industrie-kultur 3/2005 Die Schwelle zur Industriellen Revolution Der Museumsverbund im Tal des Severn

in beschaulicher Ort westlich von Birmingham, im 20. Jahrhundert führte zu seinem Verfall, doch eine Ansiedlung, scheint es, ohne rechtes Zen- inzwischen wurden zahlreiche Produktionsstät- Etrum. Was man heute kam mehr glauben mag: ten in der Ironbridge Gorge restauriert. Heute bil- Hier in Ironbridge und dem nahen , den die faszinierenden Industriedenkmale an den beides Ortsteile der heutigen Stadt Telford, begann bewaldeten Ufern des Severn einen beeindrucken- die Industrialisierung Großbritanniens, und so hat den Museumsverbund. Sein Wahrzeichen ist die sich die Ortschaft mit der Bezeichnung »Birthplace of Brücke, in deren Umgebung der nach ihr benannte Industry« geschmückt. Schon seit Beginn des Mittel- Ort Ironbridge entstand. alters lag der Geruch von Schwefel und Rauch, von verbranntem Holz und Metall in der Luft. Nachts, so Die Iron Bridge erzählten Reisende, war das ganze Tal hell erleuchtet. Die Gebäude, die bewaldeten Hänge, der Himmel – Der Bau der Brücke über den Severn repräsentiert alles glühte förmlich im Widerschein der Hochöfen. den Schnittpunkt zwischen herkömmlichen Bauwei- Die Schlucht des Severn: ein loderndes Inferno. Rot sen mit Stein und Holz und der Einführung neuer färbte sich zeitweise der Fluss, zeigte die Farbe des Materialien in den Brückenbau. Die Iron Bridge war Eisens. Ein Geschenk der Natur, die alle Rohstoffe zur die erste Brücke ganz aus Gusseisen. Mit ihr beginnt Eisengewinnung in den Hängen des Tales bereithielt: eine Ära, die später in die Konstruktion riesiger Lehm und Kalk, Kohle, Holz und Eisenerz. Schon Stahlbrücken münden sollte. Das Haupttragwerk seit dem 17. Jahrhundert hatte sich das romantische der Brücke besteht aus insgesamt fünf halbkreisför- Hügelland um den Fluss Severn in eine frühindus- migen Bögen, die jeweils aus zwei vorgefertigten trielle Landschaft verwandelt, weithin sichtbar durch Teilen zusammengesetzt wurden. Im Bogenscheitel den aufsteigenden Rauch. sind die beiden gegenüberliegenden Bogenhälften Abraham Darby III. war gerade 13 Jahre alt, als mit Schlusseisen verklammert. In der Nähe des sein Vater starb und er Erbe einer Industrie-Dynas- Widerlagers wird die Fahrbahn durch senkrechte tie wurde, die seit Generationen im Tal des Severn Stäbe unterstützt, die von der Basis des Bogens auf- Industriegeschichte geschrieben hatte. Ende des 18. steigen. Die einzelnen Bögen sind zusätzlich durch Jahrhunderts war das Tal durch die Darbys zum Querriegel miteinander verbunden. fortschrittlichsten Ort der industriellen Entwicklung Obwohl die tragenden Teile der Brücke vollstän- gewachsen: Räder und Kessel für große Dampfma- dig aus Eisen bestehen, griffen die Konstrukteure schinen wurden hier ebenso gegossen wie Töpfe für auf Arbeitsweisen zurück, die aus dem Holzbau den Haushalt. Mit 18 übernahm der junge Darby bekannt waren. Man findet Details wie Schlitze, die Geschäftsleitung der Coalbrook Company. Fünf Schwalbenschwänze, Zapfen- und Fugenverbin- Jahre später, 1773, schlug ihm der Architekt Tho- dungen. Dagegen sucht man die später im Stahlbau mas Pritchard den Bau einer Eisenbrücke über den üblichen Bolzen oder Nieten vergebens. Mit dem Fluss vor – ein Plan, der den Eisenwarenfabrikanten neuen Material hatte man zur Zeit des Baus nur sofort begeisterte. Bisher regelten sechs bis sieben wenig Erfahrung. Aus heutiger Sicht sind viele Tei- Fähren den Waren- und Menschentransport über le der Brücke überflüssig, was wohl auf ein Unter- den Severn. Eine unbefriedigende Lösung, denn der schätzen der konstruktiven Möglichkeiten – oder Fluss war nur wenige Monate im Jahr – begrenzt schlicht: auf mangelndes Vertrauen in das verwen- durch Hochwasser im Winter und Niedrigwasser dete Material zurückzuführen ist. Das Vertrauen im Sommer – zuverlässig schiffbar. Die Brücke sollte nahm jedoch erheblich zu, nachdem im Jahr 1795 ein nun einen über das ganze Jahr zuverlässigen Trans- Hochwasser fast alle Holzbrücken über den Severn portweg schaffen. Darby ließ eine Zeichnung seiner zerstörte, die Eisenbrücke bei Coalbrookdale jedoch Vision anfertigen, die ahnen ließ, wie fortschrittlich, völlig unversehrt blieb. ja revolutionär, das neue Bauwerk aussehen sollte. 378 Tonnen verflüssigtes Eisen waren nötig, um Für eine Brücke dieser Art, die sich 30 Meter frei die Teile der Brücke zu gießen. Die Menge ent- über das Tal wölben sollte, gab es keinerlei Erfah- sprach einem Drittel der gesamten Jahresproduk- rung und keine Vorbilder. tion. Zugunsten der ehrgeizigen Vision eines 23- 1780 fertig gestellt, ist die »Iron Bridge« in der Jährigen schwanden weitere Waldflächen aus dem Tat das erste markante Bauwerk der modernen Tal des Severn: Abraham Darby III. ließ neue Hoch- Industriegeschichte. Eine Geschichte, die im immer öfen bauen. 3.000 Pfund kalkulierte er damals an schnelleren Takt der Dampfmaschinen das Tal des Materialkosten, was heute etwa einer Million Euro Severn, Mittelengland und danach die gesamte Welt entspräche. Am Ende kostete die Brücke mehr als verändern sollte. Die Verwendung von Eisen beim Brücken-, Schiff- und Hausbau machte die Schlucht von oben: (engl. gorge) zu einem der größten Eisenprodukti- 1–3 Iron Bridge onszentren der Welt. Der industrielle Niedergang 4, 5 Coalbrookdale Museum of Iron 3/2005 industrie-kultur das Doppelte, das meiste zahlte Darby aus eigener gewesen ist, für die sich die Bezeichnung »Industri- Tasche. 1779, sechs Jahre nach den ersten Entwür- elle Revolution« durchgesetzt hat. Dazu gehört die fen, begann die Produktion der Brückenteile. Die Tatsache, dass reich an Kohle war und von fünf großen Halbkreise, die die Brücke tragen soll- diesem Rohstoff früher und umfassender Gebrauch ten, wurden in den Sommermonaten gegossen und machte als andere Staaten, da sein Waldbestand montiert. Sechs Tonnen wog allein jede einzelne der stark dezimiert war. Schon im ausgehenden 17. Jahr- gewaltigen Rippen. hundert hatte England fünfmal so viel Kohle geför- Erstaunlicherweise kann man heute nur vermu- dert wie das gesamte übrige Europa zusammen. ten, wie die Brückenteile transportiert und errichtet Außerdem verfügte das Land über Eisenerz. Die wurden. Es gibt keine Protokolle über den Bauher- Kohleförderung regte die Entwicklung der Dampf- gang, keine Abhandlungen oder Zeichnungen. Fest maschine an und schuf die Basis für eine Eisenpro- steht, dass sie am Neujahrstag 1781 eröffnet wurde. duktion großen Stils. Der originale Schmelzofen bil- Zwei Jahre hatten die Arbeiter von Coalbrookdale an det das Herzstück des Museums in Coalbrookdale. der ersten gusseisernen Brücke der Welt gebaut: 384 Es verteilt sich auf eine Anzahl von Gebäuden, die Tonnen schwer, die Spannweite 30 Meter bei einer mit der einflussreichen Coalbrookdale Company Bogenhöhe von zwölf Metern. Am Tag ihrer Eröff- zu tun hatten. Hier wurden die ersten Eisenräder nung begann ein Parlamentsbeschluss wirksam zu und -zylinder für die erste Dampfmaschine herge- werden, der die Iron Bridge als Privatbrücke von stellt. Eine restaurierte Lokomotive und gusseiserne Abraham Darby III. auswies. Jeder, der sie überque- Statuen, viele davon zur Weltausstellung von 1851 ren wollte, musste eine Maut entrichten. Das galt geschaffen, befinden sich unter den ausgestellten auch für das Militär und die englische Krone. Im Produkten der Coalbrookdale Company. »Tollhouse« – der ehemaligen Mautstelle am Südu- Die Entwicklung neuer Verfahren zur Eisenge- fer – ist heute ein Museum untergebracht, das den winnung beflügelte die Visionen der Ingenieure, das Bau der Brücke erläutert. Die Iron Bridge selbst, 1934 Material auf immer neuen Gebieten anzuwenden. unter Denkmalschutz gestellt und für den Autover- Die Iron Bridge ist dafür ein frühes Beispiel. Mit kehr gesperrt, ist Teil dieses Museums und wird von ihrer Vollendung erfüllte sich Abraham Darby III. Radfahrern und Fußgängern auch mehr als 220 Jahre einen Jugendtraum. Darüber hinaus war aber auch nach ihrer Errichtung noch rege benutzt. das Kalkül des nüchtern rechnenden Geschäftsmann aufgegangen: Der Werbeeffekt, den ein solch spekta- Das Museum of Iron kuläres Bauwerk für seine Produkte und das Tal des Severn auslösen würde, war schon dem 23-Jährigen Die Herstellung brauchbaren Roheisens mit Koks bewusst. Mit der Iron Bridge schob er alle Vorurteile gelang erstmals dem englischen Eisenhüttenmann gegenüber den industriellen Errungenschaften bei- Abraham Darby (1676–1717), dem Großvater des seite. Der Glaube an die technischen Möglichkeiten, Erbauers der Iron Bridge. Dabei kam ihm zugute, die geschmolzenes Eisen eröffnete, hat entschei- dass bei Coalbrookdale, wo Darby ein aufgelas- dend das Gesicht der Welt verändert. Eisenbahnen, senes Eisenwerk zunächst gepachtet hatte, Flöze Autos, Wolkenkratzer und nicht zuletzt zahlreiche schwefelarmer Kohle unmittelbar zutage traten, Eisenbrücken sind die technischen Kinder der Iron die zu Koks verschwelt werden konnten. Das damit Bridge des Abraham Darby. geschmolzene siliziumreiche Roheisen enthielt im Eine Abteilung des Museums of Iron behan- Vergleich zum Eisen, das mit Holzkohle gewonnen delt die Geschichte der Quäkergamilie Darby und wurde, immer noch zu viel Schwefel, als dass es ihren Einfluss auf die Gemeinde Coalbrookdale. zur Herstellung von Schmiedeeisen im Frischeherd Aus diesem Blickwinkel lässt sich auch der Bau der geeignet gewesen wäre. Es war jedoch dünnflüssig Iron Bridge betrachten. Die Bereitschaft, die Brücke und in Sandformen gut vergießbar. Der Eisenguss über den Severn weitgehend aus eigener Tasche zu verdrängte daher gegen Ende des 18. Jahrhunderts bezahlen, entsprach dem Glauben des Industriellen, die geschmiedeten Erzeugnisse auf vielen Anwen- denn die Darbys waren Quäker seit Generationen dungsgebieten. Das Roheisen wurde dabei entwe- und als solche mehr dem Gemeinwohl verpflichtet der direkt vom Hochofen in Sandformen oder zu als dem persönlichen Profitstreben. Mit der gleichen Kokillen gegossen, die nach dem Umschmelzen im Hartnäckigkeit und Disziplin, mit der Darby III. Herdofen in die gewünschte Gebrauchs-Sandform seine Brückenpläne verfolgte, protokollierte er all- gegossen wurden. abendlich seine Ausgaben. Mit der Rechenschafts- Das »Museum of Iron« erzählt die Geschichte pflicht des Quäkers sich selbst gegenüber führte er des Eisens und der Männer, die es herstellten. Die Buch über die Tagesgeschäfte – Aufzeichnungen, Entdeckung von Abraham Darby I., dass Eisenerz die bis heute den einzigen Nachweis darüber bilden, auch mit Hilfe von Koks geschmolzen werden kann, unter welchen Bedingungen und zu welcher Zeit ermöglichte die Massenproduktion von Eisen und die Brücke Form annahm. Die »«, die bereitete der Großindustrie den Weg. Eine Vielzahl Häuser der Fabrikanten-Familie in Coalbrookdale, von Gründen lässt sich anführen, warum England können besichtigt werden. Eines dieser Häuser ist der Ausgangspunkt jener epochalen Umwälzungen das »Rosehill House«, das im viktorianischen Stil eingerichtet ist und veranschaulicht, wie es sich an der Spitze einer Industriegesellschaft gelebt hat, die von oben: 1–3 Coalbrookdale Museum of Iron zwischen 1715 und 1900 aufstieg und zur Blüte kam. 4 Darby House Das der Geschichte des Eisens gewidmete Museum 5 Museum of the Gorge beleuchtet aber auch die Kehrseite dieser industri- industrie-kultur 3/2005 ellen Blütezeit. Die sozialen Verhältnisse waren von Steingutgeschirre und Fayencen geradezu plump scharfen Gegensätzen bestimmt: Wohlstand auf der wirkten. Der hohe Preis des Porzellans, aber auch einen, Armut und harte Arbeitsbedingungen auf die Abhängigkeit von den Importen hatten schon der anderen Seite. So sah das Leben der rasch wach- sehr früh Töpfer und Alchemisten angespornt, das senden Schicht der Arbeiter aus, die manchmal 24 streng gehütete Geheimnis der Porzellanherstel- Stunden am Stück schuften mussten. lung zu enträtseln. Die Erfindung des europäischen Hartporzellans gelang 1707 in Dresden. Knapp 90 Das Museum of the Gorge Jahre Später, im Jahr 1796, eröffnete John Rose das Porzellan-Werk (Coalport Works). Am Nicht weit von der Iron Bridge entfernt, nach einem Canal errichtet, wuchs die Fabrik; Mitte kurzen Spaziergang am Fluss entlang, stößt man des 19. Jahrhunderts war Coalport Works eine der auf ein merkwürdiges Gebäude. Im Jahr 1834 im größten Porzellanmanufakturen Britanniens, ihr gotischen Stil errichtet, mutet es mit seinen Zinnen Name steht für feines Porzellan. und Türmen beinahe wie ein Sakralbau an. Seine Coalport stellt noch immer Porzellan her, aller- Zweckbestimmung war jedoch profaner Art. Errich- dings ist das Werk seit langem in Stoke-on Trent tet hatte es die Coalbrookdale Company als fluss- angesiedelt. Die alte Porzellanmanufaktur ist nun nahes Lagerhaus für ihre Waren. Heute beherbergt ein Museum, in dem Besucher bei Vorführungen es das »Museum of the River« mit Ausstellungen die verschiedenen Schritte der Porzellanherstellung über die Geschichte des Severn und die Entwick- verfolgen können, so die Kunst des Gefäßformens, lung des Transport auf dem Wasser. Denn der Fluss des Bemalens und Vergoldens. In einem der charak- war nicht nur ein Hindernis für den Warentransport teristischen flaschenförmigen Öfen ist eine wunder- von einem zum anderen Ufer – eines, das durch den bare Sammlung von Porzellan aus dem 19. Jahrhun- Bau der Iron Bridge zuverlässig überwunden wur- dert ausgestellt. In solchen Öfen gelang es vordem, de. Bevor Mitte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter die zur Herstellung von Hartporzellan notwendige der Eisenbahn begann, war der Severn zugleich der Temperatur von 1.400 Grad Celsius zu erreichen. Haupttransport- und Verbindungsweg von und Produziert wurde hier bis 1926; seit 1997 ist der zum Gorge. Ein besonders zuverlässiger Verkehrs- Standort als national bedeutend eingestuft. weg war er indessen nicht: Mal führte der Fluss zu Im nahe gelegenen wurde im 18. Jahr- wenig Wasser, dann wieder Hochwasser. Um 1890 hundert nach 110 Metern Vortrieb ein wichtiges wurde der Transport auf den Flüssen gänzlich ein- Bitumenvorkommen entdeckt. 1786 hatte man bei gestellt. Das Glanzstück des Museums ist ein zwölf Coalport den Tunnel in den Hang getrieben, um Meter langes Modell der Schlucht zwischen Dale die unterirdischen Anlagen der Blist Hills Minen End (Coalbrookdale) und dem Coalport Porzel- mit dem neuen Coalport Kanal und dem Severn zu lan-Werk, wie sie um 1769 ausgesehen hat – sehr verbinden. Als jedoch das Bitumenvorkommen ent- anschaulich mit Lastkähnen auf dem Wasser, am deckt wurde, erwies es sich als lukrativer, es auszu- Ufer Gießereien und wachsende Dörfer. beuten, statt den Tunnel wie ursprünglich vorgese- hen als Verbindungsweg zu nutzen, ein Beispiel für Das die innovative, pragmatische Denkweise der Indus- triellen des 18. Jahrhunderts. Zum Bau eines Che- Das Porzellan, das sich von dem italienischen Wort miewerks ist es allerdings nicht mehr gekommen. für Muschel (»Porcella«) herleitet, ist eine chinesi- Ein Teil des Stollens, aus dessen Wänden Bitumen sche Erfindung aus der Zeit der T’ang Dynastie sickert, ist heute zu besichtigen. (618–906 n. Chr.) Es besteht aus Kaolin, einem feu- Vor dem Zugang zum Tar Tunnel beeindruckt erbeständigen Zersetzungsprodukt des Feldspats, die Schienenanlage des Schrägaufzuges Hay Incli- Feldspat als Flussmittel und Quarz. In Europa blieb ned Plane, mit deren Hilfe zwischen zwei Kanalab- das Porzellan bis in das 16. Jahrhundert hinein weit- schnitten von 1792 bis 1894 Lastkähne den Abhang gehend unbekannt. Lediglich einzelne Stücke waren über eine Höhendifferenz von rund 63 Metern hin- als Herrschergeschenke in die Sammlungen europä- auf und hinunter transportiert wurden. ischer Fürsten gelangt. Das änderte sich zunächst wenig, als die Portugiesen in Handelsbeziehungen Das Jackfield Tile Museum mit dem chinesischen Reich traten und regelmäßig den Hafen Kanton anlaufen durften. Erst seit der Seit dem 17. Jahrhundert gab es in dieser Gegend Gründung der Ostindischen Kompanien zu Beginn Töpfereien, doch erst mit der Begeisterung für deko- des 17. Jahrhunderts gelangte Chinesisches Porzel- rative Fliesen wurde Jackfield berühmt. Zwei Fabri- lan in Mengen nach Europa. ken, Maw & Co und Craven Dunhill, produzierten Das englische Wort für Porzellan, china, erinnert aus dem in der Nähe vorkommenden Ton in großen an die Herkunft des ersten in Europa bekannten Mengen Kacheln, die mit den unterschiedlichsten Porzellans, das wohlhabende Leute zugleich mit Motiven bemalt wurden. Zwischen 1871 und 1874 dem ersten Auftauchen der Genussmittel Tee, Kaf- war es Henry Dunhill gelungen, aus einer schlich- fee und Kakao zu schätzen lernten, namentlich sei- ten Töpferei einen vorbildlichen Betrieb zu schaf- ne Beständigkeit gegen plötzliche Hitze und seine fen, dessen Logistik die gesamte Produktion vom Widerstandsfähigkeit gegen chemische Einwirkun- gen. Vor allem aber war es die Schönheit der dünn- von oben: wandigen, lichtdurchlässigen Gefäße, die Entzücken 1, 2 Coalport China Museum hervorrief und neben denen die hier gebräuchlichen 3–5 Blists Hill Victorian Town 3/2005 industrie-kultur

Rohstoff bis zum Vertrieb umfasste. Alle späteren gärten, in denen Schweine, Hühner und anders Innovationen kamen im »Kachel- und Dekorati- Kleinvieh gehalten werden. Im Zentrum gibt es onsfliesenwerk« unter Craven Dunhill zum Zuge. eine Bank, eine Kirche, eine viktorianische Schu- Dessen gut belüfteten und beheizten Räume fanden le. Besonders lebendig wird die Stadt im Sommer, schon bei den Zeitgenossen Beachtung. Die Fliesen wenn Angestellte in historischer Kleidung den vik- und Keramikkacheln aus diesem Werk waren von torianischen Arbeitsalltag vorführen – vom Kerzen- erlesener Qualität, so dass auch der Fliesenmacher- ziehen bis zum Blechschmieden. Pionier Maw & Co. aus Shropshire seinen Standort Eine der Hauptsehenswürdigkeiten von Blist nach Jackfield verlegte. Als Maw & Co. 1883 seine Hills ist die Gießerei, die noch immer Schmiede- neue Fabrik eröffnete, war es die größte weltweit, eisen herstellt und deren Produkte als Souvenir die den internationalen Rang des Unternehmens verkauft werden. Besucher können Geld in alte untermauerte. Münzen und Scheine tauschen und damit frische Millionen von Jackfield-Fliesen zieren Hunderte Backwaren kaufen oder einen Drink im Pub bezah- Gebäude im gesamten Britischen Empire. Das ist len. Süßwarenladen und Apotheke haben geöffnet, der Unterscheid zu allen anderen örtlichen und nati- besichtigt werden können eine Arztpraxis und eine onalen Herstellern von Fliesen. In lichten Galerien Salzmühle. Wie die Türme eines verlassenen Schlos- und Schauräumen stellt das Jackfield Tile Museum ses überragen die mächtigen Hochöfen der Madeley eine Sammlung dekorativer Boden- und Wandflie- Wood Company den kleinen Ort; bis 1912 waren sie sen aus. Besucher können bei Vorführungen in dem in Betrieb. alten Fabrikgebäude mit den Brennöfen für Biskuit- porzellan und den Malwerkstätten zusehen, wie – nach traditioneller Weise Fliesen hergestellt werden. das zehnte und neueste Museum Die Great Rock Sandwich-Ausstellung erläutert die geologischen Gegebenheiten unter den Füßen der Die neueste Attraktion des Museums-Komplexes Besucher – und damit einige der Voraussetzungen, öffnete im August 2002 unter dem Namen »Enginu- die unter anderem eine Produktion großen Stils an ity«: ein interaktives Design- und Technologiezen- Ort und Stelle begünstigten. trum. Mit Betreten der Ausstellung werden Besu- cher zu Lehrlingen der Ingenieurskunst, die mit Das Broseley Pfeifen-Werk Geräten experimentieren und herausfinden können, wie Dinge des täglichen Gebrauchs hergestellt wer- Zwei Meilen von der Iron Bridge entfernt liegt Bro- den. Man kann eine echte Lokomotive bewegen, mit seley, Heimat eines der profitabelsten Tontabakpfei- Wasser einen Stromgenerator betreiben oder seine fen-Fabriken Britanniens. In den 1950er Jahren lief Geschicklichkeit und Geschwindigkeit mit einem die Produktion aus. Die Produktionsstätten bleiben Industrieroboter messen. unberührt, bis das Werk 1996 als Museum wieder- So setzt Enginuity spielerisch fort, was diesen Ort eröffnet wurde. Der Besucher hat das Gefühl, eine über zwei Jahrhunderte auszeichnete: die Verwirkli- Zeitkapsel zu betreten – so wenig hat sich geändert, chung von Ideen, die zu einigen der bedeutsamsten seit der letzte Arbeiter die Fabrik verlassen hat. Das Entwicklungssprüngen in der Geschichte des Inge- Museum bewahrt einen speziellen Teil der lokalen nieurswesen und der Technik führten. 1986 erklärte Industriegeschichte, nachvollziehbar an der origina- die UNESCO Ironbridge Gorge zum Weltkulturer- len Ausrüstung, die in den 1880er Jahren installiert be – es war das erste Mal, dass dieser Rang einem wurde und bis Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhun- Industriestandort zuerkannt wurde. Sinnbild seiner derts in Gebrauch war. Erläutert wird die Geschichte großen Bedeutung ist die eiserne Brücke über den der Tontabakpfeifen-Industrie von ihrem Ursprung Severn. Seit ihrer Fertigstellung kamen Besucher im späten 16. Jahrhundert bis 1960. aus der ganzern Welt, um das filigrane Bauwerk aus gegossenem Stahl zu studieren. Manche waren von Das Museum Blist Hills Victorian Town der eisernen Nacktheit, die mehr als 100 Jahre später auch der Eiffelturm zeigte, schockiert, andere waren Das größte und populärste Museum des Ironbridge fasziniert von der Kühnheit und Eleganz der Kon- Gorge Museums-Verbundes ist Blist Hills, ein Frei- struktion. Mit nostalgischem Charme beeindruckt lichtmuseum auf einer Fläche von 20 Hektar, eines sie den heutigen Betrachter, der weiß, dass die Iron der größten in Britannien. Auf dem Gelände einer Bridge ein Anfang war. Sie symbolisiert die Schwel- ehemaligen Kohlenmine, die die Eisenfabriken von le zur Industriellen Revolution, die den Lauf der Ironbridge belieferte, entstand aus translozierten Menschheitsgeschichte vermutlich mehr als jede Text: oder rekonstruierten Häusern aus dem 19. Jahr- politische Revolution beeinflusst hat. Frieder Bluhm, hundert eine kleine viktorianische Stadt. Hier lässt Köln sich nachempfinden, wie das Leben in einer Arbei- Fotos: terstadt wie Ironbridge vor 100 Jahren aussah. Zu Ironbridge Gorge Museums Rainer Klenner, besichtigen sind Wohnhäuser jener Zeit mit Haus- Ironbridge Gorge Museum Trust Kaarst Coach Road, Coalbrookdale von oben: Telford TF8 7DQ 1 Tar Tunnel Shropshire, West Midlands, England 2 Jackfield Tile Museum Tel.: 0044/1952/88 43 91 3 Broseley Pfeifen-Werk 4 Enginuity www.ironbridge.org.uk