Georg-Forster-Studien XIX utor A

Georg Forster als interkultureller Autor kommt im Hinblick auf das Paradigma Interkulturalität eine exzeptionelle und bislang noch weithin unterschätzte Rolle zu. Wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen hat er die Enge politischer und gesellschaftlicher Lebensverhältnisse schon früh durch weite Reisen überwunden. Diese Erfahrungen artikulieren sich in seinen Texten in unterschiedlichen Modi der Fremdheitserfahrung und -verarbeitung. Fremdheit wird bearbeitet und reflektiert, überschrieben und trans- formiert. Darüber hinaus etabliert Forster noch vor der Herausbildung von nationalen Wissenschaftstraditionen eine auf vielfältigen Studien, Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit beruhende interkulturelle Literatur- und Wissenschaftspraxis, die einen europäische und außereuropäische Perspektiven integrierenden Dialog mit anderen Kulturen projektiert. orster als interkultureller als interkultureller orster ISSN 1439-9105 eorg F G eorg

ISBN 978-3-86219-778-1 XIX –

9 783862 197781 Herausgegeben im Auftrag der Georg-Forster-Gesellschaft

Georg-Forster-Studien XIX Georg-Forster-Studien

Herausgegeben im Auftrag der Georg-Forster-Gesellschaft von Stefan Greif und Michael Ewert

Band 19

ISSN 1439-9105        

Herausgegeben von Stefan Greif und Michael Ewert

kassel university press Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Georg-Forster-Studien / hrsg. im Auftr. der Georg-Forster-Gesellschaft von Stefan Greif und Michael Ewert. – Umschlaggestaltung von Anna-Carina Meywirth. – Kassel: Kassel University Press.

Bd.19. – (2014) ISSN 1439-9105 ISBN 978-3-86219-778-1 (print) ISBN 978-3-86219-779-8 (e-book) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-37799

© 2014

kassel university press

Diagonale 10, 34127 Kassel Druck: docupoint GmbH, Barleben Inhalt

Stefan Greif Vorbemerkung...... VII

Hans-Jürgen Lüsebrink Interkulturelle Aneignung und wissenschaftliche Erkenntnis. Zum Zusam- menhang von Übersetzung, Rezensionstätigkeit und Erforschung fremder Kulturen im Werk Georg Forsters...... 1

Florian Kappeler Die globale Revolution. Forster und Haiti...... ­...... ­...... 17

Anne Mariss Sprache und (Miss-)Verstehen: Formen kollektiver Wissensproduktion im Umfeld der zweiten Cook-Expedition (1772-75)...... 45

Reinhard M. Möller Die Feuerland-Episode in Forsters Reise um die Welt im Kontext einer anek­ dotischen Poetik der Interkulturalität...... 79

Michael Ewert Fremdheit, Kulturkritik, Alterität – Georg Forster als interkultureller Autor avant la lettre...... 109

Barbara Di Noi Zwischen Natur, Geschichte und Revolution: Das Prinzip des Mannigfal- tigen in Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790...... 129

allekurztitelraus.indd 1 06.06.2014 10:36:39 Esaïe Djomo „Die Indische Lehre tauge von Haus aus nichts“­. Überlegungen zu Forsters Übersetzung der Sakontala mit besonderem Blick auf die Mensch-Umwelt- Problematik...... 163

Heiko Schnickmann Hunde, Schweine und Pferde – Tiere als Mittel des Interkulturellen im Umfeld der Cookschen Reisen ...... 175

Isabella Ferron Das Fremd-Bild in Georg Forsters Reise um die Welt. Bildsprache und Sprachbilder...... 191

Frank Vorpahl Forsters Pariser Skizzen: Fundamente der visuellen Aneignung der Fremde ...... ­...... 215

Neue Literatur zu Georg Forster...... 233

Mitarbeiter der Georg-Forster-Studien XIX...... 237

Siglenverzeichnis...... 241

allekurztitelraus.indd 2 06.06.2014 10:36:39 Stefan Greif Vorbemerkung

Die Beiträge zur Tagung Fremdheit und Interkulturalität – Georg Forster als interkultureller Autor, die am 15. und 16. Juni 2012 in Kassel stattfand, widmen­ sich einem der naheliegendsten und bis heute aktuellsten Themen­ im Werk des Autors: der Begegnung fremder Kulturen, den heuristischen Vorausset- zungen solcher Kontaktnahmen und (mit Blick auf Forsters Reise­berichte) ihrer literarischen Gestaltung. So legt Hans-Jürgen Lüsebrink­ in seiner Studie dar, dass die ‚Interaktion und Kommunikation zwischen unter- schiedlichen Kulturen‘ von Forster für ein ‚Erfahrungs­wissen‘, ‚Überset- zungswissen‘ und ‚kritisches Wissen‘ fruchtbar gemacht wird, das in seiner ‚singulären Gesamtkonfiguration‘ hierzulande erstmals neue wissenschaft- liche Erkenntnishorizonte und wegweisende Dimensionen­ ‚interkulturellen Verstehens‘ erschließt. Diese Mehrschichtigkeit interkultureller Austausch- prozesse nimmt Florian Kappeler zum Anlass, um am Beispiel der Haitia- nischen Revolution aufzuzeigen, wie der überseeische Sklavenaufstand von männlichen und weiblichen Zeitzeugen vor Ort dargestellt und alsbald in Europa wahrgenommen wird. Dabei ist es der Jakobiner Georg Forster, der den 1791 einsetzenden Widerstand gegen die französische Kolonialmacht in Beziehung zur Französischen Revolution setzt und diese nur scheinbar entlegenen Ereignisse im Licht einer globalen Aufklärung deutet. Forsters Einschätzung der Französischen Revolution untersucht auch Barbara Di Noi in ihrem Aufsatz zu den Ansichten vom Niederrhein: Ausgehend von der Notwendigkeit kultureller Mannigfaltigkeit, diskutiere Forster die im Fremden wie im Eigenen ausgemachten ‚Antinomien‘ im Kontext der Revo- lutionsereignisse, um deren Unvergleichlichkeit innerhalb der ‚anthroplogi- schen Ordnung‘ herauszuarbeiten. Mit den methodologischen und narrativen Grundlagen interkulturellen Erzählens beschäftigen sich die hier versammelten Aufsätze zur Reise um die Welt und zu Johann Reinhold Forsters The Resolution Journal. Indem Michael Ewert nachweist, wie Georg Forster die ‚Übertragungs- und Vermittlungsar- beit‘ des Fremdverstehens erzählerisch nachgestaltet, kann er ihn als interkul-

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turellen Autor avant la lettre würdigen, dessen Reisebericht auch Möglich- keiten realer Kontaktnahmen erschließt. Reinhard M. Möller untersucht deren literarische Gestaltung hinsichtlich dreier Grade der Fremderfahrung, von der sich in der Reise um die Welt die berühmte Feuerlandepisode schon deshalb abhebt, weil das hier vorherrschende ‚negative Staunen‘ auf die Poetizität einer literarischen Aufarbeitung von Alterität hinweisen soll. Dass es Forster nicht darum geht, jenes scheinbar als beunruhigend erfahrene Fremdsein hierar- chisch an europäischen Identi­tätsstandards zu messen, veranschaulicht Isabella Ferron. Vielmehr dient ihm die ganze Komplexität fremder Kulturen dazu, sich des ‚Eigenen‘ als Bestandteil einer anthropologisch grundsätzlich identisch disponierten Menschheit zu versichern. Inwieweit von dieser innovativen Perspektive abweicht, dokumentiert Anne Mariss in ihrem Beitrag. Auf der Basis von James Cooks Überlegungen zu der ihm von der britischen Admiralität angetragenen Erkundung fremder Völker weist sie am Beispiel des Resolution Journals nach, wie der Theologe und Naturforscher einerseits den verschiedenen sozialen Schichten anderer Kulturen je eigene Wissensbestände attestiert und damit Bildung zum Maßstab auch fremder Aufklärungspotentiale erhebt. Andererseits hält Johann Reinhold Forster an seiner europäischen Erkenntnisüberlegenheit fest und legitimiert auf diese Weise die Wissenschaftlichkeit seiner Reisebeobachtungen. Welche Bedeutung der Natur- und Tierethik im interkulturellen Denken Georg Forsters zukommt, belegen die Untersuchungen zur Sakontala-Über- setzung und verschiedene Äußerungen in der Reise um die Welt. Während Essaïe Djomo auf die Tragweite der indischen Naturlehren hinweist, die Forster mit seiner Übersetzung des Lehrstücks in Deutschland bekannt macht, widmet sich Heiko Schnickmann der Präsenz verschiedener Haustiere, die bislang selten als Teil interkultureller Interaktionen betrachtet wurden, faktisch aber als Geschenk oder bewusst lanciertes Statussymbol die Kommu- nikation zwischen fremden Kulturen beeinflussen konnten. Meinen Mitarbeitern, Anna Meywirth, Katharina Zindel, Nils Lehnert, Christian Köhn und Max Dorn danke ich sehr herzlich für ihre Mitarbeit während der Forster-Tagung des Jahres 2012 und bei der Fertigstellung der diesjährigen Georg-Forster-Studien. Da die Tagung sehr gut besucht war und die Beiträge erstmals in Sektionen aufgeteilt werden mussten, da wir ferner noch einmal das Layout der Studien überarbeitet haben, war ihr Engagement so unerlässlich wie ertragreich.

allekurztitelraus.indd 4 06.06.2014 10:36:39 Hans-Jürgen Lüsebrink Interkulturelle Aneignung und wissenschaft­ liche Erkenntnis . Zum Zusammenhang von Übersetzung,

Rezen­sionstätigkeit und Erfor­schung fremder Kulturen im Werk Georg Forsters

I Dimensionen der Interkulturalität im Werk Forsters

Interkulturalität, worunter sich begrifflich die Konsequenzen und Resultate des Kontakts, der Interaktion und der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kulturen verstehen lassen1, nimmt im Werk Georg Forsters eine zumindest dreifache Dimension ein, die sich mit den Begriffen ‚Erfahrungswissen‘, ‚Übersetzungswissen‘ und ‚kritisches Wissen‘ bezeichnen lassen. Die Dimension des Erfahrungswissens bezieht sich auf Forsters umfangreiche, intensive und in vielfacher Hinsicht singuläre persönliche, lebensweltliche Erfahrung anderer Sprachen und Kulturen, die ihn seit seiner frühesten Kindheit wie kaum einen anderen Schrift- steller, Wissenschaftler und Publizisten des 18. Jahrhunderts in vielfältiger Weise prägte. Forsters Kindheit und Jugend waren von seinem Aufenthalt in England, einer mehrmonatigen Russlandreise, die er als Elfjähriger im Jahre 1765 in Begleitung seines Vaters nach Moskau, St. Petersburg und Saratow unternahm, und einer ersten Reise nach Paris im Jahre 1777 – wo er auch den Naturforscher Buffon zu einer mehrstündigen Unterre- dung traf2 – tiefgreifend geprägt. Seine berufliche Karriere war gleichfalls durch längere Aufenthalte – und hiermit verbundene interkulturelle Erfah- rungen – in Polen3 und dann, am Ende seines Lebens, in Paris verbunden. Die Teilnahme an der Weltumseglung James Cooks, die sich in seiner Reise

1  Vgl. Lüsebrink 2012, 14. 2  Vgl. Therese Forster 2003, 40. Vgl. zu dieser Reise das auf Englisch verfasste Reisetage- buch von Georg Forster 1914, 4-27. 3  Vgl. hierzu Lüsebrink 2013, 59-72; vgl. auch Siemon 2005, 155-182.

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um die Welt niederschlug, führte in seinem Werk nicht nur zu einer wissen- schaftlichen Auseinandersetzung mit den ethnographischen, geographi- schen und botanischen Gegebenheiten ferner Länder,4 vor allem der Südsee, sondern auch zu einer kritischen Reflexion über die konfliktuelle, potentiell gewalttätige Dimension interkultureller Kontakte und Beziehungen, die insbesondere der gewaltsame Tod James Cooks auf Hawaii auslöste.5 Auch Georg Forsters Werk Ansichten vom Niederrhein (1790), in dem er die Erfah- rungen einer mehrmonatigen Reise nach Holland, Brabant und Nordfrank- reich zu Beginn der Französischen Revolution aufarbeitete, enthält nicht nur Gedanken zur politischen Entwicklung sowie zur Geographie, Bevölkerung, Kultur, Wirtschaft und Natur der bereisten Länder, sondern auch zur inter- kulturellen Dimension seiner zusammen mit Alexander von Humboldt gemachten Reiseer­fahrungen. Insbesondere die Beschreibungen alltägli- cher Kommunikations-, Kleidungs- und Verhaltensformen verweisen auf Georg Forsters anthro­pologisches Interesse, das neben nationalkulturellen Spezifika – wie der Kleidung der „geringen Volksklasse und der Mägde“ in Holland, die Forster „in einem dem Fremden äußerst mißfälligen Costume“ (AA IX, 289)6 erscheinen – auch die interkulturellen Einflüsse und Misch- formen mit großer Sensibilität und Aufmerksamkeit registriert. So notiert er im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Den Haag, dass „die vielen, durch die Verbindungen des Hofes hierher gebrachten fremden Familien, die Französische reformirte Kolonie und die Mischlinge der Niederländer selbst aus allem Provinzen auf eine fast nicht zu berechnende Art dazu beitragen, den hiesigen Einwohnern eine mehrentheils angenehme, wenn auch nicht charakteristisch nationale Gesichtsbildung zu geben.“ (Ebd., 393)

4  Vgl. hierzu insbesondere Berg 1982. 5 Vgl. hierzu Lüsebrink 2003, 123-138. 6 Vgl. ebd. nachfolgend seine präzise, gerade ethnographische Beschreibung: „Ein kurzes, öfters weißes Mieder, dessen Schösse, wenn es deren hat, nicht zum Vorschein kommen, bezeichnet ungefähr die Holländische, zum Umspannen gemachte Taille; allein die Anzahl der Röcke und ihre Substanz geben diesem Anzug etwas Ungeheures, so daß die untere Hälfte des Körpers, von den Hüften bis an die Waden, in einer Art von kurzer, dicker Tonne zu stecken scheint. Auf dem Kopfe eine dicht anschließende Haube und bei den Landleuten darüber ein Strohhut, der um Rotterdam hinten gar keinen Rand, im Haag hingegen rundum einen gleich breiten Rand hat, aber jederzeit mit dunkelfar- bigem bunten Kattun gefüttert ist, vollenden diesen Anzug.“

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Die zweite Dimension von Interkulturalität im Werk Forsters betrifft seine Übersetzungstätigkeit, mit der die Aneignung der sprachlichen, aber zugleich auch kulturellen Codes anderer Gesellschaften und Kulturkreise verknüpft war. Dem Zeugnis seiner Frau Therese zufolge begann Georg Forster bereits im Alter von zwölf Jahren, zur Unterstützung seines Vaters Johann Reinhold, der einen Teil seines Lebensunterhalts und den seiner Familie hiermit verdiente, Übersetzungen anzufertigen, zunächst „aus dem Russischen ins Französische“7 und dann vor allem aus dem Englischen ins Deutsche sowie aus dem Französischen ins Deutsche. Übersetzen nimmt im Werk Forsters einen zentralen und insgesamt in der Forschung noch zu wenig berücksichtigten Stellenwert ein. Übersetzen in einem weiten Sinn des Wortes, wie ihn auch Jörg Esleben in seinem Aufsatz „Übersetzen als Interkulturelle Kommunikation im Werk Forsters“8 verwendet, umgreift die Zielsetzung, fremde Gesellschaften in ihrer sprachlichen und kultu- rellen Tiefe und Komplexität zu verstehen. Diese (inter-)kulturelle Überset- zungstätigkeit lässt sich im Werk Forsters in vielfältiger Weise beobachten: bei der Schilderung von interkulturellen Interaktionssituationen, wie sie Forster unter anderem auf seiner Reise mit in der Südsee in vielfältiger Form selbst erlebte und aufzeichnete; bei seiner Tätigkeit als Übersetzer und Vermittler der neuen politischen Sprache der Französi- schen Revolution im deutschen Sprach- und Kulturraum, die für ihn als Mainzer Jakobiner eine große Herausforderung darstellte9; und schließlich bei seinem konstanten, sein gesamtes Werk durchziehenden Bestreben der interkulturellen Aneignung von Wissen aus anderen Kulturräumen durch die Lektüre, Kommentierung und Übersetzung von Druckwerken. Eine Auswertung der von Forster angefertigten insgesamt über 60 Über- setzungen zeigt, dass diese zu über drei Vierteln (70%) vom Englischen ins Deutsche und zu knapp einem Viertel aus anderen Sprachen – dem Russischen, Niederländischen, Schwedischen, überwiegend jedoch aus dem Französischen – kamen. Zielsprachen der Übersetzungen Georg Forsters, die er zum Teil selbst, zum Teil jedoch in Zusammenarbeit mit anderen Übersetzern­ und Übersetzerinnen, vor allem mit seiner Frau Therese,

7 Therese Forster, 31. 8 Esleben 2004, 165-79. 9 Vgl. hierzu Grosser 1993, 211-254.

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mit Ludwig Ferdinand Huber sowie Meta Forkel-Liebeskind anfertigte10, waren Englisch, Deutsch und Französisch, die Forster auf unterschied­ lichem Niveau sprach. Forster übersetzte, seinen Interessenschwerpunkten folgend, Werke aus recht unterschiedlichen Wissensgebieten (Reiseliteratur 69%, Geographie/Botanik 15%, Geschichte 8%, Theater/Schauspiel 8%), wobei das Spektrum sich hier deutlich eingeengter darstellte als im Falle der von ihm verfassten Rezensionen. Letztere umfassten ein sehr breites Themenspektrum und betrafen neben der auch hier dominierenden Reise- literatur die Bereiche Geographie, Botanik, Geschichte, Ethnographie/ Anthropologie, Philosophie und Seefahrtskunde (Graphik n°1). Forster rezensierte Werke in insgesamt sechs verschiedenen Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Latein und Spanisch –, wobei englisch- und deutschsprachige Werke vor französischsprachigen dominierten (Graphik n°2). „Viele der zahlreichen Rezensionen“, so Geneviève Roche, „die Forster hauptsächlich für Heynes Göttingische Gelehrten Anzeigen verfasste, dienten als Vorstufe für das eigentliche Übersetzen. Sie ermög- lichten es, die Qualität und Beschaffen­heit einer Schrift zu beurteilen und zusammen mit seinem Verleger zu entscheiden, ob sie eine Übersetzung wert war, ob dann das Werk eine integrale Übersetzung verdiente oder sich eher für einen Auszug in einer Reisesammlung eignete.“11 Übersetzen als eine essentielle kulturvermittelnde Aktivität war somit bei Forster eng verbunden mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, deren Entwicklung und Ausrichtung wiederum unmittelbaren Einfluss hatte auf die Auswahl der von im rezensierten Werke.

II Vom Übersetzen zum Rezensieren – wissens- und sprach- kritische Aspekte

Anhand der von Forster verfassten Übersetzer- und Herausgebervorreden werden zentrale Merkmale seiner Konzeption von Übersetzung als inter- kulturelle – und zugleich kritische – Aneignung eines fremdkulturellen Werkes und der mit ihm verbundenen anthropologischen Erfahrungs-

10 Vgl. hierzu Martin 2008, 1639f. 11 Roche 1994, 110.

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wirklichkeit deutlich. In der Vorrede zu seiner Übersetzung von Thomas Paines Rights of Men (auf deutsch Die Rechte des Menschen) betont Forster den auch politischen Stellenwert von Übersetzungen. Gerade bei grund- legenden Texten wie der französischen Konstitutionsakte aus dem Jahre 1791 sei es „nicht gleichgültig, wie diese Urkunde, über deren Wichtigkeit freilich erst künftige Jahrhunderte das gültige Urteil sprechen werden, den Nachbarn Frankreichs verdollmetscht wird. Die Schwierigkeiten [...]“, so führt Forster aus, „die uns bey der deutschen Übersetzung aufgestoßen sind, waren in keiner geringen Anzahl, und zum Theil von der Art, daß sie uns nöthigten, die Reinigkeit der Sprache der Deutlichkeit aufzuopfern“ (AA VIII, 227). In der Vorrede zu seiner Übersetzung zu Keates Nachrichten zu den Pelew-Inseln aus dem Jahre 1789 unterstreicht Forster nicht nur, ganz im Sinne der zeitgenössischen Übersetzungskritik, „die Schwierigkeit der Aufgabe, in der Seele eines andern zu reden“ (AA V, 332), sondern auch die notwendige, enge Verbindung von interkulturellem Erfahrungswissen, Fachwissen und übersetzerischer Sprachkompetenz.

Sowohl die Bekanntschaft mit dem besonderen Fach der Litteratur, in welches die Urschrift gehört, als der Vortheil einer Entdeckungsreise beygewohnt, und die nächsten Verwandten der Pelewaner persönlich gekannt zu haben, mußte mir diese Arbeit erleichtern, und mich in den Stand setzen, sie mit Bestimmtheit und Genauigkeit zu vollenden. [...] Die redende Einfalt des Ausdrucks geht wenigstens zum Theil verloren, wenn das Gesagte nicht unmittelbare Bezeichnung eigener Anschau- ungen ist; es entsteht etwas Verwischtes, eine gewisse Unbestimmtheit, die denjenigen am meisten auffällt, der sie in einer andern Sprache nach- bilden soll. (Ebd., 331) Die von Forster herausgegebene und mit einem Vorwort versehene deutsche Übersetzung von Anders Sparrmanns ursprünglich auf Schwe- disch erschienener Reise nach dem Vorgebirge der Guten Hoffnung, den südlichen Polarländern und um die Welt, hauptsächlich aber in den Ländern der Hottentotten und Kaffern in den Jahren 1772 bis 1776 erfährt von ihm eine besondere Wertschätzung, weil der Verfasser „Oekonomie, Menschen- kunde und Naturgeschichte“ (AA V, 136) miteinander verknüpft und zugleich den Akzent auf die unmittelbare Erfahrung und den direkten Kontakt mit den Bewohnern der bereisten Weltgegenden gelegt habe, die der Autor, so Forster, „mit unermüdeter Sorgfalt auszufragen, und zu Rathe

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zu ziehen pflegte“ (ebd.), so dass alle zusammen­getragenen Fakten, „die man nur von ansäßigen Leuten“ (ebd.) in Erfahrung bringen könnte, unver- kennbar „das Siegel der Ächtheit“ (ebd.) trügen. Zugleich betonte Forster, dessen Herausgebervorwort streckenweise den Duktus einer Rezension annimmt, die perfekten Sprachkenntnisse des Übersetzers, Christian Heinrich Groskurd, der „beide Sprachen [das Schwedische und das Deutsche] vollkommen besitzt“ (ebd., 138), sowie den wissenschaftlichen, um Objektivität bemühten Stil der Abhandlung, die sich wohltuend von modisch philosophischen Schriften der Zeit abhebe (dem „Zauber einer Schreibart, den eine gewisse philosophische Sekte geschickt zum Blendwerk gebraucht“ (ebd., 137)12). Generell sah Forster das Bemühen um die empirische Fundierung wissenschaftlicher Aussagen – die er hier als „zuverläßige Bekanntschaft mit der Sache“ (ebd., 138) bezeichnet – und „eine genung ausgebreitete Sprachkenntniß“ (ebd.), das heißt die Kenntnis mehrerer Fremdsprachen, des Lateinischen ebenso wie lebender Fremd- sprachen, als eine herausragende Qualität des deutschen Gelehrtenmilieus seiner Zeit an, wobei er offensichtlich hier auch auf die gleichfalls von anderen zeitgenössischen deutschen Wissenschaftlern und Schriftstellern monierten mangelnden Fremdsprachenkenntnisse vor allem französischer Gelehrter abzielte. Seine eigene Aufgabe als Herausgeber der Übersetzung sah Forster auch darin, das übersetzte Werk wissenschaftlich und auch sprachlich zu verbessern, unter anderen durch eine Reihe von Anmerkungen und Fußnoten sowie auch hinsichtlich der abgedruckten Kupferstiche, die, so Forster, „von einem Sachverständigen, der die abgebildeten Thiere ebenfalls an Ort und Stelle, wie Herr Sparrmann, gezeichnet hatte, verbessert­ worden sind.“ (Ebd., 139) An einzelnen Stellen fügte Forster selbst noch eigene Über- setzungspassagen hinzu, die seine Vielsprachigkeit und zugleich seine Sensi- bilität für die sprachliche Dimension wissenschaftlicher Erkenntnis belegen. So recherchierte Forster u. a. die Quellen einer bei Sparrmann auf Lateinisch zitierten Beschreibung des Einhorns in Mekka im italienischen Original (bei Giovanni Battista Ramusio, 1485-1557) und führte anschließend in einer Fußnote die vollständige Beschreibung zunächst auf Italienisch und dann in

12 Es handelt sich hier wahrscheinlich um eine Anspielung auf Voltaire, Volney sowie vor allem auf Guillaume-Thomas Raynal, dessen philosophisch-historiographischer Stil u. a. auch von Jakob Mauvillon und Johann Gottfried Herder mit ähnlichen Argumenten einer harschen Kritik unterzogen wurde.

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einer offensichtlich von ihm selbst angefertigten deutschen Übersetzung an.13 Die Rolle des Übersetzers, der als Voraussetzung für seine Aufgabe, fremd- kulturelles Wissen zu übertragen, nicht nur gute Sprachkenntnisse, sondern auch interkulturelles Erfahrungswissen mitbringen müsse, verknüpft Forster gleichfalls mit der Rolle des Kritikers und Rezensenten. Zahlreiche Über- setzervorreden aus seiner Feder gehen von der Präsenta­tion des übersetzten Werkes und den Schwierigkeiten der Übersetzung zu einer kritischen Aufarbeitung der bisherigen Forschung zur behandelten Thematik über. So ähnelt beispielsweise Forsters Vorrede zu seiner Übersetzung von Piozzis Bemerkungen auf der Reise durch Frankreich, Italien und Deutschland über weite Strecken einer wohlwollend-kritischen Rezension, bei der der Vorredner jedoch nicht in verhaltener Distanz verbleibt, sondern durch seine kritische Auseinandersetzung eine Reihe von Eingriffen in den Text legimitiert. „An einigen Stellen“, so schreibt Forster, wo sie [Piozzis „Ideenassociationen“] mir zu üppig hervorzusprießen schienen, habe ich es gewagt, die frucht- und blütheleeren Zweige wegzu- schneiden. Auch sind einige Erläuterungen und Berichtigungen hinzuge- kommen, weil da, wo die Urtheile gar zu viel Einseitigkeiten und Natio- nalstimmung verrathen, ein Wink mir nicht unzweckmäßig erschien, um den Leser, der sonst treuherzig fortlesen würde, zu erinnern, daß es auch ausser der Vorstellungsart der Verfasserin eine andere giebt, die er zuvor vergleichen kann. (AA V, 361)

Aus einer deutlich interkulturellen Perspektive heraus erfolgt Forsters Kritik in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Wilhelm Robertsons­ Werk Histo- rische Untersuchung über die Kenntnisse des Alten Indien aus dem Jahre 1791, in der Forster – auch hier im rhetorischen Argumentationsgestus der Rezension – Robertsons Quellen einer kritischen Überprüfung unterzieht und deren Lücken insbesondere auf fehlende Sprachkenntnisse, u. a. des Deutschen, zurückführt. Forster nutzt die Gelegenheit der kritischen Übersetzervor- rede, um den Vorsprung, den die deutsche Wissenschaftsentwicklung in bestimmten Bereichen wie der Historiographie erreicht habe, hervorzuheben und zugleich die Asymme­trien des Kultur- und Wissenstransfers im europä- ischen Raum der Epoche zu unterstreichen:

13 Sparrmann 1784, o. S. [13]., 455-457 (Fußnote).

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Wäre es nicht das Schicksal unserer Litteratur, im Auslande die aufmerk- same Theilnahme entbehren zu müssen, die unser Publikum den Produk- tionen der fremden Gelehrsamkeit so gern zollt, so hätte wahrscheinlich ein Theil der Vorarbeit, welche vor der Entwickelung der Ideen unseres Verfassers vorhergehen mußte, ihm durch die Bekanntschaft mit solchen Deutschen Schriften, wie Sprengels Geschichte der wichtigsten geographi- schen Entdeckungen, sehr erleichtert werden müssen. (AA V, 598)

Lenkt man den Blick auf die von Georg Forster rezensierten Werke, so fällt zunächst die relativ große Bandbreite der Sprachen auf, in denen sie erschienen waren und die Forster dank seiner polyglotten Sprachkennt- nisse kritisch zu bewerten vermochte: Werke in deutscher und englischer Sprache nehmen jeweils ein Drittel der insgesamt 130 von Georg Forster publizierten Rezensionen ein; das restliche Drittel betrifft Rezensionen zu Werken vor allem in französischer, aber auch in italienischer, spani- scher und lateinischer Sprache. Die Rezensionen selbst verfasste Forster zu über 90% in deutscher, den Rest in englischer Sprache. Das von ihm in anderen Kontexten wie Akademiereden und wissenschaftlichen Abhand- lungen verwendete Französisch spielte als Rezensionssprache für Forster keine Rolle, was auch als ein Indiz für die mangelnde Integration Georg Forsters in den französischen Literatur- und Rezensionsbetrieb seiner Zeit gewertet werden kann, aber vielleicht auch mit seiner mangelnden Praktizierung des Französischen vor allem während der Jahre in Wilna verbunden war. So schrieb er im März 1786 im Zusammenhang mit der Abfassung seiner Preissschrift über James Cook in französischer Sprache hierzu:

Nur fehlts mir doch wahrlich an französischer Leichtigkeit im Ausdruck. Gott im Himmel, auch das gieng in Cassel eher, wo man doch dann und wann ein Wort französisch hörte, in französische Comédie laufen konnte, mit dem Landgrafen französisch parlirte, u.s.w. Hier unter den Bären ist’s anders. (An Sömmerring, AA XIV, 450)

Zu renommierten französischsprachigen Rezensionszeitschriften der Zeit wie dem Journal Encyclopédique, der Année Littéraire, dem Journal Littéraire de Nancy und dem Journal de Savants hatte Forster zudem offen- sichtlich keinen unmittelbaren Kontakt.

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Deutlich breiter als im Fall der Übersetzungen stellt sich das fachliche und thematische Spektrum der von Forster rezensierten Werke dar. Auch hier lässt sich, wie bei seinen Übersetzungen, allerdings auf der Grundlage eines sehr viel breiteren Textcorpus von 130 Rezensionen, eine Dominanz der Reiseliteratur feststellen, in weitem Abstand gefolgt von Werken, die die Geographie, Botanik und Tierwelt eines Kulturraums betreffen.14 Geschichte, Ethnographie, Philosophie und Seefahrtskunde folgen, mit deutlichem Abstand, auf den weiteren Plätzen. Als sehr breit und diffe- renziert erweist sich das Spektrum der Kulturräume, auf die sich die von Forster rezensierten Werke beziehen. Die insgesamt 15 repräsentierten Kulturräume belegen ein sehr breites, globales und geradezu enzyklopädi- sches Kulturraumspektrum, das Forsters wissenschaftliche Neugier reflek- tiert (Graphik n°3). Diese reicht von den in seinen Rezensionen am meisten repräsentierten Kulturräumen Indien, Afrika und England bis hin zu Skan- dinavien, dem Baltikum und China. Dieses sehr breite Spektrum spiegelt Forsters sowohl weit gefächerten Interessengebiete als auch seine Interes- senschwerpunkte in der Südsee, in Frankreich und in Skandinavien wider und kommt zugleich seiner Methode einer vergleichend-verstehenden Analyse fremder Gesellschaften und Kulturen unverkennbar entgegen.

III Zur Dialektik interkultureller Erkenntnis – Forsters Aufsatz „Der Brotbaum“

Georg Forsters 1784 zunächst im Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Literatur erschienener Aufsatz Der Brotbaum vermag geradezu exem- plarisch zu veranschaulichen, wie in seinem Werk interkulturelles Erfah- rungswissen, die interkulturelle Aneignung fremdkulturellen Wissens durch Übersetzungen sowie kritische Auseinandersetzung und wissen­ schaftliche Erkenntnis systematisch ineinandergreifen. Der knapp 30 Seiten lange Artikel verfolgt zunächst einen wissenschaftlichen Anspruch im Bereich der Botanik und der Naturgeschichte, nämlich die Zielsetzung­, die im südostasiatischen Raum beheimatete Spezies des Brotbaums möglichst präzise in seiner botanischen Singularität, seiner Entstehung

14 Vgl. hierzu Graphik n°1.

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und seiner geographischen Verbreitung zu erfassen und zu beschreiben. Forster folgt hier im Wesentlichen Linné und Buffon, die er mehrfach erwähnt und zitiert, und löst dieses botanisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis­interesse in erster Linie am Ende seines Aufsatzes, in Form eines Supplements, das strukturell die Form eines Artikels für ein bota- nisches Nachschlagewerk aufweist, ein. Dieser Beitrag geht von einer präzisen Beschreibung des Brotbaums aus, ordnet ihn in die Kategorien der Pflanzengeschlechter nach Linné ein, beschreibt artverwandte Pflanzen, die männlichen und weiblichen Blüten, die Spielarten der Brotbaums, zu denen der „zahme, samenlose Brotbaum“, der „zahme, samenbringende­ Brotbaum“ und der „wilde, samenbringende Brotbaum“ zählen, und behandelt dann die Bezeichnungen des Brotbaums in den unterschiedli- chen Sprachen, wobei er von den botanischen Bezeichnungen in Lateinisch von Linné, Thunberg und Rumpf ausgeht, dann auf die Bezeichnungen in europäischen Sprachen, auf Deutsch, Englisch, Holländisch, Französisch sowie im holländischen Sprachgebrauch in Inselindien eingeht, um schließ- lich die einheimischen Bezeichnungen des Brotbaums nach seinen Spiel- arten in den unterschiedlichen außereuropäischen Sprachen aufzuführen, die vom Malaysischen und Tahitianischen bis zu den Bezeichnungen auf den Philippinen und der Insel Guam reichen. Dieser „Brotbaum“-Artikel, in die Form eines Lexikon-Artikels gegossen und als Supplement seinem Beitrag angefügt, endet – auch hier der enzy- klopädischen Tradition entsprechend – mit einer präzisen Auflistung aller einschlägigen Studien zum Brotbaum und ihrer Autoren – insgesamt 22 Schriften: sieben in lateinischer Sprache, fünf in deutscher Sprache, drei in französischer Sprache, sechs in englischer Sprache und eine auf Holländisch. Der vorangestellte, quantitativ dominierende Teil seiner Studie Der Brotbaum schließlich ordnet die botanische, an das Ende des Aufsatzes eingefügte Beschreibung der Pflanze in einen komplexen, interkultu- rellen Diskurs ein, in dem Erfahrungswissen, politische Reflexion, die Dimensionen des sprachlichen und kulturellen Übersetzens und schließ- lich die kritische Auseinandersetzung mit vorliegenden Studien – von denen Forster einige bereits rezensiert hatte – zusammengreifen. Forsters Beitrag entwirft zunächst eine globale geographische Perspektive, die das Vorkommen des Brotbaums in den unterschiedlichen Weltteilen, ausgehend von seinem Ursprungsraum im westlichen Pazifik, nachzeichnet und

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insbesondere mit ökonomischen und kulturanthropologischen Gesichts- punkten erklärt. „Der Brotbaum“, so Forster,

gehört unter die geringe Zahl von Pflanzen, welche sich über einen ansehnlichen Teil unserer Erde verbreitet haben. Von Suratte an, bis zu den Marquiseninseln, im stillen Weltmeer, auf einer Strecke von ein hundert­ und funfzig Graden der Länge, oder mehr als zwey tausend geogra­ phischen Meilen, trift man ihn fast auf jeder Küste und auf jeder Insel an. (AA VI, 65)

Forster verknüpft sodann die Beobachtungen zur Verbreitungsgeschichte des Brotbaums mit Thesen zur kolonialen und vorkolonialen Migrations­ geschichte im pazifischen Raum sowie mit der Geschichte der Kolonisation außereuropäischer Räume durch europäische Mächte. In einem weiteren, kulturanthropologischen Schritt seiner Analyse ordnet Forster den Brotbaum als Nahrungsspender in die Lebenswelten und Ökosysteme des inselindischen und pazifischen Raums ein, in dem er u. a. auch die mythi- schen und kosmologischen Vorstellungen umreißt, die mit dem Brotbaum verknüpft werden.

So ist die Weltgegend und so das Klima beschaffen, woselbst die Natur dem Brotbaum seinen Platz angewiesen hat. Obdach und Kleidung, die anderwärts zu den ersten Erfordernissen gehören, sind hier nur Artikel des Luxus; Speise bleibt das einzige Bedürfniß, und dafür ist, vermittelst eben dieses Baumes, hinlänglich gesorgt. (Ebd., 73)

Forster belegt seine Beobachtungen zum Brotbaum in seinen botanischen, geographischen und kulturanthropologischen Dimensionen mit Refe­ renzen­ zu den am Ende erwähnten Studien, u. a. Carl Peter Thunberg, Pierre Sonnerat, Jules Crozet, Buffon und James Cook, aber zugleich auch mit eigenem Erfahrungswissen und der Thematisierung subjektiver Beobach- tungen und Erfahrungen. So fordert Forster den Leser auf den ersten Seiten seines Beitrags auf, ihm bei seiner eigenen Betrachtung der Weltkarte, die ihn zu einer Reihe von Hypothesen zur Migrationsgeschichte des Brotbaums führt, in einer Art subjektiver Intimität zu folgen und seinen Gedankengang sowohl physisch – dem Blick Forsters auf die Weltkarte nachfolgend – als auch intellektuell nachzuvollziehen. „Allein“, so schreibt Forster, bevor er seine Hypothesen zur Migration im pazifischen Raum entwickelt,

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ich werfe einen Blick auf die Charte jener Weltgegend: ich übersehe das große stille Weltmeer, und finde darin die entferntesten, einzeln und zerstreut liegenden Inseln nicht nur von Menschen bewohnt, sondern sogar von eben demselben Volke besetzt, dessen übrige Stämme alle asia- tischen Inseln […] inne haben. (AA VI, 66) Bevor er zu historisch-politischen und mythologischen Erklärungsmustern kommt, evoziert er zunächst naturkundliche Hypothesen zur Erklärung der demographischen Entwicklung auf den Südseeinseln.

Ich gestehe es, hier kann ich mich nicht überzeugen, daß ein Sturm, oder eine Reihe von ähnlichen Zufällen hinreichend sey, diese allgemeine Zerstreuung einer und derselben Völkerschaft über einen so großen Ocean, bis hinauf nach Neuseeland, und wieder hinab zur Osterinsel, auf eine befriedigende Art zu erklären. (Ebd.)

In den abschließenden Ausführungen des Beitrags zur Einordnung des Brotbaums in Kosmogonie und Zeitvorstellungen der Tahitianer, die sich in dem Wort Pa-Ure (Brotfruchtzeit) kristallisieren, greift Forster zum einen auf das eigene Erfahrungswissen und zum anderen auf jene Autoren zurück, die selbst als „Augenzeugen“ (ebd., 79) vor Ort waren oder ihrerseits Augen- zeugen explizit zitieren. Am Ende des Beitrags geht Forster von der mikros- kopischen Ebene der Mahlzeiten, für die die Brotfrucht metonymisch steht und die von den Südseebewohnern in eine mythologische Dimension einge- ordnet wird, zu einer kulturanthropologischen Makroperspektive über, die er als auch eine interkulturelle Beziehungsgeschichte begreift und beschreibt: „Die Geschichte der Erzeugnisse des Erdbodens“, so seine zentrale Aussage,

ist tief und innig in die Schicksale der Menschen und in den ganzen Umfang­ der Empfindungen, Gedanken und Handlungen verwebt. Das Reich der Natur gränzt mit dem Bezirk einer jeden Wissenschaft, und es ist unmöglich jenes zu übersehen, ohne zugleich in diese hinüber zu blicken­. Auch sind es nur diese Beziehungen außer uns selbst auf unser eignes Selbst, die einer jeden Wissenschaft ein allgemeines Interesse geben; so wie von einer andern Seite die Gemeinnützigkeit wissenschaftlicher Wahrheiten und ihr Einfluß auf das Glück der Menschheit, lediglich von ihrer allgemeinen und vollkommenen Ausbreitung abhängt. (AA VI, 80)

allekurztitelraus.indd 12 06.06.2014 10:36:40 Interkulturelle Aneignung und wissenschaft­liche Erkenntnis 13

Trotz Forsters Postulat der grundlegenden moralischen und kulturellen Über- legenheit der europäischen Zivilisation erscheint sein Profil interkulturellen Denkens zumindest in zweierlei Hinsicht epochal wegweisend und antizipa- torisch: zum einen durch die Verknüpfung der Makroperspektive der globalen historischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen, die er als interkul- turelle Beziehungsgeschichte denkt und entwirft, mit der Mikroperspektive der lebensweltlichen kulturellen Semantik, die von fremdkulturellen Begriffen ausgeht und sie hermeneutisch zu erschließen, zu übersetzen und zu verstehen sucht (wie den Begriff Pa-Ure in seinem Aufsatz Der Brotbaum oder den Begriff fatal ring in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Sakontala15); und zum anderen durch die Verbindung von gelesenem und rezensiertem Buch- wissen, persönlichem Erfahrungswissen und Augenzeugenschaft sowie einer konstanten­, auf differenzierten Sprach- und Kulturkenntnissen beruhenden Übersetzungstätigkeit. Diese für Forsters Werk charakteristische Verbindung hat in ihrer singulären Gesamtkonfiguration neue Dimensionen der wissen- schaftlichen Erkenntnis, aber auch des interkulturellen Verstehens erschlossen.

15 Vgl. AA VII, 283: „Dies ist der andere Name des Schauspiels Sakontala; im Englischen heißt es, the fatal ring: allein, da wir schlechterdings kein Wort haben, was dem Worte fatal in seiner Vieldeutigkeit entspräche, so mußte ich eins wählen, das wenigstens den Sinn so nah als möglich traf. F.“

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Abbildungen Graphik n° 1: Themengebiete der von Georg Forster rezensierten Werke; N=131 2% 3% 54% 8% Reiseliteratur 71 11% Geographie 29 Geschichte 15 Ethnographie 10 Philosophie 4 35% Seefahrt 2

Graphik n° 2: Originalsprachen der von Georg Forster rezensierten Werke; N=130

2% 1% 1%

Deutsch 46 26% Englisch 45 Französisch 34 35% Italienisch 2 Latein 2 Spanisch 1

35%

allekurztitelraus.indd 14 06.06.2014 10:36:41 Interkulturelle Aneignung und wissenschaftliche Erkenntnis 15

Graphik n° 3: Geographische Räume der von Georg Forster rezensierten Werke; N=112

1% 1% Mehrere Länder (Weltreisen) 22 2% 2% 2% 3% Indien 22 3% 20% Afrikanische Länder 16 4% England 11 Amerika 8 4% Arabische Länder 6

4% Südseeinseln 5 Frankreich 4 Deutschland 4 5% Italien 3 20% Russland 3 Südamerika 2 7% Niederlande 2 Skandinavien 2 10% Spanien 1

14% China 1 Literaturverzeichnis

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bis 1776. Aus dem Schwedischen frey übersetzt von Christian Heinrich Groskurd, Rec- tor des Gymnasiums in Stralsund. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von Georg Forster. Mit Kupfern und einer Landcharte, Berlin 1784. Forster, Therese: Therese Forster über Georg Foster. Texte, mit einer Einlei- tung, Anmerkungen und Zeittafeln versehen, hrsg. v. Jörn Garber und Günter Schenk, Halle 2003. Grosser, Thomas: „Die Bedeutung Georg Forsters als Kulturvermittler im Zeital- ter der Französischen Revolution“, in: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel, 01-04. April 1993, hrsg. v. Claus-Volker Klenke u. a., Oldenburg 1993, 211-254. Lüsebrink, Hans-Jürgen: „Georg Forster in Wilna, 1784–1787. Interkulturelle Erfahrungen, Kulturtransferprozesse, Perzeptionsmuster“, in: Deutsch-baltischer Kulturtransfer. Beiträge einer Tagung zur Aufarbeitung der nordosteuropäischen Lite- ratur- und Kulturbeziehungen vom 3.-4. September 2012 in Daugavpils, hrsg. v. Dirk Baldes und Inta Vingre, Daugavpils 2013, 59-72. Lüsebrink, Hans-Jürgen: „Zivilisatorische Gewalt. Zur Wahrnehmung ko- lonialer Entdeckung und Akkulturation in Georg Forsters Reiseberichten und Rezensionen“, GFS VIII (2003), 123-138. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2012. Martin, Alison E.: „Übersetzung und die Entdeckung der Welt: Georg Forster (1754-1794) und die Reiseliteratur“, in: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hrsg. v. Harald Kittel, Armin Paul Frank, Norbert Greiner u. a., Berlin, New York 2008, 1634-1641. Roche, Geneviève: „,Völlig nach Fabrikenart.‘ Handwerk und Kunst der Übersetzung bei Georg Forster“, in: Weltbürger – Europäer – Deutscher – Franke. Georg Forster zum 200. Geburtstag, hrsg. v. Rolf Reichardt, Geneviève Roche, Mainz 1994, 101-119. Siemon, Rolf: „Georg Forster – Universitätsprofessor in Deutschland und Polen“, in: Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur. Schriften- reihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, hrsg. v. Gilbert Gornig. Bd. 8, 2005, 155-182. Sparrmann, Andreas [Sparrman Anders Erikson]: Reise nach dem Vorgebirge der Guten Hoffnung, den südlichen Polarländern und um die Welt, hauptsächlich aber in den Ländern der Hottentotten und Kaffern in den Jahren 1772 bis 1776, Berlin 1784.

allekurztitelraus.indd 16 06.06.2014 10:36:41 Florian Kappeler Die globale Revolution. Forster und Haiti

Im Juni 1793 unterbreitet Georg Forster dem Außenminister der franzö- sischen Revolutionsregierung den Vorschlag, Tipu Sahib, den Herrscher von Mysore im Süden Indiens, in seinem Widerstand gegen die britische Kolonialmacht zu unterstützen.1 Tipu hatte zum damaligen Zeitpunkt bereits mehrere, teils erfolgreiche Kriege gegen den britischen Kolo- nialismus geführt.2 Im März 1792 wurde er von den Briten vernichtend geschlagen. Außenminister Lebrun-Tondu empfahl in dieser Situation Forsters Vorschlag wohlwollend dem regierenden Wohlfahrtsausschuss, der das Anliegen wegen dringlicherer Fragen aber nicht behandelte. Aller- dings wurde ein ähnliches Projekt sieben Jahre später doch noch in Angriff genommen: Nachdem Tipu einen Vertrag mit Frankreich geschlossen hatte, wurde im Jahre 1799 in Shrirangapattana, der Hauptstadt von Mysore, ein Jakobinerklub gegründet und ein Freiheitsbaum errichtet. Doch fiel Tipu bereits kurz danach in der entscheidenden Schlacht um die Hauptstadt. Dieses Ereignis ist nur ein Beispiel von vielen: Neuere historische Forschungen haben eindrücklich belegt, dass die moderne Revolution nicht in Europa in die Welt gesetzt wurde, um sich erst später von dort aus über diese zu verbreiten.3 Sie muss vielmehr von Anfang an als globales Phänomen verstanden werden, das mit Prozessen interkultureller Verflech- tung verbunden ist. Die Herausbildung politischer und literarischer Öffent- lichkeiten, in denen aufklärerische Diskurse zirkulierten und Revolutionen

1  Vgl. AA X.1, 483-486 u. 771-772. Vgl. auch Forsters Brief an seine Frau v. 04.06.1793 in AA XVII, 363 sowie Uhlig 2004, 329f. Forster plante demnach ein politisches Engage- ment mit naturwissenschaftlichen und ethnographischen Forschungen zu verbinden. Sein Interesse an Indien lässt sich auch daran ablesen, dass immerhin 28 seiner Rezen- sionen Publikationen über die dortigen Verhältnisse zum Gegenstand haben (vgl. dazu Erläuterungen, Einführung, in: AA XI, 404f.). 2  Vgl. Conrad 2012, 1013 sowie die Erläuterungen zu Abbildung 1. 3  Ebd., 1013f.

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emergierten, war kein nationaler, sondern ein globaler Prozess.4 Schon die europäischen Formen der aufklärerischen intellektuellen Tätigkeit waren auf die Interaktion mit anderen Kontinenten angewiesen und die Revo- lutionen des späten 18. Jahrhunderts waren weder auf Europa fokussiert noch hatten sie dort ihren alleinigen Ursprung. Es ist unbestritten, dass Forster in solche interkulturellen Interaktionen in hohem Maße invol- viert war, doch wurde eine Frage bislang erstaunlicherweise nicht gestellt: Finden sich Spuren außereuropäischer Revolutionen in seinen Schriften? Immerhin war es anfangs der erklärte Plan Forsters, auch „weltpolitische Entwicklungen in Übersee“5 in das mit dem Verleger Christian Friedrich Voß geplante historische Taschenbuch miteinzubeziehen, das dann im August 1792 unter dem Titel Revolutionen und Gegenrevolutionen aus dem Jahre 1790 doch mit einem Fokus auf europäischen Ereignissen erscheinen sollte. Interkulturelle Austauschprozesse und die moderne Revolution im späten 18. Jahrhundert sind zentrale Topoi der Forster-Forschung; eine Verbin- dung der beiden Aspekte wurde aber bislang kaum versucht. Die Leitfrage des Georg-Forster-Kolloquiums 2008 – Weltreisender oder Revolutionär? – hat den Raum für eine solche Verbindung geöffnet. In diesem Zusammen­ hang wurde auf Forsters Prophezeiung einer Revolution in Tahiti hinge- wiesen: „Endlich wird das gemeine Volk diesen Druck empfinden, und die Ursachen desselben gewahr werden, alsdenn aber wird auch das Gefühl der gekränkten Rechte der Menschheit in ihnen erwachen, und eine Revolu- tion veranlassen.“ (AA II, 300)6 Bezüge auf Revolutionen außerhalb Europas­ in Forsters Schriften wurden davon abgesehen in der Forschung aber bislang nicht thematisiert. Für eine auf globale Zirkulationsvorgänge von Aufklärungsprozessen und Revolutionsereignissen gerichtete Forschungs- perspektive stellen sie jedoch einen naheliegenden Gegenstand dar. Die Haitianische Revolution ist wegen ihrer globalen Verflechtungen und Auswirkungen zu Forsters Lebzeiten neben der nordamerikanischen Befreiung vom britischen Empire 1776-1783 das prominenteste Beispiel

4  Vgl. am Beispiel einer transatlantischen Öffentlichkeit und deren Bedeutung für die Revolution in Haiti Nesbitt 2008. 5  Uhlig 2004, 293 u. 297. 6  Vgl. dazu Gilli 2010, 13 und zum Gesamtkontext Siegel 2010, 105-121.

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für Revolutionen außerhalb Europas.7 Sie begann im August 1791 mit einer Erhebung größerer Gruppen aus Westafrika stammender Sklaven und Sklavinnen – auch Frauen wie die 1802 von den Franzosen gefan- gengenommene und enthauptete Sergeantin Sanite Belair kämpften in der revolutionären Armee – und endete im Jahre 1803 mit deren endgültigem Sieg über die Kolonialmacht Frankreich. Das 1804 gegründete Haiti war damit der erste Staat, der sich nicht nur wie die Vereinigten Staaten von Amerika von der europäischen Kolonialherrschaft, sondern auch – und anders als die damaligen USA – von der Sklaverei befreien konnte. Susan Buck-Morss hat den Status dieses Ereignisses in den Schriften Georg Wilhelm Friedrich Hegels ausführlich diskutiert.8 Bei Forster als Weltrei- sendem, global denkendem Intellektuellen und Revolutionär erschiene ein Interesse für die Haitianische Revolution allerdings noch naheliegender. Eine global orientierte Analyse der Revolutionsdarstellung bei Forster muss zunächst davon ausgehen, dass die moderne Revolution aus deutsch- sprachiger Perspektive immer schon ein „Fremdwort und Fremder­eignis“ darstellt9, also begrifflich und realhistorisch ein Importprodukt ist. Fors­ter selbst exportierte seine revolutionäre Aktivität dagegen 1793 nach Paris, der Hauptstadt der von den revoltierenden Sklavinnen und Sklaven bekämpften Kolonialmacht. Diese mehrfach verschränkte Beziehung zwischen dem deutschsprachigen Intellektuellen Forster, der europäischen Erhebung im Herzen der Kolonialmacht Frankreich und der Revolution gegen diese im karibischen Haiti muss in ihrem Zusammenhang in den Blick genommen werden: Als Ausgangspunkt und Kontrastfolie soll dabei Forsters Darstellung der Französischen Revolution in den Parisischen Umrissen dienen (I). Im Anschluss daran wird diskutiert, in welcher Weise sich Forster zur Sklaverei und deren abolitionistischen Gegnern äußerte und warum es für ihn in diesem Zusammenhang nahe (oder fern) lag, sich

7  Da der Begriff der Haitianischen Revolution inzwischen in der Forschung die Standard- bezeichnung für die Erhebung seit 1791 ist, wird er im Folgenden auch für den Zeitraum vor 1804 verwendet – dem Jahr, in dem das Land den der Sprache der vorkolonialen Bewohnerinnen und Bewohner entstammenden Namen Haiti wählte. Der besseren Lesbarkeit halber wird auch für die Zeit der Revolution bereits von Haiti gesprochen und der koloniale Name Saint-Domingue bzw. Santo Domingo nur in Quellenzitaten verwendet. 8  Vgl. Buck-Morss 2011. 9  Honold 2005, 93.

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auch mit der Revolution in Haiti zu beschäftigen (II). In diesem Zusammen­ hang ist auch zu fragen, wie die Haitianische Revolution im Zeitraum bis zu Forsters Tod im Januar 1794 im deutschsprachigen Kontext allgemein rezipiert wurde und inwieweit Forster davon Kenntnis hatte (III). Erst auf dieser Basis kann Forsters Schreiben (oder Schweigen) über Haiti situiert und beurteilt werden (IV).

I Forster in Frankreich 1793

Im Jahre 1793 befindet sich Forster nach der militärischen Niederlage der Mainzer Republik gegen die konterrevolutionäre europäische Koalition und zeitgleich mit den ersten Erfolgen der Haitianischen Revolution in Frankreich. Dort schreibt er die Parisischen Umrisse, fingierte Briefe eines Augenzeugen der Revolution.10 Das in der ersten Person Singular auftre- tende Subjekt identifiziert sich mit der französischen Republik, während der fiktive Briefpartner in der Höflichkeitsform als Exponent antirevolu- tionärer Einwände und antifranzösischer Vorbehalte angesprochen wird:

Sie wissen, so gut wie ich, mein Lieber, daß [...] niemand gegen Andre, und zumal gegen Fremde, billiger ist, [...] als der Franzose. [D]esto unzweck- mäßiger, ich möchte sagen widersinniger, kommt mir das unablässige Bemühen­ so vieler Schriftsteller bei Ihnen vor, einen Geist des Hasses gegen die Franzosen unter ihren Landsleuten anzufachen […]. (AA X.1, 598f. u. 601).

Schreiber und Adressat werden in Frankreich bzw. Deutschland verortet und der Brief mittels des französischen Revolutionskalenders auf den Herbst des Jahres 1793 datiert. Diese Situierung impliziert eine Unter- scheidung zwischen einem Augenzeugen der Revolution in Frankreich und den Menschen im deutschsprachigen Raum, welche die Ereignisse nur lesend wahrnehmen können. Die räumliche Anordnung ist verbunden mit der zeitlichen Entgegensetzung einer unmittelbaren Beobach- tung revolutionärer­ Ereignisse auf der einen und deren aufgeschobener Rezeption ­im Medium der Schrift auf der anderen Seite:

10  Vgl. Liesegang 2006, 512.

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Es könnte seyn, daß ich von Ihren Landsleuten auf einmal zu viel verlangt hätte; ich erinnere mich, daß ich selbst davon ausgegangen bin, die Über- sicht, die ich mir jetzt von unseren Angelegenheiten entworfen habe, meinem Aufenthalte in Paris und der vorteilhaften Lage dieses Standpunkts zuzuschreiben. Wie manches mag nicht bei Ihnen zusammen kommen, um die Gegenstände in einem falschen Lichte und durch allerlei Media zu zeigen, deren verschiedene Refraktion sie verzerren und verunstalten kann, ehe sie bis ins Auge gelangen! (AA X.1, 605; Hervorh. v. F. K.)

Diese Unterscheidung zwischen Beobachtung und Beschreibung wieder- holt Forster im sechsten Brief, in dem die unmittelbar wahrgenommenen „Scenen in der Sektionsversammlung“, die öffentlich sicht- und hörbare Darstellung der Revolution der „Feder des Geschichtsschreibers“, den Zeitungen und den Dichtungen entgegengesetzt werden: „Aber was in keiner Zeitung steht, was in seiner lebendigen Natur die Feder eines Geschichtschreibers und selbst die eines Dichters nicht erreichen kann, das waren die Scenen in der Sektionsversammlung“ (ebd., 631). Der einsamen Feder des Geschichts- oder Zeitungsschreibers und des Dichters wird die teilnehmende Beobachtung der öffentlichen Szenen der Revolution entge- gengesetzt, dem Schreibwerkzeug des Historiographen die Sichtbarkeit des Histrionischen, die nur vom Standpunkt der Augenzeugenschaft11 aus angemessen wahrgenommen werden kann. Eine solche Konzeption der Revolutionsdarstellung ist keine Erfindung Georg Forsters. Es ist für die deutschen Revolutionsreisenden in Paris Ende des 18. Jahrhunderts durchaus typisch, sich auf die Subjektposition der Augenzeugenschaft zu berufen, die Forsters Briefessay zufolge eine angemessene, das heißt durch ‚Media‘ unverzerrte Darstellung der Revo- lution begünstigt. Ein Beispiel für die Bedeutung dieses Programms der Revolutionsdarstellung, die über Forsters Briefessay hinausgeht, sind die Ausführungen des preußischen Offiziers und Publizisten Johann Wilhelm­ von Archenholz in der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Minerva aus dem Jahre 1792, in dem sich übrigens einer der

11  Die männliche Form ist der Lesbarkeit geschuldet und soll nicht darüber hinwegtäu- schen, dass es trotz einer männlichen Dominanz auch Berichte von Augenzeuginnen der Revolutionen um 1800 gab.

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ersten deutschsprachigen Beiträge zur Haitianischen Revolution findet.12 Archenholz zufolge handelt es sich um eine zeitgeschichtliche Zeitschrift, die nicht selbst schon Geschichtsschreibung praktiziert, aber ausgewählte Materialien­ dafür zur Verfügung stellt:

Dies Werk ist vorzüglich der neuesten Geschichte gewidmet, in so ferne die Schicksale naher oder ferner Länder, und die Meynungen und Hand- lungen ihrer Bewohner für aufgeklärte Völker Interesse haben. Die Aufsätze werden größtenteils sorgfältig gewählte Materialien für zukünf- tige Geschichtsschreiber seyn.13

Eine wichtige Voraussetzung der Erzählung von Revolutionsereignissen ist auch hier die Augenzeugenschaft mittels des in Paris weilenden Archenholz bzw. später seines Korrespondenten Konrad Engelbert Oelsner. Deshalb stehen weniger die ,fernen Länder‘ als die revolutionären Ereignisse in Frankreich im Vordergrund der Berichte. Denn das Postulat der Augenzeu- genschaft erfordert die Anwesenheit des Erzählenden am Ort und in der Zeit des Geschehens sowie Archenholz zufolge „ein im Beobachten nicht ungeübtes Auge“.14 Die notwendige Schulung der Augen und die Präsenz vor Ort sowie in der Zeit ist jedoch keine hinreichende Bedingung für eine Historiographie der revolutionären Ereignisse. Denn die Ereignisfülle in Paris ist so dicht, dass gilt: „Will ich mehr als Zeitungsnachrichten liefern, so muss ich ganze Tage hören, sehen, lesen und prüfen, ehe ich die Feder in die Hand nehmen und einige Stunden der Arbeit widmen, wahrhaft histori- sche Beyträge niederzuschreiben.“15 Wie bei Forster werden die Akte der Augenzeugenschaft und des Aufschreibens unterschieden. Die Präsenz der Beobachtenden und ihrer Sehorgane vor Ort ist nicht zu verwechseln mit einer zeitlichen Deckung des Beobachtungs- und des Schreibvorgangs: Das Auge muss sehen

12  Es liegt durchaus nahe, gerade die Minerva zum Vergleich heranzuziehen: Deren Herausgeber Archenholz stand mit Forster in Kontakt und der Letztere publizierte in Archenholz’ Annalen der britischen Geschichte. Auch Forsters Kritik am deutschen Krieg gegen Frankreich stand im Zusammenhang mit Informationen, die er vom damals noch in Paris weilenden Archenholz bezog. Vgl. Uhlig 2004, 291. Zu Forsters Rezeption der Minerva s. u. 13  Archenholz 1792, 1. 14  Ebd. 15  Ebd., 122.

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und lesen (und prüfen), bevor die Feder aufschreiben kann. Erst dieser zeitliche Aufschub des Gesehenen im Akt der Niederschrift unterscheidet Archenholz zufolge die „wahrhaft historischen Beyträge“ der Minerva von „Zeitungsnachrichten“. Der zeitliche Aufschub des Lesens und Prüfens soll die Aufsätze in der Monatszeitschrift von den Nachrichten der Zeitungen unterscheiden. Gerade dieser Aufschub rechtfertigt nun in Kombination mit der Unmittelbarkeit der Augenzeugenschaft, den Schwerpunkt der Revolutions­darstellung zunächst auf das räumlich nahe Frankreich und nicht auf fernere Länder zu legen,

denn wäre es nicht ungereimt auf Vorfälle und Begebenheiten in entle- genen Ländern sein Augenmerk zu richten, die wenig interessant, aber in Rücksicht auf Zeiterforderniß zu den Sendungen, zur Bearbeitung und zum Druck schon zuvor in Deutschland bekannt seyn würden, und darüber das unter meinen Augen Vorgehende aus der Acht zu lassen […].16

Archenholz zufolge ist das Augenmerk weniger auf Ereignisse an fernen Orten zu richten. Der Grund dafür ist zum Einen die dort fehlende eigene Augenzeugenschaft, zum Anderen die medialen Bedingungen, denen die Augenzeugenberichte in Paris durch die Notwendigkeit der Bearbeitung, des Drucks und der Post unterliegen: Zeitungsnachrichten von fern können aufgrund der Ende des 18. Jahrhunderts beschleunigten Post17 schneller in Deutschland eintreffen als sorgfältig geschriebene historische Berichte von räumlich näheren Ereignissen in Archenholz’ Sinne. Die Minerva erklärt nicht die zeitliche Unmittelbarkeit und Schnelligkeit des Neuen, sondern die in einen wohlüberlegten Schreibvorgang mündende Augenzeugen- schaft vor Ort zu ihrem Programm. Die komplexe Verschränkung von Ort, Zeit und Medialität der Revo- lutionsdarstellung funktioniert in den Ausführungen von Forster und Archenholz analog, allerdings mit zwei wesentlichen Einschränkungen. Zwar gehen beide von Augenzeugen der Revolutionsereignisse aus, deren Beobach­tungen von einer Verschriftlichung revolutionärer Ereignisse durch Zeitungs- oder Geschichtsschreibern unterschieden werden müssen­. Nur bei Archenholz wird der Aufschub durch die Verschriftlichung aber

16  Ebd., 121, Hervorh. v. F. K. An dieser Stelle meint Archenholz nur fernere europäische Staaten, aber das Argument scheint mir auf Haiti übertragbar zu sein. 17  Vgl. Kaschuba 1992, 223f. sowie Behringer 1992, 61ff.

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als Kennzeichen des eigenen Schreibens expliziert und positiv gewertet. Für Forster sind die verzerrten Darstellungen der Zeitungen und der Historiographen hingegen ein Problem für eine suffiziente Rezeption der Revolution. Doch auch seine Rhetorik der Augenzeugenschaft bedarf einer medialen Vermittlung, wie allein schon die Form verdeutlicht, in der die revolutionären Ereignisse präsentiert werden. Die Botschaft der Nähe des Ereignisses in Echtzeit wird in Forsters Essay vermittels des Mediums des Briefs zeitlich aufgeschoben. Archenholz setzt den zeitlichen Aufschub durch Schreibprozess, Druck und Post explizit in ein Verhältnis zur Nähe bzw. Ferne der Ereignisse: Da die Monatszeitschrift Minerva aufgrund der Beschleunigung von Druck und Post sowieso nicht mit den Zeitungen konkurrieren kann, fordert er eine sorgfältige Verschriftlichung des mit eigenen Augen Gesehenen anstelle schneller Nachrichten aus fernen Ländern. Bei Archenholz ist der zeitliche Aufschub durch eine sorgfältige Verschriftlichung des Gesehenen­ der Garant einer angemessenen Revolutionsdarstellung, bei Forster ist es der Standpunkt der Augenzeugen selbst, der geeignet erscheint, die verzerrende­ Wahrnehmung durch ‚Media‘ zu korrigieren. Zu Forsters Plädoyer­ für die eigene Anschauung in Echtzeit passt, dass die epistemische Subjektposition der Augenzeugenschaft für ihn ein Mittel der Unterschei- dung wahrer und falscher Aussagen ist, wie in seiner Kritik an Christoph Meiners' anthropologischen Abhandlungen im von diesem und Ludwig Timotheus Spittler herausgegebenen Göttingischen historischen Magazin deutlich wird:

Der Rec. glaubt es zur Würdigung seines hier geäusser­ten Urtheils erwäh­ nen­ zu müssen, dass er theils einzelne Menschen aus andern Welttheilen, theils ganze Völkerschaften in sehr entlegnen Ländern zu beobachten Gelegenheit hatte, und er läugnet nicht, dass er seine Bekannten in den Beschreibungen des Vf. nicht wieder gekannt hat. (AA XI, 247f.)

Diese ironische Invektive kann als Autorisierungsgeste zugunsten der epis­ temischen Position der Augenzeugenschaft im ethnographischen Diskurs­ gelesen und auf die Darstellung der Revolution übertragen werden. Beide Darstellungsprogramme, der Aufschub der Schrift bei Archenholz wie die Nähe der Augen bei Forster, führen zunächst zur Fokussierung auf die Französische Revolution. Zumindest bei Archenholz ergibt sich daraus

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jedoch in den folgenden Jahren keine Schranke, die verhinderte, Kenntnis von der Revolution in Haiti zu nehmen. Programmatisch ist bereits 1792 von „besondern unbekannten [...] Staatsschriften oder Staatsscenen andrer Reiche“18 als möglichem Thema in der Minerva die Rede. Doch auch die Französische Revolution ist für deutschsprachige Intel- lektuelle wie Forster oder Archenholz zunächst ein unbekanntes und fernes Ereignis, das einer verzerrten Refraktion durch „Media“ und „deren verschiedene Refraktion“ unterworfen ist (AA X.1, 605). Was sind nun zeitgenössische ‚Media‘? Nicht unbedingt Medien im heutigen Sinne, auch wenn ein mediengeschichtlicher Blick die Lektüre der Texte von Forster und Archenholz wie gezeigt durchaus bereichert. In der physikalischen Optik ist das Medium die Substanz, die vom Licht durchquert wird. ‚Refraktion‘ oder Lichtbrechung meint die Änderung der Richtung des Lichtstrahls beim Eintritt in ein anderes Medium. In der Optometrie und Augenheilkunde bezeichnet die Refraktion (Brechung) den Brechwert der optischen Korrektur. Je nach wissenshistorischer Kontextualisierung ist Forsters Metaphorik gemäß die verzerrte deutsche Rezeption der Revo- lution also entweder durch den Eintritt in ein anderes (deutsches statt französisches) Medium oder durch eine (deutsche) Sehschwäche bedingt: „Sehr traurig aber wäre die Gewißheit [...], daß der Fehler an den Augen Ihrer Beobachter läge.“ (Ebd.) Diese Hypothese eines kollektiven deutschen Augenleidens scheint zunächst im Widerspruch zu Forsters These zu stehen, die Revolution sei niemals eine „bloß Französische“, sondern „die größte, die wichtigste, die erstaunenswürdigste Revolution der sittlichen Bildung und Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts.“ (Ebd., 600f.) Bei genauerer Betrachtung relativiert sich die Spannung zwischen den beiden Aussagen jedoch: So heißt es über die Franzosen bereits im ersten Brief der Parisischen Umrisse, die Entstehung einer revolutionären Öffent- lichkeit in Frankreich sei „das Produkt der Empfänglichkeit des Volks“, was jeder sehen könne, der „aus der Geschichte und Anthropologie weiß, wie beweglich und empfänglich die Französische Nation ist; und wer dann berechnet, in welchem Grade die Ereignisse der vier letzten Jahre diese Reitzbarkeit erhöhen“ (ebd., 597). Eine historisch und anthropolo- gisch begründete Empfäng­lichkeit prädestinierte die Französinnen und

18  Minerva, 1 (1792), 122.

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Franzosen demzufolge zur Revolution und diese Prädestination wurde durch die revolutionären Ereignisse dann weiter gesteigert. Kulturgeschichtliche Unterschiede und die Kontingenz der politischen Ereignisverkettungen bedingen die Fähigkeit zur Revolution und dies lässt genug Raum, sie auch für Deutschland für denkbar zu halten. Zwar wird das Ereignis der Französischen Revolution in den Parisischen Umrissen als räumlich und zeitlich nahes Geschehen inszeniert, während die Position des ‚Fremden‘ den antirevolutionären und antifranzösischen Ideologien des fiktiven deutschen Adressaten zugewiesen wird. Die Entgegensetzung des Augenzeugen und des deutschen Rezipienten der Revolutionsdarstel- lung in den Umrissen entpuppt sich dennoch als Teil eines dynamischen Prozesses der Verfremdung, des Aufschubs und des Dialogs. Dieser wird durch das Medium des Briefs gestützt, das Räume postalisch durchquert, die Rezeption des Beobachteten und Aufgeschriebenen zeitlich aufschiebt und die Subjektpositionen von Schreiber und Lesenden potentiell in einen Dialog bringt.19 Wie Forsters eigenes Beispiel zeigt, ist auch die Zugehörigkeit der Subjekte zu den jeweiligen Positionen fungibel. Denn Forster selbst wird bekannt- lich erst in seinen späten Jahren Revolutionär und Franzose. Der im deutschsprachigen Raum geborene Forster schreibt in den Parisischen Umrissen als Franzose Deutsch an einen Deutschen (und schickt den Text zudem der Zensur wegen in die Schweiz), um die ferne Revolution den Deutschen in einem mindestens doppelt verfremdeten Übersetzungspro- zess nahe zu bringen. So verbürgt der Text die Möglichkeit einer theore- tischen und praktischen Aneignung der Revolution auch für Deutsche, so „daß, indem wir uns verständigen, ein reiner Gewinn für Deutschland, [...] durch die richtigere Beurtheilung und die darnach unausbleibliche Benutzung­ unserer Revolution erwachsen möge.“ (AA X, 605) Forsters Schreibpraxis der Authentifizierung durch Augenzeugen- schaft und der Verfremdung durch das Medium des Briefs kulminieren damit in einer Strategie der Aneignung. Forster zweifelt allein daran, ob es „von Ihren Landsleuten [den Deutschen] auf einmal zu viel verlangt“ (ebd., Hervorh­. v. F. K.) wäre, die Französische Revolution angemessen zu rezipieren­ oder gar selbst Ähnliches zu praktizieren; perspektivisch ist dies durchaus möglich. Die Darstellung der Revolution ist zwar auf

19  Vgl. Grosser 1994, 223-225, 230, 238 u. 251.

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Augenzeugen­ angewiesen, die den Ereignissen räumlich und zeitlich nahe sind, kann aber von den fernen Deutschen mit einem gewissen Aufschub theoretisch und praktisch richtig beurteilt und auch praktisch ausgeführt werden.

II Forster und der Abolitionismus

Aber wie stellt sich das Problem bei Revolutionen außerhalb Europas dar? Bedürfen auch diese eines Aufschubs? Eine bei Forster diskutierte außer- europäische Revolution, auf die dies gewiss nicht zutrifft, ist die US-ameri­ kanische Befreiung von der britischen Kolonialmacht während der Jahre 1776-1783. Die amerikanische Revolution realisierte für ihn eine bis dahin noch nie dagewesene politische Gleichheit, wie er in seiner seit Oktober­ 1791 entstandenen und im Januar 1792 erschienenen Rezension von Jacques-­ Pierre­ Brissots Reisebericht Noveau Voyage dans les Etats-Units de l’Amérique septentrionale darlegt. In affirmativer Paraphrase Brissots gilt sie ihm nicht nur als Inspirationsquelle der Französischen Revolution, sondern auch als prognostisches Zeichen zukünftigen transnationalen Fortschritts:

[W]enn man den Fortschritt des americanischen Staats von seinem Ursprung an verfolgt, so lassen sich dort, wenn es auch zuvor in keiner Weltgegend möglich gewesen ist, die Logarithmen auf das nächste Jahr- hundert hinaus beynah mit zuverlässiger Gewißheit ausrechnen, und die Träume des Verf., [...] von Kanada bis Quito [...] als unausbleibliche Erscheinungen vorherverkündigen. (AA XI, 334)

Während Brissot allerdings eher die zivilisierende Wirkung des Frei- handels und der Industrie auf die angeblich weniger zivilisierten Gesellschaften­ in Lateinamerika (oder auch Asien) betont20, ist Forsters Formulierung geeignet, als Prognose einer Revolution auf dem amerika- nischen Kontinent unter Einschluss Lateinamerikas gelesen zu werden. Tatsächlich hatte in Quito, der späteren Hauptstadt Ecuadors, bereits 1765 – dem Jahr, in dem sich auch die angloamerikanischen Kolonien in Nord- amerika zuerst gegen die britische Besteuerung erhoben – eine Rebellion

20  Vgl. Brissot 2000, 481f.

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stattgefunden, der es gelang, die spanische Kolonialmacht für die Dauer eines Jahres zu vertreiben. In der Folge kam es zu mehreren Aufständen in Lateinamerika, und im Jahre 1809 sollte sich in Quito ein neuerlicher Revolutionsversuch ereignen.21 Doch findet sich bei Brissot und in Forsters Rezension neben dem Hinweis auf Quito auch einer auf das zeitgenössisch ungleich prominentere Beispiel Haitis? So fern hätte das nicht gelegen: Brissot war einer der Gründer der Société des Amis des Noirs, welche zu dieser Zeit nicht (wie durchaus verbreitet) allein gegen den Sklavenhandel, sondern für die komplette Abschaffung der Sklaverei agitierte (vgl. AA XI, 322). Ein anderes Mitglied dieser Gesellschaft war der mit Brissot persön- lich bekannte Léger-Félicité Sonthonax, der als Regierungskommissar der Französischen Republik im August 1793 das Ende der Sklaverei in Haiti per Dekret legitimierte. Forster hebt die im zweiten Band von Brissots Schrift verhandelten „Menschenrechte der Neger“ in seiner Rezension hervor und verteidigt die Gleichheit der so bezeichneten Menschen gegen die

westindischen Pflanzer, die sich auf eine erlogene Unfähigkeit ihrer Sklaven berufen, um die Unglücklichen in einem Zustand der beynah thierischen Unterwürfigkeit zu halten, und nur die Mädchen allenfalls zu Werkzeugen ihrer Lüste zu ziehen. (Ebd., 321)

Implizit wird hier auch Haiti erwähnt, das Teil von Westindien ist. Die rassistische Annahme einer unveränderlichen Ungleichheit der Sklavinnen und Sklaven afrikanischer Herkunft gegenüber den Europäerinnen und Europäern bezeichnet Forster als ideologisches Produkt und Funktions- element ökonomischer und geschlechtlicher Herrschaftsverhältnisse.22 Seine Kritik an der Sklaverei basiert auf der Annahme, der Status der Sklavinnen und Sklaven sei nicht ethnisch, sondern sozial begründet. Im weiteren Verlauf des Textes führt er allerdings durchaus zustimmend ein dieser Annahme widersprechendes Argument Brissots an:

Noch weit aussehender ist der Gedanke, die Neger in ihr Vaterland […] zurück ­zu führen, sie dort einen neuen Staat gründen zu lassen [...].

21  Vgl. Rinke 2010, 57f. u. 132f. 22  Dabei zitiert Forster unter anderem das Argument der Société des Amis des Noirs, der angeblich für Europa notwendige Zucker, der durch die Sklavinnen und Sklaven angebaut werde, könne durch Ahornsirup substituiert werden (vgl. AA XI, 323).

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Einen­ näheren Weg zur Civilisation von Africa gab es nicht, als diesen, daß America­ zuvor entdeckt, der Sclavenhandel eingeführt und durch seine Misbräuche endlich empörend werden mußte, bis nun der Africaner seinem ursprünglichen Vaterlande gesitteter, gebildeter, an die Vorzüge freyer Verfassungen und bürgerlicher Verträge gewöhnter, wiedergegeben werden könnte; ein Ferment, das diesen ganzen Welttheil in Gährung bringen soll. (AA XI, 323f., Hervorh. v. F. K.)

Mit der afrikanischen Staatsgründung gemeint ist hier die Ansied- lung befreiter Sklavinnen und Sklaven im heutigen Sierra Leone durch britische Abolitionistinnen und Abolitionisten 1787-1789, die seit Februar 1792 von entflohenen Sklavinnen und Sklaven aus den USA, unterstützt von europäischen Gegnern der Sklaverei, fortgeführt wurde.23 Während Brissot ­allerdings wiederum eher die europäische ‚Zivilisierung‘ Afrikas und dessen­ Öffnung für den Freihandel akzentuiert24, gebraucht nur Forster die zeitgenössische Revolutionsmetapher der Gärung. Damit prognostiziert er in noch deutlicherer Weise als im Falle Lateinamerikas eine zukünftige außereuropäische Revolution. Diese wird allerdings als Produkt ­eines europäischen Zivilisierungsprozesses aufgefasst, womit der Kolonialismus als ihre Voraussetzung historisch gerechtfertigt wird.25 Die damit verbundene Festschreibung der Sklavinnen und Sklaven auf ein angeblich ‚ursprüngliches Vaterland‘ in Afrika steht in Gegensatz zum dynamischen System kultureller und nationaler Zugehörigkeit, das den Parisischen Umrissen zugrunde liegt. Forsters Paraphrase transformiert also Brissots liberalistischen Universalismus implizit in einen revolutionären­ Kosmopolitismus­, bleibt dabei allerdings dem europäischen Zivilisierungs- paradigma verhaftet: Der globale Fortschritt soll aus dem ‚Westen‘ zu den Menschen mit schwarzer Hautfarbe kommen, während diese dorthin zurückkehren sollen, wo sie angeblich hingehören, nach Afrika. In der Realität wurde dagegen genau umgekehrt die Revolution von Menschen afrikanischer Herkunft in ein Zentrum des europäischen

23  Vgl. Shaw 1968, 16-26 u. 31-37. 24  Vgl. Brissot 2000, 308 u. 310. 25  Dabei handelt es sich um eine prototypische Denkfigur, wie sie später etwa in Caroline Auguste Fischers Erzählung William der Neger (1817) beobachtet werden kann, in der die Haitianische Revolution als Produkt eines – hier abolitionistisch inspirierten – europäischen Zivilisierungsprozesses erscheint. Vgl. C. A. Fischer 1988.

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Kolonia­lismus, nach Haiti getragen. Wenig später wurde dort ein Staat errichtet, der nicht die Rückkehr nach Afrika zum Programm hatte, sondern als komplett­ neue und hybride Nation gelten muss: Die Verfassung im Jahre 1801 erklärte in Haiti lebende Menschen jeder Herkunft zu freien französischen­ Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, während die erste Verfassung ­nach der erkämpften Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1804 zwar die Haitianerinnen und Haitianer im Prinzip als Schwarze defi- nierte, gleichwohl aber auch bestimmte Menschen europäischer Herkunft mit weißer Hautfarbe als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger anerkannte.26 Bei Forster findet sich also eine Kritik des Rassismus als Ausdruck und Bestandteil kolonialer Herrschaftsverhältnisse, die sich auch auf Westindien bezieht, zu dem Haiti gehört.27 In Spannung dazu steht die Annahme, eine afrikanische Revolution sei nur als Effekt eines euro- päischen Zivilisierungsprojekts denkbar. Dies ist jedoch nicht Forsters einziges und letztes­ Wort zur Frage, ob und auf welche Weise revolutio- närer Fortschritt für Menschen afrikanischer Herkunft möglich sei. So verwirft er in seiner­ Rezension von Meiners die Annahme, wissenschaft- liche Fortschritte und Revolutionen hätten sich von Europa aus über die Welt verbreitet, die später­ unter dem Namen ‚Diffusionsthese‘ bekannt wurde. Stattdessen argumentiert er genau umgekehrt und ganz im Sinne heutiger globalgeschichtlicher Forschung28, ohne afrikanische und asia- tische Einflüsse wären die Fortschritte in Europa nicht möglich gewesen:

Hätte sich [...] die Vernunft unter den nordischen Völkern so leicht [...] entwickelt, wenn sie nicht früher schon in Chaldäa, Indien und Ägypten Fortschritte gemacht hätte, wenn die Buchstabenschrift nicht mit den Künsten und Wissenschaften aus Afrika und Asien nach Griechenland gewandert wäre, und dort unter günstigen Verhältnissen, des Orts, des Himmelsstrichs, der Verfassung und der Organisation, eine schönere Epoche der Aufklärung bewirkt [...] hätte? (AA XI, 247f.)

26  Vgl. Fischer 2004, 227-244. 27  Zur Kontextualisierung von Forsters Rassismuskritik im zeitgenössischen europä- ischen Wissen über Afrika und der Debatte mit Kant vgl. zuletzt Diop 2012. Die in diesem insgesamt sehr prägnanten Text vertretene Behauptung, Forster habe sich nur für europäische oder von Europa beeinflusste Revolutionen interessiert (ebd., 189), teile ich allerdings nicht. 28  Zur Diffusionsthese vgl. Fischer-Tiné 2013, 7-9, zur aktuellen global­geschichtlichen Forschung auch Conrad 2012.

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Die europäische Aufklärung konnte nur durch die interkulturelle Verschränkung mit außereuropäischen Gesellschaften entstehen, wie Forster­ in Anlehnung an Constantin Francois Volneys Buch Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche ausführt, zu dessen deutscher­ Ausgabe er das Vorwort schrieb (vgl. AA VIII, 228-233). So erinnert er daran, dass ausgerechnet die Schrift, sonst häufig ein eurozentrisches Abgrenzungsmedium gegen außereuropäische Kulturen, aus Afrika und Asien stammt. Forster geht zwar davon aus, zumindest die Aufklärung habe sich zunächst in Europa entwickelt, betrachtet dies jedoch als histo- risch nicht notwendige und allein durch die Umstände bedingte Tatsache; sie hätte auch zuerst in Asien oder Afrika Fuß fassen können. Zudem war Forster offensichtlich bewusst, dass es im 18. Jahrhundert afrikanische Gesellschaften gab, die in der Frage politischer Fortschritt- lichkeit europäischen Staaten voraus waren. So schreibt er 1789 in einem Kommentar für die Beiträge zur Völker- und Länderkunde zu seiner Teilüber- setzung von Charles Pierre Coste d’Arnobats Voyage au pays de Bambouc: „Wer diese Verfassung republikanisch nennte, würde doch schwerlich mehr irren, als man irrt, wenn man Pohlen und Holland zu den Republiken zählt“ (AA V, 366). Denn es gäbe in Bambouk (im heutigen Mali) zwar einen politischen Repräsentanten, der König genannt werde. Forster sieht im Einklang mit heutigen Forschungen29 aber, dass dieses Wort in vielen afrikanischen Sprachen nicht dasselbe bedeutet wie in Europa und dass so mancher König „nichts mehr als der erste Polizeydiener seiner Mitbürger ist“ (ebd., 367). Er schließt mit der Aussage: „Wohl dem Menschenge- schlechte, wenn es einst würdig werden sollte, keine anderen Könige zu haben!“ (Ebd.) Forster argumentiert hier im Sinne eines heutigen globalge- schichtlichen Denkens, das afrikanische Fortschrittsprozesse einschließt. Ungleichheiten­ zwischen Menschen werden nicht ethnisch, sondern sozial erklärt. Die reale Revolution der Sklavinnen und Sklaven in Haiti wird in den bisher angesprochenen Texten gleichwohl nicht diskutiert.

29  Vgl. Thornton 1993, 181-214 und Nesbitt 2008, 43-47.

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III Die Haitianische Revolution in Deutschland vor 1794

In der deutschsprachigen Öffentlichkeit wurde die Haitianische Revolution dagegen zu dieser Zeit bereits rezipiert, so 1791 im konservativen Politischen ­ Journal Gottlob Benedikt von Schirachs, 1792 dann in den gegenüber der Sklaverei kritischen Stats-Anzeigen des Historikers August Ludwig Schlözer­, aber auch in weniger bekannten Organen wie dem Baierischen­ Landbot (1791) und den Politischen Gesprächen der Todten über die Begebenheiten des Jahrs 1792. Ein selbst aus heutiger Sicht erstaunlich präziser­ Bericht, der eine Nähe zur Position Brissots und der Société des Amis des Noirs aufweist, findet sich zu Beginn des Jahres 1792 in der ersten Ausgabe der bereits erwähnten Zeit- schrift Minerva von Johann Wilhelm von Archenholz.30 Es ist davon auszu- gehen, dass Forster diesen Text kannte: Seinem Briefwechsel mit Voß zufolge erhielt er am 06.03.1792 per Post die sehnlichst von ihm erwarteten ersten zwei Ausgaben der Minerva. Bereits am 14.01.1792 schreibt Forster an Voß:

Erinnern Sie denjenigen, dem Sie die Expedition von Archenholzens Minerva­ an mich aufgetragen haben, daß ich das 1ste Stück noch immer / nicht gesehen habe, obgleich ich schon in der Hamburger Zeitung lese, daß es dort in allen Buchläden zu haben ist. So schnell wie es nach Hamburg kommen und von Hamburg hieher die Zeitung kommen kann, wird doch auch das Exemplar recta aus Berlin, mit der reitenden Post [...] hieher kommen können! Dinge dieser Art verlieren ihren ganzen Werth mit ihrer Neuheit […]. (AA XVII, 29)

Im Januar 1792 war Forster die erste Ausgabe der Minerva und der dort publi- zierte Beitrag zu Haiti also noch nicht bekannt. Was Archenholz in seinen programmatischen Äußerungen in der Zeitschrift betont – dass diese aufgrund

30  „Statistischer Wert des Verlustes der durch die Freyheit verwüsteten Insel St. Domingo“, Politisches Journal, 2 (1791), 1283-1290; „Ueber die blutigen Auftritte auf St. Domingue, und deren Veranlassung durch Feler der vorigen französ. Nat. Versammlung“, Stats-Anzeigen, 65 (1792), 84-106; Der Baierische Landbot, 1. Heft (04.11.1791), 1489; Politische Gespräche der Todten über die Begebenheiten des Jahrs 1792 nebst geheimem­ Briefwechsel zwischen den Leben- digen und den Todten, 7. Jg., 1. Bd. (1792), 119. Eine umfangreiche Liste von zeitgenössischen Beiträgen zur Haitianischen Revolution in deutschsprachigen Zeitschriften findet sich bei Schüller 1992, 284. Schüller urteilt, „in der Minerva [sei] die Ereigniskette [der Haitiani- schen Revolution] ausführlich und erstaunlich sachkundig rekonstruiert“ worden, selbst vom heutigen Stand der Forschungsdebatte aus beurteilt (ebd., 249).

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der Beschleunigung von Druck und Post nicht mit den Zeitungen konkur- rieren kann –, erfährt Forster am eigenen Leib: Er ist durch die Hamburger Zeitung bereits über das Erscheinen der Minerva informiert, bevor diese selbst aus Berlin in Mainz bei ihm eingetroffen ist. Sein Drängen­ begründet Forster mit dem drohenden Verlust der Neuheit der Nachrichten wegen der Interferenz des Transports per Post.31 Am 06.03. heißt es endlich, dass „ich eben Nachricht von meiner Frau erhalte, daß ihr Packet mit der Minerva [...] angekommen ist“ (AA XVII, 58). Selbst erhalten und gelesen hat Forster sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, spätestens jedoch im Juli: Am 29.07.1792 bezeichnet er gegenüber Voß ausdrück­lich die Minerva als im Vergleich zu von Schirachs Politischem Journal „vollständigeres, besser gewähltes, zuverläßigeres und beßer geschrie- benes“ Publikationsorgan (ebd., 152). Die Minerva wird in den folgenden Jahren neben dem Politischen Journal und der Zeitschrift Frankreich des eher prorevolutionären Komponisten Johann Friedrich Reichardt zum zentralen Medium der deutschsprachigen­ Rezeption der Haitianischen Revolution.32 Buck-Morss bezeichnet sie emphatisch als kosmopolitisches Organ offener Kommunikation, wie es vielleicht bis zur Entstehung des Internets nicht wieder existiert habe.33 Mit einer Auflage von 3000, später bis zu 6000 Exemplaren erreichte die Monatszeitschrift ein für die Zeit um 1800 bemerkenswert großes Publikum. Das bereits diskutierte Programm der Minerva forderte eine in einen wohlüberlegten Schreibvorgang mündende Augenzeugenschaft, weshalb der Schwerpunkt der Berichterstat- tung auf Frankreich – wo eine solche garantiert werden konnte – gelegt wurde. Umso erstaunlicher ist vor diesem Hintergrund die häufige Beschäftigung mit der Haitianischen Revolution. Das starke Interesse an der Erhebung in der damaligen französischen Kolonie könnte nun auf den ersten Blick durch das gesteigerte Interesse an Frankreich zur Zeit der dortigen Revolution erklärt werden­. Dass aber andere französische Kolonien deutlich weniger themati- siert werden, deutet doch auf einen besonderen Stellenwert hin, welcher der Haitianischen Revolution im deutschsprachigen Raum zugeschrieben wurde.

31  Die fahrende Post kam anders als die reitende nicht über den vereisten Rhein, wie dem Brief an Voß vom 14.01. zu entnehmen ist (vgl. AA XVII, 28). Auch in den Briefen vom 20.03. und 17.04.1792 finden sich Reflexionen zur Frage der Geschwindigkeit des Posttransports. Forster begegnet dem Problem durchaus mit einer gewissen Ironie, wenn er am 08.09.1792 an Archenholz schreibt: „Ich schreibe so eilig, daß Sies kaum werden lesen können.“ (Ebd., 172) 32  Vgl. Schüller 1992, 260f. 33  Vgl. Buck-Morss 2011, 43.

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Die Beiträge in der Minerva, die sich mit den Ereignissen auf Haiti befassen, folgen zumeist Archenholz’ Programm, materiale Voraussetzungen künftiger Geschichtsschreibung zu dokumentieren. Das Problem, dass der Herausgeber der Minerva anders als in der Französischen während der Haitianischen Revo- lution über keine Korrespondenten vor Ort verfügte, die als Augenzeugen hätte fungieren können, wird gelöst, indem übersetzte Schriften von Augenzeugen (ausschließlich Männern) in Haiti präsentiert sowie gelegentlich kommentiert werden.34 Insgesamt tritt in diesen „Actenstücke[n] zur Geschichte der Revolu- tion in St. Domingo“35 die Position des Herausgebers gegenüber der Materia- lität der Dokumente zurück; eine narrative oder gar kausale Integration der unterschiedlichen Perspektiven erfolgt eher selten. Eine Ausnahme bildet mit dem Aufsatz Historische Nachrichten von den letzten­ Unruhen in Saint Domingo gerade der erste und Forster wahrschein- lich bekannte anonyme Beitrag von 1792, der – so sein Untertitel – „aus verschiedenen Quellen gezogen“36 ist, die nicht näher ausgewiesen werden. Diese Quellen werden nicht nur kompiliert, sondern zu einem narrativen Plot eingeschmolzen, der das revolutionäre Geschehen als kausale Ereig- nisfolge darstellt. Dabei wird zunächst nach den „Entstehungsursachen“ gefragt, „welche diese schrecklichen Scenen hervorgebracht haben.“37 Der Terminus der Szene betrifft die performative Oberfläche der Ereignisse, also gleichsam die Bühne des revolutionären Theaters und betont damit den Darstellungscharakter der Revolution. Der Aufsatz in der Minerva will nun aber hinter die Bühne blicken, um die Entstehungsursachen der revo- lutionären Szenen zu bestimmen. Als erste Ursache wird die Gewalt der „Weissen“ gegen die Sklavinnen und Sklaven bestimmt: „Einer von den Weissen war es, der zuerst einen Schwarzen in einen glühenden Ofen warf, der einen Sohn in den Armen seines Vaters erwürgte, der einen Sclaven zwang, sein eigenes Fleisch zu fressen.“38 Erster Auslöser der Zerstörungen und Brutalitäten während der Erhebung der Sklavinnen und Sklaven ist also die koloniale Gewalt.

34  Vgl. die Vorbemerkung des Herausgebers Archenholz in: Minerva, 4 (1804), 341. Zeitge- nössische Dokumente weiblicher Augenzeugenschaft werden diskutiert bei Popkin 2007. 35  [Anonym], in: Minerva, 4 (1804), 345. 36  [Anonym], in: Minerva, 1 (1792). 37  Ebd., 297. 38  Ebd., 317.

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Bemerkenswert an der zitierten Stelle ist, dass der Akt des Kanniba- lismus, der gemeinhin den Revolutionärinnen und Revolutionären – und ganz besonders den nicht europäischen – zugeschrieben wurde39, hier durch die europäischen Machthaber erzwungen wird. Zweitens werden als Hauptschuldige am Ausbruch des Aufruhrs in Haiti die verschuldeten, rassistischen und gegenüber dem revolutionären Frankreich separatisti- schen Sklavenhalter dargestellt.40 Eine dritte Ursache der Haitianischen Revolution bildet die Französische Revolution. Neben einer Kritik der inkonsequenten Politik der französi- schen Regierung in Haiti zielt die diesbezügliche Argumentation auf den Vorbildcharakter der dortigen Revolution. So heißt es im Text von 1792, dass

bei der Nachricht: ganz Frankreich habe sich durch eine Revolution Freiheit errungen, das Zauber-Wort Freiheit alle Gemüther aufs neue beseelte, und schnell den Vorsatz zur Reise brachte, auch ihre Fesseln zu zersprengen.41 Das Wort ‚Revolution‘ wird hier eindeutig auf Frankreich bezogen, und erst das „Zauber-Wort“ der Freiheit, welches mit der Französischen Revolution verbunden ist, löst ganz im Sinne der Diffusionsthese eine in kausal eindimensionaler Richtung von Europa ausgehende Bewegung gegen die herrschenden Verhältnisse aus.42 Damit werden anders als bei Forster mögliche afrikanische Voraussetzungen der Haitianischen Revo- lution ausgeschlossen.43

39  Vgl. Gamper 2007, 143-149. 40  Vgl. [Anonym], in: Minerva, 1 (1792), 297. 41  Ebd., 298. 42  Die Ereignisse in Haiti werden dagegen zunächst nicht selbst als Revolution bezeichnet. Im weiteren Verlauf wird das Wort ‚Revolution‘ dann näher an die Sklavinnen und Sklaven herangerückt, wenn es heißt, „daß die Revolution und der Wunsch nach Freiheit diejenigen immer mehr erhitzte, welche sie [die Sklavenhaltenden] als ihre Untergebenen betrachteten“ (ebd., 308). Es bleibt uneindeutig, inwieweit hier das Vorbild der Französischen oder eine anti- zipierte Haitianische Revolution gemeint ist. Zumindest in der zweiten möglichen Lesart wird der Befreiungsakt der versklavten Bevölkerung nun selbst als Revolution bezeichnet. 43  Dies bleibt bis ins 20. Jahrhundert paradigmatisch; erst neuere Forschungen haben die Bedeutung revolutionärer Erfahrungen der haitianischen Sklavinnen und Sklaven im Kongo des 18. Jahrhunderts sowie in Mali zur Diskussion gestellt (Thornton 1993 und Nesbitt 2008, 45-47). Vgl. dagegen noch Jürgen Osterhammel­, der die Haitiani- sche Erhebung „in einem unmittelbaren Sinne als Folge der Revolution in Frankreich“ bezeichnet (Osterhammel 2009, 757).

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IV Forster und Haiti

Forster war an außereuropäischen Revolutionen in der ganzen Welt in weit höherem Maße interessiert, als in der Forschung bislang angenommen. Er prognostizierte Revolutionen in Tahiti, Sierra Leone und Ecuador und strebte an, sich an einer antikolonialen Erhebung in Indien zu beteiligen. Er kritisierte die Sklaverei und den kolonialen Rassismus und betonte die afrikanischen Voraussetzungen der europäischen Aufklärung sowie die Möglichkeit von Fortschrittsprozessen in afrikanisch geprägten Gesell- schaften. All diese Beobachtungen legen nahe, dass Forster sich auch mit der Haitianischen Revolution beschäftigte, über die er aus seiner Lektüre der Minerva spätestens seit dem Sommer 1792 mit aller Wahrscheinlich- keit informiert war. Und tatsächlich rezipierte Forster die Ereignisse in Haiti, anders als in der bisherigen Forschung angenommen, durchaus.44 Die längste Passage dazu findet sich zu Beginn seiner Rezension des Buches L’Afrique et le peuple africain des selbst in den Sklavenhandel involvierten Dominique Harcourt Lamiral:

Seit der Dämpfung des letzten Aufruhrs in St. Domingo weiß man endlich, was von dem großen Streit zu halten sey, den die sogenannten amis des noirs schon mehrere Jahre lang gegen die Sklavenhändler führen. So sehr man […] versucht hat, ihr alle Unruhen in den französischen Kolonien beyzumessen, so klar ist es nunmehr am Tage, daß die Kolonialversamm- lung selbst bey jenen schrecklichen Auftritten eine Hand im Spiele gehabt hat, um sich im Besitz ihrer usurpierten, menschenfeindlichen Rechte über die Schwarzen und Mestizen zu erhalten, und die wohlthätigen Anord- nungen des Mutterlandes zu vereiteln. Die Neger hätten es nie gewagt, sich gegen ­ihre Herren aufzulehnen, wenn man sie nicht absichtlich aufge- wiegelt hätte­, um die Sache der Freyheit verhasst zu machen; doch viel- leicht ist diese Abscheulichkeit noch das Mittel, den Mestizen oder gens des couleur, und allmälig auch den Negern selbst, die Rechte vernünftiger Wesen wieder­ zu verschaffen. Ehe es zu dieser Krisis und dieser Entschei- dung kam, erschien das vor uns liegende Werk, als eine Invective gegen die Freunde der Schwarzen, worin die ganze kaufmännische Syllogistik aufge- boten wird, um den Sklavenhandel zu rechtfertigen […]. (AA XI, 336f.)45

44  Einen kurzen Hinweis darauf gibt Lüsebrink 2003, 135. 45  Für eine weitere Referenz auf Haiti vgl. den Brief an Therese Forster vom 28.05.1793 (AA XVII, 361).

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Die Passage über den ‚Aufruhr‘ in Haiti dient Forster als Vorspann zur Rezension des Buchs von Lamiral. Sie ist von systematischer Bedeutung für die Bewertung der ‚Schwarzen‘ und ihrer Menschenrechte sowie der abolitionistischen amis des noirs: Das rezensierte Buch, das sich für die Sklaverei ausspricht und die abolitionistische Bewegung kritisiert, wird Forster zufolge durch die revolutionären Ereignisse in Haiti widerlegt. Die Ursache der Revolution wird in den Dekreten der Kolonialversammlung verortet, deren Herrschaft über die nicht europäische Bevölkerung Haitis Forster ausdrücklich nicht anerkennt. Dagegen affirmiert er die „wohlthä- tigen“ (ebd.) Anordnungen der revolutionären französischen Republik. Die kursierenden Verschwörungstheorien, welche die amis des noirs beschul- digen, die Revolte ausgelöst zu haben und damit eine selbstständige Erhebung der Sklavinnen und Sklaven leugnen46, werden harsch kritisiert. Stattdessen beschuldigt Forster die antirevolutionären Kolonisten, diese hätten nicht allein die revolutionären Prozesse durch ihre „usurpierte“ (ebd.) Herrschaft ausgelöst, sondern sie absichtlich mit in Gang gesetzt, um die „Sache der Freyheit“ (ebd.), die Menschenrechte und die Revolu- tion zu denunzieren. Die Schattenseite dieser Argumentation ist, dass den Sklavinnen und Sklaven damit implizit die selbstständige Einleitung der Erhebung ebenfalls abgesprochen wird. Forsters Ausführungen sind allerdings komplexer: So sieht er zwar in der Erhebung eine „Abscheulichkeit“ (ebd.), spricht aber von der Möglichkeit, sie könne dennoch dazu dienen, den ‚Farbigen‘ (gemeint sind Menschen mit sowohl europäischen als auch afrikanischen Vorfahren) und später auch den Menschen ausschließlich afrikanischer Herkunft die Menschenrechte zu verschaffen. Forster teilt hier allerdings die auch bei den amis des noirs verbreitete Meinung, dies sei im Falle der Sklavinnen und Sklaven nicht durch einen revolutionären Bruch, sondern nur „allmälig“ (ebd.) möglich – eine These, die er an späterer Stelle im Text noch einmal bekräftigt:

[D]och hat er [Lamiral] so weit Recht, wenn er die Freysprechung der Neger ­ in Westindien als ein utopisches Project verwirft. Solche Menschen müssen zur Freyheit erst durch gute Behandlung und sittliche Bildung vorbereitet werden. [...] Die Folgen einer entgegengesetzten Behandlung könnten­ jetzt leicht in Domingo gefährlich geworden seyn […]. (AA XI, 340)

46  Vgl. Popkin 2007, 246f.

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In dieser Passage wird die aus der Brissot-Rezension bekannte Annahme wiederholt, Menschen afrikanischen Hintergrunds bedürften einer europäischen Zivilisierungsmission. Die Aussage, dass die schlechte Behandlung der Sklavinnen und Sklaven „gefährlich geworden“ sei, wird im Konjunktiv vorgetragen. Worauf sich diese mögliche Gefahr genau beziehen­ könnte, wird nicht weiter spezifiziert. Forster kritisiert auch in diesem Text scharf den europäischen Rassismus: Selbst wenn die negative Darstellung­ der ‚Schwarzen‘ in dem rezensierten Buch zuträfe, wäre damit noch nicht ihre „Unfähigkeit“ bewiesen sei, auf eine „höhere Stufe der Bildung“ zu gelangen (ebd., 337). Die Annahme der Entwicklungsfähig- keit wird gegen die rassistische Ideologie einer prinzipiellen Differenz zwischen ‚Schwarzen­‘ und ‚Weißen‘ gerichtet, bleibt allerdings dem euro- zentrischen Zivilisierungsparadigma verbunden.47 Ein möglicher spezifi- scher Charakter der ersteren sei durch die Umstände bestimmt, woraus sich die (rhetorische) Frage ableiten lasse, „ob eine solche Modification des Characters die Befugniß anderer begründet, einen dem Recht der Mensch- heit zuwiderlaufenden Vortheil daraus zu ziehen?“ (AA XI, 339) Nicht die afrikanische Herkunft verhindert demnach die soziale und poli- tische Gleichheit der Sklavinnen und Sklaven, sondern die soziale und politische Ungleichheit blockiert die Entwicklung von Fähigkeiten, die zu ihrer Anerkennung als Gleiche gefordert wären. Denn die Unterwerfung unter despotische Verfassungen hat über lange Zeit auf den Charakter der Sklavinnen und Sklaven zurückgewirkt. Nicht nur, aber besonders in Haiti gibt es Forster zufolge zahlreiche Belege, dass dieser Prozess nicht unum- kehrbar ist: „Die Beyspiele von einer Fähigkeit der africanischen Organi- sation zur Erreichung jeder Geistesvollkommenheit, derer nur Menschen fähig seyn können, sind unläugbar und zahlreich“ (ebd.).48 Wie Forsters Lamiral-Rezension zeigt, war die Haitianische Revolution also geeignet,

47  Außerdem kritisiert Forster Lamiral dafür, „das Gemälde ihres [der Schwarzen] Elends recht ins Schwarze zu mahlen“ (AA XI, 339). Die Metapher des Schwarz-Malens suggeriert ­dabei, die Annahmen über die Menschen mit der entsprechenden Hautfarbe seien Zuschreibungen des Verfassers – freilich um den Preis, dass die europäische Abwertung der Farbe Schwarz beibehalten wird. 48  In Forsters kurzem Versuch einer Naturgeschichte des Menschen heißt es entsprechend unter dem Stichwort Anlagen im Menschen: „Würde der Neger, der seine Nachkommen- schaft, nach England verpflanzt, nicht ein anderes System von Anlagen erhalten? und vice versa der Europäer in heißen Ländern?“ (AA VIII, 158)

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rassistische Ideologien der Differenz in Frage zu stellen.49 Dass sie bei Forster­ dennoch eine vergleichsweise marginale Rolle spielt, ist nicht einer prinzipiellen Schranke des Wissens geschuldet, wie die bereits vor 1794 einsetzende Rezeption auch im deutschsprachigen Raum belegt, sondern vielmehr einem Darstellungsproblem. Die Rede ist von der Figur der Augenzeugenschaft und der damit verbun- denen Subjektposition. Diese ist für Forster in den Parisischen Umrissen eine Voraussetzung dafür, dass die Französische Revolution den Deutschen – wenn auch brieflich und damit räumlich, zeitlich und medial aufge­schoben – näher rücken könnte. Während bei Archenholz der zeitliche Aufschub durch eine sorgfältige Verschriftlichung des Gesehenen der Garant einer angemessenen Revolutionsdarstellung ist, so erscheint bei Forster der Standpunkt der Augenzeugenschaft selbst und die Beobachtung der Ereignisse in Echtzeit als geeignet, die verzerrende Wahrnehmung durch ‚Media‘ zu korrigieren; der Aufschub der Revolutionsrezeption betrifft bei Forster die (deutschen) Leserinnen und Leser, nicht den Schreiber. Nach Haiti reiste­ Forster aber – ebenso wie Archenholz und die meisten ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen – nicht selbst und konnte entsprechend die Position des Augenzeugen nicht einnehmen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma der mangelnden eigenen Augen­ zeugenschaft in Archenholz’ Minerva war die Dokumentation von Augenzeugen­berichten. Im Text von 1792 werden noch verschiedene Quellen in eine zusammenhängende Darstellung der Revolution in Haiti

49  Über Forsters Quellen für sein Wissen über die Ereignisse in Haiti erfahren wir nichts. Seine kurze Darstellung der Revolution in Haiti stimmt zwar teils mit der Argumen- tation in der Minerva überein; ihr Zusammenhang mit der Französischen Revolu- tion wird jedoch nicht expliziert, und die Frage einer angemessenen Darstellung der Revolution (etwa per Augenzeugenschaft) wird überhaupt nicht angesprochen. Der Minerva-Lektüre kann sein Wissen über Haiti zum Zeitpunkt der Lamiral-Rezension vom 12.01.1792 nicht geschuldet sein, denn Forster beendete sie bereits am 03.12.1791, las Archenholz’ Zeitschrift aber frühestens im März 1792. Der Kommentar der Akademie-Ausgabe behauptet, Forster habe die der Revolution von 1791 vorhergehende Revolte unter der Führung von Vincent Ogé im Jahr 1790 im Auge gehabt (AA XI, Erläuterungen­, 594), die Ende 1790 mit der Niederschlagung des Aufstandes und der brutalen Exekution Ogés im darauf folgenden Februar endete. Für diese These werden keine Belege angeführt, gegen sie spricht aber, dass Forster ausdrücklich von einer Erhebung von ‚Schwarzen‘ spricht, während die Ogé-Revolte von freien ‚Farbigen‘ geführt wurde und kein Bündnis mit den Sklavinnen und Sklaven einging.

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integriert, während später Augenzeugenberichte übersetzt und nur gele- gentlich kommentiert werden. Damit bleiben sie in ihrer Materialität sichtbar und ihre Authentizität wird hervorgehoben. Forster konzentriert sich dagegen auf die eigene teilnehmende Beobachtung von Revolutionen in Europa und besonders in Frankreich. Seine Referenzen auf außereuro- päische und nicht von ihm mit eigenen Augen beobachtete Revolutionen erfolgen ausschließlich in der Form der Prognose (Sierra Leone, Ecuador, Tahiti) bzw. des Projekts (Indien) und im Genre der Rezension (USA, Haiti, Indien). Insgesamt erscheint das Darstellungsprogramm der Minerva für eine Rezeption ferner Revolutionen geeigneter als das Primat der eigenen Augenzeugenschaft bei Forster. Das bedeutet aber keinesfalls, dass es prinzipielle Sperren für eine solche Darstellung gab. Zwar ist auch Forster nicht ganz frei von einer affirma- tiven Rezeption eurozentrischer Zivilisierungsdogmen, argumentiert aber konsequent gegen rassistische Ideologien einer prinzipiellen Differenz zwischen Menschen verschiedener Herkunft. Im Unterschied zum Bericht in der Minerva ist ihm die afrikanische Fähigkeit zu Aufklärung, Fort- schritt und Revolution bewusst. Der mitunter vertretenen These, das Revolutions­narrativ sei um 1800 prinzipiell eurozentrisch konfiguriert und ein Wissen­ von der Haitianischen Revolution für Europäerinnen und Europäer unmöglich gewesen,50 muss entschieden widersprochen werden: Zu Forsters­ Lebzeiten zirkulierte in Europa und auch im deutschsprachigen Raum bereits ein solches Wissen. Forster selbst argumentiert explizit gegen die Annahme, politischer und wissenschaftlicher Fortschritt sei allein ein europäisches Produkt. Dass Forster sich dennoch nur am Rande mit Haiti beschäftigte, hängt eher mit seiner Rhetorik der Augenzeugenschaft zusammen und widerlegt nicht sein prinzipielles Interesse an Revolutionen außerhalb Europas. Eine künftige globalgeschichtliche Perspektive auf die Rolle der Revolution in Forsters Schriften sollte deshalb die Fokussierung auf die Französische Revolution in der bisherigen Forschung durch eine rela- tionale Perspektive erweitern, die (reale und imaginäre) globale­ Zusammen- hänge zwischen Revolutionen in Indien und Frankreich, Haiti und Deutsch- land, den USA, Ecuador, Sierra Leone und Tahiti in den Blick nimmt. Einmal angenommen, Forster hätte Europa 1793 tatsächlich verlassen, wäre aber nicht wie geplant in Richtung Indien gereist, sondern nach

50  Vgl. Trouillot 2002, bes. 93f.; zur Kritik Popkin 2007, 3.

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Westindien: Gesetzt, er wäre vom Wohlfahrtsausschuss nach Haiti gesandt worden­, hätte dort einen Jakobinerklub gegründet und einen Freiheits- baum errichtet, die Abschaffung der Sklaverei gemeinsam mit Sonthonax legimitiert, wäre vielleicht darüber hinaus unter der späteren Regierung des haitianischen Revolutionärs Jean-Jacques Dessalines (1804-1806) wie zuvor in Frankreich Franzose in Haiti Haitianer geworden und hätte unter dem Titel Karibische Umrisse einen prorevolutionären Briefessay nach Europa­ gesandt, in dem er darstellte, was er als Augenzeuge in Haiti selbst sah, während die Europäerinnen und Europäer es nur „durch allerlei Media“ (AA X.1, 605) verzerrt präsentiert bekamen. Doch Forster starb bekanntlich, kurz bevor am 04.02.1794 vom französischen Nationalkon- vent die Abschaffung der Sklaverei beschlossen wurde, in Paris.

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allekurztitelraus.indd 43 06.06.2014 10:36:44 allekurztitelraus.indd 44 06.06.2014 10:36:44 Anne Mariss Sprache und (Miss-)Verstehen : Formen kollektiver Wissensproduktion im Umfeld der zweiten Cook-Expedition 1 (1772-75)

In seinen Memoiren berichtet der schottische Schriftsteller und Jurist James Boswell von einem Treffen mit Captain James Cook, der vor einem Jahr von seiner zweiten Weltumsegelung zurückgekehrt war. Bei dem gemeinsamen Dinner, das am 18. April 1776 in einer Londoner Taverne stattfand, habe ihm dieser anvertraut,

that he and his companions who visited the south sea islands could not be certain of any information they got, or supposed they got, except as to objects falling under the observation of the senses; their knowledge of the language was so imperfect they required the aid of their senses, and any thing which they learnt about religion, government, or traditions might be quite erroneous.2

Kaum eine der während der Reise eingeholten Informationen – insbe- sondere solche, die die Kultur, Religion, rituellen Bräuche oder auch poli- tischen Strukturen der fremden Völker betrafen – konnte laut Cooks eigener Aussage als gesichert gelten, da die Kenntnis der fremden Sprache mangelhaft gewesen sei. Dass die Anekdote Boswells nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen auch diverse Tagebucheinträge, die noch während der Reise notiert wurden. Captain Cooks Bordtagebuch ist zu entnehmen, dass er auf der Insel Tahiti in Erfahrung bringen wollte, welche Menschen geopfert wurden und aus welchen Gründen. Sein lokaler Gesprächs-

1  Ich danke Antje Flüchter für die anregenden Gespräche, die wir im Rahmen des DFG- Graduiertenkollegs 1599 „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ während ihrer Gastdozentur im Sommersemester 2012 führen konnten, sowie für die hilfreichen Kommentare zu diesem Aufsatz. 2  Private Papers of James Boswell, II, S. 256f. Zitiert nach Cook 1961, II, S. 234.

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partner sowie einige andere Einwohner hätten alles versucht, um ihnen die Einzelheiten des Brauchs zu erklären, aber, so Cook in seinem Journal, „we were not masters enough of their language to understand them.“3 Auch der Deutsche Johann Reinhold Forster (1729-1798), der Captain Cook im Auftrag der Admiralität als offizieller Naturforscher auf dessen zweiter Reise von 1772 bis 1775 begleitete, ärgerte sich nach dem Aufenthalt auf der Südseeinsel Tonga, dass das wenige Wissen über die Sprache ihn daran gehindert habe, mehr Informationen bezüglich der Sitten und Bräuche zu sammeln, die die Insulaner und Insulanerinnen in Heirats- und Sterbezere­ monien praktizierten.4 Eher ironisch kommentiert der anonyme Verfasser von Captain Cook’s Second Voyage round the World das Zusammentreffen zwischen Europäern und Maori im April 1773, das einer „pantomimical conference, which was totally carried on by signs and tokens“5 geglichen habe. Ähnliches weiß ein weiterer anonymer Autor, bei dem es sich um den Kanoniersmaat John Marra handelte, zu berichten, wenn er das Zusammen­treffen beschreibt: „Mr. Forster, and those who were curious, had frequent opportunities of visiting and conversing with the family, if that may be called conversing, when neither party understand a word of each others language.“6 Die europäischen Weltreisenden, so wird durch die verschiedenen Aussagen der historischen Akteure deutlich, verstanden im Grunde sehr wenig von den fremden Sprachen aus dem pazifischen Raum. Nach Captain Wallis’ brutalem Zusammentreffen mit der tahitianischen Bevöl- kerung im Jahr 1767 waren durch Cooks Bemühungen vor allem auf den Gesellschafts­inseln relativ friedliche Beziehungen etabliert worden und man versuchte, sich buchstäblich mit pantomimischen Gesten bzw. Händen und Füßen zu verständigen: Die Geschichte der ‚Entdeckung‘7

3  James Cook 1961, 234. 4  „[T]he little knowledge we had of their language, hindered me from collecting more information in regard to the Manners & Customs usual in Marriages & Burials.“ J. R. Forster 1982, III, 402. Zu J. R. Forster siehe die Biographie von Hoare 1976. 5  Zitiert nach Cook 1961, 27. 6  Anon. [John Marra] 1776, 28f. 7  Wenn im Folgenden der Begriff ‚Entdeckungen‘ in Bezug auf die imperialen Unter- nehmungen Großbritanniens im Pazifik benutzt wird, so soll die Problematik dieses eurozentrischen Begriffes mitgedacht werden, denn er impliziert, dass die Geschichte dieser Regionen erst mit ihrer ‚Entdeckung‘ durch die Europäer begann.

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des Pazifiks ist vor allem eine Geschichte von sprachlichen und kultu- rellen Missverständnissen.8 Ihren sinnfälligen Kulminationspunkt fand diese Geschichte des gegenseitigen kulturellen Missverstehens in Cooks Totschlag im Februar 1779 in der Bucht von Kealakekua auf Hawaii.9 Die anonymen Reiseberichte sowie die Tagebucheinträge zeugen von der sprachlichen Ohnmacht der Europäer, verweisen aber auch auf die tatsäch- lich erfahrene Macht- und Hilflosigkeit in der Fremde, die erst durch wirk- mächtige Eroberungsnarra­tive in Text und Bild ‚überschrieben‘ wurden. Die unzähligen Hinweise auf die Unsicherheit und Brüchigkeit der Cook- Expeditionen in der bedrohlichen­ Fremde verkomplizieren das Bild einer vermeintlich monolithischen Expansion des Britischen Weltreiches im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Statt auf eine sprachliche Kognition mussten sich die Reisenden auf ihre Sinne verlassen, d. h. vor allem das Sehen und Beobachten, um verlässliche Informationen zu generieren, wie auch aus Boswells eingangs erwähnter Anekdote über das Zwiegespräch mit Captain Cook hervorgeht. Zwar war die Verlässlichkeit von Sinnes- wahrnehmungen und -erfahrungen­ innerhalb der frühneuzeitlichen Empirie schon früh in Frage gestellt worden, dennoch gab es ein exklu- sives Privileg der Sehkraft und autoptische Verfahren zur Produktion von Evidenz galten als der sicherste Weg. Der Problematik von Augen- zeugenberichten von Reisenden war man sich durchaus bewusst, gleich-

8  Siehe dazu die Arbeiten von Tcherkézoff 2003, 51-75 und ders. 2004. 9  Nachdem Cook im Beringmeer nach der mythischen Nord-West-Passage gesucht und dabei die nordamerikanische Küste erkundet hatte, kehrte er im Herbst 1778 nach Hawaii zurück. Dort fand zu Ehren des Gottes Lono ein Fest statt. Während dieses Aufenthaltes wurde das kapu, das hawaiianische Regelwerk, mehrmals von den Europäern gebrochen, weshalb sich die Beziehungen zwischen Einheimischen und Europäern drastisch verschlechterten. Als Cook die Inseln im Februar nochmals ansteuerte, um einen gebrochenen Mast zu reparieren, eskalierte die Situation und Cook wurde, nachdem er in die Menge feuerte und dabei einige der Hawaiianer tötete, in dem darauf folgenden Tumult erschlagen. Ob Cook für den wiederkehrenden Gott Lono gehalten wurde oder dies als Teil eines europäischen Mythenbildungsprozesses selbst zu betrachten ist, war Thema der hitzigen Auseinandersetzung zwischen den Ethnologen Marshall Sahlins und Gananath Obeyesekere. Am Beispiel von Cooks Tod und der darauf folgenden Apotheose des Seefahrers wurde darüber gestritten, inwiefern sich europäische Vorstellungen von Rationalität auf das Handeln von nicht-europä- ischen Völkern übertragen lassen. Vgl. Obeyesekere 1992 sowie Sahlins 1995. Einen guten Überblick über die Debatte bietet Borofsky 1997, 255-282.

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zeitig konnte man aber nicht auf sie verzichten. Während für das im Labor angestellte Experiment Verfahren zur Verlässlichkeit der Erkenntnis entwickelt wurden (öffentliche Vorführung des Experiments vor Zeugen, Wiederholbarkeit des Versuchs), blieb die Autopsie für die Erkenntnisform des Reisens unersetzlich.10 So brachte die Schiffscrew auf der zweiten Cook-Reise im November 1773 während ihres Aufenthalts in Neusee- land einen abgetrennten Menschenkopf an Bord, den sie vor den Augen aller Anwesenden von Maori verspeisen ließen, als „incontestable proof of their eating human flesh if any had been wanting to confirm the truth of so inhuman a practice“11, wie der Kanoniersmaat John Marra in seinem anonymen Journal festhielt. Da sich Captain Cook während des Spekta- kels nicht an Bord des Schiffes aufhielt, wiederholte man das ‚Experiment‘ kurze Zeit später.12 Das von mehreren Teilnehmern der zweiten Cook- Expedition beschriebene ‚Anthropophagie-Experiment‘ erinnert stark an experimentelle Beglaubigungsstrategien des Labors. Es waren nicht nur Augenzeugen vorhanden, die dem Experiment beiwohnten; die Versuchs- anordnung war sogar wiederholbar, da die Maori mit ‚großem Appetit‘, wie Johann Reinhold Forster in einem Journal vermerkte, ein zweites Stück von dem Kopf aßen.13 Um die Beweisführung des Experiments abzurunden, holte man schließlich Captain Cook dazu. Offenbar sollte er als soziale und moralische Autorität der Schiffsmannschaft das Experiment bzw. seine narrative Schilderung glaubhaft erscheinen lassen. Um eine möglichst ‚wahre‘ Darstellung der Beobachtungen zu erzielen und eine Auswertung der auf der Reise gesammelten Daten zu ermöglichen, erfuhren sowohl das Reisen an sich als auch der Prozess der Verschriftli- chung von Reiseerfahrung im 18. Jahrhundert eine gewisse Institutionali- sierung. In den unterschiedlichsten Kontexten wurden Reisende in Fragen- katalogen, obrigkeitlichen Anweisungen oder brieflichen Empfehlungen unterwiesen, welches Wissen in Erfahrung zu bringen war.14 Mithilfe der

10  Siehe dazu die Beiträge des Sammelbandes Histories of Scientific Observation 2011. 11  Anon. [Marra] 1976, 103. 12  „The captain arriving the moment after with his company, the New Zeelanders repeated the experiment once more in his presence.“ (AA I, 295). 13  Vgl. Forster 1982, III, 426. 14  Die sogenannte Apodemik, die Kunst zu reisen, entwickelte sich in der Frühen Neuzeit zu einem eigenständigen Genre der Reiseliteratur. Siehe dazu Stagl 2002 sowie Siebers 2003, 29-49.

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Anleitungen sollte das durch Erfahrung und Beobachtung gesammelte Wissen der Tagebücher in eine kohärente Form gebracht werden, um eine spätere Auswertung der Ergebnisse in den europäischen ‚Rechenzentren‘ (Bruno Latour) zu ermöglichen.15 Grundlegend für die standardisierte Berichterstattung aus fremden Weltteilen waren Auskünfte über Klima, Bodenbeschaffenheit, Landwirtschaft sowie Flora und Fauna, aber auch Informationen über die Bevölkerung, deren Nationalcharakter16 und Lebensformen, Rechtswesen, Sitten und Bräuche, Religion, Rituale, Kunst und Handwerk. Während es den reisenden Wissenschaftlern zwar relativ gut möglich war, Kenntnisse über Geographie, Klima und Natur eines unbekannten Landstriches über empirische Verfahren in Erfahrung zu bringen, gestaltete sich die Produktion von Wissen über abstrakte Bereiche wie Kultur und Religion als recht heikel, da von großen Unbekannten durchzogen. Die genaue Erforschung der in der Fremde angetroffenen Völker war jedoch ein fester Bestandteil des britischen Entdeckungsprogramms. Zur Zeit der Cook-Reisen befand sich das Königreich Großbritannien in einem krisen- haften Zustand: Die amerikanischen Kolonien standen kurz vor dem Abfall vom Mutterland und die Krone hatte durch den Siebenjährigen Krieg herbe territoriale und wirtschaftliche Verluste hinnehmen müssen. Cooks Forschungsexpeditionen schienen also prädestiniert dazu, das imperiale Projekt als vorrangig wissenschaftliche und philanthropische Unterneh- mung zu rehabilitieren.17 In der Vorstellung der britischen Außenpolitik eroberten die britischen Seefahrer die Bewohner fremder Weltteile nicht mit Gewalt, sondern überzeugten ihre Bewohner und Bewohnerinnen mit Vernunft von der Nützlichkeit des imperialen Projektes. In den Secret Instruc- tions vom 25. Juni 1772, die Captain Cook auf dem Expeditionsschiff Resolu- tion mit sich führte, wies die Admiralität ihn im Falle einer Entdeckung an,

to observe the Genius, Temper, Disposition and Number of the Natives or Inhabitants, if there be any, & endeavour by all proper means to cultivate a

15  Vgl. Latour 2009, 111-144. 16  Der Begriff der Nation bezieht sich im 18. Jahrhundert noch vornehmlich auf den früh- neuzeitlich gedachten Charakter eines Volkes. Beide Begriffe, der des Volkes und der Nation, überschneiden sich hinsichtlich ihrer Bedeutung als ‚Ethnie‘ in hohem Maße. Siehe zum Begriff der Nation in der Frühen Neuzeit ausführlich Hirschi 2005. 17  Siehe dazu Angster 2012.

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Friendship and Alliance with them, making them Presents of such Trinquets as they may value, inviting them to Trafick & shewing them every kind of Civility & Regard; but taking care nevertheless not to suffer yourself to be surprised by them, but to be always on your guard against any Accident.18 Die Erkundung des Pazifiks sollte idealerweise ohne brutale Auseinan- dersetzungen und Blutvergießen ablaufen; vielmehr sollten die britischen Entdecker über den Handel in eine Beziehung zu den fremden Völkern treten, die statt mit Gewalt mit freundlichen Worten ‚erobert‘ werden sollten. Auf der Negativfolie des ‚barbarischen‘ Kolonialismus der Spanier und Portugiesen in Südamerika generierte sich die aufgeklärte Entdecker- nation Großbritannien als Wohltäter der gesamten Menschheit. Neben der Erforschung der Natur sollten deshalb auch verlässliche anthropologische Daten gesammelt werden, um fremde Völker besser verstehen zu können. Die gegenseitige Verständigung war damit eine unerlässliche Komponente des britischen Weltreichs, das ideologisch auf dem Konzept der Zivilität basierte. Allerdings gilt es festzuhalten, dass die Kommunikation mit lokalen InformantInnen schon zu Beginn der europäischen Expansion ein fester Bestandteil von Entdeckungsreisen und den damit verknüpften Verfahren naturhistorischer Wissensgenerierung war.19 Der Kontakt zu lokalen Infor- mantInnen sowie der damit einhergehende Transfer von Wissen waren im Zuge der europäischen Expansion und christlichen Missionsarbeit zu zentralen Kriterien des Wissenserwerbs geworden und garantierten die Authentizität der in der unbekannten Fremde gesammelten­ Informationen. Welchen hohen Stellenwert die Naturforscher der Aufklärung dem lokalen Wissen um die spezifischen Eigenschaften einer Pflanze oder eines Tieres einräumten, wird auch in Forsters Abhandlung Nachricht von einem neuen Insekte (1782) deutlich, die er nach der Weltreise verfasste. Darin berichtet er, ausgehend von einer Zeichnung, die ihm von dem Kapitän eines Ostindien­-Schiffes kommuniziert worden sei, über ein bislang unbekanntes ‚See-Insekt‘, das er nach dem heute ungültigen Taxinom Cancer cassideus benannte und bei dem es sich möglicherweise um eine Pelzlanguste handelte. Ausführlich erörtert Forster in seinem Aufsatz die Bedeutung lokaler Informanten und die Gründe dafür, warum es so wichtig sei, sich von ihnen belehren zu lassen:

18  Cook 1962, II, clxviii. 19  Siehe dazu Dürr 2010, 177-201 sowie Scott Parrish 2006.

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In Ländern, die von halb wilden oder doch wenig gesitteten Völkern bewohnt­ werden, da pflegen die Einwohner der Inseln, und solcher grossen Gegenden, die wenige Landthiere besonders von der Klasse der Säugethiere­ nähren, gemeiniglich sich vom Fischfange zu ernähren, und auch andere Seethiere zu geniessen; selbst einige Arten von See-Nesseln und Seekwaln (Medusa) nicht ausgenommen. Diese Völker kennen alle die Fische und Seethiere, welche längst ihren Ufern sich aufhalten; und wissen auch ihre Sitten, ihre Nahrung, ihre Laichzeit, und ihre ganze Ekonomie sehr gut: so wie sie auch sehr wohl die eßbaren und nützlichen von den gefährlichen und schädlichen Thieren zu unterscheiden wissen. Sie haben für jede Art und Abart besondere und oft sehr schickliche und passende Namen.20 Allein die Kenntnis fremder Pflanzen- und Tiernamen machte aus der weltweiten Bestandsaufnahme von fremden Völkern und unbekannten Naturprodukten noch keine nützliche Naturkunde. Vielmehr galt es, sich das Wissen um die Ökonomie eines Tieres, Minerals oder einer Pflanze ‚halbwegs zivilisierter Indianer‘ einzuverleiben – ein Prozess, der von zahl- reichen Konflikten gekennzeichnet war. Denn – das hatte Forster auf der Reise schmerzlich erfahren müssen – nicht alle Menschen auf der Welt waren bereit, mit den fremden Ankömmlingen zu kommunizieren bzw. ihr Wissen ohne Gegenleistung zu teilen. Für die Bewohner Feuerlands, „the most wretched & dirty of all human beings“21, hatte Forster nur Verach- tung übrig, da sie ihm trotz mehrmaliger Aufforderung die Bezeichnung bestimmter Dinge vorenthielten, was er als Dummheit interpretierte. In dem vorliegenden Beitrag möchte ich diejenigen Mechanismen der Wissensproduktion in den Blick nehmen, durch die auf der zweiten Cook- Reise (1772-1775) sprachliches Wissen generiert wurde.22 Auf welche Infor- mationen über die fremden Sprachen aus dem pazifischen Raum konnte man zurückgreifen? Wer war an dem Prozess der Wissensproduktion beteiligt und wie wurden die unterschiedlichen Wissensbestände und Informationen von den reisenden Gelehrten bewertet? Zur Beantwortung der hier aufge-

20  J. R. Forster 1782, 206f. 21  „Their Language seemed to us very unintelligible; & though I pointed to many things, in order to get the Names of them, they seemed to be too stupid for the signs.“ Forster 1982, V, 698. 22  Zur Geschichte der Veränderung der Sprachen im Pazifik im Zuge von Kolonialismus und Missionierung siehe Tryon 2009, 37-55.

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worfenen Fragen greife ich einerseits auf Bordtagebücher, die sogenannten Journals, und Reiseberichte zurück, die in einem unmittel­baren Zusam- menhang mit der zweiten Cook-Reise stehen; andererseits werte ich eine Handschrift Johann Reinhold Forsters aus, der Cook auf seiner zweiten Reise zusammen mit seinem Sohn Georg Forster als Naturforscher und Völkerkundler begleitete.23 Das Manuskript mit dem Titel Vocabularies of the Language spoken in the Isles of the South Sea, das in der orientalischen Hand- schriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin aufbewahrt wird, spiegelt zusammen mit den Reiseberichten den kollektiven Charakter der Sprach- Wissensproduktion auf der zweiten Cook-Reise wider.24

I Wissen als Gemeinschaftsprodukt

Seit geraumer Zeit ist es ein Gemeinplatz innerhalb der Wissenschafts- geschichte, dass Wissen nicht ex nihilio, sondern als ein Produkt einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft in langwierigen und oftmals konflikthaften Prozessen entsteht.25 Auch die Erkenntnis, dass Wissen in transnationalen bzw. transkulturellen Kontexten durch die Begegnung mit

23  Siehe zu Forster als Völkerkundler Bödeker 1999, 227-253 und Nutz 2009. Zu Forster als Naturforscher siehe Mariss 2014b. 24  J. R. Forster 1774. Das Manuskript befindet sich in der Orientalischen Handschriften- abteilung der Staatsbibliothek Berlin unter der Signatur Ms or. oct. 62. und ist teilweise wiedergegeben in einem Aufsatz eines Bibliothekars namens Moser, „Nachschrift von einer Handschrift J. R. Forster’s in der Kön. öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart“, in: Serapeum, 33-38. Moser berichtet, dass der „Kaufmann Reinöl [das Manuskript] dahier vor mehreren Jahren auf dem Prager Trödelmarkt von einem Juden erkaufte und vor ein paar Jahren durch mich für die Kön. öffentliche Bibliothek“ erworben wurde (ebd., 33). Bei der von Moser erworbenen Handschrift muss es sich um eine Abschrift des Originals handeln, wie auch aus Mosers Analyse des Manuskripts hervorgeht. Zu Forsters Manuskript siehe auch Rensch 1996, 383-400. 25  Einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis der Soziabilität von Wissen und dessen Produktion lieferten die mikrogeschichtlichen Arbeiten zum Labor, die sogenannten laboratory studies. Siehe etwa Latour u. Woolgar 1979 oder Knorr-Cetina 1981. Aufge- griffen wurde dieser Ansatz vor allem von WissenschaftshistorikerInnen wie Steven Shapin, Simon Schaffer, Peter Burke und Lorraine Daston. Siehe etwa Burke 2000 und Hagner 2001, 7-39 sowie in Bezug auf die frühneuzeitliche Naturkunde Dietz 2009, 235-257.

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anderen, fremden Kulturen entsteht, bildet, dank der methodologischen Reflexionen der postcolonial studies mittlerweile einen festen Bestandteil einer global ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte. Statt eines unidirek- tionalen Exports von Wissen bzw. Technologien von den Metropolen in die ‚Peripherien‘ werden seit geraumer Zeit die wechselseitigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen Europa und anderen Weltteilen im Prozess der Wissensproduktion und -verbreitung beleuchtet. So stellt sich der früh- neuzeitliche Imperialismus nicht länger als die Geschichte vom ‚West and the Rest‘ dar, sondern als Rahmenbedingung einer gemeinsamen geteilten Geschichte (shared history).26 Holzschnittartige Erzählungen einer euro- päischen Expansion, in deren Zuge lokale Wissenskulturen schlichtweg ‚ausgelöscht‘ worden seien, werden vor diesem Hintergrund differen- zierter betrachtet. Im Fokus stehen Fragen nach dem Zusammenhang von Macht und Wissen, den Mobilisierungstechniken von Wissen sowie der agency der daran beteiligten Akteure und Akteurinnen. So sind zuletzt zunehmend europäische Wissensakteure und -akteurinnen wie Missio- nare, Kaufleute und Diplomaten, aber auch lokale Akteure als kulturelle Vermittler (‚cultural broker‘ oder ‚intermediaries‘) und bedeutende Wissen- sagenten in den Fokus der Forschung geraten.27 Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit als Produzenten von Wissen haben bislang die Seeleute erfahren, die die naturhistorischen Expeditionen im 18. Jahrhundert auf ihren Fahrten in die den Europäern unbekannten Weltteile als Arbeits- kräfte begleiteten.28 Vor allem die schwierige Quellenlage (von Matrosen sind selten eigene handschriftliche Aufzeichnungen überliefert) ist ein

26  Vgl. Conrad u. Randeria 2002. Zum Konzept der shared history siehe auch Cooper u. Stoler 1997, 1-58 (auf dt. erschienen unter dem Titel: „Zwischen Metropole und Kolonie: Ein Forschungsprogramm neu denken“, in: Kolonialgeschichten: regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, hrsg. v. Claudia Kraft, Frankfurt/M. 2010, 26-66) und Randeria 1999, 87-95. Die ausufernde Literatur zur neueren Globalge- schichte kann an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Deshalb sei für weiterfüh- rende Literatur verwiesen auf: Conrad 2013. 27  Siehe zu kulturellen VermittlerInnen in kolonialen Kontexten die Sammelbände The Brokered World 2009 und Von Käfern, Märkten und Menschen 2013. 28  Siehe etwa Mertens 2006, 36-41. Zum weiteren Zusammen­hang zwischen Seefahrt und maritimen Wissensbeständen siehe Deacon 1971 und Rediker u. Linebaugh 2008 (engl. The Many Headed Hydra 2000) sowie die Sammelbände: Maritime History as World History 2004, Science in the Spanish and Portuguese Empires 2008 sowie Maritime History as Global History 2010.

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Grund für diese Forschungslücke.29 Innerhalb des historisch spezifischen Settings der zweiten Cook-Expedition fungierten die Matrosen, Seeka- detten und Offiziere nicht nur als Seeleute, die das Schiff navigierten und in Stand hielten, sie agierten auch als Dolmetscher und Diplomaten, teilten ihr auf Erfahrung basierendes Wissen mit den Naturkundlern und waren an der Sammlung von Kuriositäten und Pflanzenproben sowie dem Jagen von Tierspezimen beteiligt.

II Kollektive Wissensproduktion auf der zweiten Cook-Reise

Im Juli 1772 lichteten die Schwesternschiffe Resolution und Adventure die Anker im Hafen von Plymouth. Unter der Leitung Captain Cooks, der erst ein Jahr zuvor von seiner ersten Weltumsegelung zurückgekehrt war, sollten die Schiffe das südliche Polarmeer durchkreuzen, um den mythi- schen Kontinent terra australis zu finden. In der zeitgenössischen Vorstel- lung handelte es sich um einen fruchtbaren Kontinent mit angenehmem Klima, reichen Bodenschätzen und einer zivilisierten Bevölkerung, zu der man Handelsbeziehungen aufbauen wollte. An Bord der Resolution befanden sich der deutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster und sein sieb- zehnjähriger Sohn Georg, „gentlemen skill’d in Natural history and Botany but more especially the former, who from the first was desireous of going the Voyage“ 30, wie Cook in seinem Bordtagebuch festhielt. Nach dem Rückzug des jungen Aristokraten , der Cook auf der ersten Expedition als Naturforscher begleitet hatte, sollte der ältere Forster die Naturgeschichte der zu entdeckenden Länder erfassen, sein Sohn Georg reiste als naturhistorischer Zeichner mit. Johann Reinhold Forster war mit seinem Sohn im Jahr 1766 nach England ausgewandert, wo er sich

29  Dies lag nicht etwa daran, dass die Matrosen Analphabeten waren, sondern dass alle während der Reise getätigten Aufzeichnungen vor Rückkehr der Schiffe in einen Hafen auf Befehl der Admiralität wieder eingesammelt wurden. Von den drei Cook-Reisen sind einige anonym publizierte Reisebeschreibungen überliefert wie etwa Anon. [James Magra oder Matra] 1771, Anon. [John Marra] 1776 oder die Reisebeschreibung des deutschen Matrosen Heinrich Zimmermann, der auf der dritten Cook-Reise anheuerte: Zimmermann 1781. 30  Cook 1961, II, 8.

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einen Namen als Übersetzer von Reiseberichten und als Naturforscher gemacht hatte. Mehr als eine tatkräftige Unterstützung fand er dabei im sprachbegabten Georg Forster. „Hätte ich nicht einen Sohn von 17 Jahren der mir mit Uebersetzungen an die Hand ginge“, so konzediert Forster seinem Freund, dem Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis, „könte ich unmöglich alle die Arbeit bestreiten.“31 Wie Ludwig Uhlig in seiner kenntnisreichen Biographie zu Georg Forster herausstellt, war der Sohn der eigentliche Autor der Übersetzungen ins Englische, während der Vater die Reiseberichte vor allem bezüglich der Naturgeschichte auswer- tete.32 Obwohl Johann R. Forster die klassischen Sprachen meisterlich beherrschte, so war sein Englisch doch zeitlebens eher holprig und zu Beginn seiner Karriere als Gelehrter von Germanismen gekennzeichnet. Nach einem Zwischenstopp am Kap der Guten Hoffnung und der ersten Antarktik-Passage im Winter 1772/73 erreichten beide Schiffe, allerdings getrennt voneinander, die neuseeländische Südinsel. In seinem Bordtage- buch berichtet Johann Reinhold Forster am 28. März 1773 von dem ersten Kontakt zwischen Europäern und Maori. In einer Bucht namens Indian Cove im Dusky Sound sei man auf eine Gruppe von Einheimischen in einem Kanu getroffen, die auf die Annäherungsversuche der Crew nicht reagierte und es vorzog, sich zurückzuziehen, aus Angst vor Übergriffen, wie Forster vermutete. Bei diesem ersten Zusammentreffen habe der Marine­offizier Samuel Gibson eine zentrale Rolle gespielt: „The Corporal of the Marines Gibson, who can talk the Otahaitee-Language best, which has an affinity with that of the New-Zeelanders, went on the Sprit-Sail-yard-arm. & waved a with cloth to them, calling to them hārre-māi-Tāyo i.e. come Friend […].“33 Auch ein weiteres Zusammentreffen verlief zwar friedlich, aber ohne dass man sich hätte verständigen können. Allerdings betont Forster auch hier die heraus- ragende Sprachbegabung Gibsons: „Gibson the Corporal, who is allowed to speak the Otahaite-language better than any one man in the Ship, talked with them, but they did not understand him, nor he them.“34 Die Verwandt- schaft zwischen den Sprachen der Gesellschaftsinseln, zu denen auch Tahiti gehörte, und der Sprache der Maori war schon im Zuge der ersten Cook-

31  Forster an Michaelis, 30.10.1771, SUB Göttingen, Cod. MS Michael. 322, f. 281r. 32  Vgl. Uhlig 2004, 36. 33  Forster 1982, II, 242. 34  Ebd., 250.

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Reise (1768-1771) konsta­tiert worden. Beide Sprachen werden heute in der sogenannten Tahiti-Gruppe zusammengefasst. Bereits auf der ersten Welt- umsegelung hatte der Marine­korporal Gibson Captain Cook begleitet und sich insbesondere mit der tahitianischen Sprache vertraut gemacht.35 Auf der ersten Reise hatte er sogar zusammen mit dem Marinesoldaten Clement Webb versucht, das dort errichtete Fort unbemerkt zu verlassen.36 Cook bestrafte die beiden Deserteure gemäß der Schwere ihres Verbrechens mit der Höchststrafe von jeweils 24 Peitschenhieben.37 Erstaunlicherweise nahm Cook Gibson nicht nur auf seiner zweiten Reise wieder mit, er beförderte ihn sogar zum Unteroffizier. Cook wusste Gibson offenbar als Dolmetscher zu schätzen; auch auf Cooks dritter Expedition war Gibson wieder Teil der Crew. Bei seinen Exkursionen und allen anderen Treffen mit Einheimischen habe dieser ihn, wie aus einem Tagebucheintrag vom 17. September 1773 hervorgeht, stets begleitet, da er die Sprache beherrschte.38 Noch mehr über die Rolle Gibsons erfahren wir durch den schwedischen Botaniker und Linné-Apostel Anders Sparrman, den Forster am Kap der Guten Hoffnung als naturhistorischen Assistenten eingestellt hatte und der in seiner Reisebeschreibung über die Hintergründe von Gibsons Sprach- talent berichtet:

35  Siehe dazu auch den Eintrag des Astronomen William Wales: „A Corporal of Marines who had learned something of the New-Zeeland language last Voyage asked the Man to let him have his Daughter for a Wife; but was told that it was a matter of too great moment for him to determine on before he had consulted his God.“ Zit. n. Cook 1961, II, 780. 36  Interessant hinsichtlich Gibsons Charakter ist in diesem Zusammenhang auch der Bericht des Schiffsarztes (surgeon) William B. Monkhouse, der die Episode wie folgt wiedergibt: „Clement Webb and Samuel Gibson Marines Elop’d from the Fort & can’t be heard off. Webb is a sober man & was steward of the Gunroom which Office he faithfully perform’d but being extrava- gantly fond of a young women with whom he has been connected for some time. Gibson is a wild young man & a sworn Brother to Webb he has no other reason than the pleasure of living in a fine Country without control they both had large Promises from some of the Principal men & was to have Lands & servants assighn’d [sic] them.“ Zit. n. Cook 1961, I, 562. 37  Vgl. ebd. I, 140. Die beiden Männer hielten sich bei Einheimischen versteckt. Cook griff zum Mittel der Geiselnahme einiger tahitianischer Stammesoberhäupter, um die Herausgabe der Männer zu erzwingen. Der Fluchtversuch löste eine diplomatische Krise zwischen den Europäern und den Einheimischen aus. 38  „I went one day to a marai in Matavai in company with Captain Furneaux, having along with us, as I had upon every other occasion a marin who was with me last voyage and who spoke the language tolerably well.“ Cook 1961, II, 233.

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The main speaker and interpreter on our side on this occasion was Corporal Gibson who was most skilled in the language. This was because, on Cook’s first voyage, he had deserted the ship to settle among them, but the Tahitians were forced by Captain Cook to deliver him back. This Gibson was still quite sad at this adversity of his. The people of highest rank in the country had immediately given him a house of his own and two beautiful young girls to wait on him.39 Da von Gibson keine eigenen Aufzeichnungen über das Ereignis überliefert sind, lässt sich nur schwer rekonstruieren, welche Motive ihn zum Deser- tieren verleitet hatten. Sicherlich erschien ihm die Aussicht verlockend, dem harten Dienst auf einem navy vessel zugunsten eines Aufenthalts auf der para- diesisch scheinenden Insel zu entgehen. Die Beziehungen zwischen ihm und Teilen der Bevölkerung mussten in der Tat recht eng gewesen sein, da sie ihm bis zu einem gewissen Grad Schutz gewährten. Schenkt man der Erzählung Anders Sparrmans Glauben, so waren Gibson von den Einheimischen ein Haus und gleich zwei junge Mädchen versprochen worden. Offensichtlich war es dem Marineoffizier aufgrund seiner auf der ersten Reise gesam- melten Sprachkenntnisse gelungen, das Vertrauen und die Anerkennung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen. In der Voyage heißt es weiter, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Insulaner und Insulanerinnen Gibson als Vermittler zwischen beiden Parteien schätzten. „Gibson, the marine,“ so schreibt Georg Forster über den Seemann, „[…] was now chiefly engaged in this conversation, as he understood more of the language than the rest of the crew, and was on that account greatly valued by the natives.“ (AA I, 191f.) Einigen Seeleuten – Gibson war sicher der bekannteste, aber nicht der einzige unter ihnen – kam eine bedeutsame Rolle im gegenseitigen Verstehen und dem Prozess der Produktion von kulturellen Wissensbe- ständen zu. Sie traten nicht nur als Dolmetscher und kulturelle Vermittler auf, sie teilten ihre sprachlichen Kenntnisse auch mit den mitreisenden Wissenschaftlern, die auf ihre Hilfe angewiesen waren, wollten sie ihre

39  Hanson (Hrsg.) 2007. Sparrman veröffentlichte die literarische Verarbeitung seiner Reiseerlebnisse in der Resa till Goda Hopps-Udden (1783), die allerdings auf nur knapp 20 Seiten über die Reise mit Cook berichtet. Die Reise in die Südsee verarbeitete er erst sehr viel später in der zweibändigen Resa omkring Jordklotet, I sällskap med Kapit. J. Cook och Hrr Forster. Aren 1772, 73, 74 och 1775 (1802; 1812), die erst 1944 ins Englische übersetzt wurde.

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lückenhaften Wissensbestände vervollständigen. Aus Johann Reinhold Forsters Handschrift Vocabularies of the Language spoken in the Isles of the South Sea (1774) geht hervor, dass der deutsche Gelehrte sein auf der Reise gesammeltes Sprachwissen und seine späteren sprachwissenschaftlichen Reflexionen auf mehrere Quellen stützte. Das Manuskript ist auf das Jahr 1774 datiert; Forster fertigte es also noch während der Reise an. Darin erklärt er zunächst die Gründe, warum und wie er das Südsee-Sprachen- Vokabular zusammengestellt habe:

When we came with the Resolution into the South-Sea & before that time, at the beginning of the year 1773, I thought it necessary, to learn so much of the Language spoken in the Isles, as might be possible in my circum- stances; because it was probable that we should spend a part of the winter between the tropics. Capt. Cook assisted me first with a MSt Vocabulary compiled in 1769 by the late Mr Monkhouse Surgeon of the Endeavour, which I copied. & all the words taken from there[e], I have marked with (M).40

Forsters wichtigste Quelle und gleichsam die Grundlage seiner Wort- sammlung war ein handschriftliches Vokabelheft des auf der ersten Reise verstorbenen Schiffsarztes William Brougham Monkhouse. Ihm habe das Vokabular des surgeon sorgsam zusammengestellt erschienen und „from good Authorities“, wie J. R. Forster in seinen Notizen festhält. Wer diese Autoritäten waren, darüber lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich handelte es sich um Seeleute, die auf der ersten Cook-Reise an Bord waren, sowie um lokale Informanten und Informantinnen, die Monkhouse bei der Kompilation seines Wörterbuchs geholfen hatten. Diese Wörter- sammlung, deren Orthographie er leicht abänderte, verglich Forster laut eigener Aussage mit dem Vokabular des französischen Weltumseglers Louis Antoine de Bougainville (1729-1811). Im Zuge seiner Übersetzungs­ tätigkeiten hatte Forster in den frühen 1770er Jahren dessen Voyage autour du Monde (1771) ins Englische übertragen und war deshalb mit der Reise- beschreibung des Franzosen gut vertraut.41 Bougainville hatte sich bereits zwei Jahre vor Cook im Auftrag Ludwigs XV. aufgemacht, die sagenum- wobene terra australis zu finden und bei seiner Weltumsegelung die pazifi- sche Inselwelt zu erforschen. Mit seiner Beschreibung der Insel Tahiti legte

40  J. R. Forster 1774, f. 1. 41  Vgl. Bougainville 1772.

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er den Grundstein für die über das 18. Jahrhundert hinaus andauernde­ Vorstellung der Südsee als ein Paradies auf Erden. Der zweiten Ausgabe der Reisebeschreibung (1772) war ein 600 Wörter umfassendes Vocabulaire ­ de l’Ile Taiti angehängt, das eine von Forsters Quellen war. Allerdings sei ihm dieses Vokabular nur wenig hilfreich gewesen, schränkt Forster dessen Nutzen ein. Durch die schlechte Aussprache des Tahitianers Aotooroo, der als Bougainvilles lokaler Informant fungierte und sogar mit nach Paris reiste, die französische Phonie sowie den kurzen Zeitraum, den Bougainville ­in der Südsee verbracht habe, sei das Vokabular kaum zu gebrauchen.42 Aotooroo (auch Aoutorou), ein junger Mann von den Gesellschaftsinseln, hatte Bougainville als erster Polynesier nach Europa begleitet und wurde zum Liebling der gehobenen Pariser Gesellschaft, die ihn staunend bewunderte. Tatsächlich hatte Bougainville nur knapp zwei Wochen auf Tahiti verbracht. Ob die Kritik an der schlechten Aussprache des lokalen Informanten und an der Unfähigkeit des Franzosen, die Wörter phonetisch korrekt zu Papier zu bringen, berechtigt war oder dazu diente, die Leistung des französischen Seefahrers zu schmälern, bleibt dahinge- stellt. Die dreifache Diskreditierung von Bougainvilles Vokabular und dessen Zusammenstellung diente Forster in erster Linie dazu, die Qualität des eigenen Vokabulars herauszustellen. Des Weiteren machte Forster Gebrauch von einem handschriftlichen Vokabular des Seekadetten Isaac Smith, ein Cousin Captain Cooks, der diesen auch auf seiner zweiten Reise begleitete, diesmal als master’s mate (Steuermannsmaat), sowie einem „short Vocabulary, which is excessively ill spelt, & had many r’s inserted where non were wanted“.43 Letzteres war in dem anonym publizierten Journal of im Jahr 1771 erschienen, dessen Autor vermutlich­ James Matra (oder Magra) (1748?-1806) war, ein nordamerikanischer Matrose, der an Bord von Cooks erstem Expeditionsschiff Endeavour ange- heuert hatte.44 In seinem Manuskript erwähnt Forster auch, dass er auf die

42  Vgl. J. R. Forster 1774, f. 2. 43  Ebd., f. 2f. 44  Anonym [James Matra] 1771; der vollständige Untertitel lautet: Undertaken in Pursuit of Natural Knowledge, at the Desire of the Royal Society: Containing All the Various Occurrences of the Voyage, with Descriptions of Several New Discovered Countries in the Southern Hemisphere; and Accounts of their Soil and Productions; and of Many Singularities in the Structure, Apparel, Customs, Manners, Policy, Manufactures, &c. of Their Inhabitants. To Which is Added, a Concise Vocabulary of the Language

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sprachlichen Kenntnisse des Marinekorporals Samuel Gibson zurückgriff, setzt dessen Leistung aber gleichzeitig herab:

There was a Corporal of Marines on board the Resolution whose Name is Gibson, he was thought [Hervorhebung im Original, A. M.] to speak the language better than any Body else on board the Ship. I obtained from him several Words, which I thought might be wanting in the other Vocabularies, but I soon found, that he being illiterate and unable to write or to read had forgotten many words, others he mistook and several he pronounced wrong so that I got very little service from his informations [sic], though I took uncommon pains.45

Im Gegensatz zu den Tagebucheinträgen fällt auf, dass Forster Gibsons Verdienst am gegenseitigen Verstehen der sich fremden Kulturen herunter­ spielt und in ein schlechtes Licht rückt. Während er im Tagebuch noch der Meinung war, Gibson spreche die polynesische Sprache besser als irgendjemand auf dem Schiff, heißt es hier, man hielt ihn für den besten. Darüber hinaus verweist der deutsche Gelehrte auf Gibsons vorgeblichen Analphabetismus und sein Unvermögen, die gelernten Wörter weiterzu- geben oder aufzuschreiben, weswegen es ihn nicht wenig Mühen gekostet habe, überhaupt nützliche Informationen zu erhalten. In der Tat war Gibsons Sprachverständnis begrenzt, wie auch Cooks verdrossen klingender Tagebucheintrag vom 17. September 1773 zeigt.46

of Otahitee, London 1771. Diese anonym publizierte Reisebeschreibung ist die erste Erzählung über die erste Cook-Expedition und verbreitete sich rasend schnell. Schon ein Jahr später erschien eine zweite Auflage in Dublin und es wurden Übersetzungen ins Deutsche und Französische angefertigt, die noch in den Jahren 1773, 1777, 1782 und 1793 gedruckt wurden. Matras weitere Lebensgeschichte ist äußerst interessant. Bereits an Bord der Endeavour wurde er von einem einfachen Matrosen (AB) zum midshipman befördert. Durch den Unabhängigkeitskrieg in Amerika verlor er als Anhänger der Britischen Krone sein Erbe in Nordamerika. Mithilfe seines Gönners Joseph Banks bekleidete Matra jedoch im Laufe seines weiteren Lebens verschiedene Posten im Briti- schen Kolonialdienst, etwa als Konsul auf Teneriffa (1772-1775), Botschaftssekretär in Konstantinopel (1778-1780) und sogenannter ‚Promoter of Imperial Schemes‘ (1782- 1785). Ein von ihm angestrebter Posten als Gouverneur der neuen Kolonien in New South Wales (Australien) wurde ihm verwehrt. Bis zu seinem Tod fungierte Matra als Konsul in Tangier (1787-1806). Zu James Matra siehe Frost 1995. 45 J. R. Forster 1774, f. 2f. 46  Siehe Anmerkung 3.

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Allerdings diente Forster die bewusste Herabwürdigung von Gibsons Rolle als Dolmetscher in seinem Manuskript vor allem der sozialen Hierarchi­ sierung der gemeinschaftlichen Wissensproduktion auf Weltreisen: Der vorgeblichen Inkompetenz Gibsons stellt er das eigene linguistische Vermögen gegenüber, das allein durch die Verschriftlichung der Informati- onen und seinen Status als offizieller Naturforscher der zweiten Cook-Reise an Integrität gewann. Denn auch Forsters Verständnis der polynesischen Sprachen war nur unzureichend. William Wales (1734-1798), der Astronom der Resolution, übte heftige Kritik an Forster und hielt ihm vor, dass er auf der Reise ebenso wenig verstanden habe wie die Seeleute. Wales bezog zu Beginn des Jahres 1778 in dem Pamphlet Remarks on Mr. Forster’s account of Captain Cook’s last Voyage round the World Stellung gegen Vater und Sohn Forster.47 Zentral für das Verständnis der Streitschrift ist, dass Wales Georgs Autorschaft in Zweifel zog und behauptete, der ältere Forster sei der eigent- liche Autor der Voyage. Eine spezielle Textstelle der Voyage hatte den Zorn des englischen Gelehrten auf sich gezogen. Dort ist die Rede davon, dass eines der hochsensiblen Messinstrumente während der Reise stehengeblieben sei, wodurch zahlreiche Messungen und deren Ergebnisse verfälscht worden seien. Aus der Passivkonstruktion des Satzes las Wales einen an ihn gerich- teten Vorwurf, er habe einen der Chronographen nicht ordnungsgemäß aufgezogen. Wales verteidigte sich in den Remarks nicht nur gegenüber der Anschuldigung, die Uhren angehalten zu haben, er nutzte die Streitschrift auch zu einem Rundumschlag gegen die Darstellung der Reise in Georg Forsters Voyage, die nur darauf abziele, die Mannschaft der Resolution als brutal, gewalttätig und trinksüchtig darzustellen. Wales bezog sich dabei vor allem auf solche Passagen der Reisebeschreibung, in denen Georg Forster die Trinkgelage der Matrosen, ihr brutales Verhalten gegenüber den Insu- lanern und Insulanerinnen sowie ihre sexuellen Kontakte mit den einhei- mischen Frauen anprangert.48 In seinen Remarks nahm Wales auch Bezug auf eine längere Passage der Voyage, in der Georg erklärte, wie er und sein Vater versucht hatten, dem polynesischen Religionsbegriff auf die Spur zu kommen. Ihr lokaler Informant sei ein Chief namens Tootavai gewesen. „As our departure was so near at hand“, schreibt Georg in seiner Reisebesch- reibung, „we regretted that we had not known him sooner; but my father

47  Vgl. Wales 1778. 48  Vgl. dazu Mariss 2014a, 171-196.

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determined to employ his remaining time in making enquiries on a subject so interesting as the history of religious opinions.“ (AA I, 425) Wales nahm die Erläuterungen zum Thema Religion zum Anlass, Johann Reinhold Forsters Sprachkenntnisse in Frage zu stellen und sich über das vorgebliche Sprachverständnis des Deutschen zu mokieren:

Dr. Forster tells us he met with a man, whose name was Tootavai, only the very day before he left Uliatea, who let him into the whole substance of the religion and politics of the Society Isles; he even revealed to him the natives of these islands conceive that ideas are combined into thoughts, and many other matters equally abstruse, which we do not understand, even when expressed in our own language; yet Dr. Forster understood him perfectly well, and has thereby been enabled to give us as strict and accurate an account of those matters, as he could of the religion, metaphysics, and politics of his country.49

Was die ganze Angelegenheit in Wales’ Augen noch unwahrscheinlicher machte, war der Umstand, dass der ältere Forster nur einen Tag zuvor noch auf die Dolmetscherqualitäten eines jungen midshipman zurückgreifen musste, um einem Gerücht nachzugehen, das auf der Insel kursierte. Der Seekadett habe laut Wales in mehreren Situationen als Dolmetscher fungiert, weshalb die InsulanerInnen sich an ihn wendeten, wollten sie den Europäern etwas verständlich machen, was der ältere Forster nicht verstanden habe.50 Wales spielt hier auf eine Begebenheit an, die sich am 3. Juni 1774 auf der Insel Raiatea (polynesisch Havai’i) ereignete. Der Crew der Resolution war zu Ohren gekommen, dass zwei Schiffe auf der Nachbarinsel Huahine ankerten. Da man hoffte, es handele sich um die Adventure, die man im November 1773 während eines heftigen Sturms

49  Wales 1778, 63. 50  Vgl. ebd., 62. „[A]nd what renders it yet more remarkable is, that Captain Cook, the very day before, after having had all the assistance that the Doctor could give him in interpreting the intelligence which was brought from Uaheine, concerning the two ships, which were supposed to be arrived there, was obliged to call in the help of a young gentleman, a midshipman, and who, notwithstanding what the Doctor has been pleased to say of himself, understood the language of these islands much better than the Doctor, as is evident from the natives often applying to the boy, when they wanted to explain a thing, which they had not been able to make the Doctor understand; […] such much easier is it to understand religious ceremonies, and metaphysical distinctions, than a narrative of facts!“

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verloren hatte, gingen James Cook und Johann Reinhold Forster der Sache auf den Grund, indem sie mit Hilfe des jungen midshipman einen Insulaner befragten, der die Schiffe gesehen haben sollte. Die Geschichte stellte sich aber als unglaubwürdig heraus und Forster vermutete in seinem Tagebuch, dass man sie sich seitens der lokalen Bevölkerung ausgedacht habe, „to keep us longer here, & enjoy the trade.“51 Forster verschweigt an dieser Stelle, dass er und Cook offenbar von einem Dolmetscher assistiert wurden. Es ist möglich, dass es sich dabei um William Harvey handelte, da dieser Cook bereits auf der ersten Reise begleitet hatte.52 Auch Cook erwähnt diesen Dolmetscher in seinem Tagebuch nicht, verweist allerdings auf einen lokalen Informanten von „Mr. F.“, wie Cook den älteren Forster in seinem Tagebuch nannte, der das Gerücht als Lüge entlarvte.53 Wales’ Kritik an Forsters Unvermögen, die polynesischen Sprachen bzw. Dialekte zu verstehen, fällt harsch aus, scheint aber nicht ganz unbegründet zu sein. Kurz vor der Abreise von Tonga notierte Forster alle gesammelten Informationen über das Leben und die Kultur der Insel in seinem Bord- tagebuch. Gleichzeitig befürchtete er, seine Informationen seien wertlos, da er nur wenig von der Sprache verstanden habe und mit dem Sammeln von Pflanzen- und Tierspezimen beschäftigt gewesen sei. „All what I could collect in a hurry & what my Memory would supply me with, I have penned down, without any order or plan,“54 so vertraut Forster seinem Tagebuch an. Während in Johann R. Forsters Resolution Journal noch die Verzweif- lung darüber laut wird, zu wenig von der Kultur Polynesiens zu verstehen und vorrangig mit dem Sammeln von brauchbaren Informationen und naturhistorischem Material beschäftigt zu sein, schimmert davon kaum etwas in der offiziellen Reiseerzählung durch. Stattdessen wird Kritik an denjenigen­ geübt, die in den Augen der Forsters nicht dazu beitrugen, Wissen über die fremde Kultur zu produzieren. So bemängelt Georg Forster in der Voyage das Unvermögen eines Seekadetten, der auf Tahiti einer Hochzeitszeremonie beigewohnt hatte, das von ihm beobachtete­ Geschehen wiedergeben zu können:

51  Forster 1982, III, 527. 52  An Bord der Resolution befanden sich sechs Seekadetten: , William Harvey, Isaac Manley, Thomas Willis, Joseph Price und Charles Loggie. 53  Vgl. Cook 1961, II, 425. 54  Forster 1982, III, 404.

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We learnt about this time that Mahine had married the daughter of Toperree, a chief of Matavaï. A midshipman acquainted us that he had been present on the occasion, and that he had seen a number of ceremonies performed: but being intreated to give the particulars, he said, that though they were extremely curious, he could not remember one of them, and did not know how to relate them. By this means we lost the opportunity­ of making a considerable discovery, in regard to the customs of these islanders­. It is pity that no intelligent observer was present, who might at least have related what he had seen. (AA I, 393)

Dem jungen Seekadetten fehlten buchstäblich die Worte, um die ihm so merkwürdig und kurios erscheinenden Praktiken während der Zeremonie überhaupt in seiner eigener Sprache zu artikulieren. Eine ähnlich harsche Kritik übt auch der ältere Forster in seinen Observations, in denen er beklagt, dass „[p]ersons of little curiosity with a slender knowledge of the language, were certainly not the best qualified for enquiring into the reason and signifi- cation of any transactions or ceremony“55. Ein anderer Matrose namens John Marra, der an Bord der Resolution als gunner’s mate (Kanoniersmaat) mitse- gelte, widerlegt jedoch das von Forster aufgerufene Stereotyp des einfältigen Matrosen. Marra hatte während Cooks erster Reise im Jahr 1770 an Bord der Endeavour angeheuert, als diese vor Batavia (heute Jakarta) vor Anker lag, nachdem er von einem holländischen Schiff der Niederländischen Ostindien- Kompanie (VOC) desertiert war. Obwohl die Holländer das Besatzungsmit- glied zurückforderten, behielt Captain Cook ihn aus Mangel an Arbeitskräften an Bord, da einige der Seeleute in Batavia einem Tropenfieber erlegen waren. Vermutlich stammte der Matrose aus Dänemark und hieß Jan Marre, Cook gab ihm jedoch kurzerhand eine neue Identität als „John Marra, a young Irishman of Cork“.56 Der Überläufer hatte es nicht nur geschafft, sich selbst an Bord der Endeavour zu schmuggeln, ihm war es auf der zweiten Reise auch gelungen, sein Tagebuch an Cook vorbeizuschleusen, der vor Ankunft des Schiffes am Kap der Guten Hoffnung alle Aufzeichnungen außer diejenigen der Zivilisten einsammelte. Marras anonym publizierte Reisebeschreibung Journal of the Resolution’s Voyage erschien schon Ende 1775 und war damit die erste, wenn auch unautorisierte Beschreibung der zweiten Cook-Reise, die aufgrund der großen Nachfrage 1776 ins Deutsche und ein Jahr später ins

55  Forster 1996, 333. 56  Zu John Marra siehe Ryan 2001, 89-95.

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Französische übersetzt wurde – zum Ärger von Johann Reinhold Forster. „Ein elender Irischer Matros (John Marra), schrieb das elende Zeug“ (AA XIII, 550), entrüstet er sich ob der anonymen Publikation der Reisebeschreibung in einem Brief an den Verleger und Freund der Familie Johann Karl Philipp Spener vom 22. Dezember 1775. In seinem Journal stellt Marra verschiedentlich treffende ethnographische­ Beobachtungen über die Bräuche der polynesischen Völker an wie das Tätowieren oder andere kulturelle Ausdrucksformen wie Tanz und Theater. Bezüglich des polynesischen Brauches, dass Männer und Frauen getrennt voneinander aßen, konstatiert er etwa:

Their custom in eating, are very singular, and they certainly entertain some superstitious notions not easily discoverable by strangers. The women­ are not permitted to eat with the men; not, as it should seem, to mark their inferiority­, but in conformity to a custom which habit has established­ into a law.57

Im Unterschied zu anderen Reisenden, die Aufzeichnungen hinterließen, interpretiert Marra die Trennung der Geschlechter nicht als Zeichen einer ‚Unterdrückung‘ von Frauen, sondern erkennt einen wenngleich abergläubischen ‚Brauch‘ dahinter, der zu einer Art Gesetz geworden sei. Schon auf der ersten Reise hatte sich der Naturforscher Joseph Banks in seinem Endeavour Journal über die seltsame Sitte der Polynesier gewundert, getrennt nach Geschlecht zu speisen:

What can be the motive for so unsocial a custom I cannot in any shape guess, especialy as they are a people in every other instance fond of society and very much so of their women. I have often askd the reason of them but they have as often evaded the question or given me no other answer but that they did it because it was right, and expressd much disgust when I told them that in England men and women eat together and the same victuals; they however constantly affirm that it does not proceed from any supersti- tious motive, Eatua [hier: Gott, A. M.] they say has nothing to do with it.58

Das nach Geschlechtern getrennte Essen erschien Banks sowie dem Großteil der europäischen Berichterstatter als unsozial und ungerecht Frauen gegenüber, war doch das gemeinsame Verzehren von Speisen und Getränken

57  Anon. [John Marra] 1775, 201. 58  Banks 1972, I, 348.

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in Europa ein bedeutsamer soziokultureller Akt, geprägt von christlichen Traditionen; die Bibel ist durchzogen von Hinweisen auf Tischgemein- schaften, angefangen vom Abendmahl bis zu der Speisung der Fünftausend. Die Mahlgemeinschaft zu verweigern oder sie nach den Geschlechtern zu trennen, widersprach damit zutiefst europäisch-christlichen Vorstellungen von Gemeinschaft und Soziabilität beim Essen. Insbesondere im 18. Jahr- hundert, dem Zeitalter der Geselligkeit – auch unter den Geschlechtern –, musste die polynesische Essenspraktik Empörung unter den reisenden Aufklärern hervorrufen, die in dem Ausschluss von Frauen vom Essen eine soziale Ungerechtigkeit sahen. Was die Reisenden der ersten und zweiten Cook-Reise noch nicht in Worte fassen konnten, war das tapu, ein im pazi- fischen Raum weit verbreitetes kulturelles Konzept (auf Hawaii ist es das kapu), das von Captain Cook während seiner dritten Reise in den Pazifik (1776-1780) als ‚Taboo‘ beschrieben wurde und so Eingang in die europäi- sche Moderne fand.59 Das polynesische ‚Essenstabu‘, nach dem Frauen und Männer sowie rangniedrige und ranghohe soziale Gruppen – je nach ihrem Grad von ‚Heiligkeit‘ (oder auch Macht bzw. mana) – getrennt voneinander aßen, verdeutlicht nur eine Facette dieses komplexen Regelwerkes, von dem die Europäer kaum etwas oder nur sehr wenig verstanden. Nicht selten kam es vor, dass sie das tapu der fremden Völker wissentlich oder unbewusst brachen. So berichtet Banks davon, wie der Schiffsarzt Monkhouse auf der ersten Reise auf Neuseeland ein Haarbüschel „enough to have made a sizeable wig“ aus einer leer stehenden Maori-Behausung entwendet habe. Vermutlich hatte Monkhouse großes Glück, dass er bei seinem Beutezug nicht von Maori entdeckt wurde, denn abgeschnittene Haare galten in bestimmen religiösen Kontexten, wie z. B. in Trauerzeremonien, als heilig und unantastbar. Eine Verletzung des tapu konnte zu gewalttätigen Konflikten führen. Monkouse wusste offenbar zumindest von der religiösen Bedeutung der Stätte und ihrer Opfergaben und brach deren Sakralität bewusst, um an die begehrte Kuriosität zu gelangen.60

59  Siehe zuletzt aus kulturhistorischer Perspektive Przyrembel 2011. 60  „Mr Monkhouse told me today that the day before yesterday he was ashore in a place where were many Indian houses deserted: here he saw several things tied up to the branches of trees, particularly hair of a man which he brought away with him, enough to have made a sizeable wig. This indued him to think the place he had seen was a place consecrated to religious purposes.“ Banks 1972, I, 458.

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Aus wissenshistorischer Sicht geht es nicht darum zu entscheiden, wer nun mehr oder weniger von den Bräuchen, Sitten und Kulten verstand. Dies ist für die gestellte Frage nach den Mechanismen der Wissensproduktion auch gar nicht relevant. Die hier diskutierten Quellen verweisen nicht nur auf unterschiedliche Wahrnehmung des auf der Reise Erlebten, sie machen auch sichtbar, dass die Produktion von Wissen auf Weltreisen ein Prozess war, der sich durch vielfältige Abgrenzungsmechanismen kennzeichnet. In diesem historischen Fallbeispiel sind es trianguläre Grenzziehungen­ zwischen dem Gelehrtenwissen der Forsters, dem auf Erfahrung beru- henden Wissen der Seeleute sowie dem Wissen lokaler InformantInnen­. Zwar wurde der Anteil der Seeleute an der Verständigung nicht schlichtweg geleugnet – weder in den unveröffentlichten Manuskripten, noch in der publizierten Reisebeschreibung –, dennoch sind deutliche Grenzziehungen zu erkennen, durch die das Wissen der Seeleute in einem doppelten Sinne herabgesetzt wurde: in Bezug auf das ‚Gelehrtenwissen‘ einerseits und das Wissen der lokalen InformantInnen andererseits. Hinsichtlich der Weltreise und der durch sie entstehenden ‚contact zones‘, in denen interkulturelle Wissensproduktionen stattfanden, gilt es zu beachten, dass sowohl kulturelle bzw. ethnische Differenzen als auch soziale Unter- schiede der Wissensakteure und -akteurinnen die Glaubwürdigkeit des jeweils produzierten Wissens beeinflussten. Ich komme noch einmal zurück zu Forsters Vocabularies of the Language spoken in the Isles of the South Sea, um diesen Punkt zu erläutern. Am Ende seiner Erklärung zur Kompilation des Vokabulars verweist Forster auf seinen Hauptinformanten, einen jungen Mann namens Maheine, der eigentlich Ohedidee oder Hititi hieß und von der Insel Bora Bora stammte. Dessen Rolle als ‚Beiträger‘ zu seinem polyne- sischen Wörterbuch stellt Forster besonders prägnant heraus:

[N]othing contributed so much towards making my Collection really useful & accurate, than the Informations [sic] I got from a young Native of Bolabola named Mahaine or Oe-diddee, who came from Uriadea [Raiatea, A. M.] with us; & with this Youth, who is a Relation of Opùnee, the great Chief of Bolabola, I collated all the words of my Collections, corrected their pronunciation, settled their true Signification, & added an infinite number of words to the whole.61

61  J. R. Forster 1774, f. 4.

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In Hinblick auf die von Johann Reinhold Forster in seinem Manuskript vorgenommene Grenzziehung zwischen den unterschiedlichen Wissens- beständen und deren Wertigkeit fällt auf, dass er Ohedidees Leistung gegenüber der von Gibson als Dolmetscher und Übersetzung nicht diskre- ditiert. Ganz im Gegenteil: Er betont diese sogar als fundamentalen Bestandteil seines Wissenserwerbs während der Reise. Indem er ihn zu einem Abkömmling der polynesischen Aristokratie erklärte, wies Forster Ohedidee als lokalem Wissensakteur apriori Autorität und Integrität zu. Sein sozialer Stand als Verwandter des Häuptlings Pune schien ihm die Verlässlichkeit und Qualität seiner Informationen zu garantieren.62 Ganze neun Monate konnten Vater und Sohn Forster von dem jungen Ohedidee während der Fahrt kreuz und quer durch den Pazifik und die Antarktik profitieren, bevor die Crew ihn am 4. Juni 1774 wieder auf der Insel Raiatea absetzte. Während der langen Stunden an Bord, als die Resolution im Dezember 1773 in antarktische Gewässer vorstieß, kam es immer wieder zu möglicherweise pantomimischen Gesprächen, in denen die Forsters versuchten, die empirisch nur schwer zugänglichen Informationen über Bräuche und Sitten oder die Religion Polynesiens zu erfragen. So berichtet Forster von einer Unterhaltung mit dem polynesischen Reisenden über die religiöse bzw. spirituelle Organisation auf den Gesellschaftsinseln:

Yesterday-night when we were talking over various matters with Mahaine the young Bola-bolaman he said that each Aree-dehy had a Tahoùwa or Priest, who prayed (epoòra) to the Skies or heaven (no te rāi), & then the Eatoòā [Gott, A. M.] came down on the Marai invisibly, for though there were Men, they did not see the Divinity, & the Priest directed his thoughts to him (pāròu no te òboo), the words of the belly, which in my Opinion proves plainly that there is some Priest-craft in their religious worship, for he said the Priest talked with the Eatoòa but no body saw him, & no body heard him.63

Der Tagebucheintrag verweist nicht nur darauf, wie schwierig sich der Wissenserwerb in abstrakten Fragen gestaltete, sondern zeigt auch, welchen

62  Bei dem ersten Kontakt mit Ohedidee hatte sich Forster noch skeptisch ob dessen Selbstauskunft als Sprössling einer polynesischen Dynastie gezeigt: „A young Fellow called Ohe dèede, & who pretends that Opunee is his relation, came with us out“. Forster 1982, II, 370. 63  Ebd. III, 435.

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zentralen Stellenwert der Bereich Religion für die Erforschung und Bewertung fremder Kulturen einnahm. Die Beantwortung der Frage, ob die fremden Gesellschaften im Pazifik über religiöse Strukturen, d. h. also religiöse Institutionen und Praktiken und Glaubensgrundsätze, verfügten oder noch in einem ‚barbarischen‘ Urzustand verhaftet waren, war maßgeb- lich für die Einordnung und Hierarchisierung eben dieser Völker innerhalb des Menschheitsgeschichte. Beherrschte man die fremde Sprache nicht, blieben tiefere Einblicke in die Kultur und Lebensweisen der Pazifikvölker verwehrt. Darüber hinaus verdeutlichen die hier diskutierten Quellenaus- schnitte, dass lokalen Informanten – vor allem wenn sie über einen gewissen sozialen Rang und Ansehen in ihrer Gesellschaft verfügten – eine zentrale Rolle im Bereich der Wissensproduktion zugesprochen wurde. Auch in seinen Observations nimmt Forster Bezug auf den Anteil der Einwohner am sprachlichen Wissenserwerb, während die Seeleute als Dolmetscher keinerlei Erwähnung finden.64 Im Gegensatz zu den Seeleuten wurden herausragende polynesische Persönlichkeiten wie Ohedidee oder auch der Gelehrte und Seefahrer Tupaia, der auf Cooks erster Expedition an Bord der Endeavour mitreiste, als wertvolle InformantInnen wahrgenommen. Michael Harbsmeier hat in Bezug auf die Beziehung zwischen den Forsters und Ohedidee den Begriff der ‚Entdeckerfreundschaft‘ geprägt.65 Ähnlich argumentiert Vanessa Smith, die Freundschaftsbeziehungen zwischen Banks und Tupaia sowie dem nach Europa gereisten Polynesier Mai erkennt, der einige Zeit bei Banks in dessen Londoner Haus am Soho Square zu Gast war und als fleischgewordener ‚edler Wilder‘ für Furore in der High Society sorgte.66 Sicherlich ist der Begriff zutreffend, bedenkt man dabei, dass es sich um ein sehr zweischneidiges Ideal handelte. Ähnlich wie in der euro- päischen Gelehrtenrepublik diente die ‚nützliche Freundschaft‘ in inter- kulturellen Kontexten dazu, Gleichheit unter Ungleichen herzustellen und den intellektuellen und kulturellen Austausch zu fördern, wobei aber sozio-

64  „The Language of the Society-isles was better understood by us than any other, because we had made so considerable a stay among them, and had an opportunity of making use of the vocabularies collected in former voyages, and of conversing with the natives whom we had on board; the other dialects were only imperfectly understood.“ Forster 1996, 249. 65  Harbsmeier 1991, 150-178. 66  Vgl. Smith 2009, 139-160.

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kulturelle Grenzen durchaus gewahrt werden sollten.67 Zwar sprach man im Zuge der Aufklärung von der Gleichheit aller Menschen, indem man von einem an­thropologischen Standpunkt aus eine Einheit des Menschen- geschlechts postulierte, gleichzeitig zog man dieses egalitäre Konzept wieder in eine Schieflage: Der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen setzte man die Ungleichzeitigkeit der jeweiligen Entwicklung eines Volkes gegenüber. ‚Zeitreisen‘ in die eigene europäische Vergangenheit, die man meinte in den Antipoden entdeckt zu haben, waren damit realisierbar. Während sich die Europäer auf einer bereits weiter entwickelten Stufe dieses Prozesses befänden, verharrten ‚naturnahe‘ Völker in dieser Konzeption auf einer weniger weit fortgeschrittenen Entwicklungsstufe, wobei auch hier zwischen noch ‚barbarischen‘ und weiter zivilisierten Völkern unter- schieden wurde. So wussten die Forsters ihren Freund Ohedidee als Infor- manten und Gesprächspartner zu schätzen, verfielen aber gleichzeitig immer wieder in paternalistische Muster, wenn sie sein Verhalten und sein Wissen beschrieben. So heißt es in Georg Forsters Voyage über sein Verständnis von Schnee, den er in der Antarktis zum ersten Mal zu Gesicht bekam:

Our friend Mahine had already expressed his surprize at several little snow and hail showers on the preceding days, this phænomenon being utterly unknown in his country. The appearance of ‚white stones,‘ which melted in his hand, was altogether miraculous in his eyes, and though we endeavoured to explain to him that cold was the cause of their formation, yet I believe his ideas on that subject were never very clear. (AA I, 304)

Die Wiedergabe der wörtlichen Rede unterstreicht Ohedidees ‚naives‘ Verständnis des ihm unbekannten Naturschauspiels, das ihm trotz aller Erklärungsversuche seitens der Forsters ‚unklar‘ geblieben sei. Georg deklariert das Erstaunen des Polynesiers über den Schnee als eine Art von ‚Wunderglauben‘, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, konnten doch die Europäer selbst über Wunder in der Natur staunen – solange dies der Lobpreisung von Gottes Wunderwerken diente und nicht aus einem vorgeb- lichen Unverständnis resultierte. Als Johann R. Forster sich beispielsweise in seinem Bordtagebuch über die zu seiner Zeit noch unerforschte Biolumines- zenz wunderte, versank er angesichts dieses unglaublichen Naturwunders in einem Gefühl der entzückten Ehrfurcht vor Gott, das es ihm fast unmöglich

67  Zum Konzept der ‚nützlichen Freundschaft‘ siehe von Haller 1999.

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mache, das wundersame Naturphänomen exakt zu beschreiben und ihm ähnlich wie dem Matrosen, der bei der polynesischen­ Heiratszeremonie anwesend war, die Worte fehlten, um das ihm so wundersam erscheinende Spektakel wiederzugeben.68

III Fazit

Mehrere Aspekte stechen hervor, schauen wir auf die Praktiken sprachli- cher Wissensproduktion auf der zweiten Cook-Reise. Zum einen konnte Johann Reinhold Forster vor und im Lauf der Reise auf bereits vorhan- dene Datensätze, vor allem handschriftliche Manuskripte vorherge- hender Reisen, zurückgreifen, um Erkenntnis über die fremden Sprachen zu generieren. Zum anderen spielte bei der kulturellen Vermittlung und dem sprachlichen Verständnis der fremden Kulturen der Marinekor- poral Samuel Gibson eine tragende Rolle. Es ist zu vermuten, dass weitere Matrosen und Soldaten, die die Südsee bereits mit Captain Wallis oder mit Captain Cook bereist hatten, an diesem Prozess beteiligt waren, ohne namentlich erwähnt zu werden. Schließlich fungierte der junge Insulaner Ohedidee, der die Crew der Resolution zeitweise begleitete, als eine von Forsters wichtigsten Quellen zur Kompilation und Systematisierung seiner ethno-linguistischen Beobachtungen. Die reisenden Wissenschaftler griffen damit auf ein Konglomerat an Wissen zurück, was der Vorstellung eines methodologischen Solipsismus diametral gegenübersteht. An dem kollektiven Prozess der Erkenntnisgenerierung hatten nicht nur lokale Akteure und Akteurinnen teil, die nur in den wenigsten Fällen explizit Eingang in die Aufzeichnungen der Europäer fanden, sondern auch die europäischen Seeleute selbst, die den Gelehrten bei ihrer Arbeit assis- tierten. Dass die Rolle dieser sozialen Gruppe bislang wenig in den Fokus

68  „This I am sensible, was a light of the phosphorescent kind arising from Animalcules [zeitgenössischer Terminus für Kleinstlebewesen, A. M.]: The thought of seeing the Surface of the great Ocean, covered for a good distance, with myriads of Animalcules who have life, intestines, locomotive power, a power to shine in the dark, whenever they pleased & to lay aside again that phosphorescence & to illuminate every body stirring in the water, is such a wonder, as can more easily fill the mind with awe, than it is in my power to describe justly & properly.“ Forster 1982, I, 181f.

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der Forschung geraten ist, liegt vermutlich nicht allein an der schwierigen Quellenlage, sondern auch an der negativen Bewertung dieser Wissensbe- stände, die sich bis in die heutige Zeit zieht. Für weitere Forschungen zu transkulturellen Situationen des encounter sind Seeleute, in höherem Maße als bislang geschehen, als Akteure von Wissen zu beachten. Zudem gilt es festzuhalten, dass Forster das gesammelte Wissen nicht nur nach kulturellen Maßstäben hierarchisierte. Auch der soziale Rang bzw. die Herkunft seines Informanten spielte in der Bewertung von Wissen eine fundamentale Rolle. Die Integrität eines Informanten speiste sich im 18. Jahrhundert nicht allein aus seiner gemeinsamen europäischen Herkunft bzw. Ethnizität. Auch Faktoren wie die Fähigkeit zu Mitgefühl und die Feinheit der Sinne qualifizierten einen Informanten als wertvoll. In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf das eingangs beschriebene ‚Kannibalismus-Experiment‘ in Neuseeland zu sprechen: Während die einen, deren Sinne abgestumpft seien, so Forster, über das Spektakel in Gelächter ausbrachen, hätten sich die anderen so heftig übergeben, als ob sie Brechwurzel eingenommen hätten. Wiederum andere stimmte die Vorstellung nachdenklich (unter letztere zählte sich Forster vermutlich selbst). Die edelste aller Reaktionen habe kein Europäer, sondern der poly- nesische Mitreisende aus Bora Bora gezeigt:

But among all these Europeans there was the only young Bolabola Man Mahaine or Oi-diddy whose tender soul was so much struck with horror­ that he hardly could see the cruel Scene, & went immediately into the Cabbin ­& shed a flood of tears. A proof that all our artificial Education, our boasted civilization, our parade of humanity & Social virtues, was in this case outdone by the tender tears & feelings of the innocent, goodnatured­ boy, who was born under the benign influence of the Sun within the Tropics­, had the Education suitable to a Man of Quality in his country, where it seems cruelty & ferociousness have not so much gained ground, as to destroy the principles of humanity.69 Forster stilisiert Ohedidee zu einem Kind der Natur („boy“), dessen Unschuld und Naturhaftigkeit noch nicht zu einem Abstumpfen der Sinne und einer allgemeinen Verderbtheit geführt hätten, wie er sie, entspre- chend der zeitgenössischen Kritik, den Europäern zuweist. Abgesehen von dieser für die Aufklärung so bezeichnenden Stereotypisierung spricht

69  Forster 1982, III, 427.

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Forster Ohedidee, von dessen Herkunft er im Prinzip nur wenig wusste, allein aufgrund seiner emotionalen Reaktion nicht nur eine gefühlsmäßige Überlegenheit, sondern auch eine gewisse Bildung zu, auch wenn er diese Feststellung gleichzeitig wieder relativiert („in his country“). Es bleibt festzuhalten, dass die reisenden Gelehrten nicht von einem vermeintlich homogenen ‚europäischen‘ Wissen ausgingen, das das ‚lokale‘ Wissen schlichtweg übertraf, sondern soziokulturelle Grenzziehungen vorgenommen wurden, die eben nicht immer zugunsten der Europäer ausfielen. So wurde Ohedidee als Wissensträger und Gesprächspartner von Forster höher bewertet als die sprachliche Expertise des Seemannes Gibson, dessen soziale Herkunft und Illiteralität – obwohl zum Offizier aufgestiegen – seine Kompetenz für Forster fragwürdig erschienen ließen. Wie gezeigt werden konnte, wurden einige der lokalen (männlichen) Akteure als ebenbürtige Gesprächspartner wahrgenommen, obgleich die Beziehung zu ihnen in einem patriarchal gedachten anthropologi- schen Entwicklungsmodell konzeptualisiert wurde, an dessen Spitze die Europäer standen. Dieses Konzept von ‚Entdeckerfreundschaft‘ idealisierte die Beziehung zwischen ‚Entdeckern‘ und ‚Entdeckten‘ und verschleierte sie als ein auf Gleichheit basierendes Verhältnis. Schaut man auf Prozesse von Wissensgenerierung in globalen Kontexten, gilt es also, nicht nur von einer Interaktion und Kollaboration zwischen Europäern und lokalen Akteuren und Akteurinnen auszugehen, sondern auch die europäische Gemeinschaft in Hinblick auf die unterschiedlichen mit ihnen auf Reisen gehenden Wissensbestände und die damit verknüpfte agency differenziert zu betrachten. Innerhalb globaler Kontexte und aus einer transkulturellen Perspektive betrachtet, wird damit die Bedeutung von Grenzziehungen zwischen Wissen und Nicht-Wissen nicht nur bei der Frage relevant, inwiefern lokalen Wissenssystemen eine eigenständige Wissenschaftlich- keit ab- oder zugesprochen wurde, sondern auch, wie innerhalb eines euro- päischen Gesellschaftssystems soziale Faktoren wie Herkunft, Stand und Bildung dazu beitrugen, Wissen herzustellen und zu legitimieren.

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allekurztitelraus.indd 78 06.06.2014 10:36:48 Reinhard M. Möller Die Feuerland-Episode in Forsters Reise um die Welt im Kontext einer anekdotischen Poetik der Interkulturalität

Forsters Reise um die Welt präsentiert bekanntlich zahlreiche Szenen des „Erstkontakts“1 und hierauf folgender interkultureller Begegnungs- und Auseinandersetzungsprozesse zwischen europäischen Reisenden und indigenen Kulturen in verschiedenen komplexen Verlaufsformen, die von der idyllischen Beschreibung der Insel Tahiti bis zu den von Konflikten begleiteten Aufenthalten auf der Insel Tanna, in Dusky Bay oder in Charlotten-Sund reichen. Eine deutliche Sonderstellung unter diesen Begegnungsszenen­ nimmt jedoch der zum Ende des Reiseberichts darge- stellte Aufenthalt auf der Insel Tierra del Fuego an der äußersten Südspitze Südamerikas im Rahmen der Rückreise der Resolution nach Europa ein: sowohl in ästhetischer Hinsicht als auch mit Blick auf ihre kulturtheoreti- schen Implikationen, die mit den in anderen Passagen der Reisebeschrei- bung präsentierten Strategien und Verlaufsformen einer Poetik der Inter- kulturalität nur schwer vereinbar erscheinen. In den verschiedenen in der Reise um die Welt präsentierten interkulturellen­ Begegnungsszenen zwischen Reisenden und Einheimischen lässt sich beob- achten, dass die im Moment der Ankunft dominierenden positiven oder negativen Konnotationen in vielen Fällen im weiteren Verlauf des darge- stellten Begegnungsprozesses in ihr positives oder negatives Gegenteil verkehrt oder – im Einklang mit dem in der Vorrede entworfenen ästhe- tisch-poetologischen Programm einer philosophischen Reisebeschrei- bung im Zeichen eines perspektivistischen Wahrnehmungsmodells der „gefärbten Gläser“ – retrospektiv mit alternativen Sichtweisen konfrontiert werden, die zu ihrer Relativierung führen. Deutlich wird somit der prozes- suale, performative und ergebnisoffene Charakter solcher Erstkontakt­ szenen, in deren „situativen Praktiken“ sich nach Klaus Scherpe oftmals

1  Vgl. Scherpe 2000.

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zuallererst eine „beunruhigende, wenn nicht katastrophische kulturelle Differenz“2 manifestiert, die jedoch gleichzeitig, wie Forsters Reisebe- schreibung vor Augen führt, im Rahmen sich anschließender dynamischer Aushandlungs­praktiken mehr oder weniger weitgehend abgebaut werden oder aber sich vergrößern kann. Fast immer jedoch werden in der Perspektive des Erzählers der Reise um die Welt die erzählten Begegnungsszenen durch ein wechselseitiges unmittel­bares Interesse der europäischen Reisenden und der ‚bereisten‘ Einheimischen charakterisiert und die Fremdheitserfahrung der Erst- begegnung so als Herausforderung zur Entdeckung und Erschließung des jeweiligen Anderen begriffen. Diese muss allerdings gerade nicht im Sinne eines kolonialen Schemas in der mühelosen oder gewaltsamen Aneignung des Fremden bestehen, sondern läuft auf komplexe Aushand- lungsprozesse zwischen Differenz und Verständigung hinaus, die in Forsters Reisebeschreibung in unterschiedlichsten Verläufen narrativ inszeniert werden. Aufschlussreich erscheint für die qualitative Differen- zierung verschiedener Stufen eines solchen Verständigungsprozesses die Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden erfahrener Fremdheit, wie sie Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie und Kulturphi- losophie des Fremden als Erfahrungskategorie vorgeschlagen hat. Auf der Grundlage einer im Moment der Erstbegegnung auf beiden Seiten anzutreffenden Fremdheitserfahrung, die oftmals durch Affekte wie Schock oder Staunen gekennzeichnet ist und in der aufgrund kultureller Differenz gemeinsame Maßstäbe des Verstehens, der Kommunikation und der handlungspraktischen Interaktion zunächst außer Kraft gesetzt werden, kann es im Folgenden im Rahmen der Auseinandersetzung mit den als fremd erfahrenen Phänomenen zu einer graduellen Reduktion von Fremdheit durch Interaktion und Verständigung kommen. Die genannten drei Steigerungsformen von Alterität bezeichnet Waldenfels als „alltägliche Fremdheit“, die in einem „Vertrautheitshorizont“ auftritt, als „strukturelle Fremdheit“, „die all das betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist, so etwa der fremde Festkalender, die fremde Sprache, die wir nicht verstehen, das fremde Ritual“ usw., und schließlich als „radikale Fremdheit“, die das betrifft, „was außerhalb jeder Ordnung bleibt und uns mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur

2  Ebd., 150.

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eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße ‚Interpretationsmög- lichkeit‘ [als ein ,Außer-ordentliches‘] in Frage stellen“.3 Innerhalb der „contact zone“4 der Landung selbst herrscht jedoch eine noch weitgehend opake Ambiguität und unspezifische Fremdheit, die zunächst vor allem das Bestehen von Differenz deutlich zu Tage treten lassen, bevor diese im weiteren Verlauf verringert oder eben auch vergrößert werden können.5 Insofern lassen sie sich im Anschluss an Victor Turners anthropologisches Schlüsselkonzept vor allem als eine Situation der Liminalität charakteri- sieren, in dem die Potentialität möglicher Entwicklungen noch ungemin- dert erscheint. Tatsächlich scheint aber für nahezu alle der dargestellten Begegnungsszenen speziell in Forsters Reisebeschreibung zu gelten, dass es trotz grundsätzlicher Ergebnisoffenheit nahezu unweigerlich zu einer wie auch immer prekären Verständigung zwischen den Reisenden und ihren jeweiligen Kontaktpartnern­ kommen muss und dass Alterität zumindest vorübergehend reduziert oder, wo sie tatsächlich nicht reduziert werden kann, zumindest als relational erklärbar und als solche (bedingt) verstehbar präsentiert wird. Dieses charakteristische Verlaufsmuster dargestellter Interaktionsprozesse in der Reise um die Welt weist Forsters Modell interkultureller Verständigung trotz aller skeptischer Vorbehalte als ein tendenziell­ optimistisches Modell aus, in dem kulturelle Differenz grundsätzlich als ‚operabel‘ und flexibel aushandelbar gedacht wird. Unter den verschiedenen Landungsszenen des Textes zeichnet sich nun die in quantitativer Hinsicht vergleichsweise knapp abgehandelte Szene der Ankunft und des Aufenthalts auf Tierra del Fuego gerade deshalb als besonders aus, weil ihr Ausgang in ungewöhnlichem Kontrast zu den sonst für Forsters Darstellung charakteristischen Verlaufsmodellen kultu- reller Begegnungsprozesse steht. Sie repräsentiert im Gegensatz zu diesen einen Erfahrungsprozess des negativen Staunens, in dem die ursprünglich erfahrene Fremdheit auch in weiteren Schritten nicht durch Kontexuali- sierung oder Verstehensbemühungen reduziert werden kann: Auf diese Weise verkörpert sie offenbar nicht allein „strukturelle“, d. h. in relatio- nale Zusammen­hänge einzuordnende Fremdheitserfahrung, sondern zugleich auch andere Aspekte einer „radikalen“ Alteritätserfahrung, die

3  Waldenfels 1997, 36f. 4  Pratt 1992, 4. 5  Vgl. hierzu exemplarisch May 2011.

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sich mit zentralen Strukturmomenten des zeitgenössischen ästhetischen Diskurses über Formen außerordentlicher und ‚fremder‘ Erfahrung, darunter beispielsweise mit der Kategorie des Erhabenen im Sinne von Kants dritter Kritik, assoziieren lassen. Die im Zeichen inszenierter ästhetischer Negativität, kulturhermeneutischer Inkommensurabilität und eines kulturpoetischen Pessimismus stehende Begegnungsszene im Feuerland-Kapitel verdeutlicht zudem auch im Hinblick auf die in ihr zum Ausdruck kommenden Darstellungsstrategien eine abwei- chende Variante der Verknüpfung zwischen episodischen Einzelszenen im Sinne unverarbeiteter Erfahrung und einer mehr oder weniger konsi- stenten retrospektiven Deutung des Erfahrenen und seiner Einordnung in allgemeine kulturelle Narrative und Erklärungsmodelle. Die Inszenierung der Begegnung mit Bewohnern der Insel am Christmeß-Sund stellt als Mittelpunkt des betreffenden Kapitels eine im Gesamtzusammenhang der Reisebeschreibung als atypisch vorgeführte Einzelszene mit disjunktiver Wirkung dar, weil sie den narrativen Zusammenhang dargestellter inter- kultureller Verständigungsprozesse in der Reisebeschreibung sprengt. Ihre ästhetische Funktion lässt sich in dieser Hinsicht mit einem erweiterten Begriff anekdotischer Darstellung in Beziehung setzen, den Joel Fineman und Stephen Greenblatt mit Blick auf historiographische Darstellungs- formen im methodisch-theoretischen Kontext des New Historicism ­sowie der writing history-Debatte der 1980er-Jahre als ästhetische Form der Verknüp- fung von „event und context“ profiliert haben.6 Nach Fineman verkörpert das im Rahmen einer anekdotischen­ Szene dargestellte „event“ zunächst ein inkommensurables, singulär dastehendes Element kontingenter Realität, das ein ‚Loch‘ („hole“) in den Gesamtzusammenhang eines übergeordneten, kohärenten Narrativs oder geschlosse­nen, totalisierenden Erklärungsmo- dells („whole“) zu reißen vermag und dennoch­ vielfach selbst eine signifi- kante Rolle innerhalb eines solchen kontextualisierenden Zusammenhangs übernimmt und diesen­ präfiguriert. Ein solches Modell, das von Greenblatt und Catherine Gallagher­ in einem programmatischen­ Aufsatz mit dem Anspruch eines prekären „touch of the real“7 assoziiert wird, scheint gerade

6  Fineman 1989, 49-76. 7  Gallagher/Greenblatt 2000, 20-48 u. 49-75. Zur Verbindung des Anekdotischen als Form mit Modellen des Reisens und der Reisedarstellung als kulturpoetischer Praxis vgl. auch Greenblatt 1991, 2f.

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auf die von Forsters Erzähler präsentierte Begegnungsszene am Christmeß- Sund anwendbar. Bemerkenswert erscheint beim Blick auf die interne narrative Struktur des betreffenden Kapitels der zu beobachtende Kontrast bzw. sprunghafte Steigerungs­zusammenhang zwischen der relativ ausführlichen Darstellung­ der öden und dennoch nach wie vor faszinierend wirkenden Naturland- schaft Feuerlands im Sinne einer finis terrae-Vorstellung („Derjenige Theil von Amerika, den wir jetzt vor uns hatten, sah höchst traurig aus!“8), deren Flora und Fauna zu Beginn des Kapitels noch systematisch geordnet präsentiert wird, und der für Forsters Erzähler auffallend lako- nischen, fragmentarischen und zugleich ungewöhnlich pessimistischen Darstellung­ des hier stattfindenden interkulturellen Kontaktes, der sich auch in einer weder auf enthusiastische Verlebendigung und Veranschau- lichung noch auf präzise gegenständliche Erfassung, sondern vor allem auf Wertung ausgerichteten Rhetorik der distanzierten, skizzenhaften und deutlich weniger ‚dichten‘ Beschreibung manifestiert. Somit wird in der Beschreibung der „Küste der Verwüstung (Coast of Desolation)“ (AA III, 371), die verschiedene Charakteristika einer Ästhetik des Naturerha- benen im Sinne des „Menschenfernsten“9 aufweist, zunächst eine Szenerie des noch bedingt positiv besetzten Nicht-Humanen vorgeführt, welche in schroffem Gegensatz zum an anderer Stelle wie beispielsweise im Kapitel über Tahiti artikulierten Modell der befruchtenden Korrespondenz von Naturbedingungen­ und menschlicher Zivilisation steht:

Man sieht überall nichts, als ungeheure Berge, mit schroffen, Schneebe- deckten Gipfeln! Kaum die zunächst an der See gelegnen Felsen sind davon entblößt, und auch alsdann noch von todtem, unfruchtbarem Ansehen, ohne Gras oder Gebüsch.“ (Ebd.)

Gleichzeitig jedoch scheint Forster auch hier in der Beschreibung der Landesnatur­ Tierra del Fuegos – anders jedoch als in der folgenden Darstellung der Begegnung mit ihren Einwohnern und deren Kultur – zunächst weiter an seinem grundsätzlichen Anspruch festzuhalten, „alte eingewurzelte Vorurtheile und Irrthümer“ (ebd.) zu widerlegen, indem er

8  AA III, 370. Weitere Zitate aus dem betreffenden Band der Reise um die Welt folgen dieser Ausgabe und erfolgen unter Nennung der Seitenzahl direkt im Text. 9  Vgl. zu dieser Konzeption eines ‚anorganischen Erhabenen‘ H. Böhme 1989.

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die „in der Nachbarschaft so gewaltiger Schneemassen […] gelinde Tempe- ratur der Luft“ (ebd.) hervorhebt. Während insofern die hier dargestellte Naturerfahrung ­noch die ambivalenten Züge der Unwirtlichkeit und der ästhetischen Faszi­nation trägt, werden der Zeitpunkt und die Vorausset- zungen für das Ereignis einer weiteren interkulturellen Begegnungskon- stellation nach der impliziten Wertung des Erzählers als ungünstig vorge- führt, was zur nahezu schockartigen Wirkung der folgenden Szene umso mehr beiträgt. Die zur Landung vorgesehene, zunächst nur durch das Vorkommen einer „unzählige[n] Menge von Gänsen“ (379) sowie „Meer-Schwalben“ (380) charakterisierte und für gänzlich unbewohnt gehaltene, „wenig- stens vier Meilen lang[e]“ Insel am „Christmeß-Sund“ (386), erweist sich auf den zweiten Blick überraschenderweise als besiedelt. Die Beschrei- bung des Erstkontakts verbindet dann Elemente eines tabula rasa-Modells der Kontakt­szene im Zeichen der Überraschung und des radikal Neuen wiederum mit Aspekten intertextueller Präfiguration und ästhetischer Distanz: Forster gibt vorab eine Beschreibung aus zweiter Hand in Verbin- dung mit Verweisen auf Bougainville wieder, da sich die Einwohner zuerst in seiner Abwesenheit am Schiff gezeigt hätten und auf Grundlage ihrer Beschreibung durch Besatzungs­mitglieder „als elende, arme, aber harmlose Geschöpfe“ (380) charakterisiert werden können. Auffällig erscheint beim zweiten, vom Erzähler selbst als Augenzeuge beschriebenen Kontakt, dass die üblichen Verfahren der Anbahnung von Kommunikation auf der Grundlage bestimmter Bedürfnisse der Artikulation, denen hierdurch der Status anthropologischer Quasi-Universalien zugeschrieben wird, hier in eklatanter Weise zu versagen scheinen:

[S]tatt daß alle andere Nationen in der Süd-See gemeiniglich unter lautem Jauchzen, oder wenigstens mit einem frohen Zuruf angezogen kamen, gieng bey diesen hier alles in der tiefsten Stille zu, und sogar dicht am Schiffe, wo wir eine Anrede oder Begrüßung erwarteten, gaben sie fast keinen andern Laut von sich, als das Wort Pesseräh!“(Ebd.)­

Der Vergleich mit anderen Begegnungsszenen ergibt somit in diesem Fall bereits zu Beginn einen Eindruck negativer Singularität, da das Verhalten der Feuerländer im Moment des Erstkontakts den als universal angenommenen­ Maßstäben von Kommunikation und Verständigung einfach nicht

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entsprechen­ will. Gleichzeitig erscheint jedoch die Perspektive des Erzählers bereits in dieser Erstbegegnung im Gegensatz zu vorher beschriebenen Kontaktszenen nicht von Verständigungswillen und Offenheit, sondern viel eher vom Bemühen um einen kohärenten (negativen) Gesamteindruck geprägt. Auf diese Weise erscheint die Begegnungsszene im Vergleich kaum von Dynamik, sondern von einer atypischen Stabilität der Positionen und zugleich von einer Tendenz zur (negativen) normativen Wertung geprägt, die hier an die Stelle von genauer Beobachtung und verdichteter Beschreibung tritt. Auffällig erscheint zudem allerdings auch, dass, während hier einerseits das Modell des „first encounter“ als radikaler Fremdheit durch die insze- nierte Abwesenheit gemeinsamer Zeichen- und Kommunikationspraktiken noch radikalisiert wird, zugleich die Präfiguration des negativen Bildes durch den kontextualisierenden Bezug auf Bougainvilles Reisebericht10 deutlich gemacht wird, der „dieser Nation den Namen Pecherais beylegte“ (380), so dass der Eindruck einer verstärkten Präfigurierung, Topisierung und Fiktio- nalisierung der ‚realen‘ Kontakt­szene naheliegt. In Bougainvilles Nachfolge schreibt der Erzähler den Einwohnern der Insel zwar die stereotype Wieder- holung des einen Ausrufs „Pesseräh“ zu, meint zugleich jedoch unterschied- liche Ausdrucksqualitäten je nach Intonation wahrzunehmen („dieser ward bisweilen wie eine Liebkosung, gemeiniglich aber in einem jammernden, klagenden Ton ausgesprochen“, 382), was seiner Ansicht nach auf eine andere, jedoch in sich logische Struktur einer tonalen Sprache hinweisen könnte. Diese Überlegung wird jedoch gleich wieder durch die Kritik einer durch Lispeln „vollends unverständlich[en]“ Aussprache relativiert. Auch mit der universell gültigen Zeichensprache, „die doch sonst überall gegolten hatte, war bey diesen Leuten hier nichts auszurichten; Geberden, die der niedrigste und einfältigste Bewohner irgend einer Insel in der Südsee verstand, begriff hier der Klügste nicht“ (382f.), was den Erzähler ratlos zurücklässt. Zwar reagieren die Bewohner der Insel schließlich doch auf „vielfältiges Zuwinken“ als gestische Ausdrucksform, doch wird Forsters übliche Erwartung an eine dialogisch verlaufende Kontaktsituation wechsel- seitiger Aufmerksamkeit und gegenseitigen Interesses hier wiederum enttäuscht: „[D]och ließen sie nicht das geringste Zeichen von Freude blicken, schienen auch ganz ohne Neugierde zu seyn“ (380). Diese Kritik erscheint gerade deshalb bemerkenswert, weil hier offenbar ein bestimmtes

10  Bougainville 1972.

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für den Reisebericht charakteristisches ‚Spiegelmodell‘ der Kontaktauf- nahme bereits früh gestört wird: Im Sinne einer in anderen Kapiteln von Forsters Text angelegten impliziten Phänomenologie der Aufmerksamkeit­ scheint ansonsten das Interesse am Fremden und Unbekannten als anthropologische­ Gemeinsamkeit unterschiedlichster Kulturen gelten zu können, denen hierdurch auch ein wechselseitiges Grundinteresse an der Auseinander­setzung als notwendige Bedingung für potentiell gelingende Kommunikation miteinander gemeinsam zu sein scheint. Das Ausbleiben entsprechender Zeichen der Neugier bei den sogenannten Pesserähs scheint jedoch die universelle Gültigkeit eines solchen Modells hier zum Ende des Reiseverlaufs nachhaltig in Frage zu stellen. Zugleich lässt sich gerade die betreffende­ Szene und ihre Rolle innerhalb des Gesamttextes selbst als Allegorie für bestimmte Aspekte der Wirkung und Rezeption ‚anek- dotischer‘ Repräsentation als indirekter Darstellung auffassen: Wo keine direkte Kommunikation möglich erscheint, wird wenigstens eine Verstän- digung mit Hilfe deiktischer Zeichenpraktiken erwartet, doch auch diese scheitert, da die hierfür vorausgesetzte Neugierde als Ausgangspunkt und Möglichkeitsbedingung eines Verständigungsprozesses ausbleibt. In der weiteren Darstellung der Inselbewohner, bei denen es sich nach Anne Chapman vermutlich um das Volk der Yámana oder Yagán oder auch der Alakaluf handelt11, dominiert einerseits der Aspekt einer pejorativen Kritik der mangelnden Zivilisiertheit der Feuerländer als einer ‚unterentwickelten‘ kulturellen Gemeinschaft – der jedoch auch hier von Forster, wie Tanja van Hoorn betont, nicht „als ursprüngliche[r] ‚Stand der Natur‘“ essentialisiert, sondern „als Ergebnis einer künstlichen und gewaltförmig­ herbeigeführten sozialen Degeneration“12 durch Isolation gedeutet­ wird. Andererseits wird durch das sich hiermit überkreuzende Motiv einer empathischen Anteil- nahme an „dem tiefen Elend [...], worinn dies unglückliche Geschlecht von Menschen dahinlebt“ (381), auf der Grundlage einer aufklärerischen Ethik des Mitleids ergänzt. Deutlich dementiert werden­ in der Darstellung der Kultur der Pesserähs jedoch rousseauistische Topoi einer unverdorbenen Kultur und naturgemäßen Lebensweise „edler Wilder“13, die zumindest in

11  Vgl. Chapman 2010. 12  van Hoorn 2004, 77. 13  Vgl. zu dieser anti-rousseauistischen Positionierung in der Reise um die Welt sowie in Forsters Cook-Essay May 2011, 224-226.

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einigen Abschnitten der Reisebeschreibung wie der Darstellung Tahitis im achten Kapitel auch affirmiert zu werden scheinen­: Abgewertet wird einer- seits ihre als ‚unterentwickelt‘ und somit als naturnah im negativen Sinne eingestufte Zivilisation, andererseits scheint diese „bedauernswürdige Situation“ (ebd.) vor dem Hintergrund klimatheoretischer determinierender Gesichtspunkte in Forsters Kulturtheorie wesentlich durch eine natürliche Umgebung bedingt, die dauerhafte menschliche Besiedlung und Kultur bzw. die Anwesenheit von Menschen gerade nicht zu begünstigen, sondern eindeutig abzuweisen scheint.14 Ideen universeller Verständigung und andere aufklärungstypische Kulturkonzeptionen werden somit durch den verstö- renden ‚Posthumanismus‘ der Episode kontrastiert. Kritisch hervorgehoben wird unter anderem die Nacktheit der Bewohner als moralisch negativ konnotierte Abwesenheit von Scham, die jedoch durch die als ästhetisch unbefriedigend empfundene Bemalung des Körpers gleich- zeitig nicht einmal den Verzicht auf „Schmuck und Zierrath“ bedeutet, der als Zeichen moralischer Unverdorbenheit gegebenenfalls positiv gewertet werden könnte. Bemerkenswert erscheint dem Erzähler des Weiteren, dass auch der Tauschhandel als Medium der Kommunikation im Unterschied zu fast allen anderen auf der Reise besuchten Kulturen hier ebenfalls zu versagen scheint, da die Feuerländer „Glas-Corallen und andre Kleinig- keiten“ mit derselben „Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit“ (382) sowie „ohne alle Begierde“ (389) annehmen, mit welcher sie eigene Waren eintau- schen und somit die Wertschätzung von Objekten als über deren bloßen Gebrauchswert hinaus auch ästhetisch reizvolle Gegenstände gänzlich zu verweigern scheinen.15 Auch unbekannte, fremd und staunenswert erschei- nende Gegenstände erscheinen den Feuerländern offenbar nicht als ästhe- tisch „interessirend“­ (nach Christian Garve) oder anziehend im von Forsters Erzähler erwarteten Sinne und können insofern nicht als grundlegender Anregungsimpuls zu den von den Europäern angestrebten Kommunika- tions- und Interaktionsbemühungen dienen. Noch verstörender erscheint

14  Forster nutzt diese Beobachtung zugleich zur Kritik an abstrakten Humanitätsidealen­ durch empirische Evidenz, die auf direkter Affektion basiert: „So lange man nicht beweisen kann, daß ein Mensch, der von der Strenge der Witterung beständig unangenehme Empfindung hat, dennoch glücklich sey, so lange werde ich keinem noch so beredten Philosophen beypflichten, der das Gegentheil behauptet, weil er entweder die menschliche Natur nicht unter allen ihren Gestalten beobachtet, oder wenigstens das, was er gesehen, nicht auch gefühlt hat.“ (383-384) 15  Vgl. hierzu Agnew 2004, 188f.

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das Fehlen des vom Erzähler grundsätzlich vorausgesetzten Interesses am Erlernen der Sprache der Europäer, die dem Desinteresse am Tauschhandel und selbst am fremden, von den Europäern angebotenen Essen korrespon- diert: „[Da] auf dem Schiffe nichts ihre Neugierde oder Verlangen erregte, so war es ihnen auch gleich viel, ob wir sie verstunden, oder nicht.“ (383) Gleich auf mehreren Ebenen fehlen also die Neugierde und das an sie gekoppelte Interesse an der vergleichenden Vermittlung des Eigenen mit dem unbekannten Fremden, die als kognitive Voraussetzung für eine Annäherung auf der Ebene kommunikativer Praktiken sowie für praktischen Austausch und Interaktion gilt. Das in der Reise um die Welt insgesamt vorherrschende und in dieser Erwartung zum Ausdruck kommende Modell interkultureller Verständigung verbindet eine aristote- lische Konzeption der Neugierde als eines von der Herausforderung durch Unbekanntes und Fremdes ausgehenden epistemologischen Affekts mit der Vorstellung einer hierauf folgenden graduellen Aushandlung (und in den meisten Fällen eben einer Reduktion) von Fremdheit. Gerade in ihrem auffallenden­ Desinteresse an einer vergleichenden graduellen Aneignung des Fremden, welches als allgemein menschliches Interesse und anthro- pologische Konstante vorausgesetzt wird, erscheint das Verhalten der Feuerländer daher nachhaltig irritierend, da es das von Forsters Erzähler demonstrierte Grundprinzip der eigenen Reise- und Verstehenspraxis in einem inkommensurablen Einzelfall außer Kraft setzt. Die Einwohner Feuerlands zeigen auffallend wenig Interesse daran, ihre eigenen Maßstäbe und Gewohnheiten an denen der Europäer zu messen; somit verweigern sie sich gerade dem zentralen Impuls der curiositas, der als Motivation der eigenen Entdeckungsreise und des mit ihr verbundenen Projekts von Welterfahrung und Kulturvergleich anzusehen ist. Sie zeigen aber auch keine Aggressivität oder kriegerische Energie, um ihr Territorium gegen die europäischen Entdecker abzuschirmen oder zu verteidigen. Wer wie sie in derart radikaler Weise kein Interesse an fremden Eindringlingen zeigt, repräsentiert geradezu ein extremes Gegenbild zur Figur des reisenden europäischen Aufklärers, der sich von der Faszination des Fremden affi- zieren lässt und auf der Grundlage dieser Faszination aufbricht, um fremde Kulturen – wie im Fall Forsters – zu erforschen beziehungsweise zu kolonia­lisieren. Zugespitzt ließe sich somit sagen, dass die Verhaltensweisen der Pesserähs eine Art indirekten passiven Widerstand gegen das aufklä-

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rerische Fundament des Projekts von Reisen als einer Form empirischer Welterschließung­ auf theoretischer oder praktischer Ebene repräsentieren. Auf diese Weise lässt sich hier nach der Darstellung von Forsters Erzähler im Verhalten der Pesserähs eine Art grundsätzlicher Resistenz gegenüber allen im Gesamtzusammenhang der Reisebeschreibung gewohnten und implizit für universell gültig angenommenen Verfahren der Repräsentation und Medialität erkennen, die ansonsten sowohl auf ästhetischer als auch kultu- reller Ebene als Stimuli dialogischer Auseinandersetzung wirken­: Während ansonsten Fremdheitserfahrung und Staunen im Sinne eines aristo­telischen Modells der Neugierde in den meisten Fällen als Anstoß für wechselseitiges Interesse von Reisenden und Bereisten aneinander fungieren­ und Kommu- nikation dort, wo sprachliche Verständigung noch problematisch erscheint, durch die mediale Praxis des Tauschens­ von Gegenständen ermöglicht wird, präsentiert das Verhalten der Pesserähs­ eine Anomalie, die indirekt das in der Reise um die Welt sonst vorherrschende Strukturmodell einer inter- kulturellen Poetik des Reisens als Kulturpraxis nachhaltig in Frage stellt. Wenn Forsters Vorrede nachdrücklich betont, dass „[a]lle Völker der Erde […] gleiche Ansprüche auf meinen guten Willen­ [haben]“ (AA II, 13), gilt im impliziten Umkehrschluss zugleich, dass ein vergleichbarer ‚guter Wille‘ zur Verständigung trotz der gänzlich asymme­trischen Bedingungen der Begeg- nungssituation in ähnlicher Form auch von den Bereisten erwartet wird. Wenn insofern die Pesserähs in dieser Szene das Interesse an einer Ausein- andersetzung mit den Reisenden verweigern, inszeniert insofern Forsters Erzähler selbst ein Modell der Verweigerung und damit ex negativo auch ein Modell des möglichen Widerstands gegen die in der Vorrede theoretisch artikulierten und in zahlreichen anderen Begegnungsszenen dargestellte Konzeption einer Poetik der Interkulturalität. Somit stellt sich die Frage, ob die durch die Metapher der „gefärbten Gläser“ in Forsters Vorrede ange- sprochene Konzeption eines flexiblen Perspektivismus auch den Standpunkt einer radikalen Interesselosigkeit als Grundlage radikaler Fremdheit inte- grieren kann. Ein wesentlicher Grund für Forsters negative Darstellung und Bewertung der Feuerländer und ein Grund für die Schwierigkeit, sich ihrer Kultur verstehend anzunähern, scheint insofern die entscheidende kulturtheoretische Hinter- grundannahme der Verknüpfung von Vergleich und progressiver Entwick- lungsfähigkeit zu sein, die die Vorstellung der auf das ursprüngliche Staunen

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folgenden ‚Arbeit‘ an struktureller Fremdheit innerhalb des kulturpoetischen Modells der Reise um die Welt wesentlich prägt. Dieser Ansatz zeigt sich auch im Feuerland-Kapitel unter anderem darin, dass Forster unter Bezug auf Hawkes- worths Bericht von Cooks erster Expedition darauf verweist, „daß in Succeß- Bay die Pesserähs weit civilisirter zu nennen sind, […] als diejenigen, die in dieser Gegend wohnten“ (AA III, 383), also durch Vergleichsverfahren zunächst graduelle Differenzen voneinander abzuheben versucht. Die Forderung nach einer anregenden Relationierung des Eigenen kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wenn Forster fordert, die Einwohner des Christmeß-Sunds hätten sich durch den Vergleich zwischen Naturgegebenheiten, ihre eigenen Reaktion darauf und den Reaktionen ihrer Nachbarn dazu motivieren lassen müssen, ihre eigenen Kulturtechniken fortzuentwickeln:

Dem Thiere näher und mithin glückseliger kann aber wohl kein Mensch seyn, als derjenige, […] der unfähig ist, Begriffe mit einander zu verbinden, und seine eigne dürftige Lage mit dem glücklichern Zustande andrer zu vergleichen?“(ebd.)

Tatsächlich zeichnen sich die meisten Inszenierungen von Kulturkon- takten in der Reise um die Welt ja gerade dadurch aus, dass Forster nicht nur das grundlegende Interesse, sondern auch die Fähigkeit zur verglei- chenden Vermittlung des Eigenen und des Fremden auf beiden Seiten einer Begegnungskonstellation grundsätzlich gegeben sieht und sie damit zumindest in die Nähe einer anthropologischen Universalie rückt. Wenn insofern die Fähigkeit zum Vergleich als einer relationalen Praxis des Lernens vom Anderen im Kontext von Forsters wie auch Herders gradua- listischer Theorie kultureller Entwicklung als ein entscheidender Stimulus und als ein Kriterium für kulturellen Fortschritt gilt16, erscheint es folge- richtig, dass die nach der Einschätzung des – selbst stets in vergleichender

16  Wie Natalie Melas in ihrer postkolonialen Kritik des Vergleichs als literatur-, aber auch allgemein kulturtheoretisch wirksames Verfahren der Vermittlung von Differenz betont, erlaubt die jeweilige Einschätzung der Reichweite der Methode des Vergleichs selbst einen aufschlussreichen Vergleich zwischen verschiedenen kulturellen und zivili­satorischen Positionen gerade aufklärerischen, aber auch kolonial(istisch)en Denkens, für die die Frage der (Un-)Abschließbarkeit vergleichender Vermittlung das zentrale Unterscheidungskriterium bildet (vgl. Melas 2007, 21: „The comparative method thus both recapitulates the progress of civilization and is its highest accom- plishment […].“)

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Perspektive neu Beobachtetes mit Bekanntem verknüpfenden – Erzählers an Vergleich und Interaktion weitgehend desinteressiert scheinenden Feuerländer durchgehend als ‚unzivilisiert‘ und rückständig eingestuft werden. So zieht der Erzähler die Unfähigkeit der Bewohner der Insel, sich mit tech- nischen „Hülfsmitteln […] der Kälte zu erwähren“ (383), als einen wesentli- chen Beleg dafür heran, weshalb sich diese negativ von den in Hawkesworths Bericht von Cooks erster Expedition beschriebenen kulturell scheinbar weiter fortgeschrittenen Pesserähs unterscheiden. Auch in der Bewertung des Grades technischer Naturbeherrschung im Vergleich zu anderen auf der Reise besuchten Gesellschaften werden die Einheimischen­ somit abschlie- ßend negativ bewertet: Ihnen scheint es in Forsters Perspektive „so sehr an Verstand und Überlegung“ zu fehlen, dass es ihnen nicht gelingt, sich gegenüber der „unangenehmsten körperlichen Empfin­dung von Kälte und Blöße“ (ebd.) in einer besonders menschenfeindlichen Umgebung wirksam zu schützen, sodass sie offenbar nicht nach der Überwindung von Naturz- wängen zu trachten, sondern sich in diese mehr oder weniger widerstandslos zu ergeben scheinen. Auffällig erscheint in Forsters­ Kritik der Lebensformen auf Feuerland zugleich auch die Klage über die Abwesenheit aller „Begriffe von Cerimonien und Höflichkeiten“ (ebd.) sowie aller Formen von „Ober- herrschaft“ und „Abhängigkeit“ (385). Hier gilt das Fehlen quasi-höfischer Umgangsformen als Ausdruck der Tatsache, dass die Christmeß-Sund- Bewohner in ihrer „ganze[n] Lebensart […] dem thierischen Zustande näher“ stünden „als bey irgend einem andern Volk“ (ebd.). Dies erscheint dadurch begründbar, dass sie gewissermaßen in einem vorpolitischen Zustand verharren, der noch nicht einmal Verbesse­rungen einer bestehenden unde- mokratischen und dann im kulturellen Prozess graduell zu verbessernden Staatsform zulässt, also die in einem evolutionären Kulturmodell angelegte geschichtsphilosophische Entwicklungs- und Fortschrittslogik gänzlich dementiert. Gleichzeitig wird die Kritik an den Zuständen auf Tierra del Fuego zum Anlass einer anti-rousseauistisch ausgerichteten und für Forsters Verhältnisse­ ungewohnt konservativ klingenden Verteidigung der europä- ischen Zivilisation und ihrer „gesitteten Verfassung“ genommen:

Was die ärgste Sophisterey auch je zum Vortheil des ursprünglich wilden Lebens, im Gegensatz der bürgerlichen Verfassung, vorbringen mag; so braucht man sich doch nur einzig und allein die hülflose bedauernswürdige­

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Situation dieser Pesserähs vorzustellen, um innig überzeugt zu werden, daß wir bey unserer gesitteten Verfassung unendlich glücklicher sind! (383) Gleichzeitig jedoch ermöglicht die eingenommene Vergleichsperspektive wiederum eine indirekte Kritik an der Unvollkommenheit eines zivili- satorischen Prozesses der „Verbesserung der Sitten“ in Europa, der trotz besonders günstiger Bedingungen nicht zur Perfektionierung des morali- schen Zustandes der Gesellschaft, sondern zu zahlreichen „Lastern“ führe,

deren sich selbst der Elende, der unmittelbar an das unvernünftige Thier gränzt, nicht schuldig macht. Welche Schande, daß der höhere Grad von Kenntnissen und von Beurtheilungskraft, bey uns nicht bessere Folgen hervorgebracht hat! (384)

Bemerkenswert erscheint hier auch, dass Forster als Theoretiker und Praktiker des Reisens und einer globalen kulturellen Mobilität im Zeichen der Aufklärung die mobile, nicht festgefügte Gesellschaftsform der Feuerländer, die „keine selbständige Nation ausmachen, sondern nur als einzelne, von den benachbarten Völkerschaften ausgestoßne Familien anzusehen sind“ (385), scharf kritisiert. Noch kritischer wird die hieraus resultierende Lebensweise der Pesserähs als Nomaden gesehen:

Sie irren, der Nahrung nach, aus einer Bucht in die andre, und da dieser Haven vermuthlich mit mehreren zusammenhängt, so wählen sie sich im Winter denjenigen zum Wohnplatz, wo der Aufenthalt am leidlichsten­ ist (ebd.). Diese Wertung mag wiederum überraschen, könnte man doch davon ausgehen, dass die nicht zuletzt in der Vorrede artikulierte Partei- nahme für eine Dezentrierung und Mobilisierung des eigenen Stand- punktes als Medium ausgewogener Welterfahrung zumindest eine bedingte Sympathie für nicht konkret ortsgebundene Formen der Kultur nahelegen könnte. Doch zeigen sich hier zunächst auch die Grenzen einer möglichen Interpretation von Forsters Theorie globaler Mobilität und interkultureller Praxis als einer „postkolonialen­“ Position „avant la lettre“17 und zugleich auch als Kritik des Strebens nach einer Beherrschung

17  S. hierzu neben May 2011, 305 vor allem Berman 1998, 1-64. Eine Gegenposition hierzu vertritt, angeregt u. a. durch Susanne Zantops grundlegende Studie über Figuren eines impliziten Kolonialismus­­ in deutschsprachiger Literatur und Philoso- phie des 18. und 19. Jahrhunderts, beispielsweise Esleben 1999.

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der Natur: Denn entgegen einer möglicherweise positiv zu wertenden Unabhängigkeit von einer angestammten lokalen Umgebung erscheinen die ‚ausgestoßenen‘ Feuerländer ihrer – nach Forsters Vermutung nicht einmal frei gewählten – unwirtlichen Exilheimat hilflos ausgeliefert und damit als besonders bedauernswerte Bewohner einer weltabgeschiedenen und zivilisations­fernen Diaspora, die auf diese Weise „fast jeden Begrif verlohren haben, der nicht mit den dringendsten Bedürfnissen in unmittelbarer Verbin- dung steht“ (385). Die unfreiwillige Mobilität durch den Zwang der natürli- chen Verhältnisse bzw. durch gewaltsame Exilierung bildet gewissermaßen das extreme Gegenstück zum eigenen Interesse des europäischen Reisenden an der aktiven Transzendierung des Gegebenen und Vertrauten durch Reisen in fremde Umgebungen. Die beiden Aspekte der erzwungenen Dezentrie- rung und Mobilität bilden somit die negative Kehrseite des von Forster in der Vorrede theoretisch und praktisch entworfenen Programms einer emphatisch verstandenen Reise-‚Erfahrung‘ als Praxis individuellen und kollektiven geistigen Fortschritts durch Mobilität, dessen wider Erwarten zumindest nicht uneingeschränkte Gültigkeit hier brennpunktartig durch die Begegnung mit den Pesserähs zum Ausdruck gebracht wird. Vor dem Hintergrund einer solchen Enttäuschungserfahrung gelangt der Erzähler bereits früh zu einem für ihn ungewöhnlich erscheinenden, weil gänzlich negativ­ wertenden Gesamturteil über die Kultur der Bewohner von Tierra del Fuego: „Überhaupt war ihr Charakter die seltsamste Mischung von Dummheit, Gleichgültigkeit und Unthätigkeit!“ (382) Ebenso negativ beurteilt Forster hier die Waffen und Werkzeuge der Pesserähs­ und betont ihre schlechte Ernährung durch „rohes, halbverfaultes­ Seehundsfleisch“ (384), deren „natürliche Folge […] ein unerträglicher fauler­ Gestank“ (ebd.) darstellt. Auch die in anderen Passagen der Reise um die Welt präsentierten idealisierten Bilder fremder Körper und Physiognomien­ werden hier durch dargestellte schockartige Erfahrungen des Ekels und entsprechende Distanzgebote kontrastiert („Wer die Seeleute, und ihre sonst eben nicht ekle Begierden kennt, wird kaum glauben, […] daß es ihnen, dieser unerträglichen Ausdünstung wegen, gar nicht einmal einfiel, mit dem saubern Frauenzimmer genauere Bekanntschaft zu machen“, ebd.). Schließlich wird in der Beschreibung der Abreise der Resolution von Tierra del Fuego das bereits anfangs aufgestellte negative Gesamturteil in einer Art negativer Klimax der Darstellung noch einmal bekräftigt, indem das

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Ausbleiben weiterer Verständigungsbemühungen hier mit einer immer größeren physischen Abscheu vonseiten der Europäer begründet wird, die das sonst übliche Bestreben nach Interaktion zunehmend ausschließt und die Anziehungskraft des Fremden in ihr Gegenteil verkehrt:

Die Einwohner kamen […] wieder am Bord, doch hielten sie sich nicht lange auf, weil wir, ihres unleidlichen Gestanks wegen, uns nichts mit ihnen zu schaffen machten. Sie riefen ihr Losungswort Pesseräh manchmal mit einer so kläglichen Stimme […], daß wir glaubten, sie wollten damit betteln, wenn wir sie aber darauf ansahen, so war in ihren Mienen nicht die geringste Bestätigung dieser Vermuthung, nichts begehrendes, nichts als das unbedeutende Angaffen der tiefsten Dummheit ausgedrückt. (386)

Aufgrund der hier durch den Erzähler mit deutlicher Verachtung bewer- teten Verhaltensweisen ‚gelingt‘ es den Einwohnern Tierra del Fuegos aller- dings, einen intensiveren Kontakt mit den Europäern zu vermeiden und sich so eine Form negativer Freiheit von äußeren Einflüssen zu erhalten, ohne dass dies als bewusste Absicht erkennbar würde. Vor dem Hintergrund von Forsters begrenzt optimistischer Konzeption einer Poetik der Interkulturalität, die in der Reise um die Welt in unter- schiedlichen Ausprägungen demonstriert wird, lassen sich die Begeg- nungsszenen im Feuerland-Kapitel zunächst insgesamt als ein negativer Kontrapunkt zu einem dynamisch-prozesshaften Modell interkultureller­ Verständigung oder sogar als dessen implizite Rücknahme ansehen. Es erscheint allerdings auch eine alternative ‚dialektische‘ Interpretation der Funktion des Kapitels innerhalb der Reisebeschreibung denkbar: Ihr zufolge dokumentiert die Inszenierung Feuerlands als Ort radikaler Alterität den dynamischen und flexiblen Charakter von Forsters Modell interkultureller Auseinandersetzung paradoxerweise gerade dadurch, dass sie eine relativ eindeutige Konstellation der Nicht-Verständigung präsen- tiert. Auf diese Weise würde zunächst deutlich gemacht, dass selbst das auf Empathie, ‚Fremderleben‘ und Multiperspektivismus basierende Verfahren interkultureller Poetik, das in Forsters Reise um die Welt angelegt erscheint, nicht auf eine universale und auf unterschiedlichste Einzelfälle erfolgreich anwendbare ‚Vergleichs- und Verständigungsmaschinerie‘ verweist, in der Differenz und Alterität grundsätzlich bzw. immer weitgehend veränderlich­

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und aushandelbar erscheinen. Insofern ist Michaela Holdenried zuzu- stimmen, wenn sie betont, dass gerade das nicht-dynamische Modell des Kulturkontakts am Beispiel Feuerland, in dem keine Entwicklung möglich scheint, als indirekter „Nachweis [angenommener] Abstufungen“18 im Rahmen einer gradualistisch konzipierten Kulturpoetik und damit als eine die Ausnahme bestätigende Regel zu verstehen sei. So ließe sich gerade die Inszenierung interkultureller Negativität auch als Bestätigung eines dialo- gischen interkulturellen Auseinandersetzungsmodells verstehen, dessen grundsätzliche Ergebnisoffenheit einschließlich der möglichen Anerken- nung unüberbrückbarer Differenz eben gerade auch durch das Ausbleiben des Dialogs in einem bestimmten Fall demonstriert würde. Zudem stellt die Feuerland-Episode deutlicher als andere Passagen des Textes­ heraus, dass auch der zur Selbstreflexion bereite Reisende letztlich in seiner vergleichenden Einordnung und Weiterverarbeitung des Erfahrenen­ auf mitgebrachte Vergleichsmaßstäbe wie vorgeformte Kultur­begriffe angewiesen bleibt, die zwar in den meisten Fällen ganz oder teilweise revidiert und verändert werden können, jedoch in einer bestimmten Konstellation auch derart prägende Wirkung ausüben, dass eine solche Korrektur durch empirische Erfahrung kaum möglich erscheint. In dieser Perspektive unterstreicht daher auch gerade die Feuer- land-Episode, die in ihren stellenweise überzeichnet wirkenden Zügen grotesker Negativität unter anderem ein Gegenstück beispielsweise zur idealisierten Darstellung Tahitis im achten Hauptstück repräsentiert, den Konstruktionscharakter von Fremdheitserfahrung und ihrer Darstellung im Rahmen der Reisebeschreibung, wobei dieser zu dem Ziel eines referen- tiellen Bezugs auf realistische Welterfahrung keinen Gegensatz darstellen muss, da dieser nach dem von Forster in der Vorrede formulierten poeto- logischen Programm von fiktio­nalisierender subjektiver Perspektivgebun- denheit gerade nicht zu trennen ist.19 In dieser Perspektive schiene gerade das Feuerland-Kapitel als ein Stück impliziter Selbstkritik innerhalb eines

18  Holdenried 2006, 131-147. 19  Siehe beispielsweise die relativierende Einschätzung von Forsters Feuerland-Kapitel durch Berg 1982, 110: „An diesem Passus läßt sich so klar wie sonst selten in der Forster’schen Reisebeschreibung erkennen, in welch hohem Maße die Darstellung der Fremden von den ästhetischen und anderen Werten des europäischen­ ‚philosophischen Reisenden‘ geformt ist.“

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differenzierten Modells interkultureller Verständigung zu fungieren, das die Anwendbarkeit entsprechender Verständigungs- und Kommunikati- onsverfahren relativiert und nicht zuletzt auch die Grenzen der eigenen Verstehens- und Einfühlungsvermögen anerkennt: Ein begrenzt optimi- stisches Modell interkultureller Verständigung muss somit neben struk- turell aushandelbarer Fremdheit eben gerade auch einen Modus „radikaler Fremdheit“ im Sinne von Waldenfels­ zulassen, die sich jedoch ebenfalls aus den strukturellen Gegeben­heiten der jeweiligen kulturellen Konstellation heraus ergeben würde. Die in Forsters Feuerland-Kapitel präsentierten Szenen ausbleibender Verständigung würden daher im Rahmen eines kulturhermeneutischen, episte­mologischen und ästhetischen Modells, in dem der Grad der Verzer- rung des Wahrgenommenen durch Vorurteile und mitgebrachte Vorstel- lungen von Fall zu Fall variieren kann, dann lediglich einen extremen Punkt auf der Skala möglicher Ausgänge markieren und deren Gültig- keit somit eher bestätigen als dementieren. Wenn Forster im Rahmen der Vorrede ­das Ziel formuliert, dem Leser gegenüber transparent zu machen, „wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe“ (AA II, 13), dann wird diese explizite Zusicherung gerade auch im Fall der Beschrei- bung von Tierra del Fuego durchaus eingelöst. Dies liegt gerade daran, dass sich die negative Färbung des ‚Glases‘, das den Blick auf die Kultur der Pesserähs bestimmt und in diesem Fall durchaus „finster und trübe“ (ebd.) erscheint, von Anfang an mehr als deutlich mitteilt und offenlegt, weshalb die behauptete Unabhängigkeit von „National-Vorurtheilen“ in diesem­ Fall nicht unbedingt gegeben erscheint. Auf diese Weise macht das Kapitel­ deutlich, dass die programmatische Zielsetzung, die „Ideen zu verbinden, welche durch verschiedne Vorfälle veranlaßt wurden“, „die Natur des Menschen so viel möglich in mehreres Licht zu setzen und den Geist auf den Standpunkt zu erheben, aus welchem er einer ausge- breitetern Aussicht­ genießt, und die Wege der Vorsehung zu bewundern im Stande ist“ (ebd.), auch von Forsters Erzähler kaum durchgehend verwirklicht werden kann. Das mit der Idee der „ausgebreitetern Aussicht“ verknüpfte Ideal des neutralisierenden Ausgleichs verschiedener Perspek- tiven zugunsten einer Meta-Ansicht wird von zwei Seiten potentiell in Frage gestellt, nämlich einmal durch die Inkommensurabilität empirisch gewonnener Beobachtungen, die einmal eingenommene allgemeine Stand-

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punkte umgehend wieder in Frage stellen, und zum anderen – wie im Fall der Tierra del Fuego-Episode – gerade durch den Einfluss solcher allge- meinen „National-­Vorurtheile“, die sich teilweise auch im Kontakt mit der Empirie nicht überwinden lassen. Auf diese Weise dementiert die Szene der Nicht-Verständigung auf Feuerland Forsters Modell einer perspektivi- stischen Poetik der Interkulturalität nicht grundsätzlich, deutet jedoch ex negativo auf eine mögliche alternative Konzeption in Form eines offeneren Perspektivismus der Differenz hin, in dem die unmittelbare Herstellung eines ausgewogenen­ Gleichgewichts und Ausgleichs zwischen verschie- denen divergierenden „Ideen“ und Standpunkten zunehmend fraglich wird, wohl aber noch deren Interaktion als möglich gilt. In bemerkenswerter Weise fungieren gerade die Region Feuerland bzw. Patagonien in der Literaturgeschichte der Moderne und speziell im Genre der Reiseliteratur vielfach in ähnlicher Weise wie hier bei Forster und vor ihm bei Bougainville als geographischer Topos für die Grenzen von Erfahrung und Darstellung und hierdurch zugleich als ein fruchtbares literarisches Motiv.20 Galt die Region in Reisebeschreibungen der frühen Neuzeit noch als mythische Heimat von Riesen, erscheint sie vor allem ab dem 18. und 19. Jahrhundert als Inbegriff unwirtlicher und unfruchtbarer, aber gerade hierin ästhetisch erhaben wirkender menschenleerer Weiten und somit eben als ein ebenso fruchtbares literarisches Motiv, für welches­ Bruce Chatwins Reisenarrativ In Patagonia (1977) oder im Bereich der deutschsprachigen Literatur auch Arnold Stadlers Roman Feuerland (1992) als prominente jüngere Beispiele gelten können.21 Für die Frage einer weiteren Vorprägung der Szene durch bestimmte zeit- genössische ästhetische Erfahrungs- und Darstellungsmuster erscheint daher insbesondere der erneute Bezug auf den Kantischen Entwurf eines Negativ-Erhabenen aufschlussreich. Dieser repräsentiert insgesamt ein Paradigma der Distanznahme gegenüber dem Fremden, welches sich einerseits, wie bei Kant, auf die subjektive Erfahrung der „rohen Natur“ beziehen­, aber in seinen zentralen Strukturmomenten zumindest implizit auch auf kulturell bedingte Fremdheitserfahrung übertragen lässt.

20  Vgl. Eschweiler 2009; Penaloza u. a. 2010 und Moss 2008, Patagonia.­ 21  Gerade Stadlers Roman wird unter anderem von Ottmar Ette als paradigmatisches Beispiel einer negativen Poetik im Kontext gegenwärtiger Reiseliteratur thematisiert (vgl. Ette 2001, 543-563).

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Während­ Forsters Beschreibung der Naturszenerie von Tierra del Fuego bereits diverse klassische Topoi des Naturerhabenen aufzurufen scheint („Man sieht überall nichts, als ungeheure Berge, mit schroffen, Schneebe- deckten Gipfeln! Kaum die zunächst an der See gelegnen Felsen sind davon entblößt, und auch alsdann noch von todtem, unfruchtbarem Ansehen, ohne Gras oder Gebüsch“, 371), scheint auch der dargestellte interkulturelle Kontakt gerade in diesem Kapitel negativen Erhabenheitsparadigmen zu folgen. Besonders relevant erscheint das Kantische Modell des Erhabenen hier im Hinblick auf die in ihm implizit vorausgesetzte spezifische Subjekt- Objekt-Relation sowie auf die mit ihm verknüpfte theoretische Unter- scheidung zwischen Natur und Kultur. Bei Kant werden das Mathema- tisch-Erhabene und das Dynamisch-Erhabene bekanntlich zunächst auf außergewöhnliche, große oder gefährliche Naturobjekte bezogen, denen das Subjekt nicht Herr zu werden vermag; gerade die negative Erfahrung der Unfassbarkeit solcher Phänomene wird jedoch zu einer indirekten Repräsentation bestimmter Verfahren der distanzierenden Abstraktion umfunktioniert, die dem Subjekt zur Verfügung stehen, um die Kontrolle über eine solche Erfahrungssituation zurückzugewinnen. Hierdurch erlaubt sie eine Art Transfer weg von der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen problematischen Phänomen zurück auf die eigene Subjekti- vität, die auf die Unterscheidung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit verweist: Gerade die Erfahrung einer inkommensurablen Außenwelt steht in Analogie zur Unfassbarkeit der eigenen Vernunftideen, die gleichfalls über die Anforderungen der anschaulichen Sinnlichkeit erhaben scheinen. Insofern wird eine schockartige Verunsicherung des Subjektes durch eine „Subreption­“ – genauer gesagt, eine bestimmte Vergleichsoperation – in einen Akt umso stärkerer Selbstvergewisserung überführt. Ein solches Modell würde insofern auf eine eindeutig hierarchisch strukturierte­ Konstellation interkultureller Begegnung verweisen, die gerade für Forsters Reisebeschreibung insgesamt eher untypisch erscheint. Zugleich wird in diesem Modell eine implizite Unterscheidung zwischen Subjekten und Objekten erhabener Erfahrung eingeführt: Während ‚erhabene‘­ Subjekte dazu fähig scheinen, gegenständliche Erfahrung zu transzen- dieren und zu sublimieren, sind andere Subjekte dem Naturzwang unter- worfen und werden so in ihrer fremden Unzivilisiertheit selbst wiederum zu Objekten erhabener Alteritätserfahrung. Gerade diese Rollenverteilung,

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die klassischen­ theoretischen Konzeptionen des Erhabenen, wird durch Forsters Inszenierungen reziproker Fremdheitserfahrung in den meisten Kapiteln der Reise um die Welt – nicht jedoch im hier diskutierten Kapitel – zumindest nachhaltig in Frage gestellt: Durch wiederholte Perspektivwechsel wird vielmehr reflektiert, wie die europäischen Reisenden selbst fremd und ‚barbarisch‘ auf nicht-europäische Beobachter wirken mögen und somit als Objekte von Fremdheitserfahrung fungieren. Gerade die Beschreibung des Aufenthalts im Christmeß-Sund scheint hier aber wiederum aus dem Rahmen zu fallen: schließlich inszeniert Forster hier eine eindeutig asym- metrische Konstellation der Begegnung zwischen den „armen Pesserähs“ und den „unendlich glücklicher[en]“ Europäern, die zugleich mit Gesten der Distanzierung und der Selbstvergewisserung durch Negation des Fremden verbunden scheint. Da die charakteristische Operation des dynamischen Perspektivwechsels hier zu scheitern scheint, lässt sich die dargestellte Begeg- nungskonstellation eher mit der statischen Subjekt-Objekt-Konstellation des Kantischen Erhabenen in Verbindung setzen, die ansonsten in Forsters Reisebeschreibung eher implizit negiert wird. Ein Aspekt, der eine solche hierarchische Rollenverteilung allerdings wiederum­ in Frage stellen könnte, ist die wiederholte Betonung des Desinte­ resses der Feuerländer gegenüber den Europäern, die sie von den meisten anderen beschriebenen Kulturen als singulär unterscheidet. Ebenso wie in zahlreichen anderen Szenen das Interesse am interkulturellen Austausch auf beiden Seiten gegeben erscheint, lässt sich hier wechsel­seitige Distanz beobachten, die jedoch mindestens ebenso sehr vonseiten der Einheimi- schen wie der Besucher ausgeht. Somit wird in Forsters Darstellung­ einer- seits eine Begründung des Desinteresses der Pesserähs, aus ihrer vermeint- lichen „Dummheit“ und „Unthätigkeit“ herauszugelangen, nahegelegt, andererseits verhalten sie sich damit effektiv ähnlich wie das ‚interesse- lose‘ erhabene Subjekt, das sich von einer fremden und unbeherrschbaren Außenwelt abwendet, und stehen damit wiederum auch in Analogie zur eigenen Haltung der Europäer in dieser negativen Szene des Kulturkontaktes als (Nicht-)Begegnung. Während in der Regel vorausgesetzt werden kann, dass der „Anspruch auf Antwort“ (nach Bernhard ­Waldenfels) gegenüber dem Fremden vonseiten der jeweiligen einheimischen Bevölkerung ohnehin bereitwillig erfüllt wird, beispielsweise wenn Forsters Erzähler betont, dass die verschiedenen „Nationen in der Süd-See gemeiniglich unter lautem

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Jauchzen, oder wenigstens mit einem frohen Zuruf angezogen kamen“ (AA II, 380), erscheint die Frage, ob und auf welche verschiedenen Weisen dieser Anspruch vonseiten der europäischen Reisenden­ verwirklicht oder auch nicht verwirklicht werden kann, mehr oder weniger deren freier Entschei- dung überantwortet. Insofern erscheint die in der Begegnungsszene auf Feuerland vorherrschende „tiefste[] Stille“ auch deshalb so unheimlich (bzw. schrecklich-erhaben), weil sie in diesem Fall eine nicht zu überwindende Verweigerung des Dialogs durch die Einheimischen darstellt. Wie Gayatri Spivak im ersten Abschnitt ihrer Critique of Postcolonial Reason betont, bleibt die Kantische Ästhetik im Hinblick auf die in ihr implizit enthaltene Theorie kultureller Differenz gerade aufgrund der vorausge- setzten Trennung zwischen transzendentaler und empirischer Subjektivität an ein eurozentrisches und (möglicherweise malgré lui) kolonial geprägtes Modell gebunden, da das transzendentale Subjekt als ein europäisches konstruiert wird. Alterität und Fremdheit als zentrale Charakteristika gerade auch ästhetischer Erfahrung können, wie im Fall des Erhabenen, daher nur aus der Perspektive eines als von „roher Natur“ unabhängig gedachten Betrachters und damit innerhalb eines hierarchischen Modells betrachtet werden. Dies gilt sowohl für das unterschiedliche Verhältnis eines kulti- vierten und eines weniger kultivierten Subjekts zur (nicht-menschlichen) Natur, als auch für den Blick eines kultivierten ästhetischen Subjekts auf andere Kulturen ­und ihre Akteure. Die Perspektive eines „rohen Menschen“, der ein anderes Verhältnis zur empirischen Natur (und damit nicht zuletzt auch zur eigenen Sinnlichkeit) einnehmen würde, kann hier nicht integriert­ werden, ja ihre Abgrenzung von der Vorstellung eines kulturell­ entwickelten Subjekts, das als normatives Ideal von Subjektivität an sich fungiert, bedingt in gewisser Weise erst die Legitimität des gesamten Modells:

Those who are cooked by culture can „denominate“ nature sublime­ [erhaben nennen], through necessarily through a metalepsis. To the raw man the abyss comes forth [erhaben vorkommen] as merely­ terrible­. The raw man has not yet achieved or does not possess­ a subject­ whose Anlage or programming includes the structure­ of feeling­ for the moral. He is not yet the subject divided and perspectivized ­among the three critiques. In other words, he is not yet or simply not the subject as such, the hero of the Critiques […].22

22  Spivak 1999, 14.

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Die Perspektive eines „native informant“23 als konzeptueller Repräsentant ausgeschlossener (nicht-westlicher) Subjektivität kann daher innerhalb der Rahmenbedingungen der Kantischen Erfahrungstheorie nicht einbezogen, simuliert oder repräsentiert werden, wofür Spivak die signifikanterweise auch von Kant als ausgrenzendes Beispiel zitierte Figur des Einwohners von Neuholland oder Feuerland (Tierra del Fuego) heranzieht, dem nach ihrer Lesart per definitionem im Kontext ästhetischer Theorie selbst keine Sprache verliehen werden kann und darf:

We find here the axiomatics of imperialism as a natural argument to indi- cate the limits of the cognition of (cultural) man. The point is, however, that the New Hollander or the man from Tierra del Fuego cannot be the subject of speech or judgment in the world of the Critique­. The subject as such in Kant is geopolitically differentiated.24

Im Licht der späteren Kant-Forster-Kontroverse, in der Forster bereits eine solche durch einen gewaltsamen Umgang mit empirischer Alterität erkaufte theoretische Abstraktion kritisiert, erschiene die Beobachtung, dass gerade das Kapitel über Tierra del Fuego in Forsters Reise um die Welt möglicherweise einen ähnlichen – und auf den selben geographischen Ort bezogenen – ‚blinden Fleck‘ innerhalb einer ansonsten meist als gelingend vorgeführten Poetik der Interkulturalität repräsentiert, besonders bemer- kenswert. Auch auf ästhetisch-poetologischer Ebene zeigt sich mit Blick auf die Rolle anekdotischer Einzelszenen innerhalb des Feuerland-Kapitels als einer „großen Anekdote“ im Kontext der gesamten Reisebeschrei- bung ein komplexes­ Bild. Im Verhältnis zu den verschiedenen anderen Szenen­ komplexer­ kultureller Verständigungsprozesse in der Reise um die Welt erweist sich das Kapitel wie eingangs erwähnt auch als ästheti- sches Element­ innerhalb des Gesamttextes als inkommensurabel und autonom, da es sich in seiner eindeutigen (negativen) Valenz mit den in anderen Kapiteln dargestellten ambivalenten interkulturellen Ausein- andersetzungsprozessen nur schwer in Einklang bringen lässt und diese kontrastiert. In dieser­ Hinsicht würde die Rolle des Feuerland-Kapitels innerhalb der Reise um die Welt weitgehend der Funktion einer ‚Gegenge-

23  Ebd., 6. 24  Ebd., 26f.

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schichte‘ („counterhistory­“) entsprechen, die Gallagher und Greenblatt der Anekdote­ als einer singulären­ Szene zuschreiben, welche gegenüber domi- nierenden Narrativen­ eine alternative und nicht auf Anhieb zu integrie­ rende Perspektive­ vor Augen führt.25 Zugleich weicht das Kapitel im Hinblick auf die in ihm zu beobach- tende interne Verknüpfung von anekdotischen Einzelbeobachtungen und dem übergeordneten „Totaleindruck“26 in der Beschreibung von Tierra del Fuego von anderen Abschnitten der Reisebeschreibung ab, da hier die einzelnen dargestellten Beobachtungen lediglich eine illu- strierende und insofern­ untergeordnete Funktion einnehmen, als sie vor allem der Bestätigung eines von vornherein feststehenden (negativen) Gesamtbildes dienen­. Im Sinne einer solchen Interpretation würde die Feuerland-Episode­ scheinbar allgemein gültige Verständigungsmodelle und Ideale durch einen hier auch körperlich negativ konnotierten und insofern buchstäblich zu verstehenden „touch of the real“ dementieren. Nach der metaphorischen Terminologie von Joel Finemans Theorie anek- dotischer Darstellung kann das dargestellte unbewältigte Begegnungs- geschehen daher insgesamt als Loch („hole“) innerhalb des Zusammen- hangs der dargestellten Reise („whole“) interpretiert werden, die sich mit den von Forster repräsentierten Modellen einer ganz oder zumindest teilweise erfolgreichen interkulturellen Verständigung nicht in Einklang bringen lässt. Hinsichtlich der von Fineman und Greenblatt themati- sierten Funktion anekdotischer Darstellung als Form der nur indirekt mit einem ‚Ganzen‘ vermittelbaren realistischen Wirklichkeitsreferenz ließe sich die Episode einerseits als ein solcher disjunktiver Einbruch des Realen verstehen, durch den anhand einer unvermittelt wiederge- gebenen Fremdheitserfahrung einige der in anderen Abschnitten der Reisebeschreibung präsentierten Begegnungs- und Verständigungsmo- delle deutlich kontras­tiert oder dementiert würden­. In einer solchen Perspektive würde sie vor allem das Potential einer autonomen anekdo- tischen Darstellung zum Ausdruck bringen, die nicht exemplarisch auf allgemeine Kontexte verweist beziehungsweise diese veranschaulicht,

25  Vgl. Gallagher, Greenblatt 2000, 49-75. 26  Siehe hierzu Forsters Bestimmung des ästhetischen „Totaleindrucks“ anlässlich der Beschreibung des Amsterdamer Hafens in den späteren Ansichten vom Niederrhein (1791/94): AA IX, 300.

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sondern sie durch eine unabhängige Beschreibung widerlegen und in Frage stellen kann. Andererseits jedoch ließe sich die Repräsentation der Einwohner von Tierra del Fuego und ihrer Kultur durch Forsters Erzähler als derart weit- gehend durch negative Vorurteile und durch Prätexte wie Bougainvilles ­ Reisebeschreibung geprägt und präfiguriert ansehen, dass sie gerade nicht zu einer unvoreingenommenen – und in diesem Sinne realistischen – Würdigung des Erfahrenen gelangen kann: Nach dieser Interpretation würden wiederum einzelne Szenen lediglich durch in diesem Fall eindeutig negativ ‚gefärbte Gläser‘ wahrgenommen und zur Illustration eines bereits vorher feststehenden Standpunktes funktionalisiert. In beiden Fällen jedoch würde je nach Auslegung jeweils ein zentraler komple­mentärer Aspekt von Forsters poetologischer Programmatik einer „philosophischen Reisebeschreibung“ aus der Vorrede der Reise um die Welt und damit zwei Seiten eines perspektivischen Realismus deutlich akzen- tuiert, nämlich einerseits der referentielle Bezug auf eine Erfahrungswirk- lichkeit, deren Anspruch in einem Verständnis der Kontaktszene als anek- dotischer Darstellung einer realen Fremdheitserfahrung zum Ausdruck gelangt, und andererseits die Formung solcher Erfahrungswirklichkeit durch subjektive Konstruktion und intertextuelle Kontextualisierung oder Vorprägung, die zu einer mehr oder weniger starken Fiktionalisierung des Wahrgenommenen führen können und den realistischen Anspruch der Reisedarstellung zumindest in Frage stellen. Die im Feuerland-Kapitel zum Ausdruck kommende negative Voreingenommenheit des Erzählers schiene jedoch in diesem Fall gerade der von Forster im Rahmen seiner Kontroverse mit Kant kritisierten Gefahr einer Unterordnung empirischer Evidenz unter eine bereits vorher feststehende, unverrückbare „Hypothese“ zu entsprechen.27 Anders als in den meisten anderen dargestellten Begeg- nungsszenen der Reisebeschreibung scheint der Erzähler hier empirische Beobachtungen lediglich zu benutzen, um bereits vorher feststehende und insofern auf die Empirie projizierte kulturtheoretische, anthropologische und ästhetische Ansichten zu illustrieren, anstatt die eigene Position durch diese Empirie beeinflussen und korrigieren zu lassen.

27  Vgl. AA VIII, 130-156, hier: 131: „Am Menschengeschlechte kann man sich aber wohl nicht tiefer versündigen, als wenn man ihm Wahrheit verspricht, und ihm statt deßen nur Hypothese giebt.“

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Der nicht nur bei Forster, sondern auch in anderen (reise-)literarischen Texten gerade durch Tierra del Fuego repräsentierte Topos der Irritation oder des Zusammenbruchs gängiger Vergleichsmaßstäbe, Erfahrungsord- nungen und Sprachformen erscheint somit als ein skeptisches Korrektiv zu einem grundlegenden Optimismus gegenüber der Darstellbarkeit und Aushandlungsfähigkeit von interkultureller Fremdheit, das der Poetik der Reisebeschreibung als Form der „Ethnoliteratur“ zugrundezuliegen scheint. Zugleich repräsentiert die von Forster in diesem Kapitel insze- nierte ‚Nullstufe‘ von Erfahrung und Darstellung ein ästhetisches Element der Stasis und des Verweilens am inkommensurablen Gegenstand, welches ein komplementäres Gegenstück zu dem für eine Reise(darstellungs) ästhetik konstitutiven Element der reflexiven und narrativen Bewegung bildet. Auf diese Weise fügt möglicherweise gerade die scheinbar gänzlich durch Vorurteile präfigurierte negative Darstellung der Kultur der Bewohner von Tierra del Fuego der komplexen Poetik der Interkul- turalität in Forsters­ Text eine weitere selbstreflexive Facette hinzu. Die Aspekte negativer Unvergleichbarkeit, die die Darstellung der Insel und ihrer Einwohner durchgehend prägen, erscheinen insgesamt gerade auch als ein selbst vorgeführtes Scheitern des Erzählers an der Aufgabe, ange- messene Parameter des Vergleichs und der Vermittlung zu etablieren, und dies gerade, indem den Pesserähs die Fähigkeit zur Verständigung pauschal abgesprochen wird. Auf diese Weise würde gerade die hier vorgeführte Konstellation die Tatsache­ demonstrieren, dass auch das Fremde als Fremdes im starken Sinne der Inkommensurabilität seinen Platz in Forsters in der Vorrede­ entfaltetem­ Modell der „gefärbten Gläser“ findet, auch wenn diese zugleich den Imperativ eines stets gleichbleibenden „guten Willens“ zur Verständigung artikuliert. In analoger Weise könnte dann auch zugleich ein korres­pondierendes Modell der semi-realistischen Darstellung von Erfahrungswirklichkeit, wie es Forster in der Vorrede der Reisebeschrei- bung entwirft, sowohl die mögliche disjunktive Wirkung anekdotischer Einzelszenen als „hole“ als auch die umgekehrte Möglichkeit von deren Unterordnung unter einen überschattenden „Gesamteindruck“ wie im Fall von Forsters Beschreibung des Aufenthalts in Feuerland mit einschließen­. Ein situations­orientiertes Modell, welches Prozesse interkultureller Poetik­ als aktiv beeinflussbar, aber zugleich als von kontingenten Faktoren­

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abhängig­ und damit als ergebnisoffen begreift, müsste insofern folglich auch die Möglichkeit einer derart prägenden ‚Glasfärbung‘ innerhalb einer bestimmten Situation anerkennen, die in einem konkreten Einzelfall eine Verständigung schwierig bis unmöglich machen kann: Gerade dann, wenn interkulturelle Verständigung als Gegenstand einer bestimmten Poetik der Verständigung auf der Grundlage der Fremdheit und insofern als durch bestimmte Strategien zu beeinflussende vérité à faire ausgewiesen wird, erscheint die Möglichkeit mit eingeschlossen, dass diese sich in einem bestimmten Einzelfall tatsächlich als nicht machbar erweist. In ähnlicher Weise entspricht es der Logik einer realistischen Darstellung empirischer Erfahrung, dass der Anspruch des Realismus in einer bestimmten Szene von der Vorprägung der Beobachterperspektive überlagert werden kann, so wie es in realen interkulturellen Begegnungsprozessen immer wieder vorkommen mag. Wie Stefan Greif hervorgehoben hat, steht eine solche poetologisch-ästhe- tische Verknüpfung von Disjunktion und Relation gerade im Fall Forsters zugleich mit einer Selbstkritik aufklärerischen Denkens in Verbindung, die auf einer Konzeption von Spontaneität als „aisthetische[r] Ursprung alles subjektiven Autarkie- und Glücksstrebens“28 und einer Theorie der „spontan sinnliche[n] Widerständigkeit des Subjekts als eines notwen- digen Korrektivs einer gar zu vernünftigen Ordnung der Dinge“29 basiert. In diesem Sinne bringt gerade die in den Gesamtkontext der Reise um die Welt nicht auf Anhieb zu integrierende Beschreibung des Aufenthalts in Tierra del Fuego die grundsätzliche Unvorhersehbarkeit individueller Verlaufsformen interkultureller Begegnungsprozesse in Abhängigkeit von den Reaktionen der beteiligten Subjekte und den Bedingungen des jewei- ligen Einzelfalls zum Ausdruck, die als allgemein gültig angenommene Ideale immer wieder unerwartet in Frage stellen kann, und korrespon- diert somit in der Tat dem Modell eines „diskontinuierlichen Kontinuums menschlicher Spontaneität“.30 Sie erhält somit nicht nur ästhetische und epistemologische, sondern nicht zuletzt auch politische Relevanz, da sie erfahren­den und handelnden Subjekten ein gewisses „natürliche[s] Recht

28  Greif 2010, 90. 29  Ebd., 93. 30  Ebd., 90.

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auf Widerstand“31 gegen scheinbar vorbestimmte Verlaufsdynamiken zubilligt. Nicht zuletzt führt die Feuerland-Episode vor dem Hintergrund einer solchen kultur-, geschichts- und subjektphilosophischen Konzeption spontaner kontrafaktischer Dynamik im Rahmen einer Poetik der inter- kulturellen Begegnung gerade auch ein Recht der ‚Bereisten‘ auf Resistenz gegen die – ihnen letztlich durch die Reisenden aufgezwungene – Logik der Notwendigkeit einer dialogischen Verständigung vor Augen, die hier gerade in der Verweigerung gegenüber gewohnten Aushandlungs- und Annäherungsprozessen besteht. Auf diese Weise akzentuiert gerade dieses Kapitel den Aspekt der Reziprozität ­und Gleichberechtigung in Prozessen einer interkulturellen Auseinandersetzung, in der beiden Begegnungs- partnern auch die negative Freiheit zur Nicht-Verständigung zuge- standen werden muss, und beide durch ihre eigene Positionierung auch den für die jeweils andere Seite gegebenen kulturpoetischen Spielraum für die Aushandlung der eigenen Differenz zum Anderen wechselseitig mitbestimmen.­

Literaturverzeichnis

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31  Ebd., 91.

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Fremdheit, Kulturkritik, Alterität – Georg Forster als interkultureller Autor avant la lettre

Uns ziemt es, da wir mit unserer Thätigkeit und unserem Ideen- reichthum die Erde gleichsam umfassen, jede Spur des Wirkenden in und ausser uns aufzusuchen, und in dieser Absicht alle jene Blumen sorg- fältig zusammen zu lesen, die der Genius der Dichtkunst über die ganze bewohnbare Kugel­ ausgestreut hat. Aus ihnen haucht uns entgegen ihr „Würzgeruch und Duft“, gleichviel, auf welchem Boden sie gewachsen sind. (AA VII, 56)

Die Rezeptionsgeschichte Georg Forsters wird bis weit ins 20. Jahrhundert geprägt durch politisch motivierte Verurteilungen und Ausgrenzungen auf der einen und ambitionierte Rettungsversuche auf der anderen Seite. Dabei fällt auf, dass auch im letztgenannten, schon früh durch Friedrich Schlegel, Gervinus und Hettner repräsentierten Kontext nationalkultu- relle Sichtweisen dominieren, z. B. in Form einer Bezugnahme auf den Kanon deutscher Literatur. Wie langlebig solche Rezeptionsmuster sind, zeigt sich noch im patriotischen Ton, mit dem Klaus Harpprecht an Forster erinnert: „vom Volk seiner Herkunft und Sprache vergessen und dennoch einer seiner großen Söhne [...].“1 Sieht man einmal davon ab, dass nationale Identitäten im 18. Jahrhundert nur sehr schwach ausgeprägt waren, so wäre immerhin einzuwenden, dass Georg Forster nicht national, sondern plurikulturell ausgerichtet und eigentlich nur im Rahmen kultureller Querbeziehungen und Wechsel­ wirkungen, jenseits nationaler und nationalliterarischer Bindungen, zu verstehen ist. Seine Biographie und Bildungsgeschichte sind geprägt durch Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel, Reise- und Migrationserfahrungen, vielseitige kulturelle Kontakte und Formen des kulturellen Austauschs,

1  Harpprecht 1987, 10.

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die sich wiederum im transnationalen und -kulturellen Charakter seines gesamten schriftstellerischen und wissenschaftlichen Schaffens nieder- schlagen. Als Abkömmling einer englischen Familie mit schottischen Wurzeln wurde er in Preußisch-Polen2 in einem kulturellen Mischgebilde geboren, das der polnischen Krone unterstand. Er wuchs auf in der Nähe von Danzig im Weichseldelta, das von Deutschen, Franzosen und Holländern besiedelt wurde, darunter viele Hugenotten und Mennoniten. Zum Deutschen, das er als Erstsprache erlernte, kamen schon früh Fremdsprachenkontakte und Erfahrungen mit ineinander übergehenden Lebenswelten, denn die Bewohner der Region standen in Verbindung zur polnischen Bevölke­ rung und zu Kaschuben, deren Stammgebiet im Westen von Danzig angrenzt. In seiner Funktion als Pfarrer fungierte der Vater als Vermittler zwischen bäuerlichen Schichten und Adel, wobei die Verkehrssprache des Adels üblicher­weise Französisch war. Nach dem Eintritt Russlands in den Siebenjährigen Krieg 1757 machten sich zudem russische Spracheinflüsse geltend, vertreten durch die Befehlshaber der Truppen, mit denen Verhand- lungen geführt wurden, um die unter Danziger Patronat stehende Pfarrei vor Übergriffen zu bewahren.3 Komplexe Fremdsprachkenntnisse waren auch erforderlich, als Johann Reinhold Forster und sein Sohn 1766 zu ihrer ersten großen Reise aufbrachen­, einer Russlandexpedition, die über Memel, Riga, St. Petersburg­, Moskau, in die Wolgagebiete und nach mehr als 4000 km Wegstrecke wieder nach St. Petersburg führte. Hier besuchte Georg Forster für sieben Monate die St. Peters-Schule, wo er unter anderem in Latein, Französisch, Deutsch und Russisch unterrichtet wurde.4 Nach diesem ersten von zwei sehr kurzen Schulbesuchen in seinem Leben, der zustande kam, weil der Vater mit der Auswertung der Reise beschäf- tigt war, brach man gemeinsam nach London auf. Auf der Überfahrt, die durch verschiedene nautische Zwischenfälle unterbrochen wurde, machten sich die Reisenden mit dem Englischen vertraut. Die Überset- zung von Lomonossows­ Kurzer russischer Geschichte aus dem Russischen ins Englische, die der dreizehnjährige Sohn schon bald darauf anfertigte,

2  In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass er niemals preußischer Untertan war. 3  Vgl. Uhlig 2004, 18f. 4  Johann Reinhold Forster 1795, Sp. 121.

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zeigt, wie gekonnt er die soeben erlernte Sprache beherrschte, auf die er zeitlebens, mitunter sogar in der privaten Korrespondenz, zurückgriff. Erwähnung verdient in diesem Zusammen­hang weiterhin der Unterricht durch den Vater, der als Geistlicher­ in Hebräisch, Griechisch und Latein bewandert war und zudem eine besondere Vorliebe für das Koptische pflegte. Seinen autobiographischen Erinnerungen lässt sich entnehmen, welche Rolle die klassischen Bildungssprachen bei der Ausbildung des Sohnes spielten.5 Durch den frühen Erwerb von Fremdsprachen wurde Forster schon früh für die Verschiedenheit kultureller Ausdrucksformen sensibilisiert. Er lernte, wie sich in Sprach- und Kulturkontakten unterschiedliche Realitäts­perspektiven und Bedeutungsebenen überkreuzen und brechen und welche Möglichkeiten und Spannungsfelder sich daraus ergeben. Diese Erfahrungen­ tragen zusammen mit den großen Reisen, die von den Biographen gemeinhin als Georg Forsters Schule des Lebens angesehen werden6, zu einem „Weltbewußtsein“7 bei, das sich in seinen literarischen und wissenschaftlichen Texten manifestiert, nicht zuletzt auch in Überset- zungen, fremdsprachigen Aufsätzen, Rezensionen fremdsprachiger Werke, in Zitaten aus alten und modernen Sprachen, z. T. sogar in mehrsprachigen Schreibverfahren. Zweifellos kam ihm die früh erworbene Fähigkeit, auf verschiedene sprachliche und kulturelle Kontexte zurückzugreifen, in seiner Arbeit als Ethnograph, Autor und Übersetzer zugute. Überhaupt verdient die Transfer- und Übersetzungsleistung Forsters noch stärkere Beachtung im Hinblick auf zugrunde liegende Verstehensprozesse und Verständigungskonzepte. Von Interesse ist dabei u. a. die Wechselbe- ziehung von überlieferten Denk- und Darstellungsmustern und ihrer Über- schreitung. Dieses Verhältnis strukturiert gleichermaßen die literarischen Schreibprozesse, da sich auch auf dieser Ebene – wie beim Übersetzen – textuelle Praktiken und kulturgeprägte Konventionen geltend machen, neben denen sich individuelle Deutungen etablieren.8 Innerhalb dieses

5  Ebd. sowie 14. Januar 1795, 2. Stück, Sp. 9-16. 6  Solch Sichtweisen gehen u. a. auf Friedrich Schlegel zurück, der Forsters Weltum­seglung als „vielleicht die wichtigste Hauptbegebenheit seines Lebens“ markiert, verbunden mit dem Wunsch, „daß junge Wahrheitsfreunde statt der Schule häufiger eine Reise um die Welt wählen könnten“ (Schlegel 1967, 81f.) 7  Ette 2002. Auch Forster repräsentiert eine Form von „Weltbewußtsein“. 8  Vgl. dazu auch Rösner 1990, 11-27.

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Bedingungsrahmens besteht das Verdienst Forsters gerade darin, neue Zugänge oder Interpretationen zu eröffnen, die ein unbekanntes Terrain sondieren, Aus- und Rückblicke gewähren und nicht zuletzt die oft verblüf- fende Fremdheit vermeintlich vertrauter Sachverhalte hervortreten lassen. Analog zur Arbeit des Übersetzers sah sich Forster auch bei der Darstellung­ seiner Weltreise mit James Cook vor die Aufgabe einer Übertragung gestellt. Das beginnt damit, dass er es mit einer ausufernden Masse von zeitlich und räumlich ausgedehnten Ereignissen, Daten und Eindrücken zu tun hatte, die ausgewählt, geordnet, und aufbereitet werden mussten. Daneben dürften der Reiseverlauf und der Schiffsalltag aber auch von Leerlauf und Nichtigkeiten geprägt worden sein. Alle diese Umstände galt es zu berücksichtigen und zu verarbeiten, um daraus einen ansprechenden, anschaulichen Text zu formen. Als ebenso schwierig erwies es sich, unbekannte Sachverhalte und befrem- dende Vorkommnisse, die sich nicht unmittelbar abbilden ließen, erläuternd zu vermitteln. Zudem gab es viele Bereiche, die aus diplomatischen Gründen ausgespart werden mussten. Insofern ist der Versuch, einen lesefreundlichen Text hervorzubringen, der für die Leser zu einer interkulturellen Erfahrung wird, durchaus mit einer Übersetzung aus einem besonders schwer zugäng- lichen Original zu vergleichen. Dazu war es erforderlich, sich ein Stück weit von den Ausgangspunkten zu lösen, um einen erweiterten Deutungsraum zu schaffen. Notwendigerweise mussten solchen Prozessen methodische Überlegungen vorausgehen, wie z. B. die neu- und fremdartigen Erfahrungen erzähle- risch präsentiert werden können und wie sich dabei kulturelle Bedeutungs- produktion vollzieht. Zwar versichert Forster in der Vorrede zur Reise um die Welt, dass die Begebenheiten der Unternehmung so „mannigfaltig und wichtig“ gewesen seien, dass sie „keines erdichteten Zusatzes“ (AA II, 10) bedurft hätten. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass unter wirkungspoetischen Gesichtspunkten kompositorische Techniken und spezifische literarische Mittel zum Einsatz kommen, die dem Mitgeteilten eine entsprechende Gestalt verleihen. Medium der Übertragungs- und Vermittlungsarbeit ist die Literatur.9 Die Erfahrungen und Fremdheitseindrücke, von denen in der Reise um die Welt die Rede ist, stellen also keine unmittelbaren Abbildungen dar,

9  Vgl. Heinritz 1998, 109-113. Die literarische Gestaltung der Gegenstände in der Reise um die Welt klassifiziert Heinritz als „[l]iterarische Ethnographie“ (ebd., 109).

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wie manche Studien zu diesem Thema nahe legen,10 sondern sind das Produkt literarischer Gestaltung. Dabei fungiert der Text als heuristi- sches Instrument interkultureller Prozesse, die kommunizierbar und verhandelbar gemacht werden sollen. Anders gesagt: Fremdes wird literarisch in Szene gesetzt, um einen Dialog darüber anzustoßen. Im Folgenden soll exemplarisch gezeigt werden, mit welchen literarischen Mitteln das in der Reise um die Welt geschieht, d. h. wie Interkultura- lität narrativ gestaltet wird11, um daran anknüpfend interkulturellen Tendenzen und Valeurs in späteren Schriften Forsters nachzugehen. Analog zum skizzierten Zusammenhang von kultureller und textueller Praxis sind dabei – das lässt sich an der Reise um die Welt idealtypisch ablesen – Fremdheitsbegriffe zu verhandeln, die sich nicht nur auf kultu- relle Differenzen beschränken.12 Zum einen kommen zu der Dimension kultureller Fremdheit noch weitere Fremdheits- und Entfremdungser- fahrungen, gerade auch gegenüber den Herkunftskulturen, hinzu; zum anderen werden diese Aspekte überblendet durch spezifische Vermitt- lungstechniken und Darstellungsmodi, die das Geschilderte jeweils in ein anderes Licht rücken. So erscheint es geradezu konstitutiv für die Poetik des Textes, dass Fremheitsdimensionen zurück- oder vortreten, sich verschieben und verändern, keineswegs aber, wie es für ein lineares Aufklärungsverständnis nahe läge, die Idee verfolgt wird, Fremdheit ausräumen oder aufheben zu können. Bevor jedoch die unterschiedlichen Fremdheitsmodi in der Reise um die Welt und die entsprechenden literarischen Gestaltungsmittel behandelt werden, sollen noch einige relevante Grundmerkmale des Textes zur Sprache kommen13: Bei der Betrachtung der Ähnlichkeit und Verschiedenheit der in Augen- schein genommenen Phänomene spielt durchgängig die Vielfalt bzw. „Mannigfaltigkeit“ der beobachteten und beschriebenen Erscheinungen,

10  Das gilt noch für die jüngste einschlägige Untersuchung von May 2011. 11  U. a. im Hinblick auf eine interkulturelle Poetik spielt diese Frage in den jüngeren Diskussionen der interkulturellen Literaturwissenschaft eine zentrale Rolle; gleich- wohl bedarf sie noch einer Vertiefung. 12  Im Hinblick auf interkulturelle Prozesse in der Literatur greift eine Reduktion auf kulturelle Differenzen, wie sie teilweise in den Kulturwissenschaften anzutreffen ist, generell zu kurz. 13  Vgl. zu den Fremdheitsmodi: Schäffter 1991.

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insbesondere der menschlichen Daseinsformen, eine ausschlaggebende Rolle. Reinhard Heinritz sieht darin zu Recht einen „Schlüsselbegriff“, der einen „heuristischen Anhaltspunkt“ biete.14 Deutlich wird das, wenn man der Frage nachgeht, wie und mit welchen Textverfahren der Gedanke einer gegenseitigen Bezogenheit heterogener Elemente litera- risch organisiert und inszeniert wird. Ebenso maßgeblich ist es, dass die unendliche Heterogenität der Objekte und Lebensweisen, mit der die Leser der Reise um die Welt konfron- tiert werden, das Bewusstsein einer Einheit des Menschengeschlechts befördert. Die Mannigfaltigkeit erscheint geradezu als Voraussetzung für eine Gemeinsamkeit, während umgekehrt die Besonderheit jedes Einzel- phänomens in seiner Andersartigkeit besteht. Diese Option korrespondiert mit der übergreifenden Textorganisation der Reise um die Welt. So zeigen verschiedene Forschungsbeiträge, darunter die instruktive Studie von Eberhard Berg,15 wie sich die Darstellung als Reise durch unterschiedliche geschichtliche Menschheitsformationen entpuppt. Indem die Erfahrungen der Entdecker in den von Europa weit entfernten Orten auf die Vorvergangenheit der Ankömmlinge verweisen, verschmelzen diachrone und synchrone Perspektiven miteinander.16 Auf diese Weise etabliert sich das Modell einer Gleichzeitigkeit des Ungleich- zeitigen, das die Vorstellung einer chronologischen Zeitordnung und einer sich linear und homogen entwickelnden Identität außer Kraft setzt. Ein weiterer Querschnitt offenbart darüber hinaus das Charakteri- stikum, dass Forster, obwohl er die besuchten Ethnien gruppenweise beschreibt, meist nicht von ausgeprägten und klar voneinander abgrenz- baren Kulturen ausgeht, sondern Binnendifferenzen und Übergänge thematisiert und z. T. sogar mit dem Modell pluraler Zughörigkeiten operiert. So bewahren etwa Kontrastbildungen und entwicklungslogi- sche Vergleiche – man denke etwa an die Gegenüberstellung der Bevöl- kerung von Tanna und der „Pesseräh“ genannten Bewohner von Tierra del Fuego17 – den Interpreten davor, Kulturen aus sich heraus erklären zu wollen. Überhaupt realisieren sich entsprechende Einschätzungen meist

14  Heinritz 1998, 101. 15  Berg 1982. 16  Vgl. ebd. 17  Vgl. AA III, 212-218, 380-386.

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in temporären Koalitionen mit anderen Interpretamenten, wie sich hier generell ein prozessualer Kulturbegriff abzeichnet, der nur mit Bezug auf konkrete historische Situationen Geltung beansprucht. Das betrifft z. B. die in der Reise um die Welt aufgeworfenen Fragen nach der sozialen Homogenität der betreffenden ethnischen Gruppen, inwiefern ihren Mitgliedern religiöse Vorstellungen, Riten, Mythen, kulturelle Praktiken, Traditionen und Empfindungen gemeinsam sind. Das betrifft Forsters geschichtsphilosophische Perspektiven, Fragen nach den Grenzen der jeweiligen Kulturen, ihren Anfängen und Über- schneidungen mit anderen Gemeinschaften. Das betrifft noch sehr viel genereller die übergreifenden Reflexionen zu kultureller Kontinuität und Veränderungen durch das Eindringen der Europäer, über Einzig- artigkeit und Verallgemeinerung, Konsens und Divergenz, Anders- heit und Vergleichbarkeit sowie Fragen nach der Möglichkeit, so etwas Umfassendes wie Lebensweisen erfassen und beschreiben zu können.18 Alle diese Reflexionen – und seien sie noch so tastend und fragmenta- risch vorgetragen, ja selbst wenn die Antworten äußerst bedenklich und unbedarft ausfallen – machen Forster zu einem frühen Vertreter einer interkulturellen Literatur avant la lettre, wie umgekehrt sein literari- sches Werk ganz maßgebliche Impulse aus der ethnographischen Arbeit schöpft. Im Folgenden soll das an unterschiedlichen Aspekten der Fremdheits­ erfahrung und -darstellung in der Reise um die Welt verdeutlicht werden:

18  Forster zeigt sich diesbezüglich – diese Randbemerkung sei gestattet – schon einer modernen ahistorisch operierenden Interkulturalitätsforschung überlegen, insofern diese, wie Geert Hofsteede, von kulturellen Entitäten ausgeht oder, wie Alexander Thomas, so genannte Kulturstandards hypostasiert. Vgl. Hofstede 1980; ders. und Hofsteede 2005; Thomas, 1996; ders. und Eva-Ulrike Kinast 2009.

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I Von den hergebrachten Bildern zu veränderten und verän- derlichen Sichtweisen: Die Reise um die Welt als Schule eines diskursiven und situativen Kulturbegriffs

In ganz dezidierter Weise praktiziert der Text eine Ablösung herge- brachter Sichtweisen zugunsten einer dynamisch-offenen und dialogischen Neubestimmung. Diese Disposition geht einher mit einer spezifischen Aufmerksamkeitslenkung, die ein anderes Sehen hervorbringt. Vielleicht am eindringlichsten lässt sich das an dem berühmten Eingangstableau zu Beginn des „Achten Hauptstücks“ zeigen, das auf arkadisch-bukolische Bildtraditionen Bezug nimmt. Nicht minder aufschlussreich erweist sich im vorliegenden Zusammenhang, wie das vorgeprägte Fremdheitsste- reotyp diskursiv aufgenommen und in weiterführende Betrachtungs- und Kommunikationszusammenhänge überführt wird:

Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O-Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen ­ führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte­ das Auge Reihen von niedrigern, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen­ gleich, mit Waldung bedeckt, und mit verschiednem anmuthigen Grün und herbstlichen Braun schattirt waren. Vor diesen her lag die Ebene­, von tragbaren Brodfrucht- Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jene empor ragten. Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren. Eine halbe Meile vom Ufer lief eine Reihe niedriger Klippen parallel mit dem Lande hin, und über diese brach sich die See in schäumender Brandung; hinter ihnen aber war das Wasser spiegelglatt und versprach den sichersten Ankerplatz. Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begonn zu leben. (AA II, 217f.)

Diese Annäherung an das Neue und Fremde, der eine reale räumliche und auch gedankliche Annäherung zugrunde liegt, ist präfiguriert

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durch ein Bild im Kopf des Betrachters. Es handelt sich um eine statische Konfiguration­, die fast stereotypen Charakter hat, ein idyllisch anmu- tendes Naturparadies, Bestandteil von Natur- und Landschaftsschilde- rungen in der Reise um die Welt, die Hans-Jürgen Lüsebrink als „Inventar von entdeckter und topographisch mit europäischen Blicken erfasster Fauna und Flora“ beschreibt.19 So sehr das zutrifft, so sehr kommt doch auch die Erkenntnis zum Tragen, dass Wahrnehmung durch vorgegebene Konstruktionen, die im vorliegenden Fall – irdisches Paradies, Bukolik, Arkadien – geradezu mythische Gestalt haben, präfiguriert ist. Die Präfigurationen werden keineswegs verworfen, sondern aufgegriffen und wie ein Filter vor die folgenden Beschreibungen gesetzt, um dann schritt- weise in Bewegung überführt zu werden: „die Aussicht begonn zu leben“ (AA II, 218). Im weiteren Verlauf geht aus der Beschreibung eine handlungs- und kommunikationsorientierte Darstellung hervor. Die stereotype Bildkons­ truktion löst sich auf in erweiterte Bezüge, die das Eingangstableau differen- zieren und fortschreiben. Zugleich aber wird ein Ausgangspunkt formuliert, der der gesamten neueren Alteritätsforschung, z. B. der Phänomenologie des Fremden von Bernhard Waldenfels20, zugrunde liegt: Das Fremde an sich ist eine Schimäre. Analog zum Eingangstableau des „Achten Hauptstücks“ existiert es nur als Bildkonstruktion in den Köpfen der aus der Ferne sich nähernden Betrachter. Fremdheit aber ist – das lässt der weitere Beschrei- bungs- und Argumentationsgang deutlich werden – keine statische, sondern eine relationale Größe. In einem Prozess offener Handlungs- und Diskurszu- sammenhänge unterliegt sie permanenten Veränderungen, von denen auch das Selbstverständnis des Betrachters keineswegs unberührt bleibt. Das Fremde ist eigentlich nur existent, wie Waldenfels ausführt, „indem es sich entzieht und über das Gesagte, Gesehene, Gehörte hinausgeht“, wodurch eine Anschauungs- und Redeweise hervorgebracht wird, „die etwas sieht, indem sie anderes sieht, die etwas sagt und tut, indem sie anderes tut“.21 Forster ist durchaus auf dem Weg zu einer solchen Erkenntnis, die er bereits in Text- stellen wie der o. g. in Szene setzt.

19 Lüsebrink 2003, 127. 20  Vgl. Waldenfels 1997 und ders. 2006. 21  Waldenfels 2001, 70, 92.

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II Multiperspektivität: Die narrative Vermittlung einer Plura- lität von Sichtweisen

In einem genuin aufklärerischen Sinn realisiert sich in der Reise um die Welt eine Vermittlung anderer Sichtweisen, die zu eigenen in Beziehung gesetzt werden. Dazu bedarf es spezifischer narrativer Techniken und Strukturen. Hierzu zählen relativ einfache Perspektivenwechsel, Entgegensetzungen und Umkehrungen, wobei der neu eingenommene Standpunkt nicht nur als anders wahrgenommen, sondern in seiner Besonderheit gewürdigt wird. Solche Mittel verstehen sich nicht nur als logisch-stilistische Instru- mentarien, sondern durchaus auch als philosophische Erkenntnisprinzi- pien, die im konkreten Fall das Paradigma der Interkulturalität etablieren. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel dafür liefert Forsters Auseinan- dersetzung mit den Sprachen der Südseeinsulaner, die für den Forscher schon bald nur noch einen graduellen Fremdheitscharakter haben. Ebenso aufschlussreich ist es aber, dass Sprache nicht nur als Teil der Kultur betrachtet wird, sondern als eigentliche Kulturleistung, wobei der Interpret in den einzelnen Sprachen historische und strukturelle Berührungs- und Verknüpfungspunkte erkennt:

Da sie merkten, daß wir Lust hätten ihre Sprache zu lernen, weil wir uns nach den Benennungen der gewöhnlichsten Gegenstände erkundigten, oder sie aus den Wörterbüchern voriger Reisenden hersagten, so gaben sie sich viel Mühe uns zu unterrichten, und freuten sich, wenn wir die rechte Aussprache eines Wortes treffen konnten. Was mich anlangt, so schien mir keine Sprache leichter als diese. Alle harte und zischende Conso- nanten sind daraus verbannt, und fast jedes Wort endigt sich mit einem Selbstlauter. Was dazu erfordert ward, war blos ein scharfes Ohr, um die mannichfaltigen Modificationen der Selbstlauter zu unterscheiden, welche natürlicherweise in einer Sprache vorkommen müssen, die auf so wenig Mitlauter eingeschränkt ist, und die, wenn man sie einmal recht gefaßt hat, die Unterredung sehr angenehm und wohlklingend machen. Unter andern Eigenschaften der Sprache bemerkten wir sogleich, daß das O und E, womit sich die mehresten Nennwörter und Namen in Herrn Cooks erster Reise anfangen, nichts als Artickel sind, welche in vielen morgenlän- dischen Sprachen, vor den Nennwörtern herzugehen pflegen, die ich aber im Verfolg dieser Erzählung entweder weglassen oder durch einen Strich von dem Nennwort trennen werde. (AA II, 220f.)

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Es zeigt sich deutlich, wie relativ einfache Perspektivenwechsel dazu dienen, unbekannte oder unerforschte Facetten eines Themas hervortreten zu lassen. In Verbindung mit dem Sammeln von sprachlichem Daten­material sind es solche zunächst nebensächlich erscheinenden Beobachtungen, die Johann Reinhold und Georg Forster zu „Wegbereiter[n] der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft“22 werden lassen. Entscheidend für die Ausbildung des interkulturellen Paradigmas ist aber auch, dass mit der Aufmerksamkeit für Andersartigkeiten und Unterschiede das Bewusstsein für eigene Bedingungen und Identitätsbildungen geschärft wird. Daraus erwacht die Frage – und das ist wiederum konstitutiv für die Aufklärung –, ob das Vorgefundene tatsächlich das Nonplusultra darstellt, was man vom Anderen lernen kann und inwiefern sich die Welt aus dem Miteinander unterschiedlicher Perspektiven vervoll- kommnen lässt. Die Beschäftigung mit den Südseesprachen führt aber auch auf zweifache Weise das zentrale Modell der Vernetzung vor Augen: Zum einen weisen die Diskurse der Europäer und der Insulaner jeweils über sich hinaus, zum anderen aber sind sie strukturell miteinander verbunden.

III Die methodische Verdichtung von Erfahrung und kultu- rellem Kontext, Narration und Reflexion

Die Reise um die Welt ist zu großen Teilen durch sehr ausführliche und engmaschige Beschreibungsmuster geprägt, die sowohl den Alltag an Bord und auf den Inseln, die nautische und wissenschaftliche Arbeit sowie besondere Erfahrungen und Entdeckungen betreffen. Ein signifikanter Zug besteht darin, dass die Beschreibungen so verdichtet und in kulturelle Kontexte gestellt werden, dass die folgenden Reflexionen fast zwangsläufig daraus hervorgehen. Das geschieht durch Fragen, die wiederum des öfteren einen Perspektivenwechsel vollziehen – man denke an das markante „Was mußten die Wilden von uns denken?“ (AA III, 273)23 –, oder durch kulturkontrastive Betrachtungen. Orientierungsfunktion bieten in dieser Hinsicht Passagen, die wie die folgende aus der Vorrede, autoreflexiven und methodischen Prinzipien Raum geben:

22  Rensch 1999. 23  Vgl. dazu May 2005, 1-20.

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Ein Reisender, der nach meinem Begriff alle Erwartungen erfüllen wolle, müsste Rechtschaffenheit genug haben, einzelne Gegenstände richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber auch Scharfsinn genug, dieselben zu verbinden, allgemeine Forderungen daraus zu ziehen, um dadurch sich und seinen Lesern den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen. (AA III, 13)

Es zeichnet Forsters Vorgehensweisen aus, dass sie weder abstrakt noch stereotyp oder statisch ausfallen. Fast immer sind seine Reflexionen rückge- bunden an konkrete, z. T. mikroskopische Beobachtungen sowie an erfah- rungsbasierte, kumulativ verdichtete und kontextualisierte Beschreibungen. Nur in der Einbindung in solche Zusammenhänge beanspruchen die auf Konkretion und Differenzierung bedachten Deutungen Gültigkeit – das darf als ein methodisches Grundprinzip der Reise um die Welt gelten.

IV Die Konstruiertheit von Identitäten und die Verschrän- kung von Fremdem und Eigenem

In der Darstellung der europäisch-überseeischen Begegnung und der damit zusammenhängenden Interaktionen und Konflikte vermittelt die Reise um die Welt ein hohes Maß an kulturellem Wissen. Allerdings sind andere Aspekte noch vergleichsweise unterrepräsentiert, da der Text zumeist ausschließlich als objektives Dokument des Kulturkon- takts gelesen worden ist. Demgegenüber wäre dem berühmten Diktum Forsters aus der Vorrede, er habe seine Leser wissen lassen wollen, „wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe“ (AA II, 13), durchaus noch mehr Gewicht beizumessen. Mit ähnlicher Zielrichtung heißt es weiter:

Vor allem ist zu bemerken, dass man einerley Dinge oft aus verschie- denen Gesichtspunkten ansiehet, und dass dieselben Vorfälle oft ganz verschiedne Ideen hervorbringen. [...] Mit einem Wort, die Verschiedenheit unsrer Wissenschaften, unsrer Köpfe und unsrer Herzen haben nothwen- digerweise eine Verschiedenheit in unsern Empfindungen, Betrachtungen und Ausdrücken hervorbringen müssen. (Ebd., 11)

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Mit diesem nachdrücklichen Hinweis auf die Verschiedenheit der Phänomene und die entsprechenden subjektiven Aufnahmeweisen liefert die Vorrede das methodische Rüstzeug für die folgenden Ausführungen: Wirklichkeit wird nicht als objektive Kategorie behandelt, sondern perspek­tivisch gebrochen in der jeweiligen Wahrnehmung des Betrachters. Doch vollzieht der Text ansatzweise noch einen weiteren Schritt, indem er die Konstruiertheit von Wirklichkeitsentwürfen, zu denen auch die Bilder über das Fremde gehören, offen legt und zur Diskussion stellt. Damit wird schon das Wissen um die Verschränkung von Fremdem und Eigenem vorbereitet, wie es von der modernen Alteritätsforschung – man denke etwa an Waldenfels24, aber auch an das berühmte Diktum Rimbauds „Car JE est un autre“25 – dargelegt worden ist. Identität und Nicht-Identität sind demnach untrennbar miteinander verbunden. Da sich das Eigene nur im Kontrast zum Fremden als „Eigenes“ bestimmt, ist diesem als integraler Bestandteil immer auch ein Stück Fremdheit inhärent. Strikte Trennungs­ linien oder bipolare Gegenüberstellungen dieser beiden Kategorien erscheinen daher obsolet. Während also bei Forster zum einen das Bewusstsein zum Ausdruck kommt, dass Fremdheit eine relationale Größe ist, artikuliert sich auch die Überzeugung, dass Lebenswelten, die auf den ersten Blick so verschieden erscheinen, gleichen Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungsfaktoren unter- liegen und dadurch auch miteinander verbunden sind. Ausdruck findet das in wiederkehrenden Hinweisen auf Universalien menschlichen Lebens, etwa wenn es heißt:

Für ein empfindsames Gemüthe ist aber das warlich ein tröstlicher Gedanke, daß Menschenliebe dem Menschen natürlich sey und daß die wilden Begriffe von Mißtrauen, Bosheit und Rachsucht, nur Folgen einer allmäligen Verderbniß der Sitten sind. (AA II, 267)

Forster macht aber nicht nur auf die Verschränkung von Fremdem und Eigenem aufmerksam; er sensibilisiert auch für das Fremde im Eigenen, das dadurch in seiner Relativität und in seinem kontingenten Charakter kenntlich wird. So richtet sich der Blick aus der Perspektive der europäisch-­überseeischen Begegnung auch zurück auf die politischen

24  Vgl. Anm. 19. 25  Rimbaud 1997, 367f.

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Systeme Europas, die ihre Brüchigkeit offenbaren, da sie mit humanisti- schen Idealen nicht harmonieren:

Es ist würklich im Ernste zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisirten Vöker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben. Aber es ist eine traurige Wahrheit, dass Menschenliebe und die poli- tischen Systeme von Europa nicht mit einander harmoniren! (Ebd., 245)

Solche Textstellen legen die Kritik nahe, dass in der Reise um die Welt als Vergleichsparameter und vielleicht sogar Zielpunkt letztendlich immer die europäische Kulturentwicklung fungiert (AA III, 452). Man mag darüber hinaus, wie es von Seiten der postcolonial studies geschieht, den Paterna- lismus und die Naivität der jeweiligen Optionen kritisieren. Andererseits bleibt zu bedenken, dass die Aufklärung eine Kommunikationskultur anstrebt, und zwar im weltweiten Maßstab. So beruht das sich ausfor- mende Paradigma der Interkulturalität auf der immanenten Utopie einer herrschaftsfreien Begegnung der Kulturen und damit auf dem Gedanken, dass es notwendig ist, die epochalen Defekte der europäischen Entwick- lung zu revidieren durch eine Reform, die nur durch die Überwindung der negativen Folgen von Herrschaft zu erreichen ist. Die im Verlauf der dreijährigen Reise gemachten Welterfahrungen und ihre Verarbeitung in Formen einer „literarischen Ethnographie“ setzen sich fort in Forsters späterem Schreiben, das im Wechselspiel von Fremdheits- und Selbsterfahrungen neue Sichtweisen erprobt. Wenn er dabei – man denke z. B. an den Essay Über Leckeryen – dezidiert von der Annahme ausgeht, dass Fremdheitserfahrungen das Wahrnehmungs- und Denkvermögen schärfen, schreibt er sich ein in eine Tradition, die u. a. Anfang des 20. Jahr- hunderts in den Avantgarde-Konzepten bildender Künstler zum Tragen kommt. Eine weitere Besonderheit, die es hier hervorzuheben gilt, besteht darin, dass die betreffenden Textualisierungsprozesse durchgängig eingebunden sind in unmittelbare Kommunikationszusammenhänge. In der Absicht, den Prozess einer öffentlichen Meinungsbildung zu befördern und weiterzuentwickeln, bieten sie neuen und heterogenen Auffassungen eine Plattform. Anders gesagt: Schreiben realisiert sich für Forster auf vielfache

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Weise als Erfahrung, Durchdringung und Übersetzung von Fremdheit, wobei der jeweilige Situationscharakter und die entsprechenden Hand- lungsabsichten mit zu bedenken sind. Das gilt sowohl für die Reiseliteratur, Briefe, Rezensionen, Annotationen, Vorreden und andere kleine Formen, insbesondere aber für die Essays, die eine besondere Affinität zur Fremd- heits- und Alteritätsthematik aufweisen, wie Reinhart Heinritz hervorhebt:

Der Essayist schließlich ist für einen unabhängigen und weltoffenen Blick am ehesten disponiert; er kann die kulturphilosophischen Fundierungen liefern. Integration nach innen und Öffnung nach außen ist die wesent- liche Leistung dieser Denk- und Schreibweise. Ihr Formgesetz ist nicht polare Entgegensetzung, sondern mehrstellige Verknüpfung kultureller Äußerungen. Die Reise um die Welt ist auf dem Weg zu diesem Prinzip.26

Bringt man darüber hinaus das Phänomen der „Gattungsdiffusität“, das Konrad Ehlich als ein Merkmal der Forsterschen Autorschaft herausstellt27, in Anschlag, ergeben sich noch weitere Einsichten. „Textproduktion und Textreproduktion“ waren nämlich, wie Ehlich ausführt, im 18. Jahrhun- dert „wesentlich stärker personal bezogen und auf diskursive­ Vergegen- wärtigung angewiesen“28. Zahlreiche Textarten hatten demnach „eine noch sichtbare und akzeptierte Funktion für ein personal vermitteltes diskursives Geschehen“29. Im Grunde genommen müsste angesichts dessen auch der Werkbegriff im vorliegenden Zusammenhang durch eine work in progress-Vorstellung ersetzt werden, die Idee eines permanenten Verän- derungen unterworfenen, unabschließbaren Textuali­sierungsprozesses. Ein solches dynamisch-offenes, kommunikatives und handlungsorien- tiertes Textverständnis wird Forsters Denken und Schreiben sehr viel eher gerecht als ein noch weithin geläufiger statisch-normativer Gattungsbe- griff. Auf einen solchen scheint sich allerdings noch Gideon Stiening zu beziehen, wenn er in einem Beitrag zur Kant-Forster-Kontroverse zwar zustimmend vermerkt, dass die Forschung „Argumentationsform und –stilistik der

26  Heinritz 1998, 175f. 27 Ehrlich 2012, 2. 28 Ebd., 6 29 Ebd.

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Texte“ 30 untersucht, zugleich aber davor warnt, Forsters Wissenschafts- anspruch „durch fragwürdig epistemologisierte Gattungsfragen“31 zu beschädigen. Zwar lässt sich Forster in der Tat von wirkungsstrategischen Absichten leiten, um „möglichst viel Leser [...] zu erreichen“,32 allerdings übersieht Stiening, dass die besonderen wissenschaftlichen Ansprüche Forsters vom diskursiven, situativen und handlungsbezogenen Charakter der gewählten Ausdrucksformen gar nicht zu trennen sind. Formfragen treten bei ihm ja gerade nicht additiv hinzu; sie haben – das unterscheidet sie, polemisch gesagt, von „Kunst am Bau“ – keinen bloß äußerlichen Orna- mentcharakter. Sieht man weiterhin einmal davon ab, dass Stiening nicht zwischen Essay und Essayismus unterscheidet, so wäre immerhin darauf zu verweisen, dass die durchaus wissenschaftsmethodisch und epistomologisch fundierte Wahl des Kommunikationstyps „Essay“ mit seinen antagonismus- theoretischen, antisytematischen und transgressiven Impulsen33 die wissen- schaftlichen Geltungsansprüche Forsters noch unterstreicht, wie sich schon an den Reaktionen der zeitgenössischen Leserschaft ablesen lässt.34 Die Thematisierung von Textualisierungsformen und -strategien steht im Zusammenhang mit der Frage nach den interkulturellen Potentialen­ von Forsters Werk. Zu dessen Charakteristika gehört es nämlich, dass spezifische ­Techniken – zu nennen wären Perspektivenwechsel, Umkehrungen­ und Polyvalenzen – dazu dienen, für Prozesse des Kultur- kontakts und interkulturellen Austauschs zu sensibilisieren. Wie kaum jemals zuvor in der deutschsprachigen Literatur weist sein Oeuvre fast durchgängig kulturreflexive Potentiale auf. Das betrifft die vielfältigen Aspekte der Interaktion und Wahrnehmung von Kulturen, aber auch kulturelle Selbstwahrnehmungen sowie die Zuschreibung von Stereo- typen, Fremdbildern und eigenen Identitäten. Themen und Fragestellungen, die im Verlauf der Weltreise aufgeworfen werden, begleiten Forster durch sein gesamtes weiteres Leben. Zugleich entwickelt er schon in der Reise um die Welt in Form einer „[l]iterari-

30  Stiening 2012, 48. 31  Ebd., 50. 32  Ebd., 49. 33  Vgl. dazu u. a. Küntzel 1969; Ewert 1993; Müller-Funk 1995; Schärf 1999; Zima 2012. 34  Forster nahm ja in den wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit mit seinen Essays und Streitschriften eine durchaus beachtliche Stellung ein.

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schen Ethnographie“35 Darstellungs- und Vermittlungsmodelle, die in der Folge verlängert und fortgesetzt werden. Indessen treten an die Stelle von bestimmten Erzählmustern, wie sie die Darstellung der Weltreise prägen, mit Hilfe von Verknüpfungen und Vernetzungen verstärkt kommunikative­ Textszenarien, die handlungs-, öffentlichkeits- und dialogbezogen die Ziele der Aufklärung verfolgen, darunter nicht zuletzt auch das Ideal eines Austauschs und einer Verständigung der Kulturen. Besonders hoch zu veranschlagen ist dabei, dass diese Ansätze nicht abstrakt oder ahistorisch­ ausfallen, 36 sondern sich kulturtheoretisch in einem Dazwischen bewegen, aus dem heraus jeweils konkrete und produktive Interventionen erfolgen, denen mitunter ein utopisches Moment nicht abgeht. In Verbindung mit der Bereitschaft zur permanenten Selbstreflexion und -korrektur hat Forster dadurch den Weg zu den neueren Interkulturalitätsdiskussionen gewiesen.

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35  Heinritz 1998, 109. 36  Ein solches Problem ergibt sich z. B. für die postkoloniale Theorie durch ihre Fixierung auf einen „dritten Raum“.

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Zwischen Natur, Geschichte und Revolution : Das Prinzip des Mannigfaltigen in Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790

Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein kommt insofern eine Schlüssel­ stellung zu, als ihnen die Bearbeitung der Tagebücher und zahlreicher Briefe zugrunde liegt, die Forster während seiner Reise vom Niederrhein über die Niederlande bis nach England und Frankreich an verschiedene Freunde und seine Frau Therese Heyne schrieb.1 Bekanntlich engagiert er sich in den beiden zu Lebzeiten erscheinenden Bänden für das arbeitende Volk und die Demo- kratie. Gleichzeitig lässt sich Forster aber auch von seiner zukunftsorientierten Einbildungskraft treiben: „Was kann ich dafür, daß meine Phantasie mir Wahrscheinlichkeiten vorrechnet und sich ein mögliches Bild daraus formt?“ (AA IX, 103), fragt er seinen fiktiven Leser. Wie im Folgenden zu zeigen i­­st wendet sich Forster mit dieser Poetik des Beschreibens historischer, zeitpoli­ tischer, ästhetischer und ethnographischer Beobachtungen an die Einbildungs- kraft seines Publikums, um es für die Probleme einer ‚objektiven‘ schriftstelle­ rischen Darstellung und zudem für die Mannigfaltigkeit der menschlichen

1 Die Reise unternahm Forster kurz nach dem Ausbruch der Französischen Revolution zusammen mit Alexander von Humboldt – hauptsächlich um sich von einer tiefen seelischen Krise zu erholen. Zu den Umständen dieser letzten Krise vgl. die Einführung­ von Gerhard Steiner in AA IX, 337-345. Zu Forsters kompositorischem Verfahren und seiner Methode, Briefe und Tagebücher durch zwei gegensätzliche Tendenzen zu benutzen siehe Peitsch 1978, 309ff. Nach Peitsch ist Forsters Bearbeitung der Briefe und des Tagebuchs durch zwei gegensätzliche Tendenzen gekennzeichnet: Er habe nämlich sowohl gekürzt als auch erweitert. Einige Briefe, wie die an Jacobi und an den Schwieger­vater Heyne, wurden sogar nicht benutzt, während andere entschieden gekürzt wurden.

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Erscheinungen­ zu sensibilisieren. Mit dieser Anspruchshaltung ist jeder Versuch einer reductio ad unum, die sich über alle Unterschiede zwischen Ländern und Kulturen hinwegsetzen möchte, zum Scheitern verurteilt – und dies gilt für Forster selbst dann, wenn die Unternehmung auf den Prinzipien der Aufklärung und Bildungsförderung der Untertanen beruht. Wie Forster die Leser auf das Mannigfaltige aufmerksam macht, lässt sich beispielsweise dort beobachten, wo er sich den josephinischen Reformen in Belgien zuwendet:

Die Lieblingsidee des Kaisers, eine völlige Gleichförmigkeit des Admnistra- tionswesens und der Gesetzgebung in allen seinen Staaten einzuführen, ist ebenfalls nicht frei von Tadel geblieben. Es scheint in der That natürlicher­, die Formen nach dem verschiedenen Genie der Völker abzuändern, als alle Völker in Eine Form zu zwängen […]. Die Verschiedenheit des Bodens, der Lage, des Himmelstrichs bestimmt diese Mannichfaltigkeit im Menschenge- schlechte, wie in der ganzen organischen Schöpfung, die nur durch sie desto reicher und schöner unseren Augen und unserem Verstande entgegenglänzt. Sie durch irgend einen Mechanismus einschränken wollen, scheint beinah eine Versündigung an der Natur […]. Der große Mann nimmt die Menschen wie sie sind, und indem er ihnen den Glauben an ihre Spontaneität und Selbstbestimmung läßt, weiß er sie unfühlbar wie die Gottheit, nach seinem Willen und zu seinem Zwecke zu lenken […]. (AA IX, 174f.) Beruft sich Forster hier auf den Common Sense, so konfrontiert er die poli- tischen Aporien einer abstrakten Vernunft zudem mit dem Gegensatzpaar des Organischen und Mechanischen. Wie Gerhard Kurz gezeigt hat, war die Aufklärung in ihrer Spätphase von einer selbstkritischen und selbstre- flexiven Neigung charakterisiert sowie von der Tendenz, „den Anspruch und die Forderungen der Vernunft über sich selbst aufzuklären.“2 Somit steht Forster auch am Anfang der literarischen Moderne, die in ihrer ‚amphibischen‘ Optik eben den Subjektivismus des berechnenden Denkens in Frage stellt. Diese kritische Auseinandersetzung der Literatur mit der Moderne setzt – wie Silvio Vietta gezeigt hat – Ende des 18. Jahrhunderts ein.3 Es muss also nicht erstaunlich anmuten, wenn zwischen Forsters ideo- logiekritischer Konstellation, die im Zeichen der Französischen Revolu­ tion entsteht, und jener späteren Moderne, die sich auf Nietzsches Philo- sophie und den Empiriokritizismus beruft, mancherlei Verwandtschaften

2 Kurz 1988, 259. 3 Vgl. Vietta 1992, 241.

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erkennbar sind. Diese betreffen nicht zuletzt die neue Rolle, die die Einbil- dungskraft im Rahmen einer neuen, nicht dogmatischen Bestimmung­ der Seelenvermögen spielt. Eben die Einbildungskraft als Fähigkeit, sich selbst und den Leser ins Bild zu versetzen, muss in den Ansichten betont werden. Die Rolle der Einbildungskraft, die immerhin mit dem Erinnerungs­ vermögen einhergeht, ist bei Forster doppelt und zweideutig: doppelt, indem die Einbildungskraft sowohl auf die politische Sphäre als auch auf die ästhetische angewandt wird; zweideutig, weil Forster immer wieder den subjektiven und perspektivischen Charakter seiner Ansichten betont, aber zugleich versucht, durch die Einfühlung die Grenze zwischen dem Betrachter und dem Gegenstand der Betrachtung, zwischen Leser und Textoberfläche zu verwischen. Unter den Antonomien, die das Spannungsfeld der Ansichten umschreiben, muss man auch die Opposition von Natur und Kultur erwähnen, deren Pole jedoch anders als bei Rousseau nie zu Hypostasen erstarren. Während bei Rousseau der individuelle Fortschritt den Verfall der menschlichen Gattung einbezieht, stellen Natur und Kultur bei Forster keineswegs voneinander getrennte, geradezu gegenläufige Instanzen dar: Im Strom der Zeit erscheinen sie vielmehr dialektisch aufeinander bezogen. Die Überzeugung, dass auch die Natur – in primis als menschliche Natur zu verstehen – sich unaufhaltsam ändert und einer fortwährenden Verwand- lung ausgesetzt ist, hatte sich in Forster angesichts der Großen Revolution sogar verstärkt. Diese unaufhaltsame Verwandlung wird von der Einbil- dungskraft getragen, der für den Einzelnen eine ähnliche Rolle zukommt, wie die, die das Kollektiv für die Revolution spielt. Der Begriff der Auflösung, den Forster auf die Revolution bezieht, betrifft nicht zuletzt das Vergessen als Vorgang, der der Konstitution der Ansichten als autobiographische Gattung beisteht und der ebenso wie das gegensätz- liche Moment des gewollten, d. h. gezielten und bewussten Eingedenkens am literarischen Verfahren teilnimmt:

Die erwachsene Vernunft mag ringen mit diesem Sporn zur Wirksamkeit: Auflösung folgt ihrem Siege, und in jedem neuen Organ fesseln sich des frischen Lebens stärkere Bande […]. Auch Schwung und Anziehung stellte die Natur einander so entgegen; ewig ringen auch diese Urkräfte des Weltalls. Darf diese hier, und jene dort der andern etwas abgewinnen; dürfen sie in gleichen Schalen gewogen, die wunderähnliche Harmonie der Sphärenbahnen erzeugen; sind

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die Phänomene der Auflösung und der in neuen Bildungen sich wieder verjün- genden Natur die Folgen ihres unaufhörlichen Kampfes: so darf dieser Kampf nicht enden, wenn nicht das Weltall stocken und erstarren soll! (AA IX, 129) Weit davon entfernt, sich einander auszuschließen, erweisen sich auch die Kategorien des Organischen und Mechanischen als die Gegenpole, aus denen sich alle anderen dialektischen Gegensätze ableiten lassen: Spontaneität, unwillkürliches Eingedenken, Flüchtigkeit, Zufälligkeit einerseits, Regelmä- ßigkeit, Besonnenheit und Wiederholung andererseits. Der Einmaligkeit und Plötzlichkeit der Bilder, die das unwillkürliche Eingedenken für einen Augen- blick aus der Vergessenheit holen und auf der Oberfläche des Textes auftauchen lassen, haftet der Charakter von spontanen Einfällen an, infolge deren aus dem

Bewusstsein Entschwundenes sich auf einmal vergegenwärtigt­. So stellt das Vergessen bei Forster wie für die Moderne einen Vorgang dar, der sich mit Hilfe der antinomischen Bewegungen des Versinkens und Wiederauftauchens gliedern lässt. Eine ähnliche Abwechslung von Flug und Sturz wird uns in der berühmten Episode des Kölner Doms begegnen, worin man fast eine mise en abîme des ganzen Werks sehen könnte. Dass die Verflechtung solcher Antinomien eine rhythmische Gestalt aufzeigt, die sich nicht im Voraus bestimmen lässt, bietet sich als wichtige Analogie zur Revolution an. Diese hat in Forsters Augen die alten Kategorien der Beschrei- bung außer Kraft gesetzt und sogar die übertragene Gegenüberstellung von Subjekt und Gegenstand der Erkenntnis in Frage gestellt. Die Revolution sieht je nach Gesichtspunkt anders aus und beeinträchtigt sogar den festen Boden, auf dem das Subjekt in der alten anthropozentrischen Ordnung stand. Was noch wichtiger in diesem Zusammenhang erscheint, ist jedoch der Umstand, dass die Revolution­ die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung der menschlichen Geschichte desavouiert­. An ihrer Stelle zeichnen sich bei Forster die Züge einer fremden Konstruktion ab, in der mit einem Umschlag eine uralte Vergangenheit unter der neuen Konstellation der revolutionären Ereignisse noch einmal wiederkehrt und sich vergegenwärtigen lässt. So wechseln auch die angeblichen Gegensätze von Natur und Kultur, Organismus und Mecha- nismus mit einem Schlag die Stellen, und jedes Element der Antinomie droht in den Gegensatz umzukippen. Das hat auch für die Komposition der Ansichten erhebliche Folgen: Panoramatische Überblicke und Interieurs erscheinen in einer rhythmischen Abwechslung und stehen in einem Verhältnis der Umkehrung zueinander, die schon wie eine Formulierung Benjamins anmutet:

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„Das Interieur tritt nach außen“.4 Die städtische Menge, die der Betrachter von seinem erhobenen Standort beobachtet, ist zugleich in seinen Augen die Volks- masse der Revolution, in deren Wirbel der Einzelne zugrunde gehen könnte. In der Umkehrung der Räume kündigt sich eine verborgene Analogie an: die Intuition nämlich, dass öffentliche Räume, Einrichtungen, städtische Archi- tekturen das Traumbewusstsein des Kollektivs bilden.5 Die Rolle, die für Benjamin die Pariser Architektur spielen wird, nehmen in Forsters Augen die Landschaften, aber auch Museen, Galerien, Antikensammlungen und Naturalienkabinette ein. Forster hat jenen Primat der Politik über die Geschichte durchgesetzt, den Benjamin mit der „kopernikanischen Wendung“ sowohl der individu- ellen Anamnese als auch der geschichtlichen Anschauung verbindet.6 Wie Benjamin angesichts der ältesten Pariser Passagen liest Forster aus der Phantasmagorie der Waren und der frühen Textilfabriken die Wiederkehr des Mythos heraus. Auf den Mythos verweisen die in den Ansichten häufig wiederkehrenden Motive des Urwalds und des Meers. Benjamin beschwört die Atmosphäre der ältesten Passagen, indem er ständig auf den Vergleich mit einer unterseeischen Welt, mit Polypen, Sirenen und Korallenbäumen abhebt.7 Es ist vielleicht kein Zufall, wenn er sich in den Pariser Umrissen

4 Benjamin 1983, 512: „Das Interieur tritt nach außen. Es ist als wäre der Bürger seines gefes- teten Wohlstands so sicher, daß er die Fassade verschmäht […]. Die Straße wird Zimmer und das Zimmer wird Straße. Der betrachtende Passant steht gleichsam im Erker“. 5 Ebd. Bd. 1, 533: „Straßen sind die Wohnung des Kollektivs. Das Kollektiv ist ein ewig unruhiges, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände […]. Mehr als an jeder andern Stelle gibt die Straße sich als das möblierte ausgewohnte Interieur der Massen zu erkennen“. 6 Ebd., 491. 7 Ebd., 139: „Die Galerie, die zu den Müttern führt, ist aus Holz. Holz tritt auch bei den gewaltigen Umwandlungen im Bilde der Großstadt transitorisch immer wieder auf, baut mitten in den modernen Verkehr in hölzernen Bauzäunen, hölzernen Planken, die über die aufgerissenen Substruktionen gelegt sind, das Bild ihrer dörflichen Urzeit“. Und an Friedrichs Gerstäckers Versunkene Stadt anlehnend kommentiert Benjamin: „Könnte aus den verdrängten ökonomischen Bewußtseinsinhalten eines Kollektivs ähnlich wie Freud es von sexuellen eines Individuellbewußtseins behauptet, eine Dichtung, eine Phantasievorstellung entspringen, dann hätten wir in dieser Darstellung die vollendete Sublimierung der Passagen mit ihrem aus den Auslagen hervorwuchernden Handels- kram vor Augen […] der ganze Prunk und Stolz der Gasbeleuchtung geht in diese unter- seeische Welt von Gestäcker ein“ (ebd, Bd. 2, 669).

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von Bonnet die Metapher der Polypen ausleiht, deren dezentrale Physio- logie ihm „als Modell für die politische präkare Vermittlung einer einheit- lich und organisch gedachten Volkssouveränität“ dient.8 Bonnet hatte in seiner Palingénésie philosophique (1769) auch die Idee der Seelenwanderung vertreten, die auf der Rückkehr der kleinsten Bestandteile der Materie, der sogenannten Keime, beruhte. Noch wichtiger im Zusammenhang mit Forster ist jedoch der Umstand, dass der zyklischen Zeitvorstellung eine reflexive Struktur des Selbstbewusstseins bei Bonnet entspricht.9 Ein anderes Schema verdrängt die vertraute, aufklärerische Vorstellung einer linearen, fortschrittsorientierten Geschichte; anregend sind dafür die kosmologischen Metaphern der zeitgenössischen science sociale, die ein zyklisches, kreisläufiges Modell kennt, das jede angebliche Entwicklung als anthropozentrische Konstruktion der einseitigen Vernunft dementiert. Auf dieses kosmologische Modell könnte auch Forsters rätselhaftes Motiv der „exzentrische[n] Bahn“ zurückgeführt werden. Die exzentrische Bahn, die als Metapher oder metaphorisches Signal aufzu- fassen ist, weist eine mehrschichtige Struktur auf. In ihrer Mehrdeutigkeit spiegelt sie die Reihe der unversöhnlichen Gegensätze, die die Ansichten durchziehen. Ex-zentrisch ist diese Bahn, insofern sie auf den unbefes­ tigten Standort des Subjekts der Betrachtung hinweist. Dieses dezen- trierte Ich hat seinen alten Schwerpunkt verloren, aber dafür eine neue Gelegenheit der Selbstdurchsetzung gewonnen. Nur noch für einen Augen- blick kann das Subjekt hinfällige Bilder der zeitgenössischen Ereignisse beschreiben. Immer wieder wird es in ihren Wirbel gezogen und riskiert sogar, vernichtet zu werden: „Die Revolution“, so Forster in den Parisischen Umrissen, „hat alle Dämme durchbrochen, alle Schranken übertreten, die ihr viele der besten Köpfe hier und drüben bei Ihnen, in Ihren Systemen vorgeschrieben hatten“ (AA X.1, 594). Jetzt erscheinen die philosophischen Systeme, in deren Gerüst die bürgerliche ratio die aufgewachten Kräfte des Volks zwingen wollte, ebenso unnütz und abgelebt wie in Aachen die

8 Rüdiger 2013, 61. 9 Bonnet 1769, 148f.: „L’Ame peut-elle se voir & se palper elle-même? Le Sentiment intime qu’elle a de son Moi: elle n’acquiert la Conscience métaphorique ou l’Apperception de son Etre, que pour ce retour qu’elle fait sur elle-même lors qu’elle éprouve quelque Perception, et c’est ainsi qu’elle sçait qu’elle existe“. Vgl. Andreas Böhn 1994. Er hat die Hypothese aufgestellt, Bonnets Werk habe Heines Idee der Seelenwanderung beeinflusst.

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Reichsinsignien, die auf die tausendjährige Dauer des deutschen Reiches hätten hinweisen sollen (vgl. AA IX, 104). Andererseits verkörpert die exzentrische Bahn den Versuch, der begrenzten Perspektive dieses selben Subjekts zu entkommen und die Aufeinander- folge der Zeitalter aus einem umfassenderen Gesichtspunkt zu betrachten. Im Dom-Kapitel wird im Kontext der ästhetischen Wahrnehmung­ deutlich, dass die Schranken zwischen den Epochen fallen. Mit der Großen Revolu- tion hebt eben die Tendenz an, das Neueste aus der Maske der vergangenen­ Epoche durchschimmern zu lassen. So war übrigens auch Volney verfahren, der die Zerstörung von Palmyra beschworen hatte, um auf den zyklischen Charakter der Revolution hinzuweisen.10 Fast könnte man in der Exzen- trizität die Vorwegnahme jenes Archimedischen Punkts erblicken, von dem Kafka in den Tagebüchern spricht, um sich auf die Unmöglichkeit des modernen Ich zu beziehen, die Forderungen des Lebens und die der Betrachtung zu versöhnen: „Er hat den Archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich ausgenützt, offenbar hat er ihn nur unter dieser

Bedingung finden dürfen“.11

I Die Revolution zwischen Ausbruch und Gesetzmäßigkeit: noch etwas zur ‚Mannichfaltigkeit‘

Als Kartograph und Zeichner sollte Forster mit dem Umstand vertraut sein, dass die globale Beschreibung einiger Räume oder topologischer Objekte mindestens eine Dimension mehr erfordert, als bei lokaler Betrachtung wahrzunehmen ist. Für solche Objekte wird im 19. Jahr- hundert der Mathematiker Bernhard Rieman den Begriff der Mannig- faltigkeit prägen. Forster scheint sich der Schwierigkeit bewusst, dass unter der Fläche des Schreibens eine dritte Dimension existiert, worauf er den Leser aufmerksam machen will. Nun ist diese Tiefendimension nicht nur topo- logisch. Sie hat vielmehr mit der Tiefe der individuellen und geschichtli- chen Vergangenheit zu tun. Wie eng das Problem der mémoire involontaire­

10 Rüdiger 2013, 54. 11 Kafka 2003, 658.

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mit dem Thema des revolutionären Erwachens verbunden ist, geht aus dem Umstand hervor, dass beide nur ex negativo erkennbar und erfassbar sind: Beide sind nämlich dadurch erkennbar, dass sie sich dem bewussten Erkenntnistrieb entziehen. Nur das kann zum Gegenstand der mémoire involontaire werden, was nicht mit Bewusstsein erlebt worden ist, was

sozusagen unterhalb des Meeresspiegels verborgen liegt. Auch wenn Forster zusammen mit den französischen Vorläufern der science sociale die Revolution und den Revolutionsgeist dem Bereich der Naturwissenschaft zuschreiben möchte, hütet er sich davor, das revolutionäre Ereignis einer strengen Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Es hat vielmehr den Anschein, als hätte ausgerechnet die Revolution eine zu abstrakte, nach der exakten Wiederholung ausgerichtete Auffassung der Naturgesetze modifiziert. Dem Mechanismus der Wiederholung, der Gewohnheit, der Despotie und des dogmatischen, systematischen Wissens setzt Forster ein anderes, mehrperspektivisches Wissen entgegen, das sich ständig auf dieses unter- seeische Nicht-Wissen dialektisch bezieht. Dieses andere Wissen streitet der Vernunft jeden absolutistischen und einseitigen Anspruch auf andere Seelenvermögen ab.12 Es ist nur allzu konsequent, wenn er das Recht auf die individuelle Eigentümlichkeit als das höchste Recht der Menschheit betrachtet. In den Ansichten erscheint ihm die natürliche Ungleichheit zudem als der größte Kunstgriff, womit die Natur den Menschen vor dem toten Mechanismus bewahrt.13 Dies ist der Trieb der menschlichen Innovation und Bildung; darin schließt Forster direkt an den Monismus Herders und Blumenbachs an. Zugleich sorgt diese Ungleichheit dafür, dass die zyklisch wiederkehrenden Epochen sich nie vollkommen ähneln,

12 Gegen den Despotismus der Vernunft hat sich Forster wiederholt geäußert. So schreibt er in einem Brief an Heyne, er wolle „Phantasie und Erfindung wohl vertheidigen […] so lange sie nicht falsch und erkünstelt, sondern wahr und natürlich sind“ (an Heyne, 30.08.1790, AA XVI, 177). Geradezu paradigmatisch für Forsters Vorbehalte der Aufklärung gegenüber wirkt sein gegen Kant gerichteter Aufsatz Noch etwas über Menschenraßen. 13 So generiert sich dieses negative Konzept des Bildungstriebes aus den ursprünglichen Mängeln und Schwächen der menschlichen Natur und führt zur Schaffung von „bild- lichen Supplementen wie Sprache, Liebe und Politik“ (Rüdiger 2013, 44). Eine physio- logische und materialistische Begründung kehrt auch bei Nietzsche wieder, wenn er die Entstehung des Bewusstseins auf ein soziales Bedürfnis zurückführt, das unter den gefährdetsten und schwachen Individuen, unter den Spätgebornen besonders stark wäre (Vgl. Nietzsche 1980, 590f.).

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denn es sind die Ungleichheit und die individuelle Eigentümlichkeit, die in solcher Wiederkunft die Verschiedenheit bestehen lässt. Dies hat erhebliche Folgen auch für Forsters Auffassung der Moderne: sie setzt sich der Antike entgegen und stellt zugleich die Kraft dar, sich die Antike anzueignen.14 Zugleich erhebt Forster allerdings die französischen Ereignisse zum Vorbild aller künftigen Revolutionen. Wiederum im Anschluss an Volney15 erblickt er in der Revolution die Wiederkehr eines Urbildes und zugleich die Vorwegnahme der Zukunft. In ihr offenbart sich ein zerstörischer Trieb, der in der Vernichtung der üblichen Aufeinanderfolge gipfelt. Solche Vergegenwärtigung erkauft sich jedoch auf Kosten des fortdauernden­ Bruchs des erzählerischen Kontinuums. Dem Bild der Revolution haftet somit eine ähnliche „rettende“ Funktion der Bilder der mémoire involontaire an. Beide „kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns daran erinnerten“.16 Nicht anders als im Mechanismus des individuellen Gedächt- nisses sprengt auch im Fall der Revolution die plötzlich und völlig uner- wartete Ähnlichkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart die Aufein- anderfolge der Geschichte und verwischt auf einen Schlag die Grenzen zwischen den verschiedenen Epochen: „Damit ein Stück Vergangenheit von der Aktualität betroffen werde, darf keine Kontinuität zwischen ihnen bestehen“, so Benjamin im Passagenwerk.17

II ‚Mannichfaltigkeit‘ als kompositorisches Prinzip

In der Verquickung und engen Verflechtung von Gegenstand und beobach­tender, notwendig subjektiver Instanz besteht ein Teil der anti- zipatorischen Tragweite der Ansichten. Mehr noch als abgeschlossenes Werk stellen sie sich als Produkt eines fortlaufenden Schreibens dar, das

14 Benjamin schreibt über Baudelaire, dass das Moderne bei ihm nicht allein als Signatur einer Epoche „sondern als eine Energie erscheint, kraft deren diese unmittelbar die Antike sich anverwandelt“ (Benjamin 1983, Bd. 1, 309). 15 Rüdiger 2013, 54. 16 Benjamin 1972, Bd. 2, 1064. 17 Benjamin1983, Bd. 1, 311.

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parallel zur Dynamik der Reise verläuft. Nicht selten sind die Stellen, an denen das schreibende Subjekt seinen eigenen Standort am Schreibtisch versichtbart, als wollte das Ich seinen Doppelgänger bei der literarischen Tätigkeit ertappen. Es handelt sich allerdings um einen Kunstgriff, der darauf abzielt, im Leser die Täuschung der Unmittelbarkeit entstehen zu lassen. Zur Anfertigung der Ansichten bediente sich Forster der unzäh- ligen Briefe, die er den Bekannten während der Reise geschickt hatte, und dort, wo diese nicht mehr zur Verfügung standen, musste er sich mit den Bildern eines unbewussten und unzuverlässigen Gedächtnisses über das Vergessen hinweghelfen. Mit Bezug auf die polyzentrische Komposi- tion der Ansichten spricht Peitsch zu Recht von „Beobachtungsfeldern“.18 So setzt sich Forster mit der Schwierigkeit auseinander, aus fragmen- tarischen, autobiographischen Angaben nachträglich einen künstli- chen Zusammenhang herzustellen. Die Umstellung der Briefe und Eintragungen aus den Tagebüchern, deren er sich wie ein Montage- künstler bedient, gehört zu einer Mnemotechnik, die schon auf einen Problemkreis der modernen Autobiographie hindeutet: Wie nämlich sei es möglich, die Fragmente des Erlebnisses um einen verborgenen, manchmal sogar abwesenden Mittelpunkt zu organisieren? In dieser Hinsicht ähnelt Forsters Verfahren als Schriftsteller dem des Sammlers. Beide kämpfen gegen die Zertreuung; beide machen sich die Dinge gegen- wärtig, indem sie sich in ihrem Raum vorstellen.19 Beide sind schließlich Physiognomiker, die aus der Oberfläche der Dinge, der Landschaften und der Bevölkerung die Zeichen der Geschichte herauslesen und diese Zeichen auf eine weitere, äußerst prekäre Oberfläche, die des Schreibens, übertragen. Der Rhythmus, mit welchem dem Sammler die Dinge zustoßen, ähnelt dem Rhythmus der Flaneuerie und der Reise. Die Oberfläche der Ansichten ist eine Schnittstelle, der ein spiegelhafter Charakter zukommt. Im Spiegel des Schreibens müssen im Augenblick der Lektüre die Einbil- dungskraft des Lesers mit der des Schreibenden in Berührung kommen;

18 Peitsch 1978, 327: „Forster fügt in das Material aus Briefen und Tagebüchern nicht nur die Reflexion ein, sondern er stellt so um, daß sich eine Abfolge von Beobachtungsfeldern ­ergibt, die den Eindruck von ,Des Ganzen Zusammenhang und Gestalt‘ vermittelt“. 19 Ewert 2011, 133.

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das Schreiben ist daher als Medium zu verstehen, das den Blick des Lesers erwartet, um eine neue, unerwartete Tiefe zu erhalten. So haftet dem Schreiben als Vermittlung­ nicht bloß eine theoretische Funktion an, sondern gleichzeitig eine der Praxis, der Tätigkeit. Schreiben versteht Forster als Aufforderung, die im Leser nicht nur die Einbildungskraft in Gang setzt. Im Rahmen des Gegensatzes Versteinerung/Auflösung, der auch im Lichte von Forsters Beschäftigung mit der Alchemie ausgedeutet werden könnte20, ist die Dialektik des Erweckens hinsichtlich der revolutionären Ereignisse zu bedenken, die Forster anlässlich der Besichtigung der Städte Aachen und Lüttich und in der Gegenüberstellung und verglei- chenden Betrachtung der Brabantischen und der Lütticher Revolution gestaltet. Auch Forsters Anwendung der Physiognomik lässt sich im Lichte des Gegensatzes Trägheit/Regsamkeit verstehen. Die Metaphern von Schlaf und Erstarrung­ verbindet Forster nicht nur mit dem wirt- schaftlichen und kulturellen Rückstand von Bevölkerungen, die den Höhepunkt der zeitgenössischen europäischen Entwicklung noch nicht erreicht haben. Auch die Holländer, die sich „in der Lage aller spat reifenden Völker“ befinden, scheinen jetzt gerade aus einem langen Schlummer zu erwachen.21 Dieses ständig hervorgehobene Interesse an der Sichtbarkeit der Welt, seine Aufmerksamkeit für die menschliche und landschaftliche Physio- gnomik zeugt von einer monistischen Weltanschauung, die sich auf Spinozas deus sive natura beruft. Wie Goethe war er also ein „Augen- mensch“. Im Unterschied aber und sogar im Gegensatz zu ihm versucht Forster immer, das ästhetische Schauspiel des Volks als vorläufiges und prekäres Ergebnis einer geschichtlichen Dialektik zu betrachten. Der ständige Anschluss an die Geschichte hindert ihn daran, das Volk als

20 Während seines Aufenthalts in Kassel trat Forster nur für eine kurze Weile zwischen 1782 und Ende 1783 dem Zirkel der Gold- und Rosenkreuzer bei. Die wichtigste Leistung aus dieser Zeit bleibt jedoch seine bereits 1780 erschienene Übersetzung aus Buffons Histoire naturelle (Herrn von Büffons Naturgeschichte der vierfüßigen Thiere). 21 „Jetzt befinden sich die Holländer in der Lage aller spät reifenden Völker; indem sie aus jenem vegetirenden Leben erwachen, sehe sie ihre Vorgänger in der Laufbahn des Genusses als Muster an, denen sie mit verdoppelten Schritten, oder vielmehr mit einem Sprunge, nacheilen wollen, und diese unglückliche Nachahmung stört sie in dem ruhigen Gange der ihnen angeeigneten Entwicklung.“ (AA IX, 307)

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ein Stück unwandelbarer Natur zu betrachten. In den Lüttich-Kapiteln unterstreicht Forster daher auch die Notwendigkeit einer rechtmäßigen Verfassung, die allen Bürgern individuelle Entwicklung und Freiheit einräumen soll. Seiner Meinung nach hat jeder Einzelne das Recht, in seiner Entwicklung so weit zu kommen, wie seine individuellen Kräfte es gestatten. Dies schließt sich natürlich an die Idee der Bildung an, die keine allgemeine Gültigkeit für alle Menschen besitzen kann, sondern in Anpassung der jeweiligen Indivi­dualität von innen heraus stattfinden soll.22 Gleichzeitig bemüht Forster sich, das Recht auf Widerstand gegen das Unrecht der Despotie zu verteidigen. Sein Versuch scheitert jedoch an der Unmöglichkeit, gerechten Zwang von der Gewalt zu unterscheiden. Nur dem Beobachter, dessen Standort sich außerhalb der Geschichte befindet, kann die Geschichte als harmonisches, geradezu schönes Schau- spiel erscheinen.23 Dem miterlebenden Menschen zeigt sie hingegen das Gesicht der Gewalt und des unaufhaltsamen Kampfes. Dieser Gedankengang deckt sich zum Teil mit Friedrich Schlegels Beweis- führung im Versuch Über den Republikanismus aus dem Jahre 1796, in dem Schlegel die bürgerliche Freiheit als „eine Idee, welche nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann“, bezeichnen wird.24 Mehr als auf das romantische Unendlichkeitsdenken, das sich eher an Fichtes Transzendentalidealismus orientiert, ist Forsters Begriff der Vervollkommnung jedoch auf eine Skepsis empirischer Prägung zurück- zuführen.25 Das Recht auf die individuelle Eigentümlichkeit betrachtet Forster nämlich als das höchste Recht der Menschheit. In den Ansichten

22 In Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit schreibt Forster, dass der Mensch keinen universalen Maximen untersteht, sondern allein jenem Naturgesetz, das „keine andere Bildung als jene gestattet, die in jedem einzelnen Menschen von innen heraus, nach Maßgabe seiner eigenthümlichen Kräfte geschieht“ (AA X.1, 576). 23 Die Metaphern der Szene, des Theaters und des Schauspiels tauchen auch in den um dieselbe Zeit geschriebenen Briefen aus Paris von Johann Heinrich Campe auf. 24 KFSA VII, 12. Noch drastischer äußert sich Forster über den Krieg, der Holland in zwei entgegengesetzte Parteien gespalten hat: „Man hatte nun einmal auf beiden Seiten das Schwert gezogen für etwas – wie chimärisch es immer sei – was man für Freiheit hielt.“ (AA IX, 319) 25 Die Annahme einer empiristischen Prägung der europäischen Aufklärung hat sich heutzutage allgemein durchgesetzt. Vgl. grundlegend dazu die Arbeit von Kondylis 1986, hier: 537ff.

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vergleicht er die natürliche Ungleichheit mit dem großen Kunstgriff, mit dem die Natur den Menschen vor dem toten Mechanismus bewahrt.26

III Bildungsidee und Organismusprinzip

Häufig verwendet Forster in seinen Schriften die Metapher des Schauspiels, um auf die Schönheit der Natur und der Landschaft hinzuweisen und dies vorzüglich, wenn es um die Würdigung einer Seelandschaft geht – so z. B. schon in der Reise um die Welt, wo er auf Kernkonzepte seines naturhistorisch-anthropologischen Modells zurückgreift, um dem Schauspiel der belebten Natur gerecht zu werden:

Der Ocean weit und breit mit Tausend Millionen dieser kleinen Thier- chen bedeckt! Alle organisirt zum Leben; Alle mit einem Vermögen begabt sich zu bewegen, zu glänzen nach Willkühr, andre Cörper durch bloße Berührung zu erleuchten, und ihre eigne leuchtende Eigenschaft abzulegen so bald sie wollen! (AA II, 74)27

26 „Immerhin mögen die Vertheidiger des Despotismus über die gehoffte Vervollkommnung des Menschengeschlechts lachen! Ich lache gern mit ihnen […]. Allein es heißt zu früh gelacht, wenn nicht der höchste denkbare Punkt der Vollkommenheit als wirklich erreichbar ange- nommen, sondern nur die Freiheit, in der Entwicklung jedes Einzelnen so weit zu kommen, als Organisation, inneres Kraftmaaß und natürliche Beziehungen es jedesmal gestatten […].“ (AA IX, 114) „Vielleicht dürfte man aber auch deswegen mit gutem Fug behaupten, daß in der natür- lichen Ungleichheit der Menschen, in Absicht auf Organisation, physisches Kraftmaaß und Seelenvermögen, und in ihrer, von keines Menschen Willen gänzlich abhängigen, Verschie- denheit der Ausbildung, welche ganz verschiedene Grade von Leidenschaft und alle die unend- lichen nüancierten Charaktere des wirklichen Lebens hervorbringen, der große Kunstgriff liegt, vermöge dessen die Natur den Menschen einzig und allein vor dem Herabsinken in einen todten Mechanismus von Formeln und Schlüssen bewahren konnte […].“ (Ebd., 115f.) 27 Der Topos des großen, erhabenen Schauspiels der Natur ist sicher nichts Außergewöhnliches und gehört zu den verbreitesten Metaphern der Spätaufklärung. Eine ausgesprochen Herder- sche Prägung erhält jedoch die Schauspiel-Metapher in Verbindung mit dem Motiv der See und der Seereise. Solch ein Zusammenhang ist schon bei Burke und seiner Theorie des Erhabenen zu finden, in der das Erhabene mit dem Endlosen in der Natur in Verbindung gesetzt wird. Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful war 1757 erschienen. Forster war mit der englischen Literatur wohl vertraut und kannte bestimmt Burke. Aber schon um 1650 hatte sich in Frankreich eine neue Empfindsamkeit für das Schau- spiel der Natur verbreitet, deren Vertreter Bouhours, Fénelon und später der Geistliche Pluche waren. Dieser Letztgenannte veröffentlichte ein Spectacle de la Nature. 1750 veröffentlichte Sulzer in Berlin die Unterredungen über die Schönheit der Natur. Bei allen zitierten Autoren geht die Begeis- terung für die Schönheit des natürlichen Schauspiels mit dem religiösen Gefühl einher.

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Das Organismus- und Organisationsprinzip rückt Forster zusammen mit der Schauspiel-Metapher auch in den Mittelpunkt seiner kunst- theoretischen Reflexion, die er anlässlich der Besichtigung des Kölner Doms in den Ansichten entwickelt. Im vierten Kapitel tritt neben die Idee des Organismus die der Individualität des Künstlers, die mit der ersten im schwierigen Gleichgewicht gehalten wird. Beide bilden eigentlich – wie es bei Forster oft der Fall ist – die dialektisch aufein- ander bezogenen Elemente einer unzertrennlichen Polarität. Dem

Analogiegedanken28 kommt häufig bei Forster auch eine dialogische Funktion im Rahmen des Reiseberichts zu, indem das Fremde und Unbekannte mittels des analogischen Verfahrens dem Leser nahege- bracht werden soll. So wird die Analogie zum Mittel und Werkzeug eines Bildungsprozesses, der sich an den Leser richtet und der sowohl in der Behandlung der Kunst als auch in den politischen Exkursen der Ansichten im Mittelpunkt steht.29 Nicht so sehr das Produkt, das Ergebnis der schöpferischen Tätigkeit rückt Forster in den Vorder- grund als vielmehr die schöpferische Kraft an sich, die enérgeia, und das Vermögen des Betrachters, dieselbe schöpferische Kraft des Künstlers in sich zu aktivieren. In der Dom-Episode, die übrigens die Ausarbei- tung eines schon 1790 in Schillers Thalia veröffentlichten Aufsatzes ist, bringt Forster diese spiegelhafte Struktur zur höchsten Konzen- tration. Gesteigert wird besonders der Prozess der Verinnerlichung; Forster beschränkt sich nicht auf die Inszenierung des Schreibakts: In der Gestalt des Schauspielers Iffland zieht er vielmehr den Kunstbe- trachter in das Werk hinein. Durch den Körper des Schauspielers kann das Unsichtbare katexochen versichtbart und in gesteigerter Mimikry, gleichsam im Prozess der wiederholten Spiegelung inszeniert werden. Die Verankerung der Begeisterungstheorie in der gnoseologia inferior, die Baumgarten mit seiner Aesthetica ­(1750/58) eröffnet hatte30, war an und für sich nicht neu, und diese Traditionslinie lässt sich bis zu Wackenroders Bildbeschreibungen in den Herzensergießungen­ verfol-

28 Zweifelsohne entnimmt Forster die Idee der analogia universalis von Herder (vgl. Irmscher 1981, 64-96). 29 Mit den Ansichten hatte sich Forster eine Bildungsabsicht und -aufgabe vorgenommen, wie auch Steiner in dem bereits zitierten Nachwort unterstreicht (AA IX, 345). 30 Grundlegend ist zu diesem Thema die Studie von U. Franke 1972.

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gen.31 Auch die Verbindung der Begeisterung mit dem Motiv des Erhabenen war zur Zeit Forsters keine Neuheit. Man denke etwa an Herders Theorie der Ode oder an die Hymnen des jungen Goethe. Aber bei Forster verleiht der neue Kontext diesen Themen eine ganz eigene semantische Nuancierung. Der Episode kommt durch die Einbettung in die Reisebeschreibung eine unerhörte Funktion zu; und umgekehrt strahlt die Dom-Episode eine Faszination aus, die stark zur Litera- risierung des Reiseberichts beiträgt. Anders als Kant, der in seiner Kritik der Urteilskraft das Erhabene eher als objektive Beschaffenheit des Gegenstandes verstand, und als Burke, der diesen praktischen, gleichsam dynamischen Aspekt des Erhabenen nicht so sehr berück- sichtigte32, begreift Forster das Erhabene als subjektive Stellung, als dynamischen Trieb eben, den der Betrachter in sich selbst fühlt und der in ihm den Wunsch erregt, die Handlung des Künstlers nachzuah- men.33 Durch diese tätige Reaktion gelingt es ihm, das gestörte Gleich- gewicht zwischen passivem Empfindungsvermögen und eigener Praxis sozusagen wiederherzustellen:

Der Genuß eines jeden, durch die Empfindung eines Andern gegangenen und von ihm wieder mithgeteilten Eindrucks setzt aber eine frühere, wenn gleich unvollkommene Bekanntschaft mit dem bezeichneten Gegenstande in uns voraus. Ein Bild, wäre es auch nur Umriß, müssen wir haben, worin

31 Zu Wackenroders Stellung zur Spätaufklärung, die zum großen Teil von Abweisung und Polemik charakterisiert war, s. Kemper 1993. Eine Studie über Wackenroders Verhältnis zu Forster bleibt m. E. aus. Und doch könnte es sein, dass Forsters Methode der Bildbe- schreibung, die eine stark einfühlende Prägung hat, eine Spur in Wackenroders­ Werk hinterlassen hätte. 32 Vgl. Godel 2011, 183. Godel weist darauf hin, dass der Aspekt des Handelns in der zeit- genössischen Theorie bei Johann G. Schlosser und Carl Grosse ausgeprägt war. Seine Abhandlung Über das Erhabene hatte Carl Grosse 1788 veröffentlicht. 33 Auch der absoluten Agilität des Witzes liegt nach Schlegel ein energetischer Kern zugrunde. So liest man in den Athenäum-Fragmenten: „Witz ist eine Explosion von gebundenem Geist“ (KFSA II, 158). Anderswo wird der Gedanke variiert, und der Begriff der Energie taucht geradezu im Gegensatz zum Genie auf. So gilt Schlegel als genial, wer ein bestimmtes Projekt durchsetzen will. Der energische Mensch hingegen „benutzt immer nur den Moment, und ist überall bereit und unendlich biegsam. Er hat unermeßlich viel Projekte oder gar keins: denn Energie ist zwar mehr als bloße Agilität, es ist wirkende, bestimmt nach außen wirkende Kraft, durch die der ganze Mensch sich bildet und handelt“ (ebd., 234).

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unsere Einbildungskraft die besonderen Züge aus der neuen Darstellung übertragen und ausmalen könne. (AA IX, 25) Das Bild im Innern, ohne das die Begegnung mit der fremden Individualität des Anderen unmöglich wäre, koinzidiert keineswegs mit dem dogmatischen Postulat der Vernunft.34 Es handelt sich keineswegs um ein abstraktes Prinzip, sondern um den in der menschlichen Einbildungskraft eingeprägten Eindruck, der den Gegensatz zwischen Wissen und Nicht-Wissen sozusagen neutralisiert und außer Kraft setzt. So verstanden appelliert­ dieses Bild im Innern an die anthropologische Substanz der Bilder, die im Unbewußten wurzeln. Forster postuliert für die menschliche Einbildungskraft einen gemeinsamen Vorrat, aus dem der Künstler schöpft und dessen Gestalten wiederum im Betrachter einen anamnestischen Vorgang in Gang setzen. Dem Bild im Innern haftet der Charakter einer spiegelhaften Vermittlung oder einer räumlichen Fläche an, auf der die Grenzen zwischen den Individuen verschwinden. Hier nähert sich Forster der Vorstellung einer inneren Musik, die als Latenz dem Kompo- nisten innewohnt und die keineswegs mit der immer prekären Aktualisie- rung zusammenfällt. Voraussetzung für die echte Kommunikation zwischen Schöpfer, Beobachter und Kritiker muss also ein prärationaler, gemeinsamer Boden sein, der jedem Urteil der strengen Kunstrichter vorangeht:

Nur das Gleichartige kann sich fassen. Diesen Geist zu erkennen, der über die Materie hinwegschwebt, ihr gebietet, sie zusammensetzt und schöner formt, bedarf es eines ähnlichen prometheischen Funkens. Allein wie viele Stufen giebt es nicht zwischen der Unwissenheit, die an einer Bildsäule nur die Glätte des Marmors begaft, und dem Genie, das mit unnennbarem Entzücken die Phantasie Polyklets darin ahndet? Zwischen jenem Landmanne, der sich scheute, die Herren auf der Bühne zu behorchen, und dem Hochbegabten, der in der Seele des Schauspielers von einem Augenblick zum andern den Ausdruck des Empfundenen von der Urtheilskraft regieren sieht? […] Hier fasse, wer sie fassen kann! Ist das Jahrhundert ihm zu klein; giebt es keinen unter den Zeitgenossen, der im Kunstwerke den Künstler und im Künstler den Menschen […] erblickte […] so führt doch der Strom der Zeiten endlich das überbleibende Werk und die gleichgestimmte Seele zusammen […]. (AA IX, 27f.) An dieser Stelle hat man zu Recht einen Widerhall der Genieästhetik der 1770er-Jahre sowie auch eine Auswirkung der damit zusammenhängenden

34 Diesbezüglich siehe Forsters Polemik gegen Kant in seiner Studie Noch etwas über Menschenraßen (hier: AA VIII, 131f.).

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Poetik der Begeisterung erkannt.35 Aber darüber hinaus hat Forster einen Geist eingeführt, „der über die Materie hinwegschwebt“ und gleichsam sein Spiel mit dem Spiel in einer Doppelbrechung und -reflexion treibt; berechtigt erscheint hier der Ausdruck „Spiel mit dem Spiel“, weil in dieser Episode das Werk auf die eigene literarische Konstruktion hinweist. Der Leser betritt nicht nur das Innere des Doms, sondern dringt gleichzeitig ins Herz des Texts als sprachlicher ­Vermittlung­, auf deren performative Dimension die Figur des Schauspielers verweist.36 Die Schwelle des Doms markiert somit die Grenze zwischen Sichtbarkeit­ und Unsichtbarkeit37, zwischen der lichten Welt der empirischen Tatsachen und der Finsternis der Gefühle. Auf erzählerischer Ebene reproduziert der Übergang den Wechsel von der bloßen Beschreibung der zweidimensionalen Malereien zum Bereich des Mannigfaltigen. Der Text fingiert hier eine dritte Dimension, worauf die gotische Architektur hinweist und diese Mehrdimensionalität sich in der beweglichen Körperlichkeit des Schauspielers widerspiegelt. Ganz präzis ist Forster, wenn es darum geht, eine psychische oder physische Bewegung darzustellen, eine geistige Situation nach außen zu übertragen oder umgekehrt, die im Gedächtnis des Reisenden eingeprägten Bilder vor die Augen des Lesers zu führen. Das Visuelle oder, wie Schlegel in seiner Charakteristik meint, die „äußre Wahrnehmung“ ist bei ihm immer das Erste, „gleichsam der elastische Punkt“.38 Beide Begriffe

35 Dies vorzüglich in den Sturz- und Flugmetaphern, die besonders auffällig an einer anderen Stelle sind: „Vor der Kühnheit der Meisterwerke stürzt der Geist voll Erstaunen und Bewunderung zur Erde; dann hebt er sich wieder mit stolzem Flug über das Vollbringen hinweg […].“ (AA IX, 23); s. dazu Uhlig 2000. 36 Greif spricht von „Performanz als anthropologische Notwendigkeit“ in Bezug zum Selbstgefühl (Greif 2013, 94). 37 „Wir gingen in den Dom und blieben darin, bis wir im tiefen Dunkel nichts mehr unter- scheiden konnten […].“ (AA IX, 23) 38 Unter dem „elastischem Punkt“, einem Begriff, der bei Forster vorkommt, versteht Schlegel Forsters Agilität, sein Vermögen, sich zwischen Einzelheit und Ganzheit hin und herzubewegen: „so war für seinen Geist doch immer eine äußre Wahrnehmung das Erste, gleichsam der elastische Punkt. Er geht vom Einzelnen aus, weiß es aber bald ins Allgemeine hinüberzuspielen, und bezieht es überall aufs Unendliche. Nie beschäftigt er die Einbildungskraft, das Gefühl oder die Vernunft allein. Alle Seelenkräfte aber in sich und andern gleich sehr und vereinigt auszubilden; das ist die Grundlage der echten Popularität, welche nicht bloß in konsequente Mittelmäßigkeit besteht […].“ (KFSA II, 82). Forster ist populär und deswegen klassisch im Sinne einer Klassizität der Zukunft, ohne der Plattheit und der Mittelmäßigkeit anheimzufallen. Man kann auch Schlegels Würdigung auf diejenigen Fragmente projizieren, in denen das Wesen des

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der Exzentrizität und Elastizität bilden in den Ansichten einen unterschwelligen Zusammenhang und schlagen zugleich die dünne Brücke zwischen kunstbe- schreibenden Partien und politischen Reflexionen über Reform, Revolution und menschliche Vervollkommnung. Auf beiden Ebenen setzen Exzentrizität und Elastizität die Beteiligung des Lesers voraus. So werden die Ansichten zum Mittel jener Bildung der arbeitenden Klasse, die ständig thematisiert wird. Etwa in der Mitte des Dom-Kapitels schreibt Forster:

Jene griechischen Gestalten scheinen sich an alles anzuschließen, was da ist, an alles, was menschlich ist; diese stehen wie Erscheinungen aus einer anderen Welt, wie Feenpaläste da, um Zeugniß zu geben von der schöp- ferischen Kraft im Menschen, die einen isolirten Gedanken bis auf das äußerste verfolgen und das Erhabene selbst auf einem excentrischen Wege zu erreichen weiß. Es ist sehr zu bedauren, daß ein so prächtiges Gebäude unvollendet bleiben muß […]. (AA IX, 24)

Es ist bemerkenswert, dass die Vorstellung des ezxentrischen Wegs im Zusammenhang mit der politischen Lage in Lüttich in den Reflexionen über die Rechtfertigung des gewaltigen Umsturzes des Obrigkeitsstaates wiederkehrt. Hier steht die mannigfaltige Lebendigkeit des Volks, das sich der Gleichförmigkeit des Feudalssystems entgegensetzt, ausgesprochen im Zeichen der Exzentrizität. In den Lüttich-Kapiteln erscheint die Revolu- tion als die befreiende und zentrifugale Kraft, die sich der zentripetalen Anstrengung des Despotismus entgegensetzt. Der Enthusiasmus der Leute in Lüttich bietet sich als politisches Gegenstück zur künstlerischen Begeis- terung des Dom-Kapitels an:

synthetischen­ und daher genialen Schriftstellers skizziert wird. So etwa im Lyzeum- Fragment Nr. 112: „Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist […]. Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich seinen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwir- kend. Er lässt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweisen werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie […].“ (Ebd., 161) Schlegel setzt den Begriff der Elastizität mit der Verwirk- lichung der Utopie gleich, wie aus einem Athenäum-Fragment klar hervorgeht: „Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte […].“ (Ebd., 201)

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Wir wanderten durch die Straßen und suchten uns so viel als möglich mit dem Volk in Unterredung einzulassen […]. Es bedurfte keiner Künste, um die Leute zur Sprache zu bringen. Sie waren durchgehends von ihren politischen Verhältnissen bis zum Überströmen voll, hingen daran mit unglaublichem Eifer, und schienen sich im gegenwärtigen Zeitpunkte, wie alle freie Völker, mit den öffentlichen Angelegenheiten beinahe mehr, als mit ihren Privatbedürfnissen zu beschäftigen. Die Namen des Königs von Preußen, des Grafen v. Herzberg, des Generals von Schlieffen und des Herrn v. Dohm wurden nicht anders als mit einem Ausdruck der Verehrung und Liebe, mit einer Art von Enthusiasmus genannt […] [es] muß in der That eine schrecklich empörende Mißhandlung des Volks hier vorhergegangen seyn, um dieses Band zu zerreißen und den hohen Grad von Erbitterung, der sich durchgängig äußert, gegen den Bischof zu erwecken […]. Eben so kühn und trotzig wütheten sie gegen das wetzlarische Kammergericht und die deutschen Fürsten, die ihre vermeinte Notwehr gegen die Tyrannei, wie einen Aufruhr behandeln […] (AA IX, 110f.). Hier bedient sich Forster derselben Beweisführung wie Thomas Paine, der 1790 die Revolution und das Recht des Volks auf den gewaltsamen Aufstand in The Right of Man gegen Burke verteidigt hatte. Forster ließ Paines Werk von Margarethe Forkel übersetzen und schrieb dazu ein Vorwort. Gegen diejenigen, die in Deutschland besonders zahlreich waren und dem Volk jedes Recht auf Revolution bestritten, zeigte Paine, dass ein solches Recht existiert und in der Wirklichkeit und in den schlechten politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen seine Grundlage hat.39

39 Auch Friedrich Schlegel beschäftigt sich in seinem Versuch über den Begriff des Republi­ kanismus mit einer philosophischen Deduktion des Republikanismus. Nach Schlegel, dessen Schrift von der Kantischen Abhandlung Zum ewigen Frieden veranlasst wurde, lässt sich die republikanische Verfassungsform nicht von den Merkmalen der Freiheit und Gleichheit ableiten, weil diese ausschließlich negativ wären, und deshalb keine Deduktion gestatten würden. Wenn der Despotismus als Antistaat bezeichnet wird, so kann die Republik nach Schlegel nur einen Quasistaat, nämlich den Keim eines echten, noch nicht vorhandenen Staats bilden. Paradoxerweise fallen nach Schlegel Despo- tismus und Republik zusammen, weil jede provisorische, im Notzustand entstandene Regierung, notwendig despotisch sein muss: „da er neben seinem besonderen Zwecke das heilige Interesse der Gemeinschaft wenigstens nebenbei befördert, und wider sein Wissen und Wollen den Keim eines echten Staats in sich trägt, und den Republika- nismus allmählich zur Reife bringt: so könnte man ihn als einen Quasistaat, nicht al seine echte Art, aber doch al seine Abart des Staats gelten lassen“ (KFSA VII, 16). Aber die Demonstration der Rechtfertigung – oder umgekehrt der Unmöglichkeit

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Forster desavouiert im Voraus die Beweisführungen der Revolutions- gegner, indem er wiederum darlegt, dass die Revolution einfach nicht ohne weiteres deduzierbar ist. Sie gehört sozusagen in den Kreis der natürlichen Notwendigkeit und untersteht denselben Gesetzen der Polarität, die in der Natur walten. Noch wichtiger ist jedoch der Umstand, dass solche Erschei- nungen der menschlichen Geschichte nicht so sehr das Produkt einer ratio- nalen Rechnung zu sein scheinen als vielmehr das Ergebnis eines Glaubens. Erst muss man daran glauben, bevor die Revolution tatsächlich stattfinden kann:

Der Funke, der auf einer gleichartigen Substanz erlischt, kann einen Brand erregen, wenn er brennliche Stoffe schon entwickelt findet; und hetero- gene Materien können sich unter Umständen sogar von selbst entzünden. Ich erinnere mich hierbei einer Stelle im Kardinal Retz, wo er sagt: zur Entstehung der Revolution sei es oft hinreichend, daß man sie sich als etwas Leichtes denke. In der That, welche Auflösung, welche Gärung setzt diese Stimmung der Gemüther nicht voraus? Über wie viele, sonst abschreckende Ideenverbindungen muß ein Volk sich nicht hinausgesetzt haben, ehe es in seiner Verzweiflung diesen Gedanken faßt? (AA IX, 123)

Der Ausbruch der Revolution benötigt also weder eine philosophische Deduktion noch eine abstrakte Theorie, sondern den Glauben an das histo- risch Machbare und Verzweiflung angesichts willkürlicher Herrschaft. Auch in der Behandlung der Lütticher Revolution klingt das Motiv der Exzentrizität unüberhörbar wieder an und wird diesmal mit der Schau- spiel-Metapher verbunden. Exzentrisch ist die Revolution, weil sie sich nicht beschreiben oder darstellen lässt. Durch Gleichnisse und progressive Annäherung kann man nur eine unvollkommene Darstellung wagen, die auf die Bilder der Natur zurückgreift:

solcher Rechtfertigung – der revolutionären Gewalt ist das, worauf es Schlegel eigent- lich ankommt. Diese Rechtfertigung wäre nur dann möglich, wenn der gewalttätige Umsturz in der Staatsverfassung betrachtet wäre. Das Verfassungsgesetz wäre dann nicht nur der Stiftungsakt eines Staats, sondern würde auch die Möglichkeit für dessen Auflösung enthalten: „die Insurrektion aber kann nur dann rechtmäßig sein, wenn die Konstitution vernichtet worden ist. Es lässt sich aber sehr wohl denken, daß ein Artikel in der Konstitution die Fälle bestimmt, in welchen die konstituierte Macht für de facto annulliert geachtet werden, und die Insurrektion also jedem Individuum erlaubt sein soll“ (ebd., 24).

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Schön ist das Schauspiel ringender Kräfte; schön und erhaben selbst in ihrer zerstörendsten Wirkung. Im Ausbruch des Vesuv, im Gewittersturm bewun- dern wird die göttliche Unabhängigkeit der Natur. Wir können nichts dazu, daß die Gewittermaterie sich in der Atmosphäre häuft, bis die gefüllten Wolkenschläuche der Erde Vernichtung drohen; daß in den Eingeweiden der Berge die elastischen Dämpfe sich entwickeln, die der geschmolzenen Lava den Ausweg bahnen. Das Zusehen haben wir überall; glücklich, daß Zeit und Erfahrung uns doch endlich von dem Wahne heilten, der diese großen Erscheinungen nur für Werkzeuge der Strafgerechtigkeit hielt. Wir wissen, dass Kalabrien ruht, indeß der Mongibello wüthet […]. Mit den Stürmen in der moralischen Welt hat es genau dieselbe Bewandniß, nur daß Vernunft und Leidenschaft noch elastischer sind, als Schießpulver oder elektrische Materie. Die leidenschaftlichen Ausbrüche des Krieges haben ihren Nutzen wie die physischen Ungewitter; sie reinigen und kühlen die politische Luft, und erquicken das Erdreich. (AA IX, 129) Der Gleichgültigkeit der Natur, der jede Idee eines Ziels fremd bleibt, entspricht die Exzentrizität der menschlichen Welt:

Wo wir aufhören zu unterscheiden, da sind die Gränzen unserer Erkenntniß; wo nichts Hervorstechendes ist, kann die Einbildungskraft keine Kennzeichen sammeln, um ihren Zusammensetzungen Größe, Erhabenheit und Mannichfaltigkeit zu geben. Exzentricität ist daher eine Bedingung, ohne welche sich der höchste Punkt der Ausbildung gewisser Anlagen nicht erreichen lässt; ein allgemein vertheiltes Gleichgewicht der Kräfte hingegen bleibt überall in den Schranken der Mittelmäßigkeit. Eine Verfassung des gesammelten Menschengeschlechts also, die uns von dem Joche der Leidenschaften und mit demselben von der Willkühr des Stärkeren auf immer befreite, indem sie Allen dasselbe Vernunftgesetz zur höchsten Richtschnur machte, würde wahrscheinlich den Zweck der allge- meinen sittlichen Vervollkommnung dennoch eben so weit verfehlen, wie eine Universalmonarchie. Was hülfe uns, daß wir Freiheit hätten, unsere Geistesfähigkeiten zu entìwickeln, wenn uns plötzlich der Antrieb zu dieser Entwicklung fehlte? (AA IX, 128)

Exzentrizität und Kampfmetaphorik gehören bei Forster zusammen. Beide weisen darauf hin, dass die Vervollkommnung als Weg, als unendliche Annäherung und keineswegs als beständiges Gleichgewicht zu fassen ist. Darüber hinaus beweist Forster die praktische Unmöglichkeit, die Kluft

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zwischen volonté générelle und volonté des tous zu überbrücken.40 Der ewige Frieden ist nach Forster weder erreichbar noch wünschenswert­, da er sich als Negation des Lebens erweist. Dieses kann sich nur im Spannungsfeld der Gegensätze erhalten, weshalb nicht zufällig Heraklit erwähnt wird:

Wenn die Selbstentzündungen der Vernunft in einem ganzen Volk nichts als den erstickenden Dampf zurücklassen, so wäre es zwar allerdings erfreulicher, den Witz nur zu rechter Zeit als ein unschuldiges Freuden- feuer auflodern oder in schönen Schwärmern steigen zu sehen; doch wer weiß, was auch in solchen Fällen noch Gutes in dem Caput mortuum übrig bleibt? Auch hier ist es daher verzeihlich, Begebenheiten, an denen man nichts ändern kann, als Schauspiele zu betrachten. Beleidigte etwa diese anscheinende Gleichgültigkeit eine weichgeschaffene Seele? Im Ernst, sie sollte es nicht; denn ob Heraklit über alles weint, oder die abderitische Weise über alles lacht, ist im Grunde gleichgültig […]. (AA IX, 129f.) Diese Erkenntnis bringt auch eine wichtige perspektivische oder erkenntnis­theoretische Folge mit sich: Die Revolution kann nicht unparteiisch­ betrachtet werden, und auch wenn die Schauspiel-Metapher herangezogen wird, handelt sich eben nur um ein Bild, ein Gleichnis, ein Zeichen, das etwas Ähnliches zu sagen trachtet, ohne die Sache wirklich fassen zu können:

Wir können das Menschengeschlecht nur mit sich selbst vergleichen; und obschon der Theil seiner Geschichte, den wir kennen, gleichsam nur von gestern ist, so enthält er doch schon Begebenheiten genug, die uns lehren können, unter ähnlichen Umständen einen ähnlichen Ausgang zu erwarten […]. (AA IX, 103)

Auf die Brabantische und die Lütticher Revolution übertragen kann dies nur heißen, dass die menschlichen Ereignisse nur anhand anderer menschlicher Ereignisse auszudeuten sind. Man kann Revolutionen nur mit anderen Revolutionen vergleichen. Was neulich in Lüttich und in den österreichischen Niederlanden passierte, kann nur mit Hilfe der franzö­ sischen Revolution verstanden werden. Aber Lüttich kann wiederum zum Prüfstein für das werden, was sich künftig in Deutschland ereignen könnte:

40 Auch Friedrich Schlegel wird auf diese Aporie in Rousseaus Contract social hinweisen, auf den Umstand nämlich, dass jeder einzelne Wille sich nicht auf den allgemeinen Willen reduzieren lässt (vgl. KFSA VII, 13).

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Das Schicksal von Lüttich hängt zu fest an dem Schicksal Deutschlands, um sich davon absondern zu lassen, und das Interesse der Nachbarn wird es nicht leiden, daß die Lütticher ihre Sache allein ausfechten dürfen. Unser bisheriger Standpunkt war überhaupt für die Politik des Tages viel zu hoch; wir übersahen dort zu viel, unser Horizont hatte sich zu sehr erweitert und die kleineren, näheren Gegenstände entzogen sich unseren Blicken […]. (AA IX, 132)

IV Physiognomik der Freiheit

Die Erkenntnis der Exzentrizität als tragende Struktur der modernen Epoche schließt jedoch bedeutsame semiotische Folgerungen ein, denn der Menschheit mangelt es nicht nur an jedem vorgegebenen Zentral-

punkt.41 Was aus Forsters Perspektive viel wichtiger erscheint, ist eben der Umstand, dass jeder Diskurs um die Revolution am Mangel einer Referenz leidet: Ein solcher Mangel des thematisierten Gegenstandes beschränkt sich keineswegs auf das Thema, worauf sich Forsters Aufmerksamkeit hauptsächlich konzentriert, sondern erweist sich als konstanter Zug seiner Aussage. Dem, was er zu Anfang seines Besuchs der Düsseldorfer Galerie schreibt, kommt gleichsam der Wert einer programmatischen Erklärung zu, die sich auf den Reisebericht als Ganzes übetragen lässt:

Der Botaniker beschreibe Dir die Rose in den gemessensten Ausdrücken seiner Wissenschaft; er benenne alle ihre kleinsten Theile, bestimme deren verhältnißmäßige Größe, Gestalt, Zusammenfügung, Substanz, Oberfläche, Farbenmischung […] so wird es Dir, wenn Du noch keine Rose sahst, doch unmöglich seyn, ein Bild daraus zu schöpfen, das dem Urbild entspräche; auch wirst Du keinen Künstler finden, der es wagte, nach einer Beschreibung die nie gesehene Blume zu zeichnen. Ein Blick

41 Gerade vom Fehlen eines vorgegebenen Zentralpunkts wird Schlegel in seinem Gespräch über die Poesie ausgehen, indem er den Versuch einer neuen Mythologie als Ersatz für diesen Mangel vorschlagen wird. So liest man am Anfang der Rede über die Mythologie: „Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lässt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber, setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ (KFSA II, 312)

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hingegen, eine einzige Berührung durch die Sinnesorgane; und das Bild ist auf immer seiner Phantasie unauslöschlich eingeprägt. Was ich hier sage, gilt in einem noch höheren Grade von Dingen, die man vergebens in Worte zu kleiden versucht. Das Leben ist ein Proteus, der sich tausend- fältig verschieden in der Materie offenbart. Wer beschreibt das unnenn- bare Etwas, wodurch in demselben Auge, bald stärker, bald gedämpfter, das inwohnende geistige Wesen hervorstahlt? (AA IX, 38)

Keine Beschreibung, so präzis sie auch sei, kann die unmittelbare Gegenwart der Blume, das in der Einbildungskraft des Lesers eingeprägte Bild im Kopf ersetzen: Keine Beschreibungen der gesehenen Kunstwerke will deshalb Forster liefern, sondern deren Beschwörungen, die erlebten subjektiven Empfindungen und die persönlichen Erfahrungen der Dinge, die sich auch auf die Einbildungskraft des Lesers übertragen lassen.42 Wenn sich die Sache nicht sagen lässt, können doch die Unterschiede zwischen Dingen und Bevölkerungen sowie zwischen den verschiedenen Stufen der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im Rahmen einer vergleichenden Methode hervorgehoben werden. So erhebt Forster die Kriterien der Kongruenz und Stimmigkeit von Innen und Außen, von Geist und Leib zum Kanon für seine ästhetischen und politischen Urteile.43 Im Gegensatz zu anderen Reiseberichten stellt Forster keine Vergleiche

42 „[…] meines Erachtens erreicht man besser seinen Endzweck, indem man wieder erzählt, was man bei einem Kunstwerk empfand und dachte, also, wie und was es bewirkte, als wenn man es ausführlich beschreibt […].“ (AA IX, 39) 43 Die Unstimmigkeit liegt hingegen der entschiedenen Abwertung der flämischen Malerei, Rubens eingeschlossen, zugrunde. Eine starke Abneigung hat Forsters gegen die male- rische Behandlung von Gegenständen der christlichen Religion: „Es giebt Momente in der Mythologie des Christentums, die dem Maler freie Hände lassen: Scenen, die eines großen, erhabenen Styls, ohne Verletzung des Schönheitssinnes, fähig sind und zu der zartesten Empfänglichkeit unseres Herzens reden; allein wessen mag die Schuld seyn, daß die Flämischen Künstler sie nicht wählten? […] oder haben diese den Gegenständen eine so plumpe Einkleidung gegeben, daß jedes Bemühen der Kunst daran scheitern muß?“ (AA IX, 272) Siehe über Rubens selbst, neben dem harten Urteil über das Jüngste Gericht in der Düsseldorfer Galerie (ebd., 47-50), auch die folgende Stelle, die sich auf die Himmel- fahrt der Jungfrau in Antwerpen bezieht: „Die dicke Lady Rubens sitzt zum Skandal der Christenheit leibhaftig in den Wolken, so gemächlich und so fest in ihrem Lehnstuhl […] sodann eine Menge runder Kinderköpfe mit Flügeln und eine große Schaar von kleinen fliegenden Jungen in allerlei Posituren, die am liebsten eine ungeheure, nicht allzu presen- table partie zum besten geben, womit die Dame wohl eher in der Kinderstube bekannt wurde, die aber leider zum Fliegen gar nicht gemacht ist.“ (Ebd., 270)

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zwischen den bereisten Ländern und einem bestimmten Zuhause an. Er weigert sich auch, Nähe und Ferne zu unterscheiden. Hervorgehoben wird hingegen die Beweglichkeit des erzählenden Ichs. Der Reisende bewegt sich den Rhein oder, in den Schlusskapiteln, der holländischen Kanäle entlang. Immer registriert der Blick die Anwesenheit von Grenzen und Fluchtlinien, die dem Auge einen Halt bieten und ihm die Gliederung der Vision ermöglichen. Wo diese Grenz- linien fehlen, verwirrt sich die Vision und das sich ergebende Bild erscheint eintönig und verschwommen wie z. B. in der Seelandschaft, die sich vom Haag her dem Reisenden bietet. Vortrefflich hat Friedrich Schlegel jene herrliche Stelle der Ansichten hervorgehoben, an der Forster nach zwölf Jahren das Meer „gleich einem alten Freunde, zum erstenmale wieder begrüßt“ hat.44 Bedeutsam ist aber auch eine andere Stelle, an der der Streit zwischen Meer und festem Land als Kampf von Natur und Kultur gestaltet wird:

Der Anblick des Meeres war diesmal sehr schön; so still, und unermeß- lich zugleich! Am Strande suchten wir jedoch vergebens nach naturhis- torischen Seltenheiten; die Sandhügel waren leer und öde. Wir konnten uns nicht einmal von der Behauptung einiger Geologen vergewissern, der zufolge ein Thonlager unter dem Sande liegen soll: Das Meer, welches in Holland überhaupt nichts mehr ansetzt, hat im Gegentheil hier einen Theil vom Strande weggenommen, und die Kirche, die sonst mitten im Dorfe lag, liegt itzt außerhalb desselben unweit des Meeres. (AA IX, 286)

Erst hier, angesichts der unermesslichen Oberfläche des Meers, enthüllt sich das Gefühl des Erhabenen in seiner ganzen Komplexität und Mehrdeu- tigkeit als seltsame Mischung aus Bedrohung und Rausch. Verun­sichernd wirkt vor allem die Abwesenheit von Grenzen und Zeichen, die anderswo den Entwurf einer Physiognomik der Landschaft ermöglichten. Hier, ange- sichts der Leere und absoluten Grenzenlosigkeit, befindet sich das Ich der Herausforderung des Ungegliederten, des Undifferenzierten ausgesetzt. Das Meer verwischt die Zeichen der menschlichen Kultur, verschlingt die

44 KFSA II, 81, wo es im Weiteren heißt: „Unter allen eigentlichen Prosaisten, welche auf eine Stelle in dem Verzeichnis der deutschen Klassiker Anspruch machen dürfen, atmet keiner so sehr den Geist freier Fortschreitung, wie Georg Forster. Man legt fast keine seiner Schriften aus der Hand, ohne sich nicht bloß zum Selbstdenken belebt und bereichert, sondern auch erweitert zu fühlen. In andern, auch den besten deutschen Schriftstellern, fühlt man Stuben- luft. Hier scheint man in frischer Luft, unter heitern Himmel […] zu schauen […].“

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Landwirtschaft, die Kirchen und die Dörfer. Im Unterschied zu anderen Schriftstellern und Malern des 18. Jahrhunderts45 fühlt Forster jedoch angesichts des Meers nicht nur die Bedrohung des Unermesslichen­, sondern auch den Rausch und den Schwindel der Freiheit. Eben der Anblick des Meers regt ihn zu einer der schönsten Hymnen an den freien Ideen- und Handelsverkehr an, in der er zugleich all seinen Unmut über jeden Anspruch auf Beschränkung der Freiheit fremder Länder ausdrückt:

Die Verordnungen der Japanischen und Chinesischen Kaiser, die von ihren Reichen alle Fremden entfernen, scheinen uns zwar elende Verwahrungs­ mittel einer feigen, mißtrauischen, kurzsichtigen Politik; allein wir bestreiten nicht das Recht dieser Despoten, innerhalb der Gränzen ihres Landes jedem Ausländer den Zutritt zu wehren oder zu gestatten. Hingegen das ausschließende Eigenthumsrecht irgend eines Volkes zum Ocean ist eine so lächerliche Absurdität, daß der Übermuth gewisser Seemächte, statt einer Anerkennung ihrer Anmaßungen, nur den Haß, den Neid und Groll der Nebenbuhler hat erregen können […]. (AA IX, 243)

Forsters Exzentrizität, die auch seine Ausnahmestellung in der deutschen Literatur erklärt, beruht auf der seltenen Fähigkeit, die Perspektive ständig umzukehren und die Verhältnisse der abendländischen Welt auch mit dem Blick des Anderen zu sehen. Diese ständige Neigung zur Umkehrung des Gesichtspunkts ist auch bei einem Autor der radikalsten Moderne wie Kafka zu finden, der sich zwar selten mit ethnologischen Fragen ausein- andergesetzt hat, dessen ethnologischer Blick aber die Fähigkeit besitzt, das Subjekt durch den Blick des Anderen zu entfremden. So entdecken Kafkas Tiergeschichten (Ein Bericht für die Akademie, Forschungen eines

45 Zwischen 1712 und 1716 nimmt das Meeresmotiv in der englischen Literatur vor allem die Form der „Anziehungskraft“ des Ufers an. 1726 entdeckt das gelehrte Publikum in England durch Thomsons Gedicht The Winter die Faszination des Sturmes und der entfesselten, wilden Naturkräfte. James Thomson (1700-1748) war u. a. mit Alexander Pope und Richard Savange befreundet. The Winter stellt den ersten Kern seines 1730 beendeten dichterischen Zyklus The Seasons dar, der auch für Haydns Oper Le Stagioni sehr anregend war. Bekannt wurden Thomsons Jahreszeiten in Deutschland dank der Übersetzung von Brockes. Die Seelandschaften waren im Land der glorious Revolution auch aus selbstverständlichen Gründen besonders beliebt. Darauf weist auch Forster in den Ansichten hin (AA IX, 241-242). James Thomson war auch als Dramatiker tätig. Sein wissenschaftliches Interesse bezeugt das Gedicht Sacred to the Memory of Isaac Newton.

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Hundes, Die Verwandlung) durch den Perspektivwechsel die Fremdartig- keit der vertrauten Kultur. In Kafkas Erzählung In der Strafkolonie wird ein regelrechtes Fremdheitstheater inszeniert, das in der Infragestellung des Eigenen und nicht zuletzt der Literatur als Foltermaschine gipfelt.46 Übrigens kreist Kafkas ganzes Schreiben um das Problem der Macht und um den (vielleicht vergeblichen) Versuch des Einzelnen, dieser Macht zu entgehen. Eine Bewegung der ständigen Überschreitung der Grenzen charakterisiert Forsters Ansichten. Die Grenze markiert nicht nur die räumliche Differenz, sondern ist vor allem die Trennlinie zwischen verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwicklung. Unter diesem Vorzeichen kann man wohl behaupten, dass Forster auch die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Reiseliteratur verwischt: Er setzt die Linie der Perspektivierung und Dynamisierung des zeitlichen Ablaufs der Geschichte fort, die sich in Deutschland seit Johann Martin Chladenius und Johann Christoph Gatterer durchgesetzt hatte.47 Eine doppelte Bewegung durchzieht seine Ansichten vom Niederrhein: die Bewegung des Gegenstandes, als unaufhaltsamer Gang der geschicht- lichen Ereignisse verstanden, und die Bewegung des fahrenden und schreibenden Ich, dessen Standort wiederholt in der Kajüte eines Schiffes oder auf einer Barke lokalisiert wird. Das Ich gleitet an den Städten und Landschaften ständig vorbei, und diese vorübergleitende Bewegung ahmt den fortwährenden Strom der Zeit und der Geschichte nach. Eine solche Duplizität, das Bewusstsein eben, dass keine objektive Betrachtung von einem den reißenden Strömen der Zeit enthobenen Standpunkt möglich sei, unterstreicht die Perspektivierung und den reflektierenden Charakter des Werks und zeigt es eben als Ansichten an, als Meinungen eines überle- genden Ichs über das politische Schicksal Europas in einem Zeitalter, wo sich Revolution und Despotismus im prekären Gleichgewicht die Waage halten. Forsters Kunst- und Theaterkritik, wie auch seine Auffassung von Politik und Geschichte beruhen auf einer erkenntnistheoretischen

46 Vgl. Bay 2009, 287-309. 47 Vgl. Johann Martin Chladenius 1752 und Johann Christoph Gatterer 1768, beide in: Blanke/Fleischer 1990, Bd. 1, 226-274 u. Bd. 2, 452-466. Besonders lehrreich im Hinblick auf das Verhältnis Forsters zu der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts ist Stephan Jaegers Aufsatz (2011), der sich jedoch mit der Reise um die Welt beschäftigt.

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Voraussetzung, die sich von der Erkenntnis der dauernden Wandelbar- keit des Menschen herleiten lässt. So wie die anthropologische Substanz wird auch der Gegenstand der Betrachtung als veränderlich und vergäng- lich erfasst. Wenn er in den Ansichten auf die Metapher des Schauspiels zurückgreift, so geschieht das keineswegs im Sinne einer Erstarrung oder Ästhetisierung der Geschichte und des gemeinschaftlichen Lebens: Forster kommt es vielmehr darauf an, die Dynamik des geschichtlchen Geschehens und die gegenseitigen Verbindungen zwischen dem Gegen- stand der Betrachtung und dem betrachtenden Subjekt in den Vorder- grund zu rücken.48 Forster interessieren vor allem die ständigen Wechselwirkungen und Korrelationen, die zwischen Kultur, Kunst und Schriftstellerei einer- seits und materiellem Leben des Volks andererseits bestehen. Auf dieser ständigen Wechselwirkung beruht seine Bildungsauffassung. Wie Kant und im Gegensatz zu den Vertretern der Konservativen ist er der Meinung, dass das Volk sich nur durch die Demokratie zur Demokratie bilden lässt. Die politische Praxis der Revolution schafft wiederum die Voraussetzungen für freien Ideenverkehr und für die Bildung des Volks:

In den Wirtshäusern und Kaffeehäusern sahen wir fleißige Zeitungs- leser, und selbst der gemeine Mann politisirte bei seiner Flasche Bier von den Rechten der Menschheit, und allen den neuen Gegenständen des Nachdenkens, die seit einem Zeitabschnitte von ein paar Jahren endlich auch auf dem festen Lande in Umlauf gekommen sind. In den müßigen Zwischenräumen, welche die Sorge für die Befriedigung des physischen Bedürfnisses übrig lässt, fordert der Geist Beschäftigung. Entweder muß er seine Phantasie mit hyperphysischen Träumen wiegen, die er nicht zergliedern und nach dem Gesetze des Widerspruchs beurteilen kann; oder ein Wort – zum Beispiel: Freiheit – das ohne Metaphysik unverständ- lich ist, muß sich seiner bemächtigen und ihn im Kreise umherwirbeln […]. Indeß, so unfähig die Lütticher auch sind, einen Streit über die Grundsätze des geselligen Lebens, den die Philosophen selbst noch nicht ins Reine brachten, abzuurtheilen: so genau sind sie doch von den Thatsachen unter-

48 Forster hat die Metapher des Schauspiels nicht nur auf den Anblick der städtischen Betriebsamkeit oder auf den plötzlichen Ausbruch der Revolution übertragen, sondern auch auf die belebte Natur bezogen. Eine solche Verwendung der Schauspiel-Metapher ist, wie Rainer Godel bemerkt, für die Spätaufklärung charakteristisch (vgl. Godel 2011, 178f.).

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richtet, welche ihre gegenwärtigen Angelegenheiten betreffen, und hier, wie überall, entscheidet das Gefühl augenblicklich, ehe noch die Vernunft, die das Vergangene und das Zukünftige bis an die äußersten Gränzen der Zeit […] sich aus dem Chaos entgegengesetzter Verhältnisse herauswirren kann […]. (AA IX, 111f.) Der Unterschied von elitärer Vernunft und Gefühl scheint eben mit der Verschiedenheit des jeweiligen Zeitsinns verbunden. Es ist Sache der Vernunft, und somit der philosophischen Abstraktion, die Vergangen- heit mit der Zukunft in Verbindung zu bringen, also aus den Spuren der Vergangenheit die künftige politische Entwicklung zu ahnen und voraus- zusagen. Das Gefühl taugt hingegen für die augenblickliche Entscheidung. Aber die Revolution ist eben eine augenblickliche, plötzliche Wendung, die, wie W. Benjamin sagen wird, die Kette der Geschichte sprengt. Den Begriff des Charakteristischen verbindet Forster nicht anders als Friedrich Schlegel mit der Physiognomik. Die Physiognomie der Lütticher enthält keine Spur des phlegmatischen Charakters, der in Aachen und in Brüssel auf die träge Geduld, auf den dumpfen Aberglauben der Leute schließen lässt.49 Nicht zufällig und mit durchaus politischer Bedeutung sind die Physiognomie und die Sprache der Lütticher den Franzosen ähnlich:

Die Volksphysiognomien haben hohe, gerade in die Höhe gehende, an den Seiten zusammengedrückte Stirnen, breite Jochbeine […] Sie nähern sich also den französischen, und unterscheiden sich auffallend von den jülichischen­, die gewöhnlich, bei einer sehr weißen Hautfarbe und blondem Haar […] ein gewisse Verwandtschaft mit den Niederländern verrathen. Die Lütticher können ihr französisches Blut nicht verläugnen; sie sind eben so leichtsinnig-fröhlich, eben so gutmüthig, eben so mit einer, ich

49 In der Temperamentenlehre, die von Marsilio Ficino bis zu Philipp Otto Runges Tages- zeiten diskutiert wird, entspricht das Phlegma der Tageszeit der Nacht, die wiederum auf den Schlaf der lebendigen Kräfte hinweist. So heißt es auch bei Forster über die Aachener: „In den Städten der hiesigen Gegend, wo sich auf das angeborne Phlegma und den damit verbundenen Stumpfsinn, die Faulheit, die Unsittlichkeit und der Aberglaube pfropfen, findet man allerdings die menschliche Natur in ihrer empörendsten Entartung.“ (AA IX, 83) In Brüssel erscheint Forster auch das Spiel der Kinder durch Phlegma gekenn- zeichnet: „Phlegma und überall Phlegma! Ich behaupte sogar, daß sich dieses charakteris- tische Phlegma in den Spielen der Kinder auf den Straßen wahrnehmen lässt […]. Bei den Erwachsenen ist diese Langsamkeit des Temperaments nicht zweifelhaft; allein sie äußert sich am stärksten in Absicht auf den Gebrauch der Vernunft. Oft haben wir uns über die gleichgültige Ruhe gewundert, womit die Brabanter in die Zukunft sehen.“ (AA IX, 198f.)

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möchte sagen, angebornen Höflichkeit begabt, und sprechen auch einerlei Sprache, wiewohl so durchaus mit Provinzialismen verdorben, daß ein Mitglied der Pariser Akademie sie schwerlich für Brüder erkennen würde. Außerdem spricht das gemeine Volk eine Art Kauderwelsch, welches man unter dem Namen der wallonischen Mundart kennt. (AA IX, 107) Eine solche Aufmerksamkeit für die jeweiligen Sprachen und Mundarten soll bei einem polyglotten Forster nicht verwundern. In der Darstellung der Reise vom Lütticher Gebiet nach Löwen, über Tirlement und durch die österreichischen Niederlanden beweist Forster seine große gestal- tende Kunst. Tüchtig benutzt er die Gelegenheit des Postwagens, um die kleine Gesellschaft der Mitreisenden so plastisch und ironisch zu fixieren, wie man es nur von der Kunst eines großen Karikaturisten erwarten könnte.50 Mit wenigen sicheren Zügen gelingt es Forster, die groteske Hässlichkeit des ancien régime, die grausame Verkennung der Rechte der Menschheit in der Gestalt des alten Chevalier de St. Louis zu verkörpern. Diesem kleinen, vertrockneten Gerippe „mit einem sauren Affengesicht“ und einer unangenehmen schnarchenden Stimme setzt Forster die dicke, gutmütige Gouvernante zur Seite, mit der der Chevalier den ganzen Weg über disputiert. Aber es ist vor allem die Episode mit den Zollbeamten, in der seine „vornehme Filzigkeit“ ganz zutage kommt.51 In der Flüchtig- keit seiner Karikaturen erweist sich Forster hier als regelrechter peintre de la vie moderne; die Schnelligkeit seiner Feder entspricht vollkommen der Beschleunigung, die die Zeit durch die Revolution erfahren hat, und der Fremdheit einer Welt, in der das Ich nirgends seine Heimat findet:

50 Um die groteske Gruppe von Soldaten in Lille zu beschreiben, „welche die Ohnmacht und das Phlegma der Nation“ verkörpert, beruft sich Forster auf Hogarth: „Es ist nicht möglich, das Lächerliche dieser grotesken Gruppe mit Worten zu schildern; selbst Hogarths Talent hätte verzweifeln müssen bei dieser trägen, charakterlosen Unordnung.“ (AA IX, 227) 51 „Er affektirte von seinen Renten zu sprechen, und zankte mit jedem Gastwirth um seine Forderungen. Diese vornehme Filzigkeit brachte ihn mit den Zollbeamten in eine verdrießliche Lage. Ein halber Gulden hatte unsere Koffer vor ihrer Zudringlichkeit gesichert; allein ob sie ihn schon kannten, oder hier ihre berüchtigen physiognomi- schen Kenntnisse an den Mann brachten: genug, als hätten sie geahndet, er werde nichts geben, packten sie seine Habeligkeiten bis auf das letzte Stück Wäsche aus, und ließen ihm den Verdruß, sie unsern Augen preis gegeben zu haben, und wieder einzupacken, wofür er denn, sobald sie ihn nicht mehr hören konnten, eine halbe Stunde lang über sie fluchte […].“ (AA IX, 138)

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Unter solchen Menschen leben wir, lachen wo wir können, und wälzen uns durch eine Welt, die uns fremd bleibt, bis der Zufall hier und dort ein Wesen erscheinen lässt, an dessen innerem Gehalt der lechzende Wanderer sich erlaben kann. Daß solche Erscheinungen fast überall möglich sind, wird man ohne die auffallendesten Einseitigkeit nicht läugnen wollen; daß aber mehr als Glück dazu gehört, sie gleichsam im Fluge zu treffen, indem wir schnell vorüber eilen, das, dünkt mich, versteht sich von selbst […]. (AA IX, 142)

Literaturverzeichnis

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Godel, Rainer: „Georg Forster und die Schauspielkunst. Zum Zusammen- hang von Anthropologie und Ästhetik“, in: GFS XVI (2011), 177-201. Greif, Stefan: „,Zum Selbstgefühl erwachen, heißt schon frei sein‘. Forsters Abhandlung Über Proselytenmacherei in der Berlinischen Monatsschrift“, in: GFS XVIII (2013), 93-110. Irmscher, Hans Dietrich: „Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), 64-96. Jaeger, Stephan: „Erzähl- versus Bildkunst: Georg Forsters und William Hodges’ Darstellung von Natur- und Kultursehnsüchten“, in: GFS XVI (2011), 25-51. Paul, Jean: „Vorschule der Ästhetik“, in: ders.:Sämtliche Werke. Historisch- kritische Ausgabe, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Weimar 1935. Kafka, Franz: Tagebücher (1909-1923), hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt/M. 2003. Kemper, Dirk: Sprache der Dichtung: Wilhelm Heinrich Wackenroder im Kon- text der Spätaufklärung, Stuttgart 1993. Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalis- mus, München 1986. Kurz, Gerhard: „Höhere Aufklärung. Aufklärung und Aufklärungskri- tik bei Hölderlin“, in: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, hrsg. v. Christoph Jamme u. Gerhard Kurz, Stuttgart 1988, 259-282. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bde., München 1980. Novalis: Schriften, hrsg. v. Joachim Mähl u. Samuel Kluckhon, Stuttgart 1968. Paul, Jean: „Vorschule der Ästhetik“, in: ders.: Sämtliche Werke. Historisch- kritische Ausgabe, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Weimar 1935. Peitsch, Helmut: Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“. Zum Problem des Übergangs vom bürgerlichen Humanismus zum revolutionären Demokratis- mus, Frankfurt/M. 1978.

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Peitsch, Helmut: „Georg Forster über britische Schriftstellerinnen in sei- ner Geschichte der Englischen Litteratur“, in: GFS XVI (2011), 253-280. Rüdiger, Axel: „Die ‚Passion des Realen‘ zwischen Lebensphilosophie und Sozialwissenschaft: Georg Forster und die Berliner ‚Idéologues‘ Saul Asher und Friedrich Buchholz“, in: GFS XVIII (2013), 33-82. Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Hans Eich- ner und Ernst Behler, München u. a. 1963ff. [sigliert mit KFSA] Uhlig, Ludwig: „Die Humanität des Künstlers. Georg Forsters Genieästhe- tik im zeitgenössischen Kontext“, in: Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters, hrsg. v. Jörn Garber, Tübingen 2000, 43-59. Vietta, Silvio: Die literarische Moderne: eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992.

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„Die Indische Lehre taugte von Haus aus nichts“. Überlegungen zu Forsters Über­setzung der Sakontala mit besonderem Blick auf die Mensch-Umwelt-Problematik

Warum hat Georg Forster das indische Schauspiel Sakontala or the fatal Ring ins Deutsche übersetzt? So lautet die Frage, die im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht. Die in der Forschung fest etablierte Antwort auf diese Frage lautet, er habe damit das humanistische Welt- und Menschenbild der deutschen Klassik erweitern wollen; er habe beweisen wollen, dass „die zartesten Empfindungen, deren das menschliche Herz fähig ist, sich so gut am Ganges und bei dunkelbraunen Menschen, wie am Rhein, am Tyber, am Ilissus bei unserem weissen Geschlechte äussern konnten“ (AA VII, 287).1 Diese Passage findet sich in Forsters Vorrede zur Übersetzung des indischen Dramas. Damit ist m. E. nur eine der Motivationen Forsters genannt; aber nicht die wichtigste, die auch in derselben Vorrede steht. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Forster, der vor allem ein Natur- wissenschaftler war, mit der Transponierung des indischen Stücks nach Deutschland seine Landsleute zu einer kritischen Reflexion ihres Natur- verständnisses bewegen wollte. Um diese Absicht Georg Forsters zum Vorschein kommen zu lassen, möchte ich zunächst sein Naturverständnis, das er in der Antrittsvorlesung zu seiner Professur in Kassel im Jahre 1779 dargelegt hat, kurz skizzieren. Danach lese ich Sakontala im Hinblick auf die Mensch-Umwelt-Problematik.

1  Vgl. auch Simo 2003, 54.

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I Forster als Wissens- und Kulturvermittler

Georg Forster, geboren im Jahre 1754 in Nassenhuben bei Danzig, ist einer der bekanntesten deutschen Reiseliteraturautoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sein Leben kann man mit dem Wort ‚Mobilität‘ beschreiben. 1764, also nur zehn Jahre jung, war er mit seinem Vater, dem Pfarrer und Naturhistoriker Johann Reinhold Forster, auf Reise nach Russland. Zwei Jahre später, das heißt 1766, zogen beide von Russland nach England um. Von 1772 bis 1775 waren sie mit James Cook auf der Reise um die Welt.2 Dabei besuchte Georg Forster Tahiti und lernte die Bewohner der Insel kennen. 1778 kam er wieder nach Deutschland und lehrte von 1779 bis 1784 Naturgeschichte am Collegium Carolinum zu Kassel, danach in Wilna (Litauen); 1788 war er als Universitätsbibliothekar in Mainz tätig. Im Mai und Juni 1790 hielt er sich wieder in London auf. Mit dem Beitritt zum Jakobinerclub im Jahre 1792 ist Forster als überzeugter Anhänger der Französischen Revolution geistig in Frankreich, ab 1793 als Deputierter des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents persönlich in Paris. Dort starb er auch, im Jahre 1794.3 Bei seinen Reisen sorgte er vor allem für die Mobilität von Wissen. Dies gewährleistete er zum einen durch seine Reisebeschreibungen und zum anderen durch Übersetzungen, Rezensionen und Essays. Von seinem London-Aufenthalt im Jahre 1790 brachte er ein kurz zuvor in engli- scher Übersetzung erschienenes Drama von Kalidasa, einem alt-indischen Dichter aus Nordindien, mit. Das Geschehen von Sakontala or the fatal Ring lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Die Jagd auf eine Gazelle führt König Duschmanta in einen Wald hinein. Das Tier fängt er nicht. Dafür aber trifft er eine Waldbewohnerin, Sakontala, die Pflegetochter des Asketen Kanna. Beide verlieben sich ineinander und schließen in Abwesenheit Kannas die Ehe heimlich nach den lokalen Sitten. Der König gibt seiner Braut seinen Ring als Unter-

2  Titel des Reiseberichts von Dr. Johann Reinhold Forster und seinem Sohne Georg Forster. Die Reise wurde „auf Kosten der Grosbritannischen Regierung zu Erweite- rung der Naturkenntniß unternommen und während den Jahren 1772 bis 1775. In dem vom Capitain J. Cook commandirten Schiffe the Resolution, ausgeführt.“ (Titelblatt des Reiseberichts), AA III, 5. 3  Vgl. hierzu [Art.] „Johann Georg Adam Forster“ (Killy 1989, 455-457).

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pfand und kehrt zu seinen Staatsgeschäften zurück. Nach seiner Rückkehr ordnet der Pflegevater Kanna an, Sakontala zu ihrem Mann zu führen. Unterwegs verliert sie den Ring, und der König erkennt sie deshalb nicht mehr. Verzweifelt wird sie von ihrer Mutter, einer Nymphe, in den Palast einer Göttin gebracht. Dort bekommt sie ein Kind, den Sohn Duschmantas. Inzwischen erhält der König mit dem Ring, den ein Fischer im Magen eines Fisches gefunden hat, seine Erinnerung an Sakontala zurück und ist voller Reue; aber da er auf Anweisung des Götterkönigs Indra zum Kampf gegen einen Dämon antreten muss, verschiebt er die Suche nach seiner Geliebten. Nach dem Sieg kehrt er im Wagen Indras über die Wolken zurück. Dabei legt er einen Zwischenaufenthalt in dem Palast der Göttin Aditi und ihres Gatten Kasyapa ein. Dort findet er einen Jungen, der mit Löwen spielt und sich als der Sohn, den er mit Sakontala bekommen hat, entpuppt. Er trifft auch Sakontala. Die Vorkommnisse werden aufgeklärt, und sie finden wieder zueinander.4 Soviel zum Geschehen des Stückes. Gleich nach seiner Rückkehr nach Mainz begann Forster mit der Überset- zung dieses Dramas ins Deutsche. Das Werk erschien im Jahre 1791 unter dem Titel Sakontala oder der entscheidende Ring. Es ist mit Erläuterungen des Übersetzers zur indischen Kultur, Religion, Fauna und Flora versehen. Die Beweggründe dieses Unternehmens stehen in direkter Verbindung zu Forsters Naturverständnis einerseits und zu seiner Konzeption der Mensch-Umwelt-Beziehung andererseits.

II Forsters Naturverständnis

In seiner Antrittsvorlesung in Kassel wirft Forster einen Blick in das Ganze der Natur. „Natur“ versteht er darin im Sinne der mechanistischen Naturphilo­ sophie. Den Begriff verwendet er synonym mit Kosmos oder Universum. Natur ist eine feststehende und sich selbst regulierende Stoffmenge, deren Teile jedoch immer in Bewegung sind. Sie sei ursprünglich eine Schöpfung Gottes, die „erste unmittelbare Offenbarung Gottes an“ die Menschheit, das „Heiligthum“, ein „Abdruck der Gottheit“ (AA VIII, 81). Im Universum hat die Sonne eine zentrale Stelle inne. Durch ihr Licht macht die Sonne erst das

4  Vgl. hierzu auch Simo 2003.

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Leben auf der Erdkugel möglich. Auf der Erde unterliegen Pflanzen, Tiere und Menschen dem Gesetz von Wachstum und Ersterben. Bei diesem zykli- schen Vorgang gehe nichts verloren. Der Beziehung des Menschen zu anderen Lebewesen und zur Natur widmet Forster eine kritische Beachtung. Forster prangert besonders die Überheblichkeit der Gattung Mensch gegenüber anderen Gattungen an. Im Selbstvergleich mit anderen Lebewesen habe er sich selbst zum „Eigenthumsherr der Erde“ (ebd., 96) ernannt und, wohl wissend, dass jede Gattung ursprünglich „ein gleiches Recht an den Gütern der Natur“ habe, betrachte er die Umwelt als sein exklusives Nutzobjekt. Zur Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse zerstört er Ökosysteme:

die Natur ist scheußlich, und liegt in ihren letzten Zügen; ich, nur ich allein, kann ihr Anmuth und Leben schenken. Auf! laßt uns jene Moräste trocknen, jenes todte Wasser beleben, fließend machen, Bäche und Kanäle damit anlegen! Laßt uns von jenem wirksamen, und verzehrenden, vorher verborgenen und bloß durch unser Nachforschen entdeckten Elemente Gebrauch machen! Laßt uns diesen überflüssigen Unrath, jene schon halb vergangenen Wälder mit Feuer verbrennen, und, was das Feuer nicht aufreibt, vollends mit der Axt zerstören. Bald werden wir, anstatt der Binsen und Wasserlilien, unter denen die Kröte wohnte, Ranunkeln und Klee nebst andern süßen und heilsamen Kräutern hervorkommen sehen. Hüpfende Heerden sollen diesen vormals unwegsamen Boden betreten, dort reichlichen Unterhalt, eine immergrüne Weide finden, uns sich immer stärker vermehren. Diese neuen Hülfsmittel nutzen wir zur Vollendung unseres Werkes; wir beugen den Ochsen unter das Joch, und lassen ihn das Land mit Furchen beziehen; bald grünt die neue Saat auf unsern Äckern, und eine neue, verjüngte Natur geht aus unsern Händen hervor! (Ebd., 95)

Extreme Rücksichtslosigkeit kennzeichnet den Umgang des Menschen mit der Natur. Angesichts dieser Situation warnt der Naturkenner Forster den Menschen vor den Folgen eines solchen Vorgehens. Dazu verwendet er den Begriff Sorgfalt und benennt damit die alles entscheidende Haltung, die der Mensch bewahren muss, um das Zurückschlagen der Natur zu vermeiden. In seiner usurpierten Position müsse er „seine Sorgfalt beständig erneuern“, denn:

sobald diese aufhört, so schmachtet, verdirbt und verwandelt sich alles; alles kehrt in das Gebiet der Natur zurück: sie tritt wieder in ihre Rechte, löscht die Werke des Menschen aus, bedeckt seine stolzesten Denkmähler

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mit Staub und Moos, zerstört sie vollends mit der Zeit, und läßt ihm nichts übrig, als den quälenden Verdruß, das mühsam erworbene Gut seiner Vorfahren durch seine Schuld verloren zu haben. (Ebd., 96) Festzuhalten an Forsters Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der Natur ist seine imperativische Warnung an den Menschen, in seinem eignen Über- lebensinteresse sorgsam mit seiner Umwelt umzugehen. Ein Beispiel eines solchen Umgangs des Menschen mit der Natur war Indien.

III Sakontala oder das indische Beispiel eines sorgsamen Umgangs mit der Natur

Gerade einen solchen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt fand Forster in Sakontala or the fatal Ring. Das fällt besonders auf, wenn man den Wald, den Schauplatz des Geschehens, in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Hier wird ein liebevoller Umgang der Inder mit ihrer Umwelt und ihren Göttern inszeniert, der Forster offenkundig beeindruckt hat. Zwei Aspekte dieser Problematik möchte ich anhand des Werkes erläutern. Zum einen den Wild- und Artenschutz und zum andern den Umgang der Inder mit ihrer Pflanzenumwelt und ihren Göttern. Der Wild- und Artenschutz ist ein wichtiges Thema des Dramas. Dies erfahren wir bereits im ersten Aufzug. Die Regieanweisungen zeigen zunächst die Scene; es handelt sich um „ein[en] Wald“. Danach wird eine Jagdszene beschrieben: „Duschmanta auf seinem Wagen verfolgt eine Antelope oder Gazelle mit Bogen und Köcher; sein Wagenführer begleitet ihn.“ Doch kaum ist der Jäger schussbereit, da erhält er folgendes Schussverbot von „einer Stimme hinter der Scene“: „Sie darf nicht getödtet werden! Diese Antelope, o König, hat in unserm Walde ihren Zufluchtsort; man darf sie nicht tödten!“ (AA7, 293f.) Duschmanta gehorcht und steckt seinen Pfeil in den Köcher. Danach zeigen sich ein Einsiedler und dessen Sohn. Die Hände erhoben, wiederholt der Waldbewohner das Schussverbot:

Tödte nicht, mächtiger Herrscher, tödte nicht ein armes junges Thier, das einen Schutzort gefunden hat. Nein, gewiß, es darf nicht verlezt werden. Ein Pfeil in dem zarten Leibe eines solchen Thiers wäre wie Feuer in einem Ballen Baumwolle. Verglichen mit deinen scharfen Geschossen,

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wie schwach muß nicht das zarte Fell einer jungen Antelope seyn! Verbirg doch schnell den Pfeil, mit dem du zieltest. Eure Waffen, ihr Könige, ihr Helden, sind zur Rettung der Bedrückten bestimmt, nicht zum Verderben des Schuldlosen […]. (Ebd., 294) Sozusagen als Belohnung für seine wohlwollende Reaktion prophezeien die Einsiedler dem kinderlosen Jäger die Geburt seines lang ersehnten Sohnes. Daraufhin stellen sie sich vor und begründen ihre Anwesenheit im Wald. Sie seien dahin gekommen, „um Holz zu einem feierlichen Opfer zu sammeln.“ Sie erklären dem ungehobelten Gast die Bedeutung des Waldes für die Tierwelt und die Funktion Sakontalas darin. Der Wald sei „ein Zufluchtsort der wilden Thiere“ und Sakontala ihre Beschützerin (ebd., 294). Wenn wir den Protagonisten Duschmanta in diesen Wald begleiten, so erleben wir seine Verwandlung mit. Der Aufenthalt im Wald veranlasst den Jäger zum Umdenken und Umlernen. Hier gelangt er nämlich zur Erkenntnis, dass das Jagen eine Unsitte sei. Wenn er an Sakontala denke, so Duschmanta, habe er wenig Lust zu jagen; er könne sich nicht mehr vorstellen, die schönen Rehe zu töten, die mit seiner Geliebten in einem Wald wohnen und „den Glanz der Augen von dem ihrigen entlehnen“ (ebd., 309). Er verzichtet eben damit auf eine Übung, die von den Waldbe- wohnern seit langem als ein Laster angesehen worden ist. Das Gespräch zwischen dem Jäger und den Einsiedlern erweist sich als eine Lektion über den Umgang der mächtigen Menschen mit den Wehrlosen schlechthin. Der Wald ist der Ausgangs- und der Endpunkt des Geschehens. Hier lernt der kinderlose König seine Sakontala kennen. Er ist der Ort der Verlobung und des Liebesaktes der Verlobten. Nach der misslungenen Begegnung zwischen den Geliebten im Königspalast dient er Sakontala als Zuflucht. Er ist der Geburtsort des späteren Thronfolgers der Puru-Dynastie. Das glückliche Ende der Handlung spielt im Wald: Ich meine die Begegnung und die Versöhnung zwischen Sakontala, Duschmanta und deren Sohn. Der Mensch findet sein Glück sozusagen im Wald! Der Wald ist der Wohnort der Götter, die zu den wichtigsten Protagonisten des Gesche- hens zählen. Damit ist er ein heiliger Ort, nicht nur in den Augen der Einsiedler, sondern auch in den Augen von König Duschmanta­. Der Wald gilt als Erholungsort, eine ,Reinigungsstätte für die Seele des Menschen‘ (vgl. ebd., 295). Damit ist er ein ehrwürdiger Ort, und der Mensch, unab-

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hängig von seinem sozialen Rang, begeht ein Sakrileg, sollte er ihn nicht als solchen betreten, so Duschmanta voller Demut zu seinem Begleiter: „dieses ehrwürdige Heiligthum darf nicht verlezt werden“ (ebd., 296). Sämtliche Attribute seiner Macht wie den „königlichen Schmuck“ (ebd.) muss der König deswegen vorher ablegen. Das Werk inszeniert ein harmonisches Leben der Waldbewohner mit ihren Göttern und Göttinnen. Diese interagieren mit Menschen in allen Lebens- bereichen. Als Belohnung für ihren pfleglichen Umgang mit dem Wald und den darin wohnenden Tieren sind die Nymphen an der Vorbereitung von Sakontalas Reise zu ihrem Bräutigam beteiligt. Der „Chor der unsichtbaren Waldnymphen“ wünscht Sakontala eine gute Reise mit folgenden Worten:

Heil begleite sie auf ihrem Wege! Mögen beglückende Lüfte, ihr zum Genuß, den wohlriechenden Staub köstlicher Blüthen umherstreun! Teiche klaren Wassers, grün von Lotosblättern, sie erquicken, wo sie wandelt, und belaubte Zweige sie vor dem sengenden Sonnenstral decken! (Ebd., 337)

Diese Göttinnen sind es, die Sakontala nach ihrem misslungenen Einzug in Duschmantas Palast auf ihrem Weg zurück retten und in Sicherheit bringen: „Da stieg ein Lichtkörper in weiblicher Gestalt hernieder bei Apsarastirtha, wo man die Nymphen des Himmels verehrt; umfieng sie schnell und verschwand.“ (Ebd., 353) Der Sohn Sakontalas ist in ,Kasyapas heiligem Hain geboren‘. Wie gehen die Waldbewohner mit ihrer Pflanzen-Umwelt um? Die Bezie­ hungen­ der Einsiedler zu ihrer Tier- und Pflanzen-Umwelt sind geprägt durch Liebe und gegenseitige Achtung. Das alt-indische Drama inszeniert eine eigenartige Kommunikation zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Sakontalas Liebe zur Pflanzenwelt kommt bereits in ihren ersten Worten im Gespräch mit ihrer Freundin zum Ausdruck: „Ich fühle wirklich die Neigung einer Schwester für diese jungen Pflanzen.“ (Ebd., 297) Diese Menschen kommunizieren mit dem Wald. Sakontala bekundet ihren Freundinnen im ersten Akt: „Jener Amrabaum, meine Lieben, winkt mit den Fingerspitzen seiner Blätter, die der Wind leise bewegt; er will uns ein Geheimnis ins Ohr säuseln. Ich muß ihm näher treten (Sie nähern sich alle dem Baum).“ (Ebd., 298) Auch Kanna, Sakontalas Pflegevater, ist ein großer Freund und Pfleger der Pflanzen. In diesem Umfeld reger Kommunikation zwischen Mensch und Pflanzenwelt erkennen die Menschen sofort die Botschaften der Pflanzen

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an sie: So zum Beispiel wird die baldige Vermählung von Sakontala an der unzeitgemäßen Blüte einer gewissen Pflanze, des ,Madhawistrauchs‘ (vgl. ebd., 299), abgelesen. Diese Botschaft der Natur an den Menschen erscheint im Nachhinein als eine Belohnung für dessen bisherigen wohlwollenden und pfleglichen Umgang mit ihr. Sakontala meint sogar: „Die Madhawipflanze ist meine Schwester; kann ich wohl anders als ihrer pflegen?“ (Ebd.) Die Menschen achten also auf eine möglichst geringe Einflussnahme auf das Ökosystem: Auf der Suche nach Brennholz nehmen sie nur das, was der Wald, der Wohnort der Götter, ihnen zur Verfügung stellt: Sie sammeln Äste, sie fällen keine Bäume. Wild- und Artenschutz ist eine ernste Aufgabe der Inder.

IV Schlussbemerkungen

Sich auf Forsters Antrittsvorlesung in Kassel beziehend, hat Gerhard Steiner unter anderem „deistisch-pantheistische Vorstellungen“5 bei Forster festgestellt. In der Polemik um die Götter Griechenlands hatte Forster 1788 Schiller gegen Stolberg dezidiert verteidigt.6 Er schätzte an dem Gedicht Schillers, wie Steiner bemerkt hat, vor allem:

5  Vgl. hierzu Steiner 1965, II, 911. 6  Forster: „Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller, über Schillers Götter Griechenlands“ (AA VII, 1-14). Über diese Kontroverse zwischen Graf Friedrich Leopold zu Stolberg und Forster über die Götter Griechenlands siehe Gerhard Steiners Erläuterungen zu AA VII, 439-444. Das Gedicht vertritt die These: „In der griechi- schen Mythologie seien sich Götter und Menschen untrennbar nahe. Das bedeute, dass diese gotterfüllte Welt einen Strom der Lebensfülle gebracht habe und eine Quelle der Daseinsfreude, der künstlerischen Schönheit, des inneren Reichtums und der Liebe gewesen sei. Welch ein Gegensatz sei dies zu der ‚entgötterten‘ Welt der Gegenwart! Ein menschenferner, unserem Fühlen fremder, vom Verstand erdachter Gott lebe in einem Jenseits, losgelöst von der lebendigen Natur und ihren Freuden. [...] In dem Gegensatz von Griechentum und Christentum versinnbildlichte Schiller den Gegensatz von Pantheismus und Dualismus. [...] Der Welt des glutvollen Lebens, [...] die […] eine menschliche, von Humanität erfüllte Naturwelt gewesen sei, stellte Schiller die zwie- spältige, moderne Welt gegenüber, die in einen allesbeherrschenden Geist und eine seelenlose Materie geteilt sei.“ (Ebd., 439)

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die Klage über die Entgötterung des Diesseits, die Klage darüber, dass die Moralität der Menschen in der christlich-feudalen Gesellschaft ‚von ihrem Wähnen über Dinge‘ abhängig gemacht wird, ‚die jenseits ihrer Erfahrung und Erkenntnis liegen‘. […] Die antiken Götter seien mit ihren menschlichen­ Zügen dem griechischen Menschen näher und könnten infolgedessen auch eher Vorbilder für ihn sein, als den Menschen der Gegenwart ein ‚metaphysischer Gott‘. (AA VII, 441)

Forster hatte Sakontala während seines Londoner Aufenthalts von Mai bis Juni 1790 entdeckt; das heißt elf Jahre nach der genannten Antritts- vorlesung und nur ein Jahr nach seiner Stellungnahme gegen Stolberg in der Kontroverse über die Götter Griechenlands. Wenn wir dieses Stück und Forsters Erläuterungen dazu lesen, lässt sich – abgesehen von der eingangs genannten These von der Erweiterung des Geltungsbereichs des Menschheitsbegriffs – eine weitere Motivation seiner Übertragung ins Deutsche feststellen, nämlich, wie ich meine, die Applikation von Forsters Theorie eines sorgsamen Umgangs des Menschen mit seiner Umwelt. Hinzu kommt, dass es sich dabei um ein Verhaltensmuster gegenüber der Natur handelt, das Forster bereits in der Antike beobachtet hatte, wie er in Anlehnung an den römischen Schriftsteller Curtius in den Erläuterungen zu seiner Übersetzung anmerkt: „arbores violare capitale est.“7 Wie wir gesehen haben, pflegen die Protagonisten des Geschehens in Sakontala einen sorgsamen Umgang mit ihrer Umwelt. Diese Menschen leben auch in Harmonie mit ihren Göttern. Beide Verhaltensmuster vermisste Forster bei den aufgeklärten Europäern. Den Appell an die Europäer, diese Art vom Umgang mit der Umwelt und mit der Gottheit

7  Dass der Wald ein Wohnort der Götter sei, war an und für sich der erste Grund für den schonenden Umgang der Inder mit den Bäumen. Forsters Kommentar hierzu: „Also dachte sich die kindliche Phantasie der Indier die ganze Natur und selbst die Pflanze beseelt, und auch ihnen waren die lebenden Kräfte der Bäume göttliche Wesen, wie den Griechen. Homer. Hymn. in Ven. 258-272. Orph. Hymn. L. Sakontala steht unter dem besondern Schuz der Nymphen, denn sie pflegt und wartet ihrer Bäume und Blüthen- sträuche und bricht nicht einmal eines ihrer Blätchen. Dagegen strafen bei den Griechen die Hamadryaden diejenigen, die wider ihren Willen Bäume fällen. Apoll.Rhod. L. II. 479-485. Die Vorstellung der Heiligkeit und Unverlezbarkeit der Wälder und Haine, in welchen sich die Begünstigten der Götter aufhalten, und ihres Dienstes pflegen, ist hiemit genau verbunden. S. 294-295. Schon Curtius schrieb: arbores violare capitale est. VIII. 9.“ (AA VII, 400f.)

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von den Indern8 wieder zu erlernen, betont er in der Vorrede zu seiner Sakontala-Übersetzung folgendermaßen:

Die Einsammlung von Erfahrungen aller Art, theils unmittelbar mit eigenen Sinnen, theils mittelbar durch die Schriftzüge, wird folglich die Vorbereitung zur zweckmäßigsten Anwendung unseres Hierseyns [...]. Durch wissenschaftliche Verfeinerung in Kenntnissen und Sitten zu einer künstlich abgemessenen, raisonnirten Lebensweise gestimmt, könnten wir aber leicht des einfachen Naturgefühls entwohnen, wenn wir es nicht in den Geisteswerken solcher Nationen wieder fänden, die bis zu unserer komplicirten Ausbildung nicht hinangestiegen sind. Aus diesem Gesichts- punkte darf uns die Litteratur der Indier nicht gleichgültig seyn. (AA VII, 286f.) Das indische Werk blieb den Adressaten Forsters tatsächlich nicht gleich- gültig, wie die begeisterte Aufnahme durch seine Zeitgenossen (Herder, Schiller oder Goethe) zeigt.9 Doch nicht die inszenierte Lehre von dem sorgsamen Umgang des Menschen mit der Natur, die Lehre von dem scho- nenden Ressourcenverbrauch, die Lehre von dem umweltfreundlichen und umweltgerechten Verhalten, die Lehre von dem Wild- und Artenschutz, ja, nicht die Verehrung von Göttern mit menschlichen Zügen hatten dem damaligen Publikum an dem Stück gefallen. Denn ein Leben im Einklang mit der Natur, wie das vorgezeigte indische Muster anstrebt, passte nicht mehr in das Weltbild der nach Fortschritt strebenden aufgeklärten Europäer. Mit anderen Worten: In der Zielkultur fehlten die Vorausset-

8  Zum Indienbild in Europa und Deutschland: Seit der griechischen Zeit gilt der indische Subkontinent als Wunderland in den Augen der westlichen Welt. Mit der englischen Kolo- nialherrschaft hat man angefangen, dieses Bild zu korrigieren: Dort gebe es Krankheiten, heilige Kühe, orientalische Despotie oder stagnierende asiatische Produktionsmethoden; im deutschen Sprachraum herrschte eher ein Indienbild, das von romantisch verklärten religiösen und philosophischen Zügen geprägt ist. Ein Beispiel ist Heinrich Heine, der beschreibt, wie am Ganges schöne Menschen mit Blumen in der Hand beten. Also ein positives Indienbild in deutschem Sprachraum (vgl. hierzu Witzel 2003, 7). Reisebeschreibungen trugen am Ende des 18. Jh. zur Kenntnisname Indiens und des Orients erheblich bei, so z. B. Pierre Sonnerats Reise nach Ostindien und China (1782). Goethe hatte einige Gedichte mit deutlicher Annäherung an Indien vorgelegt; doch wie z. B. die Ballade Gott und die Bajadere (1797) zeigt, benutzt er das indische Kolorit, um etwas Anderes zum Ausdruck zu bringen, hier seine Religions- und Chri- stentumskritik, die Liebesgeschichte zwischen Jesus und Maria Magdalena: Goethe funktio­ nalisiert das Indische, von einer Aneignung der Fremde ist hier nicht die Rede. 9  Siehe hierzu Simo 2003, 46-61.

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zungen für die empfohlene Rezeption des Stücks. Der angebotene freund- lichere Umgang des Menschen mit seiner Umwelt wurde nicht als solcher wahrgenommen. Wie das (paradoxe) Beispiel von Goethes Reaktion deutlich zeigt, stieß die angebotene Lehre eher auf „Abwehr, die zugleich mit Abwertung verbunden ist“, denn „[d]ie indische Lehre taugte von Haus aus nichts“.10 Mit der Industriellen Revolution wird die Aggression des Menschen auf seine Umwelt gewaltig fortschreiten. Der gefährliche Vorgang gipfelt in der schonungslosen Destruktion des hier und da noch existierenden Urwalds und damit der noch vorhandenen Ökosysteme. Doch, wie Forster in derselben Antrittsvorlesung sozusagen prophezeite, bleiben „die Folgen dieser Sünde“ gegenüber der Natur nicht aus.

Literaturverzeichnis

Killy, Walther (Hrsg.): Literatur Lexikon. Autoren u. Werke dt. Sprache, Bd. 3, Gütersloh 1989. Simo, David: „Georg Forsters Übersetzung des Sanskrit-Dramas Sakontala. Voraussetzungen und Bedeutung einer Kulturvermittlung“, in: Weltengar- ten. Deutsch-afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken (2003), 46-61. Steinenr, Gerhard (Hrsg.): Georg Forster. Werke, 4 Bde., Leipzig 1965. Wild, Reiner: „Goethe und Indien“, in: Trauben aus Elfenbein. Festschrift für Alokeranjan Dasgupta, hrsg. v. Franz Schneider, Heidelberg 2004, 122-143. Witzel, Michael: Das alte Indien, München 2003.

10 Wild 2004, 132.

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Hunde, Schweine und Pferde – Tiere als Mittel des Interkulturellen im Umfeld der Cookschen Reisen

I Einleitung: Tiere und Interkulturalität

Der Übergang vom Jagdleben zur festen Ansiedlung war um so schwerer, als der Mangel milchgebender Hausthiere in Amerika das Hirtenleben unmöglich machte. Der hier bezeichnete Contrast, einer der wichtigsten Grundzüge der Geschichte jenes Welttheils, übt noch gegenwärtig einen mächtigen Einfluß auf die Schicksale der amerikanischen Staaten aus1. Mit diesen Worten formulierte Alexander von Humboldt 1835 seine Meinung über die in Mittelamerika ansässige indigene Bevölkerung. Seine Aussage soll hier beispielhaft analysiert werden, um zwei Fragen einführend zu klären: 1. Was hat diese Aussage mit Interkulturalität zu tun? 2. Warum spielen Tiere dabei eine Rolle? Zur ersten Frage: Der Begriff des Interkulturellen ist bisher nicht eindeutig definiert worden.2 Und auch hier soll sich mit einer solchen Definition nicht aufgehalten werden. Oftmals hilft eine solche ja nicht nur zur Bestimmung eines Forschungsfeldes, sondern sie grenzt auch ab und etabliert Mauern, die dann irgendwann wieder eingerissen werden. Hinzu kommt, dass Pionierleis­tungen immer nur dann hervorgebracht werden konnten, wenn noch nicht reguliert, nichts festgefahren war. So soll der Begriff hier weit gefasst werden, so dass bloß festgehalten werden muss, dass zur Interkultura- lität mindestens zwei Kulturen gehören, die in irgendeiner Form in Kontakt treten. Eine Form dieses Kontakts ist die kulturelle Übersetzung. Darunter versteht man, um das mittlerweile oft genannte Diktum Bachmann-

1  Humboldt 1835, 324. 2  Der Begriff ist nicht eindeutig zu bestimmen, wie dies etwa Földes beschreibt (vgl. Földes 2009, bes. 503f.).

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Mediks zu zitieren, eine „Übersetzung von und zwischen den Kulturen“.3 Hinter dieser eher kryptischen Aussage versteckt sich nichts Anderes als die Überlegung, dass ein wie auch immer gearteter Übersetzungsprozess nicht nur von einer Kultur in die andere erfolgt, etwa - um hier ein ganz wortwörtliches Beispiel einzufügen – die sprachliche Übertragung eines Buches vom Original in eine fremde Sprache, sondern auch, dass dieser Übersetzungsprozess Auswirkungen auf die ausgehende Kultur hat, etwa dann, wenn der Autor des Originalmanuskripts von seiner Übersetzerin von Schwierigkeiten beim Übersetzen erfährt, woraufhin er in einem Folgeband andere Formulierungen wählen könnte. In einem solchen Fall hätte die Übersetzung Auswirkungen auf die Sprache des Autors gehabt. Der hier aber vorgeführte Forschungsschwerpunkt liegt dabei nicht auf klassischen Feldern wie der Literatur oder auch der Sprache bzw. politi- schen Systemen, sondern vor allem auf dem Umgang mit Tieren, der auch Teil der Kultur ist. Damit kann man sich der zweiten Frage widmen: Was haben Tiere mit Interkulturalität zu tun? Folgt man Humboldts Annahme, dann muss die Etablierung der milchge- benden Haustiere das Leben der amerikanischen Ureinwohner weit mehr geprägt haben als andere Formen der kulturellen Übersetzung beispiels- weise im Bereich der Literatur oder Politik. Der Kontakt zu milchgebenden Haustieren ist so alt, dass er dem Europäer selbstverständlich geworden ist. Er redet in diesem Zusammenhang gar nicht mehr von ‚Kultur‘, sondern von ‚Natur‘. So lässt sich Humboldts Ausspruch auch zuspitzen: Die Werdung des europäischen Menschen beginnt mit dem Tier. Seine Kultur- werdung beginnt mit der Beherrschung der Natur. Die Frage, welche Übersetzung geleistet wird, wenn Kulturen, deren basalste Grundlagen, nämlich die Tierhaltung und -nutzung, keine Übereinstim- mung haben, weil Tiere fehlen oder bekannte Tiere anders genutzt werden, aufeinander treffen, soll daher hier im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Die eleganteste Brücke, um von Alexander von Humboldt zu den Cookschen Expeditionen zu gelangen, lässt sich mit den Worten Ulrike Zeuchs schlagen, die feststellte, „dass Humboldt wissenschaftstheoretisches Kind seiner Zeit, der Philosophie und Literatur des Abendlandes verpflichtet ist“.4 Genau um diese Zeit, die Zeit der Spätaufklärung, soll es gehen.

3  Bachmann-Medick 2007, 239. 4  Zeuch 2008, 317.

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II Der Hund: Der treue Begleiter als Schlachtvieh

Der Hund sticht aus zwei Gründen aus der Schar der domestizierten Tiere heraus – zunächst wegen seines kulturgeschichtlichen Alters. Er ist mit Abstand das älteste Haustier der Menschheit. Bereits vor der Neolithischen Revolution wurde er domestiziert. Grund, Anlass und Vorgehensweise sind unbekannt, dass es aber etwas mit dem ähnlichen Jagdverhalten von Mensch und Hund zu tun haben kann, gilt als wahrscheinlich.5 Der zweite Grund für das Herausstechen des Hundes basiert auf dem ersten. Die Tatsache dieser in grauer Vorzeit liegenden Domestizierung sorgte nämlich dafür, dass der Hund im Gegensatz zu jedem anderen Haustier den Menschen bei dessen Besiedlung des Erdballs überall hin begleitet hat. Der Hund ist daher in Europa, Afrika und Asien genauso bekannt wie in Amerika und in Austra- lien. Dass der dort lebende Dingo eine verwilderte Form einer von den ersten Menschen mitgebrachten Art ist, gilt als allgemein bekannt.6 In dieser langen Zeit, die weitaus länger als 10.000 Jahre vergangen ist, haben sich unterschiedlichste Umgangsformen mit dem Hund entwickelt, die aller- dings am einfachsten auf einen Hauptunterschied heruntergebrochen werden können: die Frage nach dem Hund als Nahrungsquelle. In Europa wurden Hunde nur temporär in Notzeiten gegessen, zumindest gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass es zu einem Zeitpunkt eine tatsächlich etablierte kulina- rische Betrachtung des Hundes gab. Nur sein Fell wurde als Kleidung benutzt.7 Der Hund wurde dem Menschen ähnlich sogar in soziale Schichtungen einge- teilt, von denen die edelste der Jagdhund, die niedrigste der Hund war, der für alle möglichen Aufgaben herangezogen werden konnte.8 Ganz anders stellt sich die Situation bei den Tahitianern dar, deren Umgang mit Hunden auf der ersten Reise Cooks von Joseph Banks mit deutlichen Worten beschrieben wurde:

This morn early Oborea and Co [people of Tahiti] came to the tents bringing a large quantity of provisions as a present, among the rest a very fat dog. We had lately learnt that these animals were eat by the Indians and esteemed

5  Vgl. für eine Kulturgeschichte von den Anfängen bis in Spätmittelalter: Schnickmann 2011. 6  Vgl. Savolainen u. a. 2004. 7  Vgl. Spahn 1983, 66. 8  Vgl. Cajus 1576, 2.

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more delicate food than Pork, now therefore was our oportunity of trying the experiment. He was immediately given over to Tupia [one of the Tahi- tians] who finding that it was a food that we were not acustomd to under- took to stand butcher and cook both. He killd him by stopping his breath, holding his hands fast over his mouth and nose, an operation which took up above a quarter of an hour; he then proceeded to dress him much in the same manner as we would do a pig, singing him over the fire which was lighted to roast him and scraping him clean with a shell. He then opend him with the same instrument and taking out his entrails pluck &c. sent them to the sea where they were most carefully washd, and then put into Cocoa nut shells with what blood he had found in him. The stones were now laid and the dog well coverd with leaves laid upon them. In about two hours he was dressd and in another quarter of an hour compleatly eat. A most excellent dish he made for us who were not much prejudicd against any species of food; I cannot however promise that an European dog would eat as well, as these scarce in their lives touch animal food, Cocoa nut kernel, Bread fruit, yams &c, being what their masters can best afford to give them and what indeed from custom I suppose they preferr to any kind of food […|.9

Banks schildert hier, wie den Gästen ein Hund serviert wurde, wie dieser geschlachtet und ausgenommen wurde und – das ist im Fokus der Interkul- turalität besonders wichtig – wie die Europäer diesen Hund aßen. Mindestens zwei Möglichkeiten gibt es zur Interpretation dieser Passage. Die erste gilt der Rezeption aufseiten der europäischen Leser. Denn Banks war sich bewusst, dass seine Aufzeichnungen publiziert werden würden. Ein Moment des Schocks für das Publikum war demnach wohl eingeplant und wird durch die Zuspitzung „a most excellent dish“ noch meisterhaft in Szene gesetzt. Die zweite Möglichkeit ist die der kulturellen Übersetzung. Getrieben durch wissenschaftliche Neugier und den Reiz des Exotischen biss Banks beherzt zu und schaffte so eine jahrtausendealte europäische Tradition temporär beiseite. Wenn man bedenkt, dass Banks selber zwei Jagdhunde mit auf diese Reise genommen hatte, war seine Aktion besonders bemerkenswert. Gleich- zeitig wechselt Banks in seinem Eintrag gar nicht gänzlich auf die fremde Seite, sondern bemerkt kurz, er glaube kaum, dass europäischer Hund ähnlich schmecken würde – ein Hinweis darauf, dass er die Barriere gar nicht durch- brach, die zwischen den Kulturen bestand, sondern sie lediglich übersprang. Er wollte keinesfalls dazu auffordern, in Europa Hunde zu essen. Sein Sinn ging

9  Banks (Zugriff am 23.03.2014).

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dahin, dem europäischen Publikum eine tahitianische Tradition zu erklären, indem er selbst zeitweise in diese eintrat. Der an der zweiten Reise Cooks beteiligte Johann Reinhold Forster (1729 -1798) hingegen schloss sich Banks Meinung in Bezug auf das Essen von europäischen Hunden keinesfalls an. So schreibt er in seinem Journal vom 10. Juni 1773:

We had taken from the Cape a black Dog with us; it had been killed two days ago & the Gentlemen in the Gunroom had feasted upon it the day before; we had this day at dinner a Leg roasted with Garlick, & I found it very well tasted & very much like mutton. It is really a pity, that in Europe there are such terrible prejudices among mankind, as to think cats, dogs, horse & other Animals (we are mot used to eat by custom) to be unclean & an Object of abomination. I do not doubt, but education, custom & the reminder of Judaism have much contributed to prejudices against this food. Many poor Man cannot keep a Cow, a Sheep, Goat or Pig, but there is hardly a Cottage without a Dog & a Cat: their numerous brood is commonly drowned, because we do not know what to do with: but were it general to eat these domestic Animals who afford both a wholesome & palatable food, many poor a poor Man could now & then feast upon flesh, which he but too often must obtain from, because it is not in his power to procure it for his family by his earnings. Providence seems to have this & many other Animal destined for a food to mankind, because we see they have so many young ones at a time, & they would absolutly become a nuisance was it not for the cruel custom to drown the poor creatures when they scarce born. We complain therefore often too unjustly against the scarcity of food, when there are many suicidanea, which prejudice caused us to neglect & detest. Many a Lady & Gentleman fond their Lap-Dogs & favorite Cats will be displeased with this doctrine, but true Philosophy & common sense seems to be on my Side & self interest & prejudice on theirs […].10 Die Lösung des Problems der Hungerkrisen in Europa war beiden Forsters ein großes Anliegen. Während der Sohn Georg dafür vor allem auf die Brotfrucht (vgl. AA VI, 61-92) setzte, scheint sich sein Vater für die Ernährung mit Fleisch interessiert zu haben. So löblich die Überlegungen auch sein mögen, so ist sein Gedankenexperiment, das ganz im Sinne der kulturellen Übersetzung durchgeführt wird, aus der ökonomischen Pers- pektive zum Scheitern verurteilt.

10  J. R. Forster 1982, 303f. Für diesen Hinweis sei Anne Mariss herzlich gedankt.

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Die Grundvoraussetzung für Forsters Annahme liegt in der Überle- gung, dass Katzen und Hunde in Europa im Überfluss vorhanden sind („there is hardly a Cottage without a Dog & a Cat“), so dass der Verzehr dieser Tiere den Hunger gerade in den wenig begüterten Schichten stillen könnte. Dieser Überfluss hat aber unter anderem damit zu tun, dass die meisten dieser Tiere nicht als sonderlich wertvoll angesehen werden. Das Phänomen der Straßenhunde und -katzen, das das früh- neuzeitliche Europa durchaus kannte, ist eine direkte Reaktion auf die Wertlosigkeit, die diesen Tieren zugesprochen wurde. Wären sie auf einmal als Nahrung nützlich, dann bekämen die Straßentiere einen neuen, höheren Wert zugesprochen, was ihr Vorhandensein bei der ärmeren Bevölkerung minimieren würde. Über längere Zeit wäre damit unweigerlich eine generelle Wertsteigerung der Tiere vorhanden, was im Endeffekt Johann Reinhold Forsters Überlegungen die Grundlage entziehen würde. Bedenkt man diese grundlegende ökonomische Betrachtungsweise, wäre zwar der Versuch Forsters, die Europäer zum Essen von Hundefleisch zu bewegen, durchaus möglich, würde aber langfristig seinen Zweck verfehlen. Aus der Perspektive der kulturellen Übersetzung sind Forsters Überlegungen zudem fraglich. Zwar übernimmt er die ‚Performanz‘ eines fremden Brauchs, nicht aber die potenziellen Bedingungen desselben. Hunde sind, folgt man dem oben zitierten Joseph Banks, eben kein Essen für arme Leute, und somit eine billige Nahrungsquelle, sondern haben als Speise einen geson- derten, höherwertigen Zweck, den Forster in seinen Überlegungen vollkommen ausklammert.

II Omais Pferd oder: Die tahitianische Kavallerie

Das zweite Tier führt zur dritten Reise Cooks, bei der dieser nicht die Existenz eines südlichen Kontinents – wie in seinen beiden Reisen davor – beweisen, sondern einen Weg durch die so genannte Nordwestpassage entdecken sollte. Daneben gab es noch ein weiteres Ziel: Die Rückkehr des zu den Gesellschaftsinseln. An Cooks zweiter Reise war ein weiteres Schiff neben seiner Resolution beteiligt gewesen. Cooks Kontakt

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zur Adventure unter dem Kommando von aber brach ab und dieser segelte auf sich allein gestellt durch den Pazifik, wobei er auch schneller wieder im Heimathafen ankam.11 Neben allerlei botanischen Kuriositäten brachte Furneaux einen Einwohner der östlich von Australien gelegenen Gesellschaftsinseln mit nach England. Dieser Omai genannte Tahitianer wurde rasch zur Sensation in London. Seinen fast dreijährigen Aufenthalt nutzte Omai vor allem, um sich die Sitten und Gebräuche der Engländer anzueignen. Dabei war wohl nicht der Überfluss des Landes selber treibende Kraft, sondern die überragende Kriegskultur Europas. Der älteste Teil dieser Kriegskultur war bis in das 20. Jahrhundert hinein das Pferd. Niemand anders als der alttestamentarische Prophet Hiob fasst dies besser zusammen, wenn er schreibt:

Gibst Du dem Pferd die Stärke, legst Du ihm die Mähne an? Machst Du es springend wie die Aribä (eine Heuschreckenart), sein prächtiges Schnauben ist schrecklich. Es scharrt in der tiefen Ebene und es freut sich seiner Kraft, es zieht aus, den Rüstungen entgegen. Es verlacht die Furcht, erschreckt nicht und wendet sich nicht wegen des Schwerts. Über ihm klirren sie, der Köcher, der blitzende Speer und der Wurfspieß. Mit Ungestüm und Zorn streift es die Erde und ist nicht unsicher, wenn die Trompete laut ertönt. So oft die Trompete ruft, sagt es: Siehe da! Aus der Ferne wittert es die Schlacht, die donnernden Stimmen der Feldherren und das Kriegsgeschrei […].12 Dass Omai sich intensiv mit diesem Tier in Europa befasst hat, etwa indem er reiten lernte, ist hinreichend belegt.13 Da Polynesien ein politi- sches System mit Intrigen, Machtspielen und kriegerischen Auseinander- setzungen war, war der dortigen Oberschicht durchaus zuzutrauen, ihre Stellung durch die Hilfe der militärisch weiterentwickelten Europäer zu verbessern, wieder herzustellen oder neu zu etablieren. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. Zum einen wandte sich Omai auf der Rückreise mit einer direkten Bitte an Cook, einen Maori-Häuptling zu töten. Damit zeigt Omai recht deutlich seine Intention, die Waffentechnik der Europäer für seine Zwecke zu nutzen. Zum anderen lässt sich auch anhand der Gast- geschenke, die Omai zu Teil wurden, ein gewisser Fokus in diese Richtung

11  Vgl. Reynolds (1773-1835) nach Sir Joshua Reynolds (1723-1792) 2009, 153f. 12  Hiob, 39, 19, übers. von H. S. 13  Vgl. Connaughton 2005, 146.

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nicht negieren. Dabei handelte es sich um ein Gewehr, Schießpulver, Patronen, eine Rüstung und auch ein Pferd.14 Daher gilt es, die Entwicklungsgeschichte der Pferde zu betrachten. Die Familie der „equidae“ hatte sich vor 55 Mio. Jahren entwickelt und von Amerika aus über Asien und Europa bis nach Afrika hin verbreitet. Einzig Australien und die Inseln Ozeaniens, deren geographische Lage der Wanderbewegung der Pferdeartigen eine natürliche Grenze bot, kannten diese Tiere nicht. Eine Domestizierung fand erst vor über 6.000 Jahren in der europäisch-asiatischen Grenzregion statt.15 Überall dort, wo eine Domestizierung gelang, was ausschließlich in Asien und Europa der Fall war, erreichte das Pferd den Status eines Kriegsinstru- ments. Omai wurde sich dessen bewusst und erschien als glänzender Ritter in seiner Heimat. Der hier zu beobachtende Übersetzungsprozess auf Seiten Omais zielte darauf ab, europäische Tradition in Form des Pferdes in Tahiti zu etablieren. Dieses Vorhaben aber scheiterte. Wie kam es dazu? Omais Überlegungen scheinen aus der heutigen Sicht nur kurzfristig Erfolg bringen zu können. Zwar lohnte es sich möglicherweise, durchaus ein Pferd für die politischen Auseinandersetzungen auf seiner Seite zu haben, nämlich dann, wenn die Gegner beim Anblick des Pferdes in einem ersten Moment des Schreckens irritiert wären, doch spätestens nach wenigen Tagen oder Wochen hätte sich dieser taktische Vorteil verflüchtigt. Ferner mag das Pferd zwar eine Kriegswaffe sein, eines macht jedoch noch längst keine Kavallerie. Auch sein eigenes Schicksal blendete Omai aus. Er war der einzige Reiter Ozeaniens. Was sollte aus dem Pferd werden, wenn er nicht mehr reiten konnte? Und schließlich unterschätzte er die Ignoranz der Tahitianer. Diese interessierten sich wenig für die fremden Mitbringsel, nur die ihnen bekannten roten Federn waren ihnen wirklich wichtig.16 Die europäischen Wertgegenstände jedoch fielen kaum ins Gewicht, waren eben nicht Teil der Kultur Tahitis und hinter- ließen durch ihre bloße Existenz keinen bleibenden Eindruck.

14  Vgl. http://www.captcook-ne.co.uk/ccne/themes/omai.htm (Zugriff am 07.04 2012). 15  Vgl. Oeser 2007, 44-49. 16  Vgl. Connaughton 2005, 216.

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IV Blighs Fehler – Schweine auf Tahiti

Neben dem Pferd bekam Omai noch weitere Tiere mit. Nicht alle davon waren ausschließlich für ihn gedacht. Die britischen Expediteure hatten im Sinn, den Südseevölkern die Zivilisation zu bringen. Dazu gehörten auch milchgebende Tiere. Die Tiere wurden abgeladen und den Tahitianern zur Verfügung gestellt. Allein: Diese wussten mit ihnen nichts anzufangen, hielten sie jedoch als Geschenke in Ehren. Was aus diesen Tieren wurde, ist, im Gegensatz zu Omais Pferd, recht gut belegt. So fragte , als er mit seinem eigenen Schiff 1788 unterwegs war, einen der Oberen Tahitis,

was aus dem Hornvieh und den Schafen geworden sey, die ihm Kapitain Cook gegeben hatte. Fünf Jahre, sagte er, nach Kapitain Cook‘s Abreise […] vereinigten sich die Einwohner der Insel Eimeo mit denen in dem Taheitischen Bezirk Attahuru, und machten eine Landung auf Oparre. Nach einigen Widerstande, wobei viele Menschen um das Leben kamen, flohen Teinah und seine Leute in das Gebirge, und gaben ihre ganze Habe den Ueberwindern Preis, die fast alles vernichteten, was sie nicht hinweg- führen konnten. Sie schlachteten und aßen einige Stücke Vieh, nahmen aber die größere Anzahl mit nach Eimeo. Die Kühe hatten schon acht Kälber, und die Mutterschafe acht Lämmer geworfen. Die Enten, wozu er die Gänse rechnete, hatten sich sehr vermehrt; allein die Truthühner und Pfauen, was auch die Ursache seyn mochte, hatten gar nicht gebrütet. Teinah schien sehr erfreut, daß mich die Vernichtung so vieler nützli- cher Thiere schmerzte; allein ich entdeckte bald, daß der Grund seiner Zufriedenheit keineswegs in der Hoffnung lag, daß ich ihm den Verlust ersetzen, sondern darin, daß ich gegen den Feind der ihn darum gebracht hatte, Rache ausüben würde: denn gegen den Verlust der Thiere schien er so gleichgültig und gefühllos, daß ich wirklich sehr böse auf ihn war […].17

Dieses Beispiel zeigt recht gut, was mit unbekannten Tieren geschah. Zwar wurden sie in Ruhe gelassen, doch mit ihnen anzufangen wusste man nichts. Dass dieser Umstand tatsächlich mit der Fremdheit dieser Tiere zu tun hat und nicht etwa mit bloßer Ehrfurcht vor den Tieren der Europäer, zeigt ein ganz anderes Beispiel. Bligh fällt nämlich während seines Aufent- halts auf Tahiti auch auf,

17  Bligh 1793, 77f.

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daß die Europäische Race von Schweinen die O=Taheitische zu verdrängen scheint. Ursprünglich fand man auf diesen Inseln nur Schweine, wie die Chinesischen, von kurzleibiger Statur mit sehr dickem Halse; allein da unsere Europäischen Schweine so viel größer sind, so haben die Insulaner ihnen den Vorzug gegeben und die Zucht derselben stark getrieben […].18 Auch hinsichtlich dieser Aussage gilt es zunächst einmal, drei Dinge festzu- halten: Zum einen scheint es auf Tahiti schon vor der Ankunft der Europäer Schweine gegeben zu haben, zweitens sind diese dem Aussehen nach mit chinesischen Schweinen verwandt, und drittens werden diese Schweine von den neu eingeführten europäischen Schweinen verdrängt. Aus diesen Fest- stellungen ergeben sich zwei zu beantwortende Fragen. Die erste Frage ergibt sich aus den ersten beiden Feststellungen und lautet: Kamen die Schweine Tahitis aus China? Die zweite Frage aber muss lauten: Verdrängte das euro- päische Schwein das auf Tahiti beheimatete? Zur ersten Frage: Zunächst sollte die natürliche Verbreitung der Schweine angesehen werden. Es besteht die Möglichkeit, dass das Schwein in prähistorischer Zeit via Landbrücken die Inseln erreichte. Diese Vermutung ist aber auszuschließen, denn Land- brücken, die Schweine etwa auf natürlichem Weg nach Japan brachten, existierten zwischen Asien bzw. Australien und Polynesien nicht.19 Daher drängt sich die Vermutung auf, dass Schwein und Mensch zusammen die Inseln Polynesiens besiedelten. Folglich ist die Besiedlung der Inseln vom Festland aus, von China über Australien ausgehend, recht wahrscheinlich.20 Auch wenn der genaue Zeitraum der ersten Besiedlung der polynesischen Inseln bis heute einen Streitpunkt darstellt, so lässt sich doch mit einiger Sicherheit sagen, dass sie in einer Zeit stattfand, die 3200 bis 2000 Jahre zurückliegt.21 Was sich dadurch jedoch nicht automatisch ausschließt, ist die Verbreitung des Schweins nach erfolgreicher Domestizierung in der Region Ozeaniens. Genetische Untersuchungen weisen darauf hin, dass die heute in Polynesien lebenden Schweine und die in Südostasien lebenden Schweine so oft zwischen den Regionen hin- und hergereicht wurden, dass zwar ein eindeutiges Abstammungsverhältnis kaum auszumachen ist, aber ein

18  Ebd., 75. 19  Dies lässt sich durch die Entstehung der Inseln durch Vulkane ausschließen, vgl. Scenadore 2011. 20  Vgl. Kirch 2002, 67f. 21  Vgl. Howe 2008, 70f.

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Verwandtschaftsverhältnis besteht, das tatsächlich bis ins vierte vorchrist- liche Jahrtausend zurückreicht.22 Damit ist eine Tradition des Züchtens in Asien bzw. Ozeanien belegt, die zu Zeiten Forsters und Cooks bereits 5500 Jahre andauerte. In Anbetracht der Tatsache, dass die Tahitianer, wie oben erwähnt, den europäischen Mitbringseln Omais kaum einen Wert zumaßen, und der Tatsache jahrtausendealter Zuchterfolge scheint die Aussage William Blighs, dass europäische Schwein verdränge das tahitianische, vermessen. Dennoch gilt es nun der zweiten Frage auf den Grund zu gehen: Warum vermutet Bligh, dass eine Verdrängung des asiatischen Schweins durch das aus Europa stammende stattfinden würde? Da Bligh sich der Tradition der Schweinehaltung auf Tahiti nicht bewußt ist, argumentiert er rein wirt- schaftlich, was durchaus einleuchtet. Das europäische Schwein im Vergleich zum asiatischen ist größer und besitzt damit auch mehr Fleisch23, das als Nahrung benutzt werden kann, zumal Banks auch davon sprach, dass das tahitianische Schwein nicht besonders schmecke.24 Man kann sich also gut vorstellen, dass die Tahitianer damit begannen, sich nur noch auf das euro- päische Schwein zu konzentrieren und das ihnen vertraute langsam ausstarb, weil man keinen Wert mehr auf es legte. Eine solche Situation wäre eine einseitige kulturelle Übernahme des Schweins, da das durch die Europäer eingeführte das einheimische verdrängt hätte. Dieser Darlegung jedoch widerspricht die Darstellung Georg Forsters, der in einzelnen Episoden den Umgang der Tahitianer mit ihren Schweinen beschreibt:

Nachmittags giengen die Captains abermals mit uns zum Könige. Wir fanden ihn noch auf eben dem Plaze, wo wir ihn beym Abschiede verlassen hatten, und er bat uns bey diesem Besuch von neuen, daß wir wenigs- tens noch ein paar Tage länger bleiben mögten. Man gab ihm aber eben die Antwort als zuvor, und sagte gerade heraus, daß wir blos deswegen abreisen würden, weil er uns nicht mit lebendigem Vieh versehen wollte. Hierauf ließ er sogleich zwey Schweine herbey bringen und schenkte jedem Captain eins […]. (AA II, 259)

Diese Episode zeigt auf, dass die Tahitianer sich ungerne von ihren Schweinen trennen wollten. Einzig das soziale Prestige, das mit dem

22  Vgl. ebd., 4835f. 23  Phillips u. a. 1944, 366. 24  Vgl. Banks (Zugriff am 23.03.2014).

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Besuch der Europäer einhergeht und mit den äußerst instabilen politi- schen Verhältnissen Tahitis zu tun haben mag, ist ausreichend, um sich von diesen Tieren zu trennen. Dass der Wert des Tieres bzw. seines Fleisches für die Tahitianer über den bloßen agrarwirtschaftlichen Nutzen hinaus- geht, zeigt das folgende Beispiel Forsters:

Dieses Vieh gehört zwar zu den würklichen Reichthümern von Tahiti, doch darf man sie deshalb nicht für einen Hauptartickel des Unterhalts halten; denn in dem Betracht, könnte diese ganze Thierart ausgerottet werden, ohne daß die Nation im Ganzen dabey verlöre, weil sie nemlich den Großen des Landes allein und ausschließlich zugehören […]. (Ebd., 263)

Damit ist der besondere Status dieser Tiere belegt, der noch durch die verschiedenen Tauschgeschäfte untermauert wird. Im Folgenden erwähnt Forster, dass die Tahitianer Beile gegen Schweine tauschen und dabei darauf achten, größere Beile für größere Schweine, kleinere für kleinere zu bekommen. Schweinebesitz ist auf Tahiti demnach Attribut höherer tahi- tianischer Gesellschaftsschichten und kann nur durch andere Prestigeob- jekte eingetauscht werden, etwa die bloße Anwesenheit der Fremden oder den Besitz eines Beils, dessen Mehrzweck eben nicht nur im Holzbehauen, sondern auch im Knochenspalten liegt und somit im Kampf mit den Nach- barinseln oder rivalisierenden Gruppen einen Vorteil bringt. Die Vorstel- lung, dass dieses Schwein als Prestigeobjekt, dessen Symbolik sich über Jahr- hunderte entwickelt hat, durch ein anderes Schwein verdrängt werden soll, scheint abwegig. Entspräche Blighs Aussage dennoch den Tatsachen, wäre die hier stattfindende kulturelle Übersetzung eine einseitige, mithin gar keine, denn sie würde lediglich von einer Kultur zu einer anderen stattfinden – ein Umstand, der im Sinne Blighs und seiner Zeitgenossen wäre, hätte man doch mit dem Schwein ein europäisches Kulturgut nach Tahiti gebracht und die Menschen dort somit in die ‚richtige‘ zivilisatorische Richtung geleitet. Damit könnte die Beweisführung abgeschlossen sein und zum Fazit über- geleitet werden. Doch gibt es noch einen Haken. Eine im Jahre 1999 durch- geführte Studie konnte mit Hilfe einer genetischen Analyse einen Beweis erbringen, der für die Genetiker wenig, für die hier behandelte Fragestel- lung jedoch sehr spannend ist. In ihrer Untersuchung, die den Ursprung des domestizierten Schweins genetisch herausfinden sollte, bezogen die schwedischen Agrarwissenschaftler um Elisabetta Giuffra nämlich auch

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ein einzelnes Schwein der in deutlicher Nähe zu den Gesellschaftsin- seln bzw. Tahitis liegenden Cookinseln mit ein. Dabei fiel auf, dass dieses Schwein in gleicher Weise von europäischen wie chinesischen Schweinen abstammte.25 Was heißt dies nun für die hier behandelte Fragestellung? Der genetische Beleg zeigt, dass keinesfalls eine Verdrängung stattgefunden hat, wie Bligh sie versteht. Vielmehr bedeutet es, dass es zu Kreuzungen zwischen den Tieren kam. Eine solche passiert aber nur, wenn beide Tierarten miteinander im selben Gehege bzw. in derselben Rotte gehalten werden. Somit wäre das tahitianische Schwein ein Paradebeispiel für eine kulturelle Übersetzung „zwischen den Kulturen“.26

V Zusammenfassung

Tiere prägen die Kultur des Menschen. Das Vorhandensein oder Fehlen von Tieren führt zu ganz anderen Bedeutungen im Umgang mit ihnen. Darüber hinaus prägen Umweltbedingungen den Umgang der Menschen mit den Tieren. Treffen verschiedene Kulturen mit ihren Tieren aufeinander, ist es oftmals nötig, Kompromisse zu finden. Das daraus entstandene Arrange- ment kann auf bestimmte Zeit gut gehen, wie es bei Joseph Banks der Fall war, der keinerlei Probleme hatte, Hund zu essen, obwohl er bekennender Hundenarr war. Dieses Arrangement kann aber auch vollkommen aus dem Rahmen laufen, wie es Omai mit seinem Pferd passierte. Und es kann zu einer dauerhaften Verbindung von Kulturen kommen, wie es am Beispiel des Schweins auf Tahiti bzw. den Cookinseln sichtbar wurde. Das Besondere am Untersuchungsgegenstand Tier ist dabei, dass die Möglichkeit besteht, auf naturwissenschaftliche Ergebnisse zurückzugreifen, die es erlauben, Theorien nicht nur argumentativ zu untermauern, sondern sie empirisch zu belegen. Das bedeutet nicht, dass man auf die philologische Arbeit verzichteten kann, es öffnet aber einen Weg, die beiden wissenschaftlichen Kulturen – ganz im Sinne von Georg Forster – miteinander zu verbinden.

25  Vgl. Guiffra u. a. 2000, 1790f. 26  Bachmann-Medick 2007, 239.

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Das Fremd-Bild in Georg Forsters Reise um die Welt . Bildsprache und Sprachbilder

I Vorbemerkungen

Aus der Auseinandersetzung der Menschen mit fremden Kulturen entstehen unterschiedliche Bilder, mitunter kuriose, abwertende oder auch glorifizierende. Die Beschäftigung mit der Fremdheit ist ein brisantes und aktuelles Thema: Erhellendes literarisches Beispiel dafür ist Georg Forsters­ Reise um die Welt (1777-80), die im Zentrum der vorliegenden Analyse steht.1 Ziel dieses Beitrags ist es, das Thema des Fremden oder der Fremdheit aus einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive zu erforschen und dabei die Fremdbilder in Forsters Werk zu analysieren. Unter ‚kulturwissenschaftlich‘ wird eine Analyseperspektive verstanden, die die Kultur als Kommunikationsraum begreift: Kultur bezeichnet die Fülle der Ereignisse und Manifestationen, der Regeln, der Gesten und der Werke menschlicher Aktivität, die nicht als reine Tatsachen anzusehen sind, sondern als ‚Kulturtatsachen‘, als Lebensformen.2 Es geht also um eine spezifische Art, die Dinge zu sehen und sehen zu lassen, was sich in der Beziehung zwischen Individuum und sozialer Welt zeigt. Diese Betrach- tung zeigt zugleich die Grenzen der Entwicklung, der Zivilisierung, der Modernisierung auf. Es handelt sich bei Forster nicht nur um eine Deskription der von Menschen gemachten Welt, der Formen ihrer Produktion und Repro- duktion im Kontext fassbarer Sitten und Gebräuche, der symbolischen Ordnung auf den verschiedenen bewohnten Teilen der Erde. Es geht auch um eine dynamische Schilderung, die eine Selbstbeschreibung erfordert, in deren Rahmen die fremden Konventionen, Leitvorstellungen und

1  Mori 2011, 11-18, 104-109, 120f., 175f. May 2011. 2  Konersman 2005, 7-15 u. 85-137.

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Grundsätze des Zusammenlebens erfasst und reproduziert werden. Die Welt der fremden Völker, ihre Bräuche und Sitten, ihre Gegenstände, die Forster in seinem Werk beschreibt, dienen insofern der Ermittlung konkreter Gattungseigenschaften des Menschen und der Welt, die bis ins Einzelne wahrgenommen und beschrieben werden. Durch die Visualität seiner Sprache und deren Bilder setzt er sich zum Ziel, seine Erfahrung mitteilbar zu machen. Dadurch ergibt sich ein Erlebnis des Nicht-Iden- tischen3 vom Standpunkt sowohl des beobachtenden (die Europäer mit den Augen Forsters) wie auch des beobachteten Menschen (die fremden Völker). So liefert Forsters Auseinandersetzung mit den Völkern der Südsee im narrativen Kontext ein interessantes Beispiel für das Nachdenken über die menschliche Vielfalt, das geeignet scheint, die vorgeschlagene Thematik aus einem transkulturellen wie auch kulturvergleichend ausgerichteten Gesichtspunkt zu betrachten. Seine bildhafte Beschreibung dieser fremden Kulturen, somit des Anderen bzw. des Fremden, wie auch seine Sprach- bilder bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Ihre systematische Analyse soll zeigen, wie Forster es mittels einer metaphori- schen, bildhaften Sprache schafft, von dem Anderen bzw. dem Fremden zu reden. Das geschieht noch aus einer eurozentrischen Sichtweise, die jedoch einen Freiraum für weiterführende Überlegungen eröffnet.

II Der Andere/der Fremde in der Reise um die Welt

Das Thema der Andersheit, des Fremdseins spielt in Forsters Denken eine zentrale Rolle und nimmt einen wesentlichen Platz in der kulturwissen- schaftlichen Diskussion der Zeit ein. Forsters Reise um die Welt kann als eine Art Physiognomie des Fremden oder Anderen bezeichnet werden. Von der kritischen Hinterfragung der europäischen Perspektive ausgehend will Forster einen umfassenderen Blick auf eine Welt im Wandel vermitteln­.

3  Lepenies 1973, 50-71. Dazu heißt es im Weiteren (71): „[…] daß Forster den Vorgang der Fremderfahrung nach dem Muster des Identitätsbildungsprozesses begreift: wir werden nicht wir selbst, wenn wir nichts weiter sein wollen als wir sind, vielmehr bedarf es zur Ausbildung unseres Selbst der Erfahrung eines Anderen, indem wir diesen Anderen als Selbst und gleichzeitig als unser Selbst begreifen.“

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Er versucht, Fragen nach Strukturen und Modellen zu beantworten, die Einschnitte und Kontinuitäten, Ähnlichkeiten und Unterschiede abstecken­. Die fremden Kulturen aus der Südsee werden im Wechselspiel zwischen Kulturellem und Natürlichem aufgesucht und beschrieben, um die aus Europa stammende ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zu begründen und zu legitimieren. Diese fremden Kulturen sind nicht nur auf Grund ihrer Exotik faszinierend, sondern sie bilden auch einen zentralen Aspekt der Welterfahrung und der Kritik an der eigenen Gesellschaft. Die Wahr- nehmung des Fremden vollzieht sich dabei als eine hermeneutische und subjekttheoretische Entwicklung, die einen neu entstehenden wissen- schaftlichen Wahrheitsanspruch mit sich bringt. Sie erfolgt im Horizont der Selbstwahrnehmung des Beobachters, denn Forster vermeidet bewusst eine reine Beschreibung der erfahrenen Wirklichkeit, da sie eine reflexive Verarbeitung des Geschehens ausschließt. Vielmehr ist es seine Absicht, wie er in der Vorrede aufzeigt, die neue Welt aus vielerlei Perspektiven zu untersuchen:

Hieraus ergiebt sich von selbst, daß unsre Vorfälle und Gegenstände sehr oft verschieden gewesen seyn müssen, und daß folglich auch unsre­ Beobachtungen oft nicht das mindeste mit einander gemein haben. Vor allen Dingen aber ist zu bemerken, daß man einerley Dinge oft aus verschiedenen­ Gesichtspunkten ansiehet, und daß diese Vorfälle oft ganz verschiedne Ideen hervorbringen. (AA II, 10f.)

Somit bietet er einen Blick vom Allgemeinen her, der zugleich auf das Einzelne verschoben wird, die Natur in die Narration mit einbezieht und schließlich auch eine Anthropomorphisierung des Betrachteten erlaubt. Seine Reise versteht er als eine philosophische4, die Natur und Kultur in einem einzigen Zusammenhang zu erklären vermag. Beide bilden eine organische Einheit. Forster erzählt also seine Wahrnehmungen, verwendet­ darüber hinaus philosophische Argumentationsfiguren und korrigiert eigene und fremde Vorurteile:

4  Garber 2006, 13) „Forster hatte seine Weltreisebeschreibung als „philosophische Geschichte der Reise“ konzipiert, die die „Geschichte des Menschen„ die „Naturkunde überhaupt„ „nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen darstellen sollte“.

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Forster denkt nicht die Bedingungen möglicher Erfahrung […] sondern er folgt den Empiristen, die Wirklichkeitserkenntnis an tatsächliche Erfahrung binden. Er stimmt mit Kant überein, wenn er eine Reihung von Impressionen durch den Gebrauch des Verstandes über das Postulat ihrer Einheit gestellt wissen will - er sucht dennoch nach Ordnungsnormen des potentiellen unendlichen Erfahrungsstoffs, also nach Anschauungsformen und Kategorien, die er zurückbinden will an das Erfahrungsobjekt, das identisch sein soll mit dem Autor des Textes.5

Forsters Werk liegt eine anthropologische Erkenntnisabsicht zugrunde. Ihn interessiert es, den Menschen ‚an sich‘ durch die Einzelbeobachtung in den Fokus zu rücken und zugleich die Empfindung des Betrachters im Kontext von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ zu thematisieren. Folgt man Forster, tritt die beschriebene Reise damit den Beweis der menschlichen Entwick- lung an: Durch die Beobachtung und Beschreibung eines besonderen­ Erdteils zielt sie darauf ab, sinnlich greifbare Gattungseigenschaften des Menschen zu ermitteln. Die räumlich-kulturelle Ausdifferenzierung des Menschengeschlechts und seine Natur will er beschreiben, um die Organisation des Menschen in der Umgebung seiner jeweils empirischen Verhältnisse abzuschätzen. Den erlebten und beschriebenen Raum seiner Reise ‚liest‘ er somit als Erfahrungsraum, der in seiner geographischen bzw. kulturellen Eigentümlichkeit dabei hilft, die allgemeine mensch- liche Natur zu bestimmen. Zugleich geht es Forster um die Frage nach der Identität und Kontinuität der Subjekte im Kontext der Entdeckung­ von fremden Welten, deren Faszination neue Ausblicke auf die alte Ordnung Europas erlaubt. Der Vergleich mit den neuen Kulturen, denen er begegnet, wird als Teil der Menschheitsgeschichte verstanden und somit zum Bestandteil der Naturgeschichte. Es ist allerdings nicht sein Ziel, das Fortschreiten der Menschheit zu bestimmen, sondern eher die „Nichterkennbarkeit der behaupteten Notwendigkeit“6 im menschlichen Leben spüren zu lassen:

Übrigens ist wohl nichts augenscheinlicher und gewisser, als daß die Zusätze­, die auf diese Reise zum Ganzen der menschlichen Kenntnisse gemacht worden, obschon nicht ganz unbeträchtlich, dennoch von geringem­ Werth sind, sobald wir sie mit dem, was uns noch verborgen

5  Ebd., 9. 6  Hochadel 2000, 82.

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bleibt, in Vergleichung stellen. Unzählig sind die unbekannten Gegen- stände, welche­ wir, aller unsrer Einschränkung ohngeachtet, noch immer erreichen können. Jahrhunderte hindurch werden sich noch neue, unbe- schränkte Aussichten eröfnen, wobey wir unsere Geisteskräfte in ihrer eigenthümlichen Größe anzuwenden, und dem herrlichsten Glanze zu offenbaren Gelegenheit finden werden. (AA III, 452)

Forsters Analyse des Fremden bzw. des Anderen beginnt mit einem Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit, die sowohl wissenschaft- lich als auch ästhetisch zu begreifen ist. Der Blick wird aber vom Allge- meinen auf das Einzelne verschoben: Es geht nicht nur um Landschafts-, Pflanzen- und Tierbeschreibungen, sondern auch um den Versuch, einen adäquaten Raum zu finden, um einen Kontakt, einen Dialog zwischen den Kulturen zu stiften. Neben detaillierten Landschafts- und Tiercharakte- risierungen schildert Forster die Beziehungen zwischen Menschen und Natur, Landschaft und Geschichte.7 Kurzum: Er setzt sich einerseits zum Ziel, das Gesehene und das Beobachtete präzise zu beschreiben.8 Schon deshalb misst Forster ­dem Gesehenen und Gesichteten viel Gewicht bei, denn die Gestaltung des Verhältnisses von Mensch und Natur soll für die Verbesse­rung menschlicher Beziehungen fruchtbar sein. Sein Werk besteht anderer­seits aus der Betrachtung und Bewertung der Beobachtungen und Erfahrungen auf der Basis philosophischer Kenntnis. Mit philosophischer Kenntnis ist in diesem Zusammenhang Forsters Versuch gemeint, seine Erfahrungen und Ideen in Bezug auf bestimmte philosophische Theorien seiner Zeit wissenschaftlich zu umreissen und zu etablieren.9 Mit der epischen und teilweise lyrischen Erzählform des Reiseberichts werden seine Reflexionen über die Beschreibung einer neuen fremden Wirklichkeit gestellt. Seine Reise, die nicht nur koloniale Aufgaben erfüllt, sondern auch als Voraussetzung für erweiterte Handelsbeziehungen und für die Suche nach neuen Rohstoffen für den weiteren wirtschaftlichen Fortschritt anzusehen ist, ermöglicht es ihm aber auch, empirische Studien mitzuteilen und somit einen umfassenden Blick über die gesellschaftlichen und politischen Umstände zu gewinnen.10 Auf dieser empirischen Ebene

7  Vgl. dazu Koebner u. Pickerodt 1987, 135. 8  Vgl. AA II, 580 sowie May 2011, 305ff. 9  Vgl. Schwarz 1998; AA II, 12-13. 10  S. Vorrede zur Reise um die Welt.

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des Reiseberichts meldet sich Forster als kritischer Beobachter zu Wort, der auch Zivilisationskritik üben kann:

Eine solche Einkleidung ihres Anliegens mußte uns nemlich von dem Natio­nalcharakter dieses Volks ungemein vorteilhafte Begriffe machen, denn gute Gesinnungen von andern zu erwarten, wenn man sie selbst nicht hat, ist eine Verfeinerung der Sitten, die blos ganz civilisirten Völkern eigen ist. (AA II, 272f.)11

Die Begegnung mit anderen Kulturen und das abstrakte Verfahren der Zivilisationskritik werden also nicht inszeniert, sondern sie dienen in ihrer empirischen Ausrichtung dazu, das vorhandene Wissen zu prüfen und zu bestätigen. Im Bewusstsein für die Relativität des Beobachtungsstandpunkts versucht Forster, den gesellschaftlichen und kulturellen Beschleunigungs- prozess einer Geschichte in Bewegung zu beschreiben, die nur relativistisch und perspektivistisch zu erfassen ist. Geschichte existiere – so Forster – nur, wenn sie dargestellt werde, deswegen trägt seine Reise durch ein neues Verhältnis von Subjekt und Objekt zu einer geschichtlichen Narration bei. Die Ordnung, die aus dieser Erzählung folgt, findet sich nicht in der einfachen Wahrnehmung der Völker und der Gegenstände, sondern nur unter Berücksichtigung der Standortgebundenheit des Betrachters. In dieser Perzeption stehen das Eigene und das Fremde in konstanter Spannung. Der bereiste und beschriebene Raum wird somit zum kritischen Spiegel der heimatlichen­ Verhältnisse und zugleich zum interkulturellen Denk-, Refle- xions- und Erkenntnisraum. Forsters Reise verorte sich, wie Yomb May richtig darlegt12, am Anfang des Prozesses moderner Kulturbegegnung. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, wie Fremdheit zu bestimmen sei: Kann sie nur negativ vom eigenen Standpunkt aus determiniert werden oder stellt sie eine relationale Kategorie dar? Das Fremde ist eine relatio- nale Kategorie in dem Sinne, dass es um wechselseitige Bezugnahmen geht: Ohne etwas Bekanntes kann es kein Fremdes geben, denn nur durch die

11  Vgl. auch dazu AA II, 207 sowie AA III, 44f. u. 62f. 12  Vgl. Wuthenow 1970, 26: „Zu keiner Zeit werden diese [Völker] anders betrachtet als zur Entwicklung, Bildung und Veredelung fähig, niemals so, als wären sie etwa minder berufen, einer höheren Zivilisation und dann der Freiheit teilhaftig zu werden. So wird der Erkenntnisvorgang der Weltreise nicht aktuellen politischen und ökonomischen Zwecken untergeordnet, sondern erfüllt sich in seinen reinsten Resultaten, diese sind wissenschaftlich, philosophisch und humanitär“.

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Differenz und die Distinktion wird etwas in Abgrenzung zum Bekannten als anders und somit als fremd erkannt.13 Bei Forster erscheint das Fremde meines Erachtens als ein Umweg, um das Eigene, das Selbst genauer zu erkennen und zu bestimmen. Es handelt sich nicht nur um ein kulturelles Phänomen, sondern auch um ein individuelles. Fremdheit verweist somit auf kulturelle als auch zivilisatorische Unterschiede, um die Mannigfaltig- keit innerhalb der Menschheitsgattung zu ergründen. In dieser Hinsicht relativiert Forster stets die europäische Überlegenheit anderen Völkern gegenüber: Er deckt Vorurteile und falsche Überzeugungen auf, die nur in Bezug auf traditionelle, eurozentrische Auffassungen Bedeutung haben. Seine Reise wird „ein Schritt zur Wahrheit“ (AA II, 67). Im Mittelpunkt steht immer der Mensch: Überall sucht Forster nach den Grundlagen des Menschseins, er versucht, die Züge menschlicher Existenz zu erfassen, und ferner zu verstehen, was der Mensch im Sinne des Natur- rechts ist. Das Hauptaugenmerk seiner Narration liegt auf dem sozialen Verhalten der Menschen und der Menschengruppen auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten der Bildung von Gesellschaftsnormen. Bezüglich seiner Erfahrungen entwickelt Forster eigene Vorstellungen von einer Stufenfolge in der Entfaltung gesellschaftlicher Formen. Durch die Beob- achtung der Verhaltensweisen, der Lebensformen und der Kunstübungen der einzigen Völkergruppen liefert er eine klarsichtige Sozial- und Gesell- schaftskritik, die mit politischen und gesellschaftsmoralischen Fragen verbunden ist. Immer wieder bleiben die Begriffe von ‚Individualität‘ und ‚Empfindung‘ zentral. Die Programmatik seiner Reisebeschreibung kreist um drei Hauptthemen­: 1) die Erläuterung des menschlichen Verstandes: Forster durchsucht das Verhältnis zwischen Natur und menschlicher Vernunft und versteht die Menschheitsgeschichte als Teil der Naturgeschichte; 2) die realistische Darstellung des Empirischen: Forster verwendet sehr wenige Inszenierungs- strategien und fordert dazu auf, seine Empfindungen, Wahrnehmungen und Erlebnisse so treu wie möglich wieder zu geben; 3) die Bilder unbekannter Welten: Der Moment des konkreten Kontaktes mit dem Fremden lässt fragen, wer in diesem Zusammenhang fremd ist, was seine Fremdheit bedeutet, was Fremdsein überhaupt ausmacht. Das Fremde ist nicht Teil der persönlichen Geschichte und als solches wird es zur Folie der Kritik des Beobachters.

13  Vgl. dazu: Krusche 1987, 99-112.

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Es wird bereits in der Vorrede klar, dass es sich nicht nur um eine bloße Beschreibung der fremden Länder und ihrer Einwohner handelt, sondern dass es um eine sehr detaillierte Beschreibung geht, die sich nicht nur der damaligen Sammelgier der Naturwissenschaften auf der Suche nach empi- rischen Daten verdankt. Diese Schilderung erhebt hingegen den Anspruch auf eine kulturwissenschaftliche und philosophische Geschichte der Menschheit in ihren empirischen kontingenten Formen. Die Frage nach der Beziehung zwischen dem Fremden und dem Eigenen auf kultureller Ebene bezieht auch folgende, leitende Fragestellungen mit ein: 1) Was versteht Forster unter dem Fremdem (und somit dem Eigenem)? Als erste Antwort auf diese Frage führe ich an dieser Stelle ein Zitat von Stefan Majetschak ein, das Forsters Fremdbild sehr gut beschreibt:

Der Fremde ist entsprechend derjenige, der uns durch seine lebendige Gegenwart in unserem Lebensumfeld beständig mit seiner radikalen Unverständlichkeit konfrontiert. Durch seine Andersheit, die sich unseren Begriffen entzieht, führt er uns unsere eigene horizontale Begrenztheit, gewissermaßen die Besonderheit unseres eigenen kulturellen Standpunkts, vor Augen.14

2) Wo kann man dem Fremden seiner Auffassung nach begegnen? Diesem Fremden begegnet Forster in dem bereisten Raum, der als zusammen- hängender und zugleich heterogener Raum an der Peripherie Europas zu begreifen ist. Letzterer gibt Anlass zur Anlehnung und Abgrenzung, zur Konfrontation und zum Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen und vermittelt somit eine wahrgenommene und kategorisierte fremde Welt. 3) Wie lässt sich diese Begegnung gestalten? Diese Begegnung ist erst durch Dialog und Kulturtransfer möglich. Forster ist sich des sprachlichen Kommunikationsproblems bewusst15, glaubt aber, dass ein Dialog reali- sierbar ist16:

14  Majetschak1993, 16. 15  Die sprachliche Barriere zwischen den Europäern und den Einwohnern dieser Inseln wird bei Forster, wenn man sich so ausdrücken kann, existentiell erlebt: Die Sprache ist in diesem Zusammenhang nur eines der Merkmale des Fremden, in ihr zeigt sich seine Andersartigkeit so klar, dass sie zur Metapher für das gegenseitige Verstehen wird. 16  Vgl. dazu AA II, 13.

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Da sie [die fremden Völker, I. F] merkten, daß wir Lust hätten ihre Sprache zu lernen, weil wir uns nach den Benennungen der gewöhnlichsten Gegen- stände erkundigten, oder sie aus den Wörterbüchern voriger Reisenden hersagten, so gaben sie sich viel Mühe uns zu unterrichten, und freuten sich, wenn wir die rechte Aussprache eines Wortes treffen konnten. (AA II, 220)

Es geht sozusagen um eine Kartographie der Fremdwahrnehmung. Damit ist gemeint, dass das Fremd-Bild weder ein logisches noch ein bestän- diges Konstrukt ist, sondern sich je nach der momentanen Lage ändert. Das Hauptmotiv von Forsters Reisebericht ist es, die Andersartigkeit zu beschreiben, in der das Eigene ausgeklammert wird. Kartographie deutet­ in diesem Zusammenhang auf den Versuch hin, diese Andersartigkeit innerhalb des eigenen Identitätsbildungsprozesses zu verorten und zu verstehen. Der Fremde erweist sich als eine Herausforderung: Körperlich nah, ist er aber geistig sehr weit entfernt, bringt eine Andersartigkeit mit sich, die nur auf Distanz wahrgenommen wird. Das geschieht nach Forster immer durch die Relativität des eigenen Beobachtungspunkts (Metapher des farbigen Glases):

Ein Reisender, der nach meinem Begriff alle Erwartungen erfüllen wollte­, müßte Rechtschaffenheit genug haben, einzelne Gegenstände richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber auch Scharfsinn genug, dieselben­ zu verbinden, allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen, um dadurch­ sich und seinen Lesern den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen.

Mit solchen Begriffen gieng ich zur letzten Reise um die Welt zu Schiffe­, und sammelte […] den Stoff zu gegenwärtigem Werke. Ich habe mich immer­ bemühet, die Ideen zu verbinden, welche durch verschiedne­ Vorfälle ­ veranlaßt wurden. Meine Absicht dabey war, die Natur des Menschen so viel möglich in mehreres Licht zu setzen und den Geist auf den Stand- punkt zu erheben, aus welchem er einer ausgebreitetern Aussicht genießt, und die Wege der Vorsehung zu bewundern im Stande ist. Nun kommt es freylich darauf an, wie fern mir dieser Versuch gelungen sey oder nicht; doch habe ich das Zutrauen, man werde meine gute Absicht nicht verkennen­. Zuweilen­ folgte ich dem Herzen und ließ meine Empfindungen­ reden; denn da ich von menschlichen Schwachheiten nicht frey bin, so mußten meine Leser doch wissen, wie das Glas gefärbt ist, durch welches

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ich gesehen­ habe. […] Alle Völker der Erde haben gleiche Ansprüche auf meinen guten Willen. So zu denken war ich immer gewohnt. Zugleich war ich mir bewußt, daß ich verschiedne Rechte mit jedem­ einzelnen Menschen gemein habe; und also sind meine Bemerkungen­ mit bestän- diger Rücksicht aufs allgemeine Beste gemacht worden, und ein Lob und mein Tadel sind unabhängig von National-Vorurtheilen, wie auch Namen haben mögen. (AA II, 13f.)

Dieses lange Zitat aus der Vorrede ist meines Erachtens für das Verständnis dieses Werks grundlegend, da es die wichtigsten Elemente bzw. Begriffe enthält, auf die sich Forsters Nachdenken stützt: 1) die Rechtschaffenheit, die Objekte richtig und wahrheitstreu zu beobachten und zu beschreiben: Forster ist der Meinung, dass eine wahrheitstreue Erzählung seiner Reise dem europäischen Leser zu einem besseren Verständnis verhilft und ihn am Erwerb wissenschaftlicher Kenntnisse beteiligt (vgl. AA II, 8-10); 2) der Scharfsinn, um einem interessierten Publikum die neuen Entdeckungen mitzuteilen:

Zween Ungenannte haben schon etwas von unsrer Reise geschrieben; allein­ in diesem erleuchteten Jahrhundert glaubt man keine Mährchen mehr, die nach der romantischen Einbildungskraft unsrer Vorfahren schmecken. Die Begebenheiten unsrer Reise sind so mannigfaltig und wichtig, daß sie keines erdichteten Zusatzes bedürfen. (AA II, 10)

Mit diesen Worten legitimiert Forster seine Schreibart und seinen Stil. Dieser Aspekt ist verbunden mit der Idee, dass alles, was man während dieser Reise gesehen und erfahren hat, zum menschlichen Fortschritt beiträgt, deswegen müsse man diese Ereignisse in eine spannende Narration­ kleiden. In dieser Hinsicht spielt die Farbenmetaphorik eine grundlegende Rolle. 3) Man muss alle möglichen Phänomene und Aspekte des menschlichen­ Lebens in Betracht ziehen: Wie bereits oben erwähnt, ist Forster der Ansicht, dass die Eigentümlichkeit seiner Reisebeschrei- bung darin besteht, alle Dinge zu beschreiben, die er im Laufe dieser Reise gesehen­ hat. Das ist wichtig, nicht nur, um neues Wissen zu gewinnen, sondern auch, um neue Aspekte des Menschengeschlechts in Betracht zu ziehen, die bis jetzt unberücksichtigt geblieben sind:

Diesem letztern Jahr unsrer Reise war das Glück vorbehalten, an neuen Entdeckungen besonders fruchtbar zu seyn […]. Zwar durften wir uns,

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auch in Absicht dieser [die Entdeckungen I.F:], nicht beschweren, denn bey den mehresten Ländern, die wir bisher besucht, hatten unsere Vorgänger uns noch allerhand neues zu sagen übrig gelassen, und an Menschen und Sitten, als worauf der vornehmste Endzweck eines jeden philosophischen Reisenden vorzüglich gerichtet seyn soll, noch immer manches übersehen. Da aber das Neue gemeiniglich am mehresten geschätzt zu werden pflegt; so dürfte denn auch die folgende Geschichte von dem letzteren Theil unsrer Reise, in diesem Betracht […], die angenehmste und unterhaltenste für den Leser seyn. (AA III, 157)

4) Die Anerkennung der Gleichheit aller Völker der Erde ist fundamental­: Als Sohn der Aufklärung ist Forster der Meinung, dass alle Menschen – trotz der oberflächlichen Unterschiede, die von Kultur und Umgebung abhängen – gleich sind und gleiche Rechte haben sollten. 5) Die Rechte, die der Menschheit in jedem Einzelindividuum gemeinsam sind, müssen beschrieben und hervor- gehoben werden; 6) es darf kein nationalistisches Vorurteil in der Beschreibung der Bevölkerungen geben: Forster bemüht sich, die betreffenden Völker ohne Vorurteile und Klischees zu beschreiben­, jedoch ist er von seiner europäischen Herkunft noch stark geprägt. Forsters Überlegungen gehen von der Idee der ständigen menschlichen Vervollkommnung und des Fortschritts der Vernunft aus. Der geistige und der soziale Fortschritt des Menschen wird nicht in Frage gestellt, vielmehr wird die Möglichkeit einer humanen Haltung gesucht, die nicht unbedingt in Europa zu finden ist:

Durch die Betrachtung dieser verschiedenen Völker, müssen jedem Unpar­ theyischen die Vortheile und Wohlthaten, welche Sittlichkeit und Religion­ unser Welttheil verbreitet haben, immer deutlicher und einleuchtender­ werden. Mit dankbarem Herzen wird er jene unbegreifliche Güte erkennen­, welche ihm ohne sein Verdienst einen wesentlichen Vorzug über so viele andre Menschen gegeben, die ihren Trieben und Sinnen blindlings folgen, denen die Tugend nicht einmal dem Namen nach bekannt, und für deren Fähigkeiten der Begrif von einer allgemeinen Harmonie des Welt- gebäudes noch viel zu hoch ist, als daß sie daraus den Schöpfer gehörig erkennen sollten. (AA III, 452) Nach dem Auftrag der britischen Admiralität war es Forsters Aufgabe, Pflanzen, Tieren, Mineralien und Fossilien zu sammeln und sie so treu wie möglich zeichnerisch und sprachlich zu beschreiben. Während der Abfassung seiner Berichte folgt aber der junge Forster dem Plan seines

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Vaters, „the Varieties of Human Species, relative to Colour, Size, Form, Habit, and National Turn of Mind in the Natives of the South-Sea-Isles“17 zu schildern, und er fügt auch Beobachtungen fremder Völker hinzu, denen er begegnet war. Das Fremde in seiner Fremdheit in den Blick zu nehmen, impliziert auch die Frage nach der menschlichen Selbstbestimmung vor dem Hintergrund staatsrechtlicher Ideen. Fremdheit oder Alterität – das Fremde ist immer das Andere – ermöglichen ein Nachdenken über die Individualität und die eigene Identität, die keineswegs an Vorstellungen­ von Homogenität gebunden sind und die Ähnlichkeiten zwischen Identität und Fremdheit hervorheben. Es handelt sich zuerst um das Bild eines neuen, noch unstruk- turierten Raums, in dem Forster nicht nur das Fremde, sondern auch sich selbst aufsucht, herumgeht und dechiffriert­. Dieser Raum ist ohne Bezug auf den europäischen kaum denkbar, beide kollidieren. Daraus entwickelt Forster den Gedanken, Raum, Zeit und Handlung zusammenzudenken. Die Welterfahrung und -kenntnis, die damit einhergehen, sind nicht nur mit einer Kenntnis der räumlichen Umwelt verbunden. Sie hängen auch mit den sich verändernen Maßstäben kultureller Identität zusammen. Wenn Forster von „augenscheinliche[n] Beweise[n]“ (AA II, 219) redet, bezieht er sich nicht nur auf die Natur, sondern auch auf den Zusammenhang zwischen Klima, Landwirtschaft und Gesellschaftsstruktur.

III Sprachbilder und Bildsprache

Forster vermittelt ein lebendiges Bild der fremden Bevölkerungen mit Hilfe von Sprachbildern. Es geht bei ihm nicht um die traditionelle Trennung von Text und Bild, in der dem Bild bloß die Funktion zukommt, den Text klarer zu machen. In seiner Zusammenschau sind Text und Bild mitein- ander verflochten, fast könnte man behaupten, der Text selbst sei ein Bild. Das Bild, das Forster von den Südsee-Bevölkerungen vermittelt, ist sicher- lich von den Stereotypen und dem kollektiven Denken der Zeit über das Fremde beeinflusst18, auch wenn er sich gegen diese Vorurteile ausspricht. Zugleich weist es aber innovative Züge auf. Forsters Bild des Fremden bzw.

17  Forster, Johann Reinhold 1996, 153. 18  Vgl. AA II, 335.

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des Anderen ist durchaus vom Exotischen fasziniert, aber ihn interessiert vornehmlich, auf dem Wege einer vergleichenden Beschreibung dieser Völker­ eine Geschichte der Menschheit zu schildern:

Der Character der Einwohner in der Stadt ist sehr gemischt. Sie sind fleißig­, aber leben dabey gut; sind gesellig und gastfrey, aber lassen sich dies nicht abhalten, durch Vermiethung ihrer Zimmer eine Art von Wucher­ zu treiben […]. Auf dem Lande sind die Leute schlecht und recht und gastfrey. In den entferntesten Gegenden, von daher sie selten zur Stadt kommen, sollen sie sehr unwissend seyn; welches sich leicht begreifen läßt, weil sie keine Gesellschaft als Hottentotten haben, und oft etliche Tagereisen­ weit auseinander wohnen. (AA II, 85f.)

In Auseinandersetzung mit Kants Rassenbegriff richtet sich seine Analyse­ danach19, die fremden Länder hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Insti­ tutionen zu untersuchen, statt nur neue Kenntnisse zu gewinnen. Gleichzeitig­ will er Kritik an der europäischen Ordnung üben:

Es ist würklich im Ernste zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitte der civilisiertern Völker diese unschuldigen Leute anstecken können [...]. (AA II, 254) Sei es die Beschreibung der armen Bevölkerung Feuerlands, sei es die der hochzivilisierten Einwohner Tahitis, das bei Forster nicht nur als Paradies empfunden wird, sondern auch als Zeichen des gesellschaftlichen Verfalls­: In beiden Fällen versucht er, ein allgemeines Bild der Menschheit in ihren empirischen Manifestationen (die verschiedenen Völker auf der Erde mit ihren physischen sowie kulturellen Unterschieden) wiederzugeben. Forster­ stimmt der gängigen Idee der Zeit – zusammen mit Herder und den Gebrüdern Humboldt – von einer ursprünglichen Einheit des Menschen- geschlechts zu20, demzufolge sind die unterschiedlichen Bevölkerungen mit

19  Vgl. Uhlig 2010. 20  Ein interessantes Beispiel dafür ist das Nachdenken Forsters über die Wahrnehmung der Musik unter allen Menschen und die Vielfalt der Empfindungen, wodurch diese Wahrnehmung stattfindet: „Es ist sonderbar, daß, da der Geschmack an Musik unter allen Völker der Erde so allgemein verbreitet ist, dennoch die Begriffe von Harmonie und Wohlklang bey verschiedenen Nationen so verschieden sein können“ (AA II, 246).

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ihren Bräuchen, Sitten und dem Naturverhältnis Beweise einer besonderen Stufe der menschlichen Entwicklung:

Es war mir bey dieser Gelegenheit besonders auffallend, daß auch diese Nation, gleich wie fast alle Völker der Erden, als hätten sie es abgeredet, die weiße Farbe oder grüne Zweige für Zeichen des Friedens ansieht, und daß sie, mit einem oder dem andern versehen, den Fremden getrost entgegen­ gehen. Eine so durchgängige Übereinstimmung muß gleichsam noch vor der allgemeinen Zerstreuung des menschlichen Geschlechts getroffen worden seyn, wenigstens siehet es einer Verabredung sehr ähnlich, denn an und für sich haben weder die weiße Farbe, noch grüne Zweige, eine selbstständige unmittelbare Beziehung auf den Begrif von Freundschaft. (AA II, 55) Die Beschreibung der existierenden Völker ist nicht nur physisch (Gesichts- züge, Haarfarbe, Proportionen des Körpers, Fußgröße usw.), sondern auch kulturell (Sprache, Gewohnheiten wie z. B. die des Tatöwierens) und ästhetisch zugleich angelegt. Die physischen Merkmale, die er so präzise zeichnet­, sind nicht nur wissenschaftlich wichtig, da sie Informationen über die menschliche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit liefern, sondern­ auch, weil sie dem Autor einen Vergleich mit der europäischen Gesellschaft erlauben.21 Das wird auch in der Verwendung der Farben deutlich: Werden alle Farben in allen möglichen Nuancen gebraucht, um die Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt empirisch präzise zu beschreiben, begrenzt Forster die farbliche Palette auf weiß/schwarz und braun, um die Menschen zu beschreiben. Weiß wird für die Europäer verwendet, schwarz/braun in allen Nuancen (d. h. brunett, mahagonibraun ...) für die Bewohner der Südseeinseln: „häßlich und ganz schwarz “ (AA II, 59); „Das gemeine Volk ist schwärzlich von Farbe“ (ebd., 47); „Sie waren alle dunkelbraun oder Olivenfarbicht, hatten schwarzes und lockichtes­ Haar […]“ (ebd., 133); „Übrigens waren sie von ziemlich heller Farbe, die ohngefähr­ zwischen Oliven- und Mahoganybraun das Mittel halten mochte“ (ebd., 186); „von hell castanienbrauner Leibesfarbe“ (ebd., 346). Die Unterscheidung in schwarz und weiß bezieht sich meines Erachtens metaphorisch auch auf den Gegensatz von Licht (weiß) und Dunkel (schwarz-braun) und auf die Licht-Metaphorik der Aufklärung, insbeson- dere wenn es um Bildung geht. Die Leute, die auf dem Land wohnen oder

21  Vgl. ebd., 269ff.

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zum Volk gehören, die oft auch in diesem Weltteil kaum eine Chance auf Bildung haben, werden durch die schwarze Hautfarbe charakterisiert: „ Das gemeine Volk ist schwärzlich von Farbe [...]“ (AA II, 47). Demzufolge kann sie als Symbol einer Auseinandersetzung zwischen Zivilisation und Natur angesehen werden. Jedoch haften den Farben, die Forster verwendet, keine rassistischen Konnotationen an, sie dienen ihm vielmehr dazu, die biologi- sche Diversität und folglich die kulturelle Vielfalt zu beschreiben. Im Kapitel Aufenthalt im Haven O-Aitepieha auf der kleinen Halb-Insel O-Tahiti – Anker in Matavi-Bay sind es die Einwohner dieser Insel zum Beispiel, die die Hautfarbe der Europäer neugierig anschauen und nicht umgekehrt: „Man bewunderte unsre Farbe, drückte uns die Hände, konnte nicht begreifen, warum keine Puncturen darauf waren und daß wir keine lange Nägel hätten.“ (Ebd., 245) Forster – im Einklang mit Buffons Theorie – ist der Ansicht, dass die menschliche physische Vielfalt wie auch die pflanzliche und tierische von der wechselseitigen Interaktion mit Klima und Landschaft stark abhängt.22 Es ist die starke Hitze dieser Erdstriche, die die Hautfarbe der Einwohner­ determiniert, jedoch sieht er in dieser Farbe keine Diskriminierung in Bezug auf die Europäer. Seine Kritik richtet sich vielmehr an die gesellschaftlichen Normen, die in diesen Gebieten herrschen und meistens auf die europäische Kolonisation (z. B. der holländischen oder portugiesischen) zurückgehen:

Die Einwohner der Städte sind noch häßlicher als die Landsleute, und dabey­ oft blaß und mager. Die Männer gehen französisch und mehren­ theils schwarz gekleidet; aber gemeiniglich passen die Kleider nicht, und scheinen wenigstens seit funfzig Jahren schon aus der Mode gewesen zu seyn. Die Damen sind feiner und angenehm gebildet; aber die Eifersucht, welche den Männern hier gleichsam angeboren ist, hält sie stets einge- schlossen und beraubt sie der Glückseligkeit, welchen den ärmern Land- weibern unbenommen bleibt. (AA II, 49)

In seiner vergleichenden Analyse der außereuropäischen Kulturen dienen die verwendeten Farben, die die jeweilige Klassenzugehörigkeit markieren, dazu, den gesellschaftlichen Status anzuzeigen.23 Im prüfenden Vergleich gesellschaftlicher Institutionen, Sitten und Bräuche werden die Europäer mit ihrer weißen Farbe immer von den Fremden getrennt betrachtet. Kaum

22  Vgl. Schwarz 1998. 23  Vgl. AA II, 268.

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oder nur angedeutet ist die Rede von möglichen Beziehungen zwischen Europäern und Indianern, deswegen wird von den Kindern, die in diesen­ gemischten Verhältnissen geboren sind und demzufolge eine eigenartige­ Hautfarbe haben sollten, geschwiegen. Aufgrund des beschriebenen metho- dischen Ansatzes vollzieht Forster eine Analyse der europäischen und außereuropäischen Kulturen:

Die Thorheiten der Menschen sind sich also so ähnlich, daß man die längst vergeßnen Moden der ehemaligen Bewohner von Europa, noch heut zu Tage unter den neuern Antipoden wieder findet! Und unsre abgeschmackten­ Petitmäters, deren ganzer Ehrgeiz darinn besteht, eine neue Mode zu erfinden­, können diese unbedeutende Ehre nicht einmal für sich allein behalten, sondern müssen ihren Ruhm mit den uncivilisirten Einwohnern einer Insel in der Südsee theilen! (AA II, 367)

Von dem damals in Europa verbreiteten Südsee-Mythos beeinflusst, nach dem die noch unentdeckten Regionen eine Art Paradies waren, in dem man die menschliche Gleichheit vorfinde, muss Forster enttäuscht feststellen:

Wir hatten uns bis dahin mit der angenehmen Hofnung geschmeichelt, daß wir doch endlich einen kleinen Winkel der Erde ausfündig gemacht, wo eine ganze Nation einen Grad von Civilisation zu erreichen und dabey­ doch eine gewisse frugale Gleichheit unter sich zu erhalten gewußt habe, dergestalt, daß alle Stände mehr oder minder, gleiche Kost, gleiche­ Vergnügungen, gleiche Arbeit und Ruhe miteinander gemein hätten. Aber wie verschwand diese schöne Einbildung beym Anblick dieses trägen Wollüstlings­ [ein sehr fetter Mensch, den Forster im Laufe eines Spazierganges in seinem Haus getroffen hat, I.F.], der sein Leben in der üppigsten Unthätigkeit ohne allen Nutzen für die menschliche Gesellschaft, eben so schlecht hinbrachte, als jene priviligirten Schmarotzer in gesitteten Ländern­ [...]. (Ebd., 249) Die gesellschaftliche Kritik wird deutlicher, wenn Forster moralische Urteile, zum Beispiel über das sexuelle Verhalten der Südseeeinwohner, vertritt, wobei er zu Vergleichen mit Europa greift. Gefühle wie der Rache- trieb, die er bei den Einwohnern Feuerlands erfährt, werden negativ konno- tiert und mit Rücksicht auf das Gefühl der allgemeinen Menschenliebe und der Sinnlichkeit des Lebens als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens und der Moral moralisch bewertet24:

24  Vgl. Helvétius 1772.

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Doch es ist umsonst, für die willkürlichen Grillen des Menschen vernünftige­ Gründe aufsuchen zu wollen, vornemlich in Betracht des andern­ Geschlechts, wegen dessen man zu allen Zeiten und in allen Ländern­ so sehr verschiedner Meynung gewesen ist! (AA II, 363f.) Die physische Beschreibung, die Kleidung, die körperliche Haltung sind Merkmale der gesellschaftlichen Organisation dieser Völker, seien es die Einwohner der Insel Madeira, die Feuerlands, der Dusky-Bay oder Tahitis. Forsters westliche Neugier zielt auf das Verständnis ihrer Sitten, aber nicht, um sie zu klassifizieren und die Priorität der Europäer in Bezug auf andere Bevölkerungen zu bestätigen. Sein primäres Interesse ist die stufen­artige Entwicklung des Menschengeschlechts, die sich in den verschiedenen­ exis- tierenden Kulturen offenbart:

Es gehört mit zu den körperlichen Vorzügen der halb civilisirten Völker, daß ihre Sinne durchaus schärfer sind als die unsrigen, die durch tausend Umstände und Verhältnisse der sogennanten verfeinerten Lebensart, stumpf gemacht und verdorben werden. (Ebd., 391) Nach Forster sind alle existierenden Völker gleichrangig. Die Aufteilung in hochzivilisierte Völker (die Einwohner Tahitis) und primitive (die Bewohner Feuerlands) dient bei ihm nicht dazu, ein Volk gegen das andere auszuspielen, sondern soll angesichts der konkreten Ausdifferenzierung die ursprüngliche menschliche Einheit herausstellen. Forster analysiert die Völker aus einer vergleichenden Perspektive, unterscheidet also nicht zwischen europäisch und außereuropäisch, sondern bezieht sich auch auf die Vielfalt der verschie- denen Fremdvölker: So werden die Tahitier, die hoch gebildet sind, mit den armen Einwohnern Feuerlands in Beziehung gebracht, allerdings nicht, um aus europäischer Sicht eine Art Bevölkerungshierarchie zu etablieren, sondern vielmehr um die Besonderheiten eines Volkes und somit auch die Ähnlichkeiten und die Zusammenhänge mit den anderen hervorzuheben:

Die Gebräuche und Sprache dieser Insulaner scheinen überhaupt eine große­ Ähnlichkeit mit den Tahitischen zu haben […] Beyde Nationen müssen doch im Grunde von einem gemeinschaftlichen Stamm-Volke herkommen; auch sieht man, selbst in denen Stücken wo sie am merk- lichsten von einander abweichen, daß der Unterschied bloß von der Verschiedenheit des Bodens und des Clima beyder Inseln veranlaßt worden ist. (AA II, 376)

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Das Individuelle, die soziale und staatliche Formation wie auch den geistigen­ und technischen Habitus festzustellen, bleibt nach Forster wichtig­, um die verschiedenen Völker innerhalb der Geschichte einzu- stufen. Zugrunde liegt das Prinzip der Evidenz, d. h. der Wahrnehmung und der Unterscheidung des Fremden. Es geht um kulturelle Begegnungen­: Die Völker werden in ihrem Verhältnis zur Natur dargestellt, und ihr Benehmen­ sieht Forster als Zeuge einer Zukunft, die nicht von dem aus der Zivilisation resultierenden moralischen Verderben geprägt sein sollte. Hier und da taucht auch der Mythos des edlen Wilden auf, mit klarer Anspielung auf Rousseaus Diskurs von Zivilisation und Kultur: Forster widerlegt aber Rousseaus Idee einer vollständigen Rückkehr zur Natur, da er von der Wichtigkeit der Institutionen überzeugt ist, die das gemeine gesellschaftliche­ Leben ermöglichen:

In der bürgerlichen Gesellschaft sind wir, vermittelst gewisser Gesetze­ und Verordnungen, freywillig darin überein gekommen, daß nur einigen wenigen Personen die Sorge überlassen seyn soll, das Unrecht zu rügen […]: Bey den Wilden hingegen verschafft sich ein jeder selbst Recht, und sucht daher, bey der geringsten Beleidigung oder Unterdrückung, seinen Durst nach Rache zu befriedigen. (AA III, 245f.)25

Bei Forster ermöglicht dieser Mythos, zusammen mit exakten physischen Beschreibungen auch vom Reiz des Exotischen und des Farbigen dieser Gegenden sowie von dem europäischen Wunschbild eines friedlichen und glücklichen, in größter Naturnähe, fernab von aller Zivilisation lebenden Menschen zu reden. Das wird durch die Beschreibungen dieser fremden Männer und Frauen insbesondere klar: Was das Aussehen betrifft, sind die am häufigsten verwendet Adjektive ‚hässlich‘ und ‚schön‘. Auffällig ist also, dass sich Forsters Maßstab für die Bewertung der Schönheit oder Hässlich- keit des Fremden auf die Idee der Harmonie, eines wohlproportionierten Ganzen nach dem Modell der griechischen Antike stützt, wie es damals in Europa Mode war. Im Fall der Frauen wird zum Beispiel die Schönheit mit der Tugend verbunden: Forster war von dem Benehmen einiger Frauen der Südseeinseln schockiert, wie die Rede von den ‚gemeinen‘ Frauen und den Frauen ‚von Stand‘ zeigt. So werden die fremden Frauen, insbesondere was ihr sexuelles Verhalten betrifft, mit den europäischen Matrosen verglichen,

25  Vgl. dazu auch AA III, 383f.

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indem Forster auf die Wassersemantik (Amphibia) zurückgreift. Mit Blick auf die europäischen Tradition werden die freizügigeren Tahitierinnen als Nymphen charakterisiert und mit englischen Prostituierten verglichen. Die Semantik des Wassers dient aber nicht nur der negativen Konnotation dieser Frauen. An den Polynesierinnen etwa macht Forster die Attraktivität­ des Schwimmens fest, wobei das Wasser mit der Fruchtbarkeit und mit dem Ideal einer exotischen, paradiesischen Natur assoziiert wird:

[…] und der Anblick verschiedner solcher Nymphen, davon die eine in dieser, jene in einer andern verführerischen Positur behend um das Schiff herschwammen, so nackt als die Natur sie gebildet hatte, war allerdings mehr denn hinreichend, das bischen Vernunft ganz zu blenden, das ein Matrose zu Beherrschung der Leidenschaften etwa noch übrig haben mag. Eine Kleinigkeit hatte Veranlassung dazu gegeben, daß ihrer so viel neben uns herum schwammen. […] und das bewog eine Menge von Männern und Weibern, uns ihre Fertigkeit im Wasser ebenfalls zu zeigen. […] Manchmal blieben sie lange unter Wasser; was uns aber am bewundrungswürdigsten dünkte, war die außerordentliche Geschwindigkeit, mit welcher sie gegen den Grund hinabschossen, und die sich bey dem klaren Wasser sehr deut- lich bemerken ließ [ …] daß man sie ihrer Behendigkeit im Wasser­ und der Biegsamkeit ihrer Glieder nach, fast für Amphibia halten sollte. (AA II, 226f.)26 In Forsters Nachdenken über diese fremden Völker, die teilweise so fern stehen, teilweise den Europäern so ähnlich erscheinen, mischen sich auch wohldosierte Zweifel: Er findet überall Zeichen für die „Einheit“ des Menschengeschlechts und findet, dass sich Gesellschaften aufgrund äußerer Umstände völlig unterschiedlich entwickeln können (Kulturrelati- vismus). Im Bewusstsein dessen, folgert er, dass „Glückseligkeit […] immer nur ein relativer Begriff“ sei (ebd., 298). Daraus ergibt sich eine Kritik des Eigenen:

Es ist gewissermaßen zu verwundern, daß sie so vergnügt und munter sind, da doch ihre politische Verfassung der Freyheit, jener allgemeinen Quelle der Glückseligkeit, eben nicht recht günstig zu seyn scheinet; wir dürfen indessen dieses Phönomens wegen nicht bis nach der Südsee gehen, da eine benach­barte Nation, die unter dem Druck der größten Sklaverey lebt, gleichwohl eine der lustigsten und witzigsten auf Erden ist. (Ebd., 378) 26  Vgl. auch AA III, 45 u. 55

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Hermeneutisch gestellt wird klar, dass der Andere der als entfremdet erlebten­ Zivilisation gerade nicht fremd zu sein bedarf, sondern nur anderswo und Bestandteil der Menschheit ist. Räumliche Kategorien und Zuschreibungen wie Europa und Fremdwelt stellen in diesem Zusammenhang doch faktische geografische Größe dar, die sich mathematisch berechnen lassen. Es handelt sich aber auch um räumliche Ordnungen bzw. um mentale Karten, die über die räumliche Ordnung hinaus normative Vorstellungen und begriffliche Gegensatzpaare wie ‚Modernität‘ und ‚Rückständigkeit‘, ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘, ‚Kultur‘ und ‚Barbarei‘ konnotieren. Hiermit werden die Sprachbilder als Teil der alltäglichen Wirklichkeitskonstitution im Prozess des othering themati- siert.27

IV Fazit

Vergleicht man Forsters Gedanken mit denjenigen seiner Zeitgenossen­ Johann Gottfried Herder und Alexander von Humboldt, findet man einige Berührungspunkte, die interessant sind, um die Wahrnehmung des Fremden im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert besser­ zu charakterisieren. Herders Gedanken über das Fremde gehen von einer ursprünglichen Einheit des Menschengeschlechts aus: Er hat eine ambi- valente Position, was das Verhältnis zwischen den Nationen betrifft, aber er spricht sich positiv für vielfältige Kulturkontakte aus. Herder ist ein entschiedener­ Verfechter kultureller Selbstbestimmung. Wie Forster plädiert­ er für die Individualität und Unvergleichbarkeit der Kulturen und die kulturelle Autonomie. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte wie auch in den Briefen zur Beförderung der Humanität betont Herder die Wichtigkeit des Kulturtransfers wie auch des Nutzens jedes Austauschs. Diesbezüglich nennt er als negatives Beispiel China, das aufgrund seiner Isolierung auf einer niedrigen kulturellen Stufe geblieben sei. Das Volk ist bei Herder, wie auch bei Forster oder Alexander von Humboldt, keine biologische Einheit, die sich von fremden Einflüssen rein halten muss, sondern eine sprachlich und kulturell geeinte Gemeinschaft, die in der

27  Vgl. Koebner u. Pickerodt 1987, 171-199.

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Wechselwirkung mit anderen Kulturen lebt. Die interkulturellen Verbin- dungen stellen keine Frage der Institutionen dar, auch wenn sie politisch und sozial in den Reiseberichten untersucht werden. Bei Alexander von Humboldt geht es um einen Wahrnehmungsprozess, eine wahrnehmbare Annäherung an eine fremde Wirklichkeit: Er untersucht die spezifische Verbindung zwischen der Prägung durch die eigene und fremde Kultur. Es geht also um eine kulturelle wie auch gleichzeitig politische und wissen­ schaftliche Wahrnehmung des Anderen, die sich auch als ästhetische Erfahrung des Fremden erweist. Fremdheit wird bei diesen Autoren nicht als ursprüngliche­ Eigenschaft von Menschen oder als kultureller Zustand begriffen, sondern als eine Beziehungsqualität, die das Bewusstsein für die eigene Bedingung in der Identitätskonstruktion weckt. Somit wird die Wirklichkeit perspektivistisch und nicht objektiv betrachtet. Das initiiert eine permanente Selbstreflexion, in der es keine Trennungslinie zwischen Identität und Nicht-Identität mehr gibt. ‚Fremdheit‘ und ‚Fremde‘ sind also relationale Begriffe, da der Blick des Beobachtenden – in diesem Fall der Georg Forsters – immer vom situativen raumzeitlichen, womöglich moralischen­ Standpunkt des Individuums abhängig ist.

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Literaturverzeichnis

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Forsters Pariser Skizzen : Fundamente der visuellen Aneignung der Fremde

In der Zentralbibliothek des Muséum national d‘Histoire naturelle zu Paris werden seit mehr als 220 Jahren die wenigen schriftlichen Zeugnisse von Georg Forsters Reise um die Welt verwahrt.1 Forsters Pariser Nachlass überstand drei verheerende Kriege, den terreur der großen und zwei weitere Revolutionen, die beiden Napoleons, die Feuerwalze der Pariser Commune und selbst den Wechsel ministerieller Zuständigkeiten, für den die franzö- sische Bürokratie so berühmt ist. Seit zwei Jahrhunderten sorgt die Grande Nation dafür, dass Forsters Handschriften gut und sicher in den Archiven des Jardin des Plantes ruhen.2 Doch gab es durchaus unterschiedliche Versuche, Georg Forsters Erbe nach Deutschland zu holen: Kurz nach seinem frühen Tod schrieb der Mann an der Seite von Forsters Witwe, Ludwig Ferdinand Huber: „Man hat die Aussicht, daß die Bemühungen der Vossischen Buchhandlung in Berlin um einen Theil seines litterarischen Nachlasses aus dem Schiffbruche, den er bei seinem Leben erlitt … nicht ganz fruchtlos seyn werden.“3 Tatsächlich gelangte schließlich 1797 der größte Teil der Pariser Hinterlassen- schaft Georg Forsters in die Hände seiner Witwe Therese bzw. seines Vaters Johann Reinhold Forster.4 Therese Forster aber vermachte die naturwissen- schaftlichen Aufzeichnungen Georg Forsters der Französischen Republik, so dass diese – wie Ludwig Uhlig meint – über Jahrhunderte der wissenschaftsge- schichtlichen Reflektion entzogen wurden.5 Andererseits lagen Forsters Manu-

1  Georg Forsters handschriftliche Notizen finden sich unter der Signatur Ms 189, Biblio- thèque centrale du Muséum national d‘histoire naturelle (fortan zit. als Ms 189). 2  Das Pariser Naturwissenschaftliche Nationalmuseum und seine Zentralbibliothek befinden sich auf dem Gelände des 1626 angelegten und vom Comte de Buffon in der Regierungszeit Ludwig XVI. bedeutend erweiterten Jardin des Plantes im 5. Pariser Arrondissement. 3  Huber 1794,, 1. 4  Vgl. Uhlig 2004, 344. 5  Vgl. ebd., 344f.

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skripte in Paris eben auch wohlbehütet. Und mit ihnen Bilder von Forsters eigener Hand, die bis heute vergessen sind – visuelle Zeugnisse, die Grundle- gendes über das Selbstverständnis Georg Forsters als naturwissenschaftlicher Zeichner verraten. Dass Georg Forsters Pariser Skizzen erst jetzt ans Licht kommen, hängt sicherlich damit zusammen, dass Forsters Pariser Nachlass tatsächlich nur selten konsultiert wurde – so selten, dass sich die Zentralbiblio- thek des Pariser Museums nie veranlasst sah, eine Leserliste anzulegen. Einige Interessierte lassen sich im 20. und 21. Jahrhundert dennoch ausmachen: Der amerikanische Botaniker Fosberg zum Beispiel, der gemeinsam mit seinem Landsmann Dan Nicolson das Pariser Verzeichnis jener 220 Pflanzen auswer- tete, die Georg Forster auf der zweiten Cookschen Weltumseglung gesammelt und 1778 bei seinem ersten Parisbesuch dem Comte de Buffon überlassen hatte.6 Fosberg und Nicolson zogen für ihre verdienstvolle systematische Erfassung der Forsterschen Botanik vermutlich auch Georg Forsters in Paris verwahrte, naturwissenschaftliche Bordnotizen heran.7 Gelesen – und zum Teil veröffentlicht – wurden dieselben Bordnotizen von Mitarbeitern der Akademie-Ausgabe der Werke Georg Forsters Anfang der 1970er Jahre (vgl. AA IV, 93-107). Eine Übersicht über Forsters Manuskripte in Paris ist seit dem Jahr 2003 für die Ausgabe sämtlicher Schriften Forsters der Berlin-Branden- burgischen Akademie der Wissenschaften angekündigt. Dieser dritte Teil der Schriften zur Naturkunde Georg Forsters steht indes noch immer aus.8

6  Vgl. Ms 189(2); Vgl. weierhin dazu: Nicolson und Fosberg 2004: The Forsters and the botany of the second Cook expedition, 12. 7  Auf der dritten Seite seiner naturwissenschaftlichen Notizen an Bord der Resolution verzeichnete Georg Forster bei seinem Landaufenthalt auf Madeira unter dem Datum des 30. Juli/1. August1772 seine erste botanische Entdeckung: „found the following plants: Aitonia rupestris, […] a new genus […]“. Vgl. Georg Forster, “Observationes historiam naturalem spectantes, quas in navigationes ad terras australes instituere coepit G. F, mense julio, anno 1772”, Ms 189(1). Die von Georg Forster entdeckte Spezies Aitonia rupestris – ein mediterranes Lebermoos – wird in der Systematik von Fosberg u. Nicolson unter dem Synonym Plagiochasma rupestre (J. R. Forst. & G. Forst.) aufgelistet. Vgl. Nicolson u. Fosberg 2004, The Forsters and the botany, 90. 8  Band VI.3 der Schriften zur Naturkunde Georg Forstes ist angekündigt als „Verzeichnis der Manuskripte in der Bibliothek des Naturwissenschaftlichen Nationalmuseums zu Paris“,in: AA VI.2. Im November 2013 konnte die Berlin-Brandenburgische Akademie auf Nachfrage des Autors allerdings keinen Erscheinungstermin für Teil 3 von Forsters Schriften zur Naturkunde mitteilen.

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Eine Schwierigkeit für die Publikation stellt sicherlich der disparate Charakter der in Paris verwahrten Manuskripte dar, die in sieben Partien aufbewahrt werden. Da sind in der ersten Partie die auf Englisch verfassten Beobachtungen Georg Forsters während der zweiten Cookschen Weltumseglung, die mit der Notiz „met with a few petrels“ im Juli 1772 im Golf von Biscaya beginnen und im September 1773 auf Tahiti mit dem Halbsatz „saw the Hiwa again“ enden.9 Die zweite Partie – ebenfalls auf der zweiten Cookschen Weltumseg- lung angefertigt – enthält auf 62 Seiten Beschreibungen von Tieren und Pflanzen der Südsee in lateinischer Sprache – vom antarktischen Sturm- vogel (Procellaria Antarcticus) bis zu einer „Mimosa“ auf der Insel Taha.10 Die dritte, vierte und fünfte Partie der Pariser Handschriften birgt Aufzeich- nungen Forsters, die vor bzw. nach der Weltreise entstanden sind, u. a. Manu- skripte Forsters zur Beschreibung des Erdkörpers in deutscher Sprache sowie geografische Notizen und Exzerpte Forsters aus Werken anderer Naturkundler in englischer, französischer und lateinischer Sprache.11 Eine längere Passage ist etwa dem Sexualverhalten des Opossums gewidmet.12 Die 6. Partie der Forster-Handschriften scheint aus der Vorbereitung der Weltreise mit Cook oder aus der Planungsphase jener Expedition zu stammen, die Russland Georg Forster in Aussicht gestellt hatte13: Sie enthält eine alphabetisch geordnete Auflistung seemännischer Begriffe in deutscher Sprache – von „Absetzen“ und „Auftakeln“ bis „Xebegue“, der spanischen Bezeichnung für einen mittelalterlichen Dreimaster.14

9  Georg Forster, „Observationes historiam naturalem spectantes, quas in navigationes ad terras australes instituere coepit G. F, mense julio, anno 1772“, Ms 189(1). 10  Georg Forster, Ms 189(2). 11  Vgl. Georg Forster, Ms 189(3), Ms 189(4), Ms 189(5). 12  Bei Forster heißt es: „The males pizzle in time of coition differs from most other animals, turning tail to tail, as dog“. In: Ms 189(4). Offenbar zitierte Forster hier aus einer Reisebeschreibung des Briten John Lawson. Vgl. Lawson 1709, A new voyage to Carolina, 126. 13  Forster wurde im Juni 1787 als Leiter einer russischen Pazifik-Expedition nominiert, die u. a. Brasilien, Australien, Neuseeland, die Freundschafts-, Gesellschafts- und Sandwichinseln sowie die Pazifikküste Amerikas, die Kurilen, Japan und China erkunden sollte, die sich dann aber aufgrund des Krimkrieges zerschlug. Vgl. Steiner 1968, „Johann Reinhold und Georg Forsters Beziehungen zu Rußland“, 276-302. 14 Georg Forsters weist diese Fachbegriffe als „Einfache Erläuterungen“ auf, die er dem seemännischen Ratgeber des Briten A. H. Bone entnommen und ins Deutsche übersetzt hat. Vgl. Georg Forster, Ms 189(6).

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Die 7. Partie ist wiederum in Latein verfasst und beinhaltet eine Übersicht über die wichtigsten Mineralien in tabellarischer Form .15 Doch sind es eben nicht nur Texte, die Georg Forster in Paris hinter- lassen hat, sondern – eingebettet in seine Manuskripte – eine ganze Reihe von Zeichnungen, die von Georg Forsters eigener Hand stammen und es gestatten, das Verständnis für Forsters zeichnerische Aneignung der Fremde zu detaillieren und zu vertiefen. Dies trifft in besonderer Weise auf Skizzen zu, die aus Forsters schon erwähnten naturwissenschaftlichen Notizen an Bord von Captain Cooks Schiff stammen – ersten Arbeiten des Zeichners auf seiner Reise um die Welt, Ur-Skizzen von Pflanzen und Tieren, die Georg Forster zum Zwecke der Verbreitung botanischer Kenntnisse später immer wieder kopiert und variiert hat. Eine solche Skizze – die Darstellung eines Nachtschattens (Solanum repandum) – zeichnete Georg Forster im April 1774 auf den Marquesas in sein Bordtagebuch (s. Abb. 1).16 Die Abbildung ist insofern bekannt, als ich 2008 im Londoner Natural History Museum eine großformatige Forster- Zeichnung der gleichen Pflanze für die illustrierte Ausgabe der Reise um die Welt ausgewählt hatte.17 Hier haben wir es also mit der Ur-Skizze des Nachtschattens zu tun – stilistisch auch bemerkenswert, weil sie die bislang einzige bekannte Schraffur-Pflanzenabbildung Georg Forsters ist. Eine andere Skizze mit verschiedenen Ansichten der Früchte der Laxmannia (Laxmannia arborea)18 bildet den visuellen Prototyp für die Forstersche Darstellung botanischer Details (s. Abb. 2) – stilprägend auch für die Characteres generum plantarum, Johann Reinhold und Georg Forsters großes Pflanzenwerk von der zweiten Cookschen Weltumseglung.19 Nicht weniger interessant sind wohl jene Zeichnungen aus dem Fors- terschen Nachlass in Paris, die bislang weder erfasst noch publiziert wurden und insofern neue Forsterania darstellen. Sie zu entdecken lohnt

15  In den Worten Georg Forsters „Tabella regne mineralis“. Vgl. Georg Forster, Ms 189(7). 16  Vgl. Georg Forster, Ms 189(1). 17  Georg Forster 2008, 328. 18  Georg Forster, Ms 189(1). 19  In dieser noch an Bord der Resolution entstandenen ersten Veröffentlichung der Forsters nach der Weltreise findet sich auch eine Zeichnung wieder, die auf der Laxmannia- Skizze aus Georg Forsters Bordnotizen fußt. Vgl. Johann Reinhold u. Georg Forster, Characteres generum plantarum, Tafel 47.

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besonders, weil sie neue und zum Teil überraschende Einblicke in Intention und Arbeitsweise Georg Forsters als Naturforscher und Zeichner geben. Ihrer Entstehungszeit nach lassen sich diese Pariser Skizzen in drei Gruppen gliedern: Da sind zum einen Zeichnungen, die Forster vor der Weltreise angefertigt hat, ferner Bilder, die während der Cookschen Expedition entstanden sind und drittens Skizzen, die Forster nach seiner Rückkehr aus der Südsee zu Papier brachte. Auf den ersten Blick visuell besonders beeindruckend: eine Skizze aus dem Forsterschen Nachlass in Paris, die nicht nur denjenigen, der mit Forsters Zeichnungen in London, Gotha oder Sydney vertraut ist, in Erstaunen versetzt. Es handelt sich um die Abbildung eines Rotgesicht-Klammeraffen (Ateles paniscus)20, den Forster auf seinen Reisen kaum gesehen haben kann, denn diese Primatenart kommt ausschließlich im nordöstlichen Südamerika vor (s. Abb. 3).21 Von den holländischen Kolonisten in Surinam wurde diese Klam- meraffenart landläufig als „Buschteufel“ bezeichnet.22 Bemerkenswert ist dieses Bild auch, weil Georg Forster auf seiner Reise um die Welt ja kaum Säugetiere, sondern fast ausschließlich Vögel und Pflanzen zu Papier brachte.23 Wie also kam Georg Forster zu einem Buschteufel aus Surinam? Den entscheidenden Hinweis liefert der Pariser Nachlass selbst. Dort nämlich findet sich ein neunseitiges Exzerpt aus der Monographiae Vosmaerii, aus der Georg Forster zahlreiche Tierarten auflistete.24 Der Autor dieser Mono- grafie, Arnout Vosmaer (1720-1799), stand bis 1785 der Tiermenagerie des Prinzen Wilhelm von Oranien und Nassau in Vorbuurg/Den Haag vor.25 Vosmaer war ein begeisterter Linné-Verehrer, der die in seinem Zoo neuankommenden Tiere regelmäßig beschrieben und gezeichnet hat. Einen kolorierten Kupferstich des Klammeraffen publizierte er 1768 in Amster- dam.26

20  Die Skizze befindet sich innerhalb der losen Blattsammlung des Konvolutes Ms 189(4). 21  Clutton-Brock 2002, 107f. 22  Vosmaer 1768, 3. 23  Während der zweiten Cookschen Weltumseglung zeichnete Georg Forster insgesamt 33 Säuger, fast alle am Kap der guten Hoffnung. Vgl. Vorpahl 2008a, 626. Nur zwei von Forster gezeichnete Säuger stammen aus dem Pazifik-Raum, nämlich eine neuseelän- dische Fledermaus- und eine Robbenart. Vgl. ebd. 129 u. 162. 24  Vgl. Ms 189(4). 25  Vgl. Vosmaer 1768, 1. 26  Vgl. ebd., 3.

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In London hatten die naturkundlich ambitionierten Forsters sicherlich Gelegenheit, Vosmaers „Buschteufel“ noch vor ihrer Abreise mit Captain Cook zu sehen. Durchaus möglich also, dass sich die Buschteufel-Skizze unter jenen Zeichnungen befand, die der britischen Admiralität kurz vor Cooks Aufbruch 1772 zur Beurteilung der zeichnerischen Fähigkeiten Georg Forsters vorgelegt wurden.27 Auch eine zweite Säuger-Abbildung im Forsterschen Nachlass in Paris stellt eine Skizze Georg Forsters nach einem Original von Arnout Vosmaer dar (s. Abb. 4) – die Zeichnung eines bengalischen Plumploris (Nycticebus bengalensis), den Vosmaer selbst noch „bengalisches Faultier“ nannte.28 Auch dieses Bild kursierte als kolorierter Kupferstich ab 1770 auf dem europäi- schen Buchmarkt, war also verfügbar, als sich Georg Forster 1772 ziemlich kurzfristig auf seine Aufgabe als Naturzeichner der zweiten Cookschen Weltumseglung vorbereiten musste In naturwissenschaftlicher wie künstlerischer Hinsicht lassen sich Georg Forsters Vosmaer-Kopien nicht mit seinen Originalzeichnungen neuent- deckter botanischer oder zooglogischer Spezies vergleichen. Und doch haben diese Skizzen ihren Erkenntniswert – etwa was die Vorbilder Georg Forsters als Naturzeichner betrifft. Der von Forster kopierte Arnout Vosmaer nimmt innerhalb der historischen Entwicklung der Tierabbildung einen außergewöhnlichen Rang ein: Vosmaer gilt als der erste, der nicht tote oder ausgestopfte Tiere abbildete, sondern lebendige Exemplare nach dem Vorbild der Natur. Genau dies aber war der Anspruch, dem Georg Forster als Cooks Naturzeichner auf der Expedition in die Südsee folgte.29 Forsters Pariser Nachlass gibt insofern eine Antwort auf die bislang kaum erörterte Frage, an wem eigentlich der zu Beginn der Weltreise erst 17-jährige Georg sich als Zeichner orientieren konnte. Fest steht, dass die Briten Georg Forster kaum eine Richtung weisen konnten: Der Zeichner der ersten Cookschen Expedition überlebte die Reise nicht und fiel so als stilbil- dendes Vorbild aus30. Sir Joseph Banks aber, der naturwissenschaftliche Kopf

27  Vgl. Vorpahl 2008a, 618. 28  Vosmaer 1770, 6. 29 Vgl. Vorpahl 2008a, 626; ebenso GFS XIII, 288. 30  Der Schotte Sydney Parkinson (1745-1771) war von Sir Joseph Banks auf Cooks erster Weltumseglung als Naturzeichner engagiert und fertigte nahezu 1000 Abbildungen von Pflanzen und Tieren. Er starb 26-jährig an Bord der Endeavour auf der Rückreise von Batavia. Vgl. Joppien u. Smith 1985, 75; ebenso Smith 1992, 173f.

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der ersten Cookschen Weltumseglung, konkurrierte mit den beiden Forsters um die Begleitung Cooks auf der zweiten Weltreise und ging deshalb mit der zeichnerischen Ausbeute der ersten Cookschen Expedition äußerst rest- riktiv um. Tatsächlich bekam Georg Forster keine Möglichkeit, sich an den Südsee-Bildern seines Vorgängers zu schulen.31 Umso wichtiger dürfte es für ihn gewesen sein, sich an Vosmaer, dem modernsten unter den Tierzeich- nern seiner Zeit, zu orientieren. In Bezug auf die Fauna war Georg Forster so beim Auslaufen der Resolution im Juli 1772 auf dem neuesten Stand, um sich die Fremde zeichnerisch anzueignen.Wie ernst es ihm tatsächlich war – wie Vosmaer – nach der lebenden Natur zu zeichnen, lässt sich jetzt anhand des Forsterschen Nachlasses in Paris belegen. Die Fragmente aus Georg Forsters Bordnotizen enthalten eine Reihe von Skizzen, die seine Versuche belegen, Sturmvögel im Flug zu zeichnen32 (s. Abb. 5). Bewegungsstudien, die weitaus schwieriger gewesen sind, als die Zeichnung eines ruhenden bengalischen Faultiers. Immerhin liegt die Fluggeschwindigkeit von Sturmvögeln zwischen zehn und 25 Metern pro Sekunde.33 Aus den Skizzen in seinem Bordtagebuch entstanden im Laufe der Reise um die Welt Georg Forsters bekannteste Vogelbilder. Für die damalige Tierdarstellung überaus modern, gleiten die Sturmvögel auf Forsters Zeichnungen in der Regel vor den Wolken am Himmel dahin.34 Und doch gibt es eine leichte Diskrepanz zur natürlichen Haltung eines Vogels im Flug, die wir im Zeitalter der Digitalfotografie durchaus wahr- nehmen. Eine Abweichung, die Forster wohl in Kauf nehmen musste, wollte er unter Bewegungsbedingungen jene spezifischen Merkmale aufs Bild bringen, die eine neu entdeckte Vogelart von den bisher bekannten abgrenzen. Im Laufe der Weltreise hat Georg Forster jedoch einen Kompro-

31  Hoare zufolge versagte nicht nur Sir Joseph Banks Johann Reinhold und Georg Forster die Möglichkeit, Pflanzen- und Tierbilder von der ersten Cookschen Expedition in Augenschein zu nehmen, auch Banks naturkundlicher Berater Solander verhielt sich den Forsters gegenüber kalt und abweisend. Vgl. Hoare 1976, 74. 32  Vgl. Ms 189(2). 33  Vgl. Alerstam, Gudmundsson u. Larsson 1993, 55-67. 34  Dies gilt für Forsters bekannteste Sturmvogel-Abbildung, den „Antarktischen oder Grauweißen Sturmvogel“ (Procellaria antarctica), der auf der Schlaufe der illustrierten Ausgabe seiner Reisechronik vor antarktischen Eisbergen abgebildet ist. In: Forster 2008, Cover. Dies gilt ebenfalls für den von Forster vor Wolken abgebildeten Schnee- sturmvogel (Procellaria nivea) und Forsters „Blauen Sturmvogel“ (Procellaria similis), in: ebd., 111 u. 96.

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miss gefunden, wie auf weiteren Skizzen im Pariser Archiv deutlich wird. Im Sturzflug nämlich (oder entgegengesetzt: im steilen Anflug himmel- wärts) lässt sich beides – Natürlichkeit der Bewegung und Artenspezifik – kombiniert zu Papier bringen. Man geht wohl nicht fehl, im Sturzflug die Forstersche Idealformel für die wissenschaftliche Abbildung von Vögeln nach lebender Natur zu erkennen – eine quasi-fotografische Artendefinition, wie sie Forster in seiner Abbildung des „Großen Entensturmvogels“ (Procellaria vittata) zu äußerster Perfektion brachte.35 In der von Forster ausgeführten endgültigen Bildfassung, die sich heute im Natural History Museum in London befindet, werden – trotz der Flugbewegung – Körperproportionen, Schwingen- maße, Schwanz- und Schnabelform sowie Gefieder-Zeichnung deutlich. Dass Georg Forster für diesen an Arnout Vosmaer anknüpfenden Fortschritt in der Tierdarstellung nie gewürdigt wurde, ist nicht zuletzt darauf zurück- zuführen, dass seine Tier- und Pflanzenbilder schon kurz nach der Rückkehr von der Weltreise durch den Verkauf an Sir Joseph Banks der Öffentlichkeit weitgehend entzogen wurden.36 Die Skizzen aus dem Forsterschen Nachlass in Paris können insofern dazu beitragen, den Stellenwert Georg Forsters auf dem Weg zur modernen Naturdarstellung deutlich zu machen. Dass Forsters Interesse an der Tierdarstellung auch nach dem Ende der zweiten Cookschen Weltumseglung keineswegs erlahmte, belegt eine dritte Gruppe von Skizzen in seinem Pariser Nachlass. Es handelt sich dabei um die Darstellung sechs verschiedener Arten von Paradiesvögeln von der Insel Neuguinea, Federzeichnungen in schwarz-weiß, die Georg Forster als Kopien nach farbigen Kupferstichen von Francois-Nicolas Martinet ange- fertigt hat (s. Abb. 6).37 Martinet war im 18. Jahrhundert als Illustrator der

35  Ebd., Klapptafel nach 112. 36  Vgl. Vorpahl 2008b, 171f. 37  Die Forsterschen Skizzen liegen als lose Blätter vor. Die handschriftlich angefügten Randnotizen könnten von Georg Forster stammen, dies wäre aber genauer zu veri- fizieren. Vgl. Ms 189(4). Bei den abgebildeten Paradiesvögeln handelt sich um Kopien von Martinets Kupferstichen Nr. 631 „Le Magnifique“, von Nr. 632 „Le Superbe“, von Nr. 633 „Le Sifilet“, von Nr. 634 „Le Calybé“, von Nr. 638 „Le Promerops“ und von Nr. 639 „Le Grand Promerops“. Vgl. Martinet 1774, 1ff. Die Kupferstiche Martinets sind ebenfalls dem Reisebericht des Franzosen Pierre Sonnerat von seiner Reise nach Neuguinea beigefügt. Vgl. Sonnerat 1776, 4ff. Sonnerats Reisebericht erschien 1777 auch in deutscher Übersetzung. Vgl. Sonnerat, 4ff.

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von Buffon herausgegebenen Histoire Naturelle des Oiseaux der wohl bekann- teste Vogelzeichner seiner Zeit. Die sechs Paradiesvogel-Skizzen in Forsters Pariser Nachlass wurden im Original erstmals 1774 in Band 3 von Buffons Naturgeschichte der Vögel veröffentlicht, d. h. zu einem Zeitpunkt, als Georg Forster mit Captain Cook im Südpazifik unterwegs war.38 Forster kann diese Vogeldarstellungen mithin frühestens in der zweiten Hälfte des Jahres 1775 – nach Beendigung der Weltreise – kopiert haben. Zu welchem Zweck Georg Forster die Paradiesvögel zu Papier brachte, kann man nur vermuten. Der französische Forschungsreisende Pierre Sonnaret hatte sie als Bewohner von Neuguinea beschrieben. Doch wie weit sich der Lebensraum dieser schillernden Spezies tatsächlich erstreckte, konnte am Ende des 18. Jahrhunderts niemand mit letzter Sicherheit sagen. Georg Forster indes hatte die Hoffnung auf eine neuerliche große Expedi- tion zu keinem Zeitpunkt seines Lebens aufgegeben. Umso mehr musste er „up to date“ bleiben, sich ein Bild von neuen Pflanzen- und Tierarten machen und angesichts eines rasant wachsenden naturkundlichen Wissens auch visuell enzyklopädisch vorgehen. Vielleicht dienten Forsters Pariser Skizzen der praktischen Vorbereitung der geplanten russischen Expedition unter Forsters Leitung, die sich dann 1887 in letzter Minute zerschlug.39 Denkbar aber auch, dass Georg Forster die Skizzen anfertigte, als er nach dem Scheitern der Mainzer Republik im Pariser Exil festsaß und das Projekt einer neuerlichen Reise – diesmal unter der Flagge der revolutionären französischen Republik – vorantrieb, die ihn nach Indien führen sollte.40 Dass sich in seinem Pariser Nachlass neben den genannten Skizzen so umfangreiche seemännische Abhand- lungen finden41, spricht dafür, dass Georg Forster bis zu seinem frühen Tod in Paris nicht nur bereit, sondern auch darauf vorbereitet war, noch einmal in die Fremde aufzubrechen.

38  Die Forsters starteten mit James Cook am 13. Juli 1772 auf ihre dreijährige Expedition (vgl. AA II, 39). 39  Vgl. Enzensberger 1996, 161. 40  Vgl. ebd., 365. Auch Ludwig Uhlig meint, Forsters Vorstoß beim französischen Außen- minister Lebrun zugunsten einer von ihm selbst geführten Mission nach Indien sei nicht nur politisch motiviert gewesen, vielmehr habe Georg Forster darauf gehofft „die politische Mission mit naturhistorischen und völkerkundlichen Forschungen verbinden zu können.“ Uhlig 2004, 330. 41  Vgl. Ms 189(6).

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Abb. 1: Solanum rependum, Nachtschatten (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque centrale du Muséum national d‘Histoire naturelle, Paris [MNHN: Ms 189])

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Abb. 2: Laxmannia arborea (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Biblio- thèque centrale du Muséum national d‘Histoire naturelle, Paris [MNHN: Ms 189])

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Abb. 3: Ateles paniscus, Rotgesicht-Klammeraffe (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque centrale du Muséum national d‘Histoire naturelle, Paris [MNHN: Ms 189])

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Abb. 4: Nycticebus bengalensis, bengalischer Plumplori (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque centrale du Muséum national d‘Histoire naturelle, Paris [MNHN: Ms 189])

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Abb. 5: Procellaria antarctica, Antarktischer Sturmvogel (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque centrale du Muséum national d‘Histoire naturelle, Paris [MNHN: Ms 189])

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Abb. 6: Parotia sefilata, Goldkehligter Paradiesvogel (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque centrale du Muséum national d‘Histoire naturelle, Paris [MNHN: Ms 189])

allekurztitelraus.indd 229 06.06.2014 10:37:09 230 Frank Vorpahl

Literaturverzeichnis

Alerstam, Thomas, Gudmundur A. Gudmundsson und Bertil Larsson: „Flight Tracks and Speeds of Antarctic and Atlantic Seabirds: Radar and Optical Measurements, Philosophical Transactions“, in: Biological Sciences 1291 (1993), CCCXL, 55-67. Clutton-Brock, Juliet: Smithonian Handbooks: Mammals, New York 2002. Enzensberger, Ulrich: Georg Forster: Ein Leben in Scherben, München 1996. Forster, Georg: AA IV: Streitschriften und Fragmente zur Weltreise, bearb. v. Robert L. Kahn, Gerhard Steiner, Klaus-Georg Popp, Horst Fiedler, Sieg- fried Scheibe, Berlin 1972. Forster, Georg: Handschriftliche Notizen. Signatur Ms 189, Bibliothèque centrale du Muséum national d‘histoire naturelle. Forster, Georg: Reise um die Welt: Illustriert von eigener Hand. Mit einem bio- grafischen Essay von Klaus Harpprecht und einem Nachwort von Frank Vorpahl, Frankfurt/M. 2008. Forster, Johann Reinhold u. Georg: Characteres generum plantarum : quas in itinere ad insulas maris Australis, collegerunt, descripserunt, delinearunt, annis MDCCLXXII-MDCCLXXV, London 1775. Tafel 47. Hoare, Michael E.: The Tactless Philosopher: Johann Reinhold Forster (1729- 1798), Melbourne 1976. Huber, Ferdinand Ludwig: „Neuenburg in der Schweiz, den 21. Jan. 1794. L. F. Huber, im Nahmen der Wittwe und der Kinder des Verstorbenen.“, in: Friedens-Präliminarien. Sechstes Stück, hrsg. v. dems., Berlin 1794. Joppien, Rüdiger und Bernard Smith: The Art of Captain Cook’s Voyages. Volume One: The voyage of the Endeavour 1769-1771, Melbourne 1985. Lawson, John: A new voyage to Carolina, London 1709. Martinet, Francois-Nicolas: Histoire des oiseaux, peints dans tous leurs as- pects, apparens et sensibles, ornée de planches coloriées, III, Paris 1774. Nicolson, Dan H. und F. Raymond Fosberg: The Forsters and the botany of the second Cook expedition (1772-1775), Ruggell 2004. Smith, Bernard: Imagining the Pacific : in the wake of the Cook voyages, New Haven u. a. 1992.

allekurztitelraus.indd 230 06.06.2014 10:37:10 Forsters Pariser Skizzen 231

Sonnerat, Pierre: Sonnerat‘s Reise nach Neuguinea, Leipzig 1777. Sonnerat, Pierre: Voyage A La Nouvelle Guinée, Paris 1776. Steiner, Gerhard: „Johann Reinhold und Georg Forsters Beziehungen zu Rußland“, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhun- derts, hrsg. v. Helmut Grasshoff und Ulf Lehmann, 2, Berlin 1968. Uhlig, Ludwig: Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, Göttingen 2004. Vorpahl, Frank (Nachwort): „Die Unermeßlichkeit des Meeres und ,arm- seligen 24 Zeichen‘“, in: Reise um die Welt: Illustriert von eigener Hand. Mit einem biografischen Essay von Klaus Harpprecht und einem Nachwort von Frank Vorpahl, hrsg. v. Klaus Harpprecht und Frank Vorpahl, Frankfurt/M. 2008a, 615-626. Vorpahl, Frank: „Der Seefahrer, sein Chronist und die Entdeckung der Natur des Menschen“, in: Georg Forster, James Cook, der Entdecker, hrsg. v. Frank Vorpahl, Frankfurt 2008b. Vorpahl, Frank: „Georg Forsters naturwissenschaftliche Zeichnungen in der State Library of New South Wales“, in: GFS XIII (2008). Vosmaer, Arnout: Beschryving van eene zeldzaame Amerikaansche langstaarige aap-soort, by den Inlander gewoonlyk genaamd Quatto, en by de Hollanders Bosch-Duivel, or Slinger-Aap, Amsterdam 1768. Vosmaer, Arnout: Description d‘une espèce de paresseux pentadactyle, jusqu‘ici inconnu, qui se trouve au Bengale et qui en a été apporté vivant, Amsterdam 1770.

allekurztitelraus.indd 231 06.06.2014 10:37:10 allekurztitelraus.indd 232 06.06.2014 10:37:10 Anna-Carina Meywirth Neue Literatur zu Georg Forster 1

Böhmer, Sebastian: „Gefährdete Aufklärung. Licht und Schreiben in Georg Forsters ,Ansichten vom Niederrhein‘“, in: Zeitschrift für Germanistik 14 (2014). 25-35. Buchhorn, Ingrid: Georgs Forsters Erfahrung der Südsee. Seine Forschungsreise mit Cook und das Südseebild der Aufklärung, Biberach: Materialis 2013. Dressler, Stefan: „Die Sammlung Forster im Herbarium Senckenbergianum Frankfurt/M. am Main: Teil des naturkundlichen Nachlasses einer großen Entdeckungsreise“, in: Pinien, Palmen, Pomeranzen. Exotische Gartenwelten in FrankfurtRheinMain, hrsg. v. Heidrun Merk, Frankfurt/M.: Societäts-Verlag 2012, 120-131. Frömel, Mike: „Reisen in die Antarktis und zur Beringstraße. Der Blick auf eine koloniale Peripherie in Reiseberichten von Georg Forster (1778) und Otto von Kotzebue (1821)“, in: Reisen um 1800, München: Meidenbauer 2012, 239- 250. Gabbiadini, Guglielmo: „Die ,Urkraft‘ der ,höchste[n] Moral‘. Einige Beob- achtungen zum Briefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und Georg Forster 1789-1794“, in: GFS XVIII (2013), 211-232. Godel, Rainer: „Die Form der Auseinandersetzung. Forster, die Berliner Mitt- wochsgesellschaft und die Berlinische Monatsschrift“, in: GFS XVIII (2013), 1-16. Goldstein, Jürgen: „Ein Morgen war‘s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel vor uns sahen: Georg Forster erreicht­ 1773 Tahiti“, in: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsge- schichte, hrsg. v. dems., Berlin: Matthes & Seitz 2013, 65-87.

1  Diese Bibliographie setzt die folgenden fort: Kathrin Holzapfel, „Georg-Forster-Biblio- graphie – Fortsetzung“, in: GFS XIV (2009), 209-224; Anna-Carina Meywirth, „Georg- Forster-Bibliographie – Fortsetzung“, in: GFS XV (2010), 175-178; Kathrin Holzapfel, „Georg-Forster-Bibliographie – Fortsetzung“, in: GFS XVI (2011), 281-284; Kathrin Holzapfel, „Georg-Forster-Bibliographie – Fortsetzung“, in: GFS XVII (2012), 267-271; Anna-Carina Meywirth, „Georg-Forster-Bibliographie – Fortsetzung“, in: GFS XVIII (2013), 259-262.

allekurztitelraus.indd 233 06.06.2014 10:37:10 234

Gose, Walther: „Forsters Besuch in der Berliner Mittwochsgesellschaft“, in: GFS XVIII (2013), 17-32. Greif, Stefan: „,Zum Selbstgefühl erwachen, heißt schon frei sein‘. Fors- ters Abhandlung Über Proselytenmacherei in der Berlinischen Monats- schrift,“ in: GFS XVIII (2013), 93-110. Greif, Stefan: „Georg Forster: Die Aufklärung und die Fremde“, in: Auf- klärung. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt: WBG 2013, 125-143. Greif, Stefan: „Ob ,ich ein guter Preuße bleiben mochte‘? Forsters ambi- valentes Verhältnis zu Preußen“, in: GFS XVIII (2013), 233-247. Jost, Erdmut: „,Seelenkräfte in der Materie‘. Sophie von La Roches Re- zeption Georg Forsters in den ,Briefen über Mannheim‘“, in: „Ich will keinem Mann nachtreten“. Sophie von La Roche und Bettine von Arnim, Frankfurt a. M.: Lang 2013 (Ästhetische Signaturen 2), 65-76. Kanz, Kai Thorsten: „Spuren zu Lichtenbergs Lektüre. Zur Kommentie- rung von Briefen an Georg Forster und Johann Friedrich Blumenbach“, in: Lichtenberg-Jahrbuch 2012, Heidelberg: Winter 2013, 151-159. Lehnert, Nils: „Aufklärung: Epoche – Autoren – Werke, hrsg. v. Michael Hofmann. [Rezension]“, in: GFS XVIII (2013), 251-258. Meywirth, Anna-Carina: „Neue Literatur zu Georg Forster“, in: GFS XVIII (2013), 259-262. Pape, Carina: „Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster- Kontroverse, Rainer Godel; Gideon Stiening (Hrsg.): München [u. a.], Fink, 2012 [Rezension]“, in: Philosophischer Literaturanzeiger 4 (2013), 373-383. Preischl, Christian: Georg Forster, Johann Gottfried Seume, Alexander von Humboldt: Vertreter der authentischen Reportage, Frankfurt: Peter Lang 2013 (Europäische Hochschulschriften 20). Robertson, Ritchie: „May, Yomb, Georg Forsters literarische Weltrei- se, Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung: Berlin [u. a.], de Gruyter, 2011 [Rezension]“, in: Modern language quarterly 1 (2013), 317- 318. Rüdiger, Axel: „Die ,Passion des Realen‘ zwischen Lebensphilosophie und Sozialwissenschaft: Georg Forster und die Berliner ,Ideologues‘ Saul Ascher und Friedrich Buchholz“, in: GFS XVIII (2013), 33-82.

allekurztitelraus.indd 234 06.06.2014 10:37:10 Neue Literatur zu Georg Forster 235

Sauerland, Karol: „Forsters gespaltenes Verhältnis zu Nicolai oder: es ging um die Jesuiten“, in: GFS XVIII (2013), 83-92. Sitt, Martina: „Georg Forster und die Malerei der ,aufgeklarten Nieder- länder‘“, in: GFS XVIII (2013), 179-198. Stummann-Bowert, Ruth: „Von der Schwierigkeit, den Anderen zu ver- stehen. Georg Forster in der Dusky-Bay und in Charlottensund (Neusee- land)“, in: GFS XVIII (2013), 113-134. Uhlig, Ludwig: „Der polyglotte Forster: Fremdsprachige Bekenntnisse im Zusammenhang seines Lebens“, in: GFS XVIII (2013), 135-178. Vorpahl, Frank: „Learning by meeting: Forsters Reise um die Welt als Sprachlabor“, in: GFS XVIII (2013), 197-210. Zhang, Chunjie: „Georg Forster in Tahiti. Enlightenment, sentiment and the intrusion of the South Seas“, in: Journal for eighteenth century studies 36 (2013), 263-277.

allekurztitelraus.indd 235 06.06.2014 10:37:10 allekurztitelraus.indd 236 06.06.2014 10:37:10 Mitarbeiter der Georg-Forster-Studien XIX

Prof. Dr. Stefan Greif Fachbereich 2 – Geistes- und Kulturwissenschaften Universität Kassel Kurt-Wolters-Str. 5 34125 Kassel

Christian Köhn Fachbereich 02 – Geistes- und Kulturwissenschaften Universität Kassel Kurt-Wolters-Str. 5 34125 Kassel

Nils Lehnert, M. A. Fachbereich 02 – Geistes- und Kulturwissenschaften Universität Kassel Kurt-Wolters-Str. 5 34125 Kassel

Anna-Carina Meywirth Fachbereich 02 – Geistes- und Kulturwissenschaften Universität Kassel Kurt-Wolters-Str. 5 34125 Kassel

Dr. Frank Vorpahl Zweites Deutsches Fernsehen HR Kultur und Wissenschaft Kultur Berlin 10887 Berlin

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Anne Mariss, M. A. DFG Graduiertenkolleg 1599 der Universitäten Kassel und Göttingen Untere Königsstraße 86 34117 Kassel

Isabella Ferron Scuola di Giurisprudenza Universität Padua Via 8 Febbraio 1848, 2 35122 Padova PD – Italien

Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation Fachrichtung 4.2 - Romanistik Universität des Saarlandes Postfach 15 11 50 D-66041 Saarbrücken

Dr. Florian Kappeler Universität Zürich Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Rämistrasse 64 8001 Zürich

Reinhard M. Möller, M. A. International Graduate Centre for the Study of Culture Alter Steinbacher Weg 38 35394 Gießen

Dr. Michael Ewert Institut für Deutsch als Fremdsprache Ludwig-Maximilians-Universität München Ludwigstr. 27/I, G 115 80539 München

allekurztitelraus.indd 238 06.06.2014 10:37:10 Mitarbeiter der Georg-Forster-Studien XIX 239

Prof. Dr. Esaïe Djomo Département des Langues etrangères appliquées Faculté des Lettres et Sciences humaines – Unité d'Allemand Université de Dschang B.P. 49 Dschang – Caméroun

Heiko Schnickmann Institut für Tiergeschichtsforschung Collenbuschstr. 16 42277 Wuppertal

Barbara Di Noi Via Pagnini 40 50134 - Florenz – Italien

Herausgeber

Prof. Dr. Stefan Greif Fachbereich 2 – Geistes- und Kulturwissenschaften Universität Kassel Kurt-Wolters-Str. 5 34125 Kassel

Dr. Michael Ewert Institut für Deutsch als Fremdsprache Ludwig-Maximilians-Universität München Ludwigstr. 27/I, G 115 80539 München

allekurztitelraus.indd 239 06.06.2014 10:37:10 allekurztitelraus.indd 240 06.06.2014 10:37:10 Siglenverzeichnis

GFS = Georg-Forster-Studien

AA = Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe.Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag.

AA I: A Voyage round the World. Bearb. von R. L. Kahn. 2. Aufl. 1986. 711 S., 4 Tafeln. AA II: Reise um die Welt, 1. Teil, bearb. von Gerhard Steiner, 2. Aufl., Berlin 1989. AA III: Reise um die Welt. 2. Teil, bearb. v. Gerhard Steiner, 2. Aufl., Berlin 1989. AAIV: Streitschriften und Fragmente zur Weltreise. Erläuterungen und Register zu Band 1-4, bearb. von Robert L. Kahn u. a., 2. Aufl., Berlin 1989. AA V: Kleine Schriften zur Völker- und Länderkunde, bearb. v. Horst Fiedler u. a., Berlin 1985. AA VI.1-2: Schriften zur Naturkunde, bearb. v. Klaus-Georg Popp, Berlin 2003. AA VII: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala, bearb. v. Gerhard Steiner, 2. unveränderte Aufl., Berlin 1990. AA VIII: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, bearb. v. Siegfried Scheibe, 2. Aufl., Berlin 1991. AA IX: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790, bearb. v. Gerhard Steiner, Berlin 1958. AA X.1: Revolutionsschriften 1792/93. Reden, administrative Schriftstücke, Zeitungsartikel, politische und diplomatische Korrespondenz, Aufsätze, bearb. v. Klaus-Georg Popp, Berlin 1990. AA XI: Rezensionen, bearb. v. Horst Fiedler, 2. Aufl., Berlin 1992.

allekurztitelraus.indd 241 06.06.2014 10:37:10 AA XII: Tagebücher, bearb. v. Brigitte Leuschner, 2., berichtigte Aufl., Berlin 1993. AA XIII: Briefe bis 1783, bearb. v. Siegfried Scheibe, Berlin 1978. AA XIV: Briefe 1784 bis Juni 1787, bearb. v. Brigitte Leuschner, Berlin 1978. AA XV: Briefe Juli 1787-1789, bearb. v. Horst Fiedler, Berlin 1981. AA XVI: Briefe 1790-1791, bearb. v. Brigitte Leuschner u. Siegfried Scheibe, Berlin 1980. AA XVII: Briefe 1792-1794 und Nachträge, bearb. v. Klaus-Georg Popp, Berlin 1989. AA XVIII: Briefe an Forster, bearb. v. Brigitte Leuschner, Berlin 1982.

allekurztitelraus.indd 242 06.06.2014 10:37:10 Georg-Forster-Studien XIX utor A

Georg Forster als interkultureller Autor Georg Forster kommt im Hinblick auf das Paradigma Interkulturalität eine exzeptionelle und bislang noch weithin unterschätzte Rolle zu. Wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen hat er die Enge politischer und gesellschaftlicher Lebensverhältnisse schon früh durch weite Reisen überwunden. Diese Erfahrungen artikulieren sich in seinen Texten in unterschiedlichen Modi der Fremdheitserfahrung und -verarbeitung. Fremdheit wird bearbeitet und reflektiert, überschrieben und trans- formiert. Darüber hinaus etabliert Forster noch vor der Herausbildung von nationalen Wissenschaftstraditionen eine auf vielfältigen Studien, Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit beruhende interkulturelle Literatur- und Wissenschaftspraxis, die einen europäische und außereuropäische Perspektiven integrierenden Dialog mit anderen Kulturen projektiert. orster als interkultureller als interkultureller orster ISSN 1439-9105 eorg F G eorg

ISBN 978-3-86219-778-1 XIX –

9 783862 197781 Herausgegeben im Auftrag der Georg-Forster-Gesellschaft