1 Einführung In den letzten sechs Monaten haben sich die Teilnehmer/innen der Maßnahme „Frauenspuren“auf Spurensuche gemacht. Das sollte kein leichtes Unterfangen werden, das war von Anfang an vollkommen klar: denn die Teilnehmer/innen waren keine Autoren, Journalisten, gelernte Rechercheure, professionelle Texter oder Fotografen. Umso mehr erfreut es, diese Broschüre in den Händen zu halten. Die Projektleiterin Christiane Oehlmann unterstützte die Teilnehmer/innen, leitete sie an, lobte und kritisierte sie, denn eine Broschüre zu schreiben, Texte zu verfassen oder in Archiven zu recherchieren war zuvor die Sache der meisten Teilnehmenden nicht. Aber mit viel Mühe und Geduld gelang es. Es ist keine wissenschaftliche Arbeit, und YOPIC e.V. hat nach bestem Wissen recherchiert und dokumentiert, eventuell auftretende kleine Fehler bitten wir jetzt schon zu entschuldigen. Eine echte Pionierarbeit ist die Übersicht der einzelnen Schulfusionen von Schulen in Steglitz-Zehlendorf, die es in dieser vorliegenden Form bisher nicht gibt. Dank sei den fleißigen Teilnehmenden an dieser Maßnahme. Frauen in Steglitz-Zehlendorf, deren Leben von sozialer, kultureller oder politischer Bedeutung war, sind zahlreich vorhanden, mehr als vermutet. Die männlich geprägte Geschichtsschreibung vergaß nur leider häufig, ihre Bedeutung für die Nachwelt festzuhalten. Oft war es ein Kampf der Frauen, ihre Ziele, ihre Vorhaben durchzusetzen. Geschenkt wurde ihnen nichts. Die Broschüre will nicht nur einzelne Frauenporträts skizzieren, sondern sie gibt auch jeweils Informationen über den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext: Die Rolle der Frau in Bildung und Wissenschaft, wie und wo entwickelte sich das Engagement in der Sozialarbeit, wann und wie konnten Frauen mit ihren Talenten und Künsten ans Licht der Öffentlichkeit treten und wie verhielten sich Frauen in der NS-Zeit. Einzelne Frauenporträts sollen hier stellvertretend für die vielen Schicksale stehen. Ein ganz großer Dank gilt dem Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf und der Frauenbeauftragten, die überhaupt den Druck dieser Broschüre realisieren konnten. Denn es sind mehr Porträts geworden, als gedacht, es ist mehr geleistet worden als zu vermuten war. Die Ergebnisse sollen deshalb auch ihre Würdigung im Druck und in der Verbreitung finden. Erdacht war dieses Projekt zusammen mit der Frauenbeauftragten des Bezirkes Hildegard Josten, der wir hier für ihren warmherzigen Zuspruch zum Gelingen danken. Die Umsetzung unseres Vorhabens hatte viele Unterstützer/innen, die namentlich in dieser Broschüre einzeln aufgeführt sind. Für die großzügige Hilfe beim Zustandekommen dieses gemeinnützigen Projektes danken wir allen aufs Herzlichste. YOPIC e.V. dankt herzlich dem Jobcenter Steglitz-Zehlendorf, das YOPIC e.V. das Vertrauen in das Gelingen dieses anspruchsvollen Projektes geschenkt und die Maßnahme gefördert hat. Sabine Engel Bereichsleiterin YOPIC e.V.

2 Vorwort der Frauenbeauftragten Frauen haben Geschichte genau so geprägt, wie Männer, nur unter einer anderen Perspektive und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Das hatte einen Grund: Frauen war lange Jahre der Zugang zu Bildung, Wissenschaft und Politik verwehrt. Viele von ihnen haben sich dessen ungeachtet nicht aufhalten lassen und sind trotz vieler Hindernisse und erheblicher Schwierigkeiten mutig und selbstbewusst ihren Weg gegangen. Sie waren Pionierinnen und Vorbilder und haben den Weg für Frauen bis heute geebnet. Die offizielle Geschichtsschreibung ist unverändert männerdominiert. Das zeigt sich auch in unserem Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Straßen, Plätze und Gedenktafeln werden bzw. wurden überwiegend nach mehr oder weniger bekannten Männern benannt. Dabei gibt es ebenso viele Frauen, die jedoch oft auf den ersten Blick nicht so ohne weiteres erkennbar sind. In einer Maßnahme, die durch das Jobcenter Steglitz-Zehlendorf gefördert wurde, haben sich die Teilnehmenden auf die Suche begeben und sind fündig geworden. Das Wirken von Frauen in der Geschichte des Bezirks sichtbar zu machen und sie zu würdigen, war das Anliegen dieses Projektes. Das Ergebnis ist die vorliegende Broschüre „Frauenspuren – Porträts fast vergessener Frauen in Steglitz-Zehlendorf“. Bei einem persönlichen Gespräch mit der Projektgruppe habe ich erlebt, mit wie viel Interesse und Neugier sie recherchiert und mir „ihre“ Frauen vorgestellt haben. Wissenschaftlerin, Seiltänzerin, Lehrerin, Künstlerin, Politikerin – die Vielfalt der historischen Frauenleben, die hier vorgestellt werden, ist beeindruckend. Ich möchte mich ganz herzlich bei allen Mitwirkenden für dieses Engagement bedanken und für das gute Ergebnis. Sie haben mit dazu beigetragen, den traditionell männlich geprägten Blick in der Historie zu relativieren und die ganze Geschichte zu würdigen. Und ich hoffe sehr, dass dieses Projekt an anderer Stelle eine Fortsetzung findet, denn es gibt noch viele Frauenleben die darauf warten, entdeckt und gewürdigt zu werden.

Hildegard Josten Frauenbeauftragte Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf von

3 Inhaltsverzeichnis Seite Seite Einführung 2 Künstlerinnen und Lebens-Künstlerinnen Vorwort der Frauenbeauftragten 3 Frauen in der Kunst im Wandel des 19. / 20. Jahrhunderts 29 Frauenbewegung und Emanzipation 5 Lizzie Hosaeus 30 Marie Louise Becker 6 Johanna Margarete Sultan 32 Ingeborg Wilutzky 34 Bildung und Wissenschaft Elisabeth Wurster 35 Frauenbildung im 19. / 20. Jahrhundert 8 Maria Spelter 36 Zeittafel der Frauenbildung 10 Martha Rinow 37 Clara Immerwahr 11 Wilma von Düring 13 NS-Zeit und Widerstand Karen Horney 15 Kirchlicher Widerstand und Verfolgte des NS-Regimes 39 Adelheid Krahmer 17 Helene Jacobs 40 Eleonore Lemp 19 Margarete Meusel 42 Maria Tancke 21 Gertrud Staewen 43 Entwicklung der Mädchenschulen in Groß- 22 Elisabeth Schmitz 44 Lichterfelde Ruth Agnes Simon 46 Martha Liebermann 47 Sozialarbeit Weibliche Sozialarbeit im 19. / 20. Jahrhundert 24 Danksagung 49 Elsbeth von Keudell / Hedwig von Rittberg 25 Bildnachweise 50 Leonore Heinemann 27 Impressum

4 Frauenbewegung und Emanzipation Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben schuf die Voraussetzung für Frauen, sich über Bildung andere Welten zu erschließen und ihre herkömmliche Rolle infrage zustellen. Wegweisend war zu Beginn des 19. Jahrhunderts Luise Otto-Peters. Mit der Gründung des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins" setzten sich ihre Mitstreiterinnen für die Bildung von Frauen ein und gegen alles, was ihrer Entfaltung entgegenstand. 1866 wurde der „Lette-Verein" zur Vermittlung weiblicher Arbeit gegründet und in den siebziger und achtziger Jahren schlossen sich Frauen in 2500 Vereinen zusammen und bildeten im „Bund deutscher Frauenvereine" einen Dachverband mit beinahe einer halben Million Mitglieder. Aber Ehe und Mutterschaft blieben selbst für die Vorreiterinnen der Emanzipationsbewegung die „natürliche" Bestimmung der Frau und waren der Berufstätigkeit unterzuordnen, zumindest im mehrheitlich bürgerlichen Lager des Bundes. Ökonomische Unabhängigkeit und politische Einflussnahme galten als Hauptanliegen der proletarischen Frauenbewegung, womit die Ende des 19. Jahrhunderts gebildeten Arbeiterinnenvereine mit ihren Forderungen eher an den Herrschaftsverhältnissen rüttelten. 1891 nahmen die Sozialdemokraten das Frauenwahlrecht als Ziel in das Parteiprogramm auf, offizielle Parteimitgliedschaft war Frauen allerdings bis 1908 aufgrund des bestehenden Vereinsrechts verschlossen. Nach jahrzehntelangem Kampf um staatsbürgerliche Gleichstellung wird am 12. November 1918 das Frauenwahlrecht in Deutschland gesetzlich verankert. 82 Prozent der wahlberechtigten Frauen geben im Januar 1919 ihre Stimme ab und 37 weibliche Abgeordnete ziehen ins Parlament ein. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die Frauen gegen den Paragrafen 218 und für das Recht auf den eigenen Körper auf die Straße. Sexualreformen und Pazifismus waren genauso Themen wie eine sichtbar zunehmende Eigenständigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen. Verheiratete Frauen führten ein angeseheneres Leben als Ledige, aber der Mann entschied, ob und wieweit die Frau sich bilden oder berufstätig sein durfte, wobei ein gewisser Bildungsgrad auch positive Auswirkungen auf den beruflichen und öffentlichen Stand des Mannes haben konnte. Das Frauenbild in der NS-Zeit war von einer rückständigen Weltanschauung geprägt und betonte wieder die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau. Die Frauenvereine wurden gleichgeschaltet und dem Bund Deutscher Mädel, der NS-Frauenschaft oder dem Frauenwerk eingegliedert. Ein Drittel der Frauen waren in den Dreißigerjahren so in der NS-Gesellschaft integriert. Insofern sie den Idealen der Bewegung folgten, hatten sie eine neue Wichtigkeit und gesellschaftliche Aufwertung erlangt und wurden geächtet, wenn sie sich davon ausschlossen. Wenige gingen den mutigen Weg, sich dem Widerstand anzuschließen. Während die DDR und die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg die Frau per Gesetz dem Manne gleichstellten, legte der sozialistische Staat großen Wert auf ihre Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger Bereitstellung von Kindergartenplätzen. Wollte eine Frau im Westen arbeiten, durfte sie das bis 1977 nicht ohne Einwilligung ihres Ehemanns, und bis 1958 konnte der Mann den Anstellungsvertrag der Frau ohne deren Zustimmung fristlos kündigen. Erst nach 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen. Vor diesem Hintergrund verdienen die hier Porträtierten besonderen Respekt, da sie in jedem Fall gegen gesellschaftliche Konventionen agieren mussten, sei es sozial, politisch oder künstlerisch.

5 Marie Luise Becker 1871 – 1960

Autorin, Frauenrechtlerin, Gründerin des „Bundes der Wanderschwestern“

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als Zugang zu höheren Schulen, und erst recht zu Universitäten, für Frauen alles andere als selbstverständlich war, studierte Marie Luise Becker Philosophie und Archäologie in Berlin. Danach wurde sie in die Meisterklasse der Berliner Kunstgewerbeschule aufgenommen. Sie wurde am 28. Dezember 1871 in Eberswalde geboren und ging, da ihre Eltern früh starben, als Jugendliche in das Haus ihres Onkels, wo sie bis zu ihrem Studium lebte. Sie arbeitete als Publizistin für verschiedene deutsche Zeitschriften und Tageszeitungen, war Redakteurin der „Illustrierten Frauenzeitung“ und Autorin für den Verlag Velhagen & Klasing. Außerdem verfasste sie erfolgreich Gedichtbände und Romane. Eine Leidenschaft von ihr war das Reisen: Sie unternahm zahlreiche Recherchereisen im In- und Ausland zum Thema Kunst und Kunstgeschichte. Bereits 1899 war sie so erfolgreich, dass sie der damalige Schriftstellerverband als Delegierte zum Internationalen Pressekongress nach Rom entsandte. Zeitweilig lebte Marie Luise Becker in Paris, zusammen mit dem Dichter und Philosophen Wolfgang Kirchbach. Aus ihrer literarischen Zusammenarbeit wurde bald eine Liebesbeziehung, die schließlich 1904 zur Eheschließung führte. Zurückgekehrt nach Berlin erwarben die beiden in der Lichterfelder Steinäckerstraße 32 die Villa eines Kaufmannes. Das gemeinsame Heim, von seiner Besitzerin auf den Namen Kirchbach-Haus getauft, wurde ein gastlicher Treffpunkt, unter anderem für die Mitglieder der von ihrem Mann und Karl Fischer mitbegründeten Jugendbewegung „Der Wandervogel“. Als Marie Luise ihn im Dezember 1904 bei einer Versammlung des „Wandervogel“ vertreten musste, forderte sie die anwesenden Schwestern der Teilnehmer auf, doch ebenfalls Fahrten zu unternehmen. Auch in Aufsätzen plädierte sie gegen erbitterte Widerstände der Mitglieder des gerade neu gegründeten „Wandervogel“ für das Mädchenwandern. Mit viel Engagement gründete und leitete sie schließlich 1905 den ersten deutschen Mädchenwanderbund. Obwohl ihnen „verbengeln und verwildern“ (Hans Breuer, zitiert nach G. Köhler) prophezeit worden war, ergriffen Steglitzer Frauen und Mädchen begeistert diese neue Möglichkeit der Betätigung. Nach dem frühen Tod Wolfgang Kirchbachs bereits im zweiten Jahr ihrer Ehe verbrachte Marie Luise Becker Jahre in Paris und Ungarn. Erst elf Jahre später ging sie eine neue Ehe mit dem Schuldirektor Paul Strube ein, dem sie in verschiedene deutsche Städte folgte. Nach siebzehn Jahren trennte sich das Paar und Marie Luise Becker kehrte 1934 endgültig nach Berlin zurück. Sie gehörte zur Gründerinnengeneration der Frauenorganisation „Deutscher Lyzeum-Club“, einem Forum für Künstlerinnen und

6 Wissenschaftlerinnen. In Ihren Schriften setzte sie sich für weibliche Emanzipation ein, die sie nicht zuletzt selbst lebte. Allerdings vertrat sie auch deutsch-nationale und völkisch-rassistische Positionen. Folgerichtig gehörte sie der Reichsschrifttums-kammer an und schrieb und veröffentlichte auch während der Zeit des Nationalsozialismus. Allerdings schreckte sie auch nicht vor einem Konflikt mit der Reichsfrauenführung um Bestände der Vereinsbibliothek des „Deutschen Lyzeum-Clubs“ zurück. Nach dem Krieg beteiligte sie sich an der Wiederherstellung dieser bis heute bestehenden Organisation. Zu dieser Zeit war sie bereits so schwer erkrankt, dass sie kaum noch Werke verfasste. Ihre letzten Jahre lebte sie in einem Altersheim in Schlachtensee, wo sie 1960 starb. Sie wurde auf dem Friedhof Lichterfelde als „Marie Luise Strube“ im Grab neben Wolfgang Kirchbach beigesetzt. Das Grabmal trägt eine Büste ihres früheren Mannes, der Stein zeigt aber auch ihren Namen. Paul Strube und Freunde würdigten sie in ihrer Todesanzeige als „unerschrockene Vorkämpferin für das Naturrecht der Frau auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung“.

Quellen: www.fembio.de: Marie Luise Becker-Kirchbach lle, Gerhard; Köhler, Günter (Hrsg.): Der Wandervogel. Es begann in Steglitz, Stapp Verlag 1987 Weißler, Sabine (Hrsg.): Fokus Wandervogel, Jonas Verlag 2001

7 Frauenbildung im 19. und 20. Jahrhundert „Er liest in der Kölnischen Zeitung und teilt ihr das Nötige mit.“ Dieses Zitat von Wilhelm Busch umreißt das Bild der Ehe im 19. Jahr- hundert – und die Stellung der Frau darin. Eltern bereiteten die Töchter auf das Leben einer Dame im Großbürgerstil vor, freigestellt von aller Hausarbeit, erzogen für äußere repräsentative Zwecke, gebildet nur in dem Maße, wie es nötig war, damit „der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt" (1) werde. Während die Gesellschaft allgemein gekennzeichnet war durch Obrigkeitshörigkeit und eine Vielzahl von Regularien (so gab es beispielsweise ein Kinderwagenschiebeverbot auf bestimmten Straßen), war das Ende des Jahrhunderts zugleich bestimmt von ungeheuerer Aufbruchstimmung und einer Fülle von Umbrüchen und Neuerungen. Der Beginn der Industrialisierung verändert Städte und ganze Landschaften, Menschen strömen vom Land in die Großstädte, das Zeitalter der Großbanken und Großindustrien beginnt. Die außerordentlich schnelle Kapitalanhäufung führt zur Bildung neureicher Schichten: Der Mittelstand, die Bourgeoisie, das Bildungsbürgertum entstehen. Diese Dynamik bleibt auch auf das Schulwesen nicht ohne Wirkung. Neben der strengen autoritären Drillschule, die die – männlichen – Schüler auf die Ziele Arbeit und Pflichterfüllung, Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Reinlichkeit, Tugend und Vaterlandsliebe einschwört, entwickeln sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts diverse pädagogische Reformbewegungen. Diese Aufbruchstimmung erreicht auch die Frauen und Mädchen des Bürgertums. Die bürgerliche Frauenbewegung kämpft in jahrzehntelangem Ringen gegen alle einschränkenden Regeln und Gesetze, die ungleiche Bildungschancen von Frauen und Mädchen und somit kaum bestehende Möglichkeiten der Berufstätigkeit zur Folge haben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Mädchen nicht zum Besuch eines Gymnasiums zugelassen und auch nicht zum Universitätsstudium. Bildungsinteressierte Mädchen waren zusätzlich zum Unterricht in Mädchenpensionaten oder Höheren Töchterschulen auf autodidaktische Studien angewiesen. Blieben sie unverheiratet, arbeiteten sie meist als Gouvernanten, Klavierlehrerinnen, Gesellschafterinnen und Lehrerinnen. Eine andere Berufstätigkeit galt als nicht standesgemäß für eine junge Dame aus gutem, aber nicht vermögendem Haus. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann nun zunehmend die Ausbildung von Bürgerstöchtern zu Lehrerinnen, wo sie allerdings auch wieder auf die Vorherrschaft der Männer trafen. Die Leitung der öffentlichen Schulen lag immer, die der privaten meist in den Händen eines Direktors. Da auch die Bezahlung schlechter war, als die der männlichen Kollegen, suchten manche einen individuellen Ausweg aus diesen Umständen in der Gründung einer eigenen Privatschule, in der sie auch eigene pädagogische Vorstellungen verwirklichen konnten (s. Tancke, Lemp, Krahmer). Dieses höchstmögliche Maß an Unabhängigkeit, das für junge Mädchen erreichbar war, fand allerdings bei ihrer Eheschließung sofort ein Ende, denn die Berufstätigkeit der Lehrerin war an die Ehelosigkeit gebunden. Heiratete sie, musste sie von Amts wegen aus dem Berufsleben ausscheiden. Diese sogenannte Zölibatsklausel galt bis ins Jahr 1957 und wurde erst dann vom Bundesarbeitsgericht für ungültig erklärt. Mit diesem Instrument konnte flexibel auf die jeweilige Arbeitsmarktsituation reagiert werden: Bestand Lehrermangel,

8 wurde es gelockert, gab es dagegen ein Überangebot, wurden damit Lehrerinnen vom Arbeitsmarkt verdrängt. Für die bürgerliche Frauenbewegung waren allerdings mit dem Lehrerinnen-Zölibat auch fortschrittliche Aspekte verknüpft: Auf Familie zu verzichten, um sich bewusst „beruflicher Erfüllung“ zu widmen, galt durchaus als emanzipative Entscheidung. Den Besuch der Universitäten erkämpften sich Frauen schließlich ebenfalls über die Pädagogikausbildung: Als ab 1896 die ersten Frauen in deutschen Hörsälen als Gasthörerinnen zugelassen wurden, waren diese fast ausnahmslos Lehrerinnen. Die ersten Ärztinnen, die zur Jahrhundertwende als Einzelfälle und nur mit Ausnahmegenehmigungen ihr Examen ablegen durften, hatten zuvor ein Lehrerinnenseminar besucht. Eine Reihe neuer Organisationen entstand in dieser Zeit, die den Kampf der Frauen institutionalisierten: 1865 der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF), 1866 der Lette-Verein und der Vaterländische Frauenverein, 1890 der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein. Schon 1888 hatte der ADF um Helene Lange eine Petition an das preußische Abgeordnetenhaus gerichtet, um eine wissenschaftliche Lehrerinnenausbildung und die Zulassung zum Medizinstudium für Frauen zu erreichen. Unmittelbare Erfolge konnten die Initiativen zum Universitätszugang zunächst nicht verbuchen. Erfolgreich war hingegen das pragmatische Vorgehen von einzelnen Frauen, die Ausnahmegenehmigungen erwirkten. Diese erwiesen sich bald als die Hintertür, durch die Frauen der Zugang zu den Universitäten gelang: Was als Ausnahme begann, wurde schließlich schnell zur Regel. Der erste Schritt dazu war die Zulassung von Frauen als Gasthörerinnen, so in Preußen ab 1896 (s. Zeittafel zur Frauenbildung). Erst 1908 ließ Preußen als letztes Bundesland das reguläre Studium an den Universitäten zu. Nun bestand auch die Notwendigkeit, die schulische Vorbildung der Mädchen zu verbessern: Ab 1893 gab es auf Initiative von Helene Lange hin sogenannte Gymnasialkurse. Unter anderem wegen ihres Engagements durften 1896 erstmals sechs junge Frauen am Luisen-Gymnasium in der Moabiter Turmstrasse die Reifeprüfung ablegen. Schließlich werden nach widerstreitenden Debatten im preußischen Landtag 1908 die Allgemeinen Bestimmungen über die höheren Mädchenschulen und die weiterführenden Bildungsanstalten für die weibliche Jugend verabschiedet – nach zeitgenössischen Maßstäben eine Bildungsreform mit sensationellem Inhalt, für die die deutsche Frauenbewegung jahrzehntelang gestritten hatte. Endlich sind die Mädchenschulen den männlichen Anstalten im Prinzip gleichgestellt. Nun können junge Mädchen nach der 10klassigen „Höheren Töchter- oder Mädchenschule“ unter drei weiterführenden Anstalten wählen: einer ein- oder zweijährigen Haushaltsschule, einem höheren Lehrerinnenseminar (= Oberlyzeum) und einer Studienanstalt, die unmittelbar auf ein Universitätsstudium vorbereitet. Herrschende gesellschaftliche Strukturen stellte die bürgerliche Frauenbewegung aber nicht infrage. Im Mittelpunkt der Erziehung stand weiterhin die Rolle als zukünftige Mutter, wobei allerdings Mutterschaft auch als „geistige Mutterschaft“, nicht gebunden an bestimmte Lebensphasen oder biologische Gegebenheiten verstanden werden sollte.

Quellen: (1) Heise, Helene: Lehrerinnen um 1900, Nervöse Vorkämpferinnen, Spiegel online Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert, CH. Beck 1988 wikipedia: Frauenbildung

9 Kleine Zeittafel zur Entwicklung der universitären Frauenbildung

in Europa in Deutschland

1840 Schweiz: Erste Hörerinnen besuchen die Hochschule 1895 Heidelberg: Frauen erhalten eine widerrufliche in Zürich Zulassung an der Philosophischen Fakultät

1849 England: Das erste Frauenkolleg wird in London 1896 Preußen: Die Zulassung zum regulären eingerichtet Universitätsstudium ist nur im Einzelfall mit ministerieller Ausnahmegenehmigung möglich 1863 Schweiz: Hörerinnen können sich an der Züricher Hochschule einschreiben 1896 Preußen: Frauen werden als Gasthörerinnen hauptsächlich an der Friedrich-Wilhelm- 1876 Italien: Alle Universitäten sind offen für Frauen Universität zugelassen

1894 Türkei: Frauen werden zum Medizinstudium 1900 Das Großherzogtum Baden ermöglicht ab zugelassen Februar als erstes deutsches Land Frauen den vollen Zugang zu Universitätsstudien Zwischen 1870 und 1894 hat fast ganz Europa das Frauenstudium eingeführt 1904 Württemberg: Der König öffnet im Mai per Nachzügler sind Österreich-Ungarn und Preußen Erlass die Universität Tübingen für Frauen

1895 Ungarn: Frauen können sich in die medizinische und 1908 Preußen: Als letztes Bundesland erlaubt philosophische Fakultät einschreiben Preußen das Frauenstudium 1920 Frauen werden generell zur Habilitation zugelassen

Quellen: www.gender.hu-berlin.de/ausstellungen www.rollenbrecher.de wikipedia: Frauenbildung

10 Clara Immerwahr 1870 – 1915

Chemikerin, Frauenrechtlerin

„Was mein Mann Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das – und mehr – habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit. (1) In einer Zeit, in der viele Professoren gegen ein Studium von Frauen überhaupt sind, begeistert die talentierte Forscherin Clara Immerwahr als erste Frau, die 1900 in Breslau in Physikalischer Chemie promoviert. Eine Reihe ihrer Arbeiten erscheint in Fachzeitschriften. 1901 heiratet die aus groß- bürgerlichem jüdischen Hause stammende Clara den Chemiker und späteren Nobelpreisträger Fritz Haber und lebt mit ihm bis 1915 in einer Dienstvilla in Berlin-Dahlem, die heute noch auf dem Gelände des Fritz-Haber-Instituts, Faradayweg 4-6 steht. Clara bemüht sich, Ehe und Forschung miteinander zu vereinbaren, was ihr besonders nach der Geburt des Sohnes Hermann 1902 nicht mehr gelingt. Sie versucht, unabhängige Wege zu gehen, indem sie eigenes Briefpapier verwendet oder hin und wieder die Tischgesellschaften ihres Mannes vernachlässigt. Die eigene wissenschaftliche Arbeit muss sie weitgehend hinten anstellen, sie hält allenfalls Vorträge über „Chemie in Küche und Haushalt“ vor Frauen in Arbeiterbildungsvereinen, aus denen sich später die Volkshoch- schulen gebildet haben. Im Vordergrund der Forschung Fritz Habers steht die Suche nach Kampfgasen zum Einsatz in der Kriegsführung. Clara nimmt deutlich Stellung und bezeichnet das ganze Unternehmen als eine „Perversion der Wissenschaft“. Im Januar 1915 begleitet sie Fritz nach Köln, wo freiwillige Soldaten für den Gaskrieg ausgebildet werden. Hier wendet sich Clara in Anwesenheit von Vertretern aus Wissenschaft, Industrie und Militär scharf gegen die Absichten ihres Mannes. Am 2. Mai 1915 wird Haber, nach einem „erfolgreichen" Giftgaseinsatz in der Flandernschlacht, darüber informiert, dass er an die nächste Front berufen wird. Während er im Salon der Villa im Faradayweg seine Beförderung feiert, denkt Clara in ihrem Zimmer zum wiederholten Mal darüber nach, wie sie ihn vom nächsten Giftgaseinsatz abhalten kann. Sie schreibt mehrere Abschiedsbriefe und nimmt nach reiflicher Überlegung seine Dienstwaffe, geht in den Garten vor dem Haus, schießt einmal in die Luft und richtet dann die Waffe auf ihr Herz. Sie lebt noch zwei Stunden. Haber fährt unbeeindruckt dessen nach Galizien, um seine weiteren Einsätze vorzubereiten. Nur einmal hat er sich später lakonisch über den Freitod seiner Frau geäußert: Sie habe das Leben nicht mehr ertragen, mit ihm habe das nichts zu tun. Auch Habers zweite Frau Charlotte beschrieb Clara Immerwahr in ihrem Buch „Mein Leben mit Fritz Haber“ (2) als psychisch belastet. Sie hätte jede wissenschaftliche Arbeit abgelehnt, die Forschung ihres Mannes nicht unterstützt, dabei den Haushalt nicht beherrscht und noch dazu „unschöne schlampige Reformkleider!“ getragen. Selbst der „Bund deutscher Frauenvereine“ hat diese Konsequenz pazifistischer

11 Frauen abgelehnt, weil sie ihren Männern, die nur „ihre Pflicht“ tun, nicht „in den Rücken“(3) fallen können. Der Mann, der seine Frau als Vaterlandsverräterin gebrandmarkt und in den Selbstmord getrieben hat, weil sie gegen den Missbrauch der Wissenschaft protestierte, ist von Historikern als großer Wissenschaftler und feiner Mensch gepriesen worden. Claras Beitrag zur Wissenschaft war dagegen kaum eine Fußnote wert. Immerhin hat die Internationale Vereinigung der Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) 1991 zum ersten Mal die Clara- Immerwahr-Medaille verliehen. Mit ihr wird der Einsatz gegen Rüstung und Krieg ausgezeichnet.

Villa von Fritz Haber und Clara Immerwahr

Quellen: (1) Gerit von Leitner: Der Fall Clara Immerwahr. Leben für eine humane Wissenschaft, C.H. Beck 1993 Charlotte Haber: Mein Leben mit Fritz Haber, Econ 1970 www.wissenschaft-und-frieden.de: Jörn Heher: Clara Immerwahr und Fritz Haber

12 Wilma von Düring 1902 – 1960

Tierärztin Wilma von Düring war eine der ersten Tierärztinnen Deutschlands und eine Frau, die sich leidenschaftlich dem Tierschutz und der Heilung von Tieren verschrieben hatte. Geboren am 8. Januar 1902 in Oldenburg, erklärte die fünfjährige kleine Wilma ihren Eltern: „Ich werde Doktor für Tiere und Soldaten." (1) Ihr eigenes kleines Zimmer war angefüllt mit Spielzeugtieren aller Art, verbunden, geschient, gepflastert und sorgsam gebettet. Um sich ihren Berufswunsch zu erfüllen, musste Wilma sehr kämpfen. 1921 immatrikulierte sie sich als dritte Frau überhaupt an der Tierärztlichen Hochschule Berlin und erhielt als Erste ihre Doktorwürde 1926. Um das Studium zu finanzieren, erstellte sie in drei Sprachen Übersetzungen für einen großen Verlag. Nach einer Anstellung als wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule arbeitete sie für das Berliner Tierheim in Lankwitz in der Dessauer Straße. Schon zu dieser Zeit träumte sie von einer eigenen Praxis. 1930 bot sich ihr eine günstige Möglichkeit und sie eröffnete die erste Kleintierpraxis Deutschlands in Pankow. Wilma von Düring war äußerst sensitiv in ihrem Umgang mit Tieren. Sie konnte sich quasi in sie hineinversetzen. „Ich weiß, was die Tiere fühlen und wie es ihnen geht" (1) sagte sie einmal zu einer Freundin. In der Behandlung suchte sie immer nach neuen und sinnvolleren Wegen der Heilung. Sie war davon überzeugt, dass die Behandlungsmethoden, die ja zu dieser Zeit noch nicht sehr fortgeschritten waren, sich schnell weiterentwickeln würden, bedingt schon dadurch, dass man die Natur stärker belauschte. Um ihren Schützlingen Medizin zu verabreichen, ließ sie sich einiges einfallen.„Als eine Schimpansen-Mutter ihrem Sohn mit schwerer Lungenentzündung keine Spritze geben lassen wollte, rührte sie Aureomycin in Schokolade und schmierte sie, indem sie mit Mutter und Kind am Gitter spielte, dem Kleinen ins Mäulchen, und schlagartig trat Besserung ein“.(1) Ein anderes Mal demonstrierte sie den halbwüchsigen Orang-Utans, die eine Halsuntersuchung benötigten, so lange das Mundaufsperren, bis sie begriffen und mit ihr den Mund aufmachten, sodass auf Gewaltanwendung verzichtet werden konnte und den Tieren ihre psychische Unbefangenheit erhalten blieb. Der kleine Doktor, wie sie in einem Buch von Julie Schlosser genannt wurde, das Szenen ihres Alltags beschreibt, war eine mutige Frau, die sich nicht abschrecken ließ, weder durch schwierige Behörden, noch durch misshandelnde Tiertransporteure. Auch gegen die Vorurteile ihrer männlichen Kollegen zu Beginn ihrer eigenen Praxis setzte sie sich erfolgreich durch. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges übernahm Wilma von Düring die ärztliche Versorgung des Tierheims in Lankwitz, das gerade wieder eröffnet worden war und unter kümmerlichsten Verhältnissen arbeitete. Sie war maßgeblich an dessen Wiedererstehen beteiligt. Parallel dazu baute sie ihre neue eigene Praxis auf.

13 Der Tierschutz war immer Wilma von Dürings Anliegen gewesen. So gründete sie 1951 den Hochschularbeitskreis Tierschutz (HAT) an der FU Berlin in Dahlem. Bescheiden fing dieser Kreis an, man traf sich in Cafés und entwarf Programme. Man wollte mit Lehrern zusammenarbeiten und die Menschen für den Tierschutz sensibilisieren, so auch durch Filme, die in dieser Zeit über Haltungsbe- dingungen von Tieren entstanden. Immer wenn sie unterwegs war, auch in den Ferien, knüpfte sie Kontakte, die für den Arbeitskreis nützlich sein konnten, wie z.B. mit Arzneigärten oder mit der englischen Parallelorganisation UFAW. Auf diese Weise erweiterte sich der Kreis ständig. 1952 ging ein lang gehegter Wunsch von Wilma von Düring in Erfüllung. Sie wurde die erste Zootierärztin im zerstörten West-Berlin. Neben ihrer Praxis betreute sie die Tiere des Zoos, der sich gleich nach dem Krieg bereits wieder im Aufbau befand. In dieser Zeit entdeckte sie auch ihre Vorliebe für Raubkatzen. Oft arbeitete sie täglich vom Abend bis spät in die Nacht, wenn die Besucher den Zoo verlassen hatten und eine eigene Stimmung darüber lag. Obwohl die Entlohnung nach dem Krieg gering war, arbeitete sie neben ihrer Praxis mit großem Engagement. Das Volumen der Aufgaben wuchs jedoch ständig mit der Anzahl der Tiere und Wilma von Düring konnte diese nicht mehr allein bewerkstelligen. Das Geld für eine Assistentin war nicht vorhanden und so entschloss sie sich 1958, ihre Tätigkeit an einen fest angestellten Kollegen abzugeben. Trotzdem hatte sie weiterhin eine Fülle von Aufgaben. Ihre eigene Praxis, die Arbeit im Hochschularbeitskreis sowie als Lehrbeauftragte an der Freien Universität und als Vorstandsmitglied im Tierärztebund forderten sie sehr und füllten sie aus. Am 19. März 1960 starb Wilma von Düring in Berlin an den Folgen einer Operation und einer Grippe, sie hatte sich vermutlich bei einem Äffchen angesteckt. Nach ihrem Tod würdigten auch ihre männlichen Kollegen sie und ihre Leistungen. Das Vermögen des HAT wurde bei seiner Auflösung als Wilma-von-Düring-Forschungspreis (Stiftung) in die „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Veterinärmedizin an der FU Berlin e.V“ eingebracht.

Quellen: (1) Julie Schlosser: Der kleine Doktor, Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn 1962 Bettina Adela Maurer: Frauen in der Tiermedizin, Dissertation FB Veterinärmedizin FU Berlin 1997

14 Karen Horney 1885 – 1952

Rebellische, warmherzige Psychoanalytikerin

„Wenn ich schon nicht schön sein konnte, so beschloss ich, wenigstens klug zu sein“ (1)

Karen Horneys unkonventioneller Denkstil und ihre Kritik an der orthodoxen Psychoanalyse Sigmund Freuds brachten ihr große Anerkennung und Ablehnung gleichermaßen ein. Freuds patriarchalischer Sicht auf Frauen stellte sie eine weibliche Psychoanalyse entgegen und widersetzte sich seinen Theorien hinsichtlich des Penisneids und des Ödipuskonflikts. Karen Clementine Theodore Danielsen wurde als Tochter eines Kapitäns und einer freidenkenden Mutter am 16. September 1885 in Hamburg geboren. Gegen den Willen des tief religiösen und autoritären Vaters, der auch schon mal im Wutausbruch mit der Bibel nach den Familienmitgliedern warf, aber mit der Unterstützung ihrer aufgeklärten Mutter und dem Bruder setzte sie ihren Wunsch durch, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Dass sie den medizinisch-psychoanalytischen Weg beschritt, hing sicher mit der konfliktreichen häuslichen Situation zusammen: Karen tat den Vater als heuchlerisch ab und füllte schon als 13-Jährige ihre Tagebücher, voller Sorge um die Mutter. 1906 begann sie als eine der ersten Frauen Deutschlands in Freiburg ein Medizinstudium, wo sie den Wirtschaftsstudenten Oskar Horney kennenlernte, den sie 1909 heiratete. Zusammen mit ihrer Mutter zogen sie nach Berlin, wo ihr Mann in der Industrie tätig wurde und sie an der Charité ihr Studium fortsetzte. Ende 1911, bereits Mutter von Tochter Brigitte, der späteren berühmten Schauspielerin, schloss sie ihr Staatsexamen ab. Nach einem viermonatigen Praktikum im Krankenhaus am Urban arbeitete Karen Horney in der von James Fraenkel gegründeten Lankwitzer Heil- und Pflegeanstalt Berolinum, dem heutigen „Haus Leonore“ in der Leonorenstraße 11. In dieser Zeit wohnte sie mit ihrer Familie in der Lankwitzer Waldmannstr. 3 und führte mit ihrem Mann und den inzwischen zwei Töchtern ein lockeres Leben mit Partys und Gesellschaften. Sie pflegten Kontakte zu Bauhaus-Mitgliedern, Malern und anderen Künstlern. Karen Horney besucht die Treffen der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft und hält 1912 einen ersten Vortrag zur Geschlechter- erziehung von Kindern. Karl Abrahams These, Frauen wollten eigentlich Männer sein, weckt ihre Protesthaltung und 1922 widerspricht sie dieser Annahme von Unzufriedenheit in dem Vortrag „Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes“. Freuds „Rätsel der Weiblichkeit“ stellt sie scharfe Thesen entgegen. Bis 1935 widmet sich Horney in zahlreichen Aufsätzen der weiblichen Psychologie und dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Bereits 1915 war Karen Horney mit Mann und drei Kindern nach Zehlendorf in die Sophie-Charlotte-Str. 15 gezogen. Hier arbeitete sie mit Privatpatienten und hier schrieb sie an ihren wissenschaftlichen Aufsätzen. Klienten, die sich eine Analyse nicht leisten konnten,

15 häufig mit Kriegstraumata, behandelte sie kostenlos oder diese halfen dafür in ihrem Garten. Bevorzugt arbeitete sie jedoch mit weiblichen Klienten. Mitte der Zwanzigerjahre erkrankte ihr Mann an einer Hirnhautentzündung und zeigte starke Persönlichkeitsveränderungen. Seine Firma ging in Konkurs und die Familie musste das Haus in Zehlendorf verkaufen. Eine kurze Zeit lebten die Horneys danach am Steinplatz in Charlottenburg, bevor sich Karen Horney von ihrem Mann trennte. Die drei Töchter Brigitte, Marianne und Renate blieben bei ihrer Mutter. Brigitte besuchte mit 15 Jahren eine Schauspielschule in Berlin, eine der Schwestern ging nach Salem ins Internat. In den Sommerferien zog es die vier Horney-Frauen in die Alpen. 1932 verließ Karen Horney mit ihren Töchtern Deutschland und ging nach Chicago, wo sie die stellvertretende Direktorin des „Institut of Psychoanalysis“ wurde. Zwei Jahre später zog sie nach New York und arbeitete am New Yorker Psychoanalytischen Institut und in eigener Praxis. Am 4. Dezember 1952 verstarb Karen Horney in New York an den Folgen einer Krebserkrankung. In Fachkreisen hat sie aufgrund ihrer Arbeit einen großen Bekanntheitsgrad. Das „Berliner Institut für tiefenpsychologische und existentielle Psychotherapie“ trägt seit 2010 den Namen Karen Horney Institut.

Gedenktafel in der Sophie-Charlotte- Straße 15

Quellen: (1) Michael Luetge: Karen Horney: Interpersonalität in: ders.: Wachstum der Gestalttherapie und ..., Lang Verlag 1997, S. 290 – 298 Institut für Geschichte der Medizin, Berlin: Dokumentation „Ärztinnen im Kaiserreich“ - Horney geb. Danielsen, Karen

16 Adelheid Krahmer 1841 – 1929

Pädagogin und Schulgründerin Adelheid Krahmer wurde am 18. Dezember 1841 in Stargard/Pommern geboren. Auf Anraten der befreundeten Familie Duvinage übersiedelte die frisch examinierte Schulvorsteherin im Jahre 1872 von Berlin in den noch wenig erschlossenen Vorort Lichterfelde. Ausschlaggebend war die Bekanntschaft der Duvinages mit dem Gründer, vermögenden Mäzen und Gutsbesitzer Lichterfeldes, Johann A. W. von Carstenn. Ortsansässige Familien hatten das Interesse, eine erreichbare Schule in der Nähe zu haben, da Lichterfelde A. Krahmer, links im Bild verkehrstechnisch noch nicht besonders gut an Berlin angebunden war. Auch in finanzieller und bürokratischer Hinsicht waren diese Familien hilfreich, um das Vorhaben umzusetzen. So wurde in der Villa Hildesheim, Bellair, in der damaligen Berliner Straße (dem heutigen Ostpreußendamm), am 8. April 1872 von Adelheid Krahmer die „Krahmersche Höhere Mädchenschule“ eröffnet. Diese hatte von Anbeginn an mit der auch weiterhin schlechten Erreichbarkeit, den eher provisorischen Räumlichkeiten, planerischen Unwägbarkeiten und finanziellen Engpässen zu kämpfen. Außerdem wurde das junge Unternehmen noch durch bauliche Auflagen und die stockende Entwicklung Lichterfeldes am Gedeihen gehindert. Die Schülerschaft wuchs von den anfänglich sechs Mädchen und einem Jungen nur spärlich und war auch vertraglich auf 20 begrenzt. Der Lehrkörper konnte nur mit Mühe und Not in erforderlichem Maße akquiriert werden und war von permanenter Fluktuation geprägt. Es konnten glücklicherweise pensionierte Lehrkräfte als Verstärkung gewonnen werden. Endlich wurde die ursprüngliche Zusage der Gemeinde an Adelheid Krahmer, ein Schulhaus zu errichten, unter finanziellen Opfern der Bewohner Lichterfeldes eingelöst. Als im April 1874 der Vertrag für die Villa Hildesheim auslief, konnte die Schule ihr neues Domizil an der Chausseestraße Ecke Dürerstraße beziehen. Durch die Ansiedlung der Preußischen Hauptkadettenanstalt 1873 bis 1878 konnten einige neue Lehrkräfte einbezogen werden, der erhoffte Aufschwung für die Region blieb allerdings aus. Da die baulichen Gegebenheiten auch in dem Schulgebäude an der Chausseestraße unzureichend waren, entschloss sich Adelheid Krahmer noch vor Ablauf des Mietvertrages, Das alte Gebäude der Goethe-Schule ein Baugrundstück zu kaufen und auf eigene Kosten selbst zu bauen. Sie erwarb ein

17 Grundstück an der damaligen Berliner Straße, dem heutigen Ostpreußendamm, von J.A.W. von Carstenn. Der Bau wurde Ende September 1878 vollendet, und am 1. Oktober 1878 zog die Schule in das neue Gebäude um. In den folgenden Jahren erwarb Adelheid Krahmer noch weitere angrenzende Grundstücke für einige Anbauten, und ihr 25-jähriges Jubiläum wurde in Lichterfelde 1897 mit einem Festakt begangen.1908 ging Adelheid Krahmer im Alter von 66 Jahren in den Ruhestand. Sie starb am 9. August 1929. Das Schulgebäude wurde 1943 durch Kriegseinwirkungen schwer beschädigt und erst im Juni 1945 wiedereröffnet. Kurz darauf fusionierte die Schule mit dem Dürer-Elisabeth-Lyzeum und zog in das besser erhaltene Gebäude in der Drakestraße 80 um. 1951 erfolgte die Rückbenennung in Goethe-Schule. Auf dem ehemaligen Gelände am Ostpreußendamm befindet sich heute das Willy-Graf- Gymnasium.

Lichterfelde - Ein Panorama von um 1910

Quellen: Broschüre: 111 Jahre Goethe-Oberschule, Goethe-Oberschule - Archiv der Goethe-Oberschule

18 Eleonore Lemp 1871 – 1950

Schulgründerin, Reformpädagogin

„Fräulein Lemp – sie wollte nie anders genannt sein – war eine großartige Frau, mit der man alles besprechen konnte und die einem sehr viel Freiheit ließ. … Sie war eine imposante Erscheinung, die unbedingt Ehrfurcht und Respekt einflößte. … Ihre sehr klugen braunen Augen bemerkten wohl alles, es konnte ihnen kaum etwas entgehen. …“ (1) So äußerten sich Schülerinnen und Mitarbeiterinnen über sie. Eleonore Lemp hatte sich früh für ihre Profession entschieden, sie wollte unbedingt Lehrerin werden. Eine Ehe zur Absicherung, wie es in dieser Zeit üblich gewesen ist, war damit ausgeschlossen, denn es existierte ein Lehrerinnen-Zölibat. Eleonores Vater war schon vor ihrer Geburt, am 12. März 1871, als „Kriegsheld“ gefallen und die Mutter zog ihre vier Töchter in bescheidenen Verhältnissen allein auf. Nach der Schulzeit in Görlitz und dem Lehrerinnenseminar in Posen unterrichtete sie an verschiedenen Orten in Deutschland, doch sie war unzufrieden mit ihren pädagogischen Möglichkeiten. So bildete sie sich weiter. Ihre gezeigten Leistungen ermöglichten es ihr, ein Stipendium für ein Studium in Berlin zu erlangen. Hier kam Eleonore Lemp mit politischen und reform- pädagogischen Gedanken in Kontakt, die sie faszinierten. 1902 bestand sie ihr Staatsexamen als Oberlehrerin und begann an den Königlichen Augusta-Lehranstalten in Berlin zu arbeiten. Diese wurden von dem bekannten Pädagogen Jakob Wychgram geleitet, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband. Er gab Eleonore den Anstoß, als Autorin tätig zu werden. Nach der Herausgabe einiger Bücher verfolgte sie jedoch den Plan weiter, neue Wege in der Mädchenbildung zu gehen. Mit 35 Jahren gründete Eleonore Lemp in der Lichterfelder Drakestraße 80, im ehemaligen Wohnhaus der Familie Grimm, eine Mädchen- Reformschule, die Elisabeth-Schule. Namensgeberin war Elisabeth Schwarz, die mit ihrem Mann das Projekt finanziell unterstützte. Das Gelände mit dem Kiefernwäldchen entsprach Eleonores Vorstellungen, denn der Unterricht sollte bei gutem Wetter im Freien stattfinden. Ein Zeitzeuge berichtete: „Alle Klassenräume, die mit anmutigen Bildern geziert sind und deren Fensterbretter lebende Blumen schmücken, sind in hellen freundlichen Tönen gehalten.“ (2) Eleonore Lemp hatte für ihre Zeit revolutionäre pädagogische Zielsetzungen. Dazu gehörten beispielsweise 45-Minuten-Unterrichtsein- heiten mit kleinen und großen Pausen, die Abwesenheit von Strafen und für den Unterricht im Freien die Verwendung von Rundbänken. So schrieb sie: „Man muss selbst erlebt haben, … wie belebend diese Rundbank ... wirkt. … Es ist bekannt, wie verständnisvermittelnd es wirkt, das Minenspiel des Sprechenden verfolgen zu können. … Auch für den Lehrenden gilt dieses kameradschaftliche Miteinander. Den ... gebotenen, erhöhten Standpunkt … hat er nicht mehr nötig einzunehmen. Er rückt vielmehr mit seinem Stuhl in das Rund hinein und schließt somit erst den Kreis.“ (3)

19 Sie legte auch Wert auf die Erziehung zur Selbstständigkeit der Schülerinnen, daher war auch das Äußern der eigenen Meinung, der Austausch und das Halten von Vorträgen Teil des Unterrichts. Im Handfertigkeitsunterricht wurden projektbezoge Objekte gebaut und gebastelt, die Schülerinnen wurden jedoch von Hausarbeiten verschont. Bei den von den kaiserzeitlichen Idealen geprägten Eltern dieser Zeit erzeugte dies zunächst Misstrauen und man sprach von „Spielschule“. Eleonore Lemp setzte sich auch für die Gleichstellung von Frauen und Männern ein. 1908 schrieb sie für die Zeitschrift „Frauenbildung": „Die Frauenwelt soll nun einsehen, dass sie doch nicht dasselbe leisten kann wie der Mann. In der Achtung ihrer andersartigen Veranlagung soll sie es auch nicht wollen. … Die Frauen … müssen in selbständiger Arbeit und eigenartigerem Wesen die Männer … Achtung lehren. … Lehren wir der Welt die richtige Wertung der Dinge: Stellen wir neben Manneseigenart und -arbeit die Eigenwerte der Frau im Denken, Handeln und Sein.“ (1) Weil sie ihre pädagogischen Ziele nicht vollständig verwirklichen konnte und der Druck zur Übernahme staatlicher Lehrpläne wuchs, verließ sie fünf Jahre nach der Gründung die Schule. Nach der Reformzeit von Eleonore Lemp übernahm die Schule 1914 die staatlichen Lehrpläne und fusionierte 1931 mit dem Dürer-Lyzeum. Auf diesem Gelände befindet sich heute die Goethe-Oberschule. Nach einer Zwischenetappe auf Schloss Braunshardt, wo sie eine weitere Schule gründete, fand sie im Fuldatal den Platz, der es ihr ermöglichte, ihre Vorstellungen zu realisieren. Ein ehemaliges Sanatorium, das sie zunächst mietete und später kaufte, wurde 1914 die Deutsche Frauenschule am Reinhardswald, die noch heute als Reinhardswaldschule und Fortbildungsstätte für Lehrer/innen bekannt ist. 75-jährig verkaufte Eleonore Lemp 1946 die Schule an die Stadt Kassel, war jedoch durch ihre gefragten Vorträge weiter pädagogisch tätig. Sie starb am 20. Februar 1950 in Kassel und wurde dort auch beigesetzt. Viele von Eleonore Lemps reformerischen Ideen sind heute eine Selbstverständlichkeit in der Pädagogik.

Quellen: (1) Volker Luckhard: Erinnerungen an Fuldataler Persönlichkeiten Geschichts- und Museumsverein Fuldatal 2010, S. 24-37 (2) Pädagogisches Archiv, Band 48, Eleonore Lemp, S 502 (3) Eleonore Lemp: Aus der Elisabeth-Schule in Berlin-Lichterfelde Hofdruckerei Hohmann Darmstadt, 1913, S. 1-32 Steglitzer Anzeiger, 5/1988, Lichterfelder Bilderbogen: Die Lichterfelder Schulgeschichte

20 Marie Tancke 1858 – 1935

Schulgründerin

In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Lichterfelde noch einen fast dörflichen Charakter. Die Wege waren ungepflastert und führten über kleine Brücken nach Lichterfelde Ost. Dort gab es ein Rathaus, ein Postamt, eine Volksschule und ein Gymnasium inmitten einer aufblühenden Villenkolonie. Und es gab die höhere Mädchenschule von Adelheid Krahmer. Marie Tancke, die am 22. Januar 1858 in Perleberg (Brandenburg) geboren wurde, sah mit klaren Augen, dass auch der westliche Teil von Lichterfelde sich in Kürze entwickeln würde. An der Wannsee-Bahn entstand ein Bahnhof. Villenstraßen in der Nähe der Hauptkadettenanstalt und der Gardeschützen-Kaserne lockten immer mehr Zuzügler aus der Großstadt an, sodass die Notwendigkeit sichtbar wurde, dass auch hier Schulbauten entstehen mussten. Nach ihrer Max-von-Laue-Oberschule Lehrerinnenprüfung und einigen Tätigkeiten an verschiedenen Schulen machte Marie Tancke ihr Schulleiter-Examen. Danach unterbreitete sie dem Gemeindevorstand von Lichterfelde den Plan, ein private höhere Töchterschule im westlichen Ortsteil zu gründen. Da der Vorstand aber andere Sorgen hatte, wurde ihre Eingabe zunächst abgelehnt. Sie ließ sich aber nicht entmutigen und kämpfte mit Energie und Zielstrebigkeit weiter, bis sie sich dann doch durchsetzen konnte. In einem Privathaus in der Sophienstraße begann sie 1892 mit einem guten Dutzend Schülerinnen und zwei Lehrern den Schulbetrieb. In kürzester Zeit stieg die Zahl der Schülerinnen so erfreulich an, dass der Umzug auf das Grundstück Dürerstraße 27 erfolgen konnte. Der Unterricht konnte in neun Klassenräumen stattfinden und eine Turnhalle war im Anbau. 1911 wurde die Schule als Lyzeum anerkannt und die Schülerzahl wuchs in 20 Jahren auf über 400. Marie Tancke war eine Ehrfurcht gebietende Direktorin, die ihre ganze Persönlichkeit für ihre Arbeit einsetzte. Die engagierte Lehrerin sah im preußischen Pflichtgefühl ihren obersten Grundsatz. Sie wählte mit klugem Blick die Mitglieder ihres Kollegiums und strebte die charakterliche Erziehung von Mädchen zur Frömmigkeit, Pflichttreue und Vaterlandsliebe an und nicht allein die Vermittlung von Wissen. Verständnisvoll war sie jedem Fortschritt in der Schule zugeneigt. Der Ruf des Tanckeschen Privat-Lyzeums ging bald über die Grenzen Lichterfeldes hinaus. 1920 übergab sie 62-jährig der Stadt das Lyzeum. Sie durfte erleben, wie unter der Leitung ihres Nachfolgers die nun Dürer-Lyzeum genannte Schule aufblühte und die Schülerinnenzahl gewaltig anwuchs. Marie Luise von Gartner übernahm im Oktober 1931 die Leitung und führte die Elisabeth-Schule dem Dürer Lyzeum zu. Sie verstarb am 7. Oktober 1935. Quelle: Heimatverein Steglitz, Steglitzer Anzeiger 1958/3

21 22 23 Weibliche Sozialarbeit im 19. und 20. Jahrhundert

Obwohl die Armut die Menschheit schon immer begleitete, erreichte sie mit der aufkommenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine neue Qualität. Durch den Zuzug in die Städte waren bäuerliche Großfamilien, Dorfgemeinschaften und Gemeinschaften wie Zünfte oder Klöster nicht mehr in der Lage, ausreichend Hilfe zu leisten. Frauen der Arbeiterklasse waren gezwungen, zum Überleben ebenfalls Erwerbsarbeit zu leisten, wodurch sie oft ihre Kinder vernachlässigten. Die hygienischen Verhältnisse und die Gesundheitsfürsorge waren nach heutigen Maßstäben katastrophal, und die einzige Form der Geburtenkontrolle war die Abtreibung, die illegal und gefährlich war. Sozialfürsorge wurde nun zu einer dringenden Aufgabe. Das Arbeitshaus, das vorher dazu diente, von Armut betroffene Menschen aus der Öffentlichkeit zu entfernen, wurde unter den Leitsatz gestellt „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ und entwickelte sich zu einer Mischung aus Waisenhaus, Gefängnis und Besserungsanstalt. In der Weimarer Republik gingen die Einweisungen in diese Institution stark zurück, unter den Nazis gab es allerdings eine verschärfte Renaissance in Form von Arbeitslagern, die für sogenannte „Asoziale“ oft nur eine Vorstufe zum KZ waren. Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten sich zahlreiche kirchliche, bürgerliche oder proletarische Hilfsorganisationen wie die Caritas, die Innere Mission, der Verein für Sozialpolitik, die Gesellschaft für Soziale Reform, die Arbeiterwohlfahrt und der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit. Sie lösten Armenhaus, Arbeitshaus und das Almosenwesen ab. Auch zahlreiche Frauenverbände und -gruppen fanden hier ein Betätigungsfeld, da Arbeit für Frauen in diesem Bereich gesellschaftlich akzeptiert war. Im Jahr 1908 gründete Alice Salomon die „Soziale Frauenschule“, die erste nichtkonfessionelle Organisation dieser Art in Berlin. 1933 wurde sie von den Nazis zerstört und aufgelöst, nach 1945 konnte sie ihre Arbeit aber wieder fortsetzen. Frühe Formen der Sozialarbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wurden, dienten in erster Linie dazu, die materielle Not zu lindern. So gründete Lina Morgenstern die erste Suppenküche in Berlin im Jahr 1866. Erst allmählich setzte sich der Gedanke „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch. Inzwischen ist die soziale Arbeit ein Berufsfeld für beide Geschlechter, dennoch überwiegt der Frauenanteil, da dieser Bereich immer noch als frauenspezifisch gilt. Heute ist es infolge Überalterung, Migration und Verarmung großer Gesellschaftsschichten wieder notwendig geworden, unmittelbare Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten, die „Tafeln“ sind hier nur ein Beispiel.

Quellen: www.rothschuh.de: Soziale Arbeit als Beruf suite101.de: Deutsche Geschichte: www.http://suite101.de/article/entstehungsgeschichte-der-sozialarbeit-die-fuersorge

24 Elsbeth von Keudell 1857 – 1953 Krankenschwester Hedwig von Rittberg 1839 – 1896 Krankenschwester

Der Name Elsbeth von Keudell ist eng verbunden mit dem von Hedwig von Rittberg, und damit mit der Gründung des Rittbergkrankenhauses in der Carstennstraße in Berlin- Lichterfelde. Elsbeth von Keudell Gräfin Hedwig von Rittberg Geboren am 21. Mai 1857 in Tilsit, kam Elsbeth von Keudell in jungen Jahren nach Berlin, da ihr Vater als königlich- preußischer Beamter hierher berufen wurde. Im spartanischen Elternhaus musste sie sich früh um ihre chronisch kranke Mutter kümmern, womit vielleicht ihr Interesse an der Krankenpflege geweckt wurde. Die Ordensschwestern waren in jener Zeit meist unzureichend ausgebildet. Zu ihrer Unterstützung bei der Hilfe für Kranke, Sieche oder auch Kriegsopfer rief Hedwig Gräfin von Rittberg am 1. Oktober 1875 in Berlin einen Hilfsschwestern-Verein ins Leben. Dieser Verein erhielt seine offizielle Anerkennung als öffentliche Wohlfahrtsanstalt 1882 durch Kaiser Wilhelm I. und ging nach dem Tod der Krankenschwester als „Gräfin Rittberg Schwestern-Verein vom Roten Kreuz“ darin auf. Gräfin von Rittberg, am 30. Dezember 1839 geboren, wurde 1870 auf Wunsch der preußischen Königin Augusta Oberin des neu errichteten „Augusta-Hospitals“ in der Scharnhorststraße in Berlin-Mitte. Dort versorgte sie während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 die Verwundeten. Sie erlebte nicht mehr, dass das 1904 in der Carstennstraße als erstes homöopathisches Krankenhaus errichtete Gebäude in Lichterfelde West nach einiger Zeit des Leerstands im September 1918 an den „Gräfin Rittberg Schwestern- Verein“, deren Oberin Elsbeth von Keudell war, verkauft wurde. Zu Ehren der Gräfin von Rittberg erfolgte die Umbenennung in Rittberg- Krankenhaus. Sie verstarb am 4. März 1896 im Feierabendheim in Potsdam-Neubabelsberg nach langer, schwerer Krankheit. Elsbeth von Keudell arbeitete von 1902 bis 1903 an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses in Magdeburg-Altstadt als Oberschwester und anschließend in verschiedenen deutschen Krankenhäusern in San Remo und Jerusalem. Zurück in Berlin nahm sie als eine der ersten Krankenschwestern Deutschlands an der von Clementine von Wallmenich gegründeten Oberinnenschule vom Roten Kreuz an der Weiterbildung zur Oberin teil und absolvierte die Prüfung außerordentlich erfolgreich. Das Kuratorium des „Rittberg- Schwesternvereins“ wurde hierdurch auf sie aufmerksam und übertrug ihr am 1. Mai 1904 die Leitung des „Gräfin Rittberg Schwestern- Vereins vom Roten Kreuz“.

25 Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erlangte Elsbeth von Keudell 1908 durch eine Hilfsexpedition des Deutschen Roten Kreuzes nach einem Erdbeben in Messina in Sizilien. Nur 48 Stunden nach dem Hilferuf traf Keudell als Leiterin der Hilfsexpedition mit fünf weiteren Schwestern in Syrakus ein. 60.000 Menschen kamen bei diesem schweren Erdbeben ums Leben, Zehntausende waren verletzt und obdachlos. Elsbeth von Keudell erbrachte dort mit ihren Schwestern die notwendige medizinische Hilfe und erhielt für dieses Engagement 1920 die „Florence-Nightingale-Medaille“. Im Mutterhaus des Rittberg-Schwesternvereins in der Martin-Luther-Straße in Schöneberg setzte sie sich schon frühzeitig für die Ausbildung der Schwesternschülerinnen ein, deren Zahl bald von 25 auf 150 kletterte. Von hier aus gingen ca. 400 gut ausgebildete Schwestern an die Front oder versorgten Kriegsopfer in der Heimat. Es war das einzige Lazarett im Ersten Weltkrieg, welches von den Schwestern geleitet wurde. Elsbeth von Keudell, auch der „Engel der Kranken und Mutter aller Krankenschwestern des DRK“ (1) genannt, wurde die Gesamtleitung des Rittbergkrankenhauses übertragen. Unter ihrer behutsamen Direktion und in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Abteilungen und deren Chefärzten des Krankenhauses erwarb es sich den guten Ruf eines der bedeutendsten und besten Krankenhäuser in Berlin. 1929 zog sich Elsbeth von Keudell im Alter von 79 Jahren in den Ruhestand zurück und verstarb am 4. April 1953 im Rittbergkrankenhaus.

Ehemaliges Rittberg-Krankenhaus Kupferstich Rittberg-Krankenhaus

Quellen: (1) Steglitzer Anzeiger 1972/25, Zum Gedenken an die Oberin Keudell Hedwig-Newsletter der DRK Schwesternschaft Berlin, Hedwig Gräfin von Rittberg, II/2008 Hedwig-Newsletter der DRK Schwesternschaft Berlin, Elsbeth von Keudell, I/2007 Steglitzer Anzeiger 1954/46, 50 Jahre Rittbergkrankenhaus Wikipedia: Elsbeth von Keudell

26 Leonore Heinemann 1892 – 1942

Sozial engagierte Patriotin

Sie ist eine der vielen unbeschriebenen Menschen, die ihr Leben ganz normal verbringen wollten. Sie hat nichts Bedeutendes hinterlassen, deswegen besteht ihre Biografie nur aus Notizen. Aber sie soll nicht vergessen werden, weil sie Opfer einer mörderischen Maschinerie geworden ist. Leonore Heinemann wohnte von 1940-1942 in der Hortensienstraße 9 in Steglitz. Ihre Vermieterinnen waren Gertrud und Klara Silbermann, Jüdinnen, genau wie sie. Am 19. Januar 1942 holte die Gestapo alle drei aus dem Haus. Sie gingen auf einen Transport nach Riga. Leonore, geboren am 1. Mai 1892, entstammte der jüdischen Familie Heinemann aus Mannheim, wo ihr Vater als Kaufmann und Bankdirektor arbeitete. Nach einer Handelsschulausbildung an der Handelslehranstalt Karlsruhe zog sie mit 21 Jahren nach Heidelberg. Die junge Frau meldete sich 1914 freiwillig zum Dienst beim Roten Kreuz in Heidelberg und arbeitete bis 1919 dort als Sekretärin. Während einer einjährigen Unterbrechung war sie als Volontärin bei der Heidelberger Gelatine-Fabrik Stoess & Co. beschäftigt. Der Großherzog von Baden verlieh ihr 1916 das Kriegsverdienstkreuz. Das gestiftete Ehrenkreuz der Großherzogin von Baden erhielt Leonore 1918 für ihr soziales Engagement. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie in Heidelberg bei Otto Schmeil, dem Pädagogen, Biologen sowie Lehr- und Schulbuchautor als Privatsekretärin beschäftigt. Ihre berufliche Tätigkeit gab Leonore 1928 auf, um ihre schwer erkrankte Mutter zu pflegen. Nach deren Tode übte sie zwar keine neue Berufstätigkeit mehr aus, konnte aber dank einer Erbschaft „hochwertiger Devisen“ eine „arische“ Familie mit zwei Kindern bei sich aufnehmen und sich um die Erziehung der Kinder kümmern. Gemäß der Aufnahmeurkunde des Evangelischen Pfarramtes Heidelberg von 1933 trat sie aus der israelitischen Kultusgemeinde aus. Leonore wurde 1938 in der Christuskirche von Heidelberg getauft und die evangelische Landeskirche nahm sie offiziell auf. Als ihr Haushalt 1939 aufgelöst wurde, fand sie noch einmal kurzfristig Aufnahme bei Otto Schmeil, der zu diesem Zeitpunkt schwer erkrankt war und den sie pflegte. Im Oktober 1940 meldete sie sich nach München um, zog dann aber im Dezember nach Berlin. Man vermutet, dass dieser Umzug nach Berlin mit ihrer geplanten Emigration in die USA zusammenhing. Die Konsularabteilung der US-Botschaft informierte sie über die Eintragung auf die deutsche Warteliste unter der Nummer 56025.

27 Mit Hilfe einer in Michigan lebenden Freundin und deren Ehemann bemühte sie sich weiterhin, ihre Ausreise in die USA zu beschleunigen. Das American Friends Service Committee, eine Organisation der Quäker, teilte schriftlich mit, dass ihre Freunde ein Affidavit – eine Bürgschaftserklärung zur Übernahme des Unterhalts nach der Einwanderung in die USA – an die Konsularabteilung der US-Botschaft in Berlin geschickt hätten. Im Oktober 1941 unterbreitet ein amerikanisches Büro Leonores Freundin Vorschläge für ihre Ausreise über einen neutralen europäischen Staat nach Argentinien oder Kuba und von dort in die USA. Diese Freundin teilt Leonore jedoch in einem ausführlichen Schreiben mit, dass sie sich vergeblich bemüht habe, bei Verwandten bzw. den Quäkern die nötige Geldsumme dafür aufzubringen. Nach mehrmonatiger Krankheit meldet sich Leonore im Dezember 1941 freiwillig zum Arbeitsdienst bei der Firma Zeiss Ikon in Zehlendorf. Aber auch das rettet sie nicht. Leonore Heinemann wird gemeinsam mit ihren Vermieterinnen Klara und Gertrud Silbermann am 19. Januar 1942 aus der Hortensienstraße 9 nach Riga deportiert. Es ist nicht bekannt, ob sie bei ihrer Ankunft in Riga umgebracht wurde oder ob sie bereits auf dem Transport umkam.

Vor dem Haus in der Hortensienstraße 9 wurden am 10. Mai 2011 drei Stolpersteine für Leonore und die Silbermanns verlegt.

Quelle: Evangelischer Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf, Projekt Stolpersteine

28 Frauen in der Kunst im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts

Eine für Frauen künstlerische Existenz als Lebensentwurf war auch in Deutschland noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kaum realisierbar. Frauen wurden künstlerische Fähigkeiten und Betätigungen ganz abgesprochen, und insofern konnten sie bis in das 19. Jahrhundert eine berufliche künstlerische Ausbildung nur in einem kirchlichen, höfischen oder zünftigen Zusammenhang – etwa im Kloster, in Adelskreisen, oder in der väterlichen Werkstatt durchlaufen. Um eine künstlerische Ausbildung zu erhalten, gründeten Frauen private Ausbildungsstätten, wie den „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“ im Jahre 1867 und den „Künstlerinnen- Verein München“ 1882. Bis dahin war es künstlerisch tätigen Frauen beispielsweise zumeist nicht erlaubt, unbekleidete Aktmodelle zu zeichnen. Diese Beschränkung war umso schwerwiegender, als das Aktstudium in diesen Zeiten eine wesentliche Voraussetzung für „die mythologische und historische Malerei“ gewesen ist. Erst nach dem Ersten Weltkrieg weichte die traditionelle Rolle als Ehe- und Hausfrau auf und es bildeten sich andere Lebensentwürfe. Frauen wurde der Weg in die Kunstakademie geöffnet, nicht ohne erbitterte Diskussion über die kreative Eignung der Frauen. Die „neue Frau“ zeigte sich selbstbewusst und emanzipiert. Künstlerinnen erlebten eine Blütezeit. Dank der zahlreich entstandenen Organisationen für weibliche Kunstschaffende konnten sie jetzt einen großen Schritt in die Professionalität gehen. Künstlerinnen konnten nun häufig ihre Werke in speziellen Künstlerinnenausstellungen und Kunstmärkten zeigen und machten Studienreisen durch Europa, um sich weiterzubilden. Leider dauerte dieser Aufbruch nicht sehr lang. Künstlerinnen, wie die Pianistin Grete Sultan, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten den „rassehygienischen“ Erwartungen nicht entsprachen, mussten damit rechnen, verfolgt zu werden und ihre Kunst als „bolschewistisch und entartet “ diffamiert zu finden. Während einige ihr Leben in Gefahr sehen mussten, schien es bei anderen so, als hätten sie sich mit der Situation arrangiert. Sie stellten weiterhin ihre Kunst aus und veröffentlichten weiterhin ihre Bücher. Hier nennen wir beispielhaft Lizzie Hosaeus, Malerin und Zeichnerin, Ingeborg Wilutzky, Schriftstellerin und Elisabeth Wurster, Malerin. Auf eine andere Weise waren Frauen Lebens-Künstlerinnen, die für die Zeit, in der sie lebten, ganz untypische Berufe und Leidenschaften hatten. Wir stellen die Steglitzerin Maria Spelter vor: Sie überquerte als bisher einzige Frau auf einem Drahtseil die Niagarafälle – im Jahre 1876! Martha Rinow zog 1920 aus Deutsch-Südwestafrika nach Lichterfelde und betrieb einen Tattersall. Nicht alle waren Frauenrechtlerinnen, dennoch haben sie durch ihr Leben entgegen Konventionen vorbildlich dazu beigetragen, Frauenleben in ein anderes Licht zu setzen und ihnen zu mehr Anerkennung zu verhelfen.

Quellen: Wikipedia, Frauen in der Kunst Anne Kathrin Herber: Frauen an deutschen Kunstakademien im 20. Jahrhundert. Ausbildungsmöglichkeiten für Künstlerinnen ab 1919 unter besonderer Berücksichtigung der süddeutschen Kunstakademien, Dissertation Universität Heidelberg 2009

29 Lizzie Hosaeus 1910 – 1998

Malerin, Karikaturistin

„In Berlin am Roseneck wurde an einem besonders stürmischen und regengrauen Novembertag das Stiftlieschen ans Licht zur Welt gebracht.“ (1)

Mit diesen Worten beginnen die von Lizzie Hosaeus für einen Katalogtext aufgezeichneten Erinnerungen, Erinnerungen an ihren geliebten Vater, der ihr alles ermöglichte, aber auch viel von ihr forderte: „Du musst besser sein, unter Umständen auch hungern für Deine Kunst, sonst lass es bleiben.“ (2)

Lizzie wurde am 15. November 1910 geboren, und als sie drei Jahre alt war, zogen ihre Eltern ins Grüne, nach Berlin-Dahlem in die Parkstraße 86, die heutige Bernadotte Straße. Als die Eltern sich trennten, blieb Selbstporträt, 1990, Bleistift Lizzie bei ihrem Vater und es entwickelte sich ein sehr nahes Verhältnis. Der anerkannte Bildhauer und Medailleur Hermann Hosaeus war von 1933 bis 1945 ordentlicher Professor an der Fakultät für Bauwesen an der heutigen TU Berlin und Mitglied der NSDAP. Lizzies Welt war die des Vaters mit seinen Professorenfreunden, die einem konservativen Kunststil angehörten und wo über Expressionismus oder Dadaismus nicht gesprochen wurde. Es scheint, dass die Nazizeit und die Bedeutung der Gleichschaltung der Kunst ihr gar nicht so bewusst geworden sind.

Schon in ihrer Kindheit hat sie ihre selbst geschriebenen Märchen auch illustriert und ihre Neigung zum Phantastischen und Skurrilen war schon erkennbar. Mit 14 Jahren nahm sie Klavierunterricht und besuchte eine landwirtschaftliche Frauenschule, dort lernte sie, wie man mit Pflanzen, Hühnern und Schweinen umging.

Nach dem Abitur Ende der 20er Jahre machte Lizzie Hosaeus ein hauswirtschaftliches Jahr auf einer Reiffenstein-Schule, die für Höhere Töchter sehr beliebt war, nahm Privatunterricht in Zeichnen sowie Malen und lernte Handsetzerei bei der Hoboken-Presse Berlin. Während des Studiums erhielt sie Aufträge zu Illustrationen von Märchenbüchern, wie denen von den Gebrüdern Grimm und zu Tausendundeine Nacht. Sie bebilderte schwedische Trollgeschichten und Eisenhansmärchen bei namenhaften Verlagen. Als Kunstpädagogin ging sie 1934 an die Hochschule für Bildende Künste in Berlin, wo die Zeit als Meisterschülerin der Höhepunkt ihrer Studienzeit war. Das Erleben des Zweiten Weltkriegs schien ihr die Lust an den Märchen genommen zu haben. Obwohl sie Aufträge erhielt, lehnte sie ab. „Ich konnte das nicht mehr, nach all dem was geschehen war“ (3), sagte sie in einem Gespräch Anfang der 90er Jahre.

30 Klage und Anklage gesellschaftlicher, politischer und menschlicher Zustände wurden nun ihre Themen, Karikatur und Satire ihre künstlerischen Mittel. Es ging ihr nun um die Sichtbarmachung des Menschenbildes, die Isolation im Massenleben, um die Ängste, denen der Mensch begegnen muss. Lizzie Hosaeus Werke erscheinen in Satiremagazinen wie dem „Simplicissimus" und dem „Deutschen Michel".

Auf Lizzie Hosaeus wurde man in den 50/60er Jahren aufmerksam, obwohl sie, oder weil sie, eine Frau war, denn das Gebiet der Karikatur war und ist bis heute, eine Männerdomäne. Der „Verein der Berliner Künstlerinnen“ nahm sie 1951 auf, und als 1960 die GEDOK (Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen) in Berlin wieder neu gegründet wurde, war sie dabei. Einzel- und Gruppenausstellungen von Lizzie Hosaeus sind in vielen deutschen Städten und auch im Ausland zu sehen.

Seit den 60er Jahren organisierte der „Verein der Berliner Künstlerinnen“ Ausstellungen im Rathaus Schöneberg, dem Kunstamt Neukölln, der Galerie Am Buschgraben in Zehlendorf und der Galerie Dahlem-Dorf. Die Petrikirche Lichterfelde, die Galerie Futura in Friedenau und die Domäne Dahlem zeigen ihre Werke aus den Vor-und Nachkriegsjahren.

Als Gerechtigkeitsfanatikerin, wie sie sich selbst beschrieb, empfand sie die Benachteiligung der Frau und damit auch der Künstlerin, stets als skandalös. 1960 bereits, beinahe zehn Jahre vor Beginn der neuen Frauenbewegung, gehörte sie zu einem kleinen Kreis von Künstlerinnen, die das Recht auf Gleichbehandlung im Kunstbetrieb einklagten.

Lizzie Hosaeus war eine sehr starke Persönlichkeit, unabhängig wollte sie immer sein, und das war sie in ihrer Kunst, in ihren Ansichten, in ihrem Leben. Und trotz Krankheit hatte sie davon auch in den letzten Lebensjahren nichts eingebüßt. Lizzie Hosaeus verstarb am 12. Juli 1998. Ein Ehrengrab auf dem St. Annen-Friedhof Dahlem erinnert an ihre Verdienste.

Quellen: (1) (2) (3) Archiv des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1867 e.V., Nachlass von Lizzie Hosaeus

31 Johanna Margarete Sultan 1906 – 2005

Pianistin

"Ich bin Pianistin. Ich habe nie viel gesprochen in meinem Leben." Johanna Margarete Sultan, genannt Grete, war der Star der Neuen Musik der späten Zwanzigerjahre und eine gefeierte Interpretin von Bach und Schönberg gleichermaßen. Alte und Neue Musik an einem Konzertabend vorzutragen, der modernen Komposition eine angemessene Interpretation zuzugestehen, diesen Anspruch hatte sie ihr Leben lang. Das Wunderkind erhielt seine erste musikalische Ausbildung am Klavier von ihrer älteren Schwester und zwei Tanten, und jeden Samstag wurden Streichquartette in der Villa am Nikolassee gespielt, wo Wilhelm Furtwängler, Richard Strauss und Max Liebermann verkehrten. Jeder in der Familie musizierte, aber Grete wollte weiter. Sie studierte bei Leonid Kreutzer und . Seit ihrer Kindheit war , ein junger Amerikaner, der in Berlin seine Klavierstudien weiterführen wollte und in dem großbürgerlichen jüdischen Haus verkehrte, Gretes Vorbild und Förderer. Er begleitete ihren musikalischen Werdegang bis zu seinem Tod 1952. Sie liebte die Orgel und spielte bei Kindergottesdiensten, trat schon mit 15 Jahren in die Berliner Musikhochschule ein, um bei Leonid Kreutzer zu studieren. Einen normalen Schulabschluss strebte sie nicht an, sie wollte Musik machen, nichts anderes, und sie repräsentierte einen neuen Typ von Frauen am Klavier, die sich gegen die Vorstellungen der Männer international behaupten können. Poesie und Kraft kennzeichneten ihr Spiel als scheinbare Widersprüche. Seit 1935 darf Grete keine deutsche Musik mehr öffentlich spielen und nur noch vor Juden vortragen. Johanna Margarete Sultan muss ab 1939 Sarah als Mittelnamen führen. Im selben Jahr werden die Sultans enteignet und verlieren ihr Haus in Zehlendorf an „Volksdeutsche“. Die Familienmitglieder leben an verschiedenen Orten und können sich kaum sehen, weil sie keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen dürfen. Gretes Bruder hatte bereits Selbstmord verübt, weil er mit einer Nichtjüdin verlobt war und den Druck durch den Vorwurf der Rassenschande nicht aushielt. Eine Familie, die einen Tempel nur von innen kennt, weil er nach dem Auftrittsverbot zum Konzertsaal wird, und auch den jüdischen Kulturbund nur für eigene Darbietungen frequentiert, die die Feiertage ignoriert, weil sie lieber musiziert, soll ausgelöscht werden. Deutschland vertrieb und ermordete sein Bildungsbürgertum. Gretes Eltern bekommen ein Visum für die Schweiz. Kurz vor der Abreise stirbt der Vater – Grete meint, an gebrochenem Herzen, weil er sein Berlin verlassen sollte. Die Mutter kann von Verwandten über die Grenze gebracht werden. Im Februar 1941 wird Grete am Bahnhof Zoo unter unklaren Umständen in einen Waggon gesperrt.

32 Bis zuletzt ist sie sich nicht sicher, ob der Zug nicht nach Auschwitz fährt, aber er fährt nach Frankfurt, und von dort nach Paris. Nicht in ein Konzentrationslager, wo schon mehrere Verwandte umgekommen waren. Aber das wird ihr erst nach Monaten klar, als an der portugiesischen Grenze die Türen des Waggons geöffnet werden und die Nazis sie gehen lassen müssen. Im Juni 1941 schafft sie es, auf ein Schiff in die USA zu kommen. Seit 1946 war Grete freundschaftlich mit dem amerikanischen Komponisten verbunden und ihre lange währende Zusammenarbeit mündete in einem 85-teiligen Zyklus „“, den er für sie schrieb. Die 1974 entstandenen Etudes Australes spielte sie bis ins hohe Alter in der ganzen Welt. Im Januar 1955 reiste Grete Sultan zum ersten Mal seit ihrer Flucht wieder nach Berlin und spielte Werke von Arnold Schönberg und . Sie wollte jedoch nicht für immer nach Deutschland zurückkehren. Auch ein Angebot Theodor W. Adornos für eine Professur lehnte sie ab. Nach mühseligem Briefwechsel wurde ihr eine kleine Opferrente vom Entschädigungsamt zugesprochen und 2002 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Wenige Tage nach ihrem 99. Geburtstag starb Grete Sultan in einem New Yorker Krankenhaus. Sie bekam ein Ehrengrab in New York Ferncliff. In ihrem Bezirk, in ihrer Stadt, erinnert keine Gedenktafel an sie.

Wohnhaus Ernst-Ring-Straße 2

Quellen: Jean-Claude Kuner: 32 Betrachtungen über Grete Sultan – Eine Pianistinnen-Karriere, Feature WDR 2002 Wikipedia: Johanna Margarete (gen. Grete) Sultan

33 Ingeborg Wilutzky 1916 – 1998

Schriftstellerin

„Engel der Schriftsteller“ ( 1)

Die am 12. Juli 1916 geborene Charlottenburgerin hatte ihr Herz in Lichterfelde verloren, wo sie von klein auf verwurzelt war. Sie wuchs im Carstenn-Viertel als Ingeborg Meyn auf, besuchte dort die Schule und nahm Tanzstunden in der ehemaligen Kadettenschule. Aufgrund ihrer künstlerischen Begabung erhielt sie eine Ausbildung bei dem Bildhauer Walter Jüngst, die sie später an einer Kunstschule fortsetzte. Im Bahnhofsrestaurant Lichterfelde-West lernte sie auf der Silvesterfeier 1935 ihren späteren Ehemann, den bekannten Arzt Horst Wilutzky kennen und schon vier Monate später fand die Verlobung statt. Das gemeinsame Glück wurde im Oktober 1939 jäh unterbrochen, als Horst den Einberufungsbefehl erhielt. Dennoch konnte Ingeborg in ihrer wenigen gemeinsamen Zeit vier Kindern das Leben schenken. Einen Sohn verlor sie bei einem Bombenangriff auf Berlin. Um ihre Kinder durchzubringen, zog sie während des Krieges mit einem Handwagen von Dorf zu Dorf und führte in Schulen und Gasthäusern selbstverfasste Puppenspiele mit selbst gebastelten Puppen vor. Die Not hatte ihr verborgenes Talent aktiviert. Sie verfasste ein Bilderbuch mit eigenen Illustrationen, ein Märchenbuch und einen Mädchenroman. Erst 1947 kehrte sie nach Berlin zurück. Da ihr Mann in russischer Gefangenschaft war, musste sie das tägliche Brot für ihre Kinder weiterhin alleine verdienen. Sie fing an, kunstgeschichtliche Betrachtungen für Lehrerzeitungen sowie Kurzgeschichten zu verfassen und wurde Kritikerin von Berliner Ausstellungen. Sie schrieb für Tageszeitungen und Zeitschriften, und es entstanden zwei Jugendbücher: „Lolo“ und „Von Elfen und Zwergen“ in dieser Zeit. Ihr Mann kehrte 1948 zurück und erhielt bald die Anerkennung als Facharzt für Chirurgie. Eine Praxis wurde eingerichtet, in der Ingeborg in der Sprechstunde half. Ihre Schriftstellerei konnte sie jedoch nicht an den Nagel hängen und erstellte Lokalspitzen für eine bekannte Berliner Zeitung. Richtig in Schwung kam sie nun in den Fünfzigerjahren, als sie Kindererzählungen fürs Radio schrieb, u.a. auch für „Onkel Tobias vom Rias“, der damals bekannten Kindersendung. Ingeborg Wilutzky bekam immer mehr Aufträge und wurde zu einer viel beachteten Journalistin: Kulturpolitische Artikel, Aufsätze, Kritiken und was das Zeitungswesen in Sonderspalten zu bieten hatte. Sie spürte alte, minderbemittelte und kranke Schriftsteller auf, denen sie ihre Unterstützung anbot, und gründete 1977 den „Bundesverband Deutscher Autoren“. Es folgten ehrenvolle Anerkennungen, wie 1995 das Bundesverdienstkreuz. Sie verstarb im Januar 1998. Quelle:(1) Steglitzer Anzeiger 28/1981, Engel der Schriftsteller

34 Elisabeth Wurster 1919 – 1977

Malerin

Elisabeth Wurster war in ihrer Zeit eine bekannte Malerin, die sehr gerne Zehlendorfer Motive wählte. Sie wurde am 3. Oktober 1919 in Schöneberg geboren. Ihr großes Kunstinteresse wurde durch ihren Vater geweckt, der ein begeisteter Kunstsammler war. Im Jahre 1922 zog die Familie nach Zehlendorf und Elisabeth besuchte die Droste-Hülshoff-Schule. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg machte sie eine dreijährige Ausbildung im Nähen und Modezeichnen im Lette-Verein in Schöneberg.

Baum vor der Meeresbucht Nach einer Studienreise mit einer Schülergruppe der Reimannschule zum Landschaftszeichnen in Jugoslawien entstand ihr Wunsch, Malerin zu werden. Die Eltern unterstützten sie und sie erhielt Malunterricht im Atelier bei Moritz Melzer. Bei Wiedereröffnung der Hochschule für Bildende Künste in Berlin 1947 wurde sie als Schülerin aufgenommen und lernte bei Ernst Schumacher. Sie ging danach zunächst ein halbes Jahr nach Paris, reiste auch nach Holland und Italien, und viele ihrer Bilder zeichnen heute noch ihre Leidenschaft und ihr Interesse zu den Landschaften dieser Länder aus. Bei all diesen Reisen erwarb sie neben den Erfahrungen im Landschaftszeichnen und Aquarellmalen auch Kenntnisse der Kunstgeschichte durch Besuche von Museen und Ausstellungen. Auch lernte und vertiefte sie dabei ihr Französisch und Italienisch. Ihr Fachgebiet waren Ölbilder, Skizzen, Radierungen und Aquarelle. Am liebsten malte sie den Garten ihrer Eltern in Zehlendorf. In den 50er und 60er Jahren stellte sie viel in Berliner Galerien aus und hatte zahlreiche Erfolge. Eine ihrer Ausstellungen im Jahr 1961 nannte sich „Blumenland“ in der Galerie Rosen in der Pariser Straße. Weitere Ausstellungen gab es 1956 im Kunstamt Charlottenburg und 1970 im Kunstamt Zehlendorf. Sie begeisterte die Berliner mit den Motiven ihrer Stadt. Trotz schwerer Krankheit malte sie stets weiter. Am 12. April 1977 starb sie in ihrem kleinen Haus in der stillen Katharinenstraße in Zehlendorf. Ihr letztes Bild von der baumbestandenen Biesalskistraße in der Nachbarschaft hatte sie noch fertigstellen können. Sie bekam ein Ehrengrab auf dem Friedhof Zehlendorf.

Quellen: Kunstamt Berlin-Reinickendorf: Elisabeth Wurster, Katalog 1980 www.berlin.friedparks.de: Friedpark Zehlendorf, Ehrengrab.

35 Maria Spelter 1853 – 1912

Die Heldin von Niagara

Die Wiege der am 7. Juli 1853 geborenen Maria Spelter stand in der Nähe des Schlosspark-Theaters in Berlin-Steglitz. Sie war nur eine kleine Artistin, unscheinbar und schlicht, doch lachte ihr Herz jeder Gefahr mit Berliner Keckheit ins Gesicht. Ihre Eltern, die eine kleine Landwirtschaft betrieben, beeindruckte Maria oft mit ihren Kunststücken. Auch die Zirkusleute, die sich in die damalige Landgemeinde Steglitz verirrten, begeisterte sie mit Balanceakten auf dem Seil. Hier bereitete sie sich auf ihre Berufung vor, die sie in der ganzen Welt bekannt machen sollte.

Als sie einem Seiltänzer auf große Fahrt nach Nordamerika folgte, gab sie sich den Künstlernamen Spelterini. In der neuen Welt trainierte sie monatelang, ohne etwas über ihr Vorhaben zu verraten. Erst als keine Zweifel mehr vorhanden waren, dass ihr der Übergang über den 900m breiten und 48m hohen Hufeisenfall gelingen würde, gab sie der Öffentlichkeit bekannt, in sechs Wochen ein Seil über die gefürchteten Fälle zu spannen und die Überquerung zu zeigen. Vergebens hatten Marias Freunde zuvor die Polizei gebeten, den Übergang zu verbieten, da er unweigerlich mit dem Absturz des Mädchens enden müsse. Man traute damals selbst in Amerika einer Frau diese Leistung nicht zu. Aber Maria ließ sich nicht aufhalten. Am Morgen des 19. Juli 1876 betrat sie das Drahtseil über die Niagarafälle. Die kleine Steglitzerin war die erste Frau der Welt, die sich das traute, und sie war gerade 23 Jahre alt. Sie überschritt ruhig und selbstsicher die tosenden Wassermassen. Mit verbundenen Augen und in korbartigen Schuhen trat sie den Rückweg an, inmitten der atemlosen Spannung einer riesigen Menschenmenge, in der einige Damen in Ohnmacht sanken. Tausende von Amerikanern wurden Zeugen dieser außerordentlich kühnen Leistung und waren begeistert, während die Presse behauptete, es handele sich um einen Selbstmordversuch. Maria Spelterini wurde in Amerika bejubelt wie eine Heldin. Sie erhielt unzählige Heiratsanträge, Anerkennungen und Angebote für Engagements. In Berlin feierte die Presse die berühmt gewordene Tochter ihrer Stadt, die Steglitzer Bauerntochter, als kühne Siegerin über Tod und Gefahr. Am 19. Oktober 1912 verstarb sie in Philadelphia.

Quelle: Steglitzer Anzeiger 28.4.1951

36 Martha Rinow 1870 – 1958

Tattersallbesitzerin

Der verlorene Erste Weltkrieg führt auch im weit entfernten Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, zu großen Veränderungen. Bis 1919 wird etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung Südwestafrikas nach Deutschland zurückgeschickt. So müssen auch Fritz und Martha Rinow ihr Gestüt aufgeben und sich in der alten Heimat eine neue Existenz aufbauen. Für Fritz Rinow als ehemaligem Zieten-Husar steht fest: Etwas mit Pferden soll es sein. Seine Frau teilt schon seit Langem diese Leidenschaft. Das Ehepaar zieht nach Berlin, wo es sich trifft, dass gerade in der Lichterfelder Bellevuestraße, dem heutigen Weddigenweg, ein Tattersall, eine Reitanlage, zu verkaufen ist. 20 Jahre zuvor ist hier, im aufstrebenden Vorort Groß-Lichterfelde, gegen teilweise erbitterten Widerstand der neuen Villenbesitzer ein Reitstall eröffnet worden. Immer wieder kommt es zu Eingaben und Beschwerden über den von diesem Etablissement ausgehenden Lärm. Das Schnauben und Stampfen der Pferde, das Klirren der Ketten und das Poltern der Hufe gegen die hölzernen Wände bringt die Nachbarn um den Schlaf. Vergeblich weist der Besitzer auf die weit im hinteren Grundstücksbereich befindliche Lage des Gebäudes, seine geringe Höhe und die weiten Abstände zu den umliegenden Grundstücken hin. Als nun die Familie Rinow das Geschäft übernimmt, scheint sie insgesamt ein glücklicheres Händchen im Umgang mit den Nachbarn zu haben und prominente Fürsprecher: In wenigen Jahren wird aus dem versteckten Reitstall ein Treffpunkt der reitsportbegeisterten guten Gesellschaft. In schmucken roten Röcken, angeführt von Fritz und Martha, finden Ausritte nach Düppel und in den Grunewald statt. Abendliches Musikreiten in den Räumen des Tattersalls ist ein gesellschaftliches Ereignis. Martha, konservativ im Damenreitsitz und im eleganten schwarzen Reitdress, führt dabei die Spitze an. Hier treffen sich einflussreiche Mitglieder aus Wirtschaft und Wissenschaft, zum Beispiel Angehörige der Familien Brenninkmeyer, Ruhnke und Wedell oder Prof. Brüning vom Rittberghaus. Als Fritz Rinow 1933 stirbt, bricht für Martha Rinow eine harte Zeit an. Zwar hält sie mit viel Engagement und Fleiß das Geschäft am Leben, aber die Zeit der rauschenden und frohen Feste ist vorbei. Sie wird gezwungen, ihren Reitstall der „KdF“ (Kraft durch Freude) für Reitkurse zur Verfügung zu stellen. Die in der Finckensteinallee stationierte Leibstandarte der SS besetzt die Reitbahn des Tattersalls, nachdem das Dach ihrer eigenen Reithalle zusammengebrochen war. Nach Kriegsbeginn requiriert die SS vier ihrer schönsten Pferde und die Reitbahn wird zum Exerzierplatz – die Zeit des alten Tattersalls ist endgültig vorbei.

37 Unter großen Schwierigkeiten kann Martha Rinow das Unternehmen noch bis 1941 halten. 1943 trifft eine Luftmine das Gelände und macht es dem Erdboden gleich. Ein buntes, glanzvolles Kapitel Lichterfelder Dorfgeschichte geht zu Ende. Martha Rinow stirbt 1958.

Quellen: Fechner, Erhard: Versuch einer Chronik, Steglitzer Anzeiger 1966 (7) Lehmann, Dörte: Der alte Lichterfelder Tattersall, Steglitzer Anzeiger 1958 (6)

38 Kirchlicher Widerstand und Verfolgte des NS-Regimes

In der Zeit zwischen 1933 und 1945 wurden die bereits errungenen Rechte für Frauen weitgehend rückgängig gemacht und die Verfolgung und Terrorisierung der Juden erreichte ein unvorstellbares, unmenschliches Ausmaß. Widerstand war selten, nur ca. 1% der Bevölkerung stellte sich der nationalsozialistischen Gleichschaltung entgegen. Auch die Kirchen in Deutschland betrieben die „Arisierung“, entließen ihre Mitarbeiter/innen mit jüdischer Herkunft und schlossen auch getaufte Juden aus ihren Reihen aus. Außerdem halfen die beiden Staatskirchen bei der Suche nach getauften Juden mit und lieferten sie somit der Deportation und Vernichtung aus. Aber trotzdem gab es Bestrebungen, sich diesen Entwicklungen entgegenzusetzen. In Steglitz-Zehlendorf tat sich hier besonders die Gruppe der „Bekennenden Kirche“ hervor. Sie hatte sich als Bewegung gegen die „Deutschen Christen“ gebildet, eine rassistische und antisemitische Bewegung innerhalb der protestantischen Kirche, die die Gleichschaltung der Kirche mit dem nationalsozialistischen Staat zu erreichen suchte. Im April 1933 erließ die nationalsozialistische Regierung den sogenannten Arierparagraphen, der Juden verbot, Beamte zu werden. Die gleichgeschaltete Kirche griff dies begeistert auf und ging sogar so weit, selbst die Ehe mit einem jüdischen Partner als Entlassungsgrund heranzuziehen. Als Reaktion hierauf gründete sich im September der „Pfarrernotbund“. Um die engagierten Pfarrer Niemöller und Bonhoeffer bildete sich die Gruppe der sogenannten Dahlemiten. Diese nahmen das Bibelwort „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr auch mir getan“(1), sehr ernst. Besonders tat sich hier eine Gemeinschaft couragierter und intelligenter Frauen hervor: Hildegard Jacoby, Helene Jacobs und Gertrud Staewen. Diese brachten große Opfer, auch finanzieller Art, und gingen ein hohes persönliches Risiko ein. So besorgten sie z. B. Ausweise und andere Dokumente, die von einem jüdischen Graphiker, Cioma Schönhaus, gefälscht wurden, der illegal in der Wohnung von Helene Jacobs lebte. Lebensmittelkarten mussten gekauft werden, zum Teil wurden diese auch durch Diebstahl beschafft. Um dies zu bewerkstelligen, nahmen einzelne Mitglieder der Gruppe Verbindungen zur Unterwelt auf. 1943 wurde die Gruppe durch Denunziation zerschlagen. Die Mitglieder kamen ins Zuchthaus, Gefängnis oder ins Konzentrationslager. Einige überlebten diese Tortur nicht.

Der Terror gegen die Juden ging weiter. Außer den im Widerstand aktiven Frauen stellen wir hier Jüdinnen vor, die allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer Herkunft verfolgt und ermordet wurden: Leonore Heinemann, Martha Liebermann und Ruth Simon.

Quellen: (1) Matthäus Evangelium 25,31 Hans-Rainer Sandvoß und Wolfgang Göbel: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, 1933-1945

39 Helene Jacobs 1906 – 1993

Eine mutige, widerständige Frau

Helene Jacobs engagierte sich in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in der evangelischen Kirche und wirkte für das Verständnis zwischen Juden und Christen. Sie wurde am 25. Februar 1906 als Tochter einer Lehrerin in Schneidemühl (Westpreußen) geboren und wuchs ohne Vater und unter großen Entbehrungen in Berlin auf. Nach ihrem Schulabschluss belegte sie einen Handelskursus und arbeitete viele Jahre als Kanzleiangestellte bei einem jüdischen Patentanwalt. Als dieser durch die Nazis verfolgt wurde, half sie ihm, das Land zu verlassen. Dieses Ereignis war der Auslöser, dass sich Helene 1934 der „Bekennenden Kirche“ Dahlem anschloss. Dort lernte sie bei Veranstaltungen weitere Helfer und Helferinnen für Verfolgte kennen und arbeitete seit 1940 auch in der „Dogmatischen Arbeitsgemeinschaft“ mit, einer theologisch ausgerichteten Gruppe, die überwiegend aus Frauen bestand. Sie organisierte eine „Paket-Aktion“ mit Kleidung und Lebensmitteln für die Stettiner Juden, die nach Lublin (Polen) deportiert worden waren. Dieses war der Beginn zu weiteren riskanten Rettungsaktionen. Als Ende Oktober 1941 die ersten Berliner Juden deportiert wurden, bat der Jurist Dr. Franz Kaufmann, selbst Jude und im Widerstand, die Mitglieder des Arbeitskreises, Juden zu verstecken und zur Flucht zu verhelfen. Helene Jacobs und einige andere Frauen, überwiegend aus dem bürgerlich-protestantischen Milieu stammend, machten in mehrfacher Hinsicht einen couragierten Schritt, denn sie mussten hierzu zu sogenannten Unterweltkreisen Kontakt aufnehmen sowie mit kriminellen Mitteln arbeiten, um die Untergetauchten mit falschen Ausweispapieren zu versorgen. Sie unterstützten damit die Arbeit des evangelischen Pfarrers Heinrich Grüber im Büro der „Bekennenden Kirche“ Dahlem. Auch er war NS-Gegner und verhalf seit 1938 „nichtarischen" evangelischen Christen zur Flucht aus Nazi-Deutschland. Die allein lebende Helene Jacobs versteckte in ihrer Wohnung einen per Steckbrief gesuchten jungen Grafiker und Passfälscher. Gemeinsam mit der Gruppe half Helene Jacobs nun auch den Untergetauchten mit den von ihm gefälschten Ausweisen und gesammelten Lebensmittelkarten. Etwa 200 Menschen konnten damit versorgt werden. Die Gruppe wurde 1943 verraten, Helene und Franz Kaufmann verhaftet, gefolgt von weiteren 50 Personen. Helene wurde „nur“ wegen versuchter Urkundenfälschung und der Übermittlung von Lebensmittelkarten angeklagt und vor Gericht gestellt. Das wahre Ausmaß ihrer Rettungsarbeit konnte die Gestapo nicht ermitteln, und so wurde sie 1944 zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nach Kriegsende studierte sie Jura und war weiterhin bemüht, das Verständnis zwischen Juden und Christen zu fördern. 1968 wurde sie von Yad Vashem mit dem Ehrentitel des Staates Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, und als Ehrenmitglied der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ erhielt sie 1968 auch die Buber-Rosenzweig-Medaille.

40 Helene Jacobs verstarb am 13. August 1993 und wurde auf dem Waldfriedhof-Dahlem begraben, wo sie 2004 ein Ehrengrab erhielt.

Gedenktafel Bonnerstraße 2 in Wilmersdorf

Quellen: Wikipedia: Helene Jacobs www.gdw-Berlin.de, Gedenkstätte Deutscher Widerstand www.Künstlerkolonie-Berlin.de: Widerstand in der Künstlerkolonie

41 Margarete Meusel 1897 – 1953

Wohlfahrtspflegerin

„Ich weise niemanden ab“

Das oberschlesische Falkenberg wird am 26. Mai 1897 der Geburtsort von Margarete Meusel, genannt Marga. Die studierte Wohlfahrtspflegerin übernimmt 1932 die Leitung des Evangelischen Bezirkswohlfahrtsamts der Inneren Mission am heutigen Teltower Damm 4 in Berlin-Zehlendorf. Besucher der Sprechstunden sind vor allem werdende und ledige Mütter, Erholungsbedürftige, Straffällige, Alkoholiker, Arbeits- und Obdachlose. Jedes Jahr werden etwa 1800 Menschen betreut. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kommen neue Gruppen hinzu: Die sogenannten Erbkranken und die rassisch Verfolgten. Marga Meusel lehnt die nationalsozialistische Rassenideologie von Anfang an ab. Engagiert setzt sie sich nach 1933 für Christen jüdischer Herkunft ein. Vor dem Hintergrund des Wirkens der „Braunen Christen“ bildet sich die „Bekennende Kirche“, für deren Ziele Marga Meusel entschieden eintritt. Wiederholt fordert sie dazu auf, eine zentrale kirchliche „Hilfsstelle für christliche Nichtarier“ einzurichten, die sie ab 1941 leitet. Unter Einsatz ihres Lebens vermittelt Meusel von Deportationen in Vernichtungslager bedrohte Frauen in sichere Unterkünfte, wie in Heime oder Pfarrhäuser, und beschafft Lebensmittel und Ausweispapiere. Auch die als Jüdin verfolgte und aus ihrer Arbeitsstelle entlassene christlich getaufte Charlotte Friedenthal wurde ehrenamtliche Mitarbeiterin Meusels. Nach Kriegsende wollte Meusel beim Wiederaufbau in Kirche und Volk helfen und hatte viele Pläne. Über den kirchlichen Reform-Kurs zu dieser Zeit war sie jedoch tief enttäuscht. Dies und die seelische Überforderung während der NS-Zeit, von der sie sich nicht erholen konnte, waren sicher Gründe für eine lebensbedrohliche Erschöpfung. Einsam und verbittert starb sie am 16. Mai 1953 in Berlin. Im Jahr 2006 ehrte sie die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“. Das Andenken Marga Meusels wird heute durch eine Gedenktafel an ihrer Wirkungsstätte, dem Gemeindehaus Teltower Damm 4 in Berlin-Zehlendorf, bewahrt.

Quellen: Dr. Hans-Joachim Kuke: Festschrift „100 Jahre Pauluskirche“, 2005 Hartmut Ludwig: „Ich stehe für das, was ich tue, gerade“ Marga Meusel – eine Gerechte unter den Völkern, Vortrag in Yad Vashem, 2006

42 Gertrud Staewen 1894 – 1987

Fürsorgerin

„Ich werde gern mit Rudi Dutschke auferstehen“ soll Gertrud Staewen einmal gesagt haben, als ihr die Grabstelle im Doppelgrab neben Rudi Dutschke in Aussicht gestellt wurde. Wer war diese Frau, die der St. Annen Kirche in Dahlem so viel bedeutete, dass sie ihr diese Ehre erwies? Sie wurde am 18. Juli 1894 als Gertrud Ordemann in Bremen geboren und wuchs in behüteten Verhältnissen in ihrer Heimatstadt und der Schweiz auf. Bereits als Jugendliche engagierte sie sich in evangelischen Einrichtungen. Gegen den Willen ihres Vaters ging sie nach Berlin, um hier eine Ausbildung zur Fürsorgerin/Erzieherin am Institut Anna von Gierke in Berlin Charlottenburg zu beginnen. 1923 heiratete sie und bekam zwei Kinder. Nach der Scheidung, wenige Jahre später, versuchte sie Ihren Lebensunterhalt durch Schreiben zu verdienen. Als Mitglied der Berliner SPD schrieb sie in der Nazizeit zwei Bücher, die sich mit sozialkritischen Themen befassten. Diese wurden umgehend nach ihrem Erscheinen verboten. 1936 kam sie durch eine Tätigkeit im christlichen Burckhardthaus-Verlag in Berlin Dahlem zur Dahlemer Kirchengemeinde unter Helmut Gollwitzer. Hier traf sie auf andere gleichgesinnte Frauen und Männer, die sich mutig für verfolgte „nichtarische Christen“ einsetzten. Als die Gruppe 1943 denunziert wurde, gelang es Frau Staewen, sich der Verhaftung zu entziehen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Weimar, wo sie ein Jahr lang im Auftrag der sowjetischen Militärregierung einen antifaschistischen Frauenausschuss leitete, kehrte sie 1946 nach Berlin zurück und arbeitete von 1948 bis zu ihrem Ruhestand als Fürsorgerin im Männergefängnis Tegel. Dort wurde sie „Engel der Gefangenen“ genannt. Einige „Ganoven“, bescheinigten ihr, „sie verderbe den Nachwuchs“, da es ihr gelang, viele wieder auf den rechten Weg zu bringen. 1958 wurde sie vom Berliner Senat in die Liste „Unbesungener Helden“ aufgenommen, eine Auszeichnung, die mit einer finanziellen Unterstützung verbunden war. 1983 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande. Und Rudi Dutschke? Als der Studentenführer 1979 an den Folgen des Attentats auf ihn starb, stellte Pfarrer Gollwitzer das ursprünglich für Pfarrer Niemöller vorgesehene Doppelgrab zur Verfügung, und es kam die Frage auf, wer neben „Dr. phil. Rudi Dutschke“ liegen sollte. Für Gertrud Staewen war das Angebot nach ihrer Aussage eine Ehre und so wurde sie nach ihrem Tod am 10. Juni 1987 dort auf dem St. Annen-Friedhof in Dahlem beerdigt.

Quellen: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon: Gertrud Staewen, Verlag Traugott Bautz Materialdienst Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau, Zu den Außenseitern gestellt Wikipedia: Gertrud Staewen

43 Dr. Elisabeth Schmitz 1893 – 1977

Lehrerin – Studienrätin

„Das Gesicht einer Studienrätin, schmal, Brille, nicht unbedingt ein Blickfang für heiratswillige Männer; insgesamt eine ausgesprochene evangelisch-pfarrfrauenhafte Erscheinung. Der weibliche Körper wurde von ihr nicht nur verhüllt, sondern geradezu versteckt. Er hatte zu funktionieren für den Dienst, für den Geist, ansonsten galt es, ihn zu neutralisieren.“ (1) Elisabeth Schmitz wurde am 23. August 1893 als jüngste Tochter eines Gymnasialprofessors in Hanau geboren. Alle drei Schmitz-Töchter besuchten standesgemäß eine vornehme private „Höhere Mädchenschule“ und die 15-jährige Elisabeth wechselte danach auf ein Mädchengymnasium in Frankfurt. Nach dem Abitur, fünf Jahre später, studierte sie in Bonn und Berlin die Fächer Theologie, Germanistik und Geschichte. Als sie 1921 das Studium mit dem Ersten Staatsexamen in Berlin abschloss, gehörte sie damit zur ersten Generation von Frauen in Deutschland, die studieren konnten und denen, wenn auch zunächst noch in engen Grenzen, eine eigenständige berufliche Tätigkeit mit akademischem Abschluss offen stand. 1929 wurde sie am Luisengymnasium, einer Mädchenschule in Berlin-Mitte, als Studienrätin angestellt, bis sie 1935 wegen ihrer radikalen Ablehnung des Nationalsozialismus in die Auguste-Sprengel-Schule am Stadtrand von Lankwitz versetzt wurde. An der heutigen Beethoven-Schule, Barbarastraße 9, befindet sich eine Gedenktafel. Elisabeth Schmitz gehörte seit 1933 dem Kirchenvorstand der Kaiser-Wilhelm-Gedächniskirche an und stand mit dem Gemeindepfarrer Gerhard Jacobi, dem späteren Bischof von Oldenburg und den Dahlemer Pfarrern Franz Hildebrandt und Helmut Gollwitzer in enger Verbindung. Im Jahr 1934 schloss sie sich der „Bekennenden Kirche“ an und arbeitete in der „Dogmatischen Arbeitsgemeinschaft“ mit. 1935 verfasste sie eine Denkschrift für die „Bekennende Kirche“ und gab ihr den Titel „Zur Lage der deutschen Nichtarier.“ Ihre Bedeutung wurde lange verkannt, auch weil die Autorenschaft bis 1999 fälschlicherweise der Leiterin des evangelischen Bezirkswohlfahrtsamts Zehlendorf, Marga Meusel, zugeschrieben wurde, ein Gerücht, das vermutlich von Wilhelm Niemöller kolportiert wurde. Am bedeutendsten war jedoch der Fund der handschriftlich von ihr mehrfach überarbeiteten Urfassung der Denkschrift. Neue Lehrpläne hatten als oberstes Richtziel die „Formung des nationalsozialistischen Menschen“ auf rassistischer, militaristischer und totalitärer Grundlage, dem konnte und wollte Elisabeth Schmitz nicht nachkommen. Die Reichspogromnacht 1938 trieb sie in eine tiefe Krise und ihr wurde klar, dass sie ab jetzt diesem Staat nicht mehr als Beamtin dienen wollte. „Wer Menschen markiert, achtet nicht einmal ihr Leben.“ (2) Damit gab sie das auf, wofür sie 20 Jahre gekämpft hatte, nämlich eine unabhängige Existenz als Frau.

44 Die damals 45-Jährige ließ sich in den Ruhestand versetzen. Zwischen 1940 und 1942 arbeitete sie mit dem Bekenntnispfarrer Wilhelm Jannasch in Berlin-Friedenau zusammen, besuchte Juden und gab ihnen in deren Wohnung Taufunterricht, und in ihrem Wochenendhaus in Wandlitz unterstützte sie Menschen mit Geld und Lebensmittelkarten. Im August 1943 kehrte sie zu ihrer Familie nach Hanau zurück. Auch wenn sie lieber wissenschaftlich gearbeitet hätte, trat Elisabeth Schmitz ein Jahr nach Kriegsende erneut in den aktiven Schuldienst und wurde 1947 ins Beamtenverhältnis übernommen. 1958 wurde sie pensioniert. Sie zeichnete sich durch eine eindeutige christliche und humanistische Position aus und war von einem unbeugsamen Wahrheitsethos beseelt. 2008 drehte ein Amerikaner einen Dokumentarfilm über Elisabeth Schmitz, und Bundeskanzlerin Angela Merkel erwähnte sie in ihrer Rede zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht Sie verstarb am 10. September 1977 in Offenbach und wurde in ihrem Geburtsort Hanau beigesetzt, wo sie ein Ehrengrab und einen Gedenkstein erhielt.

Gedenktafel am Beethoven-Gymnasium in der Barbarastraße 9

Quellen: (1) Ev.-Luth. Kirchengemeinde Eimsbüttel / www.kirche.eimsbuettel.de (2) Biograf Manfred Galius: Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Konturen einer vergessenen Biografie (1893 - 1977), Wichern-Verlag 2008

45 Ruth Agnes Veit-Simon 1914 – 1943

Abiturientin

Am 9. November 2010 fand eine kleine Gedenkfeier zu Ehren von Ruth Agnes Veit-Simon an der Fichtenberg- Oberschule statt. Ruth machte hier im Jahre 1932 ihr Abitur. Sie war die einzige jüdische Schülerin an dieser Schule und sie wurde von den Nazis ermordet. Mit dem Erlass des „Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom April 1933 hatte sich die Situation für jüdische Kinder verschärft. Sie waren von Schulfeiern und Ausflügen ausgeschlossen und private Kontakte zwischen nichtjüdischen und jüdischen Schülern gab es ab 1935 kaum noch. Als Tochter des jüdischen Rechtsanwalts und Notars Heinrich Simon wurde Ruth am 3. Januar 1914 geboren. Sie besuchte die Studienanstalt des Auguste-Viktoria-Lyzeums, wie damals die Fichtenberg-Schule hieß, fünfeinhalb Jahre bis zu ihrem Abitur. Doch kurz vor dem Abschluss war sie nicht in die Oberprima versetzt worden und verließ die Schule für ein halbes Jahr. Sie erarbeitete sich jedoch den Stoff privat, um eine Prüfung zur Wiederaufnahme in die alte Klasse an derselben Schule ablegen zu können. Viel ist nicht darüber bekannt, was sie nach dem Abitur machte oder machen wollte, nur so viel, dass sie und ihre Schwester Etta unter den Nazis bei Zeiss- Ikon in Zehlendorf Zwangsarbeit leisten mussten. Als „Frontkämpfer" des Ersten Weltkrieges konnte ihr Vater bis zum allgemeinen Berufsverbot für Juden 1938 als Anwalt arbeiten und wurde anschließend als „Konsulent" zwangsverpflichtet, das hieß, er konnte nur noch Juden vertreten. Er starb am 18. Mai 1942. Ruths Mutter war nicht jüdisch, was ihre Kinder jedoch nicht schützte. Ruth und ihre Schwester Etta wurden am 7. Juli 1942 aus der Wohnung der Familie am Hindenburgdamm 11 in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 verschleppt und von dort aus nach Theresienstadt deportiert, wie auch später die Tante und die Großmutter. Ruths Mutter blieb allein zurück. Ruth Simon starb am 26. Juli 1943 in Theresienstadt. Sie wurde nur 29 Jahre alt. Ihre vier Jahre jüngere Schwester Etta überlebte als Einzige der deportierten Familienangehörigen das Lager.

Stolperstein vor der Schule Fichtenberg-Oberschule Gedenktafel in der Schule

Quelle: Marianne Büning: Werte im Wandel. Gesichter eines Berliner Gymnasiums: Fichtenberg-Oberschule 1904-2004, S. 320-321, 1. Auflage 2003

46 Martha Liebermann 1857 – 1943 Künstlergattin und Verfolgte des Naziregimes „Es ist zwar eine Ehre, mit dir verheiratet zu sein, aber kein Vergnügen“, soll Martha Liebermann einmal zu ihrem Mann Max Liebermann, dem berühmten Maler gesagt haben. Dieser Satz deutet darauf hin, dass Martha Liebermann eine selbstständige Persönlichkeit war und nicht nur das stille Heimchen am Herd, als die ihr Mann sie gern gesehen hätte. Er vertrat die Anschauung: "Die Frau ist nicht für den Lebenskampf da, sie soll Geistiges und Künstlerisches in sich aufnehmen, sie soll sich pflegen und sich schmücken und ein freundlich beglückendes Wesen, eine Augenweide sein." Martha und er verbrachten von über 50 Jahre Ehejahren die Hälfte der Zeit in ihrer Sommer-Villa in der Alsenkolonie am Wannsee, der Liebermann-Villa, die heute als Museum genutzt wird. Martha Liebermann, geb. Marckwald wurde am 8. Oktober 1857 als Tochter von Ottilie Pringsheim- Marckwald und Heinrich Benjamin Marckwald in Berlin-Mitte geboren. 1870 starb ihr Vater, und die Kinder wurden als Mündel von Louis Liebermann, dem Vater von Max Liebermann, in dessen Familie aufgenommen. So ist anzunehmen, dass Martha ihren Mann, den sie am 14. September 1884 heiratete, und mit dem sie 1895 ihre Tochter Katharina, genannt Käte bekam, schon lange kannte. In den vielen Jahren ihrer Ehe war sie kultivierte Gastgeberin in den Häusern Liebermanns am Pariser Platz und am Wannsee und pflegte Kontakt mit Künstlern und anderen berühmten Persönlichkeiten ihrer Zeit, z.B. Professor Sauerbruch, Käthe Kollwitz, Grete Sultan und Tilla Durieux. Die Liebermanns waren assimilierte Juden und fühlten sich als Deutsche. Seit Generationen waren ihre Vorfahren Kaufleute und so hoch geachtet und geehrt, wie es für Juden zu dieser Zeit möglich war. Max und Martha hielten sich an das Tzedaka-Gebot, das vorschreibt, seinen Besitz mit den Armen zu teilen. Sie spendeten große Summen an zahlreiche wohltätige Einrichtungen, jüdische Waisenhäuser und eigene Stiftungen der Liebermanns (Louis-Liebermann-Stiftung und die Max-Liebermann-Stiftung für Künstler). So ermöglichten sie 1934 auch die Ausreise von jüdischen Kindern nach Palästina. Mit Liebermanns Tod im Jahr 1935 war Martha ganz auf sich gestellt in den denkbar schwierigsten Zeiten. Bis zur Emigration ihrer Tochter in die USA 1938 kümmerte sie sich weiterhin um das Enkelkind Maria (geb. 1917) sowie um ihre mittellosen Nichten. Die Nazis zwangen sie, die Villa am Wannsee weit unter ihrem Wert zu verkaufen, das Geld kam auf ein Sperrkonto. Weitere Enteignungen und Repressalien folgten. Sie wurde genötigt, für 72.400 Reichsmark einen sogenannten Heimstättenvertrag für Theresienstadt abzuschließen. Für das angeblich von Juden provozierte Novemberpogrom sahen die nationalsozialistischen Machthaber eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark vor, Martha Liebermanns „Anteil“ waren Wertpapiere über 665 000 Reichsmark. Trotz aller Erniedrigungen und Demütigungen weigerte sie sich zunächst, ihrer Tochter ins Ausland zu folgen.

47 Zudem erlitt Martha 1942 einen Schlaganfall, der sie zeitweise ans Bett fesselte. Als sie sich endlich zur Ausreise entschloss, war es zu spät. Freunde wollten ihr helfen und schmuggelten unter Lebensgefahr zwei der ihr noch verbliebenen Bilder ins Ausland. Der Verkauf erzielte weniger Geld als erwartet und so konnte sie die geforderten 50.000 Schweizer Franken Fluchtsteuer nicht aufbringen. Nachdem ihr ihre bevorstehende Deportation nach Theresienstadt angekündigt wurde, nahm sie eine Überdosis des Schlafmittels Veronal. Fünf Tage später, am 10. März 1943, verstarb sie im Jüdischen Krankenhaus.

Liebermann-Villa Stauden- und Nutzgarten Liebermann-Villa vom Wannsee aus betrachtet

Stolperstein am Pariser Platz 7

Quellen: Regina Scheer: Wir sind die Liebermanns Propyläen Verlag 2007 Marina Sandig: Sie glaubten Deutsche zu sein Deutsches Familienarchiv Bd. 155, Verlag Degener 2012

48 Danksagung

Die Mitarbeiter/innen folgender Institutionen haben uns freundlicherweise Informationen und Materialien zur Verfügung gestellt:

Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Dahlem Evangelische Paulus-Gemeinde-Zehlendorf Fichtenberg-Oberschule Förderverein der Goethe-Oberschule Gedenkstätte Deutscher Widerstand Heimatverein Reinickendorf e.V. Heimatverein Zehlendorf e.V. Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf Landesarchiv Berlin

Besonders danken wir: • den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Heimatvereins Steglitz e.V. für ihre freundliche und anhaltende Unterstützung • dem Leiter des Museums der Liebermann-Villa, Herrn Martin Faas und seiner Mitarbeiterin Frau Sandra Köhler • Herrn Willy Pötter vom Geschichts- und Museumsverein e.V. in Fuldatal-Rothwesten • Herrn Dirk Ullmann vom Archiv der Max-Planck-Gesellschaft • Herrn Pontrikos vom Archiv Verein Berliner Künstlerinnen 1867 e.V. • Frau Christel Wankel, Nachlaßverwalterin Lizzi und Hermann Hosaeus

49 Fotonachweise ©Alle Fotorechte bei YOPIC e.V. Mit Ausnahme folgender Institutionen und Personen, die uns Fotos zur Verfügung gestellt haben und bei denen wir uns recht herzlich bedanken. Goethe-Oberschule • Festschrift 111 Jahre Goethe-Oberschule, Krahmer mit Kollegin, Außenansicht Schule www.khd-research.net/Heimat/B/pict/Lf/Lf_Panorama_1910.jpg • Luftbild Lichterfelde Hr. Ullmann MPA, Dahlem • Porträt, Clara Immerwahr DRK Schwesternschaft Berlin, Archiv der DRK-Schwesternschaft Berlin, Newsletter Hedwig 1/2007 • Porträt Elsbeth von Keudell, Porträt Grafin Rittberg Landesarchiv Berlin • Logo und Bauskizze Tattersall, M. Rinow • Porträt, Helene Jacobs Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand • Porträt, Margarete (Marga) Meusel Museum in der Liebermann-Villa • Gemälde Liebermann: Martha Liebermann mit Enkelin © by Hanauer Geschichtsverein 1844 e.V. • Porträt, Elisabeth Schmitz Culverpictures.com, http:// en.wikiperdia.org/ wiki/ File:Karen Horney 1938. jpg • Porträt, Karen Horney © Heimatverein Steglitz • Zeitschrift Steglitzer Heimat, Titelbild, Heft 1, 1961, Porträt Wilma von Düring • Steglitzer Anzeiger 28/1981, Porträt Ingeborg Wilutzky • Steglitzer Köpfe, Marie Luise Becker Willy Pötter, Geschichts- und Museumsverein e.V. Rudolf-Harbig-Straße 2, Fuldatal-Rothwesten • Porträt, Eleonore Lemp im Talar www.korikooo. Blogspot.com; Niagara Falls on a tightrope • Seiltanz Niagara, Maria Spelter Internet-Ausstellung des Martin-Niemöller-Hauses • Porträt, Gertrud Staewen Herbert Sonnenfeld, Die Pianistin Grete Sultan (1906-2005) am Klavier, Berlin, ca 1935, © Jüdisches Museum Berlin, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin • Porträt, Grete Sultan Frau Christel Wankel, Nachlaßverwalterin • Selbstporträt und Porträt, Lizzi Hosaeus Kunstamt Reinickendorf, Graphothek • Gemälde Wurster, Baum an einer Meeresbucht

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