SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Carl Philipp Emanuel Bach „Aus der Seele muss man spielen!“ (1)

Mit Wolfgang Scherer

Sendung: 18. Dezember 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2014

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SWR2 Musikstunde mit Wolfgang Scherer 18. Dezember - 22. Dezember 2017 Carl Philipp Emanuel Bach „Aus der Seele muss man spielen!“

Teil 1: Kammermusik auf Schloss Sanssouci

Am 8. März vor dreihundert Jahren wurde er als zweiter Sohn des frischgebackenen Weimarer Konzertmeisters geboren. Und kein Geringerer als , damals der vielleicht populärste Kollege seines Vaters, hatte ihn aus der Taufe gehoben. Vielleicht mag es daran gelegen haben, dass er schon zu Lebzeiten seinen Vater an Berühmtheit in den Schatten stellte. „Er ist der Vater, wir sind die Buben“, meinte jedenfalls Mozart, und fügte hinzu: „Wer von uns was Rechtes kann, der hat von ihm gelernt.“ Wie auch immer: für das achtzehnte Jahrhundert war er „der große Bach“: Carl Philipp Emanuel, der empfindsame Rebell des musikalischen Sturm und Drang, der zum epochalen Wegbereiter einer neuen und bürgerlichen Musikästhetik werden sollte, die sich entschieden von der Kultur des höfischen Adels absetzte. Er war der vielleicht erste Star der damals aufkommenden Clavier-Mode, ein vielbewunderter Improvisateur auf dem Clavichord, auf dem Cembalo und an den Tasten des damals brandneuen Fortepianos. Sein Ruhm als Clavier-Virtuose und Komponist überstrahlte auch den seiner Brüder Wilhelm Friedemann, Johann Christoph Friedrich und Johann Christian. Vor allem mit der von ihm ins Leben gerufenen Gattung der „Freien Fantasie“ avancierte seine Musik zur begriffslosen Sprache der Empfindungen, wie sie den neuen bürgerlichen Werten und Idealen der musikalischen Empfindsamkeit entsprach. Seine Musik spielte den Soundtrack zur Werther-Zeit. Von ihm lernte die Musik, „Ich“ zu sagen, und bis heute steht sie für diesen epochalen Paradigmenwechsel: seit Carl Philipp Emanuel Bach war es nicht mehr die Musik, die wie im Zeitalter des Barock allgemeine Affekte ausdrückte. Fortan waren es die Komponisten, die Musiker, die sich selbst und ihre Empfindungen in Musik ausdrückten. Das Motto dieser neuen Ausdrucksästhetik findet sich in Bachs bahnbrechendem „Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen“: „Aus der Seele muss man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel!“

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Und damit „Willkommen zur Musikstunde!“

Carl Philipp Emanuel Bach 1. Satz „Prestissimo” aus: Sinfonie Es-Dur WQ 179 für 2 Hörner, 2 Oboen, 2 Violinen, Violetta und Basso continuo Akademie für Alte Musik

Die Akademie für Alte Musik Berlin war das, mit dem ersten Satz aus der Berliner Sinfonie Es-Dur Wotquenne-Verzeichnis 179 für zwei Hörner, zwei Oboen, zwei Violinen, Violetta und Basso continuo von Carl Philipp Emanuel Bach.

Eine Sternstunde der Musikgeschichte. Es ist der Abend des siebten Mai 1747. Wir sind im preußischen Versailles. In den königlichen Gemächern von Schloss Sanssouci, das seine Majestät in den vergangenen Jahren nach eigenen Skizzen in Potsdam hat errichten lassen. Gerade hat – wie jeden Abend gegen sieben Uhr, vor der königlichen Tafel - die „gewohnliche Cammer-Music“ begonnen. Mit seiner Majestät an der Traversflöte. Da wird dem König berichtet, dass der berühmte Kapellmeister Bach aus Leipzig soeben in Potsdam angelangt sei, der Vater seines Kammercembalisten. Und dass der sich „jetzo“ – wie es in einem zeitgenössischen Bericht heisst – „in dero Vor-Cammer aufhalte, allwo er Dero allergnädigste Erlaubnis erwarte, der vortrefflichen königlichen Musik zuhören zu dürfen.“ „Meine Herren, der alte Bach ist gekommen!“ Mit diesen Worten bricht der König das gemeinsame Konzertieren ab, legt die Traversflöte zur Seite und befiehlt den Leipziger Kantor herein. Der war in Begleitung seines ältesten Sohnes Friedemann über Halle nach Berlin gereist, wo Carl Philipp Emanuel seit einigen Jahren als Cembalist des Preußenkönigs lebte und die Einladung nach Sanssouci arrangiert hatte. Außerdem hatte Carl Philipp vor drei Jahren in Berlin geheiratet. Johanna Maria, die Tochter eines Weinhändlers. Inzwischen hatten die beiden sogar schon einen Sohn, Johann August; und der zweiundsechzigjährige Bach wollte endlich seine Schwiegertochter und seinen ersten Enkel kennenlernen. Umso besser, wenn man ihm bei dieser Gelegenheit nun auch noch die Gnade erwies, sich vor seiner Majestät dem König von Preußen, dem Dienstherrn seines Sohnes, hören zu lassen. Aller Augen sind jetzt auf ihn gerichtet. Gleich wird ihn seine Majestät auf die Probe stellen wollen.

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Tatsächlich! Am Fortepiano geruht der König „in eigner höchster Person dem Capellmeister Bach ein Thema vorzuspielen“, welches er sogleich und ohne Vorbereitung in einer Fuga ausführen soll. Bach tritt ans Instrument, ein neues Fortepiano von Gottfried Silbermann, und nimmt vor der Klaviatur Platz. Und so begann dieses denkwürdige Vorspiel, von dem schon wenige Tage später die Zeitungen mehrerer deutscher Städte berichteten. In Berlin hieß es sogar gleich auf der ersten Seite: „Es geschah dies Vorspielen von gemeldetem Capellmeister so glücklich, dass nicht nur seine Majestät dero allergnädigstes Wohlgefallen darüber zu bezeigen beliebten, sondern auch die sämtlichen Anwesenden in Verwunderung gesetzt wurden. Herr Bach fand das ihm aufgegebene Thema so ausbündig schön, dass er es in einer ordentlichen Fuga zu Papiere bringen, und hernach in Kupfer stechen lassen will.“ Nun, so entstand – nach seiner Rückkehr nach Leipzig – Johann Sebastian Bachs Musikalisches Opfer WV 1079. Seine Antwort auf die kompositionstechnische Herausforderung des Königs: Zwei Fugen, drei- und sechsstimmig, acht kunstvolle Kanons, eine Triosonate -: dies alles tiefsinnige polyphone Variationen und Kombinationen desselben „königlichen Themas“. Dabei hat er die Triosonate für Traversflöte, Violine und Continuo ausdrücklich dem passionierten Flötisten Friedrich II. zur Bereicherung der königlichen Kammermusik direkt auf den Leib geschrieben. Und dem offiziellen Clavierbegleiter des Preußenkönigs, seinem Sohn, dem königlichen Kammercembalisten Carl Philipp Emanuel Bach. Denn das Andante dieser Sonate spielt an auf die damals hochmoderne musikalische Manier des empfindsamen Stils, wie er bei seinem Sohn und den Musikern der preußischen Hofkapelle in Potsdam und Berlin gerade schwer in Mode war. Hier ist das Concerto Melante mit diesem Andante.

Johann Sebastian Bach „Andante“ aus: Sonata sopr`Il Sogetto Reale à Traversa, Violino e Continuo aus: Musikalisches Opfer BWV 1079

Das Ensemble Concerto Melante spielte das Andante aus der Sonata sopr´Il Sogetto Reale aus dem Musikalischen Opfer von Johann Sebastian Bach: eine Friedrich II. gewidmete Kostprobe seines Könnens im modernen empfindsamen Stil, wie er

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damals bei seinem Sohn Carl Philipp Emanuel und vielen Musikern der preußischen Hofkapelle gerade angesagt war.

Damit stellte der alte Bach einmal mehr unter Beweis, dass er es stilistisch durchaus auch noch mit den jüngeren Musikern aufnehmen konnte, die in der Hofkapelle Friedrichs II. angestellt waren. Schon etliche Jahre vor seinem Regierungsantritt hatte Friedrich auf Schloss Rheinsberg in der Grafschaft Ruppin eine ganze Reihe ausgezeichneter Musiker um sich versammelt. Das Schloss hatte der Kronprinz von seinem Vater, dem gestrengen und grausam-harten Soldatenkönig natürlich nicht ohne Hintergedanken geschenkt bekommen. Dem jungen Friedrich und seiner eher wenig geliebten Gattin Elisabeth Christine von Braunschweig sollte es als Liebesnest dienen, um dringend ersehnte Nachkommen hervorzubringen. Dem kunstsinnigen Kronprinzen bot das abgeschiedene Rheinsberg, sein „mährisches Arkadien“, jedenfalls Gelegenheit, die von seiner Mutter ererbten und von seinem Vater verabscheuten schöngeistig-musisch-musikalischen Neigungen auszuleben. Er scharte eine illustre Gesellschaft aus Literaten und Künstlern, Diplomaten und Gelehrten um sich, widmete sich mit Fleiß dem Flötenspiel und der Komposition und schmückte seinen Hof – nach dem glanzvollen Vorbild der weithin berühmten Dresdner Hofkapelle – mit den musikalischen Preziosen eines vorzüglichen, siebzehnköpfigen Instrumental-Ensembles. Seine Schwester Wilhelmine ließ er wissen: „ Es wird täglich von vier bis sieben Uhr musiziert“. Und fügte hinzu: „Ich bin Komponist geworden“.

Friedrich II. von Preußen „Andante et Cantabile“ aus: Sonata per il Flauto traverso solo e Basso Christoph Huntgeburth (Traversflöte) Akademie für Alte Musik Berlin

Musik von Friedrich dem Großen – Christoph Hundgeburth spielte „Andante und Cantabile“ aus einer Flötensonate c-Moll „pour Potsdam“, die wahrscheinlich nach der Thronbesteigung im Jahre 1740 entstanden ist.

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Jetzt, in der Residenz Potsdam, konnte der junge König seine musisch- künstlerischen Neigungen mit höchster Autorität entfalten. Die Hofkapelle stockte er auf neununddreißig Musiker auf und den Cembalisten Carl Philipp Emanuel Bach, den stellte er nun offiziell als königlichen Kammercembalisten ein. Als sich der alte Vater Bach zu jenem legendären Probespiel in den königlichen Gemächern von Sanssouci eingefunden hatte, da war Friedrich II. seit sieben Jahren auf dem Thron; und sein Sohn Carl Philipp hatte nunmehr seit sechs Jahren die große Ehre und das eher zweifelhafte Vergnügen, den Preußenkönig auf der Traversflöte zu begleiten. Viele der Hofmusiker waren frühere Leipziger Thomasschüler gewesen und dem alten Bach seit dieser Zeit gut bekannt. Einer von ihnen war Christoph Nichelmann. Zwei Jahre vor Johann Sebastian Bachs Besuch in Sanssouci hatte er dort Anstellung als Cembalist gefunden. Mit ihren Residenzen in Potsdam und Berlin einschließlich Charlottenburg erforderte die königliche Hofkapelle nämlich zwei Cembalisten. Die hielten sich abwechselnd in Berlin und in Potsdam auf. Die Entfernung von Berlin nach Potsdam betrug nach den damals üblichen Entfernungsangaben etwa vier preußische Landmeilen, das sind etwas mehr als 30 Kilometer. Für diese Strecke benötigte eine Postkutsche auf den eher schlechten Wegen an die fünf Stunden. Für die Hofmusiker waren die häufigen Reisen zwischen den Dienstorten Potsdam und Berlin eine lästige Angelegenheit. Obwohl sie dafür Ausgleichszahlungen in Form von Diäten oder Quartiergeldern erhielten. Der Cembalovirtuose Christoph Nichelmann jedenfalls versah nun seinen Dienst als direkter Amtskollege von Carl Philipp Emanuel Bach im vierwöchigen Wechsel vornehmlich in Potsdam. Und dort hat er natürlich auch auf den modernen Fortepianos musiziert. Hier ist der dritte Satz „Presto“ aus seinem c-Moll-Concerto. Raphael Alpermann spielt es auf einem Fortepiano nach Gottfried Silbermann, begleitet wird er von der Akademie für Alte Musik Berlin.

Christoph Nichelmann 3. Satz „Presto” aus: Concerto per il Cembalo concertante c-Moll Raphael Alpermann (Fortepiano) Akademie für Alte Musik Berlin

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Das war der letzte Satz aus dem Concerto per il Cembalo concertante c-Moll von Christoph Nichelmann, neben dem Kammercembalisten Carl Philipp Emanuel Bach in der preußischen Hofkapelle zuständig für das Spiel auf den verschiedenen, damals gebräuchlichen Clavierinstrumenten: dem Cembalo, dem Clavichord, dem Tangentenflügel und dem Fortepiano.

Das Verhältnis zu seinem Cembalo-Kollegen Bach sollte sich allerdings bald ziemlich trüben. Von Anfang an hatte zwischen den beiden Missstimmung geherrscht. Was auch kein Wunder war. Schließlich waren sie ja Rivalen um die Gunst des Königs. Dazu aber kam, dass Nichelmann bei seinem Eintritt in die Hofkapelle mit 500 Reichstalern sofort ein höheres Jahresgehalt bezogen hatte als der dienstältere Kammercembalist Bach, der mit 300 Talern damals noch eher schlecht bezahlt war. Aber gravierender noch: Nichelmann hatte mit seiner Abhandlung über „Die Melodie“ verschiedene Kompositionen von Bach und anderen Mitgliedern der Hofkapelle einer heftigen Kritik unterzogen und nach sie seinen Vorstellungen rigoros „verbessert“. Das konnte sich Bach natürlich nicht gefallen lassen. Prompt erschien unter dem vielsagenden Pseudonym Caspar Dünkelfeind eine öffentliche Erwiderung. Und die hatte sich gewaschen: die „Gedanken eines Liebhabers der Tonkunst über Herrn Nichelmanns Traktat von der Melodie.“ Ob sich Carl Philipp Emanuel Bach selbst hinter diesem Pseudonym verbarg?

Jedenfalls überzieht der Autor in seinem Pamphlet Nichelmann mit einer Fülle sarkastischer Kommentare und spöttischer Schmähungen, diffamiert seine Kompositionen als Plagiate und schließt mit dem Fazit: „Wir wollen dem Herrn Verfasser wohlmeinend raten, anstatt des Bücherschreibens, womit es doch so wenig als mit seinem Componieren fort will, sich lieber mit der Abspielung eines sanfte leiernden Stückchens abzugeben, wozu nicht viele Geschwindigkeit erfordert wird.“ Der so geschmähte Nichelmann konterte zwar noch einmal, erneuerte seine Kritik an Bachs Kompositionen und goss weiter Öl ins Feuer, so dass sein Verhältnis zu Bach und den Musikern der Hofkapelle bald so zerrüttet war, dass er seinen Dienst quittierte und sich in Berlin verzweifelt, aber erfolglos um eine neue Anstellung bewarb. Er starb wenige Jahre später – wie es heißt -: verbittert und verarmt.

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Carl Philipp Emanuel Bach 2. Satz „Andante” aus: Sinfonie C-Dur, Wq 174 für zwei Flöten, zwei Hörner, Streicher und Basso continuo Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach Leitung: Hartmut Haenchen

Hartmut Haenchen und das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach waren das, mit dem Andante aus seiner Berliner Sinfonie C-Dur Wotquenne-Verzeichnis 174. Bach hat diese Sinfonie in dem Jahr geschrieben, als der Streit mit Nichelmann so eskalierte, dass der seinen Dienst quittierte.

Um diese Zeit war die leidige Gehaltsfrage um die zu geringe Besoldung und der daraus resultierende ständige Disput mit Michael Gabriel Fredersdorff, dem Geheimen Kämmerer Friedrichs II., noch nicht geklärt. Dabei war er inzwischen ein weit über die Berliner Musikszene hinaus berühmter Clavier-Spieler und Clavier- Pädagoge, dessen Improvisationskunst, wo er auch konzertierte, stets allergrößte Bewunderung fand. Der „Berliner Bach“ – wie man ihn nannte – galt als einer der bedeutendsten Clavieristen seiner Zeit, als „Original-Genie“, dessen Kompositionen – Kammermusik und Lieder, Concerti und Sinfonien – eben nicht nur am Hofe gespielt wurden, wo die musikalischen Günstlinge des Königs den Ton angaben, sondern vor allem auch in den Akademien, Soiréen und Zirkeln des bürgerlichen . Außerdem erfuhr seine Musik zusehends auch im Druck Verbreitung. Und am Preußenhof? Da bezog er noch immer sein mageres Anfangsgehalt von 300 Reichstalern. Schon gleich nach dem Tod seines Vaters hatte er sich um die vakante Stelle des Thomaskantors in Leipzig bemüht, aber dort hatte man Gottlob Harrer vorgezogen. Trotz knapper Kasse hatte er dann auch noch seinen fünfzehnjährigen Halbbruder Johann Christian für einige Jahre in seinem Berliner Haushalt aufgenommen. Als Gottlob Harrer im Juli 1755 starb, bewarb sich Bach erneut in Leipzig. Gerade hatte er in einer Eingabe beim Geheimen Kämmerer um eine Gehaltserhöhung oder um seine sofortige Entlassung gebeten: Seine Schüler Nichelmann und Agricola bekämen inzwischen 600 Reichstaler. Von 300 Talern könne er mit seiner Frau und den drei Kindern nun mal in Berlin nicht leben. Der König reagiert erbost. „Bach lügt!“, kritzelt er an den

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Rand der Vorlage und fügt hinzu: „Agricola hat nur 500 Taler; er hat einmal im Konzert hier gespielt, nun kriegt er Spiritus. Er soll doch Zulage kriegen. Er soll nur auf den Etat warten.“ Und Bach wartet. Aber er hat Pech. In Leipzig wird wieder ein anderer vorgezogen. Trotz der Fürsprache seines Patenonkels Georg Philipp Telemann. Dann kommt der Bescheid vom König. Ab sofort erhält er eine Zulage von 500 Reichstalern aus der Schatulle Friedrichs II. Außerdem wird er bis auf weiteres großzügig dafür entlohnt, dass er dem Harfenisten Franz Brennessell Clavierunterricht erteilt. Endlich kann er ein wenig aufatmen. Aber den Status des Komponisten und Virtuosen, wie ihn einige seiner Kollegen der Hofkapelle genossen, den wollte ihm sein königlicher Dienstherr partout nicht zugestehen.

Carl Philipp Emanuel Bach 3. Satz „Allegro assai“ aus: Concerto F-Dur Wq 46 Miklós Spányi und Cristiano Holtz (Cembalo) Concerto Armonico Budapest

Musik, die Carl Philipp Emanuel Bach zu Beginn seiner Berliner Zeit komponiert hat: der dritte Satz aus dem Doppelkonzert F-Dur Wotquenne-Verzeichnis 46 war das, mit Miklós Spányi und Cristiano Holtz, Cembalo, und dem Concerto Armonico Budapest.

Auch nach der längst überfälligen Gehaltsaufbesserung aus der Schatulle des Königs durfte der erste Cembalist Bach seine Einkünfte nicht mit denen einiger anderer Capellbedienten vergleichen, die Friedrich II. ganz offensichtlich begünstigte. Da waren zum Beispiel die Gebrüder Graun, Johann Gottlieb und Carl Heinrich. Beide gehörten zu den friderizianischen Musikern der ersten Stunde und waren schon einige Jahre in der preußischen Hofkapelle engagiert, bevor Carl Philipp Emanuel Bach dazu gestoßen war. Über die Vermittlung zweier Kommilitonen aus seiner Frankfurter Studienzeit, die Söhne des preußischen Ministers Franz Wilhelm von Hoppe, hatte Bach damals Kontakt zum Hofe bekommen, und seine Kavalierstour mit dem Sohn des Grafen Kaiserlingk kurzerhand abgebrochen, um nach Ruppin zu eilen. Eine vielversprechende musikalische Zukunft schien sich da

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abzuzeichnen. Damals war Friedrich von Preußen noch Kronprinz, hielt in Schloss Rheinsberg, seinem märkischen Arkadien, oder in seiner Residenz Ruppin Musenhof und entfaltete dort ein blühendes Musikleben, das sich am Glanz des Dresdner Hofes orientierte. Seit jener Zeit bekleidete , der sich dem Kronprinzen schon anlässlich seiner Hochzeit als Opernkomponist empfohlen hatte, das Amt des Kapellmeisters. Außerdem gab er dem jungen Prinzen Kompositionsunterricht. Dafür erhielt er fürstliche 2000 Reichstaler im Jahr. Zweifellos war er derjenige der Gebrüder Graun, der sich am Hof besser in Szene zu setzen verstand: ein allseits umjubelter Theaterkomponist. Sein Bruder Johann Gottlieb, ein ausgezeichneter Violinvirtuose, der beim Dresdner Geiger Johann Georg Pisendel das Amt des Orchesterleiters von der Pike auf gelernt hatte, er fungierte als Konzertmeister und bezog immerhin ein Jahresgehalt von zwölfhundert Talern. Zeitlebens sollte er im Schatten seines jüngeren Bruders Carl Heinrich stehen. Ein Umstand, den übrigens schon die Zeitgenossen der Gebrüder beklagten. Zum Beispiel jener Pisendel, bei dem Johann Gottlieb Graun als Meisterschüler in die Lehre gegangen war. „Die schönsten und feurigsten mit Douceur melierten Sinfonien“, das lässt Pisendel seinen Freund Telemann wissen, „die sind nicht von dem berühmten Herrn Kapellmeister Graun, sondern von seinem Bruder, dem Konzertmeister.“ Hier ist das Andante aus seinem Concerto D-Dur für Oboe d´amore, Streicher und Basso continuo:

Johann Gottlieb Graun „Andante” aus: Concerto in D-Dur für Oboe d´amore, Streicher und Basso continuo Marcel Ponseele (Oboe d´amore) il Gardellino

Musik vom Konzertmeister der preußischen Hofkapelle: il Gardellino spielte das Andante aus dem Concerto D-Dur für Oboe d´amore, Streicher und Basso continuo von Johann Gottlieb Graun.

Von einer Stellung bei Hofe, wie sie die Gebrüder Graun inne hatten, konnte Carl Philipp Emanuel Bach in den dreißig Jahren seines Wirkens in der preußischen Kapelle nur träumen. Nicht nur dass man ihm eine angemessene Bezahlung

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verweigerte. Während er im bürgerlichen Musikleben Berlins längst ein gefeierter Komponist und umjubelter Clavierist war, bedachte man seine Musik bei Hofe allenfalls mit mildem Applaus und der König selbst, in musikalischen Dingen hoffnungslos konservativ, begegnete ihr mit unverhohlener Geringschätzung. Offenbar war er mit den kompositorischen Extravaganzen seines Cembalisten überfordert. Ganz unschuldig an dieser Geringschätzung war sicher nicht die graue Eminenz des Musiklebens am preußischen Hof: , seit Jugendtagen Mentor und Vertrauter, Intimus, Flötenlehrer und Flötenbauer des Preußenkönigs. Sein Wort zählte. Er war der einzige, der den König kritisieren durfte. Wenigsten gelegentlich. Und vermutlich nicht nur in musikalischen Dingen. Hunderte von Stücken hat er für Friedrich II. komponiert. Hier kommt ein Allegro aus seiner Feder.

Johann Joachim Quantz „Allegro” aus: Sonata in e-Moll für Flöte und Basso continuo Mary Oleskiewicz (Traversflöte) David Schulenberg (Cembalo) Stephanie Vial (Violoncello)

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