Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern

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Radikalisierungsphänomene in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen

Rita Bley, Bernd Borchard, Cathrin Chevalier, Maria-Luisa Waßmann Jakob Reichelt, Moritz Schlegelmilch, Tobias Schollmaier, Henriette Sohns, Sven Hunger, Marcus Huhle, René Diebelt, Laura Blum

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Her- ausgeberin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dr. Marion Rauchert (Herausgeberin) Radikalisierungsphänomen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen

Band 11 Schriftenreihe der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes M-V

1. Auflage 2020

© Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern Goldberger Straße 12-13 18273 Güstrow www.fh-guestrow.de

Printed in Druck und Bindung: Eigendruck

ISBN 978-3-947562-14-5 (Online) ISBN 978-3-947562-15-2 (Printausgabe) ISSN 2568-5775 (Online) ISSN 2701-1089 (Printausgabe)

Digitale Publikationen: http://www.fh-guestrow.de/hochschule/Publikationen/

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Vorwort

Für die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist es außerordentlich wichtig, den Nachwuchs- kräften für den öffentlichen Dienst das erforderliche Wissen zu vermitteln sowie ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu fördern, sich aktiv für den Schutz unserer Demokratie und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Gleichzeitig soll damit ihre demokratische Resilienz gestärkt werden. Auch im Rahmen der Fortbil- dung unterbreiten wir Angebote, um den Beschäftigten Wissen über aktuelle Er- scheinungsformen von Radikalisierung sowie über Zusammenhänge, Präventions- möglichkeiten und Interventionsansätze zu vermitteln.

Wie groß die Herausforderungen sind, erleben wir beinahe täglich. Wir sehen uns vermehrt mit Phänomenen von Radikalisierung konfrontiert, ob im Sprachgebrauch, in sozialen Medien, in der Politik oder in der Gesellschaft. Nicht nur die Sicherheits- behörden befassen sich mit diesen Entwicklungen, sondern auch andere staatliche Stellen sowie viele zivilgesellschaftlichen Akteure.

Wir sind alle mehr denn je gefragt, Radikalisierungstendenzen möglichst frühzeitig zu erkennen und diesen entgegen zu treten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dabei zwingende Voraussetzung. Als Beitrag hierfür wurde durch die Fachhoch- schule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklen- burg-Vorpommern eine interdisziplinäre Tagung konzipiert – Fachtag: Radikal. Ziel ist es, das Thema aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu betrachten und im Diskurs neue Sichtweisen und Ansätze für erfolgreiches Handeln zu gewinnen. Begleitend zum Fachtag ist auch ein Band in der Schriftenreihe unserer Hochschule entstanden. Sie halten ein Exemplar in den Händen.

Ich danke allen beteiligten Hochschulangehörigen sowie den weiteren Akteuren für die engagierte Arbeit und die interessanten und hilfreichen Beiträge aus Sicht der Kriminalpsychologie, der Politikwissenschaft sowie der Kriminologie. Sie basieren ganz überwiegend auf Bachelorarbeiten von Studierenden am Fachbereich Polizei.

Die Fachhochschule wird sich auch weiterhin intensiv mit der Thematik auseinander- setzen und lädt Sie ein, sich auf unserem nächsten Fachtag: Radikal erneut einzu- bringen, denn die Wahrung und Stärkung unserer Demokratie geht uns alle an.

Dr. Marion Rauchert Direktorin der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern

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Inhalt

Kommunikation und psychologische Phänomene im Radikalisierungsprozess …...………….....…………………………………...….... 8 Bernd Borchard, Cathrin Chevalier, Maria-Luisa Waßmann

Abstrakt zur Bachelor-Arbeit: Die Entwicklung des BKA hinsichtlich personeller und konzeptioneller Parallelen zum Dritten Reich .…..….… 27 Jakob Reichelt, Maria-Luisa Waßmann

Phänomen der Radikalisierung im Fußball ..……….…………………..….…. 38 Moritz Schlegelmilch, Cathrin Chevalier

Phänomen Reichsbürger – Im polizeilichen Kontext .…….………….....…. 54 Tobias Schollmaier, Maria-Luisa Waßmann

Politischer Extremismus in Mecklenburg-Vorpommern – Herausforderung von Prävention und die Rolle der Polizei ……...... …. 71 Henriette Sohns, Maria-Luisa Waßmann

Reichsbürger – eine phänomenologische Betrachtung .……….….….…. 92 Sven Hunger, Rita Bley

Rockerkriminalität ...………...………….....………………………….….....…….. 118 Marcus Huhle, Rita Bley

Tätertypen bei rechtsextremistischen Straftaten .……………..….....……. 132 Rita Bley

Völkische Siedler – Mecklenburg-Vorpommern als Wiege einer „Blut und Boden“-Ideologie ...... ………….....……………………………...…...... …. 148 René Diebelt, Maria-Luisa Waßmann

Zur Motivation gewaltbereiter Subkulturen im Fußball - ein Vergleich von Hooligans und Ultras ...………….....………………………………....….…. 163 Laura Blum, Cathrin Chevalier

7 Kommunikation und psychologische Phänomene im Radikalisierungsprozess

Bernd Borchard, Cathrin Chevalier, Maria-Luisa Waßmann

Der Begriff Radikalisierung

Das Problem einer Begriffsbestimmung im Rahmen dieser Thematik ist, dass Radi- kalisierung in sehr unterschiedlichen Kontexten und mit sehr vielschichtigen Be- schreibungen in der Literatur vorliegt. Für Jost (2017) ist die Radikalisierungsfor- schung sogar ein Sammelbecken für Analysen aus soziologischer, psychologischer, kriminologischer, kultur-, politik-, religions- oder militärwissenschaftlicher Perspek- tive. Die nachfolgenden Definitionen und Erläuterungen werden dies eindrücklich dokumentieren. Neben dieser Vielschichtigkeit entsteht ein weiteres Problemfeld durch verwandte Synonyme, die mitunter wiederum in verschiedenen Zusammen- hängen mit eigenen Konstrukten unterlegt sind. Eine Begrifflichkeit, die mit Radika- lisierung oft synonym verwandt und gleichzeitig mit einer abgrenzenden Definition genutzt wird, ist Extremismus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz z.B. differen- ziert wie nachfolgend. „Bei „Radikalismus“ handelt es sich zwar auch um eine über- spitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits „von der Wurzel (lat. radix) her“ anpacken will. Im Unterschied zum „Extremismus“ sollen jedoch weder der demokratische Verfas- sungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien unserer Verfassungsord- nung beseitigt werden.“ Aus diesen Definitionen heraus stellt Extremismus die Zu- spitzung von Radikalisierung und die explizite Gefahr für einen demokratischen Staat dar. Mithin ist der Begriff des Extremismus dazu geeignet, die Grenzüberschrei- tung des demokratisch zulässigen und damit die fundamentale Gegnerschaft zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzuzeigen. Auch Neumann lässt den einen Begriff in den anderen aufgehen. Dieser versteht Radikalisierung nämlich als Prozess, in dem Individuen oder Gruppen extremistisch werden (in Quendt, 2016: S 27). McCauley und Moskalenko zielen ebenso in ihrer Betrachtung auf diesen Prozess ab. Sie sehen in Radikalisierung die Veränderungen eines Individuums auf dessen Verhaltensebenen (Gedanken/Einstellungen, Gefühl und Reaktion), die letztendlich dazu dienen, Gewalt zwischen Gruppen zu legitimie- rem und Opfer für die Gruppe einzufordern (ebd.: S.27).

Zick und Böckler (2015) bezeichnen das Konzept der Radikalisierung sogar als sper- rig. Sie selbst stellen dabei auf die gesamtgesellschaftliche Perspektive ab. Die Au-

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toren wollen Radikalisierung immer in Relation zum vorherrschenden Gesellschafts- system verstanden wissen, in dem sie untersucht wird. Demnach bezeichne Radika- lisierung eher einen Prozess als einen Zustand.

Maurer (2017) geht von einem ideologisierenden Prozess einer Person aus und sieht Radikalisierung als progressive Veränderung der Einstellungen und des Verhaltens, so dass Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele gerechtfertigt und im äußersten Fall auch ausgeübt wird. Dem Autor zufolge geht es dabei um eine kontinuierliche Progression des Denkens und/oder Handelns, die im Ergebnis zu Extremismus führt, d.h. bei dem sich ein Individuum prozesshaft immer weiter von dem allgemeinen Grundkonsens der Gesellschaft hin zu extremistischen Ideologien und Verhaltens- weisen entfernt. Es bestehe dahingehend ein akademischer Konsens, dass sich der Prozess grundsätzlich aus dem Zusammenspiel von Persönlichkeitsfaktoren, Sozia- lisierungseffekten und Gelegenheitsstrukturen sowie weiteren äußeren Einflüssen ergeben kann. Nachvollziehbar verweist Maurer (2017) für die Erklärung extremisti- scher Gewalt dabei auf individualistische Erklärungsansätze, die grundsätzlich auf die psychologischen Prädispositionen, Merkmale und Eigenschaften des Individu- ums fokussieren.

Fischer und Pfundmair (2019) betonen ebenfalls ein Kontinuum, anhand dem die Begriffe Radikalisierung und auch Terrorismus definiert werden können. Radikalisie- rung stelle demnach den Weg zum Terrorismus dar und Terrorismus beschreibe die Ausübung von Gewalt zur Erreichung ideologischer Ziele. Warum sich ein Einzelner aber radikalisiert, sei aus ihrer Sicht noch nicht hinreichend empirisch geklärt. Sehr allgemein formuliert gehen sie von zu berücksichtigenden Faktoren wie Alter, Ge- schlecht und sozioökonomischer Status aus, wobei sich (mit Ausnahme von linkster- roristischen Vereinigungen) meist junge Männer aus niedrigeren sozialen Schichten radikalisieren.

Della Porta/LaFree (nach Quent, 2016: S.41) sehen ebenfalls den Prozesscharakter, verzichten aber eher auf die individualisierte Perspektive. Aus ihrer Sicht entsteht Radikalisierung durch die Interaktion zwischen gewalttätigen Gruppen und ihres so- zialen Milieus oder zwischen verschiedenen verfeindeten Akteuren. Gewalt ist dabei nicht individuell oder gruppenspezifisch zu betrachten, sondern als Ergebnis größe- rer Konflikte oder gesamtgesellschaftlicher Bedingungen zu analysieren. Diese In- teraktion führe im Fortlauf zu einem wechselseitigen Prozess der „Innovation und Adaption“ (ebd.: S.41). Verfeindete Akteure oder Gruppen, die wechselseitig auf sich reagieren, einen Anpassungsprozess durchlaufen und sich darauf aufbauend weiter- entwickeln.

9 Dieser Ausschnitt zur Begriffsbestimmung macht bereits deutlich, wie vielfältig die Ansätze sind, in denen Radikalisierung verortet wird. Gemeinsam ist dabei allen der Prozesscharakter. In der Analyse der Entwicklung sollte daher immer die individuelle, gruppendynamische und gesamtgesellschaftliche Perspektive Berücksichtigung fin- den. Zudem muss der Fokus oder die Gewichtung verdeutlicht werden, wobei den Gruppen nochmal eine besondere Bedeutung zukommt. Nach Quent (2016) sind diese dabei eher als Vermittler zwischen Gesellschaft und Individuum anzusehen. In dieser Schriftenreihe wird Radikalisierung in unterschiedlichen Kontexten beleuchtet und meist dem Vermittler – also der dazugehörigen Gruppe - die größere Aufmerk- samkeit geschenkt. Der nachfolgende Leitartikel stellt zunächst aber insbesondere psychologische und forensisch psychologische Aspekte in den Fokus.

Modelle zur Erklärung von Radikalisierung

Neumann (2016) betont, dass Radikalisierung nicht durch ein allgemeingültiges Mo- dell oder eine für alle Fälle verbindliche Risikofaktoren-Formel erklärt oder sogar prognostiziert werden kann. Wie und aus welchen Gründen ein Individuum den ra- dikalen Weg einschlägt, sehen auch Fischer und Pfundmair (2019) nicht durch eine umfassende Theorie verdeutlicht. Gleichwohl betrachten einige Konstrukte oder Stufenmodelle die Radikalisierungsprozesse als Ablaufsequenzen mit verschiedenen zu durchlaufenden Stationen. (vgl. zur Übersicht Borum 2011).

Fischer und Pfundmair (2019) sehen zwei zentrale Ursachenkomplexe für Radikali- sierungsprozesse: Einerseits scheine eine mangelhafte Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse Menschen zu radikalen Ansichten zu bewegen, andererseits bil- deten intensive Gruppenphänomene und die subjektive Wahrnehmung, dass man selbst ungerecht behandelt wird, die Basis für einen Radikalisierungsprozess (Mo- ghaddam, 2005). Zudem nehme das Streben nach Kontrolle einen wichtigen Aspekt ein. Der Anschluss an eine radikale Vereinigung biete eine einfache Möglichkeit, ei- gene Unsicherheiten zu reduzieren (vgl. auch Lantermann, 2016). Der Wunsch res- pektiert zu werden und „jemand zu sein“, also eine wichtige Funktion im Leben zu haben, bilde eine weitere grundlegende Motivation für Radikalisierung (Kruglanski et al., 2014). Die Gruppenzugehörigkeit als gelebte soziale und kollektive Identität und eine wahrgenommene Gruppenbedrohung seien häufige Katalysatoren im wei- teren Radikalisierungsprozess. Dennoch sind sich viele Autoren darin einig, dass es zudem für den letzten Schritt zur Gewaltanwendung enthemmende Prozesse benö- tigt. Zu nennen sind hier Gewöhnungsprozesse, die bei Moghaddam (2005) psycho- logisches Training oder Desensibilisierung heißen. Damit ist gemeint, dass eigentlich vorhandene und hemmende emotionale und physiologische Reaktionen auf Gewalt

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durch die graduelle Ausübung dieser reduziert werden. Dieses Abbauen innerer Hür- den kann auch über Bilder, Filme oder Gewaltspiele im Internet geschehen und wird von Neumann (2016) als Online-Enthemmung bezeichnet.

Für Jost (2017) stehen die Taten von Radikalisierten jedoch am Ende einer Reihe von Entscheidungen, die getroffen wurden, weil sie mit (emotionalen, identitätsnahen oder materiellen) Zugewinnen verknüpft waren und dadurch Handlungen steuerten.

Er führt in diesem Zusammenhang Modelle an, die im Kern ein entfremdetes Indivi- duum, eine unterstützende Gemeinschaft und eine legitimierende Ideologie im Ra- dikalisierungsprozess sehen. Der Faktor der relativen Deprivation könne als Binde- glied zwischen makroökonomischen Umständen und individueller Gewalt, welche auf Basis der Frustrations-Aggressions-Hypothese erklärt werden, fungieren. Frust- ration führt aber nicht zwangsläufig und immer zu aggressiven Einstellungen oder Verhaltensweisen. Zudem verläuft ein Radikalisierungsprozess nach Maurer (2017) vorwiegend unabhängig von sozioökonomischen Bedingungsfaktoren sowie direk- ten soziopolitischen Wirkgrößen.

Das gesicherte Wissen lässt sich für Jost (2017) in sieben Punkten in Anlehnung an Schmid zusammenfassen. Die Grundannahmen werden dabei aber nur auf die Radi- kalisierung abgestellt:

1. Obwohl ihre Taten gemeinhin als unnormal im moralischen Sinne gelten, sind die meisten Terroristen im klinischen Sinne normal. Auch Die meisten Radi- kalisierten sind nicht psychisch krank (vgl. Maurer, 2017). 2. Es gibt viele Pfade der Radikalisierung und kein universal gültiges Profil. 3. Radikalisierung ist im Allgemeinen ein gradueller Prozess. 4. Armut alleine ist keine Erklärung für Radikalisierung, allerdings könnte Ar- beitslosigkeit von Bedeutung sein. 5. Soziale Missstände spielen eine Rolle, allerdings oft eher als ein Ansatzpunkt und „Hilfsmittel“ zur Mobilisierung denn als persönliche Erfahrung. 6. Die soziale Umgebung und soziale Beziehungsnetzwerke haben eine sehr hohe Bedeutung für den Einstieg in die Szene. 7. Ideologie spielt insofern eine Rolle, als dass sie für den Radikalisierten das „Freund-Feind-Schema“, also eine In-Group („die Guten“) und eine Out- Group („die Bösen“) definiert und Gewalt rechtfertigt.

Einen besonderen Stellenwert nehme in der Radikalisierungsforschung das Kon- strukt der Identität ein. Der Fokus auf den Faktor Identität habe den Vorteil, dass er nahezu per definitionem das Problem der Spezifität berücksichtigte, da die Iden- titätsbildung letztlich ein Prozess auf der individuellen menschlichen Ebene sei.

11 Ergänzt werden könnten die von Jost zusammengefassten Grundannahmen aus Sicht der Autoren noch durch folgende Aspekte:

8. Die Befriedigung des grundlegenden Bedürfnisses des Individuums nach Si- cherheit scheint in Gefahr und der Anschluss an eine (radikale) Gruppe führt zur Kontrolle über die Lebenssituation. 9. Die gewählte Gruppe stellt einen Vermittler zwischen dem Individuum und den problematisch erlebten gesellschaftlichen Prozessen dar. 10. Durch kommunikative und interaktionelle Prozesse wird Gewalt als Mittel zur Wahrung nicht nur für die Gruppe legitimiert, sondern auch beim Einzelnen enthemmt.

Es zeigt sich, dass dem Radikalisierungsprozess ein individueller Entscheidungspro- zess zugrunde liegt, der ein individuelles Erleben als problematisch bewertet. Das Bewältigungsmuster, sich einer radikalen Gruppe anzuschließen, sich mit ihr zu iden- tifizieren und für sie zu agieren, wurde aus der Vielzahl von möglichen Reaktionen ausgewählt. Daher ist es aus Sicht der Autoren unerlässlich, sich mit Risikofaktoren auseinanderzusetzen.

Risikofaktoren für Radikalisierung

Neumann (2016, S. 21) nennt die folgenden Risikofaktoren für Radikalisierung Bau- steine, ohne die es nicht zu einem Radikalisierungsprozess komme, deren Zusam- menspiel je nach Kontext und Ideologie unterschiedlich ausfalle. Zudem seien die Risikofaktoren für sich genommen nicht spezifisch für Radikalisierung und Extremis- mus.

 Frustration (öffnet die Betroffenen für neue, radikale Entwürfe)  Drang (Verknüpfung der radikalen Ideen und Handlungen mit individuellen und sozialen Bedürfnissen)  Ideen (geben den Inhalt der Radikalisierung vor)  Leute (Radikalisierungsprozesse sind meist Gruppenprozesse)  Gewalt (weil Gewalt sich meist als Reaktion auf die Gewalt anderer rechtfer- tigt)

Unter Frustration fasst der Autor den Unmut und die Unzufriedenheiten mit der ei- genen Situation, eine signifikante Diskrepanz zwischen Erwartungen und Erreichtem. Soll der aversive Zustand geändert werden, brauche es weiterhin eine Entfremdung vom bestehenden Status Quo. Mit Bezug auf Wiktorowicz (2005) sieht Neumann (2016) meist ein (ökonomisches, soziokulturelles, politisches oder sehr persönliches)

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Krisenerlebnis als kognitiv entfremdendes und damit das Individuum öffnendes Er- eignis für radikale Ideen. Beim Drang geht es um emotionale unterlegte Bedürfnisse wie der Suche nach Iden- tität, Gemeinschaft, Bedeutung, Ruhm oder Abenteuer. Der Risikofaktor Ideen bzw. Ideologien umfasst Grundannahmen und Zielvorstellun- gen, die das eigene Handeln beeinflussen. Politische Ideensysteme liefern in der Re- gel eine Diagnose (Was ist das Problem und wer ist daran schuld?), eine Prognose (Worin besteht die Lösung?) und Motivation (Warum soll ich mitmachen und was ist meine Rolle?). Für Radikalisierungsprozesse relevante Ideologien «… reduzieren Komplexität, kanalisieren Frust, lenken diesen in eine politische Richtung, artikulie- ren eine Vision und liefern eine Handlungsanleitung» (Neumann, 2016, S. 85). Leute als Risikofaktor meint im Rahmen der Radikalisierung, dass sich bereits ein Großteil der radikalisierten Personen vor der kognitiven und/oder gewaltorientierten Zuspitzung kannten oder sehr in gruppendynamische Prozesse eingebunden waren. Sageman (2004) spricht in diesem Zusammenhang von Loyalität, Hingabe, Aufopfe- rung und Intimität unter Freunden. Schließlich geht es nach Neumann (2016) beim Baustein Gewalt um den Prozess der Gewöhnung, durch den Gewalt normalisiert wird, um staatliche Repression, die zur Rechtfertigung terroristischer Gewalt dienen kann und auch um organisierte, groß- flächige Konflikte wie z.B. Bürgerkriege, die Gewalt kulturell verankern können. Die Funktionen, Rollen und Abläufe, die mit diesen Bausteinen bzw. Risikofaktoren verbunden sind, folgen nicht linear einem Modell oder Algorithmus.

Auch nach Ostwaldt und Coquelin (2018) gehen einer Vereinnahmung durch eine radikale Gruppierung und der damit einhergehenden Ideologisierung komplexe Prozesse voraus, die die Vulnerabilität eines meist jungen Menschen für entspre- chende Gruppierungen begründen können. Ein zentraler Ausgangspunkt ist für die Autoren dabei eine relative Deprivation. Gemeint sind damit einschränkende Fakto- ren, wie z. B. Diskriminierungserfahrungen, Schicksalsschläge oder auch der Gesund- heitszustand, woraus sich die Wahrnehmung ergebe, dass man selbst im Vergleich zu anderen benachteiligt ist. Wird diese frustrierende relative Deprivation nicht durch das Umfeld oder eigene Ressourcen kompensiert, kann eine kognitive Öff- nung folgen (s.o.).

Zick und Böckler (2015) betonen in vier Thesen sowohl individuelle Risikofaktoren als auch den sozial-interaktionellen Faktor im Rahmen von Radikalisierungsprozes- sen.

1. Es handle sich grundsätzlich um einen sozialen Prozess, der zu einer extremen Polarisierung von Gefühlen, Überzeugungen und Verhaltensweisen führe, die

13 mit der gesellschaftlichen Norm inkonsistent ist sowie zu Extremismus und letztendlich zu Gewalt führt.

2. Dieser Prozess sei als Inszenierung verschiedener Elemente der Radikalisie- rung zu bestimmen, die zur Symmetrie drängten. Radikalisierung treibe zur Gewalt und sie liegt nahe, wenn die Inszenierung der Ideologie, die die Ge- walt notwendig macht und zugleich legitimiert, zu den Personen, Gruppen und ihren Handlungen passt. Gewalt wird darüber hinaus vor allem dann wahrscheinlich, wenn Gewaltbarrieren fehlen und Ideologien sich in einer ul- timativen Identität verankert haben. 3. Welche ideologischen Elemente angeeignet werden, hänge von individuellen Präferenzen, sozialen Motiven und Gelegenheitsstrukturen ab. 4. Die Inszenierungen hoch expressiver Gewalt gegen andere, die der Ideologie der Ingroup nicht entsprechen, die Radikalisierung aufhalten oder zur Be- schaffung von Vorteilen für dieIngroup angegriffen werden, sei ein individu- elles Phänomen, das aber nur kollektiv verstanden werden könne.

Die Ausübung extremistischer Gewalt, zu der die Radikalisierung drängt, ist nach Zick und Böckler (2015) letztendlich ein Prozess der Erzeugung von Beziehung durch und von Gewalt. Mit welchen konkreten inter- und intrapersonelle Prozessen und kommunikative Techniken dieser Prozess in Verbindung gebracht werden kann, spielt im Nachfolgenden eine Rolle.

Kommunikative und psychologische Phänomene im Radikalisierungsprozess

Waldmann (2005, S.14-15) geht explizit davon aus, dass z.B. Terrorismus primär eine Kommunikationsstrategie ist. Das terroristische Handeln ist demnach nicht auf den Wert der Zerstörung gerichtet, sondern darauf, möglichst vielen Menschen etwas mitzuteilen. Die Gewalt, die aus seiner Sicht durch „Willkür, Unmenschlichkeit und Brutalität“ geprägt ist, braucht ein geschocktes Publikum. Somit sind Opfer und Pub- likum nicht identisch. Mithin geht es um die Verkündung einer Botschaft und nicht primär um das Besiegen eines Feindes.

Der Fokus bei der Erklärung und Erforschung des Phänomens Radikalisierung sollte auch nach Zick und Böckler (2015) auf die Frage der Botschaft ausgerichtet sein, die die Radikalisierung von Einzelnen wie Gruppen durch Emotionen, Ideologien und Taten explizit wie implizit zum Ausdruck bringt. Es gehe darum, das „expressive Herzstück“ zu identifizieren. Die Autoren weisen auf kommunikative Aspekte wie Szenarien hin, die in Handlungsmanualen festgehalten und für Anhänger, Sympa- thisanten und Interessierte unter anderem im Internet leicht verfügbar gemacht wer- den (Zick und Böckler, 2015). Propagiert würde meist eine Heilswelt, die am Ende der Radikalisierung erreicht werden könne. Zudem gehe es um die Rahmung, also Deutung und Interpretation, des Prozesses als Revolution, Kampf etc., um dadurch

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ein sicheres und stabiles Selbstkonzept zu erlangen. In der Radikalisierungskommu- nikation gehe es um die Interpretation und Darstellung von Gewalt als purer Emo- tion, um die Depersonalisation individueller Identitäten sowie um eine extreme Selbstpräsentation (gelegentlich mit dem Ziel, berühmt zu werden). Letztlich könne es im Radikalisierungsprozess zum Ausbilden und Definieren einer „ultimativen Identität“, d. h. einer Selbstkonzeptualisierung bzw. einer Identität, die sich vollständig nach der Botschaft der Bezugsgruppe ausrichtet und zur Durchsetzung der Ideologie trachtet, gehen. Die Autoren betonen ebenfalls, dass analysiert werden sollte, welche psychischen Prozesse Radikalisierungen vorantreiben, anheizen oder auch blockieren.

Nach Zick und Böckler (2015) bilden sich sukzessiv radikale Strukturen und Interak- tionssysteme heraus, die unabhängig von allen individuellen Erfahrungen und Mo- tiven die Subjekte prägen. Damit wäre ein Grundmodell skizziert, welches die sozi- alpsychologische Dynamik begreift. Sie sehen den Prozess der Radikalisierung als Inszenierung. Es komme zu einer emotionalen Aufladung von Gruppenaktivitäten, wobei die Ingroup-Outgroup-Abgrenzung verschiedene Funktionen habe: Sie bin- det die Mitglieder an die Gruppe, erhöht Kohäsion in dieser und dient der Selbst- vergewisserung. Sie erzeugt Misstrauen gegenüber den „Feinden“ und Wissen über die Notwendigkeit der Radikalisierung. Insbesondere junge Menschen seien empfänglich für neue und zumeist radikale Weltdeutungen und die Tendenz, eine gute und eine böse Seite zu definieren, sei aus psychologsicher Perspektive zutiefst menschlich. Bereits 1995 betonte della Porta nach eigenen Analysen von Radikali- sierungsprozessen die Wichtigkeit des Umfelds und der jeweiligen Gruppenzugehö- rigkeit. Es gehe den Radikalisierten entscheidend um Ansehen, Anerkennung und Belohnung. Gerade junge Menschen suchten Abenteuer, Action, Utopismus, Ener- gie, Autonomie, Experimente und Antworten auf der Suche nach Identität und Treue (vgl. auch Maurer, 2017). Diese interpersonellen Mechanismen erklärten häufig den Beitritt zu einer radikalen Gruppe und die weitere kognitive und behaviorale, verhal- tensgesteuerte Radikalisierung.

Maurer (2017) weist in diesem Zusammenhang auf die essentielle und emotional deutlich unterlegte Rolle des menschlichen Wunsches nach Identität hin. Unter Iden- tität üw rden die normierten Vorstellungen und gedanklichen Modelle eines Indivi- duums über sich selbst in typischen sozialen Situationen und über seine Beziehun- gen zu anderen verstanden. Nach Neumann (2016) ist soziale Identität die Frage nach dem Wer bin ich und dem Wo gehöre ich hin. Der Wunsch nach Identität sei ein bedeutender motivationaler Auslösefaktor für Radikalisierung. Negativ formu- liert führen Status- und Orientierungsverluste, Weltbild- und Sinnkrisen, emotionale Einsamkeit und soziale Ausgrenzung, Diskriminierungserfahrungen und Demüti- gungsgefühle sowie soziale und politische Unzufriedenheit und Frustration mit

15 empfundener Machtlosigkeit zu fundamentalen Identitätskonflikten eines Individu- ums. Diese könnten durch subkulturelle Ideen, extremistische / politische Ideen im Sinn einer alternativen Identitätsbildung kompensiert werden.

Aus einer vor allem psychologischen Perspektive weisen Srowig et al. (2018) darauf hin, dass ein Radikalisierungsprozess häufig eine (sozio-)biografische Funktion habe. Dabei gehe es um die Bewältigung kritischer Lebensereignisse, der Lösung von Ent- wicklungsaufgaben oder der Überwindung einer entwicklungspsychologischen Sta- tuspassage. Häufig spielten sowohl die Reduktion von Unsicherheiten und Iden- titätskonflikten als auch die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse wie Zugehörigkeit und Anerkennung wichtige Rollen.

Die Autoren verweisen auf Studien, die sich zwar auf Persönlichkeitsdispositionen, soziale Umfeldfaktoren oder gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen als primäre Ursache für Radikalisierungsprozesse beziehen aber damit trotzdem nicht der Komplexität von Radikalisierungsprozessen gerecht würden. Mehr Bedeutung hätten aus ihrer Sicht radikalen Mindsets, dessen kognitive Schemata und affektive Zustände Individuen für extremistische Überzeugungen anfällig machten. Ansprech- bar für extremistische Deutungen und Lösungen seien insbesondere unsichere Men- schen mit einer instabilen Identität und unzureichenden kognitiven Bewältigungs- möglichkeiten von Irritationen oder Krisen. Besonders extremistische Gruppen mit ihrem autoritären Führungsstil und ihrer Hierarchie seien geeignet in unsicheren Zei- ten und Phasen eine sichernde und umfassende soziale Identität anzubieten. Dabei bietet ein radikales Umfeld alternative und vor allem einfache Deutungsmuster, die schlicht mit Gut und Böse arbeiten. Schuld am Bösen und an Ungerechtigkeiten sind die Anderen der Außengruppe und alle Probleme lassen sich durch Herabsetzung und Angriff dieser bösen Anderen lösen. Gewaltanwendung ist dabei nur eine Op- tion, gelegentlich bleibt es bei einer kognitiven Radikalisierung.

Jost (2017) zufolge müssten wiederkehrende Muster identifiziert werden, welche die Radikalisierung von Individuen oder Gruppen erklären können. Es müssten Untersu- chungen zu individuellen Radikalisierungsprozessen, insbesondere auf der intra- personalen und inter-personalen Ebene durchgeführt werden. Dabei stehen das In- dividuum und seine kognitiven Denkmuster sowie dessen Interaktion in Kleingrup- pen im Vordergrund

Srowig et al. (2018) weisen darauf hin, dass sich die phänomenologische Beschrei- bung einer psychologisch-differenziellen und klinisch-psychologischen Terminolo- gie unterhalb einer diagnostisch relevanten Schwelle bedient und psychologische Vulnerabilitäten identifizieren will, die einen Radikalisierungsprozess begünstigen. Diesem Ansatz sich im Folgenden bedient.

Eine Persönlichkeitseigenschaft, die per Definition eine gewisse Radikalität beinhal- tet, wird mit dem Borderline-Persönlichkeitsstil in Verbindung gebracht. Dieser zeichnet sich durch extrem ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken und eine damit ein- hergehende eingeengte Weltsicht aus.

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Auch die narzisstische Persönlichkeitsproblematik mit einem übersteigerten Selbst, Grandiositätserleben, Empathiedefiziten und leichter Kränkbarkeit zähle zu den psy- chologischen Vulnerabilitäten.

Ebenso gehörten in diese Gruppe der Auffälligen und Ansprechbaren für Radikali- sierung die dissozial geprägten Menschen, die sich eher von gesellschaftlichen Nor- men und Werten distanzieren oder abweichende Norm- und Wertvorstellungen auf- weisen. Hinzu käme bei Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstilen eine feh- lende Verankerung sozialer Werte und Normen, sowie ein ausgeprägtes Sensation Seeking Behavior, mit dem Drang nach ständig neuem Erleben und Aufregung, Dro- genmissbrauch, Impulsivität und Gewaltbereitschaft.

Die autoritäre Persönlichkeitsei ein weiteres Konstrukt, das bei Radikalisierungspro- zessen eine Rolle spielen könne. Sie zeichne sich durch rigide Denkstile, Unterwürfig- keit und narzisstische Identifikation mit autoritären Führungspersonen und einer ausgeprägten Bedrohungssensitivität aus. Letzteres Phänomen kann sich bis zu ei- nem paranoiden Misstrauen mit subjektiv erlebten Feinden und feindlichen Hand- lungen im gesamten Umfeld des Betroffenen steigern. Ein ausgeprägtes Bedro- hungserleben hat in der Regel Emotionen wie Angst, Wut oder Aggression zur Folge. Ist das Bedeutungserleben der eigenen Person Teil der Bedrohungssituation, kämen Mechanismen zur Wiedererlangung dieser durch Aneignung extremistischer Denk- inhalte nach der Quest for Significance Model zum Tragen (Kruglanski et al. 2014). Dieses Modell geht davon aus, dass Individuen grundsätzlich auf der Suche nach und mit dem Erhalt dessen beschäftigt sind, was nach ihren – oftmals kulturell de- terminierten – Werten für sie wichtig ist, wozu auch ihre eigene Stellung und Bedeu- tung in der Gesellschaft gehört. Wird die gesellschaftliche Bedeutung als bedroht erlebt, führe dies zu einem Deprivationserleben und einer beeinträchtigten Rea- litätsprüfung. Daran schließe sich eine nahezu wahnhafte Suche nach einer Gelegen- heit für einen Bedeutungsgewinn an. Eine polarisierte Weltsicht könne einen solchen Bedeutungsgewinn symbolisieren, so die Lücke der wahrgenommenen Bedeutungs- losigkeit schließen und damit das sogenannte Need for Closure, d. h. ein Bedürfnis nach klaren, abgeschlossenen und scheinbar bedeutungsvollen Antworten bedie- nen.

Anknüpfend an die o.g. Überlegungen zur Rolle von Gruppenzugehörigkeit und Ge- meinschaftserleben finden sich bei Maurer (2017) zentrale Aspekte zur Kommunika- tion und (Sozial-) Psychologie der Gruppe im Radikalisierungsprozess. (Es gibt zwar Fälle von individueller Selbstradikalisierung, jedoch ist Radikalisierung maßgeblich ein Gruppenphänomen).

In der Gruppe wird demnach im Rahmen eines sogenannten Framings, ein bestimm- ter Inhalt durch bestimmte Deutungs- bzw. Interpretationsschemata selektiv betont und akzentuiert. Framing sei damit eine Vorstufe der Indoktrination, der vehemen- ten manipulativen Ideologisierung und gezielten Radikalisierung des Individuums

17 (Neumann 2016). Es komme zu einer starken Interdependenz der Mitglieder mit ho- her gegenseitiger Kontrolle und gleichzeitiger sozialen Abschottung. Die Gruppe wird sukzessive zur einzigen Quelle der sozialen Identität. Dadurch fallen auch ge- mäßigte Einflüsse von außen weg, die den Radikalisierungsprozess aufhalten könnten (Sageman, 2004). Kommunikativ falle zudem eine zunehmende argumen- tative Verdichtung auf. Kein Gruppenmitglied möchte dauerhaft unter der durch- schnittlichen Gruppenmeinung liegen (dies wäre schlecht für den Gruppenstatus). Um das zu vermeiden und um von der Gruppe gemocht zu werden, ist eine erprobte Strategie, immer mal wieder eine Meinung, die der Gruppenmeinung ähnelt zu äu- ßern, die etwas extremer ausfällt. So werden der Gruppenkonsens und die Gruppen- kohäsion stabilisiert und es kann eine den Status verbessernde Vorreiterrolle einge- nommen werden. Gemeinschaftserleben und Statusverbesserung sind somit gut wahrnehmbare Belohnungen; die Gruppenidentität ersetzt immer mehr die ur- sprüngliche (unsicher) Identität. Somit kann die verwendete kommunikative Strate- gie dazu führen, dass die Gruppe zu immer extremeren Positionen neigt.

Maurer (2017) verweist in diesem Zusammenhang auch auf den internen und exter- nen Konkurrenzkampf. Im gruppeninternen Wettstreit um die radikalsten Positionen biete der Vorschlag zur Gewaltanwendung dem Einzelnen die Möglichkeit, sich mit extremsten Handlungsmuster nachhaltig zu positionieren und zu profilieren. Dadurch könnten innerhalb der Gruppe starke Konflikte entstehen, die sich zu einem Konkurrenzkampf entwickeln. Dies führe gelegentlich zu einer Aufspaltung der Gruppe oder im schlimmsten Falle zu einer dynamischen Steigerung der Gewaltbe- reitschaft aller Gruppenmitglieder, einem eskalierenden Kampf um Extreme. Extre- mistische Gruppen stünden oft mit anderen Gruppen, die sich auf eine ähnliche Ide- ologie stützen, in direkter Konkurrenz. Dieser Konkurrenzkampf speise sich aus dem Statusstreben der Gruppe innerhalb eines radikalen Umfeldes, dem damit verbun- denen Rekrutierungspotential sowie dem Wettbewerb um Unterstützer, Sympathi- santen und Ressourcen (Maurer, 2017). Diese Wechselbeziehungen und Interaktio- nen mit dem politischen Gegner und Eskalationseffekte der Gruppe würden insbe- sondere gegen Ende des Radikalisierungsprozesses wirken.

In allen analysierten Interaktions- und Kommunikationsprozessen kommt insbeson- dere den Führungspersonen eine besondere Rolle zu. Die Führungspersonen der Gruppe, die die beschriebene Strategie intensiv einsetzen, nutzen ihre soziale At- traktivität und Autorität, um gewalttätige Aktionen ideologisch zu legitimieren (Neumann 2016). Häufig gehe es im letzten Schritt der Gewaltanwendung eher um Liebe zur Gruppe und nicht um Hass auf andere (Sageman 2004).

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Forensisch-psychologisches Zusammenspiel der individuellen Risikofaktoren

Was es schwierig macht, Radikalisierung zu erkennen und zu bekämpfen, ist, dass keiner der Bausteine so außergewöhnlich ist wie ihr Ergebnis (Neumann, 2016, S. 238)

Es sollte deutlich geworden sein, dass es kein einheitliches Merkmal oder klares Pro- fil gibt, nach dem extremistische oder gewaltbereite Personen ausgemacht werden könnten (s.a. Neumann, 2016). Auch wenn Ähnlichkeiten und gemeinsame Elemente in vielen Radikalisierungsprozessen zu erkennen seien, lassen sich doch sehr indivi- duell unterschiedliche (Typen-)Muster und Verläufe abbilden. Es gilt, das jeweilige Zusammenspiel der vorliegenden Risikofaktoren zu beschrieben, statt schlicht ein Prognoseinstrument einzusetzen oder eine umfassende Theorie für alle Betroffenen bereit zu halten. Die meisten Autoren sind sich einig darin, dass Risikofaktoren, die auf den unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielen, in einer dynamischen Wech- selwirkung zueinander stehen. Erfahrungen wie z. B. individuelle Missachtungs- und Desintegrationserfahrungen führten zu einer Nähe zu anderen Personen, die über ähnliche Erfahrungen verfügen und ihre Überzeugungen teilen (Zick & Böckler, 2015). Das Zusammenspiel identifizierter oder bekannter Risikofaktoren ist weder streng kausal noch statisch. Mithin zeigt sich (auch) im Feld der Radikalisiserungs- forschung ein Spezifitätsproblem.Maurer (2017) weist ebenfalls darauf hin, dass sich Individuen und Gruppen durch das Zusammenspiel multipler Bausteine, die in un- terschiedlichster Weise in komplexer Weise zusammenwirken, bis hin zur Anwen- dung von Gewalt radikalisieren.

Nach Neumann (2016) ist Radikalisierung ein fragiler Prozess, der von einer Vielzahl von Faktoren, Einflüssen und Ereignissen abhängt, die von keinem Algorithmus und keiner Theorie systematisch erfasst werden können. Um trotzdem eine gewisse Strukturierung und eine nachvollziehbare Operationalisierung herzuleiten, wird für die Psychologie dieses Prozesses der forensisch-psychologische Ansatz von Kropp und Hart (2019) vorgestellt. Möglicherweise kann damit ein Beitrag zur von Neumann (2016) geforderten Typenmusteranalyse geleistet werden.

Kropp und Hart (2019) betonen, dass Risikofaktoren im psychologischen Entschei- dungsprozess verschiedene kausale Rollen spielen können. Sie können motivieren, enthemmen oder destabilisieren. Motivatoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Gedanken an Gewalt entstehen oder die wahrgenommenen Vorteile von Ge- walt stärker fokussiert werden. Disinhibitoren (Enthemmer) verringern die Wahr- scheinlichkeit, dass Gedanken an Gewalt verdrängt werden oder reduzieren die

19 wahrgenommenen negativen Folgen von Gewalt. Destabilisatoren stören oder des- organisieren die Fähigkeit von Menschen, ihre Entscheidungen aufmerksam zu re- flektieren und zu kontrollieren.

Zu Motivatoren führen die Autoren weiter aus, dass damit Risikofaktoren gemeint sind, die im Einzelfall folgende Fragen beantworten sollen:

Welche Faktoren haben die Denkprozesse der Person so verzerrt, dass Gewalt wie eine angemessene Reaktion erscheint?

Welche Faktoren produzieren Gedanken an Gewalt?

Welche Faktoren haben die von der Person wahrgenommenen Vorteile von Gewalt erhöht?

Was wollte die Person erreichen, indem sie gewaltsam handelt?

Motivatoren spiegeln die Wünsche, Absichten, Wahrnehmungen und Überzeugun- gen des Täters wider. Einige zentrale Motivatoren, die Gewalt zugrunde liegen, sind:

 Verteidigung, Distanz, Selbstschutz, Schutz Anderer: Ziel ist hier, Menschen fernzuhalten oder zu neutralisieren, die als Bedrohung wahrgenommen wer- den. Die Betroffenen haben vielleicht das Gefühl, dass sie keine andere Wahl hatten, als Gewalt anzuwenden.  Gerechtigkeit, Ehre, Rache, Vergeltung, Rache: Ziel ist hier, Menschen zu be- strafen, die in der Wahrnehmung des Betroffenen gegen eine wichtige Norm verstoßen haben. Gewalt kann dabei sogar als moralischer Imperativ angese- hen werden - nicht etwas, was sie tun wollen, sondern etwas, was sie tun müssen.  Gewinn, Profit, Besitz: Ziel ist hier, von anderen Menschen gegen ihren Willen ein konkretes oder materielles Gut, wie Geld oder Eigentum, zu bekommen oder zu beschaffen. Täter wollen einfach das, was andere haben, diesen weg- nehmen.  Kontrolle: Ziel ist hier, einen Konflikt oder Streit zu gewinnen, indem man an- dere Menschen zwingt, sich zu fügen oder zu unterwerfen. Betroffenen haben den Eindruck, dass dies der beste oder einzige Weg ist, um das zu bekommen, was sie wollen oder um zu erreichen, dass andere etwas tun müssen.  Status, Wertschätzung, Dominanz: Ziel ist hier, das Selbstwertgefühl zu erhö- hen, indem man die Dominanz über andere Menschen ausübt und dadurch das Gefühl von Macht oder Kontrolle oder das Ansehen in der Öffentlichkeit erhöht. Einfach ausgedrückt, kann Gewalt dazu führen, dass sich Betroffene mit sich selbst besser fühlen - stärker, härter, mächtiger und wichtiger als an- dere zu sein.

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 Befreiung, emotionaler Ausdruck, Katharsis, Erleichterung: Ziel ist hier, starke oder aufgestaute Emotionen zu entladen. Betroffene wollen Gewalt anwen- den, um mit aversiven Gefühlen umgehen zu können, die sie als überwälti- gend empfinden oder die sie alleine nicht bewältigen können.  Erregung, Aktivität, Aufregung, Stimulation: Ziel ist hier, sich physiologisch oder psychologisch zu stimulieren. Betroffene suchen Gewaltanwendung, um Gefühle der Leere oder Langeweile zu vermeiden oder loszuwerden, einen "Adrenalinschub" zu erleben oder sich "lebendig" zu fühlen.  Nähe, Zugehörigkeit, Konformität, Gehorsam: Ziel ist hier, zwischenmensch- liche Bindung oder Gruppenzusammenhalt durch Gewalt aufzubauen oder zu stärken. Betroffene glauben, dass Gewalt der einzige oder beste Weg ist, eine Beziehung zu einer anderen Person aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, o- der sie können Gewalt anwenden, um Loyalität oder Respekt vor einer Auto- rität zu demonstrieren.

Diese Motivatoren sind nach Kropp & Hart (2019) keine Risikofaktoren für Gewalt, sondern die psychologischen Mechanismen, mit denen Risikofaktoren die Entschei- dung zur Gewaltanwendung beeinflussen können.

Drei Aspekte zu Motivationslagen für Gewalt sind dabei zu beachten:

Erstens kann Gewalt mehrere Motivatoren haben. Tatsächlich ist dies bei den meis- ten Gewalttaten der Fall; multiple Motivatoren sind die Regel, nicht die Ausnahme. Je mehr der subjektive Nutzen von Gewalt wahrgenommen wird, desto wahrschein- licher ist es, dass dieser die wahrgenommenen Kosten überwiegen und die Person gewalttätig handeln lässt.

Zweitens können sich die Motivatoren für Gewalt im Laufe der Zeit ändern, mitunter auch im Verlauf eines einzigen Gewalttatbestandes.

Drittens erfassen wir Motivationslagen für Gewalt nie mit letzter Sicherheit. Aus dem, was uns die Menschen sagen, aus ihrem Verhalten und aus den Umständen, unter denen sie Gewalt begangen haben, können wir die Motivatoren für Gewalt nur ab- leiten.

Zu Disinhibitoren (Enthemmern) finden sich bei Kropp & Hart (2019) die folgenden Fragen:

Welche Faktoren haben die Reflektions- und Entscheidungsprozesse der Person so verzerrt, dass sie normale Hemmungen gegen Gewalt überwunden haben?

Welche Faktoren machten es für die Person schwierig, Gewaltgedanken selbst zu zensieren?

21 Welche Faktoren verminderten die von der Person wahrgenommenen Kosten oder die negativen Folgen von Gewalt?

Welche Faktoren führten dazu, dass die Person Gewalt rechtfertigt oder entschul- digt?

Risikofaktoren, die als Disinhibitoren fungieren, verzerren oder verfälschen systema- tisch Gewaltentscheidungen, reduzieren die wahrgenommenen Kosten oder nega- tive Folgen. Einige der wichtigsten Enthemmer sind:

 Negative Einstellungen: Gemeint sind damit die sozialen, politischen, spiritu- ellen oder anderen persönlichen Überzeugungen der Menschen, die Gewalt unterstützen oder dulden. Positive Einstellungen oder ein starker Moralkodex lassen Gewalt nicht als eine vernünftige und umsetzbare Option erscheinen; aber negative Einstellungen oder das Fehlen eines starken Moralkodex ent- schuldigen oder rechtfertigen Gewalt. Negative Einstellungen sind manchmal ein eigenständiger Risikofaktor, der spezifische Einstellungen widerspiegelt, die eine Person entwickelt oder akzeptiert (im Radikalisierungsprozess in der Regel die Idee; s. Neumann, 2016); manchmal können sie aber auch mit Per- sönlichkeitsproblemen (z.B. oppositionelle oder prokriminelle Einstellungen im Zusammenhang mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen) oder traumati- schen Erfahrungen (z.B. körperlicher oder sexueller Missbrauch in der Kind- heit) in Verbindung gebracht werden.  Negatives Selbstverständnis / Selbstkonzept: Gemeint ist die Sichtweise oder das Selbstverständnis / Selbstkonzept, dissozial, rebellisch, schlecht oder so- gar böse zu sein. Die meisten Menschen sehen sich selbst als anständig oder gut an und der Gedanke, Gewalt anzuwenden, wäre mit einem positiven Selbstverständnis unvereinbar. Gewalt ist nicht unvereinbar mit einem nega- tiven Selbstkonzept; in der Tat kann Gewalt völlig im Einklang mit einem ne- gativen Selbstkonzept stehen. Negatives Selbstverständnis kann mit Dingen wie traumatischen Erfahrungen (z.B. körperlicher oder sexueller Missbrauch in der Kindheit) oder Persönlichkeitsproblemen (z.B. gestörtes Selbstkonzept im Zusammenhang mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen) im Zusammen- hang stehen.  Entfremdung: Gemeint ist ein Mangel an sozialer Integration. Menschen ha- ben etwas zu verlieren, wenn sie sozial integriert sind - die Liebe oder der Respekt für Familie, Freunde, Nachbarn oder Mitarbeiter, ihre Arbeitsplätze, ihre finanzielle Sicherheit oder ihre Häuser. Menschen, die keine guten sozi- alen Beziehungen, keine Arbeit oder keinen festen Wohnsitz haben, haben nichts zu verlieren auch nicht durch Gewaltanwendung. Entfremdung kann mit Beziehungsproblemen (z.B. Mangel an enger persönlicher Beziehung), Beschäftigungsproblemen (z.B. chronische Arbeitslosigkeit), schweren psy-

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chischen Störungen (z.B. sozialer Rückzug bei Schizophrenie) oder Persön- lichkeitsproblemen (z.B. chronische Wut oder soziale Kompetenzdefizite, die Beziehungen oder Beschäftigung beeinträchtigen) verbunden sein.  Nihilismus: Gemeint ist ein Mangel an Zukunftsgefühl. Menschen, die das Gefühl haben, dass ihr Leben vorbei ist (bildlich oder wörtlich) oder dass die Zukunft nichts für sie bereithält, haben auch nichts zu verlieren, wenn sie Ge- walt anwenden. Entfremdung kann mit Beziehungsproblemen (z.B. plötzlicher Verlust des sozialen Unterstützungsnetzes), Beschäftigungs- und Finanzprob- lemen (z.B. plötzlicher Verlust eines Arbeitsplatzes) oder sogar mit schweren psychischen Störungen (z.B. Depression) verbunden sein.  Mangelnde Einsicht: Gemeint ist ein Mangel an Bewusstsein oder Verständnis für die moralische Unrechtmäßigkeit von Gewalt oder die möglichen physi- schen oder psychischen Schäden, die durch Gewalt verursacht werden. Man- gelnde Einsicht kann mit Aspekten wie negativen Einstellungen, traumati- schen Erfahrungen, Persönlichkeitsproblemen (z.B. Selbstbezogenheit im Zu- sammenhang mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung) oder sogar schweren psychischen Störungen verbunden sein.  Fehlende Schuld, fehlende Angst, fehlende Empathie: Gemeint sind emotio- nale Defizite, die Menschen vor, während oder nach Gewalttaten unbesorgt machen. Sie können mit mangelnder Einsicht verbunden sein, z.B. mit Dro- genkonsumproblemen, negativen Einstellungen, traumatischen Erfahrungen, Persönlichkeitsproblemen (z.B. antisoziale oder psychopathische Persönlich- keitsstörung) oder schweren psychischen Störungen (z.B. traumatische Hirn- verletzung, Autismus-Spektrumstörung).

Disinhibitoren sind wie Motivatoren die Mechanismen, mit denen Risikofaktoren die Gewaltbereitschaft beeinflussen können. Die Aufgabe im Einzelfall ist, festzustellen, welche der Risikofaktoren vorliegen und in Bezug auf Radikalisierung und Gewalt- anwendung enthemmen.

Destabilisatoren sind nach Kropp & Hart (2019) Risikofaktoren, die mit folgenden Fragen verbunden sind:

Welche Faktoren haben die Reflektions- und Entscheidungsprozesse der Betroffe- nen so beeinträchtigt, dass es schwierig war, logisch oder systematisch über radikale Inhalte und Verhaltensweisen sowie über Gewaltanwendung nachzudenken?

Welche Faktoren haben die grundlegenden kognitiven Funktionen gestört?

Welche Faktoren hinderten die Betroffenen daran, Alternativen zur Gewalt oder die Folgen von Gewalt angemessen zu berücksichtigen?

23 Die wichtigsten destabilisierenden Mechanismen sind nach von Kropp & Hart (2019) grundlegende Störungen in der fundamentalen oder übergeordneten Informations- verarbeitung, wie z.B.:

 Gestörte Aufmerksamkeit: Gemeint ist die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren oder aufrechtzuerhalten.  Gestörte Wahrnehmung: Gemeint sind Probleme bei der Wahrnehmung oder dem Sinn für die Umgebung, wie z.B. das Nichtsehen von Dingen, die da sind, oder das Hören von Dingen, die nicht da sind.  Beeinträchtigtes Gedächtnis: Gemeint sind Probleme beim Erinnern, wie z.B. vergessen oder ungenau erinnern, was passiert ist.  Beeinträchtigte Intelligenz, verminderte rationale Prozesse: Gemeint sind Probleme mit dem Denken oder der Problemlösung, wie z.B. die Unfähigkeit, eine Situation zu verstehen oder klar darüber nachzudenken.  Impulsives Denken: Gemeint ist die Unfähigkeit, die Gedanken zu fokussieren, so dass sie scheinbar rasen oder von Thema zu Thema springen.  Unflexibles Denken: Gemeint ist die Unfähigkeit, die eigenen Gedanken zu defokussieren, so dass sie an einem Thema hängen bleiben (d.h. perseverie- rend oder zwanghaft erscheinen).

Mit diesen forensisch-psychologisch bewährten Themen und Funktionsweisen von identifizierten Risikofaktoren lassen sich möglicherweise in Kombination mit den vorliegenden Modellen, Erkenntnissen und Bausteinen des Radikalisierungsprozes- ses individualisierte Fallkonzepte erstellen. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass dieser Vorschlag dabei hilft, prägnant und nachvollziehbar zu formulieren, wie sich Menschen radikalisieren und welche psychologischen Funktionen damit erfüllt wer- den sollen bzw. eine zentrale Rolle spielen. Auch hierbei handelt es sich nicht um eine Formel, aber um einen Strukturierungsvorschlag mit psychologischen Mecha- nismen, die auch für die Präventions- und bzw. Ausstiegsarbeit bei Radikalisierungs- phänomenen Verwendung finden könnte.

Wichtig zu erwähnen ist aber, dass bei jeder Analyse verdeutlich werden muss, wel- che Perspektive dabei eingenommen wird und welcher Bezugsrahmen gelten soll.

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Abstrakt zur Bachelor-Arbeit: Die Entwicklung des BKA hinsichtlich personel- ler und konzeptioneller Parallelen zum Dritten Reich

Jakob Reichelt, Maria-Luisa Waßmann

1. Einleitung

Das heutige Bundeskriminalamt (BKA) nimmt im Prozess der Kriminalitätsbekämp- fung eine übergeordnete Rolle ein. Es koordiniert die Zusammenarbeit der Landes- kriminalämter und fungiert als Zentralstelle grenzüberschreitender polizeilicher Tä- tigkeiten. Seit der Gründung des Institutes im Jahre 1951 hat sich die Behörde eine exponierte Stellung auf dem Gebiet der internationalen Verbrechensbekämpfung erarbeitet.1

Anlässlich dieser bemerkenswerten Entwicklung fokussierte sich der Schwerpunkt der hier vorgestellten Arbeit auf den behördlichen Ausbau des BKA in deren Grün- dungsjahren. Ziel war es herauszuarbeiten, inwiefern die Entwicklung der Behörde durch personelle und konzeptionelle Einflüsse der ehemaligen Ordnungs- und Si- cherheitspolizei des Dritten Reichs geprägt wurde und durch welche Umstände diese Prozesse geschehen konnten. Neben der Durchführung von Literaturrecher- chen bildete die Sichtung und Auswertung verschiedenster Aktenbestände aus dem Bundesarchiv Koblenz den methodischen Schwerpunkt dieser Arbeit.

1.1 Rolle der Polizei im Nationalsozialismus

Die Beantwortung der Frage hinsichtlich der Rolle der Polizei im Nationalsozialismus stellte die Ausgangslage dieser wissenschaftlichen Bearbeitung dar. Durch Literatur- recherchen konnte einerseits der Aufstieg des deutschen Sicherheitsapparates zum wichtigsten Machtinstrument der Nationalsozialisten belegt werden. Andererseits konnte die aktive Beteiligung sogenannter Polizeibataillone an dem Prozess der Massenvernichtung anhand historischer Ereignisse konkret beschrieben werden. Speziell wurden die Verbrechen des 101. Reserve-Polizei-Bataillons in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten dargestellt. Vor allem die Auswirkungen der Aktion „Erntefest“ im Jahre 1943, wobei unter Anteilnahme des 101. Reserve-Polizei-Batail- lons 43.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder systematisch ermordet worden,

1 Vgl. BKA; Artikel: Zentralstellen des Bundeskriminalamtes; abrufbar über: https://www.bka.de/DE/UnsereAuf- gaben/Aufgabenbereiche/Zentralstellen/zentralstellen_node.html; Stand: 27.05.2020

27 symbolisierte einen Höhepunkt der verbrecherischen Aktivitäten durch die deutsche Polizei.2

1.2 Notwendigkeit eines Bundeskriminalamtes in der BRD

Als weiteres Ergebnis konnte die Auftaktphase im Entwicklungsprozess einer Bun- deskriminalbehörde der westlichen Besatzungszonen gezeigt werden. Ziel sollte es sein, im Zuge durchgeführter Literaturrecherchen eine detaillierte Darstellung da- maliger Zustände ermöglichen zu können, welche die Gründung eines BKA rechtfer- tigen sollten. Hierbei konnte belegt werden, dass sich nach 1945 in kürzester Zeit schwerwiegende Missstände entwickelten. Fehlende Infrastruktur und wachsende wirtschaftliche Notstände schufen weitreichende Brennpunkte für delinquentes Ver- halten innerhalb aller Bevölkerungsschichten der westlichen Besatzungszonen. Spe- ziell konnte das Phänomen der zunehmenden Professionalisierung des Verbrecher- tums dargestellt werden, welches maßgeblich Einfluss auf die Entstehung dieser Missstände nahm.3 Als Ergebnis konnte ein systematischer Anstieg damaliger Krimi- nalstatistiken in dem Bereich der Eigentumsdelikte festgestellt werden.4 Aufgrund der dargestellten Zustände und um eine effektive Bekämpfung dieser ermöglichen zu können, beschloss der Deutsche Bundestag nach einer langen Diskussionsphase und auf äußerem Druck durch die Militärgouverneure das Gesetz zur Errichtung ei- nes Bundeskriminalpolizeiamtes vom 08. März 1951, in dessen Wortlaut die Grün- dung des BKA fundiert wurde.5

1.3 Amnestie und Rehabilitation in der BRD

Im weiteren Verlauf stellte sich nun die Frage, wodurch eine Beschäftigung belaste- ter Personen im BKA erst ermöglicht werden konnte. Im Zuge durchgeführter Lite- raturrecherchen wurde eine mangelhafte Durchführung des sogenannten Entnazifi- zierungsverfahrens als Ursache festgestellt. Die ursprüngliche Intention, sämtliche

2 Vgl. Schwindt, Barbara; Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek: Funktionswandel im Kontext der Endlösung; Verlag Königshausen & Neumann; Würzburg; 2005; S. 268-280. 3 Vgl. Mörchen, Stefan; Echte Kriminelle und zeitbedingte Rechtsbrecher: Schwarzer Markt und Konstruktionen des Kriminellen in der Nachkriegszeit; In: Werkstatt Geschichte 42; Klartext Verlag; Essen; 2006; S. 58-59. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Mergen, Armand; Die BKA Story; S.73-75.

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ideologische Veranlagungen des Nationalsozialismus aus den Köpfen der Bevölke- rung und des Beamtenapparates entfernen zu wollen, konnte aufgrund fehlender Tiefgründigkeit des Prozesses nicht realisiert werden.6

1.4 Spruchkammerverfahren des Paul Dickopf

Kernstück der Entnazifizierung bildete das sogenannte Spruchkammerverfahren, in- dem eine Klassifizierung beteiligter Personen durchgeführt wurde. Demnach sollte durch diesen Prozess eine korrekte vergangenheitsorientierte Einstufung aller Be- troffenen ermöglicht werden. Stattdessen kam es zu Fehleinstufungen belasteter Personen in die Kategorie der Entlasteten, wodurch eine Wiederbeschäftigung im Staatsdienst ermöglicht werden konnte. Zur näheren Verdeutlichung damaliger Pro- zesse wurde der Ablauf des Spruchkammerverfahrens von Paul Dickopf beispielhaft dargestellt. Hierbei fiel auf, dass der Betroffene durch das Verfälschen von Lebens- läufen einen positiven Verfahrensausgang anstrebte. Trotz des Vorhandenseins di- verser Unstimmigkeiten und Widersprüchen innerhalb der eingereichten Dokumen- tensätze wurde der Betroffene in die Kategorie der Entlasteten eingestuft und das Entnazifizierungsverfahren wurde als beendet angesehen. Im Zuge der Analyse der Gerichtsakten von Paul Dickopf konnten mehrere Kopien sogenannter Persilscheine gesichtet werden, welche maßgeblich Einfluss auf den Ausgang damaliger Verfahren nahmen. Die Dokumente, meist von hochrangigen Vertretern der Alliierten unter- zeichnet, schilderten dem Leser eine Verharmlosung ehemaliger Taten des Betroffe- nen zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Falle Dickopf erfüllten die Dokumente ihr Ziel und das eingeleitete Spruchkammerverfahren wurde innerhalb von 16 Tagen trotz vorhandener Widersprüche zu seinen Gunsten abgeschlossen.7 Somit stand ei- ner Wiederbeschäftigung im Staatsdienst nichts mehr im Wege.

2. Personelle Kontinuitäten zur Vorgängersituation

Die Suche nach eventuellen personellen und konzeptionellen Kontinuitäten des BKA in deren Gründungsjahren symbolisierte den thematischen Schwerpunkt dieser Ar- beit. Den methodischen Kern bildeten die verschiedenen Aktenbestände aus dem Bundesarchiv Koblenz. Hierbei handelte es sich um die persönlichen Nachlässe des

6 Vgl. Benz, Wolfgang; Artikel: Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung; In: Bundeszentrale für politische Bildung; 2005; abrufbar über: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-national- sozialismus/39605/entnazifizierung-und-erziehung?p=all; Stand: 27.05.2020. 7 BArch Koblenz N 1265/9.

29 Paul Dickopf sowie die Personaldokumente der Behörde aus deren Gründungsjah- ren. Der erste Abschnitt dieser Bearbeitung befasste sich mit der Suche nach even- tuellen personellen Kontinuitäten.

2.1 Kriminalpolizeiamt für die Britische Zone (KPABrZ)

Im Fokus der ersten Betrachtung stand das Kriminalpolizeiamt für die Britische Zone (KPABrZ). Die 1946 gegründete Behörde nahm maßgeblich an der personellen Ge- staltung des 1951 gegründeten BKA teil. Ziel dieses Abschnittes sollte es sein, im Zuge einer wissenschaftlichen Untersuchung, die Einflüsse des KPABrZ auf die per- sonelle Entwicklung der Nachfolgebehörde chronologisch darzustellen. Da der Großteil des Personalstandes des KPABrZ 1951 geschlossen in das BKA übernom- men wurde, stellte sich nun die Frage, inwiefern es sich bei den Mitarbeitern um belastete Personen gehandelt haben könnte.

Aus den Dokumentensätzen kristallisierte sich heraus, dass der Grundstock des KPABrZ im Jahre 1946 aus 48 Mitarbeitern bestand, welchen eine Beamtentätigkeit im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) nachgewiesen werden konnte. Hierbei fiel je- doch auf, dass ein Großteil dieser Gruppierung lediglich in ein Angestelltenverhältnis im KPABrZ eingestuft wurde. Somit stellte sich die Frage, warum diese „erfahrenen“ Mitarbeiter lediglich als Büroangestellte in der neuen Behörde beschäftigt wurden, anstatt Sie erneut in das Beamtenverhältnis zu berufen.

Naheliegend wäre die Theorie, wonach die Einstellung ehemaliger Beamte in das Angestelltenregister des KPABrZ einer wirksamen Methode glich, um effektiv belas- tete Persönlichkeiten in die Behörde zu integrieren. Begründen ließe sich diese Schlussfolgerung aus der historischen Bedeutung des RKPA, wo alle 48 Personen zu Kriegszeiten beschäftigt wurden. Es wurde verdeutlicht, dass das RKPA maßgeblich an der Verfolgung und Ermordung der vom Regime geächteten Gruppierungen be- teiligt war. Aufgrund dieser Tatsache und um eine öffentliche Untersuchung be- troffener Personen zu vermeiden, kam es lediglich zu einer Einstellung in ein Ange- stelltenverhältnis. Die Vergabe eines Beamtenstatus hätte zusätzliche politische Hür- den geschaffen, wo durch die Gefahr einer Veröffentlichung begangener Taten ge- stiegen wäre. 8

8 BArch Koblenz N 1265/31.

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2.2 Eingliederungsverlauf der Führungsebene des KPABrZ

Um der Theorie zusätzlichen Halt zu verschaffen wurde im anschließenden Abschnitt die ehemalige Führungsebene des KPABrZ einer näheren Untersuchung unterzogen. Im weiteren Verlauf dieser Bearbeitung fiel auf, dass ein Großteil der Führungsebene des KPABrZ bei Gründung des BKA geschlossen in hohe Positionen innerhalb der Behörde übernommen wurde. Hierbei stellte sich erneut die Frage, inwieweit es sich bei diesen Beamten um belastete Personen gehandelt haben könnte.

Im KPABrZ existierten neben der Position des Amtschefs, neun weitere sogenannte Oberbeamte, welche ebenfalls hohen Führungsaufgaben innerhalb des Institutes nachkamen. In den Beständen des Bundesarchiv Koblenz befanden sich die Listen der Personalzusammenstellungen der damaligen Kriminalbehörde, wodurch eine nähere Betrachtung jeder einzelnen Persönlichkeit der neun Oberbeamten ermög- licht wurde.9

Eine durchgeführte Untersuchung ergab, dass vier der Beamten eine ehemalige Be- schäftigung im RKPA aufgewiesen haben. Weiterhin fiel auf, dass ebenfalls vier Be- amte eine vergangene Parteizugehörigkeit zur NSDAP besaßen. Weiterhin wiesen insgesamt drei Personen eine ehemalige Mitgliedschaft in der Schutzstaffel (SS) auf.10 Zur damaligen Rechtfertigung dieser Zugehörigkeit bedienten sich die Beam- ten des Phänomens der Dienstgradangleichung. Demnach erhielten alle Träger eines Polizeidienstgrades im Zuge Himmlers Gleichschaltung einen dazugehörigen SS- Rang. Nach Angaben der Betroffenen handelte es sich um einen automatisierten Prozess, auf den sie keinen Einfluss hätten nehmen können. Im Zuge der Literatur- recherche konnte dieser Rechtfertigungsgrund als falsch dargestellt werden. Viel- mehr sollte diese Ausrede eine ehemalige Mitgliedschaft in der SS verharmlosen.11

Im Endeffekt wurde offenbar, dass lediglich gegen zwei Personen der neun Oberbe- amten keine belastbaren Informationen in den Beständen des Bundesarchives ge- sichtet worden. Dem Rest der Führungsebene konnte eine belastbare Vergangenheit in den Diensten der damaligen Sicherheits- und Ordnungspolizei nachgewiesen werden. Trotz dieser Tatsachen erhielten mit der Gründung des BKA im Jahre 1951 sechs der neun Oberbeamten hohe Führungspositionen innerhalb der neuen Krimi- nalbehörde.12

9 BArch Koblenz B 131/1339. 10 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 236. 11 Vgl. Buchheim, Hans; Anatomie des SS-Staates Band 1; S. 113. 12 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 229.

31 Die anhand von Fakten dargestellten Tatsachen geben ein eindeutiges Bild damali- ger Zustände. Durch die Eingliederung der Personalstände des KPABrZ, war das BKA bereits kurz nach seiner Gründung fest mit braunen Wurzeln verankert.

2.3 Paul Dickopf und seine Tätigkeit als Architekt des BKA

Im Zuge der weiteren Suche nach personellen Kontinuitäten fokussierte sich der Schwerpunkt dieser wissenschaftlichen Bearbeitung auf Paul Dickopf und sein un- mittelbares Wirken auf die Personalpolitik des BKA.

Aus den Akten des Bundesarchiv Koblenz konnte entnommen werden, dass Paul Dickopf am 15. Mai 1950 die Beförderung zum Kriminalkommissar erhielt und seinen Dienst im Bundesministerium des Innern antrat. Gleichzeitig wurde er dem für den Aufbau des BKA zuständigen Referat unter Leitung von Dr. Hagemann zugeteilt, welcher nach der Gründung des Kriminalinstituts die Position des ersten Amtsleiters einnahm. Dickopf selbst wurde daraufhin mit der personellen Besetzung der künfti- gen Bundesbehörde beauftragt.13

3. Das BKA als Versorgungsanstalt für Alt-Kriminalisten

Nach den gesichteten Personalakten waren für das BKA 161 Planstellen für Beamte vorgesehen. 57 Stellen wurden bereits durch den Personalstamm des KPABrZ abge- deckt. Weitere 31 Stellen waren für die künftige Sicherungsgruppe Bonn vorgese- hen. Die übrigen 73 Stellen konnten somit frei nach Wahl besetzt werden.14

Dickopf selbst war bemüht, möglichst viele Beamte in die Behörde einzugliedern, welche bereits einer polizeilichen Tätigkeit vor 1945 nachgingen. Im Bundesarchiv konnte unter seinen persönlichen Nachlässen ein Dokumentensatz gesichtet wer- den, indem insgesamt 140 Personen geführt wurden, welche nach Dickopfs Vorstel- lungen für eine Verwendung im BKA geeignet waren. Eine nähere Betrachtung der Bewerbervorschläge ergab, dass von den 140 Personen insgesamt 88 eine Parteizu- gehörigkeit zur NSDAP aufwiesen. Weitere zehn besaßen eine ehemalige Mitglied- schaft zur SA, 31 waren Angehörige der SS und 13 nahmen eine ehemalige Tätigkeit bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) wahr. Lediglich 42 Namen wiesen keinerlei belastbare Angaben auf. Aufgrund fehlender Aktenlage konnte jedoch bei dem Großteil der Namen nicht geprüft werden, inwiefern eine tatsächliche Beschäftigung

13 BArch Koblenz B 106/ Band 2. 14 Vgl. Mergen, Armand; Die BKA Story; S. 143.

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im BKA realisiert wurde. Trotzdem ergibt sich aus diesem Dokumentensatz ein hoher historischer Wert. Die große Anzahl belasteter Personen auf der Liste verdeutlichten Dickopfs Bestrebungen zur Einführung einer Versorgungsanstalt ehemaliger Na- zigrößen.15

Weiterhin fiel im Laufe der Untersuchung auf, dass Paul Dickopf vermehrt seine ehe- maligen Kollegen aus dem Kriminalkommissar-Lehrgang von 1938/1939 systema- tisch in das BKA eingliederte. Im Zuge der Literaturrecherche konnte aufgezeigt wer- den, dass insgesamt sechs Lehrgangskollegen hohe Führungspositionen im BKA er- hielten. Im Laufe der Zeit stieg die Anzahl der ehemaligen Mitglieder aus den Folge- jahrgängen nach 1939, welche im BKA Karriere machten auf 24 Personen.16

Um das unmittelbare Wirken von Paul Dickopf auf die Personalpolitik des BKA kon- kreter verdeutlichen zu können, kam es zu einer näheren Betrachtung einer Unter- abteilung des Institutes, der sogenannten „Sicherungsgruppe Bonn“. Ziel sollte es sein, infolge von Recherchearbeiten chronologisch aufzuzeigen, dass sich durch ver- schiedenste Einflüsse von Paul Dickopf die Gruppierung zu einer Versorgungsanstalt belasteter Personen entwickelte.

Tatsächlich zeigte sich, dass Dickopf bereits vor Gründung der Einheit gezielt ver- sucht hatte, auf die Besetzung der Planstellen Einfluss zunehmen. Die durch seine Person eingereichten Ernennungsvorschläge gaben ein klares Bild seiner Vorstellun- gen hinsichtlich der Idealbesetzung für die Sicherungsgruppe. So besaßen von den 25 Personen, welche Dickopf für eine Verbeamtung vorschlug, 12 eine ehemalige Parteizugehörigkeit zur NSDAP und insgesamt 17 wiesen bereits eine langjährige Polizeikarriere vor 1945 auf. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass unter der persönlichen Führung von Dickopf eine Vielzahl belasteter Mitglieder der Gruppie- rung Beförderungen und Führungspositionen innerhalb der Einheit erhielten.17

Zur Verdeutlichung wurde die Karriere des Josef Ochs innerhalb dieser Gruppierung explizit dargestellt. Ochs und Dickopf verband eine freundschaftliche Beziehung zu- einander, weshalb letzterer ihn auch eine Position im BKA verschaffte. Die Tatsache das Dr. Josef Ochs ehemalige Zugehörigkeiten zu einer Vielzahl nationalsozialisti- scher Gruppierungen aufwies, stellte beim Einstellungsprozess kein Hindernis dar. „Kurz nach der Führungsübernahme der Sicherungsgruppe durch Dickopf wurde Ochs die Leitung der Unterabteilung II Ermittlungsdienst übertragen.“18 Genau wie Ochs verhalf Dickopf im Laufe der Zeit weiteren seiner „Alt-Kriminalisten“ zu hohen

15 BArch Koblenz B 106/ Band 1 16 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 66-67. 17 BArch Koblenz B 106/ Band 2. 18 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 212.

33 Positionen innerhalb der Einheit. Ende 1952 stieg die Stärke der Gruppierung auf 70 Mann an. Zu diesen Zeitpunkt wiesen insgesamt 48 Prozent der Mitglieder eine ehe- malige Parteizugehörigkeit zur NSDAP auf.19

4. Konzeptionelle Parallelen zum Dritten Reich

Weiterhin fokussierte sich die Betrachtung auf mögliche organisatorische und kon- zeptionelle Kontinuitäten zur Vorgängersituation im Dritten Reich. Zunächst galt es zu untersuchen, inwieweit die organisatorische Entwicklung des BKA durch Einflüsse der damaligen Sicherheits- und Ordnungspolizei geprägt wurde.

Das RKPA als organisatorisches Vorbild

Neben der personellen Gestaltung entpuppte sich erneut die Person Paul Dickopf als Schlüsselfigur im organisatorischen Aufbauprozess der Behörde. Aufgrund der vorhandenen Aktenlage im Bundesarchiv Koblenz konnte festgestellt werden, dass Dickopf bereits vor der Gründung des BKA intensive organisatorische Vorkehrungen traf, um den Aufbau einer Bundeskriminalbehörde nach seinen Vorstellungen er- möglichen zu können. Schon im Jahre 1949 erstellte er diverse Organigramme sowie Stellen- und Haushaltspläne. Ein Entwurf einer möglichen Organisationsstruktur wurde trotz der Durchführung geringfügiger Veränderungen durch die damalige Militärregierung sowie den deutschen Bundestag genehmigt und im künftigen BKA realisiert. Ein durchgeführter Vergleich der Organisationsstrukturen von Dickopfs Entwurf und der des RKPA aus dem Jahre 1942 ergab, dass eine Vielzahl früherer Sachgebiete beibehalten wurden. Die Grundzüge der Vorgängersituation übernahm man in den Gliederungsentwurf von 1949. Dickopf erhöhte lediglich die Anzahl an Abteilungen und Sachgebieten, wodurch der Anschein einer komplexen Neuorga- nisierung einer kriminalpolizeilichen Bundesbehörde aufkommen sollte. Bis auf die Tatsache, dass der Entwurf auf den Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates basierte, handelte es sich um eine Kopie der Organisation der Vorgängersituation.20

19 Vgl. ebd. S. 219. 20 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 146-167.

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5. Die Kontinuität kriminalpolizeilicher Feindbilder im BKA

Im weiteren Verlauf der Untersuchung verschob sich das Augenmerk auf die mögli- che Wiedereinführung ehemaliger kriminalistischer Feindbilder innerhalb des neu- gegründeten BKA. Weiterhin galt es zu untersuchen, ob die Bundesbehörde Grund- züge ehemaliger polizeilicher Maßnahmen der damaligen Sicherheits- und Ord- nungspolizei wiederaufgriff.

Im Fokus dieser Betrachtung stand das Phänomen des Berufs- und Gewohnheitsver- brechertums, deren Begrifflichkeit erstmalig durch den Kriminalisten Robert Heindl 1926 beschrieben wurde. Die Nationalsozialisten griffen diesen theoretischen Ansatz nach 1933 wieder auf, indem sie ihrerseits politische Feindgruppierungen unter die Formulierung „Verbrechertum“ subsumierten. Neben den typischen Verbrecherkli- entelen von Betrügern, Dieben und Mördern verinnerlichten von nun an auch sog. Asoziale, Zigeuner sowie Homosexuelle und Juden das Bild eines Kriminellen im Drit- ten Reich.

Im BKA sprach sich der Großteil der altgedienten Kriminalisten für eine Übernahme der Phänomenbeschreibung des Berufs- und Gewohnheitsverbrechertums aus. Ihrer Meinung nach sei der Anstieg der Kriminalstatistiken nach 1945 unmittelbar mit der Auflösung der Konzentrationslager verbunden, in denen angeblich eine Vielzahl an Berufs- und Gewohnheitsverbrecher interniert waren. Dass der Großteil dieser Insas- sen zu Unrecht als „asozial“ abgestempelt wurde, blieb unberücksichtigt.21 Zur Be- wältigung dieser zunehmenden Problematik bedienten sich die Alt-Kriminalisten im BKA am Instrumentarium des Sicherheitsapparates im Dritten Reich.

Die planmäßige Überwachung und die polizeiliche Vorbeugungshaft symbolisierten die wichtigsten polizeilichen Maßnahmen der Polizei im Nationalsozialismus. Durch die Durchführung von Literaturrecherchen konnte aufgezeigt werden, dass sich ein Großteil der altgedienten Kriminalisten im BKA für die Wiedereinführung damaliger Verfahrensweisen aussprach. Die Führungsebene träumte von den Neuauflagen ei- ner polizeilichen Vorbeugungshaft und einer planmäßigen Überwachung in der Bundesrepublik. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass es durchaus Bestrebun- gen seitens der führenden Kriminalbeamten gab, eine an den Rechtstaat angepasste Version einzuführen.

Höhepunkt dieser Prozesse bildete eine Tagung im November 1958, an der eine Vielzahl an Kriminalisten aus dem ganzen Bundesgebiet teilnahm. Ziel des Zusam- mentreffens war es, eine Reformierung des damaligen Strafrechtes zugunsten einer

21 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 194.

35 Neuauflage der polizeilichen Vorbeugehaft zu schaffen. Die Vorstellungen der Kri- minalisten und deren katastrophalen Ausmaße für die rechtstaatlichen Prinzipien konnten eindeutig beschrieben werden. Die Maßnahme hatte tatsächlich nahtlos an das Instrumentarium der Kriminalpolizei im Dritten Reich angeknüpft. Alle Bemü- hungen einer Neuauflage der polizeilichen Vorbeugehaft scheiterten jedoch durch die fehlende Vergabe von Exekutivrechten an das BKA.

6. Vergangenheitsbewältigung des heutigen BKA

Im Ergebnis zeigt sich, dass es über 50 Jahre gedauert hatte, bis das BKA sich intensiv mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzte. Zuvor wurde die Beschäfti- gung ehemaliger Naziverbrecher in der Vergangenheit konsequent verneint und be- lastbare Dokumentensätze blieben unter behördlichen Verschluss. Im Zuge des stei- genden öffentlichen Druckes geriet die Behörde und ihre Führung in Handlungs- zwang.

Aufgrund dieser Tatsache, veröffentlichte das BKA in den Jahren 2009 und 2011 ins- gesamt drei Sammelbände, welche das Vorhandensein „brauner Kontinuitäten“ in- nerhalb der Behörde thematisieren. Weiterhin kam es als symbolischen Akt am 25. Juni 2012 zur Umbenennung der ehemaligen Paul-Dickopf-Straße in Meckenheim bei Bonn, wo sich der Hauptsitz der Bundesbehörde befindet. Heutzutage trägt die Zufahrt den Namen des ehemaligen BKA-Vizepräsidenten und späteren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Gerhard Boeden“.22

Literaturverzeichnis

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22 Vgl. BKA; Artikel: Das BKA stellt sich seiner Geschichte; abrufbar über: https://www.bka.de/DE/DasBKA/Histo- rie/UmbenennungPaulDickopfStrasse/umbenennungPaulDickopfStrasse_node.html; Stand: 27.05.2020.

36

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Mörchen, Stefan; Echte Kriminelle und zeitbedingte Rechtsbrecher: Schwarzer Markt und Konstruktionen des Kriminellen in der Nachkriegszeit; In: Werkstatt Geschichte 42; Klartext Verlag; Essen; 2006.

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Schwindt, Barbara; Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek: Funkti- onswandel im Kontext der Endlösung; Verlag Königshausen & Neumann; Würzburg; 2005.

37 Phänomen der Radikalisierung im Fußball

Moritz Schlegelmilch, Cathrin Chevalier

Im nachfolgenden Artikel werden exemplarisch gewählte Radikalisierungstheorien und Analysemethoden aus dem Terrorismusspektrum genauso beleuchtet wie die global und regional praktizierten Deradikalisierungsmethoden. Die Idee ist, vor die- sem Hintergrund, sich die Themen im Fußballkontext anzusehen. Alle Statistiken zu delinquenten Fußballfans aus den deutschen Spielklassen begründen den Hand- lungsbedarf der Präventionsarbeit. Zu bedenken ist aus unserer Sicht, dass Radika- lisierung einen individuellen Prozess darstellt, während die gängige Präventions- und Deradikalisierungsarbeit im Bereich des Fußballs dagegen größtenteils auf eine Gruppe orientiert scheint. In der Regel wird die Organisation hierzu von Fanprojek- ten der Vereine durchgeführt. Eine erfolgreiche Arbeit in diesem Bereich sollte aber auch eine Fokussierung auf das Individuum mit einem multidisziplinären Team und einer wissenschaftlichen Begleitung sein.

1. Einleitung

Es scheint, als würde sich die Gesellschaft zunehmend radikalisieren. Neben politi- schem und religiösem Extremismus beschäftigt die Polizei auch immer wieder eine radikalisierte Fanszene im Fußball. In der Spielzeit 2017/2018 leistete die deutsche Polizei rund um den Fußball ein neues Rekordhoch an Einsatzstunden.23 In der ge- nannten Saison fielen in den drei höchsten Spielklassen exakt 2.240.607 Arbeitsstun- den für die Polizeikräfte an. Insbesondere durch die Hooligan- und Ultraszenen prä- destiniert. Solche gewaltaffinen Fangruppierungen wie z.B. „Schickeria München“, „Ultras Dynamo“, „Ultras Frankfurt“ oder „Suptras Rostock“ sind nahezu überall in der Bundesrepublik aufzufinden. Relevante Problemfelder sind dabei z.B. das Ausü- ben von Gewalt untereinander, Vandalismus, Sachbeschädigung oder verfassungs- feindliche Handlungen innerhalb oder außerhalb der Stadien.24 Sowohl die daraus resultierenden Fragen zur Sicherheit im Stadionbereich oder zur Finanzierung der Maßnahmen versetzen Fußballvereine und Politik in schwierige Debatten.25 In der Folge betrifft die Sicherheitsproblematik aber in jedem Fall die Polizeiarbeit. Es gilt,

23 ZIS, 2017, S. 6 24 Einsiedler, http://www.tagesspiegel.de/sport/dynamo-dresden-krieg-spielen-mitnationalsozialistischer-sym- bolik/19803940.html, 26.01.2018 25Tenbusch, https://www.welt.de/sport/fussball/champions-league/article159692682/Wiekamen-500-Legia- Fans-trotz-Verbots-ins-Stadion.html, 26.01.2018 38

die oft negativ geprägten radikalisierenden Prozesse innerhalb der Fanszene stetig zu erörtern und ausstiegsgewillten Personen professionelle Hilfe anzubieten. Frag- lich ist, ob die Polizei in der Lage ist, eine tatsächlich funktionierende Deradikalisie- rung mithilfe der Politik etablieren zu können. Mit besonderem Blick auf den FC Hansa Rostock soll sich daher mit den Phänomenen Radikalisierung und Deradika- lisierung sowohl wissenschaftlich als auch mit Hilfe konkreter Maßnahmen ausei- nandergesetzt werden.

In der theoretischen Betrachtung der o.g. Problematik wird sich stellvertretend mit zwei Radikalisierungsmodellen - dem „Pyramid Model“ und der „Best-Practice-Risi- koanalyse“ auseinandergesetzt. Bei dem sozialpsychologischen „Pyramid Model“ handelt es sich um einen abstrahierten Mechanismus bezüglich der politischen Ra- dikalisierung und die „Best-Practice-Risikoanalyse“ ist eine individuelle forensisch- psychologische Gefährdungseinschätzung. Im Anschluss wird eine Einführung zu in- ternational und regional bereits realisierten Deradikalisierungsmodellen und deren Funktionsweisen gegeben. Die Statistiken zur Delinquenz der deutschen Fußballfans leiten den Sachstand der Bundesligapräventionsarbeit ein, um sie mit der Fanszene des FC Hansa und der präventiven Vereinsarbeit abzugleichen. Im Anschluss wird ein neuer theoretischer Ansatz der polizeilichen Präventions- bzw. Deradikalisie- rungsarbeit mit der Fokussierung auf das Individuum und nicht auf die jeweilige Po- pulation vorgestellt.

2. Theoretische Betrachtung von Radikalisierung und Deradikalisierung

Als Radikalisierung kann der Prozess bezeichnet werden, bei dem ein Individuum nach und nach Gewalt oder andere illegale Methoden zur Förderung eines ideolo- gischen Ziels akzeptiert. Dabei kommt es zu einer Kombination mehrerer Faktoren. Gemeint sind eine intensive ideologische Sozialisation und damit die Herauslösung aus den bisherigen sozialen Kontakten. Es wird mit scharfer Rhetorik innerhalb ge- schlossener Gruppen agiert, so dass das bisherige Lebenskonzept mit Freizeitaktivi- täten, Freundeskreis u. ä. verworfen wird.26

Wie diese Prozesse in Gruppen verlaufen können oder wie sich das individuelle Ri- siko darstellt und wie dem in einem Deradikalisierungsprozess begegnet werden kann, soll nachfolgend betrachtet werden.

26 The Nordic Council of Ministers, 2017, S. 11

39 2.1 Gruppenradikalisierungsprozesse nach dem „Pyramid Model“

Radikalisierung, die unter gewissen Voraussetzungen in gewalttätigem Extremismus münden kann, ist in der Sozialwissenschaft mehrheitlich als ein Gruppenphänomen angesehen.27 Daraus resultierend, sind die meisten Radikalisierungstheorien auf ein Kollektiv ausgerichtet, was selten eine individuelle Sichtweise ermöglicht.28

Im „Pyramid Model“29 von McCauley und Moskalenko werden dagegen schon Be- züge zwischen Individuum, Gruppe und Masse in den Blick gerückt. Die Bereiche unterliegen jeweilig differenten Schlüsselmechanismen, wobei sie ähnlich wie Stufen aufeinander aufbauen können aber das nicht zwangsläufig ist. Obwohl Gruppen- als auch Individualmechanismen beschrieben werden, soll sich an dieser Stelle nur auf die der Gruppe bezogen werden. Für den Fokus auf das Individuum wird sich an einem dafür speziell ausgelegtem Modell orientiert:

Group Polarization: Hierbei handelt es sich um eine Verschiebung innerhalb einer Gruppe. So kann es sein, dass Meinungen von Gruppenmitgliedern extremer wer- den, wenn sie versuchen, einen Konsens zu erzielen. Diese Extremitätsverschiebung wird auch mit dem „sozialpsychologischen Prinzip der Gruppenpolarisierung“30 be- schrieben.

The Multiplier: Gruppen, die Isolierungs- und Bedrohungsbedingungen erleben, er- höhen ihre Kohäsion und wahrgenommene Interdependenz. Daraus folgt eine ge- steigerte Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an gruppenspezifischen Maßnahmen, in Anlehnung an die sogenannte Social Reality Power von isolierten Gruppen.

Outbidding: Dieser Mechanismus wirkt aus einer Wettbewerbssituation um Unter- stützung einer Basis heraus. Die Gruppen, die radikaler oder extremer sind, werden als engagierter wahrgenommen. Das wiederum macht sie für potenzielle Mitglieder und Unterstützer attraktiver. Es kommt zum “outbidding“ der konkurrierenden Gruppe.

Condensation: Hier geht es um die äußere Wucht staatlicher Macht. Wird der Druck gegen eine radikale Gruppe erhöht, führt es dazu, dass weniger engagierte (oder involvierte) Mitglieder ausscheiden und nur die aktivsten bleiben. Radikalismus und Engagement unter den übrigen Mitgliedern verstärken sich.

27 Borum, S. 20 28 Vgl. Eckert, http://www.bpb.de/apuz/164920/radikalisierung-eine-soziologische-perspektive?p=all#foot node16-16, 26.01.2018 29 Borum, S. 20ff, im Original in Englisch: McCauley & Moskalenko, 2008, S. 415-433 30 Vgl. Jonas, Stroebe, & Miles, 2014, S. 297

40

Fissioning: Dieser Prozess meint die Radikalisierung aus der Konkurrenz heraus und den damit verbundenen Spannungen innerhalb einer ideologiebasierten Gruppe. Zunächst bilden sich Fraktionen. Im Verlauf entwickeln sich diese zu Splittergruppen, die in einem eskalierenden Kampf miteinander konkurrieren.

2.2 Individuelles Radikalisierungsrisiko mit Hilfe der Best-Practice-Risiko- analyse

Das o.g. Konstrukt wird u.a. genutzt, um die Gefahr terroristischer Gewalt bei einem Individuum vorherzusagen. Diese forensisch-psychologische Beurteilung greift da- bei auf die folgenden vier Dimensionen zurück.31

personale Faktoren

Einstel- extremistische Warn- lung Handlung verhalten

akute Belastungen

Zunächst soll die Dimension Einstellung erläutert werden. Hier geht es um Ideen, die ein Individuum entwickelt, um seine extremistische Handlung zu rechtfertigen. Die Kernfrage dieser Dimension ist, ob die extremistische Ideologie eine Legitimation für Gewalthandlungen beinhaltet. Dann würde sich das Individuum ein feindliches Weltbild auf Grundlage fehlerhafter kognitiven Gepflogenheiten erschaffen. Das

31 Vgl. Sadwoski, Endrass, & Rossegger, 2017, S. 211-220

41 kann auch extern z.B. durch einen Mentor initiiert sein. Die Beurteilung dieser Di- mension orientiert sich am Schweregrad der abweichenden Normen und der Aus- prägung der Legitimierung einer Gewaltausübung. Dabei werden auch Parameter wie die Ablehnungen von Staat, Gesellschaft und Andersdenkenden betrachtet.32

Bei der Dimension der personalen Faktoren werden sechs Kriterien analysiert. Dabei müssen nicht alle erfüllt oder verneint werden. Sie geben lediglich Anhaltspunkte zur Bewertung von gewaltfördernden Eigenschaften dieser Person. Das erste Krite- rium beschreibt die Ausprägung einer Dissozialität. Eine Person wird dann als disso- zial angesehen, wenn u.a. wiederholt regelverletzende Verhaltensweisen auftreten. Als zweites wird die Dominanzproblematik bewertet. Das meint, inwieweit hat das Individuum die Tendenz, andere zu dominieren oder zu unterwerfen. Das dritte Kri- terium schätzt die Waffenaffinität der Person ein. Inwieweit eine Person an Verfol- gungswahn leidet, wird mit dem vierten Kriterium beurteilt. Darunter werden inhalt- liche Denkstörungen subsummiert. Mit dem fünften Kriterium wird die Bedeutung von Alkohol- und Drogen betrachtet. Der Konsum ist ein wichtiger Prädiktor für den Ausbruch einer extremistischen Handlung, weil die Hemmschwelle für Gewalt her- abgesetzt wird. Als letztes Kriterium wird die Ausprägung einer psychischen Störung betrachtet. Angst-, Depressions- oder Suizidalitätsproblematik wird differenziert be- urteilt. Eine epidemiologische Studie (n=47.000 schwedische Gefangene) belegte, dass psychische Störungen einen isolierten Rückfallrisikofaktor darstellen können. Das bedeutet, dass kriminalistische und soziodemografische Risikofaktoren in der Auswertung beseitigt wurden und psychische Störungen sich als Faktor herauskris- tallisierten. Das Ergebnis war geschlechtsabhängig. 20% aller Rückfälle bei Männern beruhten auf psychischen Störungen, bei Frauen waren es bis zu 40%.33 Dennoch können auch sie nur als ein Element der Risikobeurteilung betrachtet werden.34

Die Dimension Warnverhalten beinhaltet die Typologie, die Meloy35 dazu aufgestellt hat und von Guldimann36 adaptiert wurde. Folgende Stufen gehören dazu:

- die intensive Beschäftigung mit Planung, Vorbereitung und Umsetzung einer Gewalttat - die Fixierung, was bedeutet, die eigene Wahrnehmung wird auf eine Person oder einen Konflikt eingeengt - die Identifizierung mit militärischen oder kriegerischen Inhalten

32 Vgl. Sadwoski, et. al., 2017, S. 211-214 33 Vgl. Chang, Larsson, Lichtenstein & Fazel, 2015, S. 891-900 34 Vgl. Sadowski et al., S. 214 f. 35 Vgl. Meloy, Guldimann, & James, S. 256-279 36 Vgl. Guldimann, Hoffmann, & Meloy S. 115-130

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- die erste Gewalttat gegen eine unbedrohte Person als Testlauf - der Energieschub bei der ersten direkten Kontaktaufnahme - die Einweihung Dritter auch als “Leaking“ genannt. - der letzte Ausweg, d.h., die Gewalttat wird als nächster logischer Schritt an- gesehen - die direkte Drohung

Tatsächlich bedarf es immer einer stetigen Aktualisierung der Beurteilung. Dies gilt es in der Praxis zu berücksichtigen.37

Die Dimension der akuten Belastungsfaktoren analysiert den derzeitigen Lebenskon- text. Es wird die Frage nach Zugzwang, Sackgasse, soziale Zuspitzung und psychiat- rische Zuspitzung gestellt. Zur Kategorie Zugzwang gehören Situationen, die bei Eintreten eine erlebte Bedrohung mit sich führen – z.B. ein negatives Wahlergebnis, was die Person im Zugzwang zu einem Attentat auf einen Politiker bringt. Befindet sich die Person in einer Sackgasse, so hat sie nach ihrem subjektiven Befinden alle legalen Mittel zur Zielerreichung erschöpft. Gewalt erscheint nun als einziges Instru- ment. Mit der sozialen Zuspitzung wird das „Nichts-mehr-zu-verlieren-zu-haben- Gefühl“ verbunden. Das Gefühl kann vielfältige Ursachen wie etwa finanzielle oder Beziehungskonflikte haben. Die psychiatrische Zuspitzung bezieht sich z.B. auf mög- liche Folgen durch das Absetzen von Medikamenten. Daraus resultierende Wahn- vorstellungen können das Risiko für gewalttätiges Verhalten erhöhen.

Zusammenfassend wird deutlich, dass Gruppenprozesse genauso wie individuelle als Erklärung für Gewaltausübung fungieren können. Ableitend daraus muss die Er- kenntnis gezogen werden, dass Radikalisierung ein sehr individueller Vorgang ist, aber in Wechselwirkung mit Gruppemechanismen steht, sofern der Betroffene dar- aus seine Legitimation oder emotionale Belastung zieht.

2.3 Deradikalisierungsansätze

Schon die bereits dargebotenen Theorien zeigen wie individuell die Radikalisierung geschehen kann. Es ist ein Zusammenspiel von persönlichkeitsabhängigen und situ- ationsspezifischen Variablen. Um diesen Prozess umzukehren, nutzt man verschie- dene intra- und/oder interpersonelle Aspekte. Man macht sich z.B. die erlebte Ent- täuschung bei Mitgliedern extremistischer Gruppen zunutze. Grundsätzlich kann im strategischen Ansatz zwischen einer kognitiven und einer pädagogischen Deradika- lisierung unterschieden werden.38

37 Vgl. Sadowski et al., S. 215 ff. 38 Neumann, http://www.bpb.de/apuz/164918/radikalisierung-deradikalisierung-und-extremismus?p=all#foot- node21-21, 03.01.2018

43 Der kognitive Ansatz setzt auf die erlebte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirk- lichkeit.39 Vielen Mitgliedern extremistischer Organisationen offenbart sich diese z.B. in der Brutalität der Aktionen, die im Gegensatz zu den vermeintlich hehren Zielen steht. Damit ergeben sich tatsächlich mannigfaltige Möglichkeiten der Einfluss- nahme, weil jedes Individuum bemüht ist, diese Diskrepanz aufzulösen.40 Eine wei- tere Diskrepanz kann auch durch das persönliche Fehlverhalten und Konflikte mit Anführern und Mitstreitern.41 Darüber hinaus kann der Wunsch nach einer grund- sätzlichen Neuorientierung wie der Gründung einer Familie entstehen. Es geht hier- bei also darum, sich dieses Bewusstwerden von außen zu verstärken, sich zunutze zu machen und eine Deradikalisierung zu unterstützen.

Der pädagogische Ansatz setzt auf erzieherische Aspekte. Es geht vorrangig darum, die Beziehung zwischen der radikalisierten Person und ihrem unmittelbaren Umfeld wie den Eltern wieder sozial angemessen zu gestalten. So sollen Wissensmanage- ment etabliert und Kommunikations- und Konfliktlösefähigkeiten trainiert werden. Dazu ist es auch wichtig, die biografischen Zusammenhänge während des Radikali- sierungsprozesses zu erarbeiten. Das Ziel ist natürlich auch hierbei die Abkehr von radikalen und menschenverachtenden Sichtweisen.42

Beide Ansätze finden natürlich nicht losgelöst voneinander statt.

3. Radikalisierung im Fußball

Im nachfolgenden Kapitel wird sich sowohl der Fanszene aber auch insbesondere dem Verein FC Hansa Rostock gewidmet. Es wird in diesem Zusammenhang deut- lich, dass der Begriff „Fan“ vielschichtige Verwendung findet. Er wird positiv und ne- gativ konnotiert. Daher soll er an dieser Stelle kurz definiert werden. Roose et. al. verstehen darunter: „…Menschen, die längerfristig eine leidenschaftliche Beziehung zu einem für sie extremen, öffentlichen, entweder personalen, kollektiven, gegen- ständlichen oder abstrakten Fanobjekt haben und in die emotionale Beziehung zu diesem Objekt Zeit und/ oder Geld investieren.“43

39 Ebd. 40 Vgl. Horgan, 2009, S. 21 f. 41 Vgl. Neumann, http://www.bpb.de/apuz/164918/radikalisierung-deradikalisierung-undextrem- ismus?p=all#footnode21-21, 10.01.2018 42 Vgl. Violence Prevention Network 43 Roose, Schäfer, & Schmidt-Lux, 2010, S. 12

44

3.1 Radikalisierungsphänomene im Fußball

Im Rahmen dieses Sports können sowohl die Gruppenmechanismen als auch indivi- duelle durchdekliniert werden. Tatsächlich ist es aber schwierig, hier mit konkreten Studien zu arbeiten, um eine Zunahme der Radikalisierung im Fußball zu untersu- chen. Eine Möglichkeit aus Sicht der Autoren ist es, mit Statistiken zu delinquenten Verhalten von Individuen vor, während und nach dem Spiel zu arbeiten. Nachfol- gend wird daher eine Übersicht zu Straftaten im Rahmen der Bundesligaspiele über mehrere Fußballsaisons hinweg eingefügt44:

Saison Saison Saison Saison 2015/2016 2016/2017 2014/15 2017/2018

Körperverlet- 764 818 737 772 zung

Widerstand ge- 72 75 96 82 gen Vollstre- ckungsbeamte

Landfriedens- 134 62 182 134 bruch

Sachbeschädi- 126 117 118 112 gung

Verstoß SprengG 421 175 226 460

Raub 97 91 120 76

Erschleichen von 26 22 33 57 Leistungen

Verstoß WaffenG 17 30 16 31

Strafverfahren 14 20 14 14

§ 86a StGB45

44 ZIS – Jahresbericht 2016, Anlage 3, S. 2 45 Straftaten bezüglich des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen

45 Die Daten verdeutlichen, dass es keinen Anstieg bei den o.g. Straftaten gibt, die man unmittelbar mit einer zunehmenden Gewaltaffinität in Verbindung bringen würde. Auffällig ist einzig der Anstieg beim Erschleichen von Leistungen. Allerdings ist diese Straftat in der Saison 2018/2019 bereits wieder deutlich rückläufig.46

Ein weiterer Aspekt, der für Radikalisierung sprechen könnte, wäre die Schwere der Gewaltstraftat – also wenn es zu deutlich mehr Verletzungen kommt. Aber auch hier zeigt sich im Vergleich der Saison 2017/2018 zu 2018/2019 ein Rückgang des Auf- tretens bei Unbeteiligten/Geschädigten z.B. durch Pyrotechnik (487 zu 435 Perso- nen), bei den problematischen Fans (345 zu 331 Personen) als auch bei den Polizis- ten (304 zu 272Personen). Etwas höher fällt die Rate bei den Ordnern aus (345 zu 311 Personen).

Die weitere Übersicht47 bezieht sich auf die notwendigen freiheitentziehenden Maß- nahmen. Es wird davon ausgegangen wird, dass hier eine besondere Schwere in der Handlung der Individuen vorliegen könnte. Allerdings zeigt sich über alle Ligen ein Rückgang in der Anwendung dieser Maßnahme:

Saison Saison Saison Saison

2015/2016 2016/2017 2017/2018 2018/2019

Bundesliga/ 9688 7783 8254 7853 2. Bundesliga

3. Liga 3779 1687 2081 2541

Gesamt 13.467 9470 10.335 10.394

Wenn man also den Aspekt der Delinquenz als Prädiktor für eine Zunahme der Ra- dikalität heranzieht, lässt sich dies im Fußball nicht abbilden. Die in allen Statistiken darüber hinaus sichtbaren Schwankungen entstehen durch unterschiedliche Präsenz der Polizei und/oder auch durch den Aufstieg oder Abstieg von „Problemverei- nen“.48 Dazu werden Vereine gezählt, die eine Fanszene mit ausgeprägter Gewaltaf- finität haben.

Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass auch Ideologien in der Radika- lisierung eine Rolle spielen können. Daher sei auch der Blick auf politisch motivierte

46 ZIS Jahresbericht Fußball vom 15.10.19 47 Ebd. 48 Ebd.

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Straftaten oder Gedankengut erlaubt. Bei den problematischen Fans geht man von einem Anteil von 2,5% rechts- und 1,4% linksorientierten Anhängern aus.49 Hier gibt es zum Vorjahr ebenfalls kaum Veränderungen. Also auch ideologisch betrachtet, lässt sich eine zunehmende Radikalisierung nicht nachvollziehen. Das Handlungsbe- darf wegen radikalen Verhaltens vorliegt, ist dagegen unstrittig.

3.2 Radikalisierung beim FC Hansa Rostock

Die - auch von der Polizei verwendete - Unterteilung der Fans kann auch an ihrem Gewaltpotenzial festgemacht werden.50

 Kategorie A umfasst alle friedlichen Fans  Kategorie B umfasst die gewaltbereiten und gewaltgeneigte Fans  Kategorie C umfasst die gewaltsuchenden Fans

Die Zentrale Informationsstelle Sportaktivitäten (ZIS) sammelt in jedem Jahr auch zur sogenannten Störerlage die Daten und setzt sie in Bezug zu den Kategorien B und C. Für die Saison 2018/2019 ergibt sich z.B. das nachfolgende Bild:

Gesamt Kategorie B Kategorie C

Bundesliga 5.486 4.117 1.369

2. Bundesliga 4.744 3.765 979

3. Liga 3.144 2.421 723

Von Interesse der Autoren ist insbesondere der Klub, der der erfolgreichste in Meck- lenburg-Vorpommern ist, der FC Hansa Rostock. Hier geht die Polizei von z.B. 30-40 extrem problembehafteten bzw. gewalttätigen Fans aus.51 Wenn man denen die Zu- schauerzahlen gegenüberstellt, ist es tatsächlich nur ein sehr geringer Teil. Der Zu- schauerschnitt im Stadion liegt nämlich seit Jahrzehnten um 14 000 Besucher. Trotz- dem prägen diese gewaltaffinen Fans das negative Bild auf den Fußball auch vor Ort.

49 ZIS, S.12 50 Ebd. 51 Schwinkendorf, 2014, S.199

47 Daher wird sich nochmal intensiver der auffallend problematischen Gruppierung “Nordische Wut“52 zugewandt. Ihr werden ca. 50-80 Personen zugerechnet. Auch Teile der Hooligans gehören der rechtsextremen Gruppierung an. Die für diese Szene typischen Wiesenkämpfe mit Gruppierungen anderer Fußballclubs, Trainings- lager mit Teilen der polnischen oder russischen Hooliganszene, sowie rechtsextreme und brutale Handlungen rückten sie seit ihrer Gründung im Jahr 2014 auch in den Fokus des Verfassungsschutzes.

Der F.C. Hansa Rostock schuf sein eigenes Präventionsprojekt, welches den Voraus- setzungen des DFB und der DFL entspricht. Mit “Hansa und ich“ konnte ein bundes- weit einzigartiges Modell realisiert werden. In neun Säulen unterteilt, wird das Pro- jekt unabhängig von Spieltagen durchgeführt.53 Im Fokus des Projekts stehen Kon- fliktlösungsstrategien und Kompetenztrainings. Dies geschieht unter der Zuhilfen- ahme der allgemeinen Faszination für Fußball und Fußballkultur. Die inhaltliche Ab- stimmung mit der pädagogischen Aufgabenstellung der jeweiligen Lerninstitution, soll zur positiven Entwicklungsförderung von Kindern, Jugendlichen und jungen Er- wachsenen beitragen. Vorwiegend findet das Projekt in Zusammenarbeit mit Schu- len unter dem Motto “Prävention statt Reaktion“ statt. Damit ist “Hansa und ich“ der pädagogischen Deradikalisierungs- bzw. Präventionsarbeit zuzuordnen. Grundlage des Projektes ist ein Kooperationsvertrag zwischen dem Verein und der Hansestadt Rostock.54

Die neun Säulen unterteilen sich einerseits in die verschiedenen Schultypen Grund-, Förder- und Gesamtschule und andererseits in Inklusionsarbeit, Resozialisierungspro- zesse, Maßnahmen für Personen mit Stadionverbot, Angebote für Stadtteilbegeg- nungszentren und Anti-Diskriminierungsarbeit.55 Demnach werden alle Risikogrup- pen weitestgehend abgedeckt.

Kritisch zu betrachten ist der Zyklus der siebten Säule. Hier werden die “Stadionver- botler“ durch die Jugendgerichtshilfe oder durch den Verein nach Bedarf, einmal pro Quartal betreut. So werden Workshops und Seminare zu Fanverhalten abgehalten, um Verhaltens- und Problemlösungsstrategien aufzuzeigen. Alle drei Monate für je 60 Minuten- dieser Zyklus ist unzureichend. Vielmehr wirkt diese Säule als rein ide- elles Angebot im Vergleich zu den restlichen Säulen. Als weiteren Ansatzpunkt aus

52 okolofutbola.tv, 2017, https://www.youtube.com/watch?v=fwnFv_dsdh8, 12.01.2018 53 FC Hansa, http://www.fc-hansa.de/hansa-rostock-und-ich.html, 05.01.2018 54 Rostock-Heute, https://www.rostock-heute.de/imageproblem-kooperations-fc-hansa-rostock-stadt/68596, 07.01.2018 55 FC Hansa, http://www.fc-hansa.de/hansa-rostock-und-ich.html, 05.01.2018

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Sicht des Vereins sollte die hohe Identifikationskraft der Profis gesehen werden. De- ren Ansprache und der nähere Draht von Vorzeigespielern zu den Fans könnten ge- eignet sein, einen positiven Einfluss auf gewaltaffine Fans und Gruppen zu errei- chen.56 In den ersten Säulen des Modells werden Profis dafür eingesetzt.

4. Deradikalisierung einzelner Gewalttäter

Schwinkendorf entwickelte einen Maßnahmenkatalog unter zu Hilfenahme des po- lizeilichen Analysetools „SARA“.57 Ziel des Konzepts ist die Verbesserung der bereits durch den Verein und die Polizei angestrebten Konfliktlösung. Um die Funktionalität der Präventionsarbeit zu gewährleisten, benötigt es auch für Schwinkendorfs Lö- sungskonzept eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten. Die bereits einleitend ge- nannte regionale Besonderheit des Vereins und der Fanszene ist auf die Präventi- onsarbeit anzupassen. So schlägt Schwinkendorf einen regional alle Akteure umfas- senden Fankongress vor. Darunter zählen nicht nur Verein, Fans und Polizei. Viel- mehr auch die Politik, in kommunaler wie landesregionaler Ebene. Dieser Kongress sollte durch eine frei von Interessenkonflikten und unabhängig agierenden Person moderiert werden. Exemplarisch können dies Wissenschaftler aus den Universitäten Rostock und Greifswald sein.58

Das Grundkonzept des begleiteten Fankongresses hat das Potential, speziell durch die regelmäßige Kommunikation untereinander, zur Konfliktlösung beizutragen. Je- doch wird die Eingangsproblematik der individuell geschehenden Radikalisierung verkannt.

Gruppendynamische Prozesse sind als Verlangsamungsmoment der Präventionsar- beit zu sehen. Daher schlägt der Verfasser eine Neuausrichtung der Deradikalisie- rungs- bzw. Präventionsarbeit in Anlehnung an praktizierten Ausstiegsprogrammen aus der rechten Szene und des Bereiches des Extremismus vor. Die Umsetzung der kognitiven Deradikalisierung steht dabei im Fokus.

56 Prof. Dr. Borstel, S. 219 57 Clarke & Eck, 2007, S. 30 ff. 58 Vgl. Schwinkendorf, S. 98

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(u.a. Gruppendynamik, die soziale Stellung, ökologische Situation)

Ziel soll es sein, die “Problemfans“ als Individuen zu beurteilen und so bedacht prä- ventiv wirksam zu werden. Persönliche Umstände und die Zusammenhänge des normabweichenden Verhaltens müssen herausgearbeitet werden, um im Anschluss persönliche Lösungskonzepte auch in Zusammenarbeit mit der Person entwickeln zu können.

Voraussetzung dafür ist wiederum die Initiative und Bereitschaft des Individuums zur Deradikalisierung seiner Person und die damit verbundene Umkehr des Radika- lisierungsprozesses.

Aktuell existieren keine Studien zur Existenz von Ausstiegsgründen, wie dem Wunsch nach Gründung einer Familie oder die Angst vor der restlichen Fanszene. Alternativ auch das Realisieren der eigenen Gewalttaten, die nicht im Kontext mit dem ursprünglichen Ziel, im Sinne des “Alles für den FC Hansa“-Gedankens, dem Unterstützen des Vereins, stehen. Das Fehlen solcher Studien lässt sich ebenfalls mit der Individualität der Deradikalisierung begründen.

Ausstiegswillige Personen sollten nicht wiederholt als Delinquente betrachtet wer- den, sondern als Individuen, die mit ihren gewalttätigen Strukturen der Vergangen-

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heit brechen wollen. Dem Wunsch gilt es auch aus Sicht der Polizei mit Unterstüt- zung entgegen zu treten. Das Verhängen eines Präventivstadionverbotes lässt sich für diesen Zweck jedoch nicht verwirklichen. Die Möglichkeiten von Psychologen und Sozialwissenschaftlern, welche im Auftrag der Vereine mit den Fans zusammen- arbeiten könnten, erscheinen mannigfaltig und vielversprechend, im Vergleich zu den Möglichkeiten der Polizei. Demnach sind die betreffenden Personen durch PVB an Sozialwissenschaftlicher bzw. Psychologen zu vermitteln, um einen Erstkontakt herzustellen.

5. Fazit

Die Statistiken zu delinquenten Fußballfans aus den höchsten deutschen Spielklas- sen begründen immensen Handlungsbedarf für die Präventions- und Deradikalisie- rungsarbeit. Um erfolgreich zu deradikalisieren, ist eine Fokussierung auf das Indivi- duum sowie eine unabhängige sozial-psychologische wissenschaftliche Begleitung von Nöten. Die Finanzierungsproblematik der Fanprojekte und Präventionsarbeit ist durch die Politik aufzugreifen und zu verbessern.

Der FC Hansa ist auf dem Gebiet der Präventionsarbeit bereits gut aufgestellt.59 Die besonderen Umstände des FC Hansa gestalten indes die Praxis schwierig.

Speziell im Bereich der pädagogischen Arbeit ist ein unzureichendes Angebot für “Stadionverbotler“ und Personen die Gefahr laufen, mit einem Stadionverbot belegt zu werden festzustellen.

Der Ressourcenmangel ist seitens des Vereins offen zu kommunizieren und durch die Politik aufzugreifen.

Die Polizei kann durch stete Deeskalation und Transparenz der polizeilichen Maß- nahmen positiv auf den Prozess einwirken. Die flächendeckende Ausrüstung mit modernen Überwachungsmaterial sollte angestrebt werden.

Der Zusammenschluss des Vereins mit der Stadt, dem Fanprojekt, der Polizei und externen Beratungsagenturen mit Schwerpunkt in der psychologischen Sozialwis- senschaft ist weiterhin anzustreben.

59 Vgl. Schwinkendorf, S. 104

51 Literatur- und Quellenverzeichnis

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53 Phänomen Reichsbürger – Im polizeilichen Kontext

Tobias Schollmaier, Maria-Luisa Waßmann

1. Einleitung

Lange Zeit galten die „Reichsbürger“ als eine Gruppierung, die in weiteren Kreisen der Bevölkerung, aber auch seitens der Behörden eher belächelt als ernst genom- men wurden und zu weilen vor allem dadurch auffielen, dass sie nahezu ganze Be- hörden mit ihrem Schriftverkehr lahm legen konnten.60 Als am 19.10.2016 einer eben dieser Reichsbürger im Rahmen eines SEK-Einsatzes im fränkischen Georgensmünd, bei dem 30 Waffen und Gewehre beschlagnahmt werden sollten, einen Polizeibeamten durch Schüsse tötete und zwei weitere ver- letzte, wurde auf erschreckende Art und Weise das tatsächliche Gefährdungspoten- zial deutlich. Die Waffen hatte der Sportschütze und Jäger seit 1991 legal erworben. Der Reichsbürger Wolfgang Plan musste sich vor dem Landgericht in Nürnberg we- gen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung verantworten.61 Am 23.10.2017 verurteilte das Landgericht Nürnberg den Angeklagten zu einer le- benslangen Haftstrafe.62 Das genannte Beispiel stellt keine Einzeltat dar. Ein weiterer Vorfall trug sich bereits am 24.08.2016 in Reuden bei Halle zu. Adrian Ursache, welcher vom Verfassungs- schutz Sachsen-Anhalt der Reichsbürgerbewegung zugeordnet wird, sollte sich an diesem Tag einer Zwangsräumung seines Hauses unterziehen, da er aufgrund finan- zieller Probleme seine Kredite nicht begleichen konnte. Die Zwangsräumung durch den Gerichtsvollzieher scheiterte jedoch an diesem Tag, weil Ursache Gleichgesinnte mobilisierte, welche die behördliche Maßnahme unterbinden konnten. Einen Tag später, am 25.08.16, wurde die Zwangsräumung unter Mithilfe von Spezialkräften der Polizei vollzogen. Dabei kam es zu einem Schusswechsel, wodurch ein Polizei- beamter sowie Adrian Ursache selbst verletzt und in der Folge stationär behandelt wurde. Seit dem 09.10.2017 muss sich der Angeklagte nun vor dem Landgericht Halle wegen versuchten Mordes verantworten.63 Bisher erfolgte keine Verurteilung des Beschuldigten.

60 Nachfolgend werden Ergebnisse zusammenfassend dargelegt, die im Rahmen der Bachelorarbeit von Tobias Schollmaier mit dem Titel “Phänomen Reichsbürger – Im polizeilichen Kontext“ im Fachbereich Poli- zei an der FHöVPR Güstrow zur Erlangung des BA – Polizeivollzugsdienst vorgelegt wurde. 61 Vgl. Darko, B./Bakmaz, A. (2017): Das Ende von „Regierungsbezirk Wolfgang“ in Georgensgmünd. Online verfügbar: https://www.welt.de/regionales/bayern/article167937762/Das-Ende-von-Regierungsbezirk- Wolfgang-in-Georgensgmuend.html. [31.03.2019]. 62 Vgl. Urt. v. 23.10.2017, Az. Az. 5 Ks 113 Js 1822/16. 63 Vgl. MDR Sachsen-Anhalt (2017): Chronologie: Der Fall Adrian Ursache/ vgl.: Schollmaier, T.(2018): “Phä- nomen Reichsbürger – Im polizeilichen Kontext“. S. 2. 54

An diesen beiden, kurz erläuterten Ereignissen ist deutlich zu erkennen, dass das Thema „Reichsbürger“ aktueller denn je ist und sowohl die Gesellschaft als auch die Polizei, Gesellschaft und Verwaltungsbehörden mit neuen Herausforderungen kon- frontiert sind. Auch wenn sich bisher noch keine vergleichbaren Taten in Mecklen- burg-Vorpommern zugetragen haben, müssen Polizei und Behörden auf mögliche Vorfälle vorbereitet sein und sich einer neuen Gefahrenlage stellen.

2. Was ist ein Reichsbürger? Zur Vielfältigkeit von Definitionsansätzen

Definition nach Keil Auf Grund der Heterogenität der Reichsbürgerbewegung und der damit verbunde- nen ideologischen Vielfalt, ist eine einheitliche Definition dieser Szene nur schwer zu finden. Die einzige Gemeinsamkeit, die sowohl die Anhänger, als auch die Definitio- nen eint, ist die Nicht-Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund der eben angesprochenen Vielschichtigkeit des Phänomens hat der Kri- minalpsychologe J. G. Keil eine Kategorisierung der einzelnen Strömungen innerhalb der Reichsbürgerbewegung vorgenommen. Darauf aufbauend erstellte J. Rathje eine detaillierte Abbildung.

Hierbei unterschied Keil die Reichsbürger in vier größere Gruppen:  „traditionell nationalistisch geprägte Reichsbürger  (Selbstverwalter)  Monarchen und Stifter von Reichen und Fürstentümern  Milieumanager“64 Nach Keils Definition sind die „traditionell nationalistisch geprägten Reichsbürger“ vor allem durch die Auffassung geprägt, das Deutsche Reich existiere in den Grenzen von 1937 fort. Gleichwohl wird aber innerhalb dieser Gruppe auch die Ansicht ver- treten, dass einer faschistischen Herrschaft entgegen getreten werden müsse. Die Gruppe der Selbstverwalter teilt nach Keil zwar die Ablehnung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, ihre vordergründige Anschauung besteht allerdings darin, sich nicht als „Personal“ der „BRD GmbH“ zu sehen. Sie betrachten sich als staatenlos, weshalb sie sich unter Selbstverwaltung stellen.65

64 Keil, J.G. (2015): Zwischen Wahn und Rollenspiel – das Phänomen der „Reichsbürger“ aus psychologischer Sicht. In: Wilking, D. (HG.): Demos-Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung, „Reichsbürger“ Ein Handbuch. 2. Auflage. Potsdam: Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Pots- dam GmbH. S. 39. 65 Vgl. Ebd. S. 39.

55 Mithin lässt sich feststellen, dass Reichsbürger die Existenz der BRD bestreiten und sich auf den Fortbestand des Deutschen Reiches, vorwiegend in den Grenzen von 1937, berufen.66 Die Auffassung der Selbstverwalter ist hingegen vornehmlich von der Ansicht ge- prägt, dass sie mit einer selbstverfassten Erklärung ihren Austritt aus der Bundesre- publik Deutschland erklären könnten und in der Folge auch keinen rechtlichen Nor- men mehr unterworfen seien. Gleichwohl lässt sich eine solche Haltung auch in den Kreisen der Reichsbürger erkennen und wiederfinden. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Selbstverwalter ihr Grundstück als einen souveränen Staat proklamieren.67 Dafür werden oftmals eigene Flaggen, Wap- pen, Schilder, die die eigene Souveränität ausdrücken sollen, erstellt und entspre- chend sichtbar angebracht. Eine Unterscheidung von Reichsbürgern und Selbstverwaltern findet allerdings nicht immer in ausreichendem Maße statt. Ein Beispiel für die, zuweilen auch medial statt findende Vermischung bzw. die mitunter nicht ganz eindeutigen Ideologiemerkmale dieser beiden Gruppierungen, lassen sich beispielsweise im Fall von Adrian Ursache nachzeichnen. In den Medien wird in Zusammenhang mit seiner Person der Begriff Reichsbürger verwendet. Bei genauerer Betrachtung lassen sich allerdings auch ein- schlägige Elemente eines Selbstverwalters nachzeichnen, in dem er u.a. sein Grund- stück zum eigenen Staat „Ur“ erklärte.

Des Weiteren sind unter den selbsternannten Monarchen und Stiftern eigener Kö- nigreiche oder Fürstentümer Personengruppen zu verstehen, die stark zu Verschwö- rungstheorien neigen und diese als ideologische Basis für sich in Anspruch nehmen. Zuweilen sind auch spirituelle Ideen und sektenähnliche Gedankenvorstellung vor- zufinden. Milieumanager hingegen werden von Keil als Gruppierung bezeichnet, die in unter- nehmerischer Form Gewinn aus der Bewegung generieren, indem sie Fantasiedoku- mente wie beispielsweise Führerscheine oder Ausweisdokumente herstellen und

66 Vgl. Hüllen, M. / Homburg, H. / Krüger, Y.D. (2015): „Reichsbürger“ zwischen zielgerichtetem Rechtsext- remismus und Staatsverdrossenheit. In: Wilking, D. (HG.): Demos-Brandenburgisches Institut für Gemeinwe- senberatung, „Reichsbürger“ Ein Handbuch. 2. Auflage. Potsdam: Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Potsdam GmbH. S. 14. 67 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Was sind „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“?. Online verfügbar: https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-reichsbuerger-und-selbstverwalter/was-sind-reichs- buerger-und-selbstverwalter. [31.03.2019].

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vertreiben. Ein weiteres, häufig festzustellendes Betätigungsfeld der Milieumanager, sind von ihnen betriebene Internetseiten auf denen die Ideologie propagiert wird.68 Abschließend ist festzuhalten, dass alle auftretenden Bewegungen in der Gesamtheit ein gleicher Wille verbindet. Sie negieren die Bundesrepublik Deutschland als recht- mäßigen und souveränen Staat und distanzieren sich klar vom gesamten System der Bundesrepublik und davon, Angehörige des deutschen Staates zu sein. Dies ist das einzige Merkmal, dass alle Gruppierungen trotz ihrer Heterogenität eint. Keil hat anhand seiner Einordnung versucht einen geordneten, mit unterschiedlichen Positionen behafteten Überblick über die Reichsbürgerbewegung und deren ideo- logischen Vorstellungen zu geben. Inwieweit diese Einordnung eine Allgemeingül- tigkeit erlangt, ist angesichts der großen Heterogenität der Reichsbürger und der bisher lückenhaften Erkenntnislage diskutabel. Die Übergänge zwischen den einzelnen Gruppen sind mitunter fließend und Perso- nen, die sich mit der Bewegung identifizieren, können durchaus in mehrere Katego- rien eingeordnet werden, wodurch eine klare Abgrenzung nicht immer gelingt. Dies zeigt auch der Fall des eingangs erwähnten Wolfgang Plan aus Georgensmünd. Laut Verfassungsschutzberichts des Freistaat Bayern wird er der Gruppierung „Bun- desstaat Bayern“ zugeordnet, was ihn als Reichsbürger klassifiziert.69 Jedoch „um- grenzte“ Wolfgang Plan nicht nur sein Grundstück mit einer gelben Linie, um für alle sichtbar, die Grenzen seines „Staatsgebietes“ aufzuzeigen, sondern hisste er auch eine Flagge nebst Wappen und der Aufschrift „Plan“.70

Definition nach Rathje Wie die nachfolgende Abbildung verdeutlicht, greift Rathje die von Keil formulierten Definitionsansätze auf, vertieft diese allerdings noch hinsichtlich der „zugrundelie- genden Verschwörungstheorien“71, was eine differenzierte ideologische Trennung von Reichsbürgern und Selbstverwaltern ermöglicht. Rathje unterscheidet die Reichsbürger ebenfalls in vier Gruppen: „Rechtsextreme seit 1945, Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten“72.

68 Vgl. Keil: Zwischen Wahn und Rollenspiel – das Phänomen der „Reichsbürger“ aus psychologischer Sicht S. 39 f. 69 Vgl. Bayrisches Staatsministerium des Inneren, für Bau und Verkehr: Verfassungsschutzbericht 2016. S. 186. 70 Vgl. Darko, B. / Bakmaz, A.: Das Ende von „Regierungsbezirk Wolfgang“ in Georgensgmünd. 71 Rathje, J. (2017): Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten; Vom Wahn des bedrohten Deut- schen.1. Auflage. Münster: UNRAST- Verlag. S. 45. 72 Ebd. S. 47.

57 Differenzierung der Reichsbürger nach Rathje Rechtsext- „Reichsbür- „Selbstverwal- „Souveränis- reme ger“ ter“ ten“

Ideologi- Deutschland wird von einer fremden Macht beherrscht, die im Hintergrund sche die Fäden zieht. Klammer

Zentrale  BRD kein legaler/legitimer  BRD kein lega-  Deutschland Ideo- Staat ler/legitimer nicht souve- logeme  Deutsches Reich existiert Staat rän

Beispiele  Sozialisti-  Kommis-  Germaniten  COMPACT- sche Reichs-  sarische  Königreich Magazin partei Reichs-re- Deutschland  Teile der AfD  Teile der gierung  „(Re-)akti-  Teile von Vertriebe- (KRR) vierte Gemein- Pegida nenver-  Exilregie- den“ bände rung Deut-  OPPT-Anhän-  Teile der sches Reich gende NPD  Manfred Roeder  Deutsches Kolleg  Horst Mahler/ Sylvia Stolz Abbildung 1: Einteilung der Reichsbürger nach Rathje73

Rechtsextreme Unter Rechtsextremen seit 1945 versteht Rathje Gruppen oder Personen, „die seit 1945 an der Kampagne zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Gren- zen von 1937 bzw. 1939 beteiligt waren und sind“74. Ihr Verhalten ist von einem starken Antisemitismus geprägt, ebenso nehmen sie offensichtlich Bezug auf das Dritte Reich.75

73 Rathje, J.: Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten; Vom Wahn des bedrohten Deutschen. S.46. 74 Ebd. S. 47. 75 Vgl. Ebd. S. 47.

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Reichsbürger Von Rechtsextremen abzugrenzen sind Reichsbürger, welche er in der Tradition bzw. den Handlungslinien der Kommissarischen Reichsregierung von Wolfgang Ebel ste- hen sieht. Diese Gruppe bezeichnet sich teilweise selbst als Reichsbürger und stützt sich auf ihre Vielzahl an neu gegründeten, heterogenen Reichsregierungen und Zu- sammenschlüssen.

Selbstverwalter Klar separierend dazu verortet Rathje die Gruppe der Selbstverwalter, welche die Bundesrepublik Deutschland vor allem insbesondere deshalb ablehnen, da sie durch die Gründung eigener Staaten diese und sich selbst als souverän erklären und damit gewollte, nicht vorhandene Zugehörigkeit zur Bundesrepublik verdeutlicht werden soll.

Souveränisten Die sogenannten Souveränisten dagegen streben danach, die ihrer Auffassung nach, nicht vorhandene Souveränität der Bundesrepublik Deutschland herzustellen. Unklar bleibt, welches staatliche oder ethnische Gebilde unter diesem Deutschland verstan- den wird: eine Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland muss nicht zwangsläufig zu ihrem Gedankengut gehören.76 Subsumierend lässt sich feststellen, dass es in Wissenschaft und Forschung eine Viel- zahl an Definitionsansätzen gibt, die nicht zuletzt auch die Vielfältigkeit der darge- stellten Strömungen aufzeigen. Nachfolgend wird sich, auch in dem Bewusstsein der Komplexität dieser Einordnung, auf den Begriff „Reichsbürger/Selbstverwalter“ geeinigt und alle Strömungen unter diesen Begriff subsumiert, da in dem nachfolgend verwendetem Material oftmals keine Differenzierungen vorgenommen werden.

3. Personen- und Gefahrenpotenzial

In Folge der nicht vorhandenen Anerkennung der BRD und ihrer Rechtsordnung se- hen sich viele sogenannte Reichsbürger/Selbstverwalter in der Position, eigene Ge- setze und Rechtsnormen, teilweise sogar eigene Dokumente zu schaffen. Ihr ganzes Gedankenkonstrukt wird gestützt durch unterschiedliche ideologische bzw. ver- schwörungstheoretische Ansätze, durch welche sie ihr eigenes Handeln zu legitimie- ren glauben. In der Konsequenz und Praxis führt dies regelmäßig zu Konflikten mit Behörden. Wahlweise wird der Kontakt postalisch, in Form von selbst erstellten Do- kumenten und Anträgen, andererseits persönlich gesucht, möglicherweise verbun- den mit einem aggressives Auftreten, Bedrängen, Beleidigen bis hin zu körperlicher Gewalt gegenüber staatlichen Mitarbeitern.77

76 Vgl. Ebd. S. 47. 77 Vgl. Quent, M./Schulz, P. (2015): Rechtsextremismus in sozialen Kontexten. Vier vergleichende Fallstu- dien. Wiesbaden: Springer VS. S. 74.

59 Extremistische Bestrebungen innerhalb der Reichsbürger/Selbstverwalterbe- wegung Diese teilweise extremen Verhaltensmuster gegenüber staatlichen Mitarbeitern, die fehlende Anerkennung unserer Rechtsordnung und insbesondere das vollendete und das versuchte Tötungsdelikte gegenüber Polizeibeamten sorgte dafür, dass sich nicht nur die Öffentlichkeit stärker mit diesem Phänomen auseinander setzten, son- dern auch die Polizei und die Verfassungsschutzbehörden der Länder. Einige der Anhänger lassen sich unter Zuhilfenahme des Extremismus-Modells von Stöss zwei- felsohne in den Bereich des Rechtsextremismus einordnen. Dies kann jedoch nicht pauschalisiert werden. Bezugnehmend auf Anhaben des Bundesamtes für Verfas- sungsschutz beläuft sich, mit Stand 31. Dezember 2019, die Zahl der Reichsbür- ger/Selbstverwalter auf 19.000, wovon 950 der rechtsextremen Szene bzw. Ideologie zugeordnet werden. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz besteht das Personen- potenzial zu ca. einem Viertel aus weiblichen Personen, was im Vergleich zur rechts- extremen Szene deutlich höher ausfällt. Frauen betätigen sich zudem in herausge- hobenen Funktionen der Szene. Das Durchschnittsalter der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ liegt laut Bundesamt für Verfassungsschutz zwischen 40 und 60 Jahren.78 Für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern weist der Verfassungsschutzbericht für den Berichtszeitraum 2018 ein Personenpotenzial von 450 aus.79 Somit lässt sich festhalten, dass sich lediglich ein geringerer Prozentsatz des gesam- ten Reichsbürgermilieus als rechtsextremistisch bezeichnen lässt und zum anderen der Frauenanteil deutlich höher ist, als aus der rechtsextremen Szene bekannt. Trotz bestehender ideologischer Überschneidungen wird die Reichsbürgerbewegung als „sui generis“ und somit als eigenständiger Phänomenbereich betrachtet. In der Konsequenz bedeutet dies, dass neben den „klassischen“ Extremismusberei- chen des Links- und Rechtsextremismus, Reichsbürge/Selbstverwalter als eigenstän- diger Phänomenbereich von den Verfassungsschutzbehörden, auch des Verfas- sungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern, geführt wird.

Personenpotenzial der Reichsbürgerbewegung in der Bundesrepublik steigt an Da es derzeit noch keine zusammenfassende Datenlage gibt, die das Personenpo- tenzial des Reichsbürgermilieus für die Bundesrepublik und die einzelnen Bundes- länder umfassend darstellt, wurden nachfolgende Zahlen zusammengetragen. Grundlage hierfür stellen unterschiedliche Berichte dar. Selbstverständlich erhebt diese Darstellung keinen Anspruch auf abschließende Vollständigkeit. Vielmehr lie- gen ihr behördliche Dokumente, aber auch Medienberichte zugrunde. Gleichwohl ist sie aber dazu geeignet, einen Überblick über das vermutete Personenpotenzial mit Stand Januar 2018 zu geben.

78 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Personenpotenzial von „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“. Online verfügbar: https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/zur-sache/zs-2020-003-reichsbuerger- selbstverwalter-aktuelle-zahlen-dezember-2019 [09.07.2020] 79 Vgl. Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern: Verfassungsschutzbericht 2018. S. 73.

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Insgesamt konnten anhand der zur Verfügung stehenden und ausgewerteten Quel- len im Jahr 2018 15.330 Reichsbürger und Selbstverwalter als solche benannt wer- den. Allerdings entspricht dies nicht der absoluten und tatsächlichen Zahl, wie auch der ehemalige BfV- Präsidenten Hans Georg Maaßen mitteilte. Demnach liegen die aktuellen Zahlen bei ca. 16.500 Menschen, die sich mit der Ideologie der Reichsbür- ger identifizieren. Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass nicht alle Personen, die mitunter dieser Ideologie anhängen, auch entsprechend erfasst wer- den können. Das Dunkelfeld liegt mutmaßlich sogar noch höher. „Die Verfassungsschutzbehörden konnten mittlerweile 16.500 Reichsbürger und Selbstverwalter identifizieren. Der erneute Zahlenanstieg belegt, dass die verstärkte Aufklärung der Reichsbürgerszene durch die Verfassungsschutzbehörden erfolgreich ist. Wir schauen genau hin und werden dies auch in Zukunft tun. Die Zahlen können

80 Die dieser Darstellung zugrunde liegenden Quellen sind im Literaturverzeichnis gesondert ausgewiesen.

61 sich also durchaus weiter erhöhen. Erst die weitere Beobachtung wird zeigen, ob sich die Szene auf diesem Niveau etabliert“81. Wie sich im weiteren Verlauf des Jahres 2018 zeigte, haben die Verfassungsschutz- behörden des Bundes und der Länder einen weiteren zahlenmäßigen Anstieg des Personenpotenzials festgestellt. Mit Stand vom 30.9.2018 werden inzwischen 19.000 Personen den „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ zugerechnet, wovon 950 als rechtsextrem eingestuft werden. Darüber hinaus ließ sich feststellen, dass auch die Zahl der Inhaber von waffenrechtlichen Erlaubnissen, die dieser Szene zugerechnet werden, auf 940 Personen gestiegen ist.82 Mithin lässt sich feststellen, dass die durch die zunehmend starke Beobachtung der Sicherheitsbehörden das Dunkelfeld, zumindest bereits in Teilen, aufgehellt werden konnte. Allerdings scheint deutlich feststellbar, dass damit gerechnet werden muss, dass die Zahl der Personen, die dem Reichsbürgermilieu zugerechnet wird, auch zu- künftig ansteigen wird. In Auswertung der grafischen Darstellung 2018 lässt sich aufzeigen, dass ein Großteil der bekannten Reichsbürger in den Bundesländern Bayern, mit schätzungsweise 3.500, und Baden-Württemberg, mit schätzungsweise 2.500, zu verorten sind. Somit leben in diesen beiden Bundesländern ca. 39,14 % aller in Deutschland be- kannten Reichsbürger und Selbstverwalter. Über die Gründe der Häufigkeit, insbe- sondere in diesen beiden, wenn auch bevölkerungsreichen Bundesländern, lässt sich nur mutmaßen.

Personenpotenzial in Mecklenburg-Vorpommern Laut der zur Verfügung stehenden Zahlen, kann derzeit davon ausgegangen werden, dass sich die Anzahl der in Mecklenburg-Vorpommern lebenden Reichsbürger und Selbstverwalter auf ca. 300-400 Personen beläuft.83 Setzt man diese, zunächst gering wirkende Zahl allerdings ins Verhältnis zur Bevölkerung Mecklenburg-Vorpom- merns, befindet sich das Bundesland im Vergleich mit anderen, im oberen Drittel. Mit Datum vom 31. Mai 2012 versandte das das Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern erstmals ein Rundschreiben an die Landkreise, Landräte und Behörden, wie beispielsweise Personalausweisbehörden, Behörden für die Staatsangehörigkeit sowie Ordnungsbehörden zum Thema Reichsbürger.84 Durch diesen Erlass wird die Thematik des Reichsbürgertums unübersehbar öffentlich dis- kutiert aber auch in einen polizeilich relevanten Kontext gesetzt. Insbesondere wird

81 Bundesamt für Verfassungsschutz: Aktuelle Zahlen der „Reichsbürger und Selbstverwalter“. Online ver- fügbar: https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/zur-sache/zs-2018-001-o-ton-maassen-reichsbuer- ger-selbstverwalter. [31.03.2019]. 82 Vgl. Ebd. 83 Vgl. Pubantz, F. (2018): Caffier: Starker Zulauf bei „Reichsbürgern in MV. Online verfügbar: http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/MV-aktuell/Politik/Caffier-Starker-Zulauf-bei-Reichsbuergern- in-MV. [31.03.2019]. 84 Vgl. Ministeriums für Inneres und Sport (2012): Erlass: Verbreitung verschiedener Ideologien zum deut- schen Staat, zur deutschen Staatsangehörigkeit und daraus resultierende Rechten und Pflichten. II 230-140- 02010-2011/200-004, S. 1.

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mit diesem Erlass auf die geschichtliche Entstehung eingegangen, grundlegende Ar- gumentationslinien dekonstruiert sowie erläutert, in welcher Weise Behörden und Polizei mit Reichsbürgern in der Ausübung ihrer Dienstgeschäfte umgehen sollten.85 In dem Bewusstsein der zunehmenden Relevanz dieser Bewegung sowohl in gesell- schaftlicher, als auch polizeilicher und behördlicher Sicht, hat das Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg Vorpommern am 27. Januar 2017 einen weiteren Erlass an Landkreise und kreisfreie Städte übersandt. Auf Grundlage dieses Schrei- bens, wurden die Kommunalbehörden dazu verpflichtet, Straftaten, die durch Reichsbürger/Selbstverwalter begangen werden, umgehend zur Anzeige bei der Po- lizei zu bringen. Davon losgelöst wurde veranlasst, dass die Kommunen in allen Fäl- len eine Mitteilung an die Verfassungsschutzbehörde formulieren. Dazu muss ein Berichtsbogen „Reichsbürger“ ausgefüllt werden.86 Zum einen wird dadurch ge- währleistet, dass auf dem direkten Weg die Verfassungsschutzabteilung von diesem Ereignis Kenntnis erlangt. Zum anderen besteht dadurch die Möglichkeit im Dunkel- feld zu ermitteln, da bereits Auffälligkeiten, wie bspw. das Abgeben des Personal- ausweises, die fehlende Anerkennung der BRD oder ausgesprochene Drohungen zu einer Mitteilung führen können. „Mit Wirkung zum 1. Februar 2019 tritt „die Neufassung des Erlasses des Ministeri- ums für Inneres und Europa zum Umgang mit Personen aus dem Spektrum der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ in Kraft. Mit dem neuen Erlass erfolgt eine Ent- fristung der Informationspflicht, da auch in Zukunft mit dem Auftreten von sog. Reichsbürgern und Selbstverwaltern in staatlichen Einrichtungen zu rechnen ist.“87 In diesem Zusammenhang wurde auch der Berichtsbogen weiterentwickelt, der auf der Internetseite des Ministeriums für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpom- mern zum Download zur Verfügung steht.88 Die vernetzte Arbeit der Sicherheitsbehörden sowie anderer, kommunaler und städ- tischer, Behörden hat wesentlich dazu beigetragen, das Phänomen der Reichsbürger zu umstellen und aufzuhellen. Gleichwohl ist es gelungen, eine nummerische Erhe- bung vorzunehmen sowie die unterschiedlichen Akteure und Gruppierungen auch territorial zu verorten und damit das Gefährdungspotenzial sowie das Vorhanden- sein dieser Szene sichtbar zu machen.

4. Fazit

Es zeigt sich, dass das Phänomen Reichsbürger überaus vielfältig und ideologisch nicht einheitlich ist. Daher ist es geboten, die unterschiedlichen Strömungen, die

85 Vgl. Ebd. 1ff 86 Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg – Vorpommern (2017): Erlass vom 27.01.2017: Umgang mit „Reichsbürgern“ in kommunalen Behörden. 87 Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern: Reichsbürger – Aktuelles – Neuer Infor- mationserlass für kommunale Behörden, online abrufbar: https://www.verfassungsschutz-mv.de/Arbeits- felder/reichsbuerger/ 88 Vgl. Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern: Berichtsbogen „Reichsbürger und Selbstverwalter“.

63 mitunter durchaus dem Rechtsextremismus zuzuordnen sind, darzustellen. Trotz al- ler Unterschiede hat man sich insbesondere im behördlichen Kontext auf den Begriff „Reichsbürger/Selbstverwalter“ verständigt, da mit diesem eine eindeutige Zuord- nung erfolgen kann. Es konnte festgestellt werden, dass ca. 18% des Reichsbürgermilieus Bezüge zu rechtextremen Einstellungen und Ideologien aufweisen. Dennoch ist es geboten, wie es die Verfassungsschutzbehörden auch vornehmen, diese Bewegung als eigenstän- digen Bereich zu führen, zu beobachten und zu untersuchen. „Bereits im Jahr 2008 wurde im Verfassungsschutzbericht des [Landes Mecklenburg- Vorpommern] auf das Phänomen der „Reichsbürger“ hingewiesen“ und mit dem im Jahr 2012 verfassten Rundschreiben an die Landkreise reagiert.89 Damit ist dieser Bereich seit einigen Jahren stärker in den Blick genommen worden, womit der nicht zu unterschätzenden Gefahr dieser Klientel Rechnung getragen wird. Allerdings lässt sich vermuten, dass die Zahl der bekannten Reichsbürger und Selbst- verwalter auch zukünftig steigen wird, was mit zuweilen neuen Herausforderungen für die Polizei und Sicherheitsbehörden einhergeht. Auch das Land Mecklenburg-Vorpommern muss sich darauf einstellen, dass die be- zifferten 450 bekannten Reichsbürger/Selbstverwalter keine abschließende Zahl dar- stellen. Es wird behördenübergreifend zusammengearbeitet, um ein möglichst ge- naues Personenpotenzial auszumachen. Die bisher ermittelten Daten können als Grundlage für die weitere polizeiliche Arbeit dienen. Hier wird sich erst in den nächs- ten Jahren zeigen, welche Tendenzen sich in Bezug auf das Reichsbürgermilieu ab- zeichnen. Zukünftig werden alle im Polizeidienst Tätigen und dementsprechend auch die Lan- despolizei Mecklenburg-Vorpommern vor neue Herausforderungen, insbesondere im Umgang mit Reichsbürgern und Selbstverwaltern als polizeiliches Gegenüber ge- stellt sein. Es gilt mehr denn je, das Thema Eigensicherung und die Gefahren, die auch von sog. Reichsbürgern ausgehen können, in den Fokus des polizeilichen Han- delns zu rücken und die Polizeivollzugsbeamten dafür zu sensibilisieren und über mögliche typische Verhaltensweisen von sog. Reichsbürgern aufzuklären. Dabei kommt es nicht zwingen darauf an, die oftmals vorgebrachten Argumente, die die mangelnde oder gar fehlende Souveränität der Bundesrepublik und seiner Organe thematisieren, zu dekonstruieren. Es geht vielmehr darum, die Kolleginnen und Kol- legen fachlich, aber auch persönlich so zu sensibilisieren, so dass diese handlungs- sicher ihre polizeilichen Maßnahmen um- und durchsetzen. Hierfür gibt es bereits festgeschriebene Strategien, die zum großen Teil allgemeingültig sind. Oberste Pri- orität hat hierbei die Eigensicherung. Bereits vor dem Eintreffen am Einsatzort sollte man sich umfassend über die handelnden Personen vor Ort informieren, z.B. inwie- weit bereits Vorstrafen bestehen oder ob die Person/en im Besitz von Handfeuer-

89 Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern: Reichsbürger – Aktuelles – Neuer Infor- mationserlass für kommunale Behörden, online abrufbar: https://www.verfassungsschutz-mv.de/Arbeits- felder/reichsbuerger/

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waffen etc. ist/sind. Weiterhin ist es ratsam sich auf keine ideologischen bzw. ge- schichtlichen Diskussionen einzulassen. Es ist es von äußerster Wichtigkeit die poli- zeilichen Maßnahmen mit dem gebotenem Maß durchzusetzen um den Anhängern dieser Ideologie keine Deutungshoheit zukommen zu lassen, sondern klar aufzuzei- gen, dass die Polizei den demokratischen Rechtsstaat vertritt und geltendes Recht durchsetz. Das sollte im Idealfall deeskalierend, aber bestimmend geschehen.90 Aufgrund der Heterogenität der Gruppierung und der besonderen Affinität zu Waf- fen, welche dem Milieu zugesprochen wird, müssen sich die Ordnungsbehörden der Länder zukünftig weiter intensiv mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Vorfälle, wie sie sich in Georgensmünd und Reuden zugetragen haben, dürfen sich keinesfalls wiederholen und haben die polizeiliche Sichtweise nachhaltig geprägt. Aufklärung des Personenpotenzials, Erstellung von Gefahrenprognosen, Beschlagnahmung von legal erworbenen Waffen innerhalb der Anhängerschaft, sind Problemstellungen, mit denen sich Behörden bereits beschäftigen müssen. Reichsbürger und Selbstverwalter sind unberechenbar und werden auch in Zukunft weiter in den Blickpunkt der Medien und der Ordnungsbehörden rücken. Zudem ist eine umfassende Aufklärung der Zivilgesellschaft sowie der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes unerlässlich, damit diese handlungssicher den demokrati- schen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland vertreten können.

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90 Vgl. Rathje, J./Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.) (2014): „Wir sind wieder da“- Die „Reichsbürger“: Über- zeugungen, Gefahren und Handlungsstrategie, Berlin. S. 14 f.

65 Online verfügbar: https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/zur-sache/zs- 2020-003-reichsbuerger-selbstverwalter-aktuelle-zahlen-dezember-2019 [09.07.2020]

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Urt. v. 23.10.2017, Az. Az. 5 Ks 113 Js 1822/16.

67 Quellen der Abbildung zum Personenpotenzial

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Sachsen 718 40 http://www.verfassungsschutz.sach- sen.de/download/Lagebild_Reichsbu- erger_und_Selbstverwalter.pdf (30.07.2017)

Sachsen- 330 https://www.mdr.de/sachsen-an- Anhalt halt/halle/prozessbeginn-reichsbuer- ger-reuden-100.html (09.10.2017)

Thüringen 650 Ca. 50 http://www.thueringer-allge- meine.de/web/zgt/politik/detail/-/spe- cific/Zahl-der-Reichsbuerger-in- Thueringen-steigt-weiter-355415679 (16.09.2017)

68

Bayern 3500 (247) http://www.verfassungsschutz.bay- ern.de/weitere_aufgaben/reichsbuer- ger/index.html (31.10.2017)

https://www.vice.com/de/ar- ticle/yw5wx7/die-anzahl-der-reichsbur- ger-hat-sich-in-bayern-verdoppelt (28.12.2017)

Baden- 2500 http://www.badische-zeitung.de/sued- Württem- west-1/verfassungsbehoerden-zaeh- berg len-in-baden-wuerttemberg-2500- reichsbuerger--148168642.html (12.01.2018)

Saarland 75 16 https://www.saarbruecker-zei- tung.de/politik/themen/minister- warnt-vor-110-reichsbuergern-im- saarland_aid-7042472 (12.01.2018)

Rheinland- 460 https://www.welt.de/regionales/rhein- Pfalz land-pfalz-saarland/ar- ticle170283968/Mehr-Reichsbuerger- in-Rheinland-Pfalz.html (03.11.2017)

Nordrhein- 2200 https://www.welt.de/regionales/nrw/ar- Westpha- ticle172756821/Reichsbuerger-in- len NRW-Die-Gefahr-vom-Lande.html (23.01.2018)

Niedersa- 1400 https://www.welt.de/regionales/nieder- chen sachsen/article172405224/Bericht- 1400-Reichsbuerger-in-Niedersach- sen.html (12.01.2018)

Hamburg 120 https://www.abendblatt.de/ham- burg/article212514197/Verfassungs- schutz-Mehr-Reichsbuerger-in-Ham- burg.html (12.11.2017)

69 Bremen 116 https://www.kreiszeitung.de/loka- les/bremen/eine-extreme-gruppie- rung-9575302.html (31.01.2018)

Hessen Ca. http://www.faz.net/aktuell/rhein- 700 main/verfassungsschutz-beobachtet- reichsbuerger-in-hessen- 14981426.html (21.04.2017)

Schleswig- 178 https://www.focus.de/politik/deutsch- Holstein land/effektive-methode-mit-einem-ge- nialen-trick-will-schleswig-holstein- reichsbuergern-nun-den-garaus-ma- chen_id_7457673.html (11.08.2017)

weitere Ausführungen dazu: Lipp,S. (2017): Die „Reichsbürger“-Szene im Fokus. Online verfügbar unter; https://www.bnr.de/artikel/hintergrund/die-reichsb-rger-szene-im-fokus.

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Politischer Extremismus in Mecklenburg-Vorpommern – Herausforderung von Prävention und die Rolle der Polizei

Henriette Sohns, Maria-Luisa Waßmann

1 Einleitung

In den letzten Jahren rücken extremistische Ideologien immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit und es hat den Anschein, als würden sie Zulauf bekommen. So wurde zum Beispiel im Jahr 2017 im Zuge des G20-Gipfels, vermehrt über Linksext- remismus berichtet und diskutiert, da dort massiv Gewalttaten verübt wurden. Aber auch der Rechtsextremismus steht in den letzten Jahren vermehrt im Fokus politi- scher und gesellschaftlicher Debatten, da dieser im Zusammenhang mit der sog. „Flüchtlingskrise“ in den Jahren ab 2014 deutlich zu Tage trat. Ebenso erschüttern islamistische Anschläge Europa und die Welt. Die besondere Gefährlichkeit politischer Extremismen ergibt sich bereits aus der De- finition. Alle Formen des politischen Extremismus sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den demokratischen Verfassungsstaat und damit die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnen und beseitigen oder einschränken wollen. Demzufolge leugnen sie im Kern die Pluralität der Interessen und damit einhergehend ein Mehr- parteiensystem und das Recht auf Opposition.91 Ein weiteres Merkmal jeder Form von Extremismus, was diesen so gefährlich macht, ist die Anwendung von Gewalt, welche vor allem dazu dient, die Grundwerte des demokratischen Verfassungsstaa- tes und die damit verbundenen Werte des Grundgesetzes anzugreifen. Gleichzeitig wird durch Taten von Extremisten, die sich auf Grund ihrer Ideologie legitimiert se- hen, ein Gefühl der Angst innerhalb der Gesellschaft verbreitet.92 Wie extremistisch motivierte Gewalttaten in der jüngeren Vergangenheit der Bun- desrepublik gezeigt haben, ist das Thema der Radikalisierung- bzw. Extremis- musprävention ungebrochen von hoher Bedeutung. Doch wer ist tatsächlich für Prävention zuständig und führt diese aus? Beschränkt sich dies auf zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine, oder hat auch die Polizei als Gefahrenabwehrbehörde einen Anteil an der Prävention von politischem Extremismus? Neben einer Analyse der Lage des politischen Extremismus in Meck- lenburg-Vorpommern (M-V) sollen diese Fragen im Folgenden geklärt werden.

91 Vgl. Jesse, Eckhard: Rechtsextremismus in Deutschland. Definition, Gewalt, Parteien, Einstellungen; In: Boers, Klaus et al.: Neue Kriminalpolitik, Baden-Baden 2017, S. 17. 92 Vgl. Jaschke, Hans-Gerd: Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006, S. 39. 71 2 Lage des politischen Extremismus in Mecklenburg-Vorpommern

Dass die eben beschriebenen Erscheinungsformen in der Bundesrepublik Deutsch- land vertreten sind, ist durch das teilweise aggressive Auftreten einiger Aktivisten und durch die Veröffentlichung von entsprechenden Statistiken hinlänglich be- kannt.93 Bei den politisch motivierten Straftaten sind erhebliche Schwankungen in den De- liktsfeldern Rechts- und Linksextremismus erkennbar. Die meisten politisch moti- vierten Straftaten seit dem Jahr 2010 sind allerdings dem Deliktsbereich des Rechts- extremismus zuzuordnen.94 Die rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten sind auch im Vergleich zu anderen Bundesländern, gemessen an der Einwohnerzahl, in M-V deutlich überrepräsentiert.95 Besonders bemerkenswert ist aber, dass in den Jahren 2010 bis 2011 und 2015 bis 2017 eine Abhängigkeit dieser beiden Deliktsfel- der zu verzeichnen ist. Eine Erklärung dafür ist, dass das erhöhte Straftatenaufkom- men eines Deliktsfeldes eine Provokation für das politische Gegenlager darstellt und so auch dort vermehrt Straftaten verübt werden. Der Phänomenbereich Islamismus taucht in der Statistik zur PMK erstmal 2014 auf. Dieser steigt bis 2016 kontinuierli- che an, bis die Straftaten 2017 wieder zurückgegangen sind. Auch islamistisch mo- tivierte Straftaten beeinflussen das Vorhandensein von PMK links und rechts. So er- höhte sich auch die Anzahl rechtsextremistischer Straftaten nach dem erstmaligen Auftreten von islamistisch motivierten Straftaten im Jahr 2014. Nur ein Jahr später stieg auch die Anzahl linksextremistischer Straftaten. Eine gegenseitige Beeinflus- sung der verschiedenen politischen Extremismen ist daher deutlich erkennbar. Im Phänomenbereich Rechtsextremismus ist besonders zu bemerken, dass das Agitati- onsfeld des Antisemitismus in den letzten Jahren kontinuierlich stieg.96

93 Vgl. Kailitz, Steffen: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesba- den 2004, S. 13. 94 Vgl. Ministerium für Inneres und Europa 2019: Politisch motivierte Kriminalität (PMK) in Mecklenburg- Vorpommern Jahresbericht 2018; URL: https://www.regierung-mv.de/serviceassistent/_php/down- load.php?datei_id=1612179 [Stand: 08.04.2020 15:40 Uhr]. 95 Vgl. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutzbericht 2015, S. 30; sowie Verfassungs- schutzbericht 2016, S. 28; sowie Verfassungsschutzbericht 2017, S.29 im Zusammenhang mit vgl. Statista: Bevölkerung - Einwohnerzahl der Bundesländer in Deutschland am 31. Dezember 2017 (in 1.000); URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/71085/umfrage/verteilung-der-einwohnerzahl-nach-bun- deslaendern/; [Stand 08.04.2020, 17:30 Uhr]. 96 Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz M-V: Verfassungsschutzbericht des Landes M-V 2018, S. 17 sowieso vgl. Ministerium für Inneres und Europa 2019: Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2018 in Mecklenburg-Vorpommern; URL: https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/im/Aktu- ell?id=146786&processor=processor.sa.pressemitteilung&sa.pressemitteilung.sperrfrist=alle [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

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In der folgenden Abbildung (Abb. 1) ist der eben beschriebene Verlauf der PMK in den drei Deliktsbereichen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus zur besseren Übersichtlichkeit dargestellt.

Entwicklung PMK seit 2010 in M-V 1900 1800 1700 1600 1500 1400 1300 1200 1100 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

PMK gesamt PMK rechts PMK links PMK religiöse Ideologie Abb. 1: Entwicklung politisch motivierter Straftaten seit 2010 in M-V (Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Statistiken zur PMK seit 2010, weitere Angaben siehe Anlage 1)

Das Personenpotenzial, welches sich aus den Verfassungsschutzberichten des Lan- des M-V ergibt, ist seit 2014 in allen drei Phänomenbereichen kontinuierlich gestie- gen. Im Gegensatz dazu sind bei dem Verlauf von PMK erhebliche Schwankungen zu erkennen. Daran ist deutlich zu ersehen, dass mit einem Anstieg des Personen- potenzials nicht automatisch auch die PMK steigt. Im Vergleich zu 2014 steigt z.B. das Personenpotenzial im Linksextremismus, die Anzahl der begangenen Straftaten sinken hingegen leicht. Der Phänomenbereich mit dem größten Personenpotenzial stellt wiederum der Rechtsextremismus dar. In der folgenden Abbildung ist der Ver- lauf des Personenpotenzials zur besseren Veranschaulichung visualisiert.97

97 Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz M-V: Verfassungsschutzberichte des Landes M-V der Jahre 2014- 2018.

73 Personenpotenzial in M-V 1.600 1.500 1.400 1.300 1.200 1.100 1.000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 2014 2015 2016 2017 Rechtsextremismus Linksextremismus Islamismus Abb. 2: Entwicklung des Personenpotenzials politischer Extremismen in M-V (Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage der Verfassungsschutzberichte seit 2014 des Lan- des MV, genaue Quellenangabe siehe Anlage 2)

Für das stetig wachsende Personenpotenzial könnte eine Ursache unter vielen an- deren die immer größer werdende Bedeutung des Internets und der sozialen Netz- werke darstellen. Es kann so in einer kurzen Zeit eine große Anzahl von Menschen mit extremistischen Inhalten erreicht werden, bspw. in Form von Videos und Fotos. Allgemein ist festzustellen, dass durch die über Jahre stetig steigende Zahl der PMK und des Personenpotenzials eine Verhinderung dieser extremistischen Erscheinun- gen notwendig ist, um ein weiteres Erstarken des politischen Extremismus in M-V und somit auch Straftaten zu verhindern. Es reichen also in allen angesprochenen Phänomenbereichen des politischen Extremismus rein repressive Mittel nicht aus, um diesem zu begegnen und entgegen zu wirken. Besonders das kontinuierlich stei- gende Personenpotenzial zeigt, dass es wichtig ist, nicht erst zu handeln, wenn es zu Straftaten gekommen ist, sondern bereits eine Radikalisierung verhindert werden muss. Repressive Maßnahmen müssen dementsprechend durch präventive Strate- gien und Maßnahmen ergänzt werden.98 Nachfolgend wird sich bei der Darstellung der Präventionsarbeit in M-V ausschließ- lich auf einen Phänomenbereich bezogen, da eine umfassende Darstellung aufgrund des begrenzten Umfanges ansonsten nicht möglich ist. Da der Phänomenbereich Rechtsextremismus, wie bereits erläutert, die größte extremistische Gefahr in M-V darstellt, wird die Präventionsarbeit im M-V dahingehend beleuchtet.

98 Goertz, Stefan und Goertz-Neumann, Martina: Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung, Hei- delberg 2018, S.222.

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3 Zivilgesellschaftliche Prävention von Rechtsextremismus in Mecklenburg-Vorpommern

Die Öffentlichkeit suggeriert teilweise, dass sich alleine durch eine gute „Sicherheits- architektur“, also eine effektive Polizei und Strafverfolgung, das Problem Rechtsext- remismus lösen lässt. Außer Frage steht, dass dies eine wichtige Komponente dar- stellt, allerdings sind andere Einrichtungen wie Sozial- und andere Behörden, Schule und solche, die erzieherische, familienorientierte Straffälligenarbeit durchführen, ebenso bedeutsam. Es ist ein enges Zusammenwirken dieser genannten Bereiche erforderlich.99 Repressives und präventives Vorgehen müssen in der Praxis konkret ergänzt werden und gehören untrennbar zusammen.100 Hinzu kommt, dass Extre- mismusprävention und Demokratieförderung vielschichtig sind und eine gesamtge- sellschaftliche Aufgabe darstellen. Die Bundesregierung arbeitet daher mit den Bun- desländern, den Kommunen und der Zivilgesellschaft zusammen. Nur wenn alle ihre Aufgaben wahrnehmen und gemeinsam tätig werden, kann Prävention gelingen.101 Distanzierungs- und Ausstiegsberatung im Bereich Rechtsextremismus, wird mit Un- terstützung der Bundesregierung in allen Bundesländern in der Regel von Nichtre- gierungsorganisationen (NGO) umgesetzt.102

3.1 Rechtsextremismusprävention durch politische Bildung

Politische Bildung soll Bürgerinnen und Bürgern die Kompetenz vermitteln, kom- plexe gesellschaftliche Zusammenhänge zu erkennen, zu würdigen und so selbstbe- stimmte Entscheidungen treffen zu können.103 Darunter fällt auch die Vermittlung von Wissen über den Nationalsozialismus, um so Jugendliche für dieses Thema zu sensibilisieren und so im schulischen als auch im außerschulischen Kontext zur Rechtsextremismusprävention beizutragen.104 Die Schwierigkeit liegt darin, Bezug

99 Vgl. Baer, Silke und Möller, Kurt und Wiechmann, Peer (Hrsg.): Verantwortlich Handeln, Leverkusen-Opla- den 2014, S. 48. sowie vgl. Goertz und Goertz-Neumann 2018, S.6. 100 Vgl. Salzborn, Samuel: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Baden-Baden 2018, S. 141. 101 Die Bundesregierung: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförde- rung, 2016, S. 17. 102 Vgl. Ebd., S.23. 103 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Politische Bildung; URL: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaftlicher-zusammenhalt/politische-bil- dung/politische-bildung-node.html; [Stand: 30.06.2020 15:05 Uhr]. 104 Vgl. Die Bundesregierung: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokra- tieförderung, 2016, S. 144.

75 zu aktuellen Ausdrucks - und Erscheinungsformen von Rechtsextremismus herzu- stellen.105 Primärer Adressat von politischer Bildung sollte nie ein Rechtsextremist sein, da politische Bildung eine demokratische Perspektive ausbildet, die extremisti- sche Denkmuster nicht toleriert.106 Schulen haben grundsätzlich den Auftrag, Jugendliche in einer demokratischen Grundhaltung zu bestärken, sie zu gesellschaftlicher und politscher Partizipation zu ermutigen.107 Durch politische Bildung kann dieser Auftrag erreicht werden und so zur Extremismusprävention beigetragen werden. Allerdings ist es wichtig, dass sie in allen Schulformen Gegenstand und dort als Unterrichtsprinzip möglichst immer prä- sent ist. Außerschulische Initiativen und Personen wie z.B. Zeitzeugen und Experten sollten ergänzend in den Unterricht mit einbezogen werden.108 Des Weiteren ist es wichtig, darauf zu achten, dass in Schulbüchern die Geschichte des Nationalsozialis- mus reflektiert wird, was häufig, insbesondere auf die Täterperspektive bezogen, ausbleibt.109 Allgemein ist allerdings festzuhalten, dass Schule einen geeigneten Rahmen für po- litische Bildung bietet und dementsprechend auch angewendet werden sollte. Trotz umfassender und gut umgesetzter politischer Bildung ist jedoch eines zu beachten: Schule kann viel, aber nicht alles leisten. Daher ist eine externe Beratung für Schulen wichtig, vor allem wenn sich rechtsextremes Gedankengut in der entsprechenden Region verdichtet hat. Mobile Beratungsteams bieten z.B. ihre Unterstützung an, aber auch Betroffenenberatungsstellen können im Einzelfall eine geeignete Adresse darstellen.110 Negative Auswirkungen für eine kritische politische Bildung an Schulen haben allerdings auch die Vergrößerung der Klassen und die immer stärkere Belas- tung der Lehrer.111 Dies erschwert einen intensiven und auf bestimmte Klassen und Schüler abgestimmten Unterricht.

105 Vgl. Bechter, Nico: Radikalisierung und terroristische Gewalt. Perspektiven aus dem Fall- und Bedro- hungsmanagement, 2016, S. 144–145; zitiert nach Schubarth, Wilfried und Ulbricht, Juliane: Rechtsextre- mismus als Aufgabe und Gegenstand schulischer Bildung. In: Kopke, Christopher (Hrsg.): Angriffe auf die Er- innerung: Rechtsextremismus und die Gedenkstätte in Sachsenhausen. Berlin 2014, S. 160. 106 Vgl. Salzborn 2018, S. 142. 107 Vgl. Baer et al. 2014, S. 79. 108 Vgl. Bechter 2016, S. 96–97. 109 Vgl. Ebd., S. 101–102. 110 Vgl. Glaser, Stefan und Pfeiffer, Thomas: Erlebniswelt Rechtsextremismus. Menschenverachtung mit Un- terhaltungswert; Hintergründe, Methoden, Praxis der Prävention, Bonn 2013, S. 155. 111 Vgl. Bechter 2016, S. 88.

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3.2 Zivilgesellschaftliche Präventionsprogramme in Mecklenburg- Vorpommern

In M-V leisten nicht nur Programme und Projekte Präventionsarbeit, die auf Landes- ebene entstanden sind und gefördert werden, sondern auch Projekte auf Bundes- ebene und von NGO`s. Einige dieser Projekte werden im weiteren Verlauf beschrie- ben und Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ebenen erläutert. Auf Bundesebene sind Programme wie „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsext- remismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ sowie die Angebote und Maßnahmen der Bundeszentrale für politische Bildung und weiterer Träger von zentraler Bedeutung.112 Mit dem Bundesprogramm „Zusam- menhalt durch Teilhabe“ fördert das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat insbesondere Projekte in ländlichen oder strukturschwachen Regionen wie M-V in denen extremistische Tendenzen Wirkung entfalten. Diese Projekte sollen im Vorfeld möglicher extremistischer Gefährdungen, also als primäre Prävention, agie- ren.113 In M-V werden so Projekte des Landessportbundes (Mobile Beratung im Sport), des Landesfeuerwehrverbandes (FunkstoFF) und der Evangelisch-Lutheri- schen Landeskirche (Kirche stärkt Demokratie) gefördert.114 Auch durch das Bunde- sprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Men- schenfeindlichkeit“ fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ziviles Engagement und demokratisches Verhalten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Kommunen werden deutschlandweit als lokale „Partnerschaften für Demokratie“ und Bundesländer als Landesdemokratiezentren gefördert. Die Pro- grammumsetzung erfolgt über Modellprojekte.115 Durch das „Forum gegen Rassis- mus“ ist eine interne Diskussionsplattform geschaffen, auf der sich NGO`s und die Bundesregierung austauschen können.116 Im Jahr 2016 hat auch das Nationale Zent- rum für Kriminalitätsprävention seine Tätigkeit aufgenommen, mit dem Ziel das Wis- sen über Prävention weiter systematisch und themenbezogen aufzuarbeiten. Hierfür sollen Evaluationen z.B. der Bundesprogramme „Demokratie leben!“ und „Zusam- menhalt durch Teilhabe“ dienen.117

112 Vgl. Die Bundesregierung: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokra- tieförderung, 2016, S. 13. 113 Vgl. Ebd., S. 15. 114 Vgl. Zusammenhalt durch Teilhabe: Projektfinder; URL: http://www.zusammenhalt-durch-teil- habe.de/akteure/141906/projektfinder?bundesland%5B8%5D=8&suchwort=&projektsuche=1&suchen=Su- chen&paginator=0&showteaser=24&ansicht=liste; [Stand: 30.03.2020, 17:30 Uhr]. 115 Vgl. Die Bundesregierung: Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus, 2017, S. 22. 116 Vgl. Ebd., S. 6. 117 Vgl. Die Bundesregierung: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokra- tieförderung, 2016, S. 27.

77 Die Landesregierung M-V sieht Prävention seit vielen Jahren als eine gesamtgesell- schaftliche Aufgabe an. Das heißt, Polizei, Justiz und andere staatliche Einrichtungen, ebenso wie die vielen nichtstaatlichen Organisationen und letztlich der Bürger selbst, haben ihre Pflichten und Möglichkeiten einen Beitrag zur Prävention zu leis- ten. Eine zentrale Rolle bei der landesweiten Prävention spielt der Landesrat für Kri- minalitätsvorbeugung (LfK). Dort sind über 80 staatliche und nichtstaatliche Organi- sationen und Einrichtungen organisiert. Die landesweite Präventionsarbeit wird dort koordiniert sowie Projekte entwickelt und gefördert. Außerdem werden kommunale Räte gebildet, um auch auf kommunaler Ebene die Präventionsarbeit entsprechend organisieren zu können.118 Auch die Landeszentrale für politische Bildung Mecklen- burg-Vorpommern (LpB M-V) spielt eine zentrale Rolle in der Rechtsextremis- musprävention. Sie unterstützt Träger politischer Bildung, fördert deren Projekte und biete Informations- und Beratungsleistungen. Darüber hinaus sind weiterhin auch Projekte vor Ort, wie zum Beispiel „Demokratie auf Achse“, „DemokratieLaden Anklam“ und Wanderausstellungen entstanden. Insbesondere das Projekt „Demo- kratie auf Achse“ stellt im Flächenland M-V eine große Bereicherung dar. Durch die Mobilität des Busses kann so innerhalb kürzester Zeit eine Beratung in verschiede- nen Städten in ganz M-V erfolgen.119 Unter der Federführung der LpB MV wurde das Aussteigerprogramm „JUMP“ für Rechtsextremisten entwickelt, bei dem der Verfas- sungsschutz M-V seine Perspektive im Zuge länderübergreifender Zusammenarbeit einbringt und so mitwirkt. Dieses Programm beruht auf einer Kooperation zwischen staatlichen und privaten Stellen sowie auf einer länderübergreifenden Zusammen- arbeit. So sind zum Beispiel der Verfassungsschutz M-V sowie der Verein „Christli- ches Jugenddorfwerk e.V.“ (CJD) beteiligt.120 Des Weiteren fungiert das LpB M-V als Landeskoordinierungsstelle für Demokratie und Toleranz. Auf Grundlage des Lan- desprogramms „Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!“ werden Landes- und Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus koordiniert. Sie beantragt z.B. Mittel des bereits erwähnten Bundesprogrammes „Demokratie leben!“, wodurch auch das Programm „JUMP“ gefördert wird.121 Des Weiteren besteht im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ in M-V ein Beratungsnetzwerk für Demokratie und Toleranz, welches durch das Lan-

118 Vgl. Landesregierung MV: Prävention; URL: https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/im/Sicher- heit/Prävention/; [Stand: 30.03.2020 17:30 Uhr]. 119 Vgl. Landeszentrale für politische Bildung: Aufgaben und Angebote; URL: https://lpb-mv.de/ueber- uns/aufgaben-und-angebote/; [Stand: 30.03.2020 17:30 Uhr]. 120 Vgl. Verfassungsschutz M-V: Aussteigerprogramm; URL: http://www.verfassungsschutz-mv.de/ser- vice/aussteigerprogramm/; [Stand 30.03.2020 17:45 Uhr]. 121 Vgl. Landeszentrale für politische Bildung: Landeskoordinierungsstelle; URL: https://lpb-mv.de/ueber- uns/aufgaben-und-angebote/landeskoordinierungsstelle/; [Stand: 30.03.2020 17:35 Uhr].

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desdemokratiezentrum, angesiedelt bei der Landeszentrale für politische Bildung, organisiert wird. Hier werden Personen, Kommunen oder Institutionen bei der Stär- kung von Demokratie und Toleranz unterstützt, indem staatliche Behörden und nichtstaatliche Institutionen zusammenarbeiten und Kompetenzen gebündelt wer- den. Dafür werden zwischen den Mitgliedern regelmäßig Informationen ausge- tauscht sowie Fachexperten mit einbezogen.122 Vor allem sollen durch kooperative Absprachen Doppelbelegungen inhaltlicher Art vermieden werden.123 Neben den eben dargestellten staatlichen Programmen und Behörden arbeiten auf dem Gebiet der Rechtsextremismusprävention auch Nichtregierungsorganisationen. In M-V sind das z.B. das Christliche Jugenddorfwerk e.V. Nord (CJD Nord) und der Verein LOBBI e.V. für Opferberatung. Der Verein LOBBI unterstützt die Betroffenen rechter Gewalt und sensibilisiert die Öffentlichkeit für deren Perspektive, um so Dis- kriminierung entgegenzuwirken.124 Das CJD Nord bietet im Bereich der Prävention verschiedene Programme an. Dazu gehören „PräRaDEx“, welches z.B. zur Prävention im Haftkontext tätig wird, „Bidaya“, welches den gesamten Präventionsbereich des religiös begründeten Extremismus abdeckt und „JUMP“, welches Prävention im Be- reich von Rechtsextremismus leistet.125 Außerdem erfolgt eine Zusammenarbeit mit der Polizei. So wird die Polizei beispielsweise durch Bildungsangebote unterstützt.126 Um die eben beschriebenen landes- und bundesweiten Organisationen, Institutio- nen, Ämter und Präventionsprogramme sowie ihre Zusammenarbeit veranschauli- chen zu können, sind auf der folgenden Grafik die Verbindungen durch Pfeile ge- kennzeichnet sowie die verschiedenen Ebenen beschrieben (siehe Abb. 3).

122 Vgl. Beratungsnetzwerk für Demokratie und Toleranz: Beratungsnetzwerk Übersicht; URL: https://www.beratungsnetzwerk-mv.de/beratungsnetzwerk/uebersicht-beratungsnetzwerk/; [Stand 30.03.2020 17:45 Uhr]. 123 Vgl. Experteninterview mit einem Berater des Projektes „Jump“. 124 Vgl. Landesweite Opferberatung Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in Mecklen- burg-Vorpommern (LOBBI): Über uns; URL: https://www.lobbi-mv.de/ueber_uns/; [Stand: 30.03.2019 17:45 Uhr]. 125 Vgl. Experteninterview mit einem Berater des Projektes „Jump“. 126 Vgl. Experteninterview mit einem Berater des Projektes „Jump“.

79 Bundesprogramm: Modellprojekte Demokratie leben! Bundesregierung

Partnerschaften für Demokratie in Bundeszentrale Kommunen Landesdemokra- Bundesprogramm: für politische tiezentrum Zusammenhalt durch Teilhabe Bildung

O

Ausstiegs- r

g

programm a

n

i Bundesamt für „JUMP“ s a Verfassungsschutz

t

i

o

n

Aussteiger- programm Landeskoordinie- Landesamt für rungsstelle für Verfassungsschutz Forum gegen Demokratie und Rassismus e g la Toleranz d n ru Beratungsnetzwerk

G s l Demokratie und Verein LOBBI CJD

a

Landesprogramm n Toleranz MV

o

i

t

Demokratie und k

n

Toleranz gemeinsam u stärken F Landeszentrale für - Demokratie auf Achse politische Bildung Eigene Projekte - DemokratieLaden Anklam - Wanderausstellungen

Landesrat für Landesregierung Kommunalräte Nichtregierungsorganisationen/Vereine Kriminalitätsvorbeugung

Abb. 3: Netzwerk von Präventionsprogrammen (Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage von Internetquellen der dargestellten Programme, genaue Quellenan- gabe siehe Anlage 3)

4 Polizeiliche Prävention von Rechtsextremismus in Mecklenburg- Vorpommern

Eine besondere Rolle in der Präventionsarbeit des Landes M-V spielt die Landespo- lizei. Nach dem SOG M-V (§ 7 (1) Nr.4 SOG M-V) ist diese zur vorbeugenden Be- kämpfung von Straftaten sogar verpflichtet.127 Gem. § 1 (2) SOG M-V sollen dabei staatliche und nichtstaatliche Träger öffentlicher Aufgaben im Rahmen ihres Zustän- digkeitsbereiches zusammenwirken und zur Vermeidung strafbarer Verhaltenswei- sen beitragen. In dem Erlass des Innenministeriums für polizeiliche Prävention in Mecklenburg-Vor- pommern vom 20.05.2014 sind Grundsätze, Ziele, Zuständigkeiten sowie Melde - und Berichtswesen zur polizeilichen Prävention verbindlich festgelegt.128 Aus diesem Erlass, ebenso wie aus § 7 (1) SOG M-V ist zu entnehmen, dass polizeiliche Präven- tion ein Teil der Gefahrenabwehr und somit integraler Bestandteil des polizeilichen Gesamtauftrages ist. Im Folgenden wird auf den eben benannten Erlass Bezug ge- nommen. Als Ziele der polizeilichen Prävention sind im Allgemeinen die Reduzie- rung von Straftaten, Verkehrsunfällen und sonstigen Gefahren sowie Beeinträchti- gungen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung genannt. Zur Erreichung dieser

127 Vgl. Landesregierung: Prävention; URL: https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/im/Sicher- heit/Prävention/; [Stand: 30.03.2020 17:45 Uhr]. 128 Vgl. Polizeiliche Prävention in Mecklenburg-Vorpommern: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Mai 2014 – II 440-1 – II-203032042-2014/009-001.

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Ziele werden unter anderem Lagebilder zur Kriminalitäts- und Verkehrsunfallent- wicklung erstellt, um aus diesen problemorientierte Präventionsmaßnahmen ablei- ten zu können. Außerdem werden Konzepte und Projekte der Kriminal- und Ver- kehrsprävention initiiert und lokale Präventionsprojekte unterstützt. Zuständig für die Verwirklichung dieser Aufgaben und Ziele sind dementsprechend alle landes- weiten polizeilichen Behörden. Das Innenministerium legt die Strategie polizeilicher Prävention und damit die Grundlage dieser fest. Außerdem arbeitet es in landeswei- ten Präventionsgremien mit und gewährleistet eine enge Zusammenarbeit mit dem LfK. Als nächste Ebene stellt das LKA eine zentrale Koordinierungsstelle für die poli- zeiliche Prävention dar und ist zuständig für die Bund-Länder-Zusammenarbeit, er- stellt einen jährlichen Präventionsarbeitsplan und einen Präventionsjahresbericht, erarbeitet landesspezifische polizeiliche Präventionsmedien und arbeitet in Landes- gremien mit. Die Polizeipräsidien setzen Schwerpunkte und koordinieren die poli- zeiliche Präventionsarbeit. Als nachgeordnete Behörde sind Polizeiinspektionen pri- märer Träger polizeilicher Prävention, da sie dort stattfinden sollte, wo Kriminalität und Verkehrsunfallgeschehen entstehen und begünstigt werden. Sie erarbeiten Prä- ventionskonzepte, -projekte und -maßnahmen und setzen diese durch Präventions- berater um. Um diese Ziele und Aufgaben umsetzen zu können, erstellt das LKA daraus einen Präventionsarbeitsplan für das Land und legt diesen dem Innenminis- terium vor. Für eine optimale Umsetzung dieser Planung ist eine Kontrolle notwen- dig, um die Effektivität und den Nutzen der erfolgten Maßnahmen einschätzen zu können und diese zu optimieren. Dafür legen die Polizeipräsidien dem LKA einen Beitrag zum Jahresbericht über die Präventionsaktivitäten vor. Auf dieser Basis und unter Berücksichtigung der eigenen Aktivitäten legt das LKA dem Innenministerium den Präventionsjahresbericht der Landespolizei vor. Dieser Erlass regelt folglich die Rahmenbedingungen und Zuständigkeiten für poli- zeiliche Prävention, ohne dabei konkrete Deliktsfelder oder Präventionsmaßnahmen zu benennen.129

Ableitungen aus dem Präventionsjahresbericht Aus den bereits erwähnten Präventionsjahresberichten des LKA M-V geht hervor, in welchen Bereichen Prävention durchgeführt wird, welche Zielgruppen primär ange- sprochen wurden und welche Partner und Netzwerke es gibt. Im Folgenden werden die Präventionsjahresberichte der Jahre 2015 bis 2018 ausgewertet.

129 Vgl. Polizeiliche Prävention in Mecklenburg-Vorpommern: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Mai, 2014 – II 440-1 – II-203032042-2014/009-001.

81 Es lässt sich feststellen, dass in den Jahren von 2015 bis 2018 die Anzahl der gesam- ten Präventionsmaßnahmen von 7.296 Maßnahmen im Jahr 2015 auf 5.394 Maßnah- men im Jahr 2018 rückläufig ist. Gründe für diese rückläufige Entwicklung sind die erhöhte Anzahl erkrankter Präventionsbeamter und der stetig sinkende Personalbe- stand in Bezug auf die Präventionsarbeit in der Fläche. Nachdem sich die Maßnah- men im Bereich der Prävention von PMK im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 300% gesteigert haben, ist 2017 wieder ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Begrün- det wird dieser mit dem ebenfalls rückläufigen öffentlichen Fokus auf geflüchtete und zugewanderte Personen und die damit zusammenhängende verminderte Nach- frage dementsprechender Präventionsveranstaltungen. Diese Begründung ent- spricht der zurückgegangenen Anzahl politisch motivierter Straftaten in M-V (Abb. 1). Allgemein lässt sich feststellen, dass Prävention von PMK mit 0,53 %, 1,86 %, 1,60 % und 1,8 % der getroffenen Präventionsmaßnahmen den geringsten Anteil aus- macht. Vorrangige Partner für Präventionsmaßnahmen waren u.a. Schulsozialarbei- ter, Jugend- und Sozialämter der Kommunen und Landkreise und Präventionsräte. Das größte Teilnehmerfeld stellen in allen analysierten Jahren der Bereich der Kinder und Jugendlichen dar. Dies entspricht auch zumindest in Teilen den in den Leitlinien gesetzten Schwerpunkten und stimmt mit den Erkenntnissen überein, dass Präven- tion bei Kindern und Jugendlichen am wirksamsten und sinnvollsten ist.130

5 Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es in M-V durchaus ein greifbares Problem mit politischem Extremismus gibt. Bestätigt wird dies durch die dargestell- ten Statistiken zur politisch motivierten Kriminalität und durch die Verfassungs- schutzberichte des Landes M-V. Insbesondere der Phänomenbereich Rechtsextre- mismus ist in M-V auch im Vergleich zu anderen Bundesländern deutlich überreprä- sentiert. Aber auch grundsätzlich lässt sich feststellen, dass in allen Bereichen des politischen Extremismus das Personenpotenzial in den letzten vier Jahren stetig ge- stiegen ist. Mithin ist daraus abzuleiten, dass es unbestritten einen Bedarf an Prävention von politischem Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus, in M-V gibt, um diesen extremistischen Tendenzen entgegen zu wirken. Durch die dargestellten vielseitigen Maßnahmen unterschiedlicher Organisationen, Behörden und Programme ist die

130 Vgl. Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern 2016: Präventionsjahresbericht Mecklenburg-Vor- pommern 2015, sowie Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern 2017: Präventionsjahresbericht Mecklenburg-Vorpommern 2016, sowie Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern 2018: Präventions- jahresbericht Mecklenburg-Vorpommern 2017, sowie Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern 2019: Präventionsjahresbericht Mecklenburg-Vorpommern 2018.

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Präventionslandschaft in M-V allerdings gut aufgestellt und in der Lage differenziert Präventionsarbeit zu leisten und diesen Bedarf zu erfüllen. Ebenso sind durch ein Beratungsnetzwerk sowie das „Forum gegen Rassismus“ und durch die Einrichtung eines Nationalen Zentrums für Kriminalitätsprävention Ebenen des Austausches ge- schaffen worden, um systematisch und effizient vorzugehen. Auch die Landespolizei M-V trägt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten, einen wichti- gen Teil zur Extremismusprävention in M-V bei. Wichtig zu bemerken ist, dass Prävention auch die Aufgabe eines jeden Bürgers ist, indem extremistische Äußerungen nicht akzeptiert oder bagatellisiert werden.

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Zusammenhalt durch Teilhabe: Projektfinder; URL: http://www.zusammenhalt- durch-teilhabe.de/akteure/141906/projektfinder?bundesland%5B8%5D=8&such- wort=&projektsuche=1&suchen=Suchen&paginator=0&showteaser=24&an- sicht=liste; [Stand: 08.04.2020, 16:50 Uhr].

Sonstige Quellen:

Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): Verfassungsschutzbericht 2015.

Bundesamt für Verfassungsschutz (2017): Verfassungsschutzbericht 2016.

Bundesamt für Verfassungsschutz (2018): Verfassungsschutzbericht 2017.

Die Bundesregierung (2016): Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprä- vention und Demokratieförderung; online verfügbar: URL: https://www.bmfsfj.de/blob/109002/5278d578ff8c59a19d4bef9fe4c034d8/strate- gie-der-bundesregierung-zur-extremismuspraevention-und-demokratiefoerde- rung-data.pdf; [Stand 05.04.2019 20:00 Uhr].

Die Bundesregierung (2017): Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus; online ver- fügbar: URL: https://www.bmfsfj.de/blob/116798/5fc38044a1dd8e- dec34de568ad59e2b9/nationaler-aktionsplan-rassismus-data.pdf; [Stand 05.04.2019 20:00 Uhr].

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2015): Verfassungs- schutzbericht 2014.

86

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2016): Verfassungs- schutzbericht 2015.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2017): Verfassungs- schutzbericht 2016.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2018): Verfassungs- schutzbericht 2017.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2019): Verfassungs- schutzbericht 2018.

Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern (2019): Präventionsjahresbericht 2018.

Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern (2018): Präventionsjahresbericht 2017.

Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern (2017): Präventionsjahresbericht 2016.

Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern (2016): Präventionsjahresbericht 2015.

Polizeiliche Prävention in Mecklenburg-Vorpommern: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern vom 20. Mai 2014 – II 440-1 – II-203032042-2014/009-001

87 Anlagen

Anlage 1: Abb. 1 Entwicklung politisch motivierter Straftaten seit 2010 in M- V

Entwicklung PMK seit 2010 in M-V 1900 1800 1700 1600 1500 1400 1300 1200 1100 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

PMK gesamt PMK rechts PMK links PMK religiöse Ideologie Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage folgender Internetquellen:

Ministerium für Inneres und Europa 2019: Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2018 in Mecklenburg-Vorpommern; URL: https://www.regie- rung-mv.de/Landesregierung/im/Aktuell?id=146786&processor=proces- sor.sa.pressemitteilung&sa.pressemitteilung.sperrfrist=alle [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2018: Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2017 in Mecklenburg-Vorpommern; URL: https://www.regie- rung-mv.de/Landesregierung/im/Aktuell/?id=137455&processor=proces- sor.sa.pressemitteilung; [Stand: 08.04.2020 16:30 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2018: Politisch motivierte Kriminalität (PMK) in Mecklenburg-Vorpommern Jahresbericht 2017; URL: https://www.regierung- mv.de/serviceassistent/_php/download.php?datei_id=1599316; [Stand: 08.04.2020 16:30 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2017: Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2016 in Mecklenburg-Vorpommern; URL: https://www.regie- rung-mv.de/Landesregierung/im/Aktuell/?id=126538&processor=proces- sor.sa.pressemitteilung; [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

88

Ministerium für Inneres und Europa 2017: Politisch motivierten Kriminalität (PMK) 2016; URL: http://www.verfassungsschutz-mv.de/serviceassistent/_php/down- load.php?datei_id=1586864; [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2016: Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2015 in Mecklenburg-Vorpommern; URL: https://www.regie- rung-mv.de/Landesregierung/im/Aktuell/?id=114377&processor=proces- sor.sa.pressemitteilung; [Stand 08.04.2020 16:45 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2016: Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 2015; URL: https://www.regierung-mv.de/serviceassistent/_php/download.php?da- tei_id=1573634; [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2015: Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2014 in Mecklenburg-Vorpommern; URL: https://www.poli- zei.mvnet.de/Presse/Pressemitteilungen/?id=98528&processor=processor.sa.pres- semitteilung; [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

Ministerium für Inneres und Europa 2015: Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 2014; URL: https://www.polizei.mvnet.de/serviceassistent/_php/download.php?da- tei_id=152619; [Stand: 08.04.2020 16:45 Uhr].

Anlage 2: Abb. 2 Entwicklung des Personenpotenzials politischer Extremis- men in M-V

Personenpotenzial in M-V 1.600 1.500 1.400 1.300 1.200 1.100 1.000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 2014 2015 2016 2017

Rechtsextremismus Linksextremismus Islamismus

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage folgender Quellen:

89 Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2015): Verfassungs- schutzbericht 2014.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2016): Verfassungs- schutzbericht 2015.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2017): Verfassungs- schutzbericht 2016.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2018): Verfassungs- schutzbericht 2017.

Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (2019): Verfassungs- schutzbericht 2018.

Anlage 3: Abb. 3 Netzwerk von Präventionsprogrammen

Bundesprogramm: Modellprojekte Demokratie leben! Bundesregierung

Partnerschaften für Demokratie in Bundeszentrale Kommunen Landesdemokra- Bundesprogramm: für politische tiezentrum Zusammenhalt durch Teilhabe Bildung

O

Ausstiegs- r

g

programm a

n

i Bundesamt für „JUMP“ s a Verfassungsschutz

t

i

o

n

Aussteiger- programm Landeskoordinie- Landesamt für rungsstelle für Verfassungsschutz Forum gegen Demokratie und Rassismus e g la Toleranz d n ru Beratungsnetzwerk

G s l Demokratie und Verein LOBBI CJD

a

Landesprogramm n Toleranz MV

o

i

t

Demokratie und k

n

Toleranz gemeinsam u stärken F Landeszentrale für - Demokratie auf Achse politische Bildung Eigene Projekte - DemokratieLaden Anklam - Wanderausstellungen

Landesrat für Landesregierung Kommunalräte Nichtregierungsorganisationen/Vereine Kriminalitätsvorbeugung

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage folgender Quellen:

Beratungsnetzwerk Demokratie und Toleranz Mecklenburg-Vorpommern: Bera- tungsnetzwerk; URL: https://www.beratungsnetzwerk-mv.de/beratungsnetz- werk/uebersicht-beratungsnetzwerk/; [Stand: 06.05.2020 18:00 Uhr].

Bundesamt für Verfassungsschutz: Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten; URL: http://www.zusammenhalt-durch-teilhabe.de/ueberuns/141916/ueber-uns; [Stand: 06.05.2020 18:00 Uhr].

90

Bundesprogramm Demokratie leben!: Über Demokratie leben! URL: https://www.demokratie-leben.de/bundesprogramm/ueber-demokratie-le- ben.html; [Stand: 06.05.2020 18:00 Uhr].

Bundesprogramm Zusammenhalt durch Teilhabe: Über uns; URL: http://www.zu- sammenhalt-durch-teilhabe.de/ueberuns/141916/ueber-uns; [Stand: 06.05.2020 18:15 Uhr].

Christliches Jugenddorfwerk e.V. Nord: Angebote Migration , Forschung und Bera- tung; URL: https://www.cjd-nord.de/angebote/migration-forschung-und-bera- tung/; [Stand: 06.05.2020 18:15 Uhr].

Die Bundesregierung 2016: Strategie der Bundesregierung zur Extremismuspräven- tion und Demokratieförderung; online verfügbar: URL: https://www.bmfsfj.de/blob/109002/5278d578ff8c59a19d4bef9fe4c034d8/strate- gie-der-bundesregierung-zur-extremismuspraevention-und-demokratiefoerde- rung-data.pdf [Stand 06.05.2020 18:15 Uhr].

Die Bundesregierung 2017: Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus; online ver- fügbar: URL: https://www.bmfsfj.de/blob/116798/5fc38044a1dd8e- dec34de568ad59e2b9/nationaler-aktionsplan-rassismus-data.pdf [Stand 06.05.2020 18:30 Uhr].

JUMP – Ausstiegsarbeit in Mecklenburg-Vorpommern: Über uns; URL: http://www.jump-mv.de/ueber-uns/; [Stand: 06.05.2020 18:30 Uhr].

Landesweite Opferberatung Beistand und Information für Betroffene rechter Ge- walt in Mecklenburg-Vorpommern: Über uns; URL: https://www.lobbi- mv.de/ueber_uns/; [Stand: 06.05.2020 18:30 Uhr].

Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern: Landeskoordi- nierungsstelle; URL: https://lpb-mv.de/ueber-uns/aufgaben-und-angebote/landes- koordinierungsstelle/; [Stand: 06.05.2020 18:30 Uhr].

Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern: Projekte; URL: http://www.jump-mv.de/ueber-uns/; [Stand: 06.05.2020 18:30 Uhr].

Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern: Aussteigerprogramm; URL: http://www.verfassungsschutz-mv.de/service/aussteigerprogramm/; [Stand: 06.05.2020 18:30 Uhr].

91 Reichsbürger – eine phänomenologische Betrachtung Sven Hunger, Rita Bley

„Das Grundgesetz (...) geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammen- bruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch die Aus- übung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält“.131 Dieser Auszug aus dem Urteil des BVerfG bildet die Argumentationsgrundlage der sogen. Reichsbürger. Sie behaupten, dass das Deutsche Reich weiterhin besteht und eine eigene Rechtsfä- higkeit besitzt. Gleichzeitig zweifeln sie die Existenz der Bundesrepublik Deutschland an, erkennen die Gültigkeit von Gesetzen und behördlichen Bescheiden überwie- gend nicht an und geben sich zum Teil die Staatsangehörigkeit „Deutsches Reich“. Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen Einblick in die Welt der Reichsbürger gewähren. Zunächst werden die Begriffe Reichsbürger und Selbstverwalter definiert. Zur Beschreibung der Phänomenologie werden ihre grundlegenden Argumentatio- nen sowie die vorherrschenden Ideologien, die Aktions- und Erscheinungsformen mit ihren Zielen sowie die Verbindung zum Rechtsextremismus aufgezeigt.. Die Aus- führungen werden durch die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung von drei Interviews (zwei Reichsbürgern sowie ein Selbstverwalter) angereichert. Das derzeitige Lagebild wird beschreiben.

Begriffsbestimmung

In der Reichsbürgerbewegung lassen sich Reichsbürger und Selbstverwalter diffe- renzieren, wobei Schnittmengen in ihren Ideologien und Handlungsweisen erkenn- bar sind. Nach heutiger Auffassung werden mit dem Begriff Reichsbürger „Perso- nengruppen oder Einzelpersonen zusammengefasst, welche die Existenz der Bun- desrepublik als souveränen Staat leugnen, dafür aber den Fortbestand des deut- schen Reiches zumeist in den Grenzen von 1937 behaupten“.132 Es „sind Gruppie- rungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschied- lichen Begründungen, unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem

131 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 31.07.1973 - 2 BvF 1/73, BVerfGE 36. 132 Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking: Reichsbürger 2015:14.

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ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation abspre- chen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb bereit sind, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu begehen. Für die Verwirklichung ihrer Ziele treten sie aktiv ein, z.B. mit Werbeaktivitäten oder mit ag- gressiven Verhaltensweisen gegenüber den Gerichten und Behörden der Bundesre- publik Deutschland“.133 Selbstverwalter leiten aus der Ablehnung des „Fake-Staates“ BRD die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit ab, aus diesem auszutreten, sich unter Selbstverwaltung zu stellen, eigene Staaten zu gründen oder sich zu freien Men- schen oder Individuen zu erklären.134 „Sie sehen sich als globales Völkerrechtssub- jekt unter Umständen mit Gesetzgebungskompetenz und eigener Verfassung, deren Geltungsbereich auf den Reichsbürger und seine Wohnung begrenzt sei.“135 Zudem sind ihre Ziele zumeist nicht mit einer Wiederbelebung des Deutschen Reiches ver- bunden, sondern sie wollen eine eigene Verwaltung, ihre eigene Herrschaftsform erschaffen und diese wenn nötig mit unfriedlichen Mittel verteidigen. Reichsbürger und Selbstverwalter sind als heterogene Bewegung zu verstehen, die sich aus einer Vielzahl von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen zusammensetzt.

Phänomenologie

Reichsideologien stellen das Fundament der Argumentationen und Handlungswei- sen der Reichsbürgerbewegung dar. In diesem Abschnitt werden die vier grundle- genden Ideologien dargestellt.

Das Deutsche Reich besteht fort Durch die Reichsbürger wird reklamiert, dass das Deutsche Reich nicht untergegan- gen ist und weiterhin existiert. Dabei beziehen sie sich zumeist auf das eingangs aufgeführte Urteil vom BVerfG136. Folgt man der Argumentation, hat nicht das Deut- sche Reich am 8. Mai 1945 vor den Alliierten kapituliert sondern lediglich die deut- sche Wehrmacht. Somit wäre die Bundesrepublik Deutschland staatsrechtlich nicht existent und die Weimarer Verfassung als derzeitiges geltendes Recht anzusehen. Der Begriff Kapitulation ist auf Staaten nicht anwendbar, sondern nur auf Streit- kräfte.137 Reichsbürger unterschlagen den weiteren Wortlaut des Urteils vom BVerfG, dort heißt es weiter, „das Deutsche Reich besteht fort [...], besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere

133 Ministerium für Inneres und Sport MV, Verfassungsschutzbericht 2016:82. 134 vgl. Rathje: Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten 2017:33. 135 Speit: Reichsbürger - Die unterschätzte Gefahr 2017:82. 136 BVerfG Urteil vom 31.07.1973 - 2 BvF 1/73, BVerfGE 36, S. 1 ff. 137 vgl. Schumacher „Vorwärts in die Vergangenheit“ 2016:61.

93 mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig. [...] Die Bundesre- publik Deutschland ist also nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat teilidentisch mit dem Staat Deutsches Reich, - in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch‘ [...]“.138 Damit von einem Staat im rechtlichen Sinne ausgegangen werden kann, bedarf es eines Staatsgebietes, eines Staatsvolkes und einer Staatsmacht.139 Dazu hat das BVerfG festgestellt, dass das Staatsgebiet des Deutschen Reiches durchaus teilidentisch mit dem Staatsgebiet der heutigen BRD anzusehen ist. die territorialen Grenzen wurden durch das Londoner Abkom- men aus dem Jahr 1944 bestimmt. „In diesem Abkommen vereinbarten die damali- gen drei Alliierten (USA, UdSSR, Großbritannien), wer welches deutsche Territorium besetzen soll. Mit der Datierung auf den 31.12.1937 gaben die Alliierten zu erken- nen, dass sie sämtliche auf Gebietserweiterung ausgerichtete Akte des Deutschen Reiches nach dem 31.12.1937 für illegal, weil völkerrechtswidrig erachten.“140 Also wäre das Staatsgebiet des Deutschen Reiches identisch mit dem der heutigen BRD, jedoch nur in seinen Grenzen zum Zeitpunkt vor dem 31.12.1937. Das Staatsvolk, leitet sich aus Artikel 116 GG ab und „definiert als Deutschen u.a., wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat“.141 Zur Staatsgewalt hat das BVerfG fest- gestellt, dass das Deutsche Reich „insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig“142 ist. Die politische Handlungsfähigkeit war im Zuge der deutschen Kapitulation nicht mehr gegeben. „Der größte Teil seines Gebietes war besetzt, und er konnte kaum noch Staatsgewalt ausüben.“143 Der Reichskanzler war tot und einen Nachfolger gab es nicht. „Der Rest von Hitlers Kabinett erklärte am 2. Mai seinen Rücktritt. Auch einen Reichstag gab es nicht mehr, weil es seit 1933 keine regulären Wahlen mehr gegeben hat“.144 Durch die Kapitulation der Streit- kräfte war das Deutsche Reich auch in militärischer Hinsicht nicht mehr handlungs- fähig.145 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Deutsche Reich im Sinne der 3-Elemente-Theorie zwar über Staatsgebiet (wenn auch nur teilidentisch) und Staatsvolk verfügte, jedoch keine Staatsmacht gegeben war. Darüber hinaus stützen Reichsbürger ihre Argumentation zum Fortbestand des Deutschen Reiches auf ein Urteil vom BVerfG, dessen Existenz sie ablehnen. Ein Interviewpartner führt dazu aus: „Deutschland (nicht BRD!), also das Deutsche Reich, ist seit dem 08.05.1945 dauerhaft von den Alliierten Streitkräften bis zum heutigen Tage besetzt. Es gelten

138 BVerfG Urteil vom 31.07.1973. 139 vgl. Hitschold Staatskunde - Grundlagen für die politische Bildung 2007:24. 140 Caspar/Neubauer in: Wilking 2015:103. 141 Caspar/Neubauer Durchs wilde Absurdistan 2012:530. 142 BVerfG Urteil vom 31.07.1973 - 2 BvF 1/73, BVerfGE 36, S. 1 ff. 143 Schumacher 2016:62. 144 ebd. 62. 145 ebd. 63.

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nach wie vor die Alliierten SHAEF-Gesetze und die BRD ist ein von den Alliierten Streitkräften eingerichteter Verwaltungsapparat, nachzulesen in der voll gültigen Haager Landkriegsordnung. Seit diesem Datum haben wir in Deutschland ein Prob- lem mit der (nicht vorhandenen) Souveränität, und damit mit Menschen, die genau dieses für die BRD einfordern. (...) Das Problem an sich ist jetzt, dass der gemeine Bundesbürger nicht mehr fähig zu sein scheint für eine schlüssige Argumentation all jener, die sich trauen ihren Verstand zu benutzen und die richtigen Fragen zu stellen, um eine vernünftige Aufarbeitung dieses Abschnittes (also der Zeit des 3. Reiches) unserer reichen Geschichte abzuarbeiten und damit in Frieden zu kommen. Es ist in der BRD nicht gestattet, die richtigen Fragen zu stellen, da man in die eigens bereit- gestellte Schublade „Reichsbürger“ gesteckt wird (...). Ein anderer Interviewpartner äußert sich zum Fortbestand des Deutschen Reiches wie folgt: „Ein Deutscher vertritt Werte wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Treue, Liebe, Wahrheit und nicht zuletzt Ehre. Diese Werte werden vom Bundesbürger aufgrund der schweren Täuschung, der er unterliegt in Bezug auf das Deutsche Reich, verpönt (...) Es sei für Ihr Verständnis noch einmal deutlich hervorgehoben, dass die BRD mit der Heimat der Deutschen, Deutschland oder auch dem Deutschen Reich, rein gar nichts gemeinsam hat- auch dann nicht, wenn die Verwalter des Reichsgebietes sich als „Deutschland“ ausgeben, auch das ist schwerste Vernebelung der Tatsachen und damit schwere Täuschung und Anmaßung und damit ein strafbarer Akt. Der korrekte Passus muß immer heißen „Bundesdeutsch“. Die BRD wurde dem deutschen Volk seitens der Alliierten aufge- zwungen, nachdem unsere Vorfahren ihr Land buchstäblich bis zur letzten Patrone v e r t e i d i g t e n ! Ein anderer stellt fest: „Ich halte es prinzipiell für möglich und wahrscheinlich, dass es sich bei der auf deutschem Boden 1949 (noch vor der DDR) gegründeten BRD in Wahrheit nicht um einen souveränen Nachfolgerstaat Deutsch- lands handelt, sondern um eine US amerikanische Zwangsverwaltung, eine Kolonie oder wie immer man das nennen will, die sich evtl. widerrechtlich auf deutschem Boden befindet. Viele Punkte sprechen dafür: Bis heute werden wir durch 14 ameri- kanische Stützpunkte in Deutschland kontrolliert, überwacht, (...)Was ist, wenn in Wahrheit das Deutsche Reich (Deutschland) tatsächlich nie bedingungslos kapitu- liert hat und das Deutschland als Deutsches Reich fortbesteht und sich die BRD tat- sächlich wiederrechtlich auf der gleichen Fläche befindet?“ Alle Interviewpartner ha- ben sich damit entsprechend der erläuterten These geäußert und diese bestätigt.

Die BRD existiert nicht bzw. die BRD ist untergegangen Hier wird behauptet, dass die BRD nicht wirksam entstanden ist, weil niemand dazu legitimiert gewesen sei die Gründung rechtskräftig vorzunehmen. Begründet wird es damit, dass das Grundgesetz 1949 nicht im Wege einer Volksabstimmung be- schlossen wurde. Die Besatzungsmächte haben die Staatsorgane wiederaufgebaut

95 und es wurden Länder- und Bundesregierung installiert. Das Grundgesetz wurde durch die Ländervertretungen, also in mittelbarer Demokratie, angenommen und legitimiert. Reichsbürger argumentieren, dass eine Anerkennung des Grundgesetzes ohne Volksabstimmung unzulässig ist. Dazu gibt es rechtlich keinen Beleg. Häufig wird argumentiert, dass die BRD am 17./18.07.1990 untergegangen sei. In Paris ha- ben Verhandlungen zum „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ zwischen der USA, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR sowie der BRD und DDR stattgefunden. Ergebnis war die Wiedervereinigung der BRD und DDR. Art. 23 GG (alte Fassung) regelte den Gel- tungsbereich des Grundgesetzes in der BRD vor der Wiedervereinigung. Da dieser Artikel aufgehoben wurde, sei der Geltungsbereich und damit auch die Geltung des Grundgesetzes entfallen.146 Allerdings wurde Art. 23 GG nur aufgehoben und Art. 146 GG geändert, um durch den Einigungsvertrag den Weg für eine gemeinsame Verfassung zu ebnen. „Im Übrigen werden Verfassungen als konstituierende Gesetze eines Staates nicht durch eine Besatzungsmacht in Kraft oder außer Kraft gesetzt.“147 Die Kompetenz für diese Änderung wird bei den deutschen Verfassungsgebern ge- sehen.148 So konnte die alte Verfassung der BRD nur mit Inkrafttreten einer neuen Verfassung außer Kraft treten (Art. 146 GG). Reichsbürger schlussfolgern, dass sämt- liche bundesdeutschen Gesetze hinfällig geworden seien, insbesondere Steuerge- setze und das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten.149 Im Zuge der Nichtexistenz der BRD wird durch die Reichsbürger behauptet, dass die BRD kein Staat sei, sondern eine Firma in Form einer GmbH und es bestünde die Möglichkeit, aus dieser mittels Kündigung auszutreten. Ein Interviewpartner sieht sich als Personal der BRD: „Ja, es gibt viele Menschen, die diese Thesen und Theorien wie ich für möglich halten, (...) Schade, dass wir uns mit unserer Unterschrift dazu verpflichtet haben, Personal die- ser BRD zu sein“. Der Argumentation folgend, die BRD sei keine Regierung, sondern eine NGO, bestimmt sich das Verhältnis nach dem BGB, man ist nicht an Gesetze gebunden und die BRD kann keine hoheitlichen Aufgaben ausüben. Wer hingegen die BRD für existent hält, wird als Personal der BRD GmbH bezeichnet. Unter juristi- schen Personen werden Firmen, Körperschaften oder Vereine gefasst. Eine natürli- che Person ist gem. § 1 BGB der Mensch ab Vollendung der Geburt. Es ist fragwürdig Menschen als juristischen Personen zu betiteln.150 Die These, die BRD sei eine Firma in Sinne einer GmbH wird dadurch begründet dass die BRD überhaupt nicht existiert, kein Staat sei und eine Firma sein muss. Unterschiedliche Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie die Behörden der Städte bzw. Region sind in gewerb- lichen Firmenregistern aufgeführt. Dieses wird als Beweis gesehen, dass die BRD eine

146 vgl. Caspar/Neubauer in: Wilking, 2015:107, 108 147 Caspar/Neubauer 2012:532. 148 vgl. ebd.533. 149 vgl. Caspar/Neubauer in: Wilking 2015:108. 150 vgl. Caspar/Neubauer 2012:534.

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Firma wäre. Dabei nehmen die staatlichen Stellen am Wirtschaftsleben teil, z.B. als Kunden für ihre Anschaffungen und Verbrauchsgüter. Der Staat ist wirtschaftlich tä- tig und unterliegt dann weitgehend den gleichen Regeln wie Firmen.151 Ein Inter- viewpartner argumentiert: „Nachdem man etwa 1945-48 aufhörte unser Volk abzu- schlachten, inklusive unserer rechtmäßigen und vom Volk legitimierten sowie bestä- tigten Reichsregierung, gründete man die besagte Verwaltungseinrichtung BRD zur Verwaltung der verbliebenen Landmasse (dem sog. Restreich) und der auf ihr leben- den Deutschen. Der Morgentauplan wurde planmäßig umgesetzt, das heißt die Cha- rakterwäsche aller Deutschen um ihnen jeglichen Nationalstolz auszutreiben, sie völ- lig zu brechen und um aus ihnen einen Haufen Waschlappen zu machen, wurde straff vorangetrieben. Dies ist bis heute so geblieben und das Ergebnis ist jedem täglich zugänglich. Der Bundesbürger will von der deutschen Geschichte nichts wis- sen, er ekelt sich vor ihr und schämt sich“ (...) In der BRD gibt es kein gültiges Wahl- gesetz, sämtliche Wahlen sind von Anbeginn der BRD ungültig, da die abgehaltenen Wahlen zu keinem Zeitpunkt gesamtdeutsche Wahlen waren und wie in einem be- setzten Gebiet keine freien Wahlen stattfinden können (ein Widerspruch in sich). Ein jeder mag dies selbst beim BVerfg recherchieren, es ist von dieser Stelle so ausge- geben worden. (...)wenngleich sie wissen, dass es eine gültige Wahl nicht geben kann, solange die BRD besteht- da sie das Volk nicht über die bestehenden Bedin- gungen aufklären. Die SHAEF-Gesetze geben vor, dass sich der Bundesbürger selbst zu informieren und Kenntnis zu haben hat über alle Verwaltungstechnischen Vor- gänge im besetzten Gebiet. Die Besetzung ergibt sich aus den nach wie vor unbe- rührten Alliierten Vorbehalten, die nicht erloschen sind mit dem sog. (und ebenfalls ungültigen) „2+4 Vertag“ und dem Gesetz zur Bereinigung des Besatzungsgebietes. Wer als deutscher Staatsbürger in der BRD an Wahlen teilnimmt, begeht Verrat an seiner Heimat, Deutschland.“ Alle Interviewpartner bestätigen die Annahme, dass die BRD nicht existent ist, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen: „Das die BRD eine widerrechtlich auf deutschem Boden eingerichtete, amerikanische Zwangsverwaltung zum Zweck der Kontrolle und Ausbeutung sind. (...) Was wenn die BRD tatsächlich eine amerikanische Kolonie ist?“

Das Grundgesetz ist keine Verfassung „Verfassungen regeln die rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Grundsätze, die sich ein Volk für sein Zusammenleben gibt. Sie spiegeln zugleich die Summe seiner historischen Erfahrungen, proklamieren und sichern die ethischen Werte und Leitideen der Gesellschaft und geben dem, was man Leitkultur nennt, sichtbaren

151 vgl. Schumacher 2016:74 ff.

97 Ausdruck.“152 Der Ursprung der reichsideologischen Theorie, dass das GG keine Ver- fassung darstellt, begründet sich in der Terminologie. Da es ein GG ist, kann es sich um keine Verfassung handeln, sonst würde es ja Verfassung heißen. In der BRD hat das GG die Funktion der Verfassung, auf welcher sich die BRD konstituiert hat. Ver- fassungen per se sind im formellen Sinne Verfassungen in Gesetzesform. Im materi- ellen Sinne sind es aber auch all jene Rechtsnormen, die Aufbau und Tätigkeiten des Gemeinwesens regeln, ganz unabhängig davon, ob sie in Gesetzesform niedergelegt sind oder nicht.153 Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde durch die Alliierten ge- fordert, dass sich der Parlamentarische Rat zu einer verfassungsgebenden Versamm- lung zusammenfinden soll. Die Namensgebung zum GG war ein politisches Zuge- ständnis an die Ost-Zone und sollte die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereini- gung der beiden deutschen Staaten nicht symbolisch durch den Erlass einer Verfas- sung trüben.154 Für die Alliierten war die Namensgebung kein entscheidendes Krite- rium, da mit dem englischen Begriff „constitution“ sowohl Verfassung als auch GG abgedeckt sind. Der Parlamentarische Rat legte eine deutsche Verfassung mit dem Namen GG vor, welches von den Alliierten genehmigt wurde. Zusammenfassend kann man sagen, dass das GG den Charakter einer Verfassung im materiellen und rechtlichen Sinne aufweist, es durch ein verfassungsgebendes Verfahren beschlos- sen wurde und sich bis heute als solches bewährt hat. Art. 5 GG spricht z.B. „von der Treue zur Verfassung“. Das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20(3) GG formuliert, „die Ge- setzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, (...) gebunden.“ Art. 93 GG regelt die Zuständigkeit des BVerfG und es finden sich weitere Formulierungen im GG, die auf eine Verfassung hinweisen.

Staatenlosigkeit der Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter behaupten, dass sie keine Deutschen und aus dem deutschen Staat austreten sind. Sie geben vor, die Staatsbürgerschaft des Deutschen Reiches zu besitzen oder sie gründen ihren eigenen Staat und geben sich eine fiktive Staatsangehörigkeit. Sie geben ihre Ausweispapiere bei den Einwohnermeldeämtern ab oder stellen Anträge mit der Bitte auf Ausstellung eines Ausweises mit der Staats- angehörigkeit „Deutsches Reich“. Weiterhin weigern sie sich, einen Personalausweis zu besitzen, auf dem die Staatsangehörigkeit deutsch vermerkt ist. Dieses Phäno- men ist bei den Reichsbürgern zu beobachten, jedoch vorwiegend bei den Selbst- verwalter. Die deutsche Staatsangehörigkeit stellt ein besonderes Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Staat dar. Gem. Art. 16 GG kann die deutsche Staatsangehö- rigkeit nur auf Grund eines Gesetzes gegen seinen Willen entzogen werden, wenn

152 Dohr: Staat Verfassung Politik - Grundlagen für Studium und Praxis 2014:59. 153 vgl. Schumacher 2016:51. 154 vgl. Rathje: Wir sind wieder da - Die Reichsbürger 2014:14.

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er dadurch nicht staatenlos wird. Das bedeutet, dass ein gegenseitiges Rechtsver- hältnis mit entsprechenden Rechten und Pflichten besteht. Dazu gehören die Ent- richtung von Gebühren und Steuern und die Pflicht, einen gültigen Pass oder Per- sonalausweis zu besitzen.155 Seinen Pass, Personalausweis oder seine Staatsangehö- rigkeit auf Grund von Überzeugung oder Ideologie abzugeben ist rechtlich nicht möglich. Zum einen hat der Staat bei diesem Ausbürgerungsverfahren eine Mitwir- kungspflicht und zum anderen wäre der Reichsbürger dadurch staatenlos. Eine Staatsbürgerschaft „Deutsches Reich“ ist nicht existent. Wenn Reichsbürger oder Selbstverwalter ihre eigenen Staaten gründen, fehlt es an rechtlichen Voraussetzun- gen für eine legitime Staatsbürgerschaft. Somit ist es nicht möglich, seine deutsche Staatsbürgerschaft abzulegen und sich eine andere zu geben. Einzig wäre es mög- lich, seine deutsche Staatsbürgerschaft abzulegen, wenn man eine andere besitzt. Das entbindet jedoch nicht von den Pflichten eines Bürgers gegenüber dem deut- schen Staat solange man auf seinem Hoheitsgebiet wohnt. Die Abgabe des Passes oder des Bundespersonalausweises wäre eine Rechtsverletzung seitens des Bürgers und würde eine Ordnungswidrigkeit darstellen.

Ein weiteres Phänomen ist die Behauptung einiger Selbstverwalter, von nun an ex- territorial zu sein. Sie kaufen ein Grundstück und deklarieren es zu ihrem eigenen Staat.156 Das Vorgehen begründen sie mit der Nichtexistenz der BRD. Dadurch kön- nen sie selbst staatliche Hoheitsrechte ausüben und sind autark. Positiver Nebenef- fekt ist die Befreiung von Steuern, Gebühren und sonstigen staatlichen Lasten. Man schafft sich seine eigenen Gesetze und Dokumente. Da Selbstverwalter die BRD für nicht existent halten ist es unlogisch ihr gegenüber die Exterritorialität zu proklamie- ren, wäre die Quadratur des Kreises. Im Übrigen existiert in Deutschland keine Ex- territorialität von Personen. Bei den ausgerufenen exterritorialen Grundstücken der Selbstverwalter handelt es sich um Grundstücke und nicht um Personen. Möglich wäre hier nur eine Immunität wie z.B. in Fällen von ausländischen Botschaften auf deutschen Staatsgebiet. Diese unterliegen jedoch im Prinzip auch der deutschen Gebietshoheit und müssen den deutschen Gesetzen genügen. Auch die teilweise angeführten Vorschriften der §15 Zivilprozessordnung (ZPO) und §11 Strafprozess- ordnung (StPO) beschreiben nicht die Exterritorialität, sondern befassen sich mit dem anwendbaren Gerichtsstand der Immunität.157 Weiter wird behauptet, dass Reichsbürger bzw. Selbstverwalter keine Staatsbürger sine, weil sie Personal der „Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH“ sind. Jeder Deutsche hat einen Personalausweis und somit ist er nachweislich Personal des Staates und nicht Bürger.

155 vgl. Ministerium für Inneres und Sport 2012:5. 156 vgl. Caspar/Neubauer in: Wilking 2015:121. 157 vgl. Schumacher 2016:267.

99 „Personal“ leitet sich aus dem lateinischen Wort „Personalia“ ab, das mit „persönli- chen Dingen“ zu übersetzen ist158 und nicht vom lateinischen Wort „Personale“, wie irrtümlich angenommen. Das Wort Personalien wurde verkürzt. Die Übersetzung auf dem Personalausweis weist „Identity Card“ oder „Carte d’Identité“ aus. Übersetzt heißt dies Identitätskarte und soll die Identität des Inhabers klären. Die Argumenta- tion Staatenlosigkeit durch Abstammung oder auch Blutslinie ist bedeutsam, da. „Mit dieser These schließen sich Reichsbürger rechtsextremistischen Vorstellungen einer organisierten Demokratie mit dem Grundsatz einer völkischen Homogenität an.“159

Aktionsformen der Reichsbürgerbewegung „Der Begriff Reichsbürgerbewegung vermittelt den Eindruck, es handele sich um eine große geschlossen Formation, die gemeinsam agieren würde, um ihre Ziele zu erreichen.“160 Dieses kann nicht bestätigt werden. Zum einen handelt es sich um eine Vielzahl von Einzelpersonen, die aus unterschiedlichsten Gründen ihrer Ideologie nachgehen und auch unterschiedliche Ziele verfolgen. Ein Interviewpartner bestä- tigt: „Aus der Art ihrer Fragestellung implizieren Sie, dass es so etwas wie eine Be- wegung sog. „Reichsbürger“ gäbe. Dem ist nicht so, so etwas gibt es nicht. Dieser Begriff wurde von bestimmten Stellen ins Leben gerufen, um eine neue Keule zu haben, die man gegen Menschen schwingen kann, die vollkommen nachvollzieh- bare Fragen stellen und meistens auf eine vernünftige und zufriedenstellende Ant- wort vergeblich warten. Die Menschen, die sich trauen alles zu hinterfragen, werden heute mit dem Begriff des Reichsbürgers belegt um sie zu stigmatisieren und nach Möglichkeit Mundtot zu machen, was noch die harmlosere darstellt. Es handelt sich um völlig normale Menschen, die ihren Verstand benutzen, sie sind, wie jeder andere auch, der in unserer Heimat geboren wurde, einfach Deutsche“.

In Teilen handelt es sich um Gruppierungen, in denen eine Zusammenarbeit mit gleichen Zielen erkennbar ist, allerdings gibt es eine unüberschaubare Anzahl, wel- che sich als alleinige Vertreter des Deutschen Reiches ansehen und eine Pseu- dostaatsregierung stellen wollen. Machtkämpfe zwischen den Gruppierungen, Auf- lösungen von Scheinregierungen und Neugründungen sind wiederkehrende Mus- ter. Die Anzahl der Reichsbürger lässt sich nur schwer einschätzen. Da die Reichs- bürgerbewegung in der breiten Öffentlichkeit keinen Anklang findet und die Wie- derherstellung des Deutschen Reiches nicht zur öffentlichen Debatte steht161, be-

158 vgl. ebd. 79, 80. 159 Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking 2015:24. 160 Rathje 2017:31. 161 vgl. Rathje 2017:31.

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schränken sich die Aktionsformen hauptsächlich auf das Internet und Mundpropa- ganda. Öffentliche Aktionen sind eher selten und nur von geringer Teilnehmerzahl. Neben der Einteilung in proaktive und reaktive Reichsbürger lassen sich als spezi- ellere Aktionsformen die Zahlungsverweigerer, die Vielschreiberei, die Milieumana- ger, die Bildung pseudostaatlicher Reichsregierungen sowie die Übernahme von Fantasieämtern/Vortäuschung hoheitlicher Befugnisse beschreiben. Drei weitere Ak- tionsformen, die nicht zwangsläufig die Ideologien der Reichsbürgerbewegung ver- treten, jedoch Schnittmengen zu dieser aufweisen, sind der Selbstverwalter, Souve- ränisten und Trittbrettfahrer. Vorab ist festzuhalten, dass diese Aktionsfelder nicht dogmatisch in ihrer Erscheinung anzusehen sind und Reichsbürger durchaus in mehreren Feldern gleichzeitig tätig sein können.

Proaktiv und Reaktiv Unter proaktiven Reichsbürgern werden die gefasst, welche aktiv auf ihre Ideologie aufmerksam machen. Sie suchen Behörden auf oder beschäftigen diese mit Viel- schreiberei, sind durch die Abgabe oder Einsendung ihrer Ausweis- oder Führer- scheindokumente mit dem Verweis darauf, eigene Dokumente zu benutzen; die Durchführung von hoheitlichen Aufgaben unter Legitimation eigener Fantasiedoku- mente; Briefe an Landräte mit volksverhetzenden und rechtsextremistischen Inhalten oder das Zeigen des Hitlergrußes in der Öffentlichkeit aufgefallen. Reaktive Reichs- bürger sind solche, die ihre Ideologie nicht öffentlich zur Schau stellen und den Kon- takt mit den Behörden nicht suchen. Auffällig werden diese, wenn sie durch die Ver- weigerung von Steuer- oder Abgabenzahlungen behördlichen Kontakt haben oder sie als Fahrzeugführer bei routinemäßigen Verkehrskontrollen festgestellt werden, da sie sich mit Fantasiedokumenten legitimieren wollen.162 Reaktive Reichsbürger fallen auf, wenn sie Kontakt mit Behörden oder der Polizei haben. Wenn Polizeibe- amte oder Gerichtsvollzieher beim Kontakt/Konflikten nicht vorbereitet sind, kommt es vor, „dass Audiomitschnitte und Amateuraufnahmen (...) im Internet und auf so- zialen Netzwerken der Szene als Motivation und Argumentationshilfe“ verbreitet werden.163

Zahlungsverweigerer Dieses Aktionsfeld der Reichsbürger betrifft die generelle Ablehnung der Zahlung von Steuern und kommunalen Abgaben164 wie z.B. Grundsteuer, Hundesteuer, Kfz- Steuer oder Abgaben zur Müllentsorgung sowie Abwasser. Durch die Behauptung, dass die BRD nicht existiert oder eine Firma ist, sind erlassene Gesetze nicht existent und alle Steuer- und Gebührenbescheide hinfällig. Eine Pflicht zur Entrichtung dieser

162 vgl. Keil in: Wilking (2015), S. 45. 163 ebd.:46. 164 vgl. ebd.: 44.

101 sehen die Reichsbürger nicht. Gegen positive Bescheide, wie etwa Rückerstattungen oder Steuerersparnisse, wird nicht vorgegangen. Die Zahlungsverweigerung stellt die Behörden und kommunalen Verwaltungen vor Probleme, bindet Personal und Ressourcen. Z.T. hat die Zahlungsverweigerung dazu geführt, dass die Behörden o- der Verwaltungen Fristen nicht eingehalten oder das Verfahren wegen Nichtigkeit eingestellt haben.165 Solche Siege werden als Beweis für die eigene Argumentation und im Internet propagandistisch genutzt. Im Falle der Vollstreckung gegen den Reichsbürger kann dies zu Widerstandshandlungen gegen die Vollstreckungsbeam- ten bis hin zu Nötigungen, Bedrohungen und Körperverletzungshandlungen füh- ren.166

Vielschreiberei „Reichsbürger und Selbstverwalter unterhalten seit Jahren einen wachsenden Schriftverkehr mit staatlichen Stellen, da ihre Hauptkonfliktlinien zwischen ihnen, ih- rem Reich, Scheinstaat und/oder ihrer Selbstverwaltung und der Bundesrepublik Deutschland verläuft.“167 Die Textdokumente sind in der Regel mehrere Seiten lang und Sachbearbeiter benötigen viel Zeit für die Prüfung. Meist wird nicht nur ein Do- kument geschickt, sondern gleich mehrere. Inhaltlich geht es in den Schreiben um Zahlungsverweigerung für Steuern oder Abgaben, jedoch werden auch Ideologien und Rechtsauffassungen zum Deutschen Reich zum Ausdruck gebracht. Zudem wer- den fragmentarische Zitatteppiche der unterschiedlichsten juristischen und histori- schen Schriften verbreitet, verknüpft mit teilweise rechtspopulistischen, fremden- feindlichen und antisemitischen Inhalten.168 Es kommen Beleidigungen, Drohungen und Erpressungen gegen Landräte, Kommunalbeamte oder Sachbearbeiter vor. Ge- legentlich wird den Beamten sowie Angestellten der Vorwurf des Hochverrats ge- macht, da diese einer volksfremden Institution dienen und nicht den Anweisungen des echten Staates, also dem Deutschen Reich, folgen.169 „Im Einzelfall können diese Schriften den Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß §130 StGB erfüllen.“170 Das Ziel der Vielschreiberei ist nicht die Aufklärung des Bearbeiters über die Reichs- bürgerbewegung und Selbstverwaltung, sondern die Lahmlegung von Behörden durch die Papierflut, der Arbeitsablauf soll gestört und behindert werden.

Milieumanager Für Reichsbürger/Selbstverwalter sind die deutschen Ausweispapiere und Doku- mente nicht gültig. Mit der Gründung ihrer eigenen Staatsform werden Dokumente

165 vgl. Rathje 2017:26. 166 vgl. Keil in: Wilking 2015:44. 167 Rathje 2017:25. 168 vgl. Keil in: Wilking 2015:43. 169 vgl. Rathje 2017:26. 170 Keil in: Wilking 2015:43.

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zur Legitimation benötigt. Milieumanager erstellen und vertreiben Fantasiedoku- mente, zumeist über entsprechende Plattformen im Internet. Neben dem Markt für pseudostaatliche Dokumente wie Führerschein und Ausweise werden Währungen und Merchandise-Artikel vertrieben.171 Es werden Aufkleber, Fahnen, Kfz-Kennzei- chen, Briefmarken sowie Originale aus dem Dritten Reich angeboten. Diese dienen der Zurschaustellung der Ideologie durch entsprechende Devotionalien. Mit dem Vertrieb der Dokumente und Merchandise-Artikel werden Umsätze generiert, die sich durch Seminare, Verkauf von Büchern und Zeitungen, Beratertätigkeiten oder Geldanlagen weiter steigern.172 Auf der Internetseite www.reichsmeldestelle.org existiert ein umfassendes Angebot. Die Preise beginnen bei €5 für eine Beglaubi- gung von Dokumenten bis zu €100 für einen Reichsreisepass.

Bildung von pseudostaatlichen Reichsregierungen Ihren Ursprung findet diese Aktionsform in einer vom Richard Stöss geführten Kam- pagne zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches innerhalb der organisierten bundesdeutschen extremen Rechten ab dem Jahr 1945. Diese Kampagne richtete sich gegen die Überfremdung in Deutschland und wurde durch die Reichsbürger in den 1980er Jahren aufgegriffen. Anstatt die Wiederherstellung des Deutschen Rei- ches anzustreben, gründeten die Reichsbürger eigene Reichsregierungen und fin- gen mit dem Regierungshandeln an. Zu dieser Zeit wurde durch Wolfgang Gerhard Günter Ebel die Kommissarische Reichsregierung, kurz KKR, gegründet. Herr Ebel ernannte sich zum Reichskanzler. Ziel der Reichsregierung war die Legitimation des Deutschen Reiches. Zudem ständen sie zur sofortigen Übernahme der Regierungs- geschäfte in Deutschland für den Fall des Untergangs der BRD bereit. Die Regie- rungsgeschäfte der KKR bestanden vornehmlich darin, juristische Auseinanderset- zungen mit der BRD zu führen, Lehrgänge zur Reichsideologie abzuhalten sowie Fantasiedokumente zu verkaufen.173 In der Folge gründeten sich weitere pseudo- staatliche Reichsregierungen mit ähnlichen Zielen. „Viele der späteren Reichsregie- rungen sind Abspaltungen der KKR, wobei sie Titel, Argumentationen und Aktions- formen übernommen haben.“174 Derzeit gibt es ungefähr 40 Reichsregierungen und Organisationen, deren Betätigungsgrad und Mitgliederzahl sich erheblich unter- scheiden.175 Beispielhaft sind die „Exilregierung Deutsches Reich“ um Norbert Schittke, die „Reichsbewegung“ um Horst Mahler, der „Freistaat Preußen“ um Rigolf Hennig oder auch das „Königreich Deutschland“ um Peter Fitzek in Wittenberge zu

171 vgl. Rathje 2017:25. 172 vgl. Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking 2015:28. 173 vgl. Rathje 2017:8-11. 174 Speit 2017:13. 175 vgl. Rathje 2017:12.

103 nennen.176 Selbstverwalter haben auf ihrem Grundstück einen eigenen Staat inner- halb der Grundstücksbegrenzung ausgerufen und handeln nach ihren eigenen Ge- setzen. Staatsoberhaupt sind sie selbst. Als ein Beispiel dient der Staat „Ur“ von Ad- rian Ursache in Reuden, Sachsen-Anhalt. Ämter werden durch ordentliche Wahlen vergeben und Beschlüsse demokratisch erlassen. Die Handlungen und Bestrebun- gen dieser pseudostaatlichen Reichsregierungen sind auf die Staatsleugnung und die Beseitigung der verfassungsmäßigen Grundordnung der BRD ausgelegt. Sie ver- stehen die politische Situation als Fremdherrschaft und wollen diese beenden. Dabei handeln sie entsprechend ihrer rechtsextremistischen und revisionistischen Reichsideologien.177

Übernahme von Fantasieämtern/Vortäuschung hoheitlicher Befugnisse „Die Personen bezeichnen sich als Reichskanzler, Reichsminister, Generalstaatsan- walt, König von Deutschland oder Polizeipräsident.“178 „Trotz real meist sozial und beruflich gescheiterter Existenzen werden ausnahmslos Ämter und Mandate mit ho- her und höchster Reputation angestrebt, die qua Amt eine größtmögliche Reputa- tion verbreiten sollen.“179 Da alle nach hohen Ämtern streben ist die Nachfrage hö- her als das Angebot und es kommt zu Austritten aus Reichsregierungen sowie zu Abspaltungen und Neugründungen. „Es liegt somit in der Natur der Sache, dass sich die Einzelbewegungen untereinander mehr spalten als einigen, und jeder dieser Fan- tasiestaaten letztlich über mehr Häuptlinge als Indianer verfügt.“180 Die Ämter sind repräsentativ und wenig funktional, sie sind für das Innenleben der Reichsregierun- gen bestimmt und haben kaum Wirkung nach außen. Bei Außenwirkung droht eine Strafbarkeit nach §132 StGB, Amtsanmaßung. Als Beispiel eignet sich das „Deutsche Polizeihilfswerk“ (DPHW). Dieses trat 2012 in Sachsen erstmals in Erscheinung und wurde als Bürgerwehr gegründet. Sie statteten sich mit Uniformen und Dienstaus- weisen aus und wurden teilweise auch exekutiv gegen Gerichtsvollzieher tätig.181

Selbstverwalter Dieses Phänomen tritt in Form von Einzelpersonen oder auch homogenen Gruppen auf. Die Terminologie wird von dem Personenkreis selbst verwendet. Das eigene Grundstück wird unter Behauptung der Nichtexistenz der BRD zum Staat mit eige- nen Gesetzen und eigener Verfassung innerhalb der Grundstücksgrenzen ausgeru- fen. In Teilen proklamieren sie auch die Exterritorialität ihrer Staaten. Dadurch glau- ben sie, dass sie eigene staatliche Hoheitsbefugnisse haben und die BRD keine

176 vgl. Speit 2017:13. 177 vgl. Speit 2017:170. 178 Keil in: Wilking 2015:42. 179 ebd.:42. 180 ebd.:42. 181 vgl. Keil in: Wilking 2015:42-43.

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rechtliche Handhabe gegen sie hat, Steuern, Abgaben und sonstige Pflichten eines Bürgers sind für sie hinfällig. Ideologisch teilen Selbstverwalter nur punktuell die Reichsideologien. Sie sehen sich eher als eigenes globales Völkerrechtssubjekt, un- ter Umständen mit Gesetzgebungskompetenz und eigener Verfassung, deren Gel- tungsbereich auf den Reichsbürger/Selbstverwalter und seine Wohnung/Grund- stück begrenzt ist. Als Beispiele sind der Staat „Ur“ von Adrian Ursache in Reuden, Sachsen-Anhalt und das Grundstück von Wolfgang Plan in Georgensgmünd, Bayern, zu nennen. Beide bekamen 2016 eine hohe mediale Aufmerksamkeit, nachdem es zu einem Schusswechsel mit Einsatzkräften des SEK kam. Im Falle des Wolfgang Plan wurde ein SEK-Beamter tödlich verletzt, Plan wurde zu einer lebenslangen Freiheits- strafe wegen Mordes verurteilt. Vorausgegangen ist eine Hausdurchsuchung zwecks Beschlagnahme seiner Jagd- und Schusswaffen. Gegen Adrian Ursache wurde eine Zwangsräumung seines Hauses wegen nicht gezahlter Grundschulden angeordnet. Da er Widerstand gegen diese Maßnahme zuvor angekündigt hatte, wurde der Ein- satz mittels SEK durchgeführt. Es kam zum Schusswechsel, wobei Ursache schwer und ein Polizeibeamter leicht verletzt wurde. Selbstverwalter werden seit diesen Vor- fällen als potenziell gefährlich eingestuft.182

Souveränisten „Ganz allgemein lassen sich Souveränisten als Vertreter einer Politik begreifen, wel- che die Souveränität einer Nation oder Region bewahren oder wiederherstellen soll.“183 Ähnlich den Reichsbürgern zweifeln sie die Souveränität des Staates und seine Politik an.184 Souveränisten kämpfen gegen die politische Elite und das Estab- lishment und für die eigene, meist rechtsgerichtete Meinung, für die eigene Herr- schaft im Staat. In Abgrenzung zu der Reichsbürgerideologie fordern sie keine Ab- schaffung der bestehenden Staatsform. Ihre politische Ausrichtung ist durch Rechtspopulismus geprägt. Innerhalb Deutschlands wäre die „Alternative für Deutschland“ (AfD) ein Beispiel für eine solche Gruppierung. Diese sieht sich als Kämpfer gegen ein politisches Kartell, welches aus einer politischen Klasse und Be- rufspolitikern besteht, deren vordringliches Interesse nur ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt.185 Die Kritik erstreckt sich auch auf die Po- litik der Europäischen Union (EU). Ein Interviewpartner äußert sich: „Ich halte diese Regierung und dieses System für überholt und gefährlich. (...) In vielen Staaten erle- ben wir einen Rechtsruck, weil sie die Nase voll haben von der Totgeburt EU, in der man sich von Anfang an nicht auf einheitliche Werte und Währung einigen konnte“.

182 vgl. Speit 2017:82. 183 Rathje (2017), S. 19. 184 Vgl. Ebd., S. 19. 185 Vgl. Ebd., S. 20.

105 Souveränisten gehen ideologisch von einer Weltverschwörung gegen die Deutschen aus. Im europäischen Ausland findet man ähnliche Aktionsformen, z.B. der Front Na- tional in Frankreich, die Partei für Freiheit in den Niederlanden oder die Freiheitli- chen Partei Österreichs.186 Zielrichtung dieser Strömung ist die Erringung einer kul- turellen Hegemonie langfristig eine Vorherrschaft der eigenen Ideen innerhalb einer Gesellschaft zu erringen.187

Trittbrettfahrer Als Trittbrettfahrer werden Personen bezeichnet, die sich einer Sache oder Situation anschließen oder ausnutzen, mit der sie zuvor keine oder nur wenige Berührungs- punkte hatten. Im Kontext der Reichsbürgerbewegung ist es sehr wahrscheinlich, dass sich Zahlungsverweigerer die Argumentation der Reichsbürger zunutze ma- chen, um Gebühren oder Abgaben zu umgehen. Auch im Bereich der Milieumanager ist es denkbar, dass die Einnahmequellen durch den Verkauf von Fantasiedokumen- ten oder Merchandise-Artikeln Personen motiviert, die mit der eigentlichen Bewe- gung nichts zu tun haben. Weitere Gründe für Trittbrettfahrer sind gescheiterte Exis- tenzen oder sozial geschwächte Personen, die dieses als Chance sehen, sich gegen den Staat aufzulehnen bzw. einen Neuanfang und Akzeptanz zu erfahren.

Agitation Agitation ist die „anhaltende und systematische, persönliche oder publizistische Be- einflussung des Denkens und Verhaltens von Menschen im Sinne einer politischen Ideologie.“188 Ziel ist die Stärkung der eigenen Überzeugung gegenüber Andersden- kenden und die Schwächung politischer Gegner durch Diffamierung und Hetze. In den Argumentationen wird mehrheitlich auf finstere und böse Mächte im Hinter- grund wie z.B. Juden, Amerikaner, Kapitalisten, politische Eliten und Geheimbunde verwiesen, die die Reichsbürger an der Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen hin- dern.189 Ein Interviewpartner äußert dazu: „Deutschland ist ein besetztes Land und das wird es auch bleiben. Dazu passt, das Merkel zu Schröders Zeiten vehement gegen Multi Kulti, Immigranten, Asylbewerber war, ganz im Gegenteil zu heute. Die USA befiehlt, was wir zu machen haben. Das glaube ich. Wir werden abgehört und kontrolliert. Die USA bestimmt, was auf deutschem Boden geschieht(...)Auch Ham- burg G20 halte ich für eine Inszenierung. Der Staat hetzt, spaltet, polarisiert absicht- lich und lenkt die Massen gezielt gegeneinander. Aus dem Hass auf die Regierung hat dieses Regime ein: „Nazis raus“ gegen „Ausländer raus“ gemacht, während die Herrschaften dort oben genüsslich weiter feiern können. Genau deshalb wurden wir

186 vgl. Rathje (2017), S. 19. 187 vgl. ebd.: 21. 188 Der Brockhaus, Politik - Ideen, Systeme und Prozesse, 2008:17. 189 vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2001:20.

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mit neuem Volk geflutet. Wir sollen uns nie mehr einig sein. Und solange wir uns als Volk nie mehr einig sind, stellen wir keine Gefahr dar für die Machthaber und sie können mit uns immer so weitermachen wie bisher. Ich hoffe, dass dieser Staat ge- stürzt wird, sich die Polizei nicht mehr schützend vor die verbrecherische Regierung stellt, sondern sie der ganze Hass der Bürger trifft. In diesem Sinne verachte ich im Moment jeden Staatsdiener, der diesem System und dieser Regierung dient. Das ist für mich Abschaum“. Verschwörungstheorien und realitätsferne Weltbilder stellen das inhaltliche Gerüst für die Agitation. Als Kanäle für die Verbreitung dient vorwie- gend das Internet, was sich zum einen durch die Anonymität innerhalb der sozialen Medien als auch durch die rasanten Verbreitungsmöglichkeiten erklären lässt.

Synthese zum Rechtsextremismus

Politischer Extremismus wird als Sammelbegriff für diejenigen politischen Gesinnun- gen und Bestrebungen verstanden, die den demokratischen Verfassungsstaat bzw. seine fundamentalen Werte und Regeln bekämpfen und sich gegen die Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung richten.190. Es wird betont, dass „Kräfte und Bewegungen berücksichtigt werden müssen, die die geltende demokra- tische Ordnung als solche nicht in Frage stellen, jedoch durch Rückgriff auf den ult- ranationalistischen Mythos eine Extremisierung nach rechts und damit eine Revision der Verfassungswirklichkeit bzw. einzelner Normen anstreben“.191 Die Reichsbürger- bewegung rechtsextrem einzuordnen würde der Komplexität und Diversität der Be- wegung nicht gerecht. Es gibt rechtsextreme Ideologien, welche jedoch nicht von allen Personen dieser Bewegung geteilt werden. Laut Verfassungsschutzbericht Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 2016 ist die Reichsbürgerbewegung ge- genwärtig als extremistische Bestrebung „sui generis“ (eigener Art) zu beschreiben und kann nur teilweise dem Rechtsextremismus zugeordnet werden, es gibt Über- schneidungen mit dem rechtsextremistischen Spektrum.192 Ein Interviewpartner äu- ßert sich ausländerfeindlich wie folgt: „Darüber hinaus halte ich die öffentliche Ord- nung durch das gezielte Anlocken und Einschleusen von hunderttausenden Men- schen (vorwiegend Männern) für extrem gefährdet. Diese Menschen tragen ihre Bil- dung, ihre Hemmschwelle, ihre Werte, ihren Glauben, ihre Lebensweise, ihre Kultur, ihre Krankheiten, ihre Mentalität und ihren "Frieden" direkt hierher. Das bedeutet nicht mehr Sicherheit, das ist logisch. Für mich sind nur die wenigsten Asylbewerber

190 vgl. Glaser, Pfeiffer, Erlebniswelt Rechtsextremismus 2007:20. 191Glaser, Pfeiffer 2007:22. 192 vgl. Ministerium für Inneres und Europa, Verfassungsschutzbericht M-V 2016:83.

107 echte Kriegsflüchtlinge. Das wären dann Familien und keine vorwiegend jungen Männer im besten Alter“.

Die Forderung nach der Wiederherstellung der Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 ist ein Beispiel, dieser Gebietsrevisionismus würde die Oder-Neiße-Grenze zu Polen verletzen und ist im Rechtsextremismus anzusiedeln.193 Zugleich verstößt die- ses gegen anerkanntes Völkerrecht. Der Versuch der Beseitigung der bestehenden demokratischen Staatsform der BRD unter Installierung einer eigenen Staatsform mittels undemokratischer Mittel wie Agitation, Rigorismus oder Waffengewalt ist dem rechtsextremistischen Milieu zuzuordnen. Die Ausrichtung der gewünschten Staatsform, welche zumeist durch Hegemonie oder Antisemitismus gekennzeichnet wären, ist entsprechend. Das Zurschaustellen der „Wirmer-Flagge“, welche als Wi- derstandssymbol gegen den Deutschen Staat instrumentalisiert wird, tauchte bei Kundgebungen der rechtsextremen Partei „Pro NRW“ und bei rechtsextremen Reichsbürgern der Vereinigung „Deutsches Kolleg“ um den Holocaustleugner und Neonazi Horst Mahler auf.194 Reichsbürger verwenden Symbole aus dem Deutschen Reich in originaler oder abgewandelter Form. Antisemitismus ist vertreten z.B. durch Verschwörungstheorien die eine jüdische Weltverschwörung unter dem Deckmantel des Kapitalismus und der politischen Eliten sehen, auch dadurch dass Religionen für eine „Unterjochung“ des deutschen Volkes verantwortlich gemacht werden.195 „Reichsbürger haben oft eine sehr klare Vorstellung davon, wer Bürger des Deut- schen Reiches ist und sein darf. Die Zugehörigkeit nach Blut und Boden verweisen auf einen völkischen Rassismus.“196 Der folgende Abschnitt soll einen Einblick in rechtsextremistische Elemente der Reichsbürgerbewegung gewähren.

Holistische Steuerungsabsicht „Unter holistischer Steuerungsabsicht wird der Anspruch von Extremisten verstan- den, ganzheitliche Aussagen über die Beschaffenheit und Entwicklung von Gesell- schaften zu machen.“197 Bezogen auf die Reichsbürgerbewegung streben die Extre- misten eine umfassende Steuerung der Gesellschaft nach ihren Werten und Vorstel- lungen an. Voraussetzung hierfür ist die Abschaffung der BRD und seiner freiheitlich demokratischen Grundordnung. Ziel ist die Schaffung einer Gesellschaft entspre- chend der eigenen Ideologie, was dem heutigen Pluralismus und Demokratiever- ständnis gegenübersteht. Im Interview wird dazu Stellung genommen: „Das was uns der Staat BRD als Demokratie und Freiheit verkauft, sind für mich Scheindemokratie

193 vgl. Rathje 2014:10. 194vgl.http://www.spiegel.de/politik/deutschland/.pegida-warum-in-dresden-die-kreuz-flagge-weht-a-1045600.html, auf- ger.18.02.2018, 13:24. 195Rathje 2014:16. 196ebd. 16. 197 Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking 2015:31.

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und Scheinfreiheit, denn von Demokratie (Volksherrschaft) kann keine Rede sein, wenn immer nur gegen den Bürger gehandelt wird. (...) Vielmehr sind wir abhängig und werden durch hohe Steuern, Gebühren, Zwangsabgaben, Lebenshaltungskos- ten usw. absichtlich und vorsätzlich kurz gehalten und durch Bürokratie und Gesetze kaputt reglementiert. Alles mit dem Ziel, dass der Bürger sich schuldig und klein fühlt. Und wer sich klein fühlt, lässt sich gut leiten, steuern und FÜHREN wie ein Schaf in der Herde, muckt nicht auf und dient brav dem System. Ich halte die BRD, sowie die von der BRD dominierte EU eher für eine Diktatur, die nur dem Zweck dient, jeden Bürger bis in den letzten Winkel der EU überwachen, kontrollieren und aus- beuten zu können. Diktatur auch deshalb, weil grundsätzlich Politik gegen das Volk gemacht wird.“ „Solche Auffassungen sollen die Gesellschaft ganzheitlich prägen, was notwendigerweise auch drastischere Maßnahmen zur Umsetzung solcher Ziele nach sich ziehen kann.“198 Eine Durchsetzung mittels Waffengewalt kann nicht aus- geschlossen werden. Ein Interviewpartner beschreibt den Sturz der Regierung: Die Regierung weiß das ganz genau, dass sie gestürzt werden soll. Deshalb hat sie die Friedensbewegungen und Wir sind das Volk Rufer als Pegida/Legida per V Leute des Verfassungsschutzes in die rechte Ecke gedrängt“.

Dogmatischer Absolutheitsanspruch Der dogmatische Absolutheitsanspruch ist die Behauptung, die Einsichten und Be- hauptungen seien absolut wahr, allgemein gültig und nicht bezweifelbar, also sozu- sagen bindend und unumstößlich.199 Im Interview äußert sich ein Reichsbürger dazu: „Der Bundesbürger sollte also aufhören, sich einer schlüssigen und richtigen Argu- mentation zu entziehen, bzgl. der Ereignisse im und nach dem (heißen) Krieg und er sollte insbesondere aufhören wie ein Pawlowscher Hund zu kläffen, wenn er einem Deutschen begegnet, der sich für seine Heimat stark macht. Er sollte aufhören, die zwangsfinanzierten Medien zu konsumieren und gerade dort die unendlich wieder- holten und mit Lügen und Triggerwörtern vollgestopften Dokumentationen, die seine Gedanken vergiften und ihn täglich lähmen. Der Bundesbürger sollte sich trauen, einmal laut das ganze Deutschlandlied zu singen mit erhobenem Haupte und er sollte einmal laut zu sich selbst sagen: „Ja, ich bin ein Deutscher und ich bin stolz darauf!“ Denn niemand verbietet ihm, sich zu informieren!“

Der dogmatische Absolutheitsanspruch spiegelt sich auch in der Reichsbürgerideo- logie zur Staatsangehörigkeit, in der proklamiert wird, dass sich diese durch Blutsli- nie, also Vererbung, bestimmt. Ziel ist, dass der Deutsche per Ahnenforschung seine Abstammung im Deutschen Reich sieht und dieses damit wiedererweckt werden

198 ebd. 32. 199 vgl. ebd. 30.

109 soll.200 Ahnenforschung bzw. Feststellung der Staatsangehörigkeit kann über ein In- ternetportal der Reichsbürgerszene beantragt werden.201 Der Anspruch enthält Ele- mente aus der nationalsozialistischen Rassenlehre, der Deutsche wird als Urrasse, als Arier bezeichnet. Diese war vollkommen und anderen Rassen überlegen. Nach der Theorie der Rassenhygiene soll die arische Rasse reingehalten und nicht mit anderen Rassen, wie z.B. der jüdischen Rasse, vermischt werden. „Die Reichsbürgerideologie beruht somit auf dem Fundament der Rasse als konstituierendem Bedingungsfaktor für das künftige soziale Miteinander im ersehnten Reich.“202 Die Theorie der Staa- tenlosigkeit ab 1918 beinhaltet dass mit Abdankung des Kaisers alle Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht unwirksam sind, da danach kein deutscher Staat mehr rechtmäßig gegründet wurde. Hier wird einer völkischen Homogenität ausgegan- gen, verbunden mit der Rassenfrage und dem Antisemitismus. Teile der Reichsbür- ger sehen ihre Meinung als ultima verum, also als ultimative Wahrheit verstehen. Dabei werden andere Positionen, insbesondere die staatliche, als Hochverrat ange- sehen.

Identitäre und hierarchische Gesellschaftskonzepte Die Forderung nach der Abschaffung der Bundesrepublik und der Wiederkehr des Deutschen Reiches sind übergeordnete Ziele. „Eine identitäre Gesellschaftskonzep- tion überhöht die Bedeutung der Gruppe, des Kollektivs oder des Staates gegenüber dem Stellenwert des einzelnen Menschen und fordern dessen konformistische Un- terordnung. Der Einzelne wird nicht als eigenständiges und souveränes Individuum angesehen, sondern sein Wert und seine Würde sind nur durch die Zugehörigkeit zu einer Gesamtgruppe oder dem Kollektiv bestimmt.“203 Dieses steht im Gegensatz zu Werten wie Pluralismus und Demokratieverständnis. Die Identität der angestreb- ten Gesellschaft wird durch Blutslinie, Rassenzugehörigkeit, ethnischer Zugehörig- keit oder Ideologie bestimmt, Produkte sind Nationalismus und Antisemitismus. Das hierarchische Konstrukt kann je nach Ideologie unterschiedlich aussehen. Einige Reichsbürger fordern die Wiederherstellung des Deutschen Reiches zum Zeitpunkt bis 1918, also eine Monarchie mit einem König oder Kaiser. Wie dieser legitimiert werden soll ist unklar. Als vorherrschend angestrebte Regierungsform soll die BRD beseitigt und durch die eigene Demokratie ersetzt werden. Diese wäre durch eine klare Hierarchie mit regierenden und machtausübenden Reichsbürger sowie der Be- völkerung gekennzeichnet. Das Konstrukt erinnert an eine Oligarchie, eine Vorherr- schaft der Mächtigen. Ein Interviewpartner beschreibt „Ich will den Sturz der Regie- rung, der EU. Ich bin für eine friedliche Koexistenz von Staaten. Jeder darf seinen

200 vgl. ebd. 30. 201 http://reichsmeldestelle.org/index.php/feststellung-rustag, aufger. 10.02.2018,16:12. 202 Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking (2015), S. 30. 203 vgl. ebd. 24, 31.

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Nationalstolz haben. Nationale Identität oder Nationalbewußtsein ist nichts schlech- tes“ und ein Anderer:: „Es muss sich einfach Alles ändern. Viele Menschen (nicht nur „Reichsbürger“) wünschen sich (so wie ich) eine Revolution wie 1989 mit Sturz des „Regimes“. Wo anschließend alle abgeurteilt und bestraft oder ins Exil flüchten müs- sen. Ich halte diese von der BRD dominierte/geführte EU für eine Diktatur. (...) Dieses gesamte kapitalistische System ist überholt. Es gehört auf den Scheiterhaufen der Geschichte, sollte durch wahre Demokratie und Freiheit (Volksherrschaft) ersetzt werden, in der alle Menschen gleich und nicht gleicher sind. In diesem Zusammen- hang halte ich die Theorie für absolut möglich, dass wir in Wahrheit ein Fake- Staat sind“.

Dualistischer Rigorismus Der dualistische Rigorismus ist ein zentrales Element bei der Interessendurchsetzung der extremistischen Reichsbürger. Er bezeichnet „in extremistischen Ideologien den Hang zur unnachgiebigen Polarisierung“.204 Ähnlich dem dogmatischen Absolut- heitsanspruch, werten sie ihre Auffassungen und Ideologien als einzige Wahrheit. Meinungen, die nicht kongruent mit den ihren sind, werden als falsch und unwahr gewertet. Daraus resultierend werden zweiteilige Deutungsraster und dämonisierte Feindbilder entwickelt.205 Diese Feindbilder der Andersdenkenden werden durch Hetze, Feindseligkeiten oder gar Gewalt bekämpft. Als Beispiel können hier folgende Ausführungen herangezogen werden: „Die USA bestimmt, was wir zu tun und zu lassen hat, verfährt mit uns nach Belieben, wir werden nach wie vor ausgebeutet und zahlen auch Generationen nach dem Holocaust immer noch Reparationsleistungen in Milliardenhöhe an die USA. Kein Wunder, dass es Zweifel in Bezug auf die 6 Mil- lionen Juden gibt. Je größer die Zahl, je höher die Reparationsleistungen... Wenn ich der Sieger wäre, würde ich es genauso machen. Die Opferzahlen nach oben lügen um mehr Geld erpressen und verlangen zu können und gleichzeitig ein Gesetz ver- abschieden, dass das bloße Infragestellen bezüglich der Opferzahlen schon unter Strafe stellt.“ und ein anderer stellt fest: „Unsere Steuergelder werden nicht mehr für das Allgemeinwohl (Infrastruktur, Schulen usw.) ausgegeben, sondern wandern über den "Flüchtling", der mit diesem Geld konsumiert, direkt in die Tasche der reichen Unternehmen. Letztlich dienen die Neubürger auch der Polarisierung und Spaltung des Volkes. Divide et impera (teile/ spalte das Volk und herrsche), das kannten schon die Römer. Wir werden von der Staatsmacht gezielt aufeinander gehetzt, weil wir vor allem Eines nicht sollen: Uns jemals wieder einig werden und einig sein. Denn nur dann würden wir Bürger als ein Volk eine ersthafte Gefahr für die Macht und Strukturen in diesem System darstellen. Deswegen werden wir absichtlich so bunt

204 Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking (2015), S. 31. 205 Vgl. Ebd., S. 31.

111 durchgemischt. Ich halte Bürgerkrieg in Deutschland und dann in Europa nur noch für eine Frage der Zeit“.

Revisionismus Revisionismus ist als Versuch anzusehen, historische Ereignisse in Frage zu stellen oder umzudeuten. Die Bewegung stellt den geschichtlichen und rechtlichen Unter- gang des Deutschen Reiches in Frage. Entscheidend für die Argumentation ist das beschriebene Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Durch Hinzufügen oder Weg- lassen gelingt eine Umgestaltung.206 Verbunden mit der fiktionalen Gegenerzählung vom Untergang des Deutschen Reiches fügt sich der Gebietsrevisionismus an, wel- cher als Teil des rechtsextremen deutschen Geschichtsrevisionismus angesehen wer- den kann. Dieser bezieht sich auf den Versuch die Grenzen des Deutschen Reiches wiederherstellen zu wollen.207

Antisemitismus Antisemitismus ist ein „seit etwa 1880 verbreiteter politisch-ideologischer Begriff, bezeichnet sowohl die Abneigung oder Feindseligkeit gegen Juden als auch (natio- nalistische) Bewegungen mit ausgeprägten judenfeindlichen Tendenzen; heute v.a. als Sammelbegriff zur Kennzeichnung unterschiedlich motivierter individueller und kollektiver antijüdischer Einstellungen und Handlungen verwendet.“208 Antisemitis- mus ist vorwiegend in den rechtsextremistischen Teilen der Reichsbürgerbewegung vertreten. Als Erscheinungsform kann man diesen als primären und sekundären An- tisemitismus unterscheiden. Als primär kann die Formung von Stereotypbildungen verstanden werden. Eine politische Ideologie (Reichsbürgerideologie) im Kontext von Verschwörungstheorien und kruden Surrealismus verdichtet sich zu einem Welt- bild gegen Juden durch Vorurteile, Klischees, diskriminierenden Praktiken und Agi- tation. Diese Haltung wird offenkundig zu Schau gestellt und nicht verheimlicht. Der sekundäre Antisemitismus zeigt sich unterschwellig in den Argumentationen der Reichsbürger und Selbstverwalter. Durch die „Staatsleugnung“ der BRD und der For- derung zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches wird gleichzeitig gegen die bestehende und etablierte Politik vorgegangen, angetrieben durch instrumentali- sierte Ideologien und Argumente.209 Der Antisemitismus ist nicht das Ziel, sondern Beiwerk, welches in Kauf genommen wird. Das deutsche Volk soll vor Überfremdung, Souveränitäts- und Identitätsverlust bewahrt werden. „Dies zeigt sich etwa daran,

206 Vgl. Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking (2015), S. 20. 207 vgl. Rathje 2014:16. 208 Der Brockhaus 2008:25. 209 vgl. Speit 2017:133.

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dass innerhalb des Milieus sehr häufig rechtspopulistische, extrem rechte und ras- sistische Nachrichten und Meldungen geteilt und verlautbart werden.“210 „In der Be- wegung vom Reichsbürger über den Selbstverwalter bis zum Souveränisten sind diese Positionen mehr als virulent, sie sind fundamental.“211 Ein Interviewpartner äu- ßert sich antisemitisch: „Hitler (...) hat alle an der Macht sitzenden Juden enteignet und vernichtet, um schnell an viel Geld zu kommen. Damals (so wie heute übrigens wieder) saßen an allen wichtigen Schaltstellen des öffentlichen Lebens bzw. wich- tigsten Branchen wie Banken, Börsen, Diamanten, Gold, Edelmetalle, seltene Erden, Medien, Hollywood usw.... reiche Juden, die alles besaßen und kontrollierten. Offizi- ell hat Hitler die Juden verteufelt, Rassenhass geschürt, damit er die Legitimation durch die breite Masse zur Vernichtung bekommt. Die Enteignung und Entmachtung hätte er anders nicht durchbekommen“.

Lagebild der Reichsbürgerbewegung

„Das bundesweit polizeibekannte Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbst- verwalter-Szene wird mit Stand Oktober 2017 auf ca. 13000 Personen beziffert.“212 Seit Beginn der Beobachtung durch den Bundesverfassungsschutz sind die Zahlen des Personenpotenzials stark gestiegen, ging man anfangs noch von 10000 Perso- nen aus, so erreicht man derzeit15000 mit wachsender Tendenz. Der Anteil der Rechtsextremisten wird auf ca. 900 Personen beziffert, was einen prozentualen An- teil von 6% darstellt.213 Die Anzahl der Waffenerlaubnisse ist bedeutsam, ca. 1000 Personen verfügen mit Stand vom 30.09.2017 über eine oder mehrere waffenrecht- liche Erlaubnisse.214 Seit November 2016 wurden ca. 330 Reichsbürgern und Selbst- verwaltern die Erlaubnis entzogen.215 Das Dunkelfeld bei illegalen und verbotenen Waffen dürfte weitaus höher liegen. Von 2015 bis 2017 wurden 10558 Straftaten mit Bezug zu Reichsbürgern und Selbstverwaltern durch die Polizeien der Länder ge- meldet.216 Da es keine einheitliche Erhebung in den Ländern gibt und in einigen Ländern der Marker „Reichsbürger“ in den polizeilichen Systemen nicht oder später eingeführt wurde (z.B. Hessen, Bremen) und somit keine konkreten Fallzahlen erho- ben werden konnten. Von den 10558 Straftaten wurden 1178 als politisch motivierte Kriminalität (PMK) registriert, was einen Anteil von über 11% an den Gesamtstrafta- ten darstellt. Die PMK-Delikte wurden zum Großteil als rechtsmotiviert eingestuft.

210 Rathje 2017:39. 211 Speit 2017:134. 212 ebd. 5. 213 vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2017:5-7. 214 vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2017:7. 215 vgl. Ebd., S. 7. 216 vgl. Ebd., S. 49.

113 So wurden durch die Landeskriminalämter im ersten Halbjahr 2017 400 Straftaten im Themenfeld Reichsbürger/Selbstverwalter erfasst, wobei 194 als rechtsmotiviert eingestuft wurden. Den Schwerpunkt der verübten Straftaten stellen Nötigungen und Bedrohungen mit 139 Fällen dar, Gewaltdelikte sind mit 39 Fällen vertreten. Bei der Erfassung der Tatverdächtigen im 1. Halbjahr 2017 konnten 419 Personen iden- tifiziert werden, wobei es sich um 346 männliche und 69 weibliche Personen han- delte.217 Demnach waren 16% der Tatverdächtigen weiblich und 84% männlich. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz geht „davon aus, dass 70 Prozent der Reichsbürger und Reichsbürgerinnen zwischen 40 und 69 Jahre alt und 75 Prozent männlich sind“218, in Hessen sind etwa 80 Prozent männlich und zwischen 40 und 60 Jahre alt, in Brandenburg lag der Männeranteil bei 83 Prozent und das Durch- schnittsalter bei 52 Jahren.219 Somit scheint die Reichsbürgerbewegung eine Män- nerdomäne zu sein, in der vorwiegend Personen mittleren Alters agieren. Das Lan- deskriminalamt M-V geht in seinem Bericht 2017, von einem Personenpotenzial von 250 eindeutig zugeordneten Personen aus.220 „Hiervon werden ca. 30% aufgrund ihrer Verhaltensweisen als gewaltorientiert eingestuft. Es befinden sich noch rund 280 Verdachtsfälle in Bearbeitung, so dass von einer Korrektur des am Anfang des Jahres geschätzten Personenpotenzials von 300 Reichsbürgern und Selbstverwaltern nach oben auszugehen ist.“221 Die Zahl der erfassten Rechtsextremisten beläuft sich auf 11 Personen, 28 Personen haben eine Waffenerlaubnis, einer Person wurde diese entzogen. 2016 wurden nur wenige Delikte mit Bezug zu Reichsbürgern und Selbst- verwaltern festgestellt.222 Das geringe Aufkommen von Straftaten kann mit einem angenommenen großen Dunkelfeld begründet werden. Zum einen bestand für der- artige Vorfälle kein einheitlicher Meldeweg, zum anderen war das Anzeigeverhalten für das als kuriose Erscheinung bewertete Phänomen sehr zurückhaltend.223 Bis Juni 2017 wurden 19 Delikte PMK erfasst, dazu zählen Gewaltdelikte, Urkundenfälschun- gen, Beleidigungen und Bedrohungen.224

Fazit Die Betrachtung der Reichsbürgerbewegung hat ergeben, dass es sich bei diesem Phänomen um eine äußerst heterogene Bewegung handelt, die vorwiegend aus Ein- zelpersonen, Kleinstgruppen und nur teilweise größeren Gruppen besteht, gemein- same Ziele sind nicht erkennbar. Systemkritik an der BRD und die Staatsleugnung

217 vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2017:49-51. 218 Speit 2017:145. 219 vgl. Ebd., S. 145. 220 vgl. Landeskriminalamt M-V 2017:9. 221 Landeskriminalamt M-V 2017:9. 222 vgl. ebd.10-11. 223 Landeskriminalamt M-V 2017:10. 224 vgl. ebd. 10.

114

eint sie. Der Grad der Ideologisierung kann sich von der einfachen Verschwörungs- theorie über den politischen Fanatismus bis hin zum Wahn steigern.225 Die Anzahl der dem Reichsbürgermilieu zugehörigen Personen steigt. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Zum einen steht das Phänomen unter verstärkter Beobachtung der Po- lizeien und Verfassungsschutzbehörden, durch die Erhebung und Auswertung rückt die Bewegung vom Dunkel- ins Hellfeld. Ein weiterer Grund für den Zulauf sind die Aktivitäten der Reichsbürger. Durch die Verbreitung ihrer Ideologien werden zielge- richtet potenzielle Personen angesprochen und für das Milieu rekrutiert. Zudem er- höht die mediale Aufmerksamkeit den Bekanntheitsgrad. Bei der Betrachtung des Phänomens ist erkennbar, dass die Ansichten ideologisch tiefer im rechtsextremisti- schen Denken verankert sind als bisher vermutet.226 Die Positionen sind durch Pro- paganda, Geschichts- und Gebietsrevisionismus, Rigorismus, Verschwörungstheo- rien und Antisemitismus geprägt. Die bestehende Staatsform wird verleugnet, diffa- miert und ihre Souveränität angezweifelt. Durch eine zunehmende Systematik er- langt die Problematik eine weitaus größere Gewichtung als bisher angenommen. „Die Szene bündelt knallharte Rechtsextremisten, Menschen in wirtschaftlichen Nö- ten, Frustrierte, Neugierige und solche, die das Milieu als Geschäftsmodell entdeckt haben.“227 Es besteht die Gefahr, dass sich die rechtsextremistischen Positionen und Denkweisen bei den Personen verfestigen, je länger sie sich in dem Milieu bewegen. Radikalisierungsprozesse können dadurch begünstigt werden. So „ist dasaktuell an- wachsende Reichsbürger-Milieu auch Ausdruck einer offenen und pluralistischen Gesellschaft, die einige schlicht darin überfordert, die damit einhergehende Kom- plexität zu reflektieren.“228 Diese Überforderung hat sich in der Bundestagswahl 2017 wiedergespiegelt. Durch eine wachsende Politikverdrossenheit der deutschen Bevölkerung haben etablierte Parteien Verluste erlitten. Die AfD hat starken Zulauf erfahren und ist in den Bundestag eingezogen. Diese besteht zum Teil aus Souverä- nisten, welche ideologische Schnittmengen zur Reichsbürgerbewegung bilden. Die durchgeführten Interviews haben einen aufschlussreichen Einblick in die Reichsbür- gerbewegung gewährt. Die Staatsleugnung wurde als zentrales Argument verbun- den mit rechtsextremistischen und teilweise fremdenfeindlichen Positionen vertre- ten. Die Interviewpartner äußerten eine nationalistische Denkweise, gepaart mit re- visionistischen und verschwörungstheoretischen Ansätzen.

225 vgl. Keil in: Wilking 2015:89. 226 vgl. Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking 2015:36. 227 ebd. 36. 228 Hüllen/Homburg/Krüger in: Wilking 2015:37.

115 Literatur

Bundesverfassungsgericht. (31. 07 1973). 2 BvF 1/73, BVerfGE 36. Karlsruhe.

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Gläser, J., Laudel, G. (2010): Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Wies- baden.

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Speit, A. (2017): Reichsbürger - Die unterschätzte Gefahr. Berlin.

Wilking, D. (2015). "Reichsbürger" - Ein Handbuch. Potsdam.

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117 Rockerkriminalität

Marcus Huhle, Rita Bley

Bundesweit wurden im Jahre 2016 732 Chapter229 polizeilich relevanter Rockergrup- pierungen registriert. Die Zahl ihrer Mitglieder beläuft sich auf 10.346. In Mecklen- burg-Vorpommern waren 21 Chapter mit 220 Mitgliedern registriert (vgl. BKA b 2016:3) In Deutschland wurden 255 Ermittlungsverfahren gegen Rocker und rocker- ähnliche Gruppierungen geführt, in M-V in diesem Zeitraum zehn Verfahren. 1/3 der Ermittlungsverfahren sind der Gewaltkriminalität, 15 Prozent der Rauschgiftdelin- quenz und 16 Prozent Verstößen gegen das Waffen- und/oder Sprengstoffgesetz zuzuordnen (vgl. ebd.:10). Die Anzahl der geführten Ermittlungsverfahren ist gering, jedoch nimmt sie aufgrund der Deliktsgruppen einen hohen Stellenwert ein. Das kriminelle Potenzial von Rockergruppierungen führt zu einer hohen Gefährdungs- lage in Deutschland. In diesem Artikel soll ein Lagebild der Kriminalitätserscheinung der Rocker in M-V dargestellt werden. Zunächst werden Begriffsdefinitionen vorge- nommen und die Subkultur der Rocker betrachtet. Die drei größten und einfluss- reichsten Rocker- und rockerähnliche Gruppierungen in M-V werden dargestellt. Da- bei spielen Anzahl der Chapter/Charter, die Mitgliederanzahl, sowie der Einfluss eine wichtige Rolle. Die Deliktsfelder in denen Rocker in M-V tätig sind und das Hellfeld werden ausgewertet. Abschließend wird untersucht, welche Handlungsalternativen die Polizei im Umgang mit Rockergruppierungen hat - insbesondere welche Ermitt- lungsansätze sich ihnen bieten. Methodisch wird die Literaturrecherche durch zwei Experteninterviews mit erfahrenen Ermittlern in diesem Deliktsbereich ergänzt. Die Auswertung des Bundeslagebildes bezieht sich ausschließlich auf die Fallzahlen im sogen. Hellfeldes. Gerade im Bereich der Rockerkriminalität sind die Fallzahlen im Dunkelfeld aufgrund der Verschwiegenheit gegenüber der Polizei und der geringen Anzeigebereitschaft der Opfer hoch. Dadurch können die tatsächlich begangenen Straftaten nicht umfänglich aufgezeigt werden. Studien zum Dunkelfeld im Bereich der Rockerkriminalität gibt es nicht.

Begriffsbestimmungen

„Eine Rockergruppe ist ein Zusammenschluss mehrerer Personen mit strengem hie- rarchischen Aufbau, enger persönlicher Bindung der Gruppenmitglieder untereinan- der, geringer Bereitschaft, mit der Polizei zu kooperieren, und selbst geschaffenen

229 Chapter: Der kleinste örtliche Zusammenschluss eines MC. Beim Hells Angels MC findet der Begriff Charter Anwendung.

118

strengen Regeln und Satzungen. Die Zusammengehörigkeit der Gruppenmitglieder wird durch das Tragen gleicher Kleidung oder Abzeichen nach Außen dokumentiert.“ (BKA b 2016:2) „Rockerkriminalität umfasst alle Straftaten von einzelnen oder meh- reren Mitgliedern einer Rockergruppe, die hinsichtlich der Motivation für das Ver- halten im direkten Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe und der Solidarität zu sehen sind.“ (ebd.) Als Outlaw Motorcycle Gang sind polizeilich rele- vante Rockergruppierungen anzusehen. In Deutschland werden hierzu in erster Linie der Hells Angels MC (HAMC), der Bandidos MC (BMC), der Outlaws MC (OMC) und der Gremium MC (GMC) sowie ihre Unterstützergruppierungen (sogenannte Sup- porterclubs) gezählt. (vgl. LKA M-V 2011:3) „Eine rockerähnliche Gruppierung ist eine Vereinigung von mehreren Personen mit gemeinsamen verbindenden Symbolen, Zeichen oder Namen, die durch ihr öffentliches Auftreten eine Atmosphäre der Ge- walt und Einschüchterung schafft. Diese Gruppierungen zeichnen sich durch hierar- chischen Aufbau, enge persönliche Bindung, geringe Bereitschaft zur Kooperation mit der Polizei sowie selbst geschaffene Regeln und Satzungen aus. Ihre Betäti- gungsfelder gleichen in weiten Teilen denen der ‚Rockergruppierungen’.“ (BKA b 2016:2) Rockerkriminalität wird im Deliktsfeld der Organisierten Kriminalität sub- summiert. "Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben be- stimmte, planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder un- bestimmte Dauer arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäfts- ähnlicher Strukturen, b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüch- terung geeigneter Mittel oder c) unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken." (GAG 1990)230

Phänomenologie in M-V

Die Anzahl der Chapter/Charter sowie der Mitglieder der OMCG’s in MV verändern sich ständig. Aktuell gibt es 22 Charter/Chapter, wobei drei Clubs zu den rockerähn- lichen Gruppierungen gehören. Darunter fallen Bay City Beasts, Garingas Brother- hood und Original Gangster. Der Hells Angels MC zählt drei Charter, eines in der Nähe von Schwerin in Pokrent, die anderen beiden in und um Rostock. Die Anzahl der Mitglieder beläuft sich auf ca. 45. Die vier Supportergruppierungen Bay City Beasts, Joker MC Germany, Meck.Bulls und Red Devils MC Rostock sind ebenfalls im Westen bzw. im zentralen Mecklenburg angesiedelt und haben insgesamt 49 Mit-

230 Im Mai 1990 von der AG Justiz/Polizei entwickelte Definition

119 glieder. (vgl. LKA 2011) Deutschlandweit war der Hells Angels MC 2016 mit 69 Char- tern und 1.452 Mitgliedern vertreten. Die größte Anzahl der Charter befindet sich im Westen und Südwesten Deutschlands. (vgl. BKA b 2016:6) Beim Bandidos MC beläuft sich die Anzahl der Chapter auf vier, mit insgesamt 34 Mitglieder. Der Club hat seine Standorte in Anklam, Neubrandenburg, der Insel Rügen und Stralsund. Zu den Bandidos Supporterclubs gehören Demons Stralsund, Guerrilleros MC, Huskalar MC Stralsund, Supportteam Rügen, The Clan MC Neubrandenburg und Vengator An- klam mit insgesamt 48 Mitgliedern. (vgl. LKA M-V 2011) Auffällig ist, dass hier alle Clubs im Osten Mecklenburg-Vorpommerns angesiedelt sind. Deutschlandweit war der Bandidos MC 2016 mit 60 Chaptern und 1.456 Mitgliedern vertreten, wobei zwei Drittel aller Mitglieder in Nordrhein-Westfalen ansässig waren. (vgl. BKA b 2016:6) Der Gremium MC gehört deutschlandweit neben dem HAMC und den Bandidos zu den zahlenmäßig größten Rockerclubs. Seine Mitgliederzahl betrug 2016 deutsch- landweit 1.813, aufgeteilt auf 79 Chapter. (vgl. BKA ebd.: 5) M-V hat ein Chapter mit 22 Mitgliedern in Schwerin. Es gibt gegenwärtig keine Supportergruppierungen des Gremium MC. Neben den oben genannten MCs zählen noch andere Gruppierungen in M-V zu den OMCGs. Darunter fallen der Mongols MC und der Born To Be Wild MC. Diese sind mit zwei Chaptern und 18 Mitgliedern unterrepräsentiert. Zu den rockerähnlichen Gruppierungen gehören die Bay City Beasts Rostock, Garingas Brotherhood (Mongols MC Supporter) sowie die Original Gangster Schwerin. Diese zählen drei Chaptern und insgesamt 22 Mitgliedern. Die rockerähnlichen Gruppie- rungen sind ähnlich der Rockergruppierungen hierarchisch strukturiert und in örtli- che Chapter gegliedert. Auch die Abzeichen und Clublogos ähneln denen der OMCGs. Selbst die Geschäftsfelder bzw. Deliktsfelder sind mit denen von Rocker- gruppierungen gleichzusetzn. Aufgrund der konkurrierenden kriminellen Aktivitäten kann es zu Spannungen zwischen OMCGs und rockerähnlichen Gruppierungen kommen. (vgl. BKA b 2014:5) Die Anzahl der jeweiligen Mitglieder und der Chap- ter/Charter variiert stetig. Die Gesamtanzahl der in M-V ansässigen Clubs ist relativ konstant. In 2010 gab es 244 Mitglieder in 24 Chaptern/Chartern, derzeit gibt es 229 Mitglieder in 22 Chaptern/Chartern. Gründe für die Schwankungen können u.a. frei- willige Vereinsauflösungen, Verlassen durch einzelne Mitglieder, Umzug und/oder Eintritt in Clubs anderer Bundesländer, Tod von Mitgliedern oder gerichtlich erwirkte Vereinsverbote sein. Ein Beispiel ist das Vereinsverbot vom 20.12.2013 gegen den Verein „Schwarze Schar MC “, welcher ebenfalls unter den Namen „Schwarze Schar MC Nomads Deutschland“ und „Schwarze Schar MC Nomads Europa“ geführt wurde. Die Verbotsverfügung wurde am 08.01.2014 veröffentlicht. Die Mitglieder- anzahl der „Schwarzen Schar“ lag zu diesem Zeitpunkt bei 25 Personen. Nach einer Verbotsverfügung steht es den Mitgliedern frei, sich anderen OMCGs anzuschließen oder neue Clubs unter anderem Namen zu Gründen. Eine Verbotsverfügung eines

120

Clubs mit 25 Mitgliedern hat demnach nicht zur Folge, dass sich die Gesamtanzahl von Rockern in M-V um 25 Mitglieder verringert. „Rockerähnliche Gruppierungen […] sind Auffangbecken für ehemalige Mitglieder von OMCG.“ (BKA b 2014:5) Dem- nach ist es möglich, dass sich auch Personen des aufgelösten Vereins „Schwarze Schar“ rockerähnlichen Gruppierungen angeschlossen haben.

Entwicklung der Mitglieder in Chaptern/Chartern

291 244 246 231 229 212 220 220 229

24 30 34 23 20 21 21 21 22 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Anzahl Mitglieder Anzahl Chapter / Charter

Neben dem Anstieg in den Jahren 2011 und 2012 sind die Zahlen annähernd gleich- geblieben, was für eine Umverteilung einzelner Mitglieder zwischen den Clubs spre- chen könnte.

Sozialisation

Im Folgenden soll betrachtet werden, welche Werte und Normen Rockern in M-V vermittelt werden und welche Eigenschaften sie besitzen müssen, um Mitglied eines Clubs zu werden. „Sozialisation wird [..] verstanden als ‚Bezeichnung für den Prozess, durch den ein Individuum in eine soziale Gruppe eingegliedert wird, indem es die in dieser Gruppe geltenden sozialen Normen, insbesondere die an das Individuum als Inhaber bestimmter Positionen gerichteten Rollenerwartungen, die zur Erfüllung dieser Normen und Erwartungen erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die zur Kultur der Gruppe gehörenden Werte, Überzeugungen usw. erlernt und in sich aufnimmt.’ “ (Klima 2007 zit. n. Bley 2015:70). Die in M-V ansässigen OMCGs sind gemäß den jeweiligen „Rules“ streng hierarchisch strukturiert und organisiert. Unter Rules sind festgeschriebene Regeln und Verhaltensanweisungen unter den Rockern zu verstehen. „Die Mitglieder richten sich in erster Linie nach unbedingter Treue und Loyalität zum Club und ihren Clubbrüdern, getreu dem Motto ‚Einer für alle, alle für einen’. Das Vereinsleben wird nach diesem Credo ausgerichtet. Das Le- ben für die Bruderschaft, die Kollektividentität steht im Vordergrund.“ (I1) „Wir ha- ben bei uns im Bereich nur Oldschool-Rocker, die [...] in den alten Werten der Rocker Brüderlichkeit, Ehre, Verschwiegenheit und dass der Club immer an erster Stelle steht, verwurzelt und verhaftet sind. Und die Entwicklung in anderen Bundesländern

121 können wir bei uns [..] noch nicht feststellen, dass dort [..] die eigentlichen Rocker- ansichten nicht mehr vertreten werden, das ist hier noch gänzlich anders.“ (I2) Ro- cker in M-V wandeln sich entgegen des bundesweiten Trends nicht. Gemäß Bundes- lagebild zur Organisierten Kriminalität wurde beschrieben, dass die OK durch Ro- ckergruppierungen eine Erscheinungsform ist, die überwiegend durch deutsche Staatsangehörige dominiert wird (65,7%). (vgl. BKA a 2016:20) Das wird durch die Experten für M-V bestätigt. Das Durchschnittsalter der Rocker in M-V liegt bei 37 Jahren (I1), im Jahr 2015 46,5 Jahre231, sie haben sich also verjüngt. Der Begriff „Old- school-Rocker“ findet in Bezug auf die Werte und Normen der Rocker Anwendung. Einige Rocker aus M-V ähneln denen der „New Generation“. Die Rekrutierung neuer Mitglieder erfolgt in der Regel aus einem kriminellen Milieu, teilweise aus der rech- ten Szene. Die Mitglieder stammen überwiegend aus einfachen Verhältnissen bzw. aus der unteren Mittelschicht. (vgl. I2) Bevor sie als Member aufgenommen werden, müssen sie sich Probezeiten und Aufnahmeverpflichtungen unterziehen. So können sie als Hangaround232 zum Prospect233 werden. Als Prospect müssen sie den an sie gerichteten Rollenerwartungen gerecht werden. Außerdem muss man entsprechend der „Rules“ stets für die Member234 erreichbar sein. Sollte ein Member eine Aufgabe für den Prospect haben, muss diese erledigt werden. Verschwiegenheit, Skrupello- sigkeit, bedingungsloser Gehorsam und dass man sich dem Club unterordnet, wird verlangt. (vgl. I2) Grundvoraussetzung sind auch Beitragszahlungen, die einmalige Aufnahmezahlung, „die schon mal im vierstelligen Bereich liegen kann“, sowie mo- natliche Clubbeiträge und Sonderzahlungen. (vgl. I1,2) „Bei manchen OMCGs ist es natürlich auch so, dass man eine Motorradpflicht hat und das Motorrad ist nicht Eigentum des Mitgliedes, sondern wird dem Eigentum des Clubs überschrieben.“ (I1) Entsprechend der Tradition gibt es die Pflicht, faktisch hat jedoch nicht jedes Mit- glied ein Motorrad oder einen Führerschein. (I2) „Rockergruppierungen sind traditi- onell unpolitisch. Angehörige, die sich politisch engagieren, werden z.T. aus den Gruppierungen ausgeschlossen. Bei dem Phänomen der rockerähnlichen Gruppie- rungen wandelt sich diese Tradition.“ (BKA b 2016:8) Die Mitglieder sind insgesamt vorwiegend deutscher Herkunft.

231 https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/stk/Themen/Demografischer-Wandel/Daten-und-Fakten/ (abgerufen: 24.02.18) 232 Hangaround: „Hänger“, der im Umfeld des Clubs herumhängt um Prospect zu werden (vgl. Ahlsdorf 2009: 40) 233 Prospect: Anwärter für eine Clubmitgliedschaft (vgl. ebd.: 39) 234 Member: Auch „Full-Member“ ist ein vollwertiges Mitglied, das seine Zugehörigkeit nach Außen zeigen darf (vgl. ebd.)

122

Delikts- und Tätigkeitsfelder

Es werden Straftaten der Gewaltkriminalität, Rauschgiftkriminalität und Verstöße ge- gen das Waffen- und Sprengstoffgesetz begangen. Auch die Straftaten der rocker- ähnlichen Gruppierungen und die Verfahren der Organisierten Kriminalität mit Ver- bindung zu Rockern, bestehen überwiegend aus dem Rauschgifthandel und den Ge- waltdelikten. (vgl. BKA b 2016:10, 12) Dieses zeigt sich auch in Mecklenburg-Vor- pommern, der Handel mit Betäubungsmitteln und Verstöße gegen das Waffenge- setz sind dominierend. Verstöße gegen waffenrechtliche Vorschriften werden nicht ausschließlich durch Gewaltdelikte bekannt, sondern hauptsächlich durch Woh- nungsdurchsuchungen bzw. durch Verkehrskontrollen (I1, 2). Die Gewaltbereitschaft der Rocker in M-V ist verhältnismäßig gering. Gewaltdelikte werden eher zum An- fang der Karriere vollzogen, da sich die Rockeranwärter in dieser Probezeit als Hangarounds und Prospects noch beweisen müssten. (I2) Auch zwischen einzelnen Rockerclubs bzw. zwischen einzelnen Mitgliedern desselben Clubs ist aktuell keine Gewalt feststellbar. Die wenigen Fälle, die in der Vergangenheit festgestellt wurden, liegen bereits mehrere Jahre zurück. Im westlichen Bereich M-V ist die Dominanz des Hells Angels MC so groß, dass keine anderen Clubs gegen sie aufbegehren wür- den. Gewalt zwischen Rockergruppierungen wird im Bundeslagebild anders darge- stellt. „Auseinandersetzungen zwischen Rockergruppierungen werden immer öfter mit Schusswaffen ausgetragen.“ (BKA b 2016:14) „Zudem beeinträchtigen das Auf- treten von Rockergruppierungen und die häufig in der Öffentlichkeit ausgetragenen Konflikte das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung in einem erheblichen Ausmaß.“ (ebd.) Diese Aussagen treffen für den Rostocker Bereich nicht zu. Im östlichen Teil des Landes gab es in den letzten Jahren öffentlich ausgetragene Streitigkeiten zwi- schen Rockerclubs. Die Schweriner Volkszeitung berichtete, dass im Mai 2013 bei Revierkämpfen in Greifswald ein Bandido mit Messern und Baseballschlägern schwer verletzt worden ist. 15 bis 20 Hells Angels sind mit Motorrädern an eine Kreuzung gefahren und haben auf den Mann eingeschlagen. Die Hells Angels waren aus Ber- lin.235 Im Juni 2013 schrieb die Ostsee Zeitung von einem Vorfall auf dem Stadtfest in Hagenow, ein Mitglied des OMCG „Schwarze Schar“ aus Wismar hat auf einen Mann mit einem Messer eingestochen, weil es Streit um die getragene Kutte des Rockers gab.236 Somit gab es in M-V gewalttätige Auseinandersetzungen. Der Han- del mit Betäubungsmitteln ist sehr lukrativ. Menschenhandel und Zuhälterei gab es zwar in den letzten Jahren, jedoch ist das zurückgegangen, da sich der Handel mit BTM einfach am meisten lohnt. (vgl. I1) Rocker stellen sog. „Model-Wohnungen“ für die Prostituierten zur Verfügung und kassieren ab. (vgl. I2) Viele Rocker betreiben

235 https://www.svz.de/lokales/hagenower-kreisblatt/wismarer-rocker-wegen-mordverdachts-in-haft-id4042761.html (abger.13.2.18) 236 http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/MV-aktuell/Rocker-Krieg-in-Vorpommern (abger. 13.02.18)

123 ein Gewerbe, z.B. Tattoo-Studios, Securitybereich, Dienstleistungen im Baugewerbe, Messebau oder Vermietung von Gewerberäumen und Wohnungen. Ein Grund für die legale Erwerbstätigkeit könnte sein, dass die Clubs Vereinsverboten aus dem Weg gehen möchten. Sie wurden von ihren Dachverbänden dazu angehalten, nicht über die Stränge zu schlagen und keinen Anlass für Ermittlungsverfahren zu geben. (vgl. I1, 2) Dieses zeigt sich auch in der Umsetzung des Colourverbots. Die Rocker aus M-V halten sich vorwiegend an das Verbot.. (vgl. ebd.) Es wurde allerdings fest- gestellt, dass sich einige Clubs „Ersatzcolour“237 beschafft haben. Darunter versteht man unter anderem Kutten238, die keine durch das Vereinsgesetz verbotenen Kenn- zeichnungen besitzen, jedoch durch Hinweise auf den jeweiligen Clubs schließen lassen. Anstelle des „Bandidos MC“ Schriftzuges wird das Kürzel BMC auf den Kutten getragen. Der HAMC Rostock trägt anstelle ihrer Kutten T-Shirts, die mit „Ersatzco- lour“ versehen sind. Als Person, die keine Berührungspunkte mit Rockern hat, sind diese Kennzeichen nicht als Colour von OMCGs zu identifizieren. (vgl. I1)

Hellfeld

Unter Hellfeld wird all jene Straftaten gefasst, die es geschafft haben, der Polizei und damit offiziell bekannt geworden zu sein. (vgl. Lüdemann, Ohlemacher 2002:13) 2011 lag die Anzahl der Ermittlungsverfahren bei 40, in 2017 bei acht. Das ist ein Rückgang der Verfahren um 80%. Straftaten werden als Rockerkriminalität erfasst, wenn die Motivation für die Straftat in einem Verhältnis zu der Zugehörigkeit einer Rockergruppe und der Solidarität zu dieser zu sehen sein muss. (vgl. BKA b 2016, S. 2). Ist diese Motivation der Straftat nicht erkennbar, kann diese nicht als Ermittlungs- verfahren gegen Rockergruppierungen eingestuft werden. Der Rückgang der Straftaten wird auch auf den Ermittlungsdruck der Polizei und die damit verbundene Angst vor Vereinsver- boten zurückgeführt. Die Szene ist bemüht nicht in den polizeilichen Fokus zu gera- ten, um unbehelligt ihren illegalen Betätigungsfeldern nachzugehen. (vgl. LKA M-V 2011, BKA b 2016, S. 1) Der Rückgang kann auch mit der Novellierung des Vereins- gesetzes und dem damit einhergehenden polizeiunauffälligen Verhaltens zusam- menhängen. (vgl. ebd.) 1/3 aller Verfahren sind der Gewaltkriminalität, 15 Prozent der Rauschgiftdelikte (inkl. Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz), 16 Prozent Ver- stöße gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz und 52 Prozent sonstigen Strafta- ten zuzuordnen. (vgl. ebd.) Die ersten drei spiegeln die typischen Delikte der Rocker.

237 Unter Colours werden die Kennzeichen der Clubs und die Zugehörigkeit und Funktion in der Clubhierarchie verstanden. (vgl. Ahls- dorf 2009, S. 260) 238 Kutte: Ärmellose Weste aus Leder oder Jeans-Stoff, die mit den Colours versehen ist. (vgl. ebd.)

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Straftaten im Zusammenhang mit dem Rotlichtmilieu, wie beispielsweise Menschen- raub, Erpressung oder Bedrohung, fallen in den Bereich der Gewaltstraftaten. Neben diesen Verfahren gibt es weitere, die als Organisierte Kriminalität Verbindungen zu Rockergruppierungen aufweisen. Laut Bundeslagebild OK wurden 2016 35 Verfah- ren gegen Angehörige von Rockergruppierungen und 39 Verfahren gegen OK- Gruppierungen mit Verbindungen zu Angehörigen von Rockergruppierungen ge- führt. (vgl. ebd. 12) 28 der OK-Verfahren sind Angehörigen des Hells Angels MC zuzuordnen, was bestätigt, dass der Hells Angels MC mit den meisten Mitgliedern im Bundesgebiet auch die meisten Straftaten begeht. Fast 90% der 35 OK-Verfahren wurden wegen Rauschgifthandels und Gewaltdelikten geführt. (vgl. ebd.) Das unter- streicht die Deliktsfelder der Rockergruppierungen. Zusätzlich zu den o.g. Verfahren gab es bundesweit noch 15 Verfahren gegen Angehörige von rockerähnlichen Grup- pierungen. Auch hier lagen die Verfahren in den Bereichen des Rauschgifthandels und der Gewaltdelikte. (vgl. ebd.) Die in den Bundeslagebildern dargestellte Delin- quenz veranschaulicht somit nicht die tatsächliche Gesamtanzahl der Rockerkrimi- nalität, sondern lediglich die Anzahl der Straftaten einzelner definierter Gruppen.

Prävention und Intervention

Die Ermittlungsansätze und Handlungsalternativen für die Polizei sind umfangreich. Diese sind Aufklärung, Gefährderansprachen, Meldeauflagen, Zugangs- bzw. Zu- fahrtskontrollen, Platzverweise, Aufenthaltsverbote, Ingewahrsamnahmen, Erken- nungsdienstliche Maßnahmen, Observationsmaßnahmen, Einrichten von Kontroll- stellen, Verkehrskontrollen, Sicherstellung/Beschlagnahme, Schutzmaßnahmen, Razzien/Durchsuchungen, Ausschreiben zur polizeilichen Beobachtung, Datenerhe- bung mit technischen Mitteln und verdeckte Maßnahmen. Um polizeilichen Maß- nahme durchführen zu können, bedarf es einer engen, kooperativen und abge- stimmten Vorgehensweise. Das LKA hat eine koordinierende und auswertende Rolle in der Landespolizei M-V. Sämtliche Vorgänge und Maßnahmen anderer Behörden werden hier gesammelt und ausgewertet. Im Zuge des Vereinsverbots gegen die „Schwarze Schar MC Wismar“ von 2014 wurde die Bestimmung der örtlichen Ord- nungsbehörden als Vollzugsbehörden für das Vereinsrecht auf das LKA M-V über- tragen. (vgl. I 1) Während das LKA eine auswertende Rolle einnimmt, kann der KPI eine aufklärende und informationsverbreitende Rolle zugewiesen werden. Die KPI hat zahlreiche Möglichkeiten Sachverhalte in Bezug auf Rockerkriminalität zu ermit- teln. Auch die Polizeiinspektionen nehmen eine aufklärende Rolle ein. Die Streifen- beamten in den Polizeirevieren sind diejenigen, die ihren täglichen Dienst auf der

125 Straße versehen. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit am größten, durch Verkehrs- kontrollen, Anzeigen und Hinweisen durch die Bevölkerung oder die bloße Streifen- fahrt und selbstständige Ermittlungen, zufällig auf Rocker bzw. Rockergruppierun- gen zu stoßen. Insbesondere bei Rockerveranstaltungen und Gerichtsverhandlun- gen gegen Rocker sind besondere Einsatzmaßnahmen wie z.B. Zugangs- und Zu- fahrtkontrollen, Verkehrskontrollen, Platzverweise und Aufenthaltsverböte notwen- dig. Ein konsequentes Einschreiten der Beamten ist dabei unabdingbar. Die Schwelle zum Einschreiten bei Rechtsverstößen sollte niedrig sein, um die Null-Toleranz-Stel- lung der Polizei gegenüber gewaltbereiten Rockern zu verdeutlichen. Eine enge Zu- sammenarbeit mit anderen staatlichen Behörden wie z. B. Kommunen, Zoll-, Finanz- Ordnungs-, und Verkehrsbehörden ist wichtig, um die jeweiligen Maßnahmen durchzusetzen. Die effektivste Möglichkeit zur Bekämpfung der Rockerkriminalität wird darin gesehen, den Kontroll- und Ermittlungsdruck hochzuhalten. (vgl. I1). Da- runter ist zu verstehen, dass sich die Rocker ständig von der Polizei beobachtet füh- len sollen und jederzeit mit Repressalien zu rechnen haben. Durch häufige Kontrol- len, Durchsuchungen, Gefährderansprachen und andere Maßnahmen, lässt sich das sog. „Prinzip der Nadel-stiche“ gut erklären. Darunter ist die Zuhilfenahme einer Vielzahl von kleinen, unangenehmen Maßnahmen zu verstehen, um Druck auszu- üben und dadurch ein höheres Ziel zu erreichen. Die kriminellen Rocker sollen durch ständige Präsenz der Polizei darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie unter Beobachtung stehen und dass jede Straftat zur Anzeige gebracht wird. Aufklärung und verdeckte Maßnahmen bilden die effektivsten Mittel zur Bekämpfung der Ro- ckerkriminalität in M-V. (ebd.) Durch diese Maßnahmen findet das o.g. „Prinzip der Nadelstiche“ zwar keine Anwendung, jedoch sind solche Maßnahmen Grundvoraus- setzung, damit Folgemaßnahmen überhaupt durchgeführt werden können. Ohne Aufklärung würde die Polizei von vielen Straftaten, Bewegungen und Handlungen einzelner Rockergruppierungen keine Kenntnis erlangen und der daraus folgende Kontrolldruck würde wegfallen. Dies würde dazu führen, dass sich die Gruppierun- gen nicht kontrolliert fühlen und ungestört ihren kriminellen Beschäftigungsfeldern nachgehen könnten, ohne Repressalien fürchten zu müssen. „Darüber hinaus dienen die von Aufklärern erhobenen und dokumentierten Erkenntnisse der Beweisführung in Verwaltungsstreitverfahren und als eine wichtige Grundlage in strafrechtlichen Er- mittlungsverfahren.“ (Knape 2015:51) „Zwei elementare Dinge die Seitens der ISA Rocker angeregt werden, sind zum einen die Anbringung von Waffenverboten im Sinne des § 41 WaffG als Standardmaßnahme sowie einer Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 46 Absatz 3 FEV im Sinne einer Demobilisierung der OMCG […].“ (I 1) Ins- besondere das Fahrerlaubnisverbot würde den Rockern das Recht des Motorradfah- rens zu Treffen und sonstigen Veranstaltungen nehmen, was wesentlicher Bestand- teil einiger bzw. vieler Clubs in M-V ist. (vgl. I 1) Gerade in dem Flächenland M-V

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stellt der Entzug der FE ein empfindliches Übel dar. Die Fahrerlaubnisentziehung könnte gem. § 46 Absatz 3 FEV aufgrund von Ungeeignetheit von Rockermitgliedern zum Führen von Kraftfahrzeugen begründet werden. Diese Tatsachenbegründung wäre nur durch aufwändige Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit realisierbar. Ein ge- nerelles Fahrerlaubnisverbot für Mitglieder von Rockergruppierungen gibt es bis- lang nicht. 2009 schrieb Ahlsdorf (2009, S. 207) „Und doch fahren die Member der meisten Onepercenter-Clubs durchgängig Harley. So ist es unausgesprochener Brauch oder sogar schriftlich niedergelegte Satzung.“ Mobilität stellt innerhalb der Rockerszene also eine unabdingbare Notwendigkeit dar. Selbst bei den nicht Mo- torrad fahrenden Mitgliedern müssen Treffen, Partys und sonstige Aktivitäten durch Reisen realisiert werden, damit die Funktionalität einer vernetzten Bruderschaft ge- wahrt bleibt. Bezüglich der Waffenverbote wird durch Bundesverwaltungsgerichts- urteil von einem generellen Verbot einer Waffenerlaubnis für Mitglieder einiger Ro- ckergruppierungen ausgegangen. „Die Gruppenzugehörigkeit einer Person kann ihre waffenrechtliche Unzuverlässigkeit gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG begründen. […] Die Mitgliedschaft in einer örtlichen Organisationseinheit der Rockergruppierun- gen ‚Bandidos’ rechtfertigt auch dann die Annahme der Unzuverlässigkeit im Sinne von […], wenn keine sonstigen Tatsachen für die Unzuverlässigkeit der betroffenen Person sprechen und diese bislang unbescholten ist.“239 Durch die Waffenerlaubnis- entziehungen wächst der Kontrolldruck auf Rocker erheblich und das „Prinzip der Nadelstiche“ findet Anwendung. Die Durchsetzung der Waffenverbote gestaltet sich in M-V schwierig, da eine individuelle Gefahrenanalyse erforderlich ist, es reicht nicht die Mitgliedschaft in einer OMCG. Im Bereich Rostock wurde in den letzten Jahren kein Waffenverbot für Rocker durchgesetzt. (vgl. I2). Bei jeder öffentlichen Darstel- lung verbotener Kennzeichen wird eine Straftat begangen, die Folgemaßnahmen durch die Polizei wie z.B. Beschlagnahme, Durchsuchung oder Platzverweis nach sich zieht. „Vereinsverbote werden als effektives Mittel betrachtet die Aktivitäten gewalt- bereiter Rockergruppierungen erheblich zu stören.“ (Frauen 2011:101) Einherge- hend mit den Vereinsverboten werden die Vereinsbesitztümer eingezogen, das Clubhaus beschlagnahmt und die Neugründung des Vereins untersagt. Seit dem Jahr 1983 wurden in Deutschland insgesamt 21 Vereinsverbote gegen Rockergrup- pierungen und ihre Supporterclubs verhängt. (vgl. BKA a 2016:13) Vereinsverbote und die damit inkludierten Kennzeichnungsverbote stellen eine wichtige Maßnahme zur Bekämpfung der Rockerkriminalität dar. Jedoch wird durch die Verbote nicht die Kriminalitätserscheinung als solches bekämpft, sondern lediglich verdrängt. Es gibt Mittel und Wege, sich neu zu organisieren und als andere kriminelle Gruppe, auch ohne Colours und offizielle Vereinszugehörigkeit Straftaten zu begehen. So stellte

239 Urteil Bundesverwaltungsgericht vom 28.01.2015, 6 C 1.14

127 Albrecht (2012:122) fest: „Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass sich Strafbarkeitsrisiken oder Kriminalität als gesellschaftliche Erscheinung mittels eines Verbots beseitigen lassen würden. […] Die als Folge eines Vereinsverbots vollzogene Kriminalisierung der Motorradclubs könnte also genau das Gegenteil dessen bewirken, was eigentlich gewünscht ist.“

Die Bevölkerung richtet ihren Fokus auf die durch Mitglieder von kriminellen Ro- ckerbanden begangene Kriminalität in aller Regel dann, wenn sie durch in der Öf- fentlichkeit begangene Straftaten der Schwer- und Schwerstkriminalität verbreitet wird. (vgl. Knape 2015:48) Häufig werden Rockergruppierungen in den Medien so- gar heroisierend dargestellt. Diesem Trend muss mittels Aufklärung und Prävention entgegengewirkt werden, damit kein falsches Bild dieser zum Teil kriminellen Verei- nigungen entsteht und diese Kriminalitätserscheinung an ihren Wurzeln bekämpft werden kann. „Der Grundgedanke von Prävention zielt darauf ab, schon im Vorfeld von bestimmten Ereignissen oder Entwicklungen vorbeugend tätig zu werden und durch Einsatz geeigneter Konzepte nachhaltig zu wirken.“ (Bley 2014:95) Kriminal- prävention ist die Gesamtheit aller staatlichen Bemühungen zur Verhütung von Kri- minalität und lässt sich in drei Teilbereiche aufgliedern. Universelle Prävention um- fasst Bemühungen durch Informations- und Aufklärungsarbeit in Kindergärten, Schulen und der Jugend- und Sozialarbeit. In dieser Phase könnte der o.g. Heroisie- rung der Rocker durch die Medien und Aufklärungsarbeit entgegengewirkt werden. Im Bereich der selektiven Prävention agiert die Polizei mit Präsenz und Kontakten. Gefahrenabwehrende Maßnahmen werden dazu eingesetzt, die Rocker mit einem hohen Überwachungs- und Kontrolldruck zu konfrontieren, um so zur Erkenntnis- gewinnung im Bereich der Rockerkriminalität zu kommen. (vgl. Bley 2015:96) Auf- klärung, Gefährderansprachen, Meldeauflagen, Zugangs- und Zufahrtskontrollen, Platzverweise, Aufenthaltsverbote, Ingewahrsamnahmen, Beschlagnahmen usw. sind darauf gerichtet, Straftaten zu verhüten. Es werden beispielsweise bei zuvor be- kanntgewordenen Clubtreffen Zufahrtskontrollen, Personenkontrollen und damit einhergehende polizeiliche Maßnahmen durchgeführt. Es werden alle augenschein- lich zu dem Treffen zugehörigen Personen kontrolliert, also namentlich bekannt ge- macht und mittels Datenverarbeitungssystemen auf bereits begangene Straftaten und eventuell vorliegende Haftbefehle überprüft. Auch die Durchsuchung der Per- sonen und der Fahrzeuge ist zur Gefahrenabwehr durchzuführen um gegebenenfalls mitgeführte Waffen oder Betäubungsmittel zu beschlagnahmen. Sollte sich in der Personenüberprüfung herausstellen, dass die Person oder die Personengruppe ei- nem rivalisierenden Rockerclub angehört, ist es möglich einen Platzverweis zu ertei- len, da dadurch eine konkrete Gefahr ausgeht. Diese Kontrollen werden anlassbezo-

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gen zur Durchsetzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie zur Aufhel- lung von Strukturen und zur Erlangung von Erkenntnissen polizeilich relevanter Ob- jekte mit Bezug zu Rockergruppen durchgeführt. Durch die Dokumentation von An- wesenheitszeiten, ggf. im Nachgang strafbarer Handlungen oder anderer relevanter Aktionen einzelner Personen bzw. Personengruppen, können Zusammenhänge be- stätigt oder auch ausgeschlossen werden. Gleichzeitig werden umfassende Perso- nalienfeststellungen, zahlreiche Ermittlungsansätze über Strukturen und Zusam- mensetzungen der Rockergruppen gewonnen. Derartige Kontrollen fanden in der Vergangenheit in Mecklenburg-Vorpommern im Zusammenhang mit Rockertreffen statt. Bei einem Clubtreffen in Neubrandenburg befanden sich unter den kontrol- lierten Personen Mitglieder deutscher Bandidos MC Chapter und mindestens drei Mitglieder aus europäischen BMC-Chaptern sowie Mitglieder aus Support- Gruppierungen. Anhand von kontrollierten Teilnehmern lässt sich erkennen, wie wichtig derartige Kontrollen zur Strukturaufhellung und Prävention sind. Im Bereich der indizierten Prävention kommen Maßnahmen wie die Betreuung verurteilter Täter während und nach der Haftzeit in Betracht. Solche Programme gibt es in M-V nicht. Es gibt keine Aussteigerprogramme bzw. Resozialisierungsprogramme speziell für Rocker. Denkbar sind jedoch sogenannte „Kronzeugenregelungen“ bei denen Ro- cker mit Strafmilderungen und Zeugenschutz, beispielsweise vor Rachehandlungen anderer Member im Falle belastender Aussagen gegen diese bzw. generellen Aus- sagen des Zeugen vor der Polizei oder Justiz, die den Club betreffen, rechnen kön- nen. Solche Regelungen werden strafrechtlich in Erscheinung tretenden Rockern in M-V angeboten, jedoch von den betroffenen Rockern bisher abgelehnt. Vermögens- abschöpfungen werden bei jedem Verfahren in Form eines begleitenden Finanzer- mittlungsverfahrens durchgeführt. Diese Maßnahme dient dazu, das durch die Straf- taten erlangte Vermögen zu entziehen. Tatmittel können ebenfalls eingezogen wer- den, damit diese nicht für künftige Straftaten zur Verfügung stehen. Als weitere Prä- ventionsansätze kommen der Entzug der Fahrerlaubnis zur Demobilisierung von straffälligen Rockern sowie die Entziehung der Waffenerlaubnis in Betracht.

Fazit

Rockerkriminalität in M-V stellt sich im Hellfeld relativ konstant dar. Mehr als 2/3 der Rocker gehören den Hells Angels oder Bandidos an. Der Hells Angels MC und seine Supporter dominieren den westlichen Teil des Landes, der Bandidos MC und seine Supporter den östlichen. Die Mitglieder- und Chapteranzahl blieb in den letzten Jah- ren annähernd konstant. Die Clubs sind weiterhin hierarchisch aufgebaut und die

129 Mitglieder an die „Rules“ gebunden. Die Treue und Loyalität zum Club und der Bru- derschaft bilden die wichtigsten Bausteine eines OMCG. Rocker in M-V sind entge- gen des bundesweiten Trends mit ihren alten Werten und Normen verbunden. Mo- torradfahren und Clubtreffen mit Ausfahrten sind feste Bestandteile der OMCGs, ge- gen die nur in Ausnahmefällen verstoßen wird. Die Rekrutierung neuer Mitglieder gestaltet sich schwierig, da scheinbar immer weniger junge Leute den Werten und Normen entsprechen und bereit sind, teils hohe Mitgliederzahlungen zu leisten. Demzufolge steigt das Durchschnittsalter in den Clubs.

Die nach außen sichtbare Veränderung ist, dass sich Rocker nicht mehr in ihren Kut- ten und den zugehörigen Colours in der Öffentlichkeit zeigen. Sie sind sowohl für die Bevölkerung als auch für die Polizei weitgehend latent. Zusätzlich zu der ohnehin schon verschwiegenen Haltung gegenüber der Polizei ist die Kenntniserlangung von Clubtreffen, Ausfahrten und Aktivitäten erschwert, da anstelle der Kutten Ersatzco- lour getragen werden, die nach außen nicht für Jedermann mit Rockern in Verbin- dung gebracht werden. Rocker versuchen zwar vermehrt, legalen Tätigkeiten nach- zugehen, der Handel mit Betäubungsmitteln ist jedoch weiterhin die lukrativste Art, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Verbindungen zum Rotlichtmilieu bestehen zwar, sind aber finanziell nicht so ergiebig. Die Anzahl der Straftaten der Mitglieder ist weiterhin auf einem sehr hohen Niveau und umfasst Vergehen in den Bereichen der Drogen-, Gewalt- und Vermögensdelikte. Die Anzahl der Ermittlungsverfahren geht im Hellfeld zurück, die tatsächliche Anzahl der Straftaten wird jedoch im Dunkelfeld vermutet. Die Anzeigebereitschaft bei Gewaltdelikte zwischen und innerhalb von Ro- ckergruppierungen ist kaum bis gar nicht vorhanden. Größere nach Außen re- gistrierte und durch Medien verbreitete Auseinandersetzungen fanden nur verein- zelt statt. Die These, dass die Straftaten durch das Verbot der Verwendung von Kennzeichen von Rockern ansteigen, hat sich in M-V nicht bestätigt. Die Rocker in M-V halten sich zum größten Teil an das Verbot und umgehen dieses durch das Tragen von Ersatzcolour. Die Ermittlungsansätze und Handlungsalternativen der Po- lizei zur Bekämpfung der Rockerkriminalität sind vielfältig. Die Prüfung der Entzie- hung der Fahrerlaubnis sowie eines Waffenverbotes für Rocker können zur Demo- bilisierung und Gefahrenabwehr.

Literaturverzeichnis

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Lüdemann, Christian; Ohlemacher, Thomas (2002): Soziologie der Kriminalität. Weinheim

131 Tätertypen bei rechtsextremistischen Straftaten

Rita Bley

Die jüngsten Vorkommnisse mit rechtsextremistischem Bezug geben einen Hinweis auf unterschiedliche Tätertypen. In den Medien wird nach dem Mord an dem CDU- Politiker Walter Lübcke von „gezielter Hetze und neuen Tätertypen in der rechtsext- remistischen Szene“240 gesprochen. Nach dem Anschlag in Halle heißt es "Es gab diesen Tätertypus in Deutschland schon. Der Attentäter von Halle war sozial isoliert und hat sich unter Gleichgesinnten im Internet radikalisiert. Ein Tätertypus, der nicht neu ist, sagen Experten.“241 Die Politiker Roth und Özdemir bekamen Morddrohun- gen vom Neonazi-Netzwerk „Atomwaffen-Division“. 242 Diese kommen aus den USA, werden dort für mehrere Morde verantwortlich gemacht und propagieren eine Rückkehr zum "Dritten Reich".

Als am 14. Februar 2020 wurden bei Razzien in sechs Bundesländern ein Dutzend Personen verhaftet, die im Verdacht stehen, eine Serie von Anschlägen auf Mo- scheen geplant zu haben, um durch ein Massaker an Muslimen einen Bürgerkrieg zu provozieren, berichtet die Tagesschau: „Im Vergleich zur Zahl der Personen, die als islamistische Gefährder geführt werden, hat die Polizei mit zuletzt 48 Personen vergleichsweise wenige gewaltbereite Rechtsextremisten als Gefährder eingestuft." Zwei Wochen später wird in den Medien publiziert, dass das rechte Terrornetzwerk in Deutschland offenbar größer ist als bislang bekannt. Den Sicherheitsbehörden sollen Anhaltspunkte darüber vorliegen, dass es mehr als 1.000 gewaltbereite Rechtsextremisten in ganz Deutschland und im nahen Ausland gibt, die sofort zu einem bewaffneten Kampf bereit wären. Nachdem bei einem rassistisch motivierten Terroranschlag am 19. Februar in Hanau elf Menschen getötet worden sind, bezeich- net Bundesinnenminister Horst Seehofer den Rechtsextremismus als die „größte Be- drohung in unserem Land", spricht von einer „extrem hohen Gefährdungslage" und warnt vor möglichen Nachahmungstätern. 243

In diesem Artikel soll der Frage nachgegangen werden, welches die bekannten Tä- tertypen sind und ob im Rechtsextremismus neue Typen beschrieben werden kön- nen. Um es mit den Worten von Adorno zu sagen: „Ich möchte damit also andere theoretische Interpretationen nicht außer Kraft setzten, aber ich möchte einfach ver- suchen, das, was man so allgemein über diese Dinge denkt und weiß, ein bisschen

240 Gensing, Patrick, https//www.tagesschau.de, 24.07.2019 14:25 Uhr 241 https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/taetermuster-des-attentaeters-von-halle-hat- bekannte-vorbilder-100.html 242 https://www.tagesspiegel.de, 02.11.2019 243 Redaktion Kontext Wochenzeitung, Ausgabe 465, 26.02.2020, https://www.kontextwochenzei- tung.de/gesellschaft/465/gefahren-von-rechts-6532.html

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zu ergänzen“.244 Zunächst werden Begriffsdefinitionen vorgenommen, gefolgt von der Beschreibung der rechtsextremistischen Szene in Mecklenburg-Vorpommern. Anschließend werden bekannte Tätertypologien beschrieben und um neuere An- sätze erweitert.

1. Begriffsdefinitionen

Nachfolgend werden die Begriffe Rechtsextremismus/rechtsextremistische Strafta- ten und Tätertypen erläutert.

1.1 Rechtsextremismus

Es handelt sich um ein politisches Phänomen, dessen verbindliche Definition/ein- heitliche Begriffsbestimmung man in der Literatur vergeblich sucht.245 Neumann und Frindte (2001:189) gehen davon aus, „dass von rechtsextremen Orientierungsmus- tern und Handlungsweisen dann gesprochen werden kann, wenn die strukturell ge- waltorientierte Ideologie der Ungleichwertigkeit verbunden wird mit Varianten der Gewaltakzeptanz, der Gewaltbereitschaft und des Gewalthandelns. Als Rechtsextre- mismus ist nach Jaschke (1994:31) die Gesamtheit von politischen Programmatiken und Ideologien, Verhaltens- und Artikulationsweisen sowie Aktionen unabhängig ihres Organisationsgrades zu verstehen, die „von der rassisch oder ethnisch beding- ten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und den Wertepluralis- mus der liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen.“246 „Unter Rechtsextremismus ist (…) die Gemeinsamkeit der Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen zu versehen, die organisiert oder nicht, von der ras- sisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit von Menschen ausgehend, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangt und das Gleichheitsgebot der Menschheits-deklaration ablehnt“.247 Es steht außer Frage, dass Rechtsextremismus immer strukturelle Gewalt beinhaltet, wobei das völkisch-rassistische Denken die zentrale Grundidee der rechtsextremen Ideologie ist.248 Die vorstehenden Definitio- nen verdeutlichen die beiden wesentlichen Dimensionen des Rechtsextremismus,

244 Adorno, Theodor W. 2019:9 245 vgl. Salzborn 2015:10, vgl. Virchow 2016:19 246 zitiert n. ebd.:24 247 Glaß 1998:71 248 vgl. Salzborn 2015:22

133 nämlich die Ungleichheitsideologien sowie die strukturelle Gewaltbereitschaft bzw. das –handeln. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit umfasst u. a. die Aspekte Ras- sismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit.249

1.2 Tätertypen

Neben der Identifizierung allgemeiner Potentiale an Fremdenfeindlichkeit und Ge- waltbereitschaft in der Bevölkerung ist auch die Frage bedeutsam, wer Gewalt gegen Fremde verübt und welche gemeinsamen Merkmale die Täter aufweisen250. Zu einer Täterpersönlichkeit müssen weitere Umstände hinzukommen, d. h., Verbrechen setzt drei Punkte voraussetzt, die analysiert werden können251:

1. Der Täter und seine Disposition, seine Tatbereitschaft/Motivation, Planung 2. Das Tatopfer, welches in die Disposition des Täters passt. Es kann auch ein Tatobjekt sein, z. B. die Synagoge 3. Die Umstände, die zu diesem Zeitpunkt mit diesem Tatobjekt eine Tatbege- hung möglich machen (Fehlen sozialer Kontrollen)

Anhand der Analyse der verschiedenen Aspekte fremdenfeindlicher Gewalttäter und ihrer Handlungen sollen Tätertypen beschrieben werden, die sich hinsichtlich der politisch-ideologischen Orientierung als auch hinsichtlich der grundsätzlichen Ge- waltbereitschaft und des Radikalisierungsprozesses unterscheiden.252 Ziel der Be- schreibung von Tätertypologien ist es, Veränderungen zu erkennen und Strategien sowie kriminalpräventive Ansätze zu entwickeln.

2. Rechtsextremistische Szene in Mecklenburg-Vorpommern

Laut Verfassungsschutzbericht 2018 weist die rechtsextremistische Szene in Meck- lenburg-Vorpommern ein geringeres Aktionsniveau als in den Jahren zuvor auf. Sie verfügt mit der weiterhin schwächelnden „Nationaldemokratischen Partei Deutsch- lands“ (NPD) weder über einen organisatorischen Kern noch sindVersuche der Partei erkennbar, wieder politisch sichtbarer zu werden. Zum Ende des Jahres nutzte sie die Bewegung „Mecklenburg-Vorpommern gegen die Islamisierung des Abendlan- des“ (MVGIDA) nach längerer Zeit wieder für Mobilisierungszwecke.

Das im rechtsextremistischen Spektrum aktive Personenpotenzial bewegte sich auf dem Niveau des Vorjahres. Allerdings war ein weiterer Rückgang der Anhänger des

249 vgl. Zick, Berghan, Mokros 2019:58 250 vgl. Willems 1993:20 251 vgl. Nedopil 2016:71 252 vgl. Willems1993:200

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parteigebundenen Lagers festzustellen, während im Bereich des parteiungebunde- nen und des weitgehend unstrukturierten Spektrums leichte Anstiege zu verzeich- nen waren. Diese Entwicklung entspricht weitgehend dem Bundestrend. Im Berichts- zeitraum 2017 war ein Rückgang der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten festzustellen. „Der Rückgang kann jedoch angesichts der anhaltenden Hasspropa- ganda gegen Migranten und den politischen Gegner nicht beruhigen. Vor diesem Hintergrund muss weiterhin mit schweren Straftaten gegen Zuwanderer und der Herausbildung terroristischer Strukturen gerechnet werden. Alarmierend ist zudem die weitere Zunahme antisemitischer Straftaten“253

Die Bedeutung von Parteien innerhalb des rechtsextremistischen Milieus ist rückläu- fig, deren Gesamtmitgliederzahl ist auf 260 (-50) gesunken. In parteiunabhängigen Strukturen wurden insgesamt 570 (+ 20) Personen registriert. Diese sind in Kame- radschaften, Bruderschaften, Vereinen und Kampfsportgruppen organsiert. Das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial umfasste insge- samt 670 Personen (+ 30), d. h., fast die Hälfte der dem Verfassungsschutz Mecklen- burg-Vorpommern bekannten Rechtsextremisten ist nicht in Parteien oder partei- unabhängigen Strukturen eingebunden. Circa 700 Personen werden als gewaltori- entiert klassifiziert.254

Das Straftatenaufkommen im Hellfeld zeigt sich bundesweit heterogen. Laut Verfas- sungsschutzbericht wurden in 2018 in Deutschland sechs versuchte Tötungsdelikte als mutmaßlich rechtsextremistisch kategorisiert. Auffällig war im Jahr 2018 ein An- stieg um 13,7 % der rechtsextremistisch motivierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund auf insgesamt 1.575 Taten. Größtenteils handelt es sich hierbei um Volksverhetzungen und Propagandadelikte. Ein besonders deutlicher Anstieg wurde im Bereich der Gewalttaten verzeichnet255. Im LKA M-V wurden in 2018 im Bereich der politisch motivierten Straftaten Phänomenbereich „Rechts“ 907 Strafta- ten registriert256. Es handelt sich um einen Rückgang von ca. 10%. Fast alle Straftaten (872) waren antisemitisch oder fremdenfeindlich motiviert. Den Schwerpunkt der Straftaten bildeten erneut die Propagandadelikte. Weiterhin wurden 43 rechtsextre- mistisch motivierte Gewalttaten regi-striert. Die Mehrzahl der Angriffe richtete sich gegen einzelne Personen oder Personengruppen. Die Zahl der Übergriffe auf Flücht- lingsunterkünfte ist von vier Taten in 2017 auf neun Taten in 2018 gestiegen. Die Anzahl der rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Straftaten hat sich im

253 Ministerium für Inneres u. Europa (2019): Verfassungsschutzbericht 2018, S. 17 254 vgl. ebd. S. 19 255 vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-rechtsextremismus/zahlen-und-fakten- rechtsextremismus/rechtsextremistische-straf-und-gewalttaten-2018 256 vgl. Ministerium für Inneres u. Europa (2019): Verfassungsschutzbericht 2018, S. 19

135 Jahr 2018 mit 54 um zehn Taten erneut gesteigert. Ziele rechtsextremistisch moti- vierter Straftaten sind auch immer wieder Wahlkreisbüros von Parteien oder Abge- ordneten des politischen Gegners. Hier handelt es sich meist um Propagandade- likte.257

3. Tätertypen bei rechtsextremistischen Straftaten

Im Folgenden sollen die Tätertypologie n. Willems sowie neuere Ideen/Ansätze zur Klassifizierung von Tätern rechtsextremer Gewalt betrachtet werden.

3.1 Tätertypen n. Willems258

Willems führt eine Analyse von 53 Urteilsschriften zu insgesamt 148 Tätern aus fünf Bundesländern durch und identifiziert in seiner Untersuchung aus dem Jahr 1993 die folgenden vier Tätertypen:

1) ideologisch motivierter, rechtsextremistischer Täter (rechtsextrem oder rechtsra- dikal)

→ häufig Mitglied in rechtsextremistischen Parteien oder Gruppierungen

→ verfügt über ein ideologisch verfestigtes rechtsextremistisches Weltbild

2) fremdenfeindliche Jugendliche (Ausländerfeind, Ethnozentrist)

→ nicht dem rechtsextremistischen Parteienspektrum zugehörig

→ eher Teil jugendlicher Subkulturen wie Skins, Hooligans u. a.

→ mehr durch Vorurteile und feindselige Haltungen bis hin zur Gewaltbe- reitschaft gegenüber Ausländern gekennzeichnet

3) kriminelle Jugendliche (Schlägertyp)

→ mit beruflichen und privaten Negativkarrieren

→ hohe, aber diffuse Gewaltbereitschaft

257 vgl. ebd. S. 20 258 vgl. Willems 1993:200-207

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4) Mitläufer

→ wenig ausgeprägte rechtsextremistische Ideologien, ausländerfeindliche

Gesinnungen oder verfestigte Gewaltbereitschaft

→ starke Gruppenorientierung

„Die hier unterschiedlichen Tätertypen differieren sowohl hinsichtlich ihrer politi- schen Einstellungen, als auch insbesondere in ihrer Bereitschaft zur Gewalt und dem Maß an Fremden- und Ausländerfeindlichkeit.“259 Diese Studie beschreibt u. a. den Tätertypus des Mitläufers, der in der Regel keiner biografischen Problembelastung ausgesetzt ist und häufig auch nur eine geringe Fremdenfeindlichkeit und Gewalt- bereitschaft erkennen lässt. Hier zeigt sich, dass sich das Problem eben nicht nur auf gesellschaftliche Randgruppen mit besonderen Defiziten beziehen lässt. Wenn „nor- male durchschnittliche Jugendliche“260 rechtsextremistische Taten begehen, drängt sich die Frage auf: Wie kommt es zu solchen Taten? Die deutschen Verfassungs- schutzbehörden gehen davon aus, dass besonders anfällig für rechtsextremistisches Gedankengut vor allem Jugendliche sind, die auf der Suche nach autoritären Per- sönlichkeiten sind. Gründe hierfür können z. B. ein geringes Selbstwertgefühl, man- gelnde Kommunikationsfähigkeit oder die Neigung, Konflikte mit Gewalt zu lösen sein. Auf der Suche nach Anerkennung, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Spaß oder Provokation werden sie von Rechtsextremisten angeworben.261

3.2 Fremdenfeindliche Gewalttäter n. Wahl

Wahl (2001) fasst 1997 drei Täterstudien zusammen und stellt fest, „der größte Teil der fremdenfeindlichen Tatverdächtigen ist männlich, ledig und zwischen 15 und 24 Jahren alt“.262 Nach wie vor handelte es sich mehrheitlich um Gruppentaten, der An- teil der Täter mit Mitgliedschaft in rechtsextremistischen Gruppen hat zugenommen. „Starker Alkoholkonsum ist immer noch eine erhebliche Vorbedingung oder Begleit- erscheinung fremdenfeindlicher und rechtsextremistischer Taten.“263 Fast durchgän- gig zeigte sich bereits in der Kindheit eine Aggressivitätskarriere, später trat allge- meine Jugenddelinquenz (Fahren ohne Fahrerlaubnis, Diebstahl, Raub) hinzu. Es be- stätigt sich die Stereotype des gewalttätigen fremdenfeindlichen Straftäters, dessen

259 vgl. ebd. S. 207 260 Willems 1993:13 261 vgl. Goertz, Goertz-Neumann 2018:122 262 Wahl 2001:316 263 ebd. 317

137 Sozialisation mehrphasig verläuft. In der familiären Sozialisation wird Gewalt als Hauptmittel zur Regulation alltäglicher Situation erlebt und adaptiert. In der schuli- schen Sozialisation kommen zunehmendes Leistungsversagen, Schulabbruch, Delin- quenz hinzu. Die Peer-Sozialisation beginnt früh. Eine zunehmend rechtsextreme Ideologie-Sozialisation setzt durch Skinhead- und andere Gruppen ein. Die Gewalt- taten erfolgen meist ungeplant, unter Alkoholeinfluss und im Gruppenkontext.264

3.3 Typen von Radikalisierungskarrieren um den NSU265

Quent (2016:310) hat Radikalisierungsprozesse der Rechtsextremen um den NSU untersucht und stellt fest, dass es nicht den einen Entwicklungspfad zum radikali- sierten Rechtsextremen gibt. Er kommt zu drei Typen:

Typ 1: Delinquent

Dieser Tätertypus ist gekennzeichnet durch persönliche Konfliktbelastungen und deviantes Verhalten vor dem Anschluss an eine rechtsextreme Gruppe. Die Politisie- rung erfolgt in der Gemeinschaft.

Typ 2: Rechtsextremist

Bei diesem Tätertypus bestand die rechtsextreme Orientierung vor dem Eintritt in die Gruppe.

Typ 3: Rechtsextreme Führungspersönlichkeit

Dieser Typus sucht aus allgemeiner Provokation gegen das politische System heraus Anschluss an rechtsaffine Jugendcliquen, in deren Kontext Gewalttaten durchgeführt werden. Er weist häufig einen erfolgreichen familiären und schulischen Werdegang auf.

3.4 Einzeltäter/„Einsame Wölfe“

Aus den neuen technischen und digitalen Möglichkeiten hat sich ein Tätertypus her- ausgebildet, der bislang kaum wahrgenommen wurde. Es handelt sich um Einzeltä- ter, die ihre Aktionen planen und vorher polizeilich nicht aufgefallen bzw. registriert sind. 266 Im Vorgehen sind Selbstinszenierungstendenzen erkennbar, d. h., die Tat

264 vgl. ebd. 318-319 265 vlg. Quent 2016:310 266 vgl. Hartleb 2018:10

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„ist so kalkuliert, dass er in Echtzeit maximale Aufmerksamkeit auf sich zieht – vor- schnelle Reaktionen und hysterische Reaktionen eingeschlossen“267 Verbreitung und Inszenierung der Tat sind ein wesentliches Anliegen der Attentäter.

Viele rechte Terroristen vernetzen sich vor ihren Anschlägen mit Gleichgesinnten, sie planen und inszenieren ihre Anschläge über einen langen Zeitraum. 268 Sowohl der Attentäter als Halle, welcher bei seinem Attentat im Oktober 2019 zwei Menschen tötete und drei weitere verletzte als auch der Attentäter aus Christchurch, der bei seinem Angriff auf zwei Moscheen im März 2019 51 Menschen tötete und 50 teil- weise schwer verletzte, teilten die Tat via Livestream auf Plattformen der Massen- medien. Sie trugen eine Helmkamera, welche die Videoaufnahmen des Attentats in Echtzeit über Facebook in die gesamte Welt übertrug.269 Diese Verbreitung war von den Attentätern bewusst geplant worden. Die Aufnahme des Christchurch-Attentats wurde ca. 4.000 Mal im Original angesehen, bis sie entfernt wurde. Es entstanden unzählige Kopien von weltweiten Nutzern.270 Das Ziel der meisten Attentäter ist, ihr Handeln möglichst weit zu verbreiten und damit Nachahmungstaten zu initiieren. Viele Täter hinterlassen neben der Ankündigung ein Manifest, verbunden mit der Aufforderung an Gleichgesinnte zu Nachahmungstaten. Anders Breivik verschickte sein Manifest mit einem Umfang von mehr als 1.500 Seiten vor der Tat an mehr als 1.000 Empfänger in Europa und den USA.271

Hartleb (2018:102 ff.) skizziert drei Typen „Einsamer Wölfe“: Zunächst den sozial fast völlig isoliert und enttäuschten sozialen Verlierer. Dieser sieht seine letzte Chance darin, ein Zeichen gegen Flüchtlinge zu setzen. Der zweite wird als gescheitert, grö- ßenwahnsinnig und gefährlich beschrieben. Er hat einen Hang zum Narzissmus, plant seine Taten perfektionistisch und strebt eine größtmögliche mediale Wirkung an. Hier kann der Täter von Halle, welcher seinen Anschlag im Livestream zeigte, eingeordnet werden. Der dritte Tätertypus wird als entwurzelt und radikal (Kampf gegen Ausländer, Andersdenkende und politische Gegner, lässt virtuell Gewalt- und Hassphantasien freien Lauf, gezielte Opferauswahl). Er beschreibt den Extremisten als Einzeltäter, „Clean-Face-Täter“(in die Gesellschaft integriert und polizeilich nicht vorbelastet), der seine Taten langfristig plant und ein mediales Narrativ (Facebook,

267 Hartleb 2018:18 268 vgl. Schwarz 2020:178 269 vgl. Biermann, K., Hommerich, L, Musharbash, Y.: Attentäter mordete aus Judenhass, 09.10.2019, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-10/anschlag.halle-helmkamera-stream-einzeltäter 270 vgl. Möllers, T., Ziegele, M.: Terroranschlag von Halle, Synagogentür wird Ort des Gedenkens, 17.10.2019, https://www.fr.de/politik/terroranschlag-halle-synagogentuer-wird-gedenkens-zr- 13083592.html 271 vgl. Schwarz, K., 2020, S. 178-179

139 Twitter und Co.) für Aufmerksamkeit nutzt. Die Radikalisierung erfolgt in der virtuel- len Community.

Die Terminologie „Einsame Wölfe“ ist insoweit irreführend, dass die Täter nicht ein- sam sind. Die Täter der jüngeren Vergangenheit sind nicht Teil einer Gruppierung oder Terrorzelle. Einsam sind sie jedoch nicht, da sie sich online mit Gleichgesinnten zusammenschließen und in ihrer Ideologie bestätigt werden. In ihren Biografien un- terscheiden sich die Täter durchaus, zur Radikalisierungsbiografie der Täter gehört das Internet ebenso wie analoge Kontakte zu Gleichgesinnten.272

3.5 Globale Rechtsextremisten

Der neue globale Rechtsextremismus macht sich die rechtsradikale Agitation im di- gitalen Raum zu Nutze. Bereits im Jahr 1998 warnte der deutsche Verfassungsschutz vor der Zunahme rechtsradikaler Websites, deren Zahl lag im Jahr 1998 weltweit bei 320, drei Jahre später waren es ca. 1.000 und seitdem ist sie kontinuierlich gestiegen. Die Anzahl der Websites, der Social-Media-Profile und sonstiger Online-Angebote ist heute nicht zu beziffern.273 Die Entwicklung rechtsextremer Agitation und Gewalt, die sich aus medialen Präsenzen ableiten lassen, lassen den Schluss zu, dass Radika- lisierungsprozesse im Internet stattfinden. Rechte treffen sich schon lange nicht mehr nur bei konspirativen Treffen, Konzerten oder Demonstrationen. Sie treten im Internet auf und generieren dort neue Anhänger. Identitätsstiftende Treffen und De- monstrationen sind nicht mehr nötig, es genügt, über Emotionen Aufmerksamkeit zu erlangen. Dieses gelingt, indem negative Gefühle wie Wut, Hass und Angst ange- sprochen werden.274

Rechtsextremistische Agitation im Internet ist derzeit geprägt durch junge User, wel- che gezielt mit modernen, jugendaffinen Angeboten geworben und auf aggressive Weise gegen Flüchtlinge, Muslime, Juden pp. aufgehetzt und zu Gewalttaten aufge- fordert werden. Rechtsextremisten versuchen über das Internet, Jugendliche zu rek- rutieren und zu radikalisieren. Soziale Medien stellen ideale Rekrutierungsplattfor- men für extremistische Organisationen und Gruppen dar, da sie von einer Vielzahl von Jugendlichen täglich genutzt werden.275

Ebner (2019) betont die Nutzung neuer Technologien, die den Extremisten Plattfor- men zur Anwerbung sowie neue Handlungsfelder beschert. Gleichzeitig sind Extre-

272 vgl. ebd. 175 273 vgl. ebd. 14, 19 274 vgl. ebd. 171 275 vgl. Goertz, Goertz-Neumann 2018:122-123

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misten heute stärker miteinander vernetzt als jemals zuvor. „Die Radikalisierungs- maschinen, die die heutigen Extremisten zusammenbauen sind technisch auf dem neuesten Stand: Sie sind künstlich intelligent, emotional manipulativ und wirken mit Macht in die Gesellschaft hinein.“276 Sie differenziert vier verschiedene Stadien im Radikalisierungsprozess: Die Rekrutierung verläuft über Anwerbekampagnen in den sozialen Medien, Coaching- und Dating-Foren. Spektakuläre reale Aktionen werden live gestreamt und auf Facebook oder Twitter geteilt. „Extremistische Bewegungen denken und verhalten sich wie Start-ups. (…) Je provokanter ihre Aktionen sind, desto wahrscheinlicher erreichen sie eine weltweite Öffentlichkeit“277. Sie besetzen eine Nische und ihr Ziel ist es, diese effizient zu nutzen und zu früher nicht erreich- baren Kundengruppen durchzudringen. In der zweiten Stufe, der Sozialisierung, er- folgt die Herstellung einer emotionalen Bindung/ Identifizierung mit der Gruppe. Die Indoktrinierung verläuft über isolierte Echokammern im Internet. Das Ziel ist die Integration der Aspiranten in die abgeschottete Online-Welt. In der dritten Stufe der Kommunikation werden im Internet „Online-Kriege um Wahrheit und Macht ge- führt.“ Der Online-Diskurs erfolgt über „strategisch geplante Medien- und Meme- Kriegsführung“278, täuschende Grafiken, irreführende Artikel und live gestreamte konfrontative Begegnungen mit Journalisten, welche ins Netz gestellt werden.

„Youtube ist einer der Hauptnährböden für Rechtsextremismus im Internet.279“ Rechtsextremisten nutzen neue Technologien wie Bots und Fake-Accounts sowie komplexe Influencer-Operationen.280 Influencer wie der österreichische Identitären- Chef Martin Sellner sind in der Lage, ein breites Publikum aus Jungen und Alten anzusprechen und deutsch- und englischsprachige Rechte zu vernetzen. Der YouTu- ber Henryk Stöckl, den mehr als 36.000 Menschen abonniert haben, besucht regel- mäßig rechtsradikale Demonstrationen und stellt Berichte ein. Er nutzt „Clickbait- Headlines, also besonders reißerische Überschriften als ‚Klickköder’“.281 Stöckl ver- breitet auch Fake-News, z. B. stellte er im Juli 2019 ein Video ein, in dem eine Gruppe Dunkelhäutiger zu sehen ist, die als Pendler auf dem Weg zur Arbeit sind. Er be- hauptet, dass es sich um heimlich nach Deutschland geholte Asylsuchende handelt. Das Video wurde auf YouTube, Facebook, Telegram und Twitter verbreitet und tau- sendfach geteilt. 282 Für die Generierung von Falschmeldungen werden auch Deepfakes genutzt. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz werden Videosequenzen von

276 Ebner 2019:10 277 ebd. 277, 278 278 ebd. 105 279 Vgl. Schwarz 2020:130 280 ebd. 152 281 ebd. 39 282 vgl. ebd. S. 97

141 Personen generiert, die nicht den Tatsachen entsprechen.283 Dazu kommen weitere rechtsradikale Meinungsmacher wie z. B. Tim Keller, der eine eigene Videoplattform gegründet hat, nachdem er auf Youtube gesperrt wurde284. Die letzte Stufe im Ra- dikalisierungsprozess ist die Vernetzung. „Noch nie waren extremistische Akteure und Bewegungen international so vernetzt wie heute“.285 Sie bauen virtuelle Kon- takträume (Online-Community) auf, Dating-Apps, Plattformen für sexuelle Kontakte oder für kollektive Detektivspiele und soziale Medien bilden die Basis bilden für das weltweite Netzwerk.

Schwarz (2020) beschreibt drei Stufen: Der Radikalisierungsprozess verläuft indivi- duell, meist jedoch in drei kognitiven Phasen: Normalisierung, Akklimatisierung und Dehumanisierung. Die Phasen können zeitlich überlappen. Während der Normali- sierung erfolgt eine schleichende Indoktrination. In der zweiten Phase erfolgt die Internalisierung der rechtsradikalen Ideologie. In der dritten Phase werden verhasste Gruppen einer anderen ethischen Kategorie zugeordnet. Darüber wird die Voraus- setzung für Gewalt geschaffen. Diese äußert sich in gemeinschaftlichen Attacken und Drohungen auf den entsprechenden Plattformen, aber auch in Angriffen oder terroristischen Anschlägen.286

Videoangebote sind ein wichtiges Mittel zur Verbreitung der Ideologie, die neona- zistischen Konzerte mit der einschlägigen Musik sind jedoch immer noch wichtige Termine in der Szene, mit denen Jugendliche angesprochen werden sollen. Propa- ganda wird heute in Musikvideos verbreitet. Neben der Musik gibt es eigene Koch- sendungen, Gaming- und Comedy-Kanäle.287

Rechtsradikale sind auf allen Social-Media-Plattformen vertreten, Facebook, Youtube, Instagram und Twitter sind die wichtigsten digitalen Propagandamittel288. In Deutschland haben sich etliche rechte Videoproduzenten auf Youtube etabliert, abonniert von z. T. mehr als 100.000 Nutzern.

Youtube wird als „Radikalisierungsmaschine“289 betitelt, weil auf der Plattform rechte Kommentatoren und Verschwörungsfreunde eine Darstellungsbasis gefunden ha- ben. „Fake-News“ werden instrumentalisiert. Als Beispiel soll hier das angebliche Zi- tat von Renate Künast aus der Süddeutschen Zeitung „Der traumatisierte Junge

283 vgl. ebd. S. 101 284 vgl. ebd. S. 38-39 285 ebd. 155 286 vgl. ebd. S. 173 287 vgl. ebd. S. 156 288 vgl. ebd. S. 114 289 ebd. S. 199

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Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen“ gelten. Ob- wohl die Aussage bereits im Jahr 2016 als Zitat-Fake bezeichnet worden ist, wird es in einschlägigen Foren verbreitet.290 In den Falschmeldungen werden auch Geflüch- tete und Zuwanderer entweder als Bedrohung oder als Gruppe, welche den Sozial- staat zur Benachteiligung der Deutschen ausnutzt, dargestellt. Dazu gehört die Falschmeldung, dass Asylsuchende beim Einzug in ihre Unterkunft iPhones ge- schenkt bekommen.291 Wenn es zur Sperrung oder Löschung einflussreicher Seiten kommt, wandern die User auf andere Seiten ab. Die Social-Media-Plattform vk.com stammt aus Russland und ist ähnlich wie Facebook aufgebaut. Dort kann z. B. Musik der Neonazi-Band Landser, die in Deutschland indiziert ist, gefunden werden.292 Als Alternative zu Youtube, welches immer wieder Kanäle oder Videos sperrt, wurde 2007 die Seite 88tube von Neonazis mit dem Werbeslogan „Weiße sollen die Freiheit haben, sich zu äußern“ gegründet. Als weitere Alternative nach einer Sperrung auf Youtube wird die Plattform Bitechute genutzt.

Darüber hinaus hat sich ein großes Spektrum sog. Alternativmedien etabliert, die auf die rechte bzw. rechtsextreme Szene zugeschnitten sind. Deren Meldungen beste- hen nicht nur aus Falschinformationen, vielmehr handelt es sich um eine Mischung selektiver Berichte, gekennzeichnet durch Umdeutung, Verschwörungsmythen und Zuspitzung. Die meisten verfügen über eigene Websites um unabhängiger von Social-Media-Plattformen zu sein.293 Exemplarisch wird auf Walter Lübcke verwei- sen, der jahrelang Ziel von Anfeindungen und Drohungen war. Auf einer Versamm- lung wurde er mehrfach von Rechtsradikalen im Saal gestört und beleidigt. Er rea- gierte, indem er die Störer direkt ansprach, „man müsse für Werte eintreten und wer diese nicht vertrete, könne das Land verlassen“.294 Das rechtsradikale Alternativme- dium PI-News veröffentlichte anschließend einen Teil der Szene und seine Büro- adresse. In der Folge wurde in Videos, Social-Media-Posts und Blogs - begleitet von Aufforderungen zur Gewalt - auf die Äußerung verwiesen und auch nach dem Tod von Walter Lübcke findet das Material in der Szene Verwendung. 295

Rechtsradikale nutzen auch Spieleplattformen und Online-Games zur Verbreitung ihrer Propaganda obwohl in einigen Studien widerlegt wurde, dass Egoshooter oder Killerspiele direkt zu Gewalt führen.296 Auf der Plattform Steam z. B. wählten User

290 vgl. ebd. S. 95 291 vgl. ebd. S. 96 292 vgl. Schwarz, 2020 S. 155 293 vgl. ebd. S. 103 294 ebd. S. 84 295 vgl. ebd. S. 85 296 vgl. Boers 2010 S. 8-9

143 den Namen des Attentäters von Christchurch, der Todesschütze von München fand Gleichgesinnte. Die Spieler können auf der Plattform in Kontakt treten, Profile anle- gen, Freunde finden und sich in Chats austauschen. Rechtsradikale Codes, entspre- chende Profilbilder und Nutzernamen sind auf dieser Plattform alltäglich.297

Dark Social (Chatgruppen bei WhatsApp, Facebook oder Telegram) gewinnt zur Ver- netzung der rechtsradikalen Akteure zunehmend an Bedeutung, rassistische, antise- mitische sowie frauenfeindliche und andere diskriminierender Äußerungen werden dort offen geäußert.298

4. Abgrenzung alte – neue Rechte

Peter Neumann grenzt anlässlich der Fachtagung des NRW-Innenministeriums zur neuen Rechten am 04.11.2019 alte und neue Rechte wie folgt ab:

Alte Rechtextremisten Neue Rechtextremisten

- typische Neonazis, sehen so aus - sehen nicht aus wie typische Neo- - meist geringe öffentliche Unter- nazis stützung - geben sich explizit als Verteidiger - Glorifizierung Nazideutschland, westlicher Werte offen antisemitisch - Betonung mehr auf Thema Immi- - Organisation im Hintergrund, gration, speziell den Islam Netzwerke und Strukturen, Mit- - ideologisch flexibler gliedschaft in einer Partei, Kame- - Agitation im Internet radschaft o. Ä. - zeigen sich auf den Straßen - gegen westliche Werte

Er erläutert, dass es immer noch typische Neonazis, die auch so aussehen, mit einer Organisation im Hintergrund und Netzwerken und Strukturen in der analogen Welt, gibt, die sich auf den Straßen zu Demonstrationen zusammenfinden. Andererseits stellen wir neue Rechtsextremisten fest, die ideologisch flexibler sind sich online ra- dikalisieren und vernetzten.

Es besteht die Gefahr, dass unterschiedliche Rechtsextremisten sich „hochschau- keln“, Gefahr des kumulativen Extremismus, d. h. es könnte ein Teufelskreis der Ge- walt entstehen. Bei der Atomwaffen-Division handelt es sich um eine amerikanische radikale rechtsextreme neonazistische Gruppe, die u. a. in Deutschland Anhänger

297 vgl. Schwarz 2020, S. 128-129 298 vgl. ebd. S. 146

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gefunden hat. Deren Ziel ist der gewaltsame revolutionäre neonazistische Umsturz. Sie sind von der Organisation und Vernetzung neue Rechtsextremisten mit alter ne- onazistischer Ideologie299.

5. Zusammenfassung/Fazit

Es hat sich im Ergebnis ein differenziertes Bild dieses nur vordergründig homogen erscheinenden politischen Spektrums gezeigt.300 Bei den beschriebenen Tätertypen handelt sich um unterschiedliche Extremisten, die sich jedoch in Teilen ähneln. Ziel sollte es sein, auf rechtsextremistische Entwicklungen vorbereitet zu sein. Wir sollten Rechtsextremisten „dingfest machen, ihnen sehr drastische Namen geben, sie genau beschreiben, ihre Implikationen beschreiben und gewissermaßen versuchen, dadurch die Massen gegen diese Tricks zu impfen (…)“.301 Und wir müssen dort an- setzen, wo sie unterwegs sind, und das sind eben nicht mehr nur Musikkonzerte und Demon-strationen. Sie rekrutieren über das Internet und vernetzen sich online. Die Internet-Community liefert ihnen Argumentationen, Rechtfertigungsstrategien und Aufforderungen für Nachahnungstaten. „Wenn wir verhindern wollen, dass Extre- misten uns immer einen Schritt voraus sind, müssen wir besser darin werden, sich abzeichnende Trends zu erkennen und einzuschätzen“.302 Verdachtsunabhängige Internetstreifen sind unerlässlich, um rechtsextremistische Agitation im Internet zu beobachten und Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

6. Literatur/Quellen

Adorno, Th. W. (2019): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Vortrag vom 6. April 1967, Berlin

Boers, K., Reinecke, J., Bentrup, C., Kanz, K., Kunadt, L., Pöge, A., Pollich, D., Seddig, D., Walburg, C., Wittenberg, J., (2010): Jugendkriminalität, Altersverlauf und Erklä- rungszusammenhänge. Ergebnisse der Duisburger Verlaufsstudien Kriminalität in der modernen Stadt, Forum Kriminalprävention, Bielefeld

299 Neumann, Peter 04.11.2019, Fachtag neue Rechte 300 vgl. Langebach, Raabe 2016:582 301 Adorno 2019:54 302 Ebner 2019:298

145 Bundesamt für Verfassungsschutz (2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-rechtsextremismus/zahlen- und-fakten-rechtsextremismus/rechtsextremistische-straf-und-gewalttaten-2018

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147 Völkische Siedler – Mecklenburg-Vorpommern als Wiege einer „Blut und Bo- den“-Ideologie

René Diebelt, Maria-Luisa Waßmann

1. Historischer Ursprung der Artamanenbewegung

Als zu Beginn der 1990er Jahre die ersten Neo-Artamanen in Mecklenburg-Vorpom- mern in Erscheinung traten, bezogen sich diese in ihrem Handeln ausdrücklich auf deren historische Vorgängerbewegung. Dabei handelt es sich um die Artamanen, die sich als völkische Siedler zu Beginn der 1920er Jahre in der Weimarer Republik gebildet haben. Der genaue Ursprung der Bezeichnung Artamane kann heute nicht mehr sicher nachvollzogen werden. Sinngemäß wird Artamane aber mit Hüter der Scholle übersetzt, wobei es sich bei der Scholle um einen Teil des deutschen Bodens handelt. (Schmitz, 1985, S. 44). Die ersten Artamanen rekrutierten sich aus der da- mals bestehenden völkischen Bewegung, die in Deutschland bis in die 1880er Jahre zurückverfolgt werden kann. Anfänglich wurde die Bezeichnung völkisch noch mit national gleich gesetzt. Dies greift jedoch zu kurz, da der Begriff des völkischen eine Vielzahl von Elementen in sich vereinigt. Es muss demnach mehr als eine Art Welt- anschauung verstanden werden, in der die Überlegenheit der eigenen Rasse sowie der eigenen Sprache glorifiziert und andere Völker und Nationen als minderwertig abgetan werden (Breuer, 2010, S. 25). In den Jahren von 1880 bis 1914 bildeten sich im deutschen Kaiserreich eine ganze Reihe von völkischen Vereinen und Verbänden, die mehr oder weniger erfolgreich das gesellschaftliche und politische Leben beein- flusst haben. Die wohl bedeutendste Vereinigung in dieser Hinsicht war der Alldeut- sche Verband (ADV). Unter seinem Zutun wurde 1913 das Staatsangehörigkeitsge- setz verabschiedet, in dessen Folge sich das Deutsche Reich von einer Staatsnation hin zu einer Volksnation entwickelte (Botsch, 2012, S. 8f). Gleichzeitig sorgte die an- haltende Landflucht für katastrophale Lebensverhältnisse in den rasant wachsenden Ballungsräumen und führte zu einem spürbaren Mangel an landwirtschaftlichen Ar- beitskräften, vornehmlich in den östlichen Reichsgebieten. Dieses entstandene Va- kuum füllten vor allem osteuropäische Wander- und Saisonarbeiter, die in immer größerer Anzahl ins Kaiserreich kamen (Puschner, 2001, S. 115f).

Die damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen standen somit in einem direkten Widerspruch zu allem, wofür sich die völkische Bewegung einsetzte. Folglich suchten die führenden Köpfe der Bewegung nach Lösungsmöglichkeiten und stellten die deutsche Jugend in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Zahlreiche neue Verbände und Vereine, wie beispielsweise der „Wandervogel“ glorifizierten das bäuerliche Le- ben auf dem Land und sorgten mit organisierten Zeltlagern und Wandertouren für abenteuerliche Naturerlebnisse. Doch auch das Verständnis für die deutsche Kultur, Religion und Geschichte wurde von den völkischen Verbänden gezielt befördert (Ahrens, 2015, S. 28).

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Nachdem der Erste Weltkrieg verloren war, was mit Gebietsverlusten im Osten und Westen verbunden war, richteten die Organisatoren ihren Fokus vornehmlich in die ehemaligen Reichsgebiete. Hierdurch sollte zum einen die Nichtanerkennung der Gebietsverluste zum Ausdruck gebracht werden und zum anderen die in den verlo- renen Gebieten lebende Bevölkerung die Verbindung zur deutschen Kultur nicht verlieren. Da dieses als „Grenzlandarbeit“ bezeichneten Reisen sowohl zeitlich als auch finanziell immer aufwendiger wurden, riefen 1924 Wilhelm Kotzde, Bruno Tanz- mann und Willibald Hentschel eine neue Siedlerbewegung ins Leben. Ziel sollte es von nun an sein, keine zeitlich befristeten Reisen mehr ins ehemalige Reichsgebiet zu unternehmen, sondern junge Männer und Frauen für einen längerfristigen Ar- beitseinsatz auf ehemaligen deutschen Höfen zu gewinnen. Die Idee der völkischen Siedler war geboren (Breuer, 2010, S. 218).

Schnell stellte sich jedoch heraus, dass die Freiwilligen oft keine fundierten Kennt- nisse über das Bewirtschaften von landwirtschaftlichen Gütern besaßen. Folglich suchte man in einem ersten Schritt ideologisch gleichgesinnte Großgrundbesitzer, die ihre Höfe als Ausbildungsstätten zur Verfügung stellten. So nahm am 10. April 1924 die erste Artamanengruppe, bestehend aus 28 jungen Männern und Frauen ihre Arbeit auf dem Rittergut Limbach auf. Schnell folgten weitere Gruppen in Hes- sen, Sachsen und im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Zu dieser Zeit generier- ten die Organisatoren die meisten Freiwilligen aus den bestehenden Wehrbünden und aus der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Auf diese Weise hielten straff organisiertes Vorgehen und militärische Disziplin Einzug in die Artamanengruppen, was durchaus nicht gleichermaßen Anklang fand und zu Kon- flikten innerhalb der Gruppen führte. Entgegen aller Widerstände konnte in den fol- genden Jahren sowohl die Organisation, als auch die Ausbildung der Artamanen deutlich verbessert werden. Die Zahl der Artamanen stieg von 80 im Jahr 1924, auf über 650 im Jahr 1926. Dennoch wurde der eigentliche Grundgedanke, eigene Sied- lungsstellen zu gründen, bis dahin nicht realisiert (Schmitz, 1985, S. 46ff).

Nachdem es im Spätsommer 1926 zum Zerwürfnis zwischen Tanzmann und Kotzde gekommen war, gründeten 1927 die Siedler den Bund Artam, der unter der Führung von Hans Holfelder rasant wachsen sollte. Durch die Gründung unterstützender Ver- eine und enger Kontakte zur NSDAP, zählte der Bund Artam im Jahr 1929 bereits über 2.300 Anhänger und erreichte damit seine Blütezeit. Mitglieder wie Heinrich Himmler oder Rudolf Höß belegen die Nähe zur NSDAP (Brauckmann, 2005, S. 26ff).

Nachdem Hans Holfelder im Januar 1929 verstarb, traten erneut Streitigkeiten über die Ziele und die Organisation der Artamanen zu Tage, was Schluss endlich zum Auseinanderbrechen des Bundes führte. Die meisten Artamanen organisierten sich in der Folge neu und begründeten in diesem Zusammenhang neue Güter. Im dama- ligen Gau Mecklenburg hingegen gründeten die verbliebenen Siedler den „Bund der Artamanen – nationalsozialistischer freiwilliger Arbeitsdienst auf dem Lande“. Dieser zu Beginn nur 40 Mitglieder zählende Bund zeichnete sich ebenso durch eine be-

149 sondere Nähe zu NSDAP aus. Dies äußerte sich zum einen in der geforderten Mit- gliedschaft in der Partei, aber auch durch das tägliche Tragen einer Uniform. Schnell konnten auch hier die engen Kontakte zur Partei genutzt werden und die Zahl der Mitglieder kurzfristig auf über 500 gesteigert werden. Die vorrangigen Einsatzorte der Artamanen lagen dabei in Koritten (Kreis Sternberg) und Koppelow (Kreis Güst- row). Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 begannen schließlich Verhandlungen zwischen dem Bund der Artamanen und der NSDAP, wie eine Auf- nahme in die Hitlerjugend (HJ) gestaltet werden könnte. 1934 wurden dann fast alle Artamanenbünde in die HJ aufgenommen und in der Gesamtorganisation gleichge- schalten (Brauckmann, 2005, S. 230).

2. Ideologie, Brauchtum und Symbole der Artamanen

Die kurze Darstellung der Entstehungsgeschichte zeigt, wie unterschiedlich die Inte- ressenslagen der einzelnen Bünde waren und wie sie sich entwickelten. Dennoch gab es über alle Strömungen hinweg ein verbindendes Element. Man spricht von der ideologischen Ausrichtung, einer Art Weltanschauung, die als Bindeglied zwi- schen allen Mitgliedern einer sozialen Gruppe wirkt (Brockhaus, 2008, S. 218). Im Falle der Artamanen standen die Überlegenheit der eigenen Rasse, sowie die Ver- bundenheit zur Natur und Heimat im Mittelpunkt. Die sich daraus ableitende Welt- anschauung wird als „Blut und Boden-Ideologie“ bezeichnet. Demzufolge ist die Vermischung von Blut und Rasse strikt zu vermeiden, da sonst das höherwertige Blut verkommt. Neben der Reinheit des Blutes dürfe auch die Verbindung zwischen Volk und Boden nicht gestört werden. Der Ideologie zufolge besteht eine Wechselwir- kung zwischen einer Landschaft und dem Volk, welches diese bewohnt. Beide be- dingen sich gegenseitig und fremde Einflüsse von außen würden das bestehende Gleichgewicht zerstören und die Gesundheit und den Bestand des Volkes gefährden (Nicolaisen & Passeick, 2018, S. 5). Daneben spielt der Rassismus, der die Merkmale des eigenen Volkes überhöht und andere Nationen mit Ressentiments sowie Feind- seligkeiten begegnet, als auch der Antisemitismus, der als eine besondere Form des Rassismus gegenüber dem Judentum zum Ausdruck kommt, eine bedeutende Rolle (Thieme, 2007, S. 51).

Neben der Ideologie stellte das gepflegte Brauchtum ein verbindendes Element dar. Schon die Gründer der völkischen Bewegung hatten sich das Ziel gesetzt, das deut- sche Kulturgut in Form von Liedern, Tänzen, Sagen und Geschichten zu erhalten und zu dessen Erneuerung beizutragen. Dieses Bestreben setzten auch die Artamanen in ihren Gruppen fort. Zum einen bot das gemeinsame Singen und Tanzen mit der einheimischen Bevölkerung Anknüpfungspunkte und sorgte für eine schnellere In- tegration. Zum anderen spielten die Lieder eine bedeutende Rolle bei der Rekrutie- rung von neuen Anhängern, da das ländliche Leben idealisiert und die Schaffung einer neuen Welt skizziert wurde (Schmitz, 1985, S. 59). Als besonderes Liedgut ist dabei das sogenannte Artamanenlied zu betrachten, in dem die nationalsozialisti-

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sche Weltanschauung sowie der Traum von Expansion zum Ausdruck kommen. Ne- ben Liedern und Tänzen spielten auch Geschichten, Sagen und Volksfeste eine be- deutende Rolle. Oft waren diese an alte germanische Bräuche angelehnt und fanden sich zu jeder Jahreszeit wieder. Beispielhaft sollen an dieser Stelle Sommer- und Wintersonnenwendenfeiern, Hohen Maien, das Erntedankfest oder auch die Eheleite genannt werden.

Neben der gemeinsamen kulturellen Gestaltung des Lebens auf dem Land hatten auch Erkennungszeichen und Symbole eine wichtige Bedeutung. Auch wenn es von Beginn an keine einheitlichen Erkennungszeichen gab, so hatte doch jede Artamanengruppe eigene Wimpel und Fahnen, um sich nach außen darzustellen. Diese eher individuellen Erkennungszeichen wurden ab 1926 durch die Artamrune ergänzt, die von Alwiß Rosenberg entworfen wurde.

Abbildung: Artamrune Quelle: Schmitz 1985, S. 45

Die Artamrune ist ein durch zwei Runen zusammengesetztes Symbol, welches durch das Sternenbild des großen Wagens und des Nordsterns ergänzt wird. Der obere Teil der Rune steht dabei für den Menschen und der untere Teil für den Acker. Somit stellt die Artamrune sinnbildlich den „Hüter der Scholle“ dar. Die Einbettung zwi- schen dem Großen Wagen und dem Nordstern zeigt die enge Verbundenheit zur Kultur der nordisch-germanischen Völker. Das Symbol wurde neben den individuel- len Wimpeln im Laufe der Jahre zum zentralen Erkennungszeichen für alle Artam- gruppen (Schmitz, 1985, S. 44f).

3. Das Erwachen der Neo-Artamanen

Nachdem die unterschiedlichen Artamanengruppen 1934 in die Hitlerjugend aufge- nommen wurden, hörten sie offiziell auf zu existieren. Dennoch lebte die Idee von einer völkischen Gemeinschaft auf dem Land in vielen Artamanen weiter. Dies zeigt sich auch darin, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterschiedliche Ver- eine und Organisationen gegründet wurden, in denen die Weltanschauung und das Erbe der Artamanen fortbestanden. Als die einflussreichsten und bekanntesten sind hier die „Religionsgemeinschaft der Deutsche Gotterkenntnis“ sowie „Die Artge- meinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestal- tung e.V.“ zu nennen (Belltower News, 2008). Doch auch in den vielen Familien, die

151 es geschafft haben, sich in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg einen eigenen Hof aufzubauen, lebte das Vermächtnis der Artamanen weiter. So sind vor allem in Schleswig-Holstein und der Lüneburger Heide Familien bekannt, die seit über 70 Jahren im Sinne der Artmanen ihr Leben gestalten.

Doch was führte schlussendlich dazu, dass seit den 1990er Jahren Mecklenburg- Vorpommern zunehmend in den Fokus der Neo-Artamanen rückte? Ursächlich hier- für ist eine ganze Reihe von Faktoren. Die erste Neuansiedlung fand in Koppelow im Landkreis Güstrow statt. Mehrere Familien schlossen sich Anfang der 90er Jahre zu- sammen und kauften gemeinsam einen alten Bauernhof. Dieser wurde bereits 70 Jahre zuvor von Artamanen bewirtschaftet, wodurch dieser Schritt eine enorme sym- bolische Bedeutung hatte. Zudem war Mecklenburg-Vorpommern wenige Jahre nach der Wiedervereinigung von einer starken Landflucht der Bevölkerung betrof- fen. Die in der Folge sinkenden Immobilienpreise ermöglichten es, günstig landwirt- schaftliche Güter und Höfe zu erwerben (Podjavorsek, 2017). Gleichzeitig sorgte das Phänomen der Landflucht aber auch für einen Zerfall sozialer, kultureller und öko- nomischer Strukturen auf dem Land. Diese Entwicklungen wurden durch die Neo- Artamanen gezielt ausgenutzt. Zum einen erhofften sie sich dadurch einen geringe- ren sozialen Widerstand gegen die eigenen radikalen Lebensentwürfe und zum an- deren gab es den Siedlern vielfältige Anknüpfungspunkte, um die entstandenen Lü- cken im sozialen Miteinander zu füllen (Scherer, 2012, S. 76). Neben der Neuansied- lung in Koppelow sind heute Neo-Artamanen vor allem im Landkreis Ludwigslust, in sowie im Landkreis Vorpommern-Greifswald anzutreffen. Ein besonderer Schwerpunkt lässt sich jedoch auch weiterhin im Dreieck zwischen den Ortschaften Klaber, Koppelow und Krakow am See im Landkreis Güstrow finden. Be- reits 2010 konnten hier 12 Familien mit ca. 60 Kindern gezählt werden, die im Sinne einer völkisch-nationalistischen Ideologie ihr Leben gestalteten (Fuchs, 2010). Auf- grund der herrschenden Rahmenbedingungen hat sich Mecklenburg-Vorpommern somit zu einer Art Modelregion für die Neo-Artamanen entwickelt. Problematisch dabei ist, dass fest integrierte und angekommene Siedlerfamilien den Nachzug wei- terer Familien erleichtern und somit beschleunigen. Doch geht es den Siedlern wirk- lich nur um die eigene Lebensgestaltung oder stecken ganz andere Ziele dahinter? Dieser Frage wurde bereits 2016 in einer Kleinen Anfrage an den Bundestag nach- gegangen, in der festgestellt wurde, dass die völkischen Siedler eine langfristige Be- einflussung der ländlichen Alltagsstruktur mit dem Ziel anstreben, eine völkische Gemeinschaft mit einem autarken Wirtschaftsnetzwerk zu etablieren. Es geht also weniger um einen kurzfristigen Erfolg, als vielmehr um einen langfristigen Prozess der Unterwanderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Jelpke & al., 2016, S. 1). Um dies zu verwirklichen, streben die Neo-Artamanen in einem ersten Schritt eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz an. Dieser Prozess geschieht sehr viel subtiler als man dies erwarten würde. Die Männer beispielsweise sind fast aus- schließlich in handwerklichen Berufen beschäftigt, was ihnen vielfältige Anknüp- fungspunkte mit der übrigen Bevölkerung ermöglicht. Sie bieten demnach Leistun- gen als Biobauern, Kunstschmiede, Maurer oder auch als Dachdecker an. Dies hat zum einen den Vorteil, dass sich die Siedler untereinander in fast allen Lebenslagen

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gegenseitig helfen können, was sie in vielen Bereichen autark werden lässt (Schmidt, 2014, S. 8). Zum anderen hat die übrige Landbevölkerung kaum eine Chance, die angebotenen Dienstleistungen der Neo-Artamanen zu ignorieren, da es oftmals schlicht an Alternativen fehlt. Somit integrieren sich die Siedler immer fester im wirt- schaftlichen Leben und werden zu einem unverzichtbaren Teil der Gesellschaft. Auch die Frauen arbeiten vornehmlich als Hebammen, Heilpraktikerin oder als Kindergärt- nerin und engagieren sich darüber hinaus in Kirchenvereinen, Elterntreffs oder in Fahrgemeinschaften für Schulkinder. Auf diese Weise entstehen vielfältige Kontakte und Vertrauensverhältnisse zu anderen Frauen, Müttern und Kindern. In einem wei- teren Schritt werden dann die eigene gesellschaftliche Position und das gewonnen Vertrauen genutzt, um einflussreichere Positionen in Elternvertretungen, Schulgre- mien oder auch Gemeindevertretungen zu erreichen. Dies alles geschieht mit der Maßgabe, die eigenen völkischen Vorstellungen auf die Gesamtgesellschaft zu über- tragen (Podjavorsek, 2017). Neben der Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung wird unter anderem an einer intensiven Vernetzung mit anderen Organisationen und Ver- einen des gesamten rechten Spektrums gearbeitet. Aber auch zu politischen Par- teien wie beispielsweise der AfD oder der NPD können vielfältige Beziehungen nach- gewiesen werden (Ahrend, 2018).

Nachdem sich die ersten Neo-Artamanen aus Mecklenburg-Vorpommern ausdrück- lich auf deren historisches Vorbild bezogen haben, bleibt die Frage, was von den ursprünglichen ideologischen Ansichten tatsächlich übernommen wurde? Und tat- sächlich lassen sich die gleichen völkischen Betrachtungsweisen der Überlegenheit der deutschen Rasse und des deutschen Blutes wiederfinden. Die beschriebene „Blut- und Boden-Ideologie“ wurde von den Neo-Artamanen vollständig übernom- men, wonach eine Vermischung von Blut und der Einfluss fremder Völker in den eigenen Lebensbereich unbedingt verhindert werden soll. Anderenfalls würden die eigene Volksgesundheit sowie der Volkskörper als Ganzes erheblich geschädigt (Schmidt, 2014, S. 8). Weiterhin können die Neo-Artamanen aus ideologischer Sicht als antisemitisch und rassistisch bezeichnet werden. Sie lehnen eine weltoffene und demokratisch geprägte Gesellschaft ab und meiden die moderne Welt mit ihren städtischen Versorgungseinrichtungen und alternativen Lebensentwürfen. Groß- städte gelten ihnen als vom jüdischen Kapitalismus kontrolliert und frei von allen Werten. Um sich den schädigenden Einflüssen fern zu halten, streben die Neo- Artamanen ein autarkes Leben auf der eigenen Scholle an (Podjavorsek, 2017). Dabei orientieren sie sich an klaren völkischen Werten und pflegen ein klassisches Rollen- bild zwischen Mann und Frau. Der Mann gilt demnach als Oberhaupt und Ernährer der Familie und vertritt die eigene Sippe nach außen. Die Frau hingegen kümmert sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder nach strengem völkischem Vor- bild (Schmidt, 2014, S. 10). Auffällig ist, dass die betroffenen Familien eine über- durchschnittliche Anzahl von Kindern zur Welt bringen. Dies lässt sich auch auf die ureigene Aufgabe einer Sippe zurückführen, die im Erhalt der eigenen Volksgemein- schaft und Rasse liegt. Folglich ordnet sich das Individuum dem Kollektiv unter und die Bedürfnisse des Einzelnen treten hinter die Bedürfnisse der Gemeinschaft zurück (Fuchs, 2010).

153 Bei der Betrachtung des Glaubens folgen die Neo-Artamanen einer nordisch-vor- christlichen Glaubensvorstellung und pflegen eine enge Verbindung zur nordischen Mythologie. Hier gibt es eine Vielzahl von Göttern, allen voran den Göttervater Odin, der als besonders kämpferisch und hart gilt. Im Gegensatz dazu wird der jüdische oder aber auch der christliche Glaube mit seiner gelebten Nächstenliebe als ver- weichlicht und schwach angesehen. Dies kommt sehr anschaulich im Symbol des Nordischen Adlers zum Ausdruck, der den christlichen Fisch als seine Beute in den Klauen hält.

Abbildung: Nordischer Adler Quelle: Schmidt, 2014, S. 14

Neben der Mythologie spielt für die völkischen Siedler auch der Naturschutz eine besondere Rolle. Ziel ist der Erhalt der eigenen Heimat getreu dem Slogan: Natur- schutz ist Heimatschutz. Damit stehen sie mit fast allen Rechten und rechtsextremen Gruppierungen wie bspw. der „Identitären Bewegung“ oder der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ in einer Reihe. Diese Orientierung ist nicht nur der logi- sche Schluss aus dem Bestreben die deutsche Heimat, die Natur und das Volk zu schützen, sondern bietet darüber hinaus weitreichende Anknüpfungspunkte mit al- len Akteuren, die sich dem Naturschutz verpflichtet sehen. Folglich sollte bei radika- len Positionen im Zusammenhang mit Naturschutz auch immer eine Betrachtung der weltanschaulichen Motivation erfolgen (Hellwig, 2018, S. 6). Genauso wie bei der Ideologie spielen auch Symbole und Bräuche bei den Neo-Artamanen eine wichtige Rolle. Als eines der auffälligsten Kriterien kann der Kleidungsstil der Völkischen an- gesehen werden. Die Männer tragen ihren Berufen entsprechend sehr häufig Zim- mermannshosen oder andere traditionelle Arbeitsbekleidung. Zudem ist das Tragen von längeren Bärten weit verbreitet. Die Frauen und Mädchen hingegen tragen oft Röcke oder Kleider und die überwiegend langen Haare sind zu Zöpfen oder Kränzen geflochten (Podjavorsek, 2017). Da auch die Kinder an diesen traditionellen Klei- dungsstil früh herangeführt werden, stehen sie in einem auffälligen Kontrast zu den gleichaltrigen Mitschülern. Daneben findet man häufig Symbole wie die Irminsul, oder das Keltenkreuz. Beide Symbole haben einen historischen Ursprung und wur- den durch die deutschen Nationalsozialisten in ihrem Sinne stark umgedeutet. Wei- tere Symbole sind Thors Hammer oder auch das zwölfspeichige Sonnenrad. Proble- matisch bei all diesen Abbildungen ist, dass sie mit einer bestimmten Doppeldeu- tigkeit versehen sind. So benutzt bspw. auch die Heavy-Metal-Szene das Symbol

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von Thors Hammer, man wäre aber nicht geneigt, dieser Szene eine völkisch natio- nalistische Gesinnung zu unterstellen. Gleiches gilt auch für die übrigen Zeichen der Neo-Artamanen, was eine eindeutige Zuordnung zum völkischen Milieu äußerst schwierig macht. Einfacher fällt die Zuordnung, wenn man sich die gepflegten Bräu- che anschaut. Bräuche dienen in erster Linie dem inneren Zusammenhalt der Ge- meinschaft und stiften eine kulturelle Herkunft (Schmidt, 2014, S. 13f). Wie auch die Artamanen begehen die Neo-Artamanen die Winter- und Sommersonnenwende, das Maifest oder danken für den Ertrag des Sommers mit dem Erntedankfest. Alle diese Feste haben gemein, dass sie in großer Gemeinschaft begangen werden und im Sinne der völkisch-germanischen Tradition mit kulturellen Liedern und Tänzen ausgeschmückt werden. Dabei werden auch schon die kleinsten Mitglieder der Ge- meinschaft fest eingebunden. Auch andere christlichen Feste wie die Hochzeit oder das Weihnachtsfest werden durch germanische Bräuche wie der Eheleite oder dem Julfest ersetzt (Podjavorsek, 2017). Neben der Stärkung des inneren Zusammenhalts dienen diese Veranstaltungen regelmäßig auch dem Ausbau und der Pflege von Vernetzungen mit szenefremden Akteuren. Die Rechtsextremismusexpertin Andrea Röpke berichtete über verschieden Treffen, bei denen mehrere hundert Gäste an- wesend waren. So auch im Jahr 2016, als von einer völkischen Siedlerfamilie ein Volkstanztreffen organisiert wurde, auf dem neben den über 200 Gästen auch ein AfD-Kreistagsabgeordneter erschienen war (Ahrend, 2018).

Auch für die Kleinsten der Gemeinschaft werden eigene Sommer- und Zeltlager an- geboten. Früher noch durch die heute bereits verbotenen Organisationen der Wi- king Jugend oder der Heimattreuen Deutschen Jugend durchgeführt, wird die strenge völkische Erziehung nun durch die Nachfolgeorganisation Sturmvogel si- chergestellt (Schmidt, 2014, S. 11f). Mit der Vermittlung von Traditionen und Werten, einer spielerischen paramilitärischen Ausbildung und der Sicherstellung einer ideo- logischen Indoktrinierung, soll eine nachwachsenden Elite geschaffen werden, die die zukünftigen Ziele der völkischen Szene verwirklichen soll (Vgl. ebd., S. 12).

4. Die Gefahren für das gesellschaftliche Zusammenleben

Aber auch heute bestehen schon gravierende Gefahren für das gesellschaftliche Zu- sammenleben. Wie bereits gezeigt werden konnte, siedeln völkische Familien in ers- ter Linie in ländlichen Bereichen, die von Landflucht und dem Rückgang staatlicher Strukturen betroffen sind. Die Siedler versuchen, die entstehenden Räume zu beset- zen und sich im Alltag der Bevölkerung unentbehrlich zu machen. Dabei gehen sie sehr behutsam vor und verbergen anfänglich ihre radikale Weltanschauung. Erst nachdem wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten bestehen, treten durch Rand- bemerkungen oder auf andere subtile Weise die wahren Überzeugungen zu Tage (Heinrich Böll, 2012, S. 92f). Auch die Frauen bieten aus Sicht der Völkischen gute Möglichkeiten die Gesellschaft zu unterwandern. So wird die Frau häufig als harm- loses, fürsorgliches und soziales Wesen wahrgenommen und besitzt durch die vielen Kinder gute Anschlussmöglichkeiten innerhalb einer Dorfgemeinschaft. Begriffe wie

155 rassistisch, antisemitisch, völkisch-national oder auch politisch fanatisch werden fast nie mit den fürsorglich auftretenden Müttern in Verbindung gebracht. Auf diese Weise finden Frauen schnell Anschluss in Mütterrunden, dem Elternbeirat an einer Schule oder bei anderen gesellschaftlichen Aktivitäten in der Freizeit. Darüber hinaus dient ein gesteigertes soziales Engagement als Eintrittskarte zu Fahrgemeinschaften, Kindergeburtstagen oder als Aushilfe in der Nachmittagsbetreuung. Ehe sich die an- deren Eltern versehen, haben sie ihre eigenen Kinder in die Obhut von völkisch den- kenden Familien gegeben. Gerade der Kontakt zwischen Gleichaltrigen, wobei die völkischen Kinder schon im frühen Alter mit der Ideologie und dem entsprechenden Vokabular vertraut sind, kann einen erheblichen Einfluss auf nicht völkische Kinder haben (Schmidt, 2014, S. 11). Die Möglichkeiten, für Lehrer und Schule dem völki- schen Weltbild der Kinder entgegenzutreten, sind in der Regel von geringen Erfolg- saussichten geprägt. Grund dafür ist, dass die Kinder von klein auf in einem entspre- chenden ideologischen Umfeld aufgewachsen sind und Feindbilder und politische Ansichten tief verwurzelt sind. Zudem besteht nach der Schule ein engmaschiges Netz aus Familie, Freunden und Gleichgesinnten, die auf abweichendes Verhalten entsprechend reagieren. Ein Ausbrechen aus diesen Kreisen würde für die Kinder zum Verlust des gesamten familiären und sozialen Umfeldes führen (Schmidt, 2014, S. 11).

Neben ihrer die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnenden Ideologie, treten die völkischen Siedler in der Regel strafrechtlich gesehen nicht in Erscheinung. Sie treten weder aggressiv auf, zeigen keine verbotenen Abzeichen oder Symbole und begehen keine sonstigen Straftaten. Wenn es dennoch zu Konfrontationen kommt, haben die Siedler vielfältige Kontakte ins rechte Spektrum. Dies zeigt auch das Beispiel aus Lalendorf, bei dem sich der Bürgermeister nach einer Auseinander- setzung mit völkischen Siedlern Drohungen und öffentlicher Hetze durch Neo-Nazis ausgesetzt sah (Podjevorsek, 2017). Dieses Beispiel zeigt, welche Reaktionen ein ent- schiedenes Engagement gegen die völkischen Kreise provozieren kann.

5. Eine vergleichende Betrachtung zwischen Artamanen und Neo-Artamanen

Nun stellt sich die Frage, in welchen Bereichen sich die Neo-Artamanen mit den historischen Artamanen ähneln oder unterscheiden. Die größten Unterschiede las- sen sich schon in den Zielsetzungen der jeweiligen Bewegungen finden. Den Artamanen ging es um die Überwindung der Folgen der Industrialisierung, des ver- loren gegangenen Krieges, sowie die damit einhergehenden radikalen gesellschaft- lichen Veränderungen. Die dadurch ausgelöste Landflucht führte ihrerseits zu ver- heerenden sozialen Nöten in den Städten und zum Mangel an Arbeitskräften auf dem Land. Das Engagement der Artamanen war auf die Reduzierung der negativen Folgen dieser Veränderungen ausgerichtet. Folglich fanden sie bei der Bevölkerung, nach anfänglicher Skepsis, auch die entsprechende Anerkennung und Unterstüt- zung. Dies zeigt sich auch in der zunehmenden Bereitschaft der Großgutsbesitzer, Arbeitsplätze für die Artamanen zur Verfügung zu stellen. Auch die Förderung der

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ländlichen Kultur sowie Traditionen fand auf dem Land breite Zustimmung. Dies be- legen die zahlreichen Nachweise und Berichte über Grenzlandfahrten sowie Laien- spiele. Weiterhin verfolgten die Artamanen das Ziel, die ausländischen Gastarbeiter in den Ostgebieten zu verdrängen, was unstrittig auf die rassistischen und antisemi- tischen Einstellungen zurückzuführen ist. Diese waren jedoch zur damaligen Zeit in der gesamten Bevölkerung weit verbreitet, woraus sich keine radikale Sonderstel- lung der Artamanen ableiten lässt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Artamanen der 1920er Jahre aus der Mitte der Gesellschaft kamen und auf dem Land bereitwillig Anschluss und Unterstützung fanden.

Die Neo-Artamanen hingegen zielen auf die Etablierung einer völkisch geprägten Gesellschaft ab und wollen die demokratisch-gesellschaftliche Grundordnung ab- schaffen. Damit stehen sie dem bestehenden gesellschaftlichen System diametral entgegen, was zu Widerstandsreaktionen der Bevölkerung führt. Dies spiegelt sich auch in dem beschriebenen Verhalten der Neo-Artamanen wider, dass der Erwerb von neuen Höfen oft unter Verschleierung der wahren ideologischen Ausrichtung erfolgt, um einen breiten Widerstand gleich zu Beginn zu verhindern. Auch das be- hutsame Vorgehen bei der Durchdringung von Gesellschaftsstrukturen oder beim Aufbau von autarken Wirtschaftskreisläufen zeigt, dass die Angst vor einem organi- sierten Widerstand der Bevölkerung durchaus vorhanden ist. Erst wenn die Position der Siedler innerhalb einer Gemeinschaft als gesichert bewertet wird, werden ideo- logische Ansichten schrittweise preisgegeben.

Bei der Betrachtung des Betätigungsraumes haben beide Bewegungen ihren Schwerpunkt im Nordosten des jeweiligen Landes. Bei den Artamanen resultiert dies aus dem Ziel, die von Polen über die Grenze kommenden Gastarbeiter zurück zu drängen. Folglich erfolgte der eigene Einsatz ebenfalls in Grenznähe. Dennoch gab es auch Arbeitsgruppen und Hofgründungen in anderen Teilen des Landes. Bei den Neo-Artamanen ist das gezielte Engagement im Nordosten auf die für sie günstigen gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten zurückzuführen. Es konnte gezeigt werden, dass in anderen Bundesländern teilweise völkische Familien schon über Generationen verankert sind, was einen Zuzug in deren Einflussbereich erleich- tern würde. Dennoch bietet gerade Mecklenburg-Vorpommern mit seinen geringen Immobilienpreisen und der starken Landflucht günstige Bedingungen, sich einem eigenen Siedlungsprojekt zu widmen.

Die größten Übereinstimmungen beider Bewegungen lassen sich in den Kernaussa- gen der jeweils vertretenen Ideologie wieder finden. Beide Lager sind von der Über- legenheit der eigenen Rasse überzeugt und lehnen somit Menschen anderer Natio- nalitäten und Glaubensrichtungen als minderwertig ab. Folglich muss eine Vermi- schung mit fremdartigem Blut vermieden und der eigene Lebensraum vor Einflüssen geschützt werden. Die daraus entwickelte „Blut und Boden“-Ideologie begründet auch den weit verbreiteten Naturschutzgedanken. Der große Unterschied liegt hin- gegen in der Intensität der Ausprägung der Ideologie. Die Artamanen waren in den meisten Fällen junge Männer und Frauen, die aus eigenen Stücken aus der Stadt

157 kamen, um auf dem Land ihren Beitrag zu leisten. Ein Großteil wird sich durchaus mit den ideologischen Zielen der geistigen Väter identifiziert haben. Wie stark die Akzeptanz der Ziele aber ausfiel, oder ob immer alle Ideen widerspruchslos über- nommen wurden, bleibt offen. Belegt ist, dass sich viele Artamanen nur zeitweise zu Arbeitseinsätzen angeboten haben oder auch vorzeitig die Gruppen wieder verlie- ßen. Eine Überprüfung der ideologischen Gesinnung hat somit nicht stattgefunden. Bei den Neo-Artamanen ist die Ideologie hingegen das verbindende Element schlechthin. Nur wer der gleichen Gesinnung anhängt, wird sich den Kreisen der Neo-Artamanen annähern können. Diese Radikalität zeigt sich vor allem auch in der Erziehung der eigenen Kinder, die von klein auf im Sinne der ideologischen Über- zeugungen indoktriniert werden. Ein Ausbrechen für den eigenen Nachwuchs ist so- mit fast nicht möglich. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die Inte- ressen der Gemeinschaft höher bewertet werden als die des Individuums.

Die Funktion des inneren Zusammenhalts lässt sich auch beim Brauchtum wieder finden. Die Artamanen widmeten sich dem Erhalt von bäuerlichen Traditionen, die oft mit germanischen Bräuchen vermengt waren. Sie wehrten sich damit gegen den schon beschriebenen Verfall der Sitten und Werte in den Großstädten. Auch die Pflege von Liedgut und Sprache zeugt von der Fokussierung auf die eigenen Wur- zeln. Das Althergebrachte bewahren und erneut salonfähig machen, war das Ziel der kulturellen Betätigung. Die Neo-Artamanen haben ihrerseits viele der traditionellen Bräuche von den Artamanen übernommen. Denn auch sie beziehen sich auf ihre vermeintlich germanische Abstammung. Hinzu kommen die Einflüsse der nordi- schen Mythologie, die mit ihren Geschichten über Götterkämpfe und den Welten- brand das Gefühl der Auserwähltheit bei den Neo-Artamanen begründen. Auch die Nationalsozialisten hatten einen starken Bezug zur nordischen Mythologie und ha- ben viele der Figuren und Bilder mit ihren Interpretationen geprägt. Dies zeigt sich auch bei Feierlichkeiten wie der Julfeier oder der Eheleite, die die entsprechenden christlichen Feste verdrängt haben. Dabei nutzen die Neo-Artamanen die Feste ge- zielt um Kontakte zu anderen Personen und ihren Mitmenschen aufzubauen. Das gemeinsame Erlebnis am Lagerfeuer, die Faszination von alten mystischen Bräuchen, all dies wird seine Wirkung bei unbedarften Bürgern nicht verfehlen.

Als letztes Vergleichsobjekt wurden verwendete Symbole begutachtet. Es konnte gezeigt werden, dass für die Artamanen die Artamrune das mit Abstand wichtigste Erkennungszeichen war. Dieses wurde eigens für die Bewegung neu geschaffen und war dadurch frei von belastenden Vorinterpretationen. Die Verwendung von Runen und Sternzeichen entsprach der Gesinnung der Artamanen und war innerhalb der völkischen Bewegung weit verbreitet. Da die Mitglieder der Bewegung ihr Erken- nungszeichen mit Stolz zeigten und die Artamanen auf dem Land durchaus ge- schätzt und anerkannt waren, wird die Artamrune mit positiven Assoziationen in Verbindung gebracht worden sein. Im Vergleich dazu stellt sich die Situation bei den Neo-Artamanen als deutlich vielschichtiger dar. Es wurden eine ganze Reihe von Symbolen und Zeichen aufgezeigt, die fast alle eine frühere Verwendung unter den Nationalsozialisten erfahren haben. Dadurch sind viele der Symbole heute mit einer

158

Doppeldeutigkeit ausgestattet, die eine rechtlich problemlose Verwendung schwie- rig macht. Dies ist jedoch genau das Kalkül der Neo-Artamanen. Es sind Symbole notwendig, die den Gleichgesinnten und Szenesympathisanten auf den ersten Blick eine Zuordnung erlauben, sich aber dennoch im legalen Spektrum bewegen. Wei- terhin ist auffällig, dass die Neo-Artamanen keine Symbole benutzen, die ausschließ- lich für ihre Bewegung stehen. Egal ob Schwarze Sonne, Keltenkreuz oder Yggdrasil, all diese Zeichen finden in der gesamten rechtsgerichteten Szene Anwendung. Dies macht eine eindeutige Zuordnung sowohl für Behörden, für Bürger, als auch für ge- sellschaftlich engagierte Organisationen sehr schwierig.

6. Schlusswort

Im Titel wurde Mecklenburg-Vorpommern als Wiege einer „Blut und Boden“-Ideo- logie bezeichnet. Im Laufe der Bearbeitung konnte anhand der aufgezeigten Er- kenntnisse jedoch festgestellt werden, dass Mecklenburg-Vorpommern weder im 20., noch im 21. Jahrhundert wirklich als Wiege einer „Blut und Boden“-Ideologie bezeichnet werden kann. Dieser Schluss muss gezogen werden, da um 1925 der Be- griff von „Blut und Boden“ weder ausschließlich in Mecklenburg-Vorpommern ge- prägt wurde, noch auf dessen räumliche Grenzen beschränkt war. Auch in der Zeit von 1945 bis 1990 gab es bspw. mit Niedersachsen und Schleswig-Holstein andere Bundesländer, in denen die ideologischen Ansichten der Artamanen im Untergrund deutlich ausgeprägter vertreten waren. Dennoch wurde deutlich gezeigt, dass aus aktueller Sicht kein anderes Bundesland derart im Fokus der Neo-Artamanen und anderen neonazistischen Bestrebungen steht. Somit hat sich Mecklenburg-Vorpom- mern zu einer Art Modellregion in Deutschland entwickelt. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen in den vorherrschenden sozialen, wirtschaftlichen und gesell- schaftlichen Rahmenbedingungen und wurden detailliert erläutert. Aber auch das Verhalten der Neo-Artamanen und der gesamten neonazistischen Szene hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. In den 90er Jahren war das Bild eines Rechtsextre- men klar definiert. Mit Glatze, Springerstiefeln und Bomberjacke, fiel eine Zuord- nung zum rechten Spektrum durchaus einfach. Eindeutige Erkennungszeichen und feste Organisationsstrukturen machten es den rechtsstaatlichen Behörden leichter, diese zu erkennen und als verfassungsfeindlich zu verbieten. Beispiele wie die „Wi- king Jugend“ oder die „Heimattreue Deutsche Jugend“ wurden angeführt. Aus die- sen Erfahrungen haben die Neo-Artamanen und die rechte Szene im Allgemeinen ihre Lehren gezogen. Es konnte gezeigt werden, dass die Neo-Artamanen heutzu- tage eher im Verborgenen agieren und ihre politische und ideologische Gesinnung hinter verschlossenen Türen ausleben. Dies ermöglicht es ihnen, ohne eine nennens- werte gesellschaftliche Gegenwehr eigene Strukturen aufzubauen und zu festigen. Erst wenn die eigene Position in der gesellschaftlichen Mitte als stark genug beurteilt wird, versuchen die Neo-Artamanen mit einem offensiveren Vorgehen weitere Teile des öffentlichen Lebens zu beeinflussen. Da sich die strafrechtlichen Möglichkeiten

159 des Staates bei diesem Vorgehen als weitgehend wirkungslos erwiesen haben, wid- men sich heute zahlreiche Organisationen und Verbände dieser Thematik. Durch staatliche Zuschüsse finanziert, werden vor allem in stark betroffenen Regionen Be- ratungs- und Qualifizierungsangebote zu den Themen Demokratieentwicklung und Rechtsextremismus unterbreitet. Dadurch soll an Schulen und in Sportvereinen das notwendige Wissen sowie Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit völkischen Siedlern vermittelt werden. Als besonders erwähnenswert haben sich dabei die Re- gionalzentren für demokratische Kultur, aber auch die Betroffenenberatung Lobbi e.V. und der Verein Soziale Bildung e.V. hervorgetan (Röpke & Speit, 2015, S. 182).Trotz dieses Engagements gelingt es den Neo-Artamanen ihren Einfluss in ei- nigen Regionen von Mecklenburg-Vorpommern weiter auszubauen. Auch in naher Zukunft wird sich an den aus Sicht der Neo-Artamanen günstigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht viel ändern. Die Alterung der Bevölkerung wird aller Vo- raussicht nach weiter fortschreiten und auch die Umkehr von der Landflucht zur Stadtflucht ist derzeit nicht absehbar. Daraus lässt sich ableiten, dass das bloße En- gagement von nichtstaatlichen Trägern in Zukunft nicht ausreichen wird, um einer fortschreitenden Ansiedlung von völkischen Siedlern vorzubeugen. Eine Verschär- fung der Situation wird sich zukünftig auch durch die nächsten Generationen der völkischen Siedler ergeben. Es konnte gezeigt werden, wie schwierig ein wirkungs- voller demokratischer Einfluss des Staates auf die Erziehung und die ideologische Prägung der Siedlerkinder ist. Somit werden sich in naher Zukunft ideologisierte und im Geflecht der völkischen Siedler fest integrierte Männer und Frauen ebenfalls ihren Platz in Mecklenburg-Vorpommern sichern.

Um der aufgezeigten Entwicklung dennoch etwas entgegen zu setzen, bedarf es neuer Strategien und Handlungsmöglichkeiten der Politik. Die Berichte der Bundes- regierung aus den Jahren 2013 und 2016 haben gezeigt, dass man durchaus Kennt- nis von den völkischen Bestrebungen genommen hat, aber gleichzeitig über keine detaillierten Daten über deren Lokalisation, Strukturen oder Tätigkeiten besitzt. Hier besteht von Seiten der einzelnen Bundesländer dringender Handlungsbedarf. Auch die Schaffung eins bundesweiten Lagebildes zu den Aktivitäten der Siedler ist drin- gend erforderlich. Denn die Strukturen und Verflechtungen der völkischen Siedler gehen längst über die Grenzen einzelner Bundesländer hinaus. Um diese nötigen Veränderungen jedoch politisch durchzusetzen, bedarf es in erster Linie das Einge- ständnis, dass man in einem weltoffenen und touristenfreundlichen Mecklenburg- Vorpommern auch erhebliche Probleme mit völkisch-nationalen Rechtsextremen hat.

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Zur Motivation gewaltbereiter Subkulturen im Fußball - ein Vergleich von Hooligans und Ultras

Laura Blum, Cathrin Chevalier

1. Einleitung

Im Alltag wird man, auch wenn man kein Fußballfan ist, mit diesem Sport konfron- tiert. Nahezu täglich können Fußballspiele im Fernsehen bzw. im Internet verfolgt werden. Wobei ein konkreter Stadionbesuch für jeden – egal ob man Fußball mag oder nicht – zu einem besonderen Erlebnis werden kann. Bei den Spielen können beeindruckende Choreografien bestaunt werden, die durch die Fanszenen bis ins Detail geplant wurden. Aber mitunter sind es auch Teile genau dieser Fanszenen, die nicht nur die positiven Seiten im Rahmen der Freizeitgestaltung von Fußballbegeis- terten maßgeblich mitbestimmen. Ausschreitungen vor, während und nach den Spielen gehören für diese Personengruppe zur Fankultur dazu. Es ist daher undenk- bar, dass ein Fußballspiel der ersten drei Ligen in Deutschland ohne die sichtbare Präsenz der Polizei ausgetragen werden kann. Damit gehört die Absicherung der Fußballspiele, die Gewährleistung der Sicherheit des einfach nur fußballbegeisterten Bürgers zur Routinearbeit eines Polizeivollzugsbeamten.

Ziel der hier vorgestellten Arbeit war es, die Motivation zu diesen gewalttätigen Aus- schreitungen von Hooligans und Ultras zu analysieren. Dazu wird zunächst die Fan- kultur in der Historie und mit Hilfe verschiedener Einteilungen von Fangruppen vor- gestellt. Zudem wird versucht, Hooligans und Ultras differenziert zu betrachten, um sie der Subkulturtheorie nach Cohen zuzuordnen. Natürlich wird auch der polizeili- che Blick immer wieder eine Rolle spielen. Methodisch wurde eine weitreichende Literaturrecherche betrieben. Es konnten Experteninterwies sowohl mit Mitgliedern der Ultra- und Hooliganszene sowie von Fanbeauftragten geführt werden.

2. Fankulturen

Das nachfolgende Kapitel wird kurz den allgemeinen historischen Hintergrund be- leuchten und die Einteilung in Fangruppen erläutern.

A) Historie

Am Anfang des 20. Jahrhunderts galt der Fußball als Sport der Reichen. Erst als 1907 der Sonntag als Ruhetag eingeführt wurde, stiegen die Zuschauerzahlen an. In den

163 Vorkriegsjahren entwickelten sich bereits sogar erste Formen von Fankulturen, de- nen man auch heute noch begegnen kann. Es gab z.B. Siegesmärsche nach dem Erfolg der eigenen Mannschaft.303

Mit der Einführung des acht Stunden Arbeitstages wurde Fußball ab 1923 zu einem Massenphänomen in Deutschland, das damals bereits mit vielen gewalttätigen Aus- einandersetzungen einherging. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 etab- lierte sich der Fußball gänzlich als Freizeitbeschäftigung für viele Menschen.304

Inzwischen ist Fußball wohl der beliebteste Sport der Deutschen, denn im Durch- schnitt besuchten in der Saison 2017/2018 44.129 Zuschauer ein Fußballspiel in der 1. Bundesliga. Dies ist der höchste Zuschauerschnitt in ganz Europa zu dem Zeit- punkt.305

Zuschauerschnitt Saison 2017/18 50000 45000 40000 35000 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0 Deutschland England Spanien Frankreich Italien

Zuschauerschnitt Saison 2017/18

303 Vgl. Gabler 2013, S.29 304 Vgl. Gabler 2013, S.30 305 vgl. 1.Bundesliga Zuschauerschnitt. (März 2018). Abgerufen am 13. März 2018 / 05. Mai 2020 von Weltfußball: http://www.weltfussball.de/zuschauer/bundesliga-2017-2018/3/; vgl. dazu auch Ligue 1 Zuschauerschnitt. (März 2018). Abgerufen am 13. März 2018 / 05.Mai 2020 von Weltfußball: http://www.weltfussball.de/zuschauer/fra-ligue-1-2017- 2018/3/; vgl. dazu auch Premier League Zuschauerschnitt. (März 2018). Abgerufen am 13. März 2018 / 05.Mai 2020 von Weltfußball: http://www.weltfussball.de/zuschauer/eng-premier-league-2017-2018/3/; vgl. dazu auch Primera Division Zuschauerschnitt. (März 2018). Abgerufen am 13. März 2018 / 05.Mai 2020 von Weltußball: http://www.weltfussball.de/zuschauer/esp-primera-division-2017-2018/3/; vgl. dazu auch Serie A Zuschauerschnitt. (März 2018). Abgerufen am 13. März 2018 / 05.Mai 2020 von Weltfußball: http://www.weltfussball.de/zuschauer/ita- serie-a-2017-2018/3/

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Zuschauerschnitt Saison 2018/19 50000 45000 40000 35000 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0 Deutschland England Spanien Frankreich Italien

Zuschauerschnitt Saison 2018/19

In der Saison 2018/19 lag der Zuschauerschnitt pro Bundesligaspiel bei 43.449. Im Vergleich zu der Saison 2017/18 sind das ca. 1000 Zuschauer weniger an einem Spieltag. Diese Zahl hängt jedoch mit dem Abstieg von einem Verein mit einer ho- hen Zuschauerkapazität wie zum Beispiel dem Hamburger SV in die 2. Bundesliga und dem Aufstieg von zum Beispiel Nürnberg, mit einer geringeren Auslastung zu- sammen.

B) Einteilung der Fans im Überblick

Aufgrund der Vielfältigkeit der Fanszene und den wachsenden Herausforderungen im Umgang mit den unterschiedlichen Gruppen und deren Traditionen, werden die verschiedenste Kategorisierungen vorgenommen.

Die wohl populärste Einteilung der Fans ist die nach Heitmeyer. Er unterscheidet zwischen „konsumorientierten“, „fußballzentrierten“ und „erlebnisorientierten“ Fans.

Die sportliche Leistung des Vereines steht für die „konsumorientierten“ Fans an ers- ter Stelle. Der Fußball selbst könnte für diese Fans sogar gegen andere Sportarten ausgetauscht werden. Das liegt daran, dass diese Personen, die soziale Anerkennung außerhalb des Fußballs von größerer Bedeutung ist. Fußballspiele besuchen sie allein oder in kleineren Gruppen. Ferner bevorzugen sie Sitzplätze und halten sich nicht in den Fanblöcken auf.306

Für die „fußballzentrierten“ Fans ist die absolute Treue zum Verein von immenser Bedeutung. Selbige halten ihrem Verein auch bei sportlichen Krisen und auch im Falle des Abstieges in eine andere Liga z.B. die Treue. Der Fußball bestimmt das Leben des Fans. Die Sportart ist nicht mehr austauschbar und bietet eine wichtige

306 Vgl. Heitmeyer & Peter 1988, S.32f

165 Plattform für Selbstdarstellung und sozialem Zuspruch. Nach Heitmeyer sind gerade unter den „fußballzentrierten“ Fans Subkulturen zu finden.307

Der „erlebnisorientierte“ Fan sieht den Fußball als Event an. Wie bei den „konsum- orientierten“ Fan könnte der Fußball gegen eine andere Sportart ausgetauscht wer- den. Sie halten sich an den Orten im Stadion auf, an denen sie sich einfach span- nende Situationen erhoffen, um den Besuch zu einem Erlebnis werden zu lassen. Ähnlich wie bei den „fußballzentrierten“ Fans nutzen sie den Sport als Präsentations- plattform.308

Pilz ergänzt diese Einteilung durch die konkreten Subkulturen - den Hooligans, Ult- ras, Hooltras, Supporter309 und Kuttenfans.310

Die nachfolgende Grafik stellt diese zusammengefasste Einteilung aller Fankulturen dar. 311

307 Vgl. Heitmeyer & Peter 1988, S.32f. 308 Vgl. Heitmeyer & Peter 1988, S.32f. 309 Supporter werden durch den DFB gefördert, um auch bei Spielen der Fußballnationalmannschaft ultraähnliche Cho- reografien betrachten zu können. 310 Vgl. Pilz, G.A. 2008 311 vgl. Pilz 2008, S.1; vgl. dazu auch Heitmeyer & Peter 1988, S.32f.

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Die Polizei hat einen anderen Fokus, um Fankulturen zu betrachten. Ihr geht es da- rum, Sicherheit und Ordnung rund um das Spiel zu gewährleisten. Daher ist die Aus- prägung der Gewaltbereitschaft der Fans das Kriterium, um diese zu kategorisieren. Bei der Polizei unterscheidet man daher zwischen den Kategorien A, B und C:

 Kategorie A Fans – friedliche Fans  Kategorie B Fans – gewaltgeneigte/gewaltbereite Fans  Kategorie C Fans – gewaltsuchende Fans

Wenn man diese Kategorien auf die bereits in diesem Kapitel fokussierten Fangrup- pen Hooligans und Ultras anwendet, sind die Hooligans durch die Polizei der Kate- gorie C zuzurechnen. Die Ultras dagegen werden zum größten Teil den friedlichen Fans zugeordnet. Innerhalb dieser Subkultur ist tatsächlich nur ein geringer Teil als gewaltbereit einzuschätzen. In der nachfolgenden Übersicht wird das Lagebild für die Polizei entsprechend ihrer Kategorisierung für die Jahre 2014 bis 2019 nochmal explizit dargeboten:312

Störerlage der ersten drei Ligen in Deutschland 16000 14000 3643 12000 3301 3463 3288 3071 10000 8000 6000 10154 10192 10567 10345 10303 4000 2000 0 Saison 2014/15 Saison 2015/16 Saison 2016/17 Saison 2017/18 Saison 2018/19

Kategorie B Kategorie C

312 vgl. ZIS Jahresbericht 2014/15. (2015). Abgerufen am 25. November 2017 von https://polizei.nrw/sites/default/files/2016-10/14-15_Jahresbericht.pdf; vgl.dazu auch ZIS Jahresbericht 2015/16. (2016). Abgerufen am 30. Oktober 2017 von http://m.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Dokumente/Themen_und_Aufgaben/Sport_und_Sicherheit/Z IS-Jahresbericht_2015-2016.pdf; vgl. dazu auch ZIS Jahresbericht 2016/17. (2017). Abgerufen am 16. November 2017 von https://lzpd.polizei.nrw/sites/default/files/2017-10/16_17_Jahresbericht.pdf; vgl. dazu auch ZIS Jahresbericht 2017/18. (2018). Abgerufen am 05. Mai 2020 von https://lzpd.polizei.nrw/sites/default/files/2019-10/ZIS-Jahresbe- richt%202018-2019.pdf ZIS Jahresbericht 2018/19. (2019) Abgerufen am 05. Mai 2020 von https://lzpd.polizei.nrw/si- tes/default/files/2018-10/Z-181008-10%28ZIS-Jahresbericht%202017- 2018%20Stand%2008.10.2018%2007.00%20Uhr%29.pdf

167 Auffallend bei der Betrachtung der drei Fußballsaisons bis 2017 ist ein leichter An- stieg von 413 durch Personen aus der Kategorie B und ebenso ist ein Anstieg um 342 durch Fans aus der Kategorie C zu verzeichnen. Insgesamt ist das ein Anstieg um ca. 6 % an Störerlagen. Damit wird deutlich, dass die Fanszene ein polizeiliches Problem bleibt. In beiden vergangen Spieljahren ist die Störerlage geringer geworden. Jedoch spielt sie im polizeilichen Alltag immer noch eine bedeutende Rolle.

3. Fankultur der Hooligans

In diesem Kapitel wird sich ausschließlich mit der Fanszene der Hooligans beschäf- tigt. Dabei wird die Entstehung, der Wandel innerhalb der Gruppe, der Bedeutung der Hierarchie und der Zugang zur Gewalt Thema sein.

A) Entstehung der Hooligan-Fankultur

In den 1960er Jahren entstanden die ersten „Firms“313 – der Ursprung der Hooligan- fankultur. Die Mitglieder dieser Gruppen, welche sich hauptsächlich aus der Arbei- terschicht rekrutierten, wollten sich gerade durch gelebte Gewaltanwendung von anderen abgrenzen. Die Hooligans wurden in den 1970er Jahren gerade in England zu einer dominanten Jugendkultur mit einer besonders ausgeprägten Gewaltbereit- schaft. Dieser internationale Ruf besteht bis heute.314

In Deutschland entwickelte sich Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre ebenfalls eine Hooliganfankultur. Jene orientierte sich zunächst an der englischen Fanszene, später auch an der internationalen Hooligankultur.315 Höhepunkt der Deutschen Hooligangewalt war der Übergriff auf einen französischen Gendarmen bei der WM 1998 in Frankreich. Aufgrund dieses Vorfalles wurden Anfang der 2000er Jahre die Repressionen gegen die Hooligans in Deutschland massiv verstärkt, auch um diese aus den Stadien zu verbannen. Die getroffenen Maßnahmen schienen erfolgreich zu sein. Die Gewaltexzesse der Hooligans gerieten in Vergessenheit und die „neue“ Fankultur der Ultras trat in den Fokus der Öffentlichkeit. Im Jahre 2014 kam es jedoch zum großen Aufmarsch der Hooligans. Die Demonstration unter dem Slogan „Hooligans gegen Salafisten“ hat deutlich gezeigt, dass die Hooliganfankultur immer noch stark vernetzt ist. Seit diesem Aufmarsch rücken sie auch wieder mehr in den Blickpunkt der Sicherheitsbehörden.316

313 Firms sind Gruppen, in denen sich die Hooligans zusammenschließen. 314 Vgl. Claus 2017, S.36f. 315 Vgl. Claus 2017, S. 37 316 Vgl. Claus 2017, S.49ff.; vgl. Claus 2017 S.63, vgl. dazu auch Fritz T. 23.11.2017

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B) Wandel der Hooligan-Fankultur

Durch die massiven Repressionen Anfang der 2000er Jahre waren die Hooligans ge- zwungen, andere Wege für ihre gewalttätigen Ausschreitungen zu finden. Diese Ent- wicklung ist in der Erfindung des sogenannten „Ackers“ zu erkennen. Die Auseinan- dersetzungen der Hooligangruppierungen wurden von den Stadien/Innenstädten auf „Drittorte“ wie Feldwege und Äcker verlegt. Daher werden sie auch als Wald- und-Wiesen-Kämpfe bezeichnet. Hier besteht in der Regel auch nicht die Gefahr der Strafverfolgung, da die entsprechenden Behörden keine Kenntnis von den Ausei- nandersetzungen erlangen. 317

Eine weitere Entwicklung ist die zunehmende Professionalisierung der Gewalt. Hooliganismus ist heute eigentlich ein organisierter Kampfsport. Während zu den Anfangszeiten der Konsum von Alkohol eine wichtige Rolle einnahm, stehen heute der Betrieb von eigenen Gyms oder das Organisieren von Hooliganevents im Vor- dergrund. Im Rahmen der Vermarktung können Hooligankämpfe per Live-Stream bzw. im Nachgang durch interessierte Zuschauer verfolgt werden.318

C) Hierarchie in Hooligangruppierungen

Innerhalb einer Hooligangruppe herrscht eine eindeutige Hierarchie. Es wird zwi- schen den Anführern, dem „Harten Kern“ sowie den Mitläufern, auch „Lutscher“ ge- nannt, unterschieden. Die Anführer rekrutieren sich aus dem „Harten Kern“ und ha- ben zum Beispiel die Aufgabe, Kämpfe mit anderen Gruppierungen zu organisieren. Bei dem „Harten Kern“ handelt es sich um langjährige Mitglieder, die gleichzeitig auch über allerhand Kampferfahrung verfügen. Die Mitläufer werden deswegen als „Lutscher“ bezeichnet, weil sie sich noch durch Angst vor unmittelbaren körperlichen Auseinandersetzungen – also Mann gegen Mann, auszeichnen. Sie haben aber die Hoffnung, einmal ein Teil vom „Harten Kern“ sein zu können.319

In der Regel umfassen Hooligangruppen 10-15 Mitglieder.320

Eine Zusammenfassung über Aufgaben und Eigenschaften der Mitglieder solch ei- ner Hooligangruppierung gibt nochmal die nachfolgende Grafik:321

317 Vgl. Claus 2017 S.14f. 318 Vgl. Claus 2017 S. 14f. 319 Vgl. Weigelt 2004 S. 73 320 Vgl. Meier 2001 S.61 321 vgl. Weigelt 2004, S.73

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D) Hooligans und Gewalt

Hooligans und Gewalt stehen wie bereits beschrieben in Abhängigkeit zu einan- der.322 „Gewalt dient … der Lustbefriedigung. Gewalt ist nicht Mittel zum Zweck sondern Selbstzweck, entsprechend werden Auseinandersetzungen mit Gleichge- sinnten gesucht und verabredet.“323 Dabei gilt ein festes Regelwerk. Zum Beispiel erfolgen die Kämpfe lediglich, wenn beide Teams über die gleiche Anzahl an Kämp- fern verfügen. Damit die Professionalität der Kämpfe erhalten bleibt, wird im Vorfeld einer Auseinandersetzung auch kein Alkohol konsumiert. Wenn die Führungsperso- nen von den beteiligten Gruppierungen dann den Wald-und Wiesen-Kampf organi- sieren, sprechen sie sich im Vorfeld zu folgenden Themen ab:  Welcher geheime Austragungsort gewährleistet einen ungestörten Ablauf?  Wie viele Kämpfer treten pro Team an?  Sind Waffen erlaubt?  Welches Team trägt welche Farbe?  Dürfen am Boden liegende Gegner angegriffen werden?  Sind Tritte gegen den Kopf erlaubt?

Nach dem der Kampf stattgefunden hat, kommen die Anführer erneut zusammen, um den Verlauf der Auseinandersetzung zu besprechen. Für den Fall, dass Regelver- stöße stattgefunden haben, werden diese angesprochen und in der Folge eventuell kein Kampf mehr zwischen diesen Gruppen stattfinden. Bei einigen Matches dienen Alt-Hooligans als Schiedsrichter.324

322 Vgl. Claus 2017a S.129 323 Pilz 2012 S.205 324 Vgl. Claus 2017, S.82-84, vgl. dazu auch Serrao, M.F. Nov.2012

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Eine eigentliche Auseinandersetzung zwischen den beiden verabredeten Teams hat in den meisten Fällen einen festen Ablauf.325  Die gegnerischen Teams laufen in Formation aufeinander zu.  1. Reihe: große kräftige Kämpfer, welche die ersten Schläge abfangen sowie erwidern  2. Reihe: Hooligans mit außerordentlicher Technik  An den Flügeln: Schnelle Athleten und diejenigen, welche Platz für Tritte be- nötigen  Hintergrund: unerfahrene Kämpfer mit den Optionen der Zurückhaltung oder des Kampfes

Ziel einer derartigen Auseinandersetzung ist das Erleben des „ultimativen Kicks“.326 Buford beschrieb dieses Gefühl schon 1992: „Die Gewalt ist eines der stärksten Er- lebnisse und bereitet denen, die fähig sind, sich ihr hinzugeben, eine der stärksten Lustempfindungen.“327 Schon in den 1990er Jahren wurde sich mit dieser Frage be- schäftigt. Ein interviewter Hooligan gibt folgende Antwort auf diese Frage. „Der Kit- zel, der Nervenkitzel dabei, wenn du auf die anderen draufrennst – das gibt dir ´nen irren Kick! Zusammensein, das Machtgefühl, wenn du ´ne Gruppe bist. […]: wenn ich Macht ausüben kann, dann ist das irgendwie ein tolles Gefühl.“328

325 vgl. Claus 2017, S. 82-84 326 Vgl. Claus 2017a, S.116 327 Buford 1992, S.234 328 Gehrmann 1990, S.17

171 Auch für Schubert spielt die Machtausübung eine besondere Rolle. So schreibt er: „[…] – dieses Gefühl von Macht. Man hatte Respekt vor uns. Ehrfurcht. Hochach- tung.329 Für ihn war der Kampf besser als jegliche berauschende Wirkung von Dro- gen. Die Gewalt fand nicht mehr nur im Zusammenhang von Fußballspielen statt, sondern auch in Discotheken usw. – sie war zur Normalität geworden.330

Auch die persönliche Motivation spielt eine Rolle. Diese Personen setzen sich in Form von Gewalt auseinander, weil sie es zum Teil nicht gelernt haben andere Ge- fühle als Gewalt sowie Aggressionen zu zulassen.

4. Fankultur der Ultras In diesem Kapitel geht es um die Entstehung, die Organisation, die Werte und Nor- men und die Feindbilder der Ultra-Szene.

A) Entstehung der Ultra-Fankultur

Der Ursprung der Ultra-Fankultur ist in Italien zu finden. Dort entstand sie in den 1960er Jahren, während der Arbeiter und Studentenbewegung. Aus diesem Grund spielte die Politik zu diesem Zeitpunkt eine bedeutende Rolle und die Fankultur ist daher ideologisch unterlegt.

„Mit dem Begriff der ‘Ultras’ werden […] besonders leidenschaftliche, emotionale und engagierte Fans bezeichnet, die von der südländischen Kultur des Anfeuerns fasziniert sind und es sich zur Aufgabe gemacht haben, in deutschen Stadien orga- nisiert wieder für bessere Stimmung zu sorgen. Sie besitzen nur eine Identität – ihre Ultra-Identität – die sie sowohl innerhalb der Woche als auch am Wochenende aus- leben.“331

„»Ultra« bedeutet, seinen Verein bedingungslos zu lieben.“332 Die erste deutsche Ultragruppierung „Fortuna Eagles“ von Fortuna Köln gründete sich 1984.333

Die Weltmeisterschaft 1990 in Italien war dann aber ausschlaggebend dafür, dass sich die Ultra-Fankultur in deutschen Stadien etabliert hat. Die WM wurde im deut- schen Fernsehen übertragen und inspirierte die Fußballfans nachhaltig.334 Sie waren fasziniert von der italienischen zur Schau getragenen Begeisterung für Fußball und

329 Schubert 2011, S.29 330 vgl. Schubert 2011, S.45/S.58 331 Pilz, G.A. Sabine B. Klose, A. Schenzer … 2006, S.12 332 Gabler 2013, S.67 333 Vgl. Sommerey, M. 2010 S.61 334 Vgl. Gabler 2013 S.54

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versuchten diese auf die eigenen Stadien zu übertragen. Zuvor hatte es ein Abflauen der Stimmung bei den Spielen gegeben. Heute ist bei nahezu jedem Verein in den obersten deutschen Ligen mindestens eine Ultragruppierung zu finden.

B) Organisation der Ultras

Die Ultras sehen sich als Retter der Fankultur, da durch sie die Stimmung auf den Rängen im Stadion um ein Vielfaches verbessert wurde. Es ist möglich, dass insbe- sondere durch sie der Fußball in Deutschland ein Massenphänomen geworden ist. Sie unterstützen ihre Mannschaft über die komplette Dauer eines Spiels so lautstark wie nur möglich.335 Dabei gilt: „Die Organisation […] ist eine absolute Kernkompe- tenz der Ultras.“336 Vor allem bei ihren aufwendigen Choreografien ist sie von be- sonderer Bedeutung.

Die Gruppen selbst sind durch Hierarchie und Aufgabenteilung gekennzeichnet. In einigen Gruppen finden sogar Aufnahmerituale statt. Die Hierarchie in den Ultragruppierungen wird durch Pilz wie folgt angenommen: 337

335 Vgl. Kathöfer & Kotthaus 2013 S.56ff. 336 Duttler 2016, S.60 337 vgl. Pilz et al. 2006, S.72, vgl. dazu auch Kühl, O. 2009

173 C) Werte und Normen

Werte und Normen werden in einem Ultramanifest abgebildet, wobei nicht alle Gruppen dieses in Gänze anerkennen. Aber Werte wie Engagement und Gruppen- zusammenhalt sind bei den Ultras grundsätzlich und von besonderer Bedeutung.338

Die Vorbereitung sowie die Durchführung von Choreografien, welche dann an den Spieltagen präsentiert werden, erfordern einen enormen zeitlichen Aufwand. Aus diesem Grund wird von den Mitgliedern erwartet, dass z.B. andere private Interessen hintenangestellt werden. Es ist zudem üblich, nicht nur an Heimspieltagen anwesend zu sein, sondern möglichst auch an Auswärtsfahrten teilzunehmen.

Das „Ultra-Sein“ kann nach dem Autor Ruf als ein Vollzeitjob beschrieben werden. Viele Ultras opfern sogar ihren Urlaub, um zu Auswärtsspielen zu fahren.339 Dieses enorme Engagement führt dazu, dass viele Mitglieder außerhalb der Ultragruppie- rung kaum andere soziale Bindungen haben.340

Eine weitere Norm mit einem herausragenden Stellenwert ist die bedingungslose Unterstützung der eigenen Mannschaft. 341 Dabei geht es den Ultras vor allem um Tradition und zweitrangig um den sportlichen Erfolg.342 Trotzdem ist ihnen auch der Sieg des Vereins im Spiel wichtig. Dem einzelnen Spieler aber leihen sie nur ihre Zuneigung und Leidenschaft, weil er im Fußballgeschäft schnell austauschbar ist. Die Fußballer selbst müssen sich dagegen durch gute Leistungen und Einsatz bei den Ultras beweisen.343

Bei schlechten Leistungen der Mannschaft, wenn aus Sicht der Ultras die Spieler ohne Einsatz und Kampf agieren, werden die Spiele zum Teil boykottiert. Die Fans unterlassen hierbei unter anderem ihre Gesänge, wodurch weniger Stimmung im Stadion aufkommt.344 Das Bild der sich abwendenden Zuschauer auf der Tribüne ist wahrscheinlich nicht unbekannt. Generell wollen die Ultras durch ihre Gesänge und Choreografien die Spieler zu Höchstleistungen motivieren, aber sie wollen sich auch mit anderen Ultragruppen vergleichen.345

Ein „Heiligtum“ der Gruppen ist der Gruppenbanner, auch Zaunfahne genannt. Er wird bei jedem Spiel aufgehängt. Die Position, an welcher jener hängt, zeigt, welchen

338 vgl. Sommerey 2010, S.57 339 vgl. Ruf 2014, S.16 340 vgl. Ruf 2014, S.24 341 vgl. Duttler 2016, S.67 342 vgl. Gabler 2013, S.116 343 vgl. Gabler 2013, S.68 344 vgl. Gabler 2013, S.62 345 vgl. Gabler 2013, S.117

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Einfluss die jeweilige Gruppe in der Szene hat. Je zentraler das Banner platziert wer- den kann, desto einflussreicher ist die Gruppe. Vor gegnerischen Fans muss die Fahne mit allen Mitteln verteidigt werden. 346 Gegnerische/rivalisierende Gruppen versuchen sich gegenseitig ihre Banner, mit dem Zweck der Demütigung der ande- ren Gruppe, zu entwenden. Entwendete Zaunfahnen werden meist bei dem nächsten Aufeinandertreffen als eine Art Trophäe präsentiert. Die Norm vieler Ultragruppie- rungen besagt, dass sich die Gruppierung nach dem Verlust des Banners auflösen muss. Hierfür gibt es jedoch kaum Beispiele.

D) Feindbilder der Ultras

„Klare Feindbilder verstärken den Zusammenhalt nach innen.“347

Die Ultras haben einige davon. Zu ihnen zählen vor allem die Polizei, der „moderne Fußball“ sowie die Verbände FIFA, UEFA und DFB.

Der Polizei wird vor allem Willkür vorgeworfen. Oftmals entstehen durch vermeint- lich unverhältnismäßige und/oder intransparente Maßnahmen dieser Behörde Soli- darisierungseffekte. Ein weiterer großer Streitpunkt ist die Erteilung von Stadionver- boten. Auf die Empfehlung von Polizisten kann dieses nach der Aufnahme eines Strafverfahrens durch die Vereine ausgesprochen werden. Das BGH Urteil vom 30.10.2009 besagt, dass auch einer Gruppe ein bundesweites Stadionverbot auf die Dauer von bis zu fünf Jahren erteilt werden kann. 348 Derzeit findet zu dieser Maß- nahme eine öffentliche Diskussion statt.

Der „moderne Fußball“ wird aufgrund der zunehmenden Kommerzialisierung sowie Eventisierung von den Ultras abgelehnt. Dazu gehören aus ihrer Sicht unter anderem das „Bezahlfernsehen“, die vielen unterschiedlichen Wettbewerbe sowie das Aus- gliedern der Bundesliga in eine eigene Deutsche Fußballliga (DFL), um möglichst viel Geld zu generieren. Ein weiteres Ergebnis dieser Entwicklung ist die Spieltagszerstü- ckelung. Das bedeutet, dass nicht alle Spiele innerhalb der Ligen an einem Tag des Wochenendes stattfinden, sondern auf den Freitag und/oder Montag ausgedehnt werden. Gerade dieses Thema ist bei den Ultras sehr präsent, da sie für die Teil- nahme an Auswärtsspielen zunehmend mehr Urlaub in Anspruch nehmen müssen. Auch die Beteiligung von privaten Investoren wie zum Beispiel bei Bayer Leverkusen,

346 vgl. Gabler 2013, S.72 347 Ruf 2014, S.57 348 vgl. Gabler 2013, S.134 ff.; vgl. dazu auch von Krusynski 2016, S.142; vgl. dazu auch BGHGE V ZR 253/08; vgl. dazu auch DFB (01.01.2014)

175 der TSG Hoffenheim, beim VfL Wolfsburg und bei RB Leipzig ist ein Teilbereich, wel- cher eine große Ablehnung erfährt.349

Durch die Verbände wird darüber hinaus versucht, ähnlich wie in den USA z.B. beim Super Bowl, eine Show rund um das Sportereignis aufzubauen. Ein Beispiel hierfür ist das Pokalfinale 2017 Borussia Dortmund gegen Eintracht Frankfurt in Berlin. Hier trat die sehr erfolgreiche Schlagersängerin Helene Fischer in der Halbzeit auf und wurde von einem großen Teil der Zuschauer im Stadion ausgepfiffen. Die Verbände verknüpften damit möglicherweise die Erwartung, mehr Zuschauer in die Stadien oder vor die Bildschirme zu locken.

Ferner monieren die Ultras die steigenden Ticketpreise und den Versuch der Vereine Stehplätze abzuschaffen, um mehr zahlungskräftige Zuschauer in den Stadien be- grüßen zu können. Bei Spielen auf europäischer Ebene sind derzeit zum Beispiel nur noch Sitzplätze gestattet. Diese Entwicklungen können alle unter dem Begriff der Eventisierung subsummiert werden.350

Hier wird ein Widerspruch erkennbar. Zum einen haben die Ultras möglicherweise selbst durch die im Stadion aufkommende Stimmung und die beeindruckenden Choreografien zur Kommerzialisierung des Fußballs in Deutschland beigetragen. Zum anderen wird diese durch sie abgelehnt.351

Durch die Medien wird den Ultras in den meisten Fällen das Attribut der Gewalttä- tigkeit zugeschrieben. Gabler bezieht sich hier auf den Effekt des Labeling Approach. Durch die Stigmatisierung werden „friedliche“ Ultras möglicherweise zunehmend gewalttätig. Das heißt, weil sie durch die Öffentlichkeit ohnehin als gewalttätig wahr- genommen werden, verhalten sie sich entsprechend den Erwartungen.352 Die Mehr- heit der Ultragruppen spricht sich jedoch klar gegen Gewalt aus.353

„Die Gewalt von Ultras […] ist […] reaktiv und instrumentell. Reaktive Gewalt auf staatliche Interventionen, instrumentelle Gewalt, als ‘Mittel zum Zweck’ zur Verteidi- gung des ‘Reviers’.“354 Im Zusammenhang mit der Verteidigung der eigenen Fan- utensilien befürworten die Ultras genauso die Anwendung von Gewalt wie gegen Polizisten. Sie fühlen sich durch die Präsenz und Handlungen der Polizei provoziert. Zudem würden sie aus ihrer Wahrnehmung heraus lediglich auf die Aktion der Poli-

349 vgl. Gabler 2013, S.84 ff., S.95 ff.; vgl. dazu auch Duttler 2016, S.71 350 vgl. Gabler 2013 S.90, S.95 ff. 351 vgl. Gabler 2013, S.120 352 vgl. Gabler 2013, S.99 ff. 353 vgl. Pilz et. al. 2006, S.127 ff. 354 Pilz et al. 2006, S.14

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zei reagieren. Der Einsatz von verbotener Pyrotechnik wird nicht als Form der Ge- waltanwendung gesehen. Für die Ultras gehört dies zur Inszenierung und zu ihrer Fankultur. Auch hier findet scheinbar ein Umdenken der Verantwortlichen statt. 2020 durfte vor einem Bundesligaspiel Pyrotechnik offiziell abgebrannt werden.

5. Subkulturtheorie nach Cohen und deren Anwendung

Nun soll der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei Hooligans und Ultras um Subkulturen im wissenschaftlichen Sinne handelt.

Schwendter definiert eine Subkultur als einen Teil der Gesellschaft, welcher sich in seinen Normen, Bräuchen, Werten, Bedürfnissen und Symbolen von denen der do- minierenden Kultur unterscheidet.355 Um den Prozess der Abgrenzung besser abbil- den zu können, wird die Subkulturtheorie nach Cohen in den Fokus gerückt. Die nachfolgende Abbildung zeigt zunächst den theoretischen Ansatz als auch den Transfer bezüglich des Fußballs und der hier im Detail vorgestellten Fangruppierun- gen.

355 vgl. Brenner, D. 2009 S.18

177

Ausgangssituation der Subkulturtheorie nach Cohen sind Bemühungen vorhandene Anpassungsprobleme, an die Werte und Normen der Gesellschaft, zu lösen. Diese Anpassungsprobleme, wie zum Beispiel Rollenzuteilung, Sozialisation, Macht und Kommunikation, führen zu einem Spannungszustand. Nach Cohen existieren drei Möglichkeiten diesen Spannungszustand zu überwinden.356 Die erste Möglichkeit ist die der legalen Handlung. Durch alternatives Handeln wird versucht, sich an Normen und Werten der Gesellschaft anzupassen. Dabei kann nicht jede Situation für die Person zufriedenstellend gelöst werden. Aus diesem Grund bedarf es bei ihr einer gewissen Frustrationstoleranz.357

356 Vgl. Lamnek, S. (2007) S.269 ff., vgl. dazu auch Cohen 1957/2016 S.269ff. 357 Vgl. Lamnek S.158

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Der Wechsel der Bezugsgruppe wird als zweite Option zur Beseitigung der Anpas- sungsprobleme beschrieben. Der Einzelne wechselt in eine Bezugsgruppe mit Mit- gliedern, welche ähnliche Probleme haben sich anzupassen.

Als dritte Möglichkeit, den Spannungszustand zu überwinden, wird der Zusammen- schluss in eine eigene Bezugsgruppen zugeschrieben.

Die Hooliganbewegung entstand, wie zuvor ausführlich beschrieben, in den 1960er Jahren in Großbritannien. Zu dieser Zeit gab es in dem Vereinigten Königreich einen Wirtschaftsaufschwung, welcher es auch jungen Männern aus wirtschaftlich schwa- chen Gegenden ermöglichte, Fußballstadien zu besuchen. Die jungen Briten waren zum Teil gewaltaffin, identifizierten sich immer stärker mit dem Verein und wollten sich durch ihre Verhaltensweisen von ihrer Herkunft abgrenzen. Diese Anpassungs- probleme erzeugten einen Spannungszustand. Es war ihnen nicht möglich, sich an die Normen und Werte der Gesellschaft zu halten. Die Problemlösungsmöglichkeit der „Legalen Handlung“ und der Wechsel der Bezugsgruppe war keine Option, um den Spannungszustand überwinden zu können. Durch die Gründung der Crews und Firms – also durch die Zusammenschlüsse entstand demzufolge eine Subkultur – die Subkultur der Hooligans.

Die Entstehungsbedingungen der Ultrabewegung unterscheiden sich von denen der Hooliganbewegung. In den 1960/70er Jahren herrschte in Italien eine schlechte Wirtschaftslage. Es entstand vor diesem Hintergrund die Arbeiter- und Studenten- bewegung. Ungleiche Bildungschancen, die strikte Differenzierung zwischen Arm und Reich sowie schlechte Arbeitsbedingungen führten zu einem Spannungszu- stand. Ein Teil der Bewegung konnte diesen weder durch die „Legale Handlung“ noch durch den Wechsel der Bezugsgruppe überwinden. Sie fanden sich zum Teil in den Fußballstadien zusammen und bildeten Gruppen. Sie übten in den Stadien Pro- test an der politischen Situation aus. In diesem Rahmen entstand die Subkultur der Ultras.

Als Fazit gilt, dass nach Cohen beide Fanszenen einer Subkultur zuzurechnen sind.

6. Motivation der Subkulturen

Das letzte Kapitel greift auf die Experteninterviews zurück und befasst sich explizit mit der Motivation, sich der Hooligan und der Ultraszene anzuschließen, Gewalt aus- zuüben und nimmt einen Vergleich beider Gruppen vor.

179 A) Motivation der Hooligans

Zunächst wurden die Interviewpartner befragt, worin sie die Gründe sehen, dass sich Personen einer Hooligangruppierung anschließen. Es wurde beschrieben, dass diese Personen in der Regel eine Gewaltaffinität und die Bereitschaft der Ausübung besit- zen würden. Sie würden sich von anderen genau dadurch abgrenzen wollen, sich jedoch auch vollkommen mit ihrem Verein identifizieren. Im Fußballkontext würden diese Personen vor allem Abenteuer erleben wollen. Zudem sei die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit gemeinsamen Zielen und Interessen ein verfolgtes Ziel. Durch die Zugehörigkeit könne man unter anderem Stärke zeigen.

Bei der Frage, was die Szeneangehörigen unter dem Begriff der Gewalt verstehen, wurde deutlich, dass die Gruppen ausschließlich körperliche Gewalt als solche anse- hen. Die Hooligans sind hierbei besonders auf die Auseinandersetzungen mit ande- ren Gruppierungen fokussiert. Dabei ist der Zeit- und Reiseaufwand enorm, welchen sie für die sogenannten „Matches“ auf sich nehmen.

Aus Sicht der Interviewpartner sei auch die Emotionalität, welche mit dem Fußball verbunden ist, das Ventil für die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Auffallend ist, dass der Kampfsport bei den Hooligans einen immer höheren Stellenwert bekommt. Weitere Einflussfaktoren bezüglich der Gewaltanwendung entstünden durch die Ein- flussnahme der Polizei und den Verein, durch den Konsum von Alkohol und Drogen sowie der Einfluss aus anderen Ländern und durch die zunehmende Vernetzung der Gruppen.

B) Zur Motivation der Ultras

Auch bei den Ultras wurde zunächst erfragt, aus welchen Gründen man Teil einer Ultragruppierung wird. Beide interviewten Ultras sind durch ihre Elterngeneration zum Fußball gekommen. Der eine sei stets von den Aktivitäten (Fahnen, Gesängen) der Ultras während eines Fußballspiels fasziniert. Je älter er wurde, desto öfter habe er sich dann mit in den Fanblock gestellt. Mit den Jahren sei die Anziehungskraft der Szene immer größer geworden, sodass er gezielt den Kontakt zu ihr gesucht habe. Bei dem anderen sei es die Gruppe als solche gewesen, welche ihn zum Ultrasein gebracht habe. Auch die Tatsache, dass gleiche Ansichten und Interessen in Bezug auf den Fußball und insbesondere auf den Verein aus einer Gemeinschaft heraus vertreten würden, spiele bei der Motivation der Ultra-Gruppenzugehörigkeit eine Rolle. Beiden sei jedoch im Verlauf der Zeit bewusst geworden, wie viel Zeit und Engagement hinter den Aktivitäten der Ultras stecke.

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Als Gewalt definieren die Ultras ausschließlich physische Gewalt, auch unter dem Einsatz von Gegenständen. Jedoch spiele Gewalt in beiden hier befragten Gruppie- rungen keine nennenswerte Rolle. Sie würde eher als allerletztes Mittel angesehen werden. Der Einsatz von Pyrotechnik wird auch von den Interviewten nicht darunter subsummiert. Zwischen den Szenen existiere nach ihren Aussagen ein Ehrenkodex, welcher besagt, dass keine Böller, Raketen und auch Leuchtpistolen in andere Blöcke geschossen werden. Derjenige, welche die Pyrotechnik zündet, solle im Vorfeld kei- nen Alkohol konsumieren. Er halte sie hoch, lasse sie kontrolliert abbrennen und lege die abgebrannte Pyrotechnik auf dem Boden ab. Durch dieses Verhalten sei aus ihrer Sicht die Gefahr, welche durch die Pyrotechnik ausgehe, so gering wie möglich gehalten. Ihnen sei es wichtig, dass keine Vermischung von Gewalt und Pyrotechnik vorgenommen wird.

Provokationen anderer seien aus Sicht der Ultras eher die Ursache für gewalttätige Auseinandersetzungen. Diese gehen ihrer Meinung nach von den gegnerischen Fans als auch von der Polizei aus. Oftmals würden sie bereits das bloße Auftreten der Polizei als Provokation empfinden. Ultras fühlen sich durch die zum Teil massive Prä- senz der Polizei unter Generalverdacht gestellt, dem sie sich erwehren wollen. Einige Polizisten wären zudem selbst auf Gewalt aus, daher käme es zu gewalttätigen Aus- einandersetzungen mit der Polizei. Als weitere Einflussfaktoren bezüglich der Ge- waltanwendung wird Alkohol benannt.

Im Detail wird die Motivlage der konkreten Gewaltanwendung durch die beiden Ult- ras unterschiedlich beschrieben. Für den einen ist es die Verteidigung. Bei Überfällen durch gegnerische Fans verteidige man sich einfach nur selbst. Ferner wäre das ag- gressive, provokative Auftreten von Ordnungskräften im Stadion ein Grund für die Anwendung von Gewalt. Als einen weiteren Punkt für Eskalation benennt er Fehlpla- nungen, bspw. das Fehlleiten von Bussen oder die Überfüllung von Shuttlebussen zum Stadion, welche dann durch die Anreicherungen von Frustrationen zu Aggres- sion führe.

Der andere Ultra stellt dar, dass die meisten Ultras überhaupt nicht auf Gewalt aus seien. Sie entstehe ausschließlich der Eskalation der Situation und gegen die Gruppe heraus. Nur für den Fall, dass ein Mitglied der Gruppe durch gegnerische Fans, die Polizei oder Ordnungskräfte angegriffen wird, muss es bedingungslos unterstützt werden.

Für beide Ultras ist es wichtig zu äußern, dass die Darstellung in der Öffentlichkeit nicht der Wirklichkeit entspricht. Der größte Teil der Ultras sei nicht auf Gewalt und Hass aus. Sie wollen ihren Verein, welchen sie bedingungslos lieben, bestmöglich

181 unterstützen. Weiterhin wäre ihnen ein Anliegen, dass der normale Fan oder auch die Öffentlichkeit sich ein genaues Bild von der Fankultur machen. Denn alle im Sta- dion profitieren vom Engagement der Ultras. Durch ihre Choreografien und die Ge- sänge, welche Stimmung im Stadion aufkommen lassen, würde der Stadionbesuch für den normalen Fan zum einzigartigen Erlebnis. Der Support stehe für Ultras an erster Stelle, nicht die Gewalt.

C) Zusammenfassender Vergleich der Subkulturen

Die Motivation, sich einer Hooligan- oder Ultragruppierung anzuschließen ist na- hezu identisch. Sie begründet sich hauptsächlich darin, einer Gruppe zugehörig zu sein. Die gleichen Interessen, Meinungen und Ansichten schaffen Austausch und Gehör. Regeln sowie Kodexe, mit welchen sich die Beteiligten identifizieren können, geben Sicherheit. Für die Hooligans sowie Ultras ist die dazugehörige Gruppe wie eine Familie, in der man zusammenhält. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Liebe zum Verein. Auch wenn einige Hooligangruppierungen den direkten Bezug zum Fußball verloren haben, scheint einem großen Teil dieser immer noch sehr wichtig. Der entscheidende Unterschied zwischen den Gruppierungen besteht in der Gewalt- affinität. Bei Hooligans liegt der Fokus darauf, diese ausleben zu können. Sie suchen sich Gleichgesinnte, die auch auf der Suche nach „Abenteuern“ sind. Obwohl der eigentliche und initiierte Kampf in der Regel nur zwei bis drei Minuten dauert, ist es für sie entscheidend, dass sie durch den Sieg, ihre Stärke definieren sowie Macht ausüben. Die Motivation liegt in dem Erleben von körperlichen Auseinandersetzun- gen. Während die Ultras sich vorrangig zusammenfinden, um die Stimmung im Sta- dion mitzugestalten. Sie demonstrieren Macht indem ihre Choreografie besser war, als die der gegnerischen Fans. Für die interviewten Ultras liegt die Motivation der Gewaltanwendung in der Eskalation der Situation, nicht in ihrem Selbstzweck. In an- deren Ultragruppierungen kann die Motivation unterschiedlich sein. Die Gewalt ist ausschließlich Mittel zur Erreichung des gesetzten Ziels. Die Definition von Gewalt ist wiederum ähnlich. Beide Gruppierungen subsummie- ren darunter ausschließlich die körperliche und insbesondere die Auseinanderset- zung zweier gegnerischer Gruppen. Bei den Hooligans spielt im Gegensatz zu den Ultras das Thema der Polizeigewalt keine bedeutende Rolle. Sie sehen die Polizei eher als einen besonderen Gegner, mit dem es sich zu messen lohnt. Die Ultras füh- len sich dagegen unter Generalverdacht und provoziert durch die Präsenz vieler Po- lizisten bei Spielen. Wahrscheinlich liegt dies in der Politisierung dieser Fanszene. Der Fahnenraub, der durchaus mit Auseinandersetzung verbunden ist, und der Ein- satz der Pyrotechnik werden von den Ultras nicht als Gewalt angesehen, sondern als Recht bzw. unumstößlicher Teil der Kultur. Bei den Hooligans spielen diese Aspekte dagegen keine Rolle.

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7. Fazit

Sich als bekennender Fußballfan und inzwischen auch „fertige“ Polizistin so intensiv mit der Historie und Gegenwart der hier vorgestellten Szenen zu beschäftigen, war gewinnbringend. Es ermöglicht ein differenziertes Bild zu den Fangruppierungen und kann damit hoffentlich ein deeskalierendes und zielgerichtetes Agieren im Rah- men der polizeilichen Tätigkeit fördern. Beispielhaft sei eine Anregung aufgeführt. So ist es üblich, dass den Gruppierungen vom Verein bspw. ein bestimmter Rahmen vorgegeben wird, in welchem sie sich bewegen können. Je nach dem gezeigten Ver- halten rund um das Spiel kann dieser erweitert oder wieder reduziert werden. So bekommt der Verein einen Einfluss auf das Verhalten der Fans. Für die Polizei wäre es vielleicht auch möglich, sich ein tiefgreifendes Verständnis zu den Fangruppen zu verschaffen und z.B. in Gremienarbeit gemeinsame Regeln zu erarbeiten. Die Sicher- heit für alle betroffenen Personen rund um das Fußballspiel zu gewährleiten, muss dabei jedoch die Grundlage für alle weiteren Maßnahmen bilden.

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