Dabei wer- nehmen müssen. Ich denke hier an die emp- de ich in einer Art Zwischenschritt auf die findungsfähigen Tiere, d. h. die Tiere, die jetzt in unserer Gesellschaft vorherrschende wahrnehmen und erleben sowie Leid und Praxis des Umgangs mit Tieren eingehen. Freude erfahren können. Die politische Position, für die ich letztlich argumentieren möchte, ist die der Tierbefrei- Diese Idee, dass Tiere moralisch zählen, ung (). Im Hinblick auf den lässt sich nun auf einfache Weise mit dem Themenschwerpunkt dieses Heftes werde Begriff der Interessen beschreiben: Wir sind ich mich außerdem mit dem Begriff der Tier- moralisch verpflichtet, die Interessen der rechte auseinandersetzen, der in der Debat- Tiere zu berücksichtigen.4 Zu diesen Interes- te eine zentrale Rolle spielt und sowohl auf sen gehört mindestens das Interesse, keine der ethischen als auch auf der politischen Ebene verwendet wird. Aus meiner Sicht 4 Am prominentesten hat im Rahmen seines Präferenzutilitarismus die Berücksich- tigung der Interessen der Tiere eingefordert, es 2 Die Unterscheidung von idealer und nichtide- gibt aber viele andere AutorInnen, die sich eben- aler Theorie geht auf Rawls zurück und wird falls dieses Vokabulars bedienen – es bedeutet u. a. von Robert Garner auf das Thema ange- keineswegs eine Festlegung auf Singers Theorie wandt. Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, 1972, oder einen Präferenzutilitarismus. Ich teile u. a. S. 245 ff., Garner 2013 (Fn. 1), S. 10 ff., S. 123 ff. die Kritik Regans und Korsgaards an Singers 3 Der Grund ist, dass auch eine prozedurale Theo- Theorie, derzufolge Singer die Individuen als die rie der einen oder anderen Art schon zuvor klä- Subjekte der Interessen vernachlässigt und als ren müsste, ob und wie Tiere in das Prozedere bloße „Behälter“ behandelt. Dagegen denke ich, einbezogen werden sollen. Anderer Meinung zu dass wir es den anderen Subjekten direkt schul- sein scheint Peter Niesen, Kooperation und Un- den, ihre jeweiligen Interessen ethisch zu be- terwerfung. Vorüberlegungen zur politischen rücksichtigen. Siehe , Wie man Rechte Theorie des Mensch/Nutztier-Verhältnisses, in: für Tiere begründet, in: Angelika Krebs (Hrsg.), Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Ins- Naturethik, 1997, S. 33–47, hier S. 41; Christine tituts für Sozialforschung, Jg. 23, S. 45–58. Vgl. Korsgaard, Mit Tieren interagieren, in: Friederi- dazu auch Garners Kritik an Rawls in Garner ke Schmitz (Hrsg.), Tierethik. Grundlagentexte, 2005 (Fn. 1), S. 37. 2014, S. 243–286, hier S. 249 ff. Schmitz: Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung? 89

Schmerzen oder andere Leiden zu erfahren; ihren Eigenschaften auf moralisch relevan- darüber hinaus natürlich noch viele weitere te Weise von Menschen unterschieden. Alle Interessen, die teilweise je nach Tierart va- Eigenschaften, die im Rahmen solcher Ar- riieren. Es ist zudem weitgehend unkontro- gumente vorgeschlagen worden sind, kön- vers, dass die Interessen der Tiere gleichsam nen allerdings die ihnen zugedachte Rolle auf derselben Skala wie die Interessen von aus mindestens einem der beiden folgenden Menschen gemessen werden müssen – dass Gründe nicht überzeugend spielen: Entwe- es also z. B. nicht akzeptabel ist, Tieren mas- der lässt sich nicht zeigen, dass die betref- siv zu schaden, um nur sehr triviale oder fende Eigenschaft per se moralisch relevant oberflächliche menschliche Interessen zu ist. Das gilt klarerweise für die Spezieszu- befriedigen. Das zeigt sich z. B. in der weit- gehörigkeit als solche; zudem aber auch für reichenden Ablehnung von Tierversuchen Eigenschaften wie Selbstbewusstsein oder bei der Entwicklung von Kosmetika. Vernunft, denn es ist nicht ersichtlich, wa- rum der Wunsch eines fühlenden Wesens, Wenn man nun in der ethischen Ausein- nicht gequält zu werden, weniger zählen andersetzung fragt, welches Gewicht die sollte, nur weil dieses Wesen keine Vorstel- Interessen der Tiere im Vergleich mit in lung von sich selbst oder keine Reflexions- relevanter Hinsicht ähnlichen Interessen fähigkeit besitzt. Die zweite mögliche Kritik von Menschen haben sollten, so zeigt sich an den jeweils vorgeschlagenen Eigenschaf- schnell, dass eine ungleiche Gewichtigung ten lautet, dass sie gar keine scharfe Grenz- von Interessen schwer zu rechtfertigen ist. ziehung zwischen Menschen und Tieren er- Auf dieser Grundlage lässt sich für ein Prin- lauben. Denn einerseits weisen häufig einige zip der gleichen Interessenberücksichtigung Tiere auch die betreffende Eigenschaft auf – argumentieren, das von mehreren Autor- das gilt z. B. für Sprachfähigkeit zumindest Innen vertreten wird.5 Das Argument für je nach Definition, für Selbstbewusstsein die Gleichheit der Berücksichtigung zählt und Vernunft ebenso. Andererseits gibt es in der einen oder anderen Form zum Stan- im Hinblick auf jede vorgeschlagene Eigen- dardrepertoire der Tierethik und lässt sich schaft (außer der Spezieszugehörigkeit) ei- folgendermaßen zusammenfassen:6 nige Menschen, die diese nicht aufweisen – z. B. Säuglinge – und die daher auch gerin- Dass wir keine willkürlichen Unterschiede ger berücksichtigt werden müssten, wenn zugunsten bestimmter Gruppen machen die geringe Berücksichtigung von Tieren sollen, gehört zum Kernbestand unserer mit dem Fehlen der jeweiligen Eigenschaft ethischen Überzeugungen, wahrscheinlich begründet wird. sogar zum Verständnis von Ethik selbst. Wenn wir die Interessen von Tieren gene- Statt moralisch relevanten Unterschieden rell weniger stark berücksichtigen dürften scheint es zwischen Menschen und vielen wie die von Menschen, müssten wir dafür Tieren wichtige moralisch relevante Ge- also einen guten Grund haben. Einen guten meinsamkeiten zu geben – allen voran die Grund hätten wir nur, wenn sich Tiere in Empfindungsfähigkeit. Ich denke daher, dass eine geringere Berücksichtigung der 5 Vgl. z. B. Peter Singer, Animal Liberation, 1990; Interessen von Tieren sich nicht rechtfer- , Created from Animals: The Moral tigen lässt. Sie sind Wesen, die wie wir die Implications of Darwinism, 1990; David DeGra- Welt bewusst und aus ihrer eigenen Pers- zia, Gleiche Berücksichtigung und ungleicher pektive erleben, sie können leiden und sich moralischer Status, in: Schmitz (Fn. 4), S. 133– 152; Alasdair Cochrane, Ownership and Justice for wohl fühlen. Wir müssen dies in unseren Animals, in: Utilitas 21, 2009, S. 424–442; Gary Entscheidungen und Handlungen mit ein- Francione, Empfindungsfähigkeit, ernst genom- beziehen. Ich werde daher im Folgenden men, in: Schmitz (Fn. 4), S. 153–175. von einem Prinzip der gleichen oder fairen 6 Für Versionen des Arguments siehe z. B. Tom Berücksichtigung im Hinblick auf die Inter- Regan, Von Menschenrechten zu Tierrechten, in: essen von Tieren ausgehen. Schmitz (Fn. 4), S. 88–114; Evelyn Pluhar, Gibt es einen moralisch relevanten Unterschied zwi- schen menschlichen und tierlichen Nicht-Perso- Damit ist noch nicht gesagt, wie diese Be- nen?, in: Schmitz (Fn. 4), S. 115–132. rücksichtigung genau aussieht – und ich 90 MRM – MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2015 denke letztlich, dass sich dabei genauso die zwar Grundrechte auf Leben und/oder wenig eine einfache Theorie formulieren Leidfreiheit für Tiere fordern, daraus aber lässt, wie das für die moralischen Verhält- keine Notwendigkeit zur Abschaffung aller nisse von uns Menschen untereinander der Nutzungspraxen ableiten, u. a. weil sie Tie- Fall ist. Mir kommt es hier zunächst auf die ren kein Recht auf Freiheit oder Autonomie grundsätzliche Einsicht an: Tiere verdienen zuschreiben.9 Drittens können Tieren auch als empfindende Individuen unsere morali- unterschiedliche Rechte über diese klassi- sche Rücksicht nicht weniger als Menschen. schen Grundrechte hinaus zugeschrieben werden wie staatsbürgerliche Rechte oder Rechte auf bestimmte Territorien.10 III. Moralische Tierrechte? Zu sagen, dass Tiere Rechte haben, bedeu- Was hat es nun mit dem Begriff der Tierrech- tet daher für sich genommen noch nicht be- te auf sich? Auf der ethischen Ebene sind sonders viel. Es muss erst geklärt werden, damit moralische Rechte gemeint und die was wir unter Rechten verstehen und wel- Verwendung des Begriffs kennzeichnet eine che Handlungen und Umgangsweisen wir bestimmte Untergruppe tierethischer Theo- konkret moralisch legitim und welche wir rien, die Rechte-Theorien. Allerdings gibt es moralisch verwerflich finden. Wir können zwischen diesen Theorien viele Unterschie- auf den Begriff der Tierrechte auch ganz de und es ist schwierig, einen gemeinsamen verzichten – z. B. wenn wir die Debatte ver- Kern auszumachen. Es ist schon kontrovers, meiden wollen, ob der Begriff überhaupt was moralische Rechte überhaupt sind. Un- auf Tiere anwendbar ist.11 Ich möchte natür- ter moralischen Rechten werden manch- lich nicht leugnen, dass es sehr umfassende mal natürlich gegebene Rechte verstanden, und plausible Theorien gibt, die den Begriff manchmal wird davon ausgegangen, dass der Tierrechte verwenden, und dass der Be- das Rechtevokabular nur eine spezifische griff ein gutes Instrument sein kann, um im Weise ist, ethische Forderungen auszudrü- Detail auszuarbeiten, was wir Tieren schul- cken. Rechte sollen manchmal jede Art von den. Ich denke aber nicht, dass der Begriff Instrumentalisierung des jeweiligen Rechte- notwendig ist, um das zu tun. trägers verbieten, manchmal werden sie als Trümpfe, manchmal als Hindernisse für utilitaristische Aggregation verstanden, IV. Die Nutzung von Tieren manchmal werden sie als Forderungen de- finiert, die stark genug sind, um Pflichten Es ist bemerkenswert, wie sehr die gängige zu erzeugen. Es gibt darüber hinaus gro- Praxis des Umgangs mit Tieren im Wider- ße Unterschiede zwischen verschiedenen spruch steht zu den weitgeteilten Überzeu- Rechte-Theorien darin, was für substanti- gungen über ihre moralische Berücksichti- elle Forderungen sie vertreten. Häufig wird gungswürdigkeit. Die meisten Menschen davon ausgegangen, dass aus der Behaup- denken, dass Tiere moralisch zählen – auch tung von Tierrechten folgt, dass alle Formen wenn sie dem Prinzip der gleichen Interes- der Nutzung von Tieren zu menschlichen senberücksichtigung nicht zustimmen wür- Zwecken abgeschafft werden müssen.7 Das den. Im Rahmen vieler Praktiken werden ist aber nicht unbedingt der Fall – erstens können unter Tierrechten auch bloß Rechte auf Schutz vor bestimmten Arten der Be- Perspectives, 2004, S. 3–15; Elisabeth Anderson, Tierrechte und die verschiedenen Werte nicht- handlung verstanden werden, wie sie jetzt menschlichen Lebens, in: Schmitz (Fn. 4), S. 287– in gewissem Sinne im Tierschutzgesetz ver- 320, insb. S. 317. 8 ankert sind. Zweitens gibt es Positionen, 9 Alasdair Cochrane, Animal Rights Without Libera- tion, 2012; Garner (Fn. 1). 7 So argumentiert Tom Regan u. a. in: The Case for 10 Donaldson/Kymlicka (Fn. 1). Animal Rights, 2004. 11 Vgl. Carl Cohen, Haben Tiere Rechte?, in: Interdis- 8 Vgl. Cass R. Sunstein, Introduction. What Are ziplinäre Arbeitsgemeinschaft Tierrechte (Hrsg.), Animal Rights?, in: ders./ Tierrechte. Eine interdisziplinäre Herausforde- (Hrsg.), Animal Rights. Current Debates and New rung, 2007, S. 89–104. Schmitz: Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung? 91 dagegen die Interessen von Tieren so gut wie hungen. Trächtige Sauen bauen vor der Ge- gar nicht berücksichtigt. Das ist am augen- burt ihrer Ferkel ein Wurfnest. Da Schweine fälligsten der Fall im Umgang mit Tieren, nicht schwitzen können, suhlen sie sich die zur Produktion von Fleisch, Milch und zur Abkühlung. Die Kommunikation un- Eiern genutzt werden, weshalb ich mich im ter Schweinen funktioniert vor allem über Folgenden auf diesen Bereich konzentriere. Gerüche und verschiedene Laute. Die Nase ist für Schweine das wichtigste Sinnesorg- Nutztiere haben in der Agrarindustrie den an, aber sie hören auch gut und ihre Rüs- Status von Waren und Produktionsmitteln. selscheibe enthält so viele Tastsinneszellen Allein die Zahlen der Nutztiere sind gewal- wie beide menschlichen Hände zusammen. tig: Über 750 Millionen Landtiere werden Schweine sind mindestens so intelligente, jährlich nur in Deutschland im Rahmen der soziale und neugierige Tiere wie Hunde. Fleisch-, Milch- und Eierproduktion getö- tet – das sind fast zehnmal so viele Tiere, In der Intensivtierhaltung werden Sauen, wie Menschen in Deutschland leben, jedes die zur Ferkelproduktion genutzt werden, Jahr.12 künstlich besamt und danach wochenlang in Kastenständen gehalten, in denen sie sich Wie verhält es sich nun mit der Berücksich- nicht umdrehen können.15 Nach einer Phase tigung der Interessen der Tiere im Rahmen in engen, verkoteten Gruppenbuchten mit ihrer Nutzung? Ich möchte nur ein Beispiel anderen Sauen kommen sie in die Abferkel- näher erläutern: die Schweineproduktion in boxen, wo sie sich ebenfalls kaum bewegen, Deutschland. Die natürlichen Bedürfnisse kein Nest bauen und so gut wie gar nicht mit von Schweinen sind in ethologischen Fach- ihren Ferkeln interagieren können. Mast- büchern, die auch in der landwirtschaftli- schweine leben typischerweise in Gruppen chen Ausbildung benutzt werden, umfas- altersgleicher Tiere auf einstreulosen Voll- send dargestellt.13 Hausschweine haben sich spaltenböden über ihren eigenen Exkremen- in ihrem Verhalten durch die Domestikati- ten, sie können Kot- und Liegeplatz nicht on kaum verändert; wie die Wildschweine trennen, nicht wühlen, ihr Erkundungsver- verfügen sie über ein „reichhaltiges, an ihre halten nicht ausleben, sich nicht zurückzie- Umwelt angepasstes Verhaltensrepertoi- hen, kein angemessenes Sozialverhalten zei- re“14. Unter Freilandbedingungen verbrin- gen.16 Allein der beißende Kotgeruch muss gen Schweine einen Großteil ihrer Zeit mit für ihre empfindlichen Nasen unerträglich der Nahrungssuche, indem sie das Gelände sein. Unter anderem aufgrund der Beschäf- erkunden und mit ihrem Rüssel den Bo- tigungslosigkeit fressen sie sich gegensei- den nach Knollen, Wurzeln und Kleintieren tig die Ringelschwänze ab, vorbeugend durchwühlen. Sie bauen sich selbst Schlaf- werden diese daher gekürzt. Die Schwei- nester aus Blättern und Zweigen an witte- ne leiden unter verschiedenen Krank- rungsgeschützten Orten. Sie koten nicht in heiten, die mit Züchtung und Haltungs- ihrem Schlafnest, sondern in 5 bis 15 Metern bedingungen zusammenhängen.17 Nach Entfernung. Sie leben natürlicherweise in sechs Monaten werden sie auf Transpor- kleinen Gruppen mit heterogener Alters- ter geladen und im Schlachthof getötet – stuktur und pflegen komplexe soziale Bezie-

12 Im Jahr 2014 waren es über 792 Millionen (gezählt wurden Hühner, Enten, Truthühner, Schweine, 15 Erlaubt sind bis zu vier Wochen nach der Besa- Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde). Vgl. Statisti- mung, vgl. Tierschutz-Nutztierhaltungsverord- sches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 044 vom nung (§ 30 S. 2 TierSchNutztV). 11.02.2015. 16 Vgl. Kuratorium für Technik und Bauwesen in 13 Die Informationen der folgenden Sätze stam- der Landwirtschaft e.V., Nationaler Bewertungs- men aus: Steffen Hoy, Verhalten der Schweine, in: rahmen Tierhaltung 2006, Einflächenbucht mit Hoy (Hrsg.), Nutztierethologie, 2009, S. 105–139; perforiertem Boden und Großgruppe S/MS0002, Wilfried Brade/Gerhard Flachowsky, Schweine- online zugänglich unter http://daten.ktbl.de/ zucht und Schweinefleischerzeugung: Empfeh- (zuletzt besucht am 10. Oktober 2015). lungen für die Praxis, 2006. 17 Vgl. Hilal Sezgin, Saumäßig krank, in: Süddeut- 14 Hoy (Fn. 13), S. 105. sche Zeitung (14. August 2013). 92 MRM – MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2015 man kann davon ausgehen, dass auch das V. Ethik und politische Theorie gegen ihr Eigeninteresse geschieht.18 der Nutztierhaltung

Die Situation von Rindern, Hühnern, En- Wenn wir das ethische Prinzip der gleichen ten, Schafen und all der anderen Nutztiere Interessenberücksichtigung zugrundelegen, ist in zentralen Hinsichten genauso. Sie lei- sind die geschilderten Praktiken nicht zu den massiv. Alle Aspekte ihres Lebens – die rechtfertigen. Denn wie würde eine faire Züchtung, die Haltungs- und Umgangsbe- Abwägung hier aussehen? Auf Seiten der dingungen, die Länge ihres Lebens – sind Nutztiere werden mehrere substantielle In- durch ökonomische Bedingungen bestimmt. teressen – keine Schmerzen zu haben, ver- Ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen er- schiedene Verhaltensbedürfnisse ausleben fahren so gut wie gar keine Rücksicht. zu können, nicht von Eltern oder Kindern getrennt zu werden, nicht verstümmelt zu Es ist wichtig zu bemerken, dass sich diese werden, nicht getötet zu werden – syste- Situation auch in so genannten alternativen matisch verletzt. Auf Seiten der Menschen Haltungssystemen wie in der ökologischen dagegen geht es mindestens im euroäischen Tierhaltung – aus der nur wenige Prozent Kontext letztlich nur um die Bereitstellung der in Deutschland verkauften Tierproduk- einer Nahrungsoption neben anderen, die te stammen – nicht grundlegend anders ebenso nährend und aus Umwelt- und Res- darstellt. Die Tiere haben teilweise Gelegen- sourcensicht sogar günstiger sind. Natürlich heit, einige Verhaltensbedürfnisse zu be- hängen zur Zeit auch Arbeitsplätze und bäu- friedigen. Allerdings werden z. B. Schweine erliche Existenzen an der Tierproduktion, es auch in den allermeisten Biobetrieben auf ist aber möglich, hier Übergangslösungen wenigen Quadratmetern gehalten, Kälber und Alternativen zu schaffen. Die Interes- werden nach der Geburt von ihren Müttern senabwägung geht also eindeutig zuguns- getrennt, Legehennen leben in unnatürlich ten der Tiere aus – diese Art der Tierproduk- großen Gruppen und sind auf höchste Ei- tion ist ethisch nicht zu rechtfertigen. leistung auf Kosten ihrer eigenen Gesund- heit gezüchtet. Auch hier gibt es Krankhei- Aus meiner Sicht müsste man zu demselben ten, Verstümmelungen, Angst und Leid.19 Ergebnis selbst dann kommen, wenn man Alle Verbesserungen zugunsten der Tiere die Interessen der Tiere nicht genau gleich, sind abhängig von der Finanzierbarkeit sondern etwas schwächer auf derselben Ska- über Zuschüsse oder den Markt; das Leben la gewichtet – einfach weil die Verletzungen und Sterben aller Individuen untersteht der auf ihrer Seite so groß sind und unsere An- Profitabilität. Von einer ernsthaften Berück- liegen vergleichsweise so unwichtig.20 sichtigung der Interessen der Tiere kann auch hier keine Rede sein. Es ist also ziemlich klar, dass der eben ge- schilderte Umgang mit empfindenden Tie- ren ethisch falsch ist. Daraus ergibt sich wohl mindestens, dass wir als Einzelne die Praxis nicht unterstützen sollten – wir sollten ihre Produkte nicht kaufen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir als Einzelne nicht nur verpflichtet sind, Unrecht nicht zu unterstützen, sondern dass von uns auch gefordert werden kann, sich für seine Be- 18 Zu der Frage, ob bzw. welche Tiere ein Interesse endigung einzusetzen, lässt sich auch eine am Weiterleben haben, existiert eine Debatte in Pflicht zum politischen Aktivismus ableiten der Tierethik. Eine überzeugende Argument da- – also zum Einsatz gegen die Institutionen, für, dass wir von einem Interesse am Weiterleben ausgehen sollten, liefert Hilal Sezgin, Artgerecht ist nur die Freiheit, 2014, Kap. 3. 19 Für Recherchebilder aus Bio-Tierhaltungsanla- 20 Siehe auch DeGrazia, Moral from gen siehe z. B. www.biowahrheit.de (zuletzt be- a very Broad Basis, in: Journal of Moral Philoso- sucht am 12. Oktober 2015). phy 6, 2009, S. 143–165. Schmitz: Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung? 93 die die Praxis der gegenwärtigen Nutztier- Landwirtschaft aufzubauen und so weniger haltung ermöglichen und befördern. Tieren Leid und Schaden zuzufügen, ist die gesamte Nutztierhaltung unnötig zumin- Welches Ziel aber sollten wir dabei verfol- dest zur Sicherstellung einer gesunden Er- gen? An dieser Stelle kommt die politische nährung.22 Theorie ins Spiel. Es gilt zu untersuchen, auf welche institutionelle Organisation wir Diese Argumentation wird allerdings da- hinarbeiten sollten und wie. Wenn wir die durch erschwert, dass manche VertreterIn- gesellschaftliche Auseinandersetzung zum nen der Tierschutzposition explizit oder Thema betrachten, lassen sich sehr grob implizit davon ausgehen, dass eine Nutz- zwei verschiedene Positionen oder Pro- tierhaltung ohne Leiden und Schäden für gramme unterscheiden: Einerseits gibt es die Nutztiere möglich sei.23 Diese Idee ist eine Vielzahl von Gruppen, die für eine Ver- aus meiner Sicht naiv. Erstens wird dabei besserung der Nutztierhaltung eintreten, häufig die Tötung der Tiere ausgeblendet für bessere Tierschutzgesetze, mehr „Tier- bzw. nicht als ein Schaden für die Tiere an- wohl“ und eine „artgerechte“ oder „tierge- gesehen. Da ich davon ausgehe, dass Tiere rechte“ Haltung von Tieren. Diese Forde- ein gewichtiges Interesse am Leben haben, rungen lassen sich unter dem Schlagwort finde ich diese Position nicht überzeugend. „Tierschutz“ zusammenfassen. Daneben Zweitens werden häufig viele weitere Ein- gibt es Gruppen, die eine Abschaffung der griffe in das Leben der Tiere, die gegen ihre Nutztierhaltung fordern. Zur Formulierung eigenen Wünsche vorgenommen werden, dieser Forderung wird häufig der Begriff nicht problematisiert – so die Züchtung, der Tierrechte, zunehmend aber auch der die Trennung von Eltern und Kindern, die der Tierbefreiung verwendet. Gefangenhaltung selbst. Das heißt, dass die meisten VertreterInnen der Tierschutzposi- Ich möchte zuerst kurz begründen, war- tion letztlich nicht bereit sind, die betreffen- um ich das Tierschutzprogramm – als Ziel den Interessen der Tiere zu respektieren. – nicht überzeugend finde. Danach möchte ich darstellen, warum ich den Begriff der Nun ist es theoretisch möglich, für eine glei- Tierbefreiung zur Beschreibung der Alter- che Berücksichtigung der Interessen von native für geeigneter halte als den Begriff Tieren zu sein und gleichzeitig die Nutztier- der Tierrechte. haltung nicht per se abzulehnen. Eine solche Position wird in jüngster Zeit von Alasdair Im Rahmen der Tierschutzposition wird Cochrane vertreten. Er fordert, dass wir Tie- die Nutzung von Tieren einschließlich ihrer re nicht töten und ihnen kein Leid zufügen kommerziellen Nutzung zur Nahrungsmit- sollten. Wir könnten sie aber gefangenhalten telproduktion nicht per se für problema- und auch zur kommerziellen Produktion tisch befunden. Stattdessen wird gefordert, von Milch und Eiern nutzen, solange sie da- die Nutzung möglichst schonend zu gestal- runter nicht litten. Ein Interesse an Freiheit ten und unnötiges Leiden zu vermeiden.21 als solcher spricht Cochrane Tieren ab.24 Aus Hierbei ist einerseits fraglich, wie eigentlich meiner Sicht ist dieser Vorschlag nicht über- „unnötig“ verstanden werden soll – denn insofern es uns möglich ist, eine vegane 22 Vgl. zur bioveganen Landwirtschaft die Ausfüh- rungen des bioveganen Netzwerks unter www. biovegan.de (zuletzt besucht am 12. Oktober 21 In Deutschland stehen für diese Position z. B. 2015). die Organisationen Provieh und der Tierschutz- 23 So scheint z. B. Martha Nussbaum zu denken, bund. Auf Seite der TheoretikerInnen fordert dass bei einer „guten Behandlung“ von Nutz- z. B. Martha Nussbaum ein „Verbot von Tierquä- tieren ihnen keine Leiden entstehen und ein lerei“ und eine „gute Behandlung“ von Nutz- „schmerzloser Tod“ möglich und dann der ein- tieren (Martha Nussbaum, Jenseits von „Mitleid“ zige Schaden sei. Auch alle Werbung für Tierpro- und „Menschlichkeit“: Gerechtigkeit für nicht- dukte aus alternativen Haltungssystemen mit menschliche Tiere, in: Schmitz (Fn. 4), S. 176–216, Begriffen wie „Eier von glücklichen Hühnern“ hier S. 208, 213). Das Tierschutzgesetz sieht vor, etc. suggeriert dies. dass es für die Zufügung von Leiden und Schä- den einen „vernünftigen Grund“ geben muss. 24 Cochrane (Fn. 9), S. 12. 94 MRM – MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2015 zeugend, da er zu wenig berücksichtigt, wie ner fairen Berücksichtigung ihrer Interessen die Tierproduktion unter den Bedingun- direkt im Wege steht.28 Tierschutz ist daher gen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems kein überzeugendes Programm, weder in funktioniert. Erstens sind verschiedene Ein- seiner klassischen Variante noch in der Ver- griffe in das Leben der Tiere kaum zu ver- sion, die Cochrane vorgeschlagen hat. Die meiden, sobald man auf die Produktion be- kommerzielle Nutztierhaltung muss been- stimmter Güter abzielt: Die von Menschen det werden. Wir brauchen ein grundlegend gesteuerte Fortpflanzung und Zucht auf be- verändertes Verhältnis zu Tieren, das gänz- stimmte Merkmale, die nicht im Sinne der lich andere Kategorisierungen voraussetzt Tiere sind, ebenso wie die Tötung männ- und beinhaltet. licher Nachkommen, die keine Eier legen und keine Milch geben und somit nur ein Diese Schlussfolgerung – die sich auf die Kostenfaktor sind. Zweitens haben Men- ideale institutionelle Organisation einer schen, sobald sie mit den Körperprodukten Gesellschaft bezieht – ergibt sich meines von Tieren Geld verdienen, starke Anreize, Erachtens nur, wenn man neben ethischen sich über die Interessen der Tiere hinweg- Forderungen (gleiche Interessenberück- zusetzen – und werden es tun, da sie die sichtigung) empirische Annahmen über die Macht dazu haben.25 Solange Tiere drittens Auswirkungen verschiedener Institutionen rechtlich als Eigentum von Menschen zäh- (kommerzielle Nutzung, Eigentumsstatus) len und zur kommerziellen Produktion be- einbezieht. Daher ist der Dreischritt von stimmter Güter dienen, werden sie nicht als Ethik über Empirie zu Politik erforderlich.29 voll berücksichtigungswürdige Individuen wahrgenommen, sondern weiterhin als un- tergeordnete Gruppe ausgebeutet werden.26 VI. Tierrechte oder Tierbefreiung?

Die drei letzteren Sätze sind empirische Dass die Nutzung von Tieren zu menschli- Thesen, denen viele TierschützerInnen chen Zwecken vollständig aufhören muss, wohl nicht zustimmen würden. Ich denke ist eine zentrale Forderung der Tierrechts- allerdings, dass eine aufmerksame Beobach- bewegung. Der Begriff der Tierrechte dient tung der gegenwärtigen gesellschaftlichen auf der politischen Ebene häufig einfach zur Auseinandersetzung zur Tierhaltung die Artikulation dieser Forderung – die ich tei- Thesen plausibilisiert. Verbesserungen der le. Allerdings ist er für diese Forderung aus Haltungsbedingungen z. B. gelten nur unter meiner Sicht nicht der am besten geeignete der Bedingung als ernsthaft diskutabel, dass Begriff. sie die Profitabilität der Tierhaltung nicht gefährden.27 Auch LandwirtInnen, denen Erstens müssen Tierrechte, wie ich oben das Wohlergehen der Tiere am Herzen zu bereits dargestellt habe, gar nicht automa- liegen scheint, finden es legitim, gegen die- tisch mit einer Abschaffung der Nutztier- ses Wohlergehen zu handeln, sobald sie es haltung einhergehen. Tatsächlich ist die als wirtschaftlich notwendig ansehen. Aus eben skizzierte Position von Cochrane eine meiner Sicht wird hier deutlich, dass die Ka- tegorisierung von Tieren als Eigentum und 28 Zu dieser Argumentation siehe auch Gary Franci- die generelle Akzeptanz der Haltung und one, Animals As Persons: Essays on the Abolition Nutzung von Tieren zu Profitzwecken ei- of Animal Exploitation, 2008. Francione sieht al- lerdings den Eigentumsstatus als zentrale Ursa- che der Ausbeutung der Tiere an; meiner Ansicht nach handelt es sich um deutlich komplexere 25 Diese Überlegung motiviert Donaldson und Zusammenhänge. Vgl. dazu auch Jason Wyckoff, Kymlicka, die kommerzielle Tierhaltung sehr Analysing Animality: A Critical Approach, The kritisch zu beurteilen. Donaldon/Kymlicka (Fn. 1), Philosophical Quarterly, online veröffentlicht am S. 137. 13. März 2015. 26 So argumentiert auch Jason Wyckoff, Toward Ju- 29 Vgl. dazu auch Friederike Schmitz, Animal stice for Animals, in: Journal of Social Philoso- and human institutions: Integrating animals into phy, 45 (4) 2004, S. 539–553. political theory, erscheint in: Robert Garner/ 27 Aufschlussreich ist hier z. B. die Diskussion zum Siobhan O‘Sullivan, The Political Turn in Animal Verbot der Ferkelkastration. Ethics, 2016. Schmitz: Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung? 95

Tierrechtsposition, insofern Cochrane Tie- dem gesellschaftlichen Ausbeutungsver- ren das Recht auf Leben und das Recht, kein hältnis zu befreien und eine faire Berück- Leid zugefügt zu bekommen, zuschreibt. sichtigung ihrer Interessen zu erreichen. Auch andere AutorInnen fordern Tierrech- Schon jetzt wird das geltende Tierschutzge- te, die sie innerhalb einer kommerziellen setz kaum durchgesetzt. Was eine Einfüh- Nutzung für realisierbar halten.30 rung von Grundrechten für Tiere praktisch bedeuten und inwieweit sie Tiere wirklich Zweitens transportiert der Begriff der Tier- effektiv schützen könnte, ist unklar. Zu rechte Inhalte, die ich als problematisch diesem Zweck könnte es zudem deutlich ansehe. Wenn nämlich der Begriff der Tier- effektivere Mittel geben.33 Darüber hinaus rechte verwendet wird, um für ein Ende der sollten wir uns, wenn wir über gesellschaft- Nutzung von Tieren einzutreten, wird das liche Veränderungen nachdenken, meines oft so verstanden, als ob diese Forderung Erachtens nicht auf das Gesetz fokussieren. durch Verweis auf moralische Rechte von Um Gerechtigkeit für Tiere zu erreichen, Tieren begründet würde oder werden müs- muss die Gesellschaft in ganz grundlegen- se.31 Wie ich dargestellt habe, lässt sich die den Hinsichten neu und anders organisiert abolitionistische Forderung aber auch auf werden – Landwirtschaft und Lebensmit- der Basis anderer Moraltheorien begründen telwirtschaft, Medizin und Forschung, Pla- und man muss daher u. a. die Debatte, ob nung und Bau von Privathäusern und öf- Tiere begrifflich gesehen überhaupt Rechte fentlicher Räume sind nur einige Bereiche. haben können, gar nicht führen. Außerdem Auch über eine generelle Berücksichtigung denke ich, dass das Entscheidende nicht die von Tieren in politischen Entscheidungen Moraltheorie per se, sondern der Übergang müssen wir nachdenken. Wir sollten daher zur politischen Forderung mithilfe empiri- Institutionen in einem viel umfassenderen scher Annahmen ist. Sinne thematisieren, anstatt primär Geset- zesänderungen zu fordern. Darüber hinaus, und das ist der zweite mittransportierte Inhalt des Tierrechtsbe- Für diesen Ansatz steht aus meiner Sicht der griffs, wird häufig davon ausgegangen, dass Begriff der Tierbefreiung und die Tierbefrei- es den Menschen, die sich für Tierrechte ein- ungsbewegung. Mit Tierbefreiung ist da- setzen, um die Einführung von gesetzlich bei natürlich nicht die Forderung gemeint, verankerten Grundrechten für Tiere ginge, dass alle Tiere sofort aus der menschlichen deren Durchsetzung Aufgabe des Staates Haltung befreit und sich selbst überlassen wäre und deren Verletzung kriminalisiert werden sollten. Stattdessen geht es um eine würde. Diese Interpretation ist aber proble- Befreiung aus dem bestehenden Unterdrü- matisch. Einerseits sind viele AktivistInnen ckungs- und Ausbeutungsverhältnis. Eine innerhalb der so genannten Tierrechtsbewe- zentrale Forderung betrifft die Beendigung gung sehr kritisch gegenüber dem Staat und der kommerziellen Nutztierhaltung und dem staatlichen Gewaltmonopol eingestellt die Abschaffung des Eigentumsstatus der und anarchistische Ideen spielen eine wich- Tiere. Es gibt aber offensichtlich darüber tige Rolle in der Bewegung.32 Andererseits hinaus viele weitere Bereiche, in denen wir ist auch in der Sache zweifelhaft, welche mit Tieren interagieren, die wir überprüfen Rolle gesetzlich verankerte Rechte spielen und verändern müssen. Von dem Leitbild können, wenn es darum geht, die Tiere aus ausgehend, dass Tiere als fühlende Indi- viduen verdienen, in ihren Interessen fair berücksichtigt zu werden, können wir ge- 30 Siehe Garners Vorschlag einer „nichtidealen“ genwärtige und mögliche Institutionen da- Theorie in Garner, 2013 (Fn. 1). hingehend bewerten, ob sie diesem Leitbild 31 Das ist nicht verwunderlich, da Tom Regan als entsprechen. einer der bekanntesten TierrechtlerInnen so ar- gumentiert, siehe Regan (Fn. 7). 32 Zur akademischen Debatte siehe z. B. Anthony J. Nocella II/Richard J. White/Erika Cudworth, Anar- 33 Zur Kritik an Rechten vgl. auch Ted Benton, Tier- chism and Animal Liberation, Essays on Com- rechte: Ein ökosozialistischer Ansatz, in: Schmitz plementary Elements of Total Liberation, 2015. (Fn. 4), S. 478–511. 96 MRM – MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2015

Die Tierbefreiungsbewegung definiert sich uns herum stillschweigend zu dulden – und außerdem häufig in Abgrenzung von der damit mit zu ermöglichen. Wie unser Ein- Tierrechtsbewegung dadurch, dass sie eine satz genau aussehen und wie im Allgemein- grundsätzliche gesellschaftkritische Pers- en ein gesellschaftlicher Wandel am besten pektive einnimmt: Sie geht davon aus, dass vorangetrieben werden kann, sind wichtige die Ausbeutung von Tieren kein isolier- Fragen sowohl auf der Ebene unseres je- tes Phänomen innerhalb einer ansonsten weils eigenen Lebens als auch auf der Ebe- grundsätzlich gerecht organisierten Gesell- ne der politischen Bewegungen, in denen schaft ist, und identifiziert signifikante Pa- täglich strategische Entscheidungen ge- rallelen und Wechselwirkungen zwischen troffen werden müssen. Sie sind allerdings unserem Umgang mit Tieren einerseits nicht mehr Thema dieses Beitrags. und Formen der Ausbeutung und Unter- drückung von Menschen andererseits. So macht z. B. die Weise, wie die Interessen der Tierindustrie durchgesetzt werden, deut- lich, wie wenig demokratische Mitbestim- mung das gegenwärtige politische System tatsächlich zulässt.34 Dabei ist gleichzeitig die gesellschaftliche Haltung zum Umgang mit Tieren höchst widersprüchlich; das Ver- halten der überwiegenden Mehrheit von Menschen muss als Resultat von Ideologien und sozialen Normen verstanden werden, die z. B. das Fleischessen und die generelle Geringschätzung von Tieren untermauern.35 Die Entwicklung der Intensivtierhaltung ih- rerseits folgt Marktmechanismen der Tech- nisierung, Rationalisierung und Globali- sierung, die in anderen wirtschaftlichen Bereichen genauso wirksam und häufig ähnlich ungerecht und zerstörerisch sind. Die milliardenfache Gewalt gegen Tiere in Schlachthöfen wird durch die Ausbeutung von ArbeiterInnen noch profitabler. Gleich- zeitig hat die Tierhaltung selbst wiederum katastrophale Auswirkungen auf Umwelt und Klima und trägt durch den hohen Ver- brauch von Getreide, Land und Wasser zu Hunger und Armut in der Welt bei. Aus die- sen Gründen ist die Abschaffung der Nutz- tierhaltung nur ein Aspekt eines dringend nötigen, umfassenden gesellschaftlichen Wandels.

Hier komme ich zurück auf die Verantwor- tung von uns als Einzelnen: Aus meiner Sicht haben wir alle die Pflicht, uns aktiv für eine gerechtere Gesellschaft einzuset- zen. Das nicht zu tun, würde bedeuten, das Unrecht, die Gewalt und das Leiden um

34 Siehe z. B. Fritz Zimmermann, Der Fleischmann, DIE ZEIT Nr. 32/2015. 35 Vgl. Wyckoff (Fn. 28).