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Einführung in das Rahmenthema

Von Rudolf Bentzinger, Berlin

Eine Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur gewinnt Konturen mit dem Humanismus. Seit der Wiederentdeckung der Taciteischen Germania um 1500 und seit ihrer Ummünzung für patriotische Ziele durch Celtis, Wimpheling, Aventinus,

Beatus Rhenanus u. a. entsteht ein Diskurs, der es ermöglicht, auch die Bedeutung deutscher Poesie zu bestimmen. Sie erscheint als Teil einer großen, gemeinsamen Anstrengung. Diese Anstrengung ist die erste Stufe ,germanistischer‘ Wissenschaft.

So beginnt die „Einleitung: Von den deutschen Studien zur Literaturwissen- schaft“ von Jürgen Fohrmann in dem von ihm und Wilhelm Voßkamp 1994 in Stuttgart und Weimar herausgegebenen Sammelband Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (S. 1). Trotzdem wird gewöhnlich mit dem Wirken von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl Lachmann, Georg Friedrich Benecke und der Lehrtätigkeit von Johann August Zeune an der Berliner Universität 1812–1822 der Beginn einer „wissenschaftlichen“ Germanistik angesetzt, und etliche Darstellungen der Germanistik-Geschichte beginnen mit der Zeit um 1800.1 Die Jahrhunderte

1 Vgl. Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph

König. Berlin / New York 2003, in dem es Bd. 1, S. XI, heißt: „Die ,Germanisten‘ des Lexi- kons widmen sich der deutschen Sprache und Literatur in ihren historischen Erscheinungen

– sie tun das mit wissenschaftlichem Anspruch und / oder in der Gravitation von wissenschaft- lichen Institutionen … Germanisten dieser Art gibt es erst seit etwa 1800.“ Allerdings gibt es S. 215–217 und S. 4–6 Artikel über Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Christoph Adelung (1732–1806), während Gottsched und Breitinger fehlen. Ebenso: Wis- senschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald

Müller und Werner Röcke. Berlin / New York 2000, wo im Vorwort, S. VI, bekannt wird: „Die Porträts setzen mit den Anfängen der Germanistik ein, die man heute um 1800 ansiedelt“. Konrad Celtis, Joachim Watt, Kaspar Stieler bleiben folglich unerwähnt, Gottsched wird nur gelegentlich genannt (S. 78, 96, 213, 247), und Adelung dient als Beispiel „der vorwissen- schaftlichen Arbeit an der deutschen Sprache“ (Ulrike Haß-Zumkehr: Hermann Paul. In: Ebda., S. 101). Lediglich Horst Brunner schreibt ebda., S. 17, in seinem Beitrag über Jacob Grimm: „Die in erster Linie normativ ausgerichtete Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts hatte ihren bedeutendsten Vertreter in Johann Christoph Adelung (1732–1806), der ein viel bewundertes und viel benutztes großes Wörterbuch der deutschen Sprache herausgegeben hatte (zuerst erschienen 1774–1786).“ – Vgl. auch Johann Janota (Hrsg.): Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810–1870. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III. Tübingen 1980; Uwe Meves: Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunter- richts im 19. und 20. Jahrhundert (Spolia Berolinensia. Berliner Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit 24. Hrsg. von Wolfgang Maaz und Werner Röcke). Hildesheim 2004; Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981. Hier geht es um die Zeit von 1830 bis 1918.

9 zuvor werden bisweilen sogar als „vorwissenschaftliche Phase“ und die Ge- lehrten dieser Zeit als „Dilettanten“ bezeichnet.2 Detlef Döring weist in der Einleitung zu seinem hiesigen Beitrag über sprach- und literaturwissenschaft- liche Studien im 18. Jahrhundert in zu Recht darauf hin, dass sich das Wissenschaftsverständnis in den vergangenen Jahrhunderten wie auch das Verhältnis von „Fachmann“ und „Dilettant“ gewandelt hat und dass wir den als Dilettanten gescholtenen Wissenschaftlern viel verdanken. Zeunes Vorlesungen über das Nibelungenlied an der Berliner Universität vor 200 Jahren – im Wintersemester 1812/13 – wurden von 300 Studenten, also der Hälfte der Berliner Studenten überhaupt, besucht, waren also ein bedeuten- des Ereignis in der kurz zuvor begründeten Universität. Nun war Zeune im Hauptfach Geograph,3 also nach dem eben genannten Verständnis auch ein „Dilettant“. Außerdem wird gern übersehen, dass 300 Jahre zuvor, im Winter- semester 1513/14 der aus St. Gallen stammende Humanist Joachim Watt (Vadianus) an der Universität Wien seine literaturwissenschaftliche Vorlesung hielt, in der er auch auf einige Werke der deutschen Literatur des Mittelalters wie Herzog Ernst, Heldenepen um Dietrich von Bern und geistliche Dichtungen einging und die deutsche Dichtung wie auch die italienische von Dante und Boccaccio mit den selben Maßstäben beurteilte wie die antike Dichtung. Diese Abhandlung wurde 1518 in Wien unter dem Titel De poetica et carminis ratione gedruckt. Näheres dazu bietet der Beitrag von Peter Wiesinger. „Die Wiener Universität hat mit WATT den Ruhm, innerhalb eines Versuches, die Entwick- lung der Weltliteratur zu umreißen, die ältesten Vorlesungen über deutsche Literatur an einer europäischen Universität vernommen zu haben.“4 Man kann also sagen, dass die Universitätsgermanistik bald ihr 500jähri- ges Jubiläum feiern kann. Allseitig kontinuierlich verlaufende Prozesse gibt es in diesen fünf Jahrhunderten natürlich nicht, trotzdem lässt sich eine stetige

2 Vgl. Ulrich Hunger: Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft. Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp.

Stuttgart / Weimar 1994, S. 240–241. 3 Vgl. Hartmut Schmidt: Aspekte der Institutionalisierung. Zur Durchsetzung der neuen Denkmuster. In: Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Hrsg. von Werner Bahner und Werner Neumann. Berlin 1985, S. 219. 4 Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance. 1370–1520 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. IV/1). München 1994, S. 660. In dieser Zweitauflage, neubearbeitet von Hedwig Heger, wird ebda. als Datum für Joachim Watts Vorlesung allerdings im Gegensatz zur Erstausgabe 1970, S. 660, das Wintersemester 1513/14 ange- geben. In der Erstauflage von 1970 war das Wintersemester 1512/13 genannt. Die Publi- kation 1518 liegt ediert vor: Joachim Vadianus: De poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung von Peter Schäffer (Humanistische Bibliothek. Rei- he 2. Texte. Bd. 21.1–3). München 1973–1977.

10 Entwicklung – auch in der Institutionalisierung – verfolgen, obwohl diese etliche Hindernisse zu überwinden hatte und Rückschläge nicht ausblieben. Selbstredend sind die Schwerpunkte bei der Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur in den verschiedenen Epochen unterschiedlich, aber Bedeutendes liegt auch aus der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert, vom Huma- nismus bis zur Aufklärung, vor: Im Humanismus blühten Textkritik, Editionswissenschaft, Literaturwissen- schaft, Lexikographie und Grammatik auf. Konrad Celtis entdeckte 1493/94 die Dramen der Hrotsvith und gab sie 1501 in Nürnberg heraus; Otfrid wurde von Johannes Trithemius 1494 genannt, 1556 von Matthias Flacius Illyricus im Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamaverunt Papae als Zeuge für die Übertragung der Heiligen Schrift in die Volkssprache angeführt, und sein Evangelienbuch wurde 1571 vollständig unter der Leitung von Flacius Illyricus ediert. In der Neuausgabe des Catalogus 1562 veröffent- lichte dieser die Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum, die sich – samt dazugehörigen Versus – höchstwahrscheinlich auf den Heliand (und die Altsächsische Genesis) bezieht. Um 1554 fand der flandrische Huma- nist Georg Cassander im Kloster Werden an der Ruhr den Codex argenteus, der 1569 und 1597 in Teileditionen und 1665 erstmals als vollständige Edition durch den Niederländer Franciscus Junius erschien. Wolfgang Lazius edierte in seinem Werk De gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis linguarumque initiis et immutationibus a dialectis 1557 Teile des Nibelungenlie- des (Zweitauflage 1572) und veröffentlichte auch einige Glossen und Runen. Johannes Trithemius verfasste – zusammen mit Jacob Wimpheling – den Catalogus illustrium virorum, das erste deutsche Schriftsteller-Lexikon mit Biographien und Bibliographien von 303 deutschen Schriftstellern, dessen Erstausgabe verschollen ist und dessen Zweitauflage 1495 in Mainz erschien. Um 1486 und 1494 gab Konrad Celtis in Leipzig die erste selbstständige Poetik und Verslehre der deutschen Literatur heraus, die Ars versificandi et carminum.5 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass der Catalogus des Trithemius wie auch andere literaturwissenschaftliche Werke dieser Zeit bereits vom „Streben nach den Quellen und kritischer Sichtung des Quellenmateri- als“ getragen sind.6

5 Vgl. Joachim G. Boeckh / Günter Albrecht / Kurt Böttcher / Klaus Gysi / Paul Günter Krohn: Geschichte der deutschen Literatur von 1480 bis 1600 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. IV). Berlin 1961, S. 175–177; Hans Rupprich

(Anm. 4), S. 657, 668; Gottfried Weber / Werner Hoffmann. Nibelungenlied (Sammlung Metzler 7). Stuttgart 1974, S. 2; Josef Dünninger: Geschichte der deutschen Philologie. In:

Wolfgang Stammler u. a. (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriss. Bd. I. Berlin 1957, Sp. 93–102; Burkhard Taeger: ‚Heliand‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Ver-

fasserlexikon. Bd. 3. Berlin / New York 1981, Sp. 958. 6 Vgl. Sigmund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Warschau 1920. 2. durchges. u. erw. Aufl. Göttingen 1968, S. 84.

11 Die Lexikographie, die im gesamten Mittelalter lebendig war und mehr- fach auch das Deutsche einbezogen hatte, erlebte im 15., vor allem aber im 16. Jahrhundert einen vielfältigen Aufschwung, sowohl bei alphabetischen als auch bei Sachwörterbüchern. Die Mehrsprachigkeit war gefragt (1510 er- schien in Rom ein siebensprachiges Wörterbuch), und das Deutsche trat stärker in den Mittelpunkt: Das Dictionarium latino-germanicum des in Straß- burg wirkenden Schweizers Petrus Dasypodius 1535 kam 1536 mit einem deutsch-lateinischen Teil heraus und war für den Schulunterricht gedacht. Josua Maaler ging 1561 in seinem Dictionarium germanicolatinum mit dem Haupttitel Die Teütsch Spraach einen Schritt weiter: Er ging vom Deutschen aus und lieferte die erste große Sammlung des deutschen Wortschatzes

überhaupt. Außerdem wurden Fach- und Sondersprachenwörterbücher (u. a. mit Tier- und Pflanzennamen, zum Rotwelschen), ein Synonymen- und ein Reimwörterbuch erarbeitet.7 Die gründlichen lexikographischen Arbeiten ermöglichten Untersuchun- gen zum Sprachvergleich wie Conrad Gesners Mithridates (Zürich 1555), dem schon Hermann Paul „einigermassen richtige Vorstellungen von dem Umfan- ge und der Gliederung der germanischen Sprachfamilie“8 bescheinigte, und Wolfgang Lazius’ zwölf Bücher De gentium aliquot migrationibus, wo Laut- und Wortvergleiche zwischen dem Deutschen, Lateinischen und Griechischen wie auch zwischen deutschen Dialekten angestellt wurden.9 Die Grammatikschreibung behandelte Fragen der überlandschaftlichen Geltung von Varianten des Deutschen. Erinnert sei an die Orthographia von Fabian Frangk 1531 und die Teutsch Grammatik von Laurentius Albertus 1573, und dass die Darstellungen zur Schulgrammatik, durch die Reformation gefördert, einen muttersprachlichen Unterricht – zumindest in Ansätzen – 10 ermöglichten, zeigt v. a. die Leistung von Valentin Ickelsamer.

7 Vgl. Klaus Grubmüller: Die deutsche Lexikographie von den Anfängen bis zum Beginn

des 17. Jahrhunderts. In: Franz Josef Hausmann / Oskar Reichmann / Herbert Ernst Wie-

gand / Ladislav Zgusta (Hrsg.): Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexiko-

graphie. 2. Teilbd. Berlin / New York 1990, S. 2037–2049, bes. 2042–2047; Franz Claes: Bibliographisches Verzeichnis der deutschen Vokabulare und Wörterbücher, gedruckt bis

1600. Hildesheim / New York 1977, bes. S. IX–XIX; Gilbert A. R. de Smet: Humanisti- sche Wörterbücher und historische Syntax. Der Satzrahmen im Großen Fries. In: Acta Universitatis Wratislaviensis Nr. 1356. Studia Neerlandica et Germanica. Wrocùaw 1992, S. 393–403. 8 Hermann Paul: Grundriss der germanischen Philologie. Bd. 1: II. Abschnitt: Geschichte der germanischen Philologie. Straßburg 1891, 2. Aufl. Straßburg 1901, S. 15. 9 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 188.

10 Vgl. hierzu v. a. Monika Rössing-Hager: Konzeption und Ausführung der ersten deutschen

Grammatik. Valentin Ickelsamer: ,Ein Teütsche Grammatica‘. In: Ludger Grenzmann / Karl Stackmann (Hrsg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformations- zeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984, S. 534–556 (558); Otto Ludwig:

12 Die uns bekannten deutschsprachigen bzw. deutsch- und lateinischspra- chigen Vorlesungen, 1501 von Tilemann Heverlingh in Rostock über Juvenal und 1526/27 von Paracelsus über die „Chirurgia Vulnerum“ in Basel (wie sie von Hörern aufgezeichnet wurden), sollen hier nicht unerwähnt bleiben, zumal mit Recht darauf hingewiesen wurde, dass eine deutsch-lateinische Diglossie nicht nur bei Paracelsus zu beobachten ist.11 Die Verwendung des Deutschen neben dem Latein in der Universitätsvorlesung des 16. Jahrhunderts ist ein noch näher zu untersuchendes Feld. Luther, Melanchthon und andere Refor- matoren wandten sich bekanntlich – in unterschiedlichem Grade – neben dem Latein auch der Volkssprache zu. Zu den Auswirkungen auf die Wittenberger Universitätslehre stellt Ronny F. Schulz einige Überlegungen an, die es weiter zu verfolgen gilt. Im 17. Jahrhundert wurden Poetik, Sprachpflege und Sprachwissenschaft zum großen Teil von Hofbeamten, aber auch von Gymnasiallehrern vorangetrie- ben wie dem Beamten, Prinzenerzieher, Hofpoeten usw. Justus Georg Schottelius in Wolfenbüttel, dem Thüringer Sekretär, Hofmeister u. a. Kaspar Stieler, dem Hallenser Schulrektor Christian Gueintz oder dem Berliner Gymnasialrektor

Valentin Ickelsamers Beitrag zum Deutschunterricht. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik (ZGL) 28 (2000), S. 23–40; Claudine Moulin-Fankhänel: Bibliographie der deutschen Grammatiken und Orthographielehren. I. Von den Anfängen der Überlieferung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Ursula Götz. Mit einem Vorwort von Rolf Bergmann. Heidelberg 1994, S. 39–44, 51–76, 106–116. 11 Vgl. Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Bd. 1.

Tübingen 1961, S. 70 f. Beide – Heverlingh und Paracelsus – fanden Kritiker und Befürwor- ter. Tilemann Heverlingh wurde von Hermann von dem Busche angegriffen, aber der Magister Hildebrand in Rostock forderte auf Heverlinghs Vorstoß hin den Gebrauch des Deutschen an den höheren Schulen generell, und die Gegner von Paracelsus in Basel wollten nicht, dass die Heilkunst für jedermann verständlich dargeboten wird. Umgekehrt beschuldigte Paracelsus bis zu seinem Lebensende die „Galenisten“, sie wollten nicht, „daß die arzney in erkantnus des gemain man komme, sondern bei inen ein aigner nuz bleibe“ (zitiert nach Irmgard Weithase, ebda., S. 70). Der aus Neiße stammende Gelehrte Marcus Ambrosius lobte Paracelsus 1566 für den Gebrauch des Deutschen, und Paracelsus selbst hatte die deutschsprachige Vorlesung mit der Maxime verteidigt: „die wahrheit dürffte nur gut Teutsch reden.“ (Irmgard Weithase, S. 70 –71). – Die Vorlesung liegt ediert vor: Zwei Hörer-Nachschriften aus der Vorlesung über chirurgische Krankheiten: Von Apostemen, Geschwären, offenen Schäden, Sironen und andern Gewächsen. Sommer 1527. In: Theo- phrast von Hohenheim gen. Paracelsus. Sämtliche Werke. I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Hrsg. von Karl Sudhoff. 4. Bd.: Vorlesungen des Sommers 1527 zu Basel. Berlin 1931, S. 151–368. – Zur Mischprosa in der Paracelsus-Vorlesung als Beispiel der damaligen Wissenschaftssprache überhaupt vgl. Uwe Pörksen: Deutsche Sprachgeschichte und die Entwicklung der Naturwissenschaften. – Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselbeziehung zur

Gemeinsprache. In: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer

Erforschung. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. 1. Teilbd. Berlin / New

York 1998, S. 193–210, bes. 196 f.

13 Johann Bödiker. Beziehungen zum jeweiligen Adelshof hatten sie alle, von einem selbstständigen Universitätsprofessoren-Dasein kann noch keine Rede sein. Über die intensiven Bemühungen Kaspar Stielers, die deutsche Sprache in die akade- mische Lehre einzubeziehen, berichtet Michael Ludscheidt. Hierin war Kaspar Stieler zugleich Vorläufer von Christian Thomasius, der für das Wintersemester 1687/88 ein Kolleg über Balthasar Gracians Ora- culo manual, y arte de prudencia von 1648, also über die neue weltmännische Bildung (Thomasius hatte die Schrift in französischer Übersetzung gelesen und einige Lehrsätze daraus zusammengestellt) ankündigte, und zwar – hier ging er über Paracelsus hinaus – in deutscher Sprache:

Christian Thomas / eröffnet / Der Studirenden Jugend / zu Leipzig / in einem

Discours / Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wan-

del nachahmen solle? / ein COLLEGIUM über des GRATIANS Grund Reguln / Vernünftig, klug und artig zu leben. – zu finden bei Moritz George Weidemann.12

In zweierlei Hinsicht war diese Ankündigung geschickt: Sie enthielt zum einen gleich eine Übersetzung des spanischsprachigen Titels, zum anderen wies sie auf den Grundtenor der geplanten Vorlesung hin: Die Franzosen sind nachzuahmen, vor allem – was bisher versäumt wurde – in ihrer Hochachtung vor ihrer eigenen Muttersprache. Im gedruckten Einladungsprogramm forder- te er die Abschaffung des Lateins als Unterrichtssprache an höheren Schulen in Deutschland. Beide sind an ihren Universitäten angegriffen worden, aber sie setzten erfolgreich ihre Lehrtätigkeit in deutscher Sprache fort, Stieler in , Thomasius in Halle, und 1717 konnte letzterer in seiner Rezension zu Johan- nes Agricolas Sprichwörtersammlung von 1529 konstatieren, der „nützliche Gebrauch der Teutschen Sprache“ sei „so weit durchgedrungen, daß man nicht allein zu Halle, sondern auch auf andern Protestirenden Universitäten ange- fangen, publice und privatim in Teutscher Sprache zu lesen“.13 Durch den Zusammenschluss zu den Sprachgesellschaften und vor allem durch emsiges Studium in den zur Verfügung stehenden Bibliotheken erreichten die Gelehrten Höchstleistungen, von denen wir heute noch zehren.14 Martin

12 Zitiert nach Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur

Gegenwart. Bd. II: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin / New York 1994, S. 55. 13 Zitiert nach Irmgard Weithase (Anm. 11), S. 271. Vgl. dies., S. 264–271; Gertrud Schubart- Fikentscher: Christian Thomasius. Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der deutschen Aufklärung (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu

Leipzig. Phil.-hist. Klasse. Bd. 119, H. 4). Berlin 1977, S. 5 f.

14 Zur Leistung der Sprachgesellschaften vgl. u. a. Joachim Schildt: Deutsche Sprachgeschichte

und Geschichte von Institutionen. In: Werner Besch u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte (Anm. 11),

S. 55–62, bes. 58 f.; Andreas Gardt: Die Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ebda., S. 332–348; Peter Wiesinger: Die Diagliederung des Neuhochdeutschen bis zur

14 Opitz beeinflusste nicht nur entscheidend die Handhabung poetologischer Grundregeln in seinem Buch von der deutschen Poeterey 1624, er edierte auch 1639 erstmals vollständig das spätalthochdeutsche Annolied, wodurch der Ge- samttext uns erhalten geblieben ist. Die Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache 1663 von Justus Georg Schottelius ist ein Markstein in der Ge- schichte der deutschen Sprachwissenschaft. Sie stuft das Deutsche als den alten heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein ebenbürtig ein und stellt ein Kompendium der Grammatik (bei der auch Orthographie und Stil behandelt sind), der Wortgeschichte, Wortbildung, Syntax, Metrik, Stilistik bis hin zu einem Schriftstellerverzeichnis und einer Sprichwörtersammlung dar. Auch Fragen der Sprach-Cultur – um den im 18. Jahrhundert gern verwendeten Aus- druck zu gebrauchen – wurden mit Sachwissen diskutiert. Die Fremdwortver- deutschungen Zeitwort, Hauptwort, Geschlechtwort, Fügewort usw. nutzen wir heute noch, und dass die Gelehrten des 16., vor allem des 17./18 Jahrhunderts in ihren sprachwissenschaftlichen Darstellungen auch die Sprachpflege und den Schulunterricht im Blick hatten, sollten wir ihnen nicht zum Vorwurf machen. Kaspar Stielers Hauptwerk Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs … 1691 erfasste nicht nur mit über 60000 Stichwörtern den Wort- schatz seiner Zeit, sondern befolgte auch auf Grund eingehender Diskussion in der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ konsequent und durchdacht das bis heute in der Lexikographie angewandte Stammwortprinzip. Mit den Antonymen „Fachwissenschaftler – Dilettant“ sind die Leistun- gen der Gelehrten, die Polyhistoren sein mussten, nicht zu fassen. Kaspar Stieler war Lexikograph, Poet, Publizistikwissenschaftler, Komponist.15 Trotz- dem hatte man eine Vorstellung von einem klar umrissenen Fachgebiet, wie der Titel von Georg Philipp Harsdörffers Schrift Specimen Philologiae Ger- manicae von 1646 zeigt, dem wohl ersten Beleg dieser Fachbezeichnung.16 Glücklicherweise ist heute die Quellenlage so günstig, dass über Ziele und erbrachte Leistungen der Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft rasch Informationen eingeholt werden können. Erinnert sei an die von Klaus Coner- mann u. a. herausgegebene auf neun Bände angewachsene Edition Die Deut-

Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Ebda. 2. Teilbd. Berlin / New York 2000, S. 1932–1951, bes. 1936–1938; Heinrich Löffler: Gesprochenes und Geschriebenes Deutsch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Ebda., S. 1967–1980, bes. 1972–1974; Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und

Christian Gueintz (Studia Linguistica Germanica 57). Berlin / New York 2000. 15 Zum vielseitigen Wirken Kaspar Stielers vgl. Michael Ludscheidt (Hrsg.): Kaspar Stieler (1632–1707). Studien zum literarischen Werk des „Spaten“. Bucha b. Jena 2010. Zu seinen grammatischen und lexikographischen Arbeiten vgl. Claudine Moulin-Fankhänel: Bibliogra- phie der deutschen Grammatiken und Orthographielehren. II. Das 17. Jahrhundert. Heidel- berg 1997, S. 303–319. 16 Nach Hermann Paul (Anm. 8), S. 3, liegt hier die erste Bezeichnung unseres Faches vor.

15 sche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft und an Faksimile-Ausgaben von Grammatiken ihrer Mitglieder.17 Sprachgesellschaften fanden im 18. Jahrhundert ihre Fortsetzung in den „Deutschen Gesellschaften“ (auch im oberdeutschen Raum, man denke an die Gruppe um den Münchener Augustiner Gelasius Hieber), wurden aber vor allem aufgehoben in den Akademien. Die erste – bekanntlich nach englischem und französischem Vorbild auf Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz als „Kurfürstlich Brandenburgische“, dann „Königlich Preußische Societät der Wissenschaften“ in Berlin gegründet – hatte von Anfang an die lexikographi- sche Erfassung des Deutschen im Blick, hatte Leibniz doch schon 1697 in seiner – deutschsprachigen – Abhandlung Unvorgreiffliche Gedancken, be- treffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache die Abfas- sung von Wörterbüchern – auch der Fachsprachen und der Dialekte – gefor- dert.18 So verdanken wir eines der bedeutendsten Wörterbücher der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ein Teutsch-Lateinisches Wörterbuch 1741, dem Berliner Rektor des Grauen Klosters Johann Leonhard Frisch, der Mitglied der Societät und Direktor ihrer historisch-philologisch-deutschen Klasse war.19 Johann Christoph Gottsched übte entscheidenden Einfluss auf die Deutsche Gesellschaft in Leipzig aus, war seit 1729 Mitglied der Berliner Societät und wurde gleich nach der Gründung zweier weiterer Akademien, 1754 in Erfurt und 1759 in München, zu ihrem Mitglied. Auch Johann Christoph Adelung war Mitglied der Erfurter und der Berliner Akademie.20

17 Vgl. Die Deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft. Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten (Reihe I), Dokumente und Darstellun- gen (Reihe II). Im Auftrag der Herzog August Bibliothek (Reihe I, Abt. A, Bde. 1, 2, Abt. C, Abt. C, Bd. 1, Reihe II, Abt. A, Bd. 1, Abt. C, Bd. 1), der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

(Reihe I, Abt. A, Bde. 3–5) hrsg. von Klaus Conermann (u. a.). Tübingen 1991–2006, Berlin

2000. Vgl. den Bericht von Andreas Herz / Gabriele Ball: Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 13 (2006), S. 23–31. Eine Faksimile-Ausgabe der „Ausführlichen Arbeit“ von Schottelius erschien 1967 in Tübingen. Zu Schottelius vgl. auch Claudine Moulin-Fankhä- nel (Anm. 15), S. 277–299. 18 Vgl. die Zweitauflage: Gottfried Wilhelm Leibniz. Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. In: Collectanea Etymologica. Pars.

II. Hannover 1717, S. 259 f., 272, 278, 300.

19 Vgl. u. a. Peter von Polenz (Anm. 12), S. 188 f.

20 Vgl. Jürgen D. K. Kiefer: Bio-Bibliographisches Handbuch der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 1754–2004. Erfurt 2004, S. 221; vgl. auch Rüdiger Otto: Johann Christoph Gottsched und die Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. In:

Jürgen Kiefer / Werner Köhler / Klaus Manger (Hrsg.): Leipzig – Erfurt: Akademische Ver- bindungen. Festgabe der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt zur 600- Jahrfeier der Universität Leipzig. Erfurt 2009, S. 69–89; ders.: Die Beziehung Gottscheds zur Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt in Dokumenten [1754–1766]. In: Jürgen Kiefer (Hrsg.): Miscellanea – Neue Beiträge zur Erfurter Akademiegeschichte.

16 An einer Universität bzw. an einem Gymnasium wirkten im 18. Jahrhun- dert von den großen Gelehrten der Sprach- und Literaturwissenschaft Gott- sched, Johann Jakob Bodmer und Johann Jacob Breitinger wie auch Johann Siegmund Valentin Popowitsch. Gottsched lehrte an der Universität in Leipzig Philosophie, Rhetorik und Poesie und war mehrmals Rektor der Universität, seine Gegner Bodmer und Breitinger waren Professoren am Gymnasium in Zürich (Bodmer war Geschichtsprofessor, Breitinger Professor für Hebräisch, Griechisch und Rhetorik), und Popowitsch war Professor für deutsche Wohl- redenheit an der Universität Wien, auch Professor für Eloquenz an der Savoy- ischen Ritterakademie. Adelung arbeitete – bis auf ein Jahr Lehre am Gymna- sium in Erfurt – teils als Bibliothekar (kurz in Gotha, später lange in Dresden), teils als Privatgelehrter; Carl Friedrich Aichinger war Rektor der Lateinschule in Sulzbach, dann dort Stadtprediger und schließlich Inspektor der evangeli- schen Kirchen im Sulzbacher Land.21 , der bekanntlich zu den bedeutendsten Sprachphilosophen des 18. Jahrhunderts gehörte, lehrte an der Domschule in Riga, war dort auch Prediger, ebenso in Bückeburg, bis er dann die Stelle als Prediger und Generalsuperintendent in Weimar antrat.22 Die Organisation des wissenschaftlichen Lebens im 18. Jahrhundert war also anders als bei uns, wenn auch Goethe in Dichtung und Wahrheit Professo- ren als „in Ämtern angestellte Männer“ ansah und „Philologie und Sprachstu- dien“ und „die poetischen Übungen“ als Lehrfächer erwähnte.23 Die Grenzen zwischen Schule und Universität waren noch nicht so deutlich gezogen wie im

Erfurt 2011, S. 167–183. Die Mitgliedschaft Adelungs ist nachgewiesen bei Werner Köhler: Dokumente zur Geschichte der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung , Standort Wernigerode. In: Ebda.,

S. 193 f., 196.

21 Vgl. Peter von Polenz (Anm. 12), S. 157 f., 161–164, 317; Kurt Faninger: J. S. V. Popo- witsch. Ein österreichischer Grammatiker des 18. Jahrhunderts (Schriften zur deutschen

Sprache in Österreich 18). Frankfurt a. M. u. a. 1996; Erich Poppe: C. F. Aichingers ‚Ver- such einer teutschen Sprachlehre‘. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Gramma-

tikschreibung im 18. Jahrhundert. Hildesheim / Zürich / New York 1982, S. 22.

22 Zu Herders Sprachauffassung vgl. u. a. Josef Dünninger (Anm. 5), Sp. 125 f.; August Langen: Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Ebda., Sp. 1089– 1096; Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Kap. XIV: Die Rückkehr zu den Ursprüngen. Stuttgart 1966, S. 340–363; Johann Gottfried Herder. Zum 175. Todestag am 18. Dezember 1978 (Sitzungsberichte der Akademie der

Wissenschaften der DDR. Gesellschaftswissenschaften. Nr. 8 /1978). Darin: Rudolf Große: Die Stellung Herders in der Geschichte der deutschen Sprache, S. 75–82; Wolfgang Fleischer: Zu Herders Auffassungen über Sprachgebrauch und Stil, S. 83–92; Werner Bahner: Zum ideologiegeschichtlichen Kontext von Herders Abhandlung „Über den Ur- sprung der Sprache“, S. 93–107; Peter von Polenz (Anm. 12), S. 330–333. 23 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Theil. Sechstes Buch (Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen (WA I, 27). Weimar 1889, S. 54, 51.

17 19. Jahrhundert, wo auch das Abitur als Voraussetzung für das Universitätsstu- dium eingeführt wurde, d. h. ältere Schüler wechselten zur Universität, wenn es ihnen oder ihren Eltern geraten schien, und sie arbeiteten in den letzten Schuljahren und während des Studiums auch als Hauslehrer möglichst in einer einflussreichen Bürgers- oder gar Professorenfamilie. Auch Professoren ver- dienten sich des öfteren ein Zubrot als Hauslehrer, andererseits gehörten gerade in Leipzig die Professoren zur städtischen Oberschicht und wussten ihre Position durch Einheirat in wirtschaftlich und stadtpolitisch mächtige Handelsfamilien zu festigen. Es gab Professoren, die ein Rittergut besaßen.24 Eine führende Rolle in der Wissenschaftsentwicklung spielten also keineswegs alle Universitätsprofessoren, aber Gottsched, Bodmer und Brei- tinger sind hier unbedingt zu nennen. Auf die Erörterung der im 18. Jahrhun- dert entscheidenden Fragen wie das Ringen um die schriftsprachliche Norm oder die nicht nur mit Schärfe, sondern auch mit philosophischer Fundierung geführte Metapherndiskussion übten sie maßgeblichen Einfluss aus.25 Außer- dem befassten sie sich mit altdeutscher Literatur. Das belegen Gottscheds Abhandlung De temporibus teutonicorum vatum mythicis 1752, sein Kurzer Bericht vom uralten Herkommen, Fortpflanzung und Nutzen des alten deut- schen Meistergesanges 1757 und seine Prosaübertragung des mittelnieder- deutschen Reynke de Vos (1498) ins Hochdeutsche, die die Grundlage für Goethes Hexameter-Epos bildete. Außerdem erkannte er als erster die Bedeu- tung des Ackermann aus Böhmen für die deutsche Literaturgeschichte. Bod- mer machte 1756 Jacob Hermann Obereits Fund der Nibelungenhandschrift C in Hohenems bekannt, publizierte 1757 das letzte Drittel des Nibelungenlie- des und der Klage und gab 1748 auf Grund der Manessischen Handschrift Proben der alten schwäbischen Poesie des dreyzehnten Jahrhunderts heraus und edierte gemeinsam mit Breitinger 1758/59 die zweibändige Sammlung von Minnesingern aus dem Schwäbischen Zeitpuncte als nahezu vollständige Ausgabe dieser Handschrift. Diese war die entscheidende Anregung für Jacob Grimms und Ludwig Uhlands Beschäftigung mit dem hochmittelalterlichen

24 Vgl. Detlef Döring (Hrsg.): Stadt und Universität Leipzig. Beiträge zu einer 600-jährigen wechselvollen Geschichte. Leipzig 2010. Darin: Theresa Schmotz: Familiäre Verbindungen zwischen den Universitätsprofessoren und dem Stadtbürgertum in der Frühen Neuzeit, S. 129–144, bes. S. 131–140; Thomas Töpfer: Universität und Schulen im 18. Jahrhundert.

Strukturen und Wandel des städtischen Bildungsmarktes, S. 167–183, bes. S. 167 f., 172– 176, 178–181. 25 Vgl. Eric A. Blackall (Anm. 22), Kap. IX: Die Wiedergeburt der Metapher. Stuttgart 1966, S. 210–239, 428–432; Ulrich Ricken: Leibniz, Wolff und einige sprachtheore- tische Entwicklungen in der deutschen Aufklärung (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse. Bd. 129, H. 3). Berlin 1989, S. 20–41, 45–50.

18 Minnesang und bildete eine Grundlage für Karl Lachmanns kritische Ausgabe der Lieder Walthers von der Vogelweide von 1827.26 Gottsched, der in der Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst. Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset (1748 mit fünf Neuauflagen von 1749 bis 1776 und einem Nachdruck 1778) die „Sprachkunst“ in die vier Gebiete Orthographie, Etymologie (Wortfor- schung, d. i. Morphologie), Wortfügung (Syntax) und Prosodie (Tonmessung) glie- derte, unterschied traditionsgemäß die zehn Wortarten Hauptwort, Beiwort (Adjek- tiv), Geschlechtwort, Zahlwort, Fürwort, Zeitwort, Nebenwort (Adverb), Vorwort (Präposition), Bindewort, Zwischenwort (Interjektion), außerdem kommen Mittel- wort (Partizip) und Hilfswort (Hilfsverb) bei ihm vor. Dies wie auch seine Prin- zipien der Orthographie beeinflussten den Schulunterricht bis in unsere Tage. Ein weiteres grundlegendes Werk konnte er nicht mehr vorlegen, ein Wörterbuch. Dies erarbeitete – zunächst im Auftrag des Leipziger Verlegers Breitkopf, dann mehr und mehr nach eigenen Prinzipien, wozu auch erstmalig die alphabetische Reihenfolge der Wortartikel gehörte – der Bibliothekar und Privatgelehrte Johann Christoph Adelung. In fünf Teilen, die in Leipzig 1774– 1786 unter dem Titel Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen erschienen, gab er mit über 55000 Wortartikeln Einblick in den Wortschatz des späten 18. Jahr- hunderts. Die Bedeutungserklärungen gelten bis heute als vorbildlich. Es werden meist nur deutsche Synonyme und interpretierende Wendungen be- nutzt, zwischen eigentlicher und übertragener („figürlicher“) Bedeutung wird entsprechend der semantischen Struktur des Wortes deutlich unterschieden, und auf das Lemma folgen gleich die grammatischen Angaben. Ebenso finden sich Hinweise auf Stilfärbungen („verhüllend“, „spöttisch“), Sprachschichten und landschaftlichen Gebrauch des Lemmas. Über die Wörterbucharbeit kam Adelung zu den anderen Gebieten der Sprachwissenschaft, zur Grammatik, Stilistik und Sprachgeschichte. Sein Ruhm trug ihm den Auftrag des preußischen Kultusministers Karl Abraham von Zedlitz ein, eine deutsche Sprachlehre für die preußischen Schulen zu verfas- sen, da dieser den Erlass Friedrichs des Großen von 1779 realisieren wollte, den Deutschunterricht an den Schulen Preußens zu reformieren. So erschien 1781 in Berlin Adelungs Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den Königlichen Preußischen Landen, die bis 1828 14 Neuauflagen und

26 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 162 f.; Richard Newald: Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570–1750 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. V).

München 1975, S. 504 f.; Gottfried Weber / Werner Hoffmann (Anm. 5), S. 1 f.; Kurt Herbert Halbach: Walter von der Vogelweide (Sammlung Metzler 40). Stuttgart 1965, S. XII, 3–5; Bert Nagel: Meistersang (Sammlung Metzler 12). Stuttgart 1962, S. 7.

19 Nachdrucke erlebte (eine Kurzfassung brachte es ebenfalls auf acht Neuaufla- gen und Nachdrucke bis 1818). Die ausführliche zweibändige Fassung Um- ständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deut- schen Sprachlehre für Schulen 1782 reflektierte die Ergebnisse der damaligen Sprachwissenschaft und sollte der Denkschulung dienen. Damit in Zusammenhang stehen seine Arbeiten zur Orthographie, vor allem seine Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung 1782 (mit vier Auflagen bis 1820). Bekanntlich schrieb Goethe 1786 an seinen Verleger Georg Joachim Göschen zur Vorbereitung seiner achtbändigen Werkausgabe, die 1787–90 erschien: „Im Ganzen ist die Absicht: der Adelungischen Rechtschrei- bung vollkommen zu folgen, ein sorgfältiger Korrektor wird also bey jedem zweifelhaften Fall sich nach derselben zu richten haben.“ (WA IV, Bd. 8, S. 388). Adelungs Publikation Über die Geschichte der Deutschen Sprache, über Deutsche Mundarten und Deutsche Sprachlehre folgte dem Grundsatz „Spra- che und Erkenntnis oder Cultur stehen in dem genauesten Verhältnisse mit einander“, war also ganz der Aufklärung verpflichtet. Wesentliche Thesen sind heute überholt, sie beeinflussten aber die damals heftige Diskussion – auch bei den Schriftstellern – über die Herausbildung der deutschen Schriftsprache. 1785 veröffentlichte Adelung seine dreiteilige Arbeit Ueber den Deutschen Styl, in der er teils alter rhetorischer Tradition verpflichtet war, wenn er drei Stilschichten unterschied, den vertraulichen, den mittleren und den höheren Stil, teils aber Gedankengänge moderner Textlinguistik vorwegnahm, indem er nach der Absicht untergliederte: der „Geschäftsstil“ ist auf Verstand und Willen gerichtet, kann nur bei Privatgeschäften vertraulich sein, bewegt sich aber sonst auf kanzleisprachlicher Ebene; der „historische Stil“ herrscht in historischen Kompendien, auch in künstlerischer Prosa und Poesie vor; der „didaktische Stil“ ist anzutreffen in Lehrbüchern und unterweisenden Reden. Die Einschätzung ist berechtigt: „Das Stillehrbuch Johann Christoph ADELUNGs ist das erste umfas- sende Lehrbuch zum deutschen Stil im heutigen Verständnis.“27

27 Anke Schmidt-Wächter: Die Reflexion kommunikativer Welt in Rede- und Stillehrbüchern zwischen Christian Weise und Johann Christoph Adelung. Erarbeitung einer Texttypologie und Ansätze zu einer Beschreibung der in Rede- und Stillehrbüchern erfassten kommunika- tiven Wirklichkeit unter besonderer Beachtung der Kategorie des Stils (Leipziger Arbeiten

zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 12). Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / Bruxelles /

New York / Oxford / Wien 2004, S. 315. – Die Bedeutung Adelungs ist erst in den letzten Jahrzehnten in vollem Umfang erkannt und auch gewürdigt worden. Vgl. Werner Bahner (Hrsg.): Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätaufklärung. Der Beitrag Johann Christoph Adelungs (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wis-

senschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse. Bd. 70, H. 4). Berlin 1984; Heidrun Kämper /

Annette Klosa / Oda Vietze (Hrsg.): Aufklärer, Sprachgelehrter, Didaktiker: Johann Chris- toph Adelung (1732–1806) (Studien zur deutschen Sprache 45). Tübingen 2008; Peter von Polenz (Anm. 12), S. 163–168, 189–191.

20 Diese fächerübergreifende Erarbeitung von Lehr- und Handbüchern und die eines maßgeblichen Wörterbuches ließ den Stern Adelungs auch in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts nicht verblassen. Laut Jo- hann Gottlieb Radlofs teutschkundlichen Forschungen und Erheiterungen für Gebildete (Bd. 2, 1826, S. 350, und Bd. 3, 1827, S. 364) galt Adelung „als erster Begründer teutscher Sprachwissenschaft“, dessen Werk „in der Teutsch- kunde einen neuen Zeit-abschnitt beginnt“,28 und die Brüder Grimm ehrten ihn im I. Band ihres Deutschen Wörterbuches von 1854, Sp. 178, durch einen eigenen Artikel: „ADELUNG, m. vir nobilis, ahd. adalunc, und gangbarer mannsname, der wolklingende eigenname eines mannes, der voraus durch sein wörterbuch ein hohes verdienst um unsere sprache sich errungen hat.“ Im 19. Jahrhundert war man sich ohnehin der Traditionen bewusst, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichten: Nach Hermann Pauls Geschichte der germanischen Philologie, Straßburg 1891, S. 26, begann mit Franciscus Junius eine neue Epoche, denn dieser ließ „zum ersten Male die germanischen Studien zur Hauptsache werden“. Auch Karl Müllenhoff datierte am 16. Januar 1865 im Brief an Wilhelm Scherer den Beginn einer deutschen Philologie mit Junius, „von dem unsre Kenntnis und das Verständnis des Gothischen herstammt“.29 Auch Jacob Grimm kannte die Arbeiten von Melchior Haiminsfeld Goldast, Franciscus Junius und Daniel Georg Morhof zu den Lautverschiebungen.30 Die Beispiele ließen sich vermehren. Sie schmälern keineswegs die Verdienste der Gründungsväter der Berliner Germanistik, die anlässlich des 200jährigen Jubiläums der Universität und der ersten Vorlesungen zur deut- schen Philologie zu Recht gewürdigt worden sind.31 Man muss sogar in Rechnung stellen, dass die Einrichtung von Lehrstühlen ein langwieriger und mühsamer Prozess war. Nach der Göttinger Nominalprofessur für Georg Friedrich Benecke 1805 wurde zwar Friedrich Heinrich von der Hagen 1810 auf eine außerordentliche Professur für „Deutsche Alterthums-Wissenschaft“ (die als „erste germanistische Fachprofessur“32 gilt) an der gerade gegründeten

28 Zitiert nach Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 172. Zur Nachwirkung von Adelungs Gramma- tikkonzeption bei Johann Werner Meiner und anderen Grammatikern bis in die 1840er Jahre vgl. auch Bernd Naumann: Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Die Kategorien der deutschen Grammatik in der Tradition von Johann Werner Meiner und Johann Christoph Adelung (Philologische Studien und Quellen 114). Berlin 1986, S. 12. 29 Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einführung von

Edward Schröder (Das Literaturarchiv V). Berlin / Leipzig 1937, S. 106. 30 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 163.

31 Vgl. die Beiträge in der Zeitschrift für Germanistik. N. F. XX, 1 und 2 (2010) und bei Brigitte

Peters / Erhard Schütz (Hrsg.): 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik.

1810–2010. Teil III. Bern / Berlin / Bruxelles / Frankfurt a. M. / New York / Oxford / Wien 2011. 32 Cord Meyer: Hagen, Friedrich Heinrich von der. In: Internationales Germanistenlexikon (Anm. 1), Bd. 2, S. 648.

21 Universität berufen, aber diese Berufung kam durch Initiative des Berufenen selbst zustande.33 Bekanntlich verließ er Berlin schon 1811, und August Zeune vertrat das Fach ohne eine derartige Berufung. Die Situation verbesserte sich mit von der Hagens Rückkehr als ordentlicher Professor nach Berlin 1824 und mit dem Extraordinariat der deutschen und klassischen Philologie des Be- necke-Schülers Karl Lachmann 1825 und dessen ordentlicher Professur „für das Fach der deutschen und klassischen Philologie“ 1827. Andere Universitä- ten folgten wie Leipzig (1838 erhielt Moriz Haupt eine außerordentliche und 1843 eine ordentliche Professur auch für das neue Fach), Jena (kurz nach 1845 wurde Heinrich Rückert hier außerordentlicher Professor auch für die Altger- manistik) und Wien (hier lehrte 1845–48 Hermann Suttner deutsche Sprach- wissenschaft und behandelte 1847 das Nibelungenlied), und das erste germa- nistische Seminar („Deutsch-philologisches Seminar“) wurde 1858 auf Veranlassung von Karl Bartsch in Rostock eingerichtet.34 Trotzdem waren etliche Germanisten auch im 19. Jahrhundert noch hauptberuflich Bibliothekare und nur zeitweise Universitätsprofessoren wie Benecke, Bernhard Joseph Docen, Jacob und Wilhelm Grimm, Hoffmann von Fallersleben, Andreas Schmeller und andere. Teils wurden germanistische Disziplinen auch jetzt noch durch Wissenschaftler anderer Fächer vertreten wie in Breslau durch den Altertumswissenschaftler Johann Gustav Gottlieb Büsching oder in Bonn durch den Romanisten Friedrich Diez.35 Andererseits erhielten als Institution auch die Akademien ein größeres Gewicht. Zwar lehnten die Grimms Savignys Vorschlag einer Beteiligung der Berliner Akademie am Deutschen Wörterbuch ab, aber Jacob Grimm hatte als deren Mitglied (er war außerdem Mitglied der Akademien in Göttingen, München und Erfurt) das Recht, Vorlesungen an der Berliner Universität zu halten. Im 20. Jahrhundert kam dann das Deutsche Wörterbuch in die Obhut der Akademien in Berlin und Göttingen.36 Wir können resümieren, dass in den beiden Hauptperioden des Auf- schwungs der Germanistik, zu Beginn des 16. und des 19. Jahrhunderts, die Be- sinnung auf die Geschichte der eigenen Nation den entscheidenden Impuls ge- geben hat: im Humanismus das Bestreben, das Deutsche auf gleiche Stufe mit den heiligen Sprachen zu stellen und den Zusammenhang antiker und deutscher Bil-

33 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 219; Uwe Meves: Zur Erinnerung der ersten Professur für deutsche Sprache an der Berliner Universität (1810). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 104 (1985), S. 161–184.

34 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 220, 228 f.; Peter Wiesinger / David Steinbach: 150 Jahre Germanistik in Wien. Außeruniversitäre Frühgermanistik und Universitätsgerma-

nistik. Wien 2001, S. 29 f.

35 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 201, 206 f. 36 Vgl. Ludwig Denecke: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm (Sammlung Metzler 100). Stuttgart 1971, S. 122.

22 dung herauszuarbeiten, in der Romantik die Betonung eigener Kulturtradition in Opposition zur napoleonischen Fremdherrschaft. In beiden Perioden orientierte sich die aufblühende Germanistik an der klassischen Philologie: Moriz Haupt war im Hauptfach Altphilologe, und Karl Lachmann hatte sich 1815 in Göttin- gen für das Fach klassische Philologie und 1816 in Berlin für die Fächer aus dem römischen, griechischen und deutschen Altertum habilitiert. Die Probevorle- sung über die ursprüngliche Form des Nibelungenliedes war die erste zu einem altgermanistischen Thema (schon 1800 hatte Johann Christoph Schlüter einen Probevortrag gehalten zum Thema: Die Theorie des deutschen Stils).37 Beim Aufschwung zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden nicht die Traditionen vergangener Jahrhunderte abgebrochen, auch wenn etliche neue Akzente gesetzt wurden. In der Schulgrammatik beispielsweise wirkten Gott- sched und Adelung länger nach als in der historischen Sprachwissenschaft. Dies alles rechtfertigt die Einbeziehung des 16. bis 18. Jahrhunderts in eine noch zu schreibende Germanistik-Geschichte. Dass es dieses Fach nicht immer leicht hatte, als gleichberechtigt neben anderen Geisteswissenschaften zu gelten, zeigen zwei Beispiele. Goethe be- richtete in Dichtung und Wahrheit über ein Gespräch 1765 beim Leipziger Hofrat Böhme: „Als Historiker und Staatsrechtler hatte er einen erklärten Haß gegen alles was nach schönen Wissenschaften schmeckte … Er verunglimpfte darauf leidenschaftlich Philologie und Sprachstudien, noch mehr aber die poeti- schen Übungen“38. Über 100 Jahre später erlebte Konrad Burdach Ähnliches:

Als ich, noch ein junges, unreifes Studentlein, im Sommer 1877 nach Bonn kam, besuchte ich auch, wie natürlich, einen damals noch lebenden ausgezeichneten klassischen Philologen, der sich um die Erkenntnis der griechischen Philosophie große Verdienste erworben hat. Wie er hörte, dass ich den Vorsatz hatte, Germa- nist zu werden und eine Vorlesung über Walther von der Vogelweide sowie deutsche Literaturgeschichte des 18. Jhs. bei Wilmanns zu hören, zog er ein bedenkliches Gesicht und redete mir freundschaftlich und eifrig von diesem Studium ab. Die Germanistik, versicherte er mit dem ihm eigenen Pathos, sei gar keine Wissenschaft, sie habe keine Zukunft, in 10 Jahren würde alles mittelalter- liche Zeug ediert sein und dann sei es mit der Herrlichkeit aus.39

Trotzdem: Die Wissenschaft, die seit Harsdörffer (1646) „Philologia Germa- nica“, seit Elias Caspar Reichard (1747) „deutsche Philologie“ heißt und

37 Vgl. Hartmut Schmidt (Anm. 3), S. 220; Red. mit Unterstützung von Uwe Meves: Lach- mann, Karl. In: Internationales Germanistenlexikon (Anm. 1), Bd. 2, S. 1046–1049; Red.: Register nach Habilitation. In: Ebda., Bd. 3, S. 2142.

38 Johann Wolfgang von Goethe (Anm. 23), S. 50 f. 39 Konrad Burdach: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Halle (S. 1928), S. 318. Zitiert nach Johannes Janota (Anm. 1), S. 2. Bei dem Altphilologen handelte es sich um Jacob Bernays.

23 durch Gelehrte, die seit Jacob Grimm (1815) „Germanisten“ genannt werden, vertreten ist, hat sich in ihrer über ein halbes Jahrtausend währenden Ge- schichte in Forschung und Lehre behauptet. Hier sollen einige Marksteine gesetzt werden; weitere Bausteine, die auch die Germanistikgeschichte des Südens zum Gegenstand haben sollten,40 wie auch kritische Stellungnahmen sind willkommen.

40 Zu einigen Fragen äußerten sich bereits Ingo Reiffenstein und Peter Wiesinger. Vgl. u. a. Ingo Reiffenstein: Metasprachliche Äußerungen über das Deutsche und seine Subsysteme

bis 1800 in historischer Sicht. In: Werner Besch u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte (Anm. 11).

3. Teilbd. Berlin / New York 2003, S. 2205–2229, bes. 2207–2216, 2220–2223; ders.: Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit. In: Ebda., S. 2942–2971, bes. 2952–2957, 2963–2966; Peter Wiesinger: Aspekte einer österreichi- schen Sprachgeschichte der Neuzeit. In: Ebda., S. 2971–3001, bes. 2985–2993.

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