Einfã¼hrung in Das Rahmenthema
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10.3726/82040_9 Einführung in das Rahmenthema Von Rudolf Bentzinger, Berlin Eine Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur gewinnt Konturen mit dem Humanismus. Seit der Wiederentdeckung der Taciteischen Germania um 1500 und seit ihrer Ummünzung für patriotische Ziele durch Celtis, Wimpheling, Aventinus, Beatus Rhenanus u. a. entsteht ein Diskurs, der es ermöglicht, auch die Bedeutung deutscher Poesie zu bestimmen. Sie erscheint als Teil einer großen, gemeinsamen Anstrengung. Diese Anstrengung ist die erste Stufe ,germanistischer‘ Wissenschaft. So beginnt die „Einleitung: Von den deutschen Studien zur Literaturwissen- schaft“ von Jürgen Fohrmann in dem von ihm und Wilhelm Voßkamp 1994 in Stuttgart und Weimar herausgegebenen Sammelband Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (S. 1). Trotzdem wird gewöhnlich mit dem Wirken von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl Lachmann, Georg Friedrich Benecke und der Lehrtätigkeit von Johann August Zeune an der Berliner Universität 1812–1822 der Beginn einer „wissenschaftlichen“ Germanistik angesetzt, und etliche Darstellungen der Germanistik-Geschichte beginnen mit der Zeit um 1800.1 Die Jahrhunderte 1 Vgl. Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Berlin / New York 2003, in dem es Bd. 1, S. XI, heißt: „Die ,Germanisten‘ des Lexi- kons widmen sich der deutschen Sprache und Literatur in ihren historischen Erscheinungen – sie tun das mit wissenschaftlichem Anspruch und / oder in der Gravitation von wissenschaft- lichen Institutionen … Germanisten dieser Art gibt es erst seit etwa 1800.“ Allerdings gibt es S. 215–217 und S. 4–6 Artikel über Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Christoph Adelung (1732–1806), während Gottsched und Breitinger fehlen. Ebenso: Wis- senschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin / New York 2000, wo im Vorwort, S. VI, bekannt wird: „Die Porträts setzen mit den Anfängen der Germanistik ein, die man heute um 1800 ansiedelt“. Konrad Celtis, Joachim Watt, Kaspar Stieler bleiben folglich unerwähnt, Gottsched wird nur gelegentlich genannt (S. 78, 96, 213, 247), und Adelung dient als Beispiel „der vorwissen- schaftlichen Arbeit an der deutschen Sprache“ (Ulrike Haß-Zumkehr: Hermann Paul. In: Ebda., S. 101). Lediglich Horst Brunner schreibt ebda., S. 17, in seinem Beitrag über Jacob Grimm: „Die in erster Linie normativ ausgerichtete Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts hatte ihren bedeutendsten Vertreter in Johann Christoph Adelung (1732–1806), der ein viel bewundertes und viel benutztes großes Wörterbuch der deutschen Sprache herausgegeben hatte (zuerst erschienen 1774–1786).“ – Vgl. auch Johann Janota (Hrsg.): Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810–1870. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III. Tübingen 1980; Uwe Meves: Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunter- richts im 19. und 20. Jahrhundert (Spolia Berolinensia. Berliner Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit 24. Hrsg. von Wolfgang Maaz und Werner Röcke). Hildesheim 2004; Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981. Hier geht es um die Zeit von 1830 bis 1918. 9 zuvor werden bisweilen sogar als „vorwissenschaftliche Phase“ und die Ge- lehrten dieser Zeit als „Dilettanten“ bezeichnet.2 Detlef Döring weist in der Einleitung zu seinem hiesigen Beitrag über sprach- und literaturwissenschaft- liche Studien im 18. Jahrhundert in Leipzig zu Recht darauf hin, dass sich das Wissenschaftsverständnis in den vergangenen Jahrhunderten wie auch das Verhältnis von „Fachmann“ und „Dilettant“ gewandelt hat und dass wir den als Dilettanten gescholtenen Wissenschaftlern viel verdanken. Zeunes Vorlesungen über das Nibelungenlied an der Berliner Universität vor 200 Jahren – im Wintersemester 1812/13 – wurden von 300 Studenten, also der Hälfte der Berliner Studenten überhaupt, besucht, waren also ein bedeuten- des Ereignis in der kurz zuvor begründeten Universität. Nun war Zeune im Hauptfach Geograph,3 also nach dem eben genannten Verständnis auch ein „Dilettant“. Außerdem wird gern übersehen, dass 300 Jahre zuvor, im Winter- semester 1513/14 der aus St. Gallen stammende Humanist Joachim Watt (Vadianus) an der Universität Wien seine literaturwissenschaftliche Vorlesung hielt, in der er auch auf einige Werke der deutschen Literatur des Mittelalters wie Herzog Ernst, Heldenepen um Dietrich von Bern und geistliche Dichtungen einging und die deutsche Dichtung wie auch die italienische von Dante und Boccaccio mit den selben Maßstäben beurteilte wie die antike Dichtung. Diese Abhandlung wurde 1518 in Wien unter dem Titel De poetica et carminis ratione gedruckt. Näheres dazu bietet der Beitrag von Peter Wiesinger. „Die Wiener Universität hat mit WATT den Ruhm, innerhalb eines Versuches, die Entwick- lung der Weltliteratur zu umreißen, die ältesten Vorlesungen über deutsche Literatur an einer europäischen Universität vernommen zu haben.“4 Man kann also sagen, dass die Universitätsgermanistik bald ihr 500jähri- ges Jubiläum feiern kann. Allseitig kontinuierlich verlaufende Prozesse gibt es in diesen fünf Jahrhunderten natürlich nicht, trotzdem lässt sich eine stetige 2 Vgl. Ulrich Hunger: Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft. Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart / Weimar 1994, S. 240–241. 3 Vgl. Hartmut Schmidt: Aspekte der Institutionalisierung. Zur Durchsetzung der neuen Denkmuster. In: Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Hrsg. von Werner Bahner und Werner Neumann. Berlin 1985, S. 219. 4 Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance. 1370–1520 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. IV/1). München 1994, S. 660. In dieser Zweitauflage, neubearbeitet von Hedwig Heger, wird ebda. als Datum für Joachim Watts Vorlesung allerdings im Gegensatz zur Erstausgabe 1970, S. 660, das Wintersemester 1513/14 ange- geben. In der Erstauflage von 1970 war das Wintersemester 1512/13 genannt. Die Publi- kation 1518 liegt ediert vor: Joachim Vadianus: De poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung von Peter Schäffer (Humanistische Bibliothek. Rei- he 2. Texte. Bd. 21.1–3). München 1973–1977. 10 Entwicklung – auch in der Institutionalisierung – verfolgen, obwohl diese etliche Hindernisse zu überwinden hatte und Rückschläge nicht ausblieben. Selbstredend sind die Schwerpunkte bei der Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur in den verschiedenen Epochen unterschiedlich, aber Bedeutendes liegt auch aus der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert, vom Huma- nismus bis zur Aufklärung, vor: Im Humanismus blühten Textkritik, Editionswissenschaft, Literaturwissen- schaft, Lexikographie und Grammatik auf. Konrad Celtis entdeckte 1493/94 die Dramen der Hrotsvith und gab sie 1501 in Nürnberg heraus; Otfrid wurde von Johannes Trithemius 1494 genannt, 1556 von Matthias Flacius Illyricus im Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamaverunt Papae als Zeuge für die Übertragung der Heiligen Schrift in die Volkssprache angeführt, und sein Evangelienbuch wurde 1571 vollständig unter der Leitung von Flacius Illyricus ediert. In der Neuausgabe des Catalogus 1562 veröffent- lichte dieser die Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum, die sich – samt dazugehörigen Versus – höchstwahrscheinlich auf den Heliand (und die Altsächsische Genesis) bezieht. Um 1554 fand der flandrische Huma- nist Georg Cassander im Kloster Werden an der Ruhr den Codex argenteus, der 1569 und 1597 in Teileditionen und 1665 erstmals als vollständige Edition durch den Niederländer Franciscus Junius erschien. Wolfgang Lazius edierte in seinem Werk De gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis linguarumque initiis et immutationibus a dialectis 1557 Teile des Nibelungenlie- des (Zweitauflage 1572) und veröffentlichte auch einige Glossen und Runen. Johannes Trithemius verfasste – zusammen mit Jacob Wimpheling – den Catalogus illustrium virorum, das erste deutsche Schriftsteller-Lexikon mit Biographien und Bibliographien von 303 deutschen Schriftstellern, dessen Erstausgabe verschollen ist und dessen Zweitauflage 1495 in Mainz erschien. Um 1486 und 1494 gab Konrad Celtis in Leipzig die erste selbstständige Poetik und Verslehre der deutschen Literatur heraus, die Ars versificandi et carminum.5 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass der Catalogus des Trithemius wie auch andere literaturwissenschaftliche Werke dieser Zeit bereits vom „Streben nach den Quellen und kritischer Sichtung des Quellenmateri- als“ getragen sind.6 5 Vgl. Joachim G. Boeckh / Günter Albrecht / Kurt Böttcher / Klaus Gysi / Paul Günter Krohn: Geschichte der deutschen Literatur von 1480 bis 1600 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. IV). Berlin 1961, S. 175–177; Hans Rupprich (Anm. 4), S. 657, 668; Gottfried Weber / Werner Hoffmann. Nibelungenlied (Sammlung Metzler 7). Stuttgart 1974, S. 2; Josef Dünninger: Geschichte der deutschen Philologie. In: Wolfgang Stammler u. a. (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriss. Bd. I. Berlin 1957, Sp. 93–102; Burkhard Taeger: ‚Heliand‘. In: