319376_0001_MovieNews 76 5.5.2003 10:46 Uhr Seite 2 (3,1) o ie ews nr. 76 5 6 2003 zeitung für denn studiofilm im arthouse alba • arthouse commercio • •v / / marthouse movie 1+2 • arthouse nord-süd • arthouse le paris • arthouse piccadilly • riff raff • uto

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Studiofilm-Vorpremieren Arthouse Le Paris, Zürich-Stadelhofen Sieben Tage die Woche um 12.15 Uhr www.lunchkino.ch 319376_0001_MovieNews 76 5.5.2003 10:46 Uhr Seite 1 (1,1) far from heaven

Das ist tot – es lebe das Melodrama! Nachdem sich bereits dern, wie eines Tages auskommt, auch Männer. Woraufhin sich Cathy, der Franzose François Ozon mit «8 Femmes» ehrfürchtig vor Douglas sexuell frustriert, in ihren Gärtner verliebt, der nicht nur jünger als sie, Sirk verneigte, erweist mit FAR FROM HEAVEN nun auch der US-Regis- sondern auch schwarz ist. Perfider kann ein Skandal nicht sein – drama- seur Todd Haynes dem Meister des seine Reverenz. Das mit tischer kann es auf der Leinwand nicht zugehen: FAR FROM HEAVEN, einem Film, der so technicolorbunt leuchtet und so voller leidenschaft- mit den fünf wichtigsten «Independent Spirit Awards» ausgezeichnet, ist lichen Verlangens steckt, dass ihn Sirk aber neben der starken Geschichte wohl selber gedreht hätte – wenn Zen- nicht zuletzt auch eine schwelgerische sur und Zeitgeist es zugelassen hätten. Sinfonie von herbstlichen Farben, Ort der Handlung ist Hartford, Connec- Kostümen und Dekors. Eine pointiert- ticut; das Jahr ist 1957. «Die Whitakers» poetische Hommage an das klassische – Vater Frank ist Topmanager in einem Frauen-Genre, in der das Darsteller-Trio boomenden Technikkonzern, Cathy geht Julianne Moore, Dennis Quaid und in der Rolle als Gattin und Mutter auf, Dennis Haysbert, begleitet von Elmer die zwei Kids sind wohl geraten – sind Bernsteins kongenialer Filmmusik, zur die ideale US-Mittelklass-Familie. Doch Höchstform aufläuft. in FAR FROM HEAVEN brodelt es hinter Regie: Todd Haynes. Mit: Julianne Moore, der Fassade des Wohlanstands. Denn Dennis Quaid, Dennis Haysbert. Verleih: Frank liebt nicht nur den Alkohol, son- Monopole Pathé Films AG. cidade de deus

Wenn die internationale Presse einhellig jubelt und Martin Scorseses Lebensläufe seiner Kameraden, des gewalttätigen Zé Pequeño und des- besten Werke zum Vergleich heranzieht, gilt es aufzumerken: CIDADE sen Freundes Bene nach. Er vermischt der beiden Geschichten mit drei DE DEUS von Fernando Meirelles ist ein Geniestreich. Ein Gangster- und Dutzend weiteren und schafft dabei ein wunderbar in sich verschach- Gangfilm, ein brasilianisches «Good Fellas» und «Mean Streets» eben, teltes, fiebriges und bildergewaltiges Opus. Zu Grund liegt CIDADE DE ein Film über Kriminelle und Kids, die zu Kriminellen werden. Ein Film DEUS ein auf wahren Begebenheiten beruhender Roman von Paulo auch über eine der berüchtigsten Fave- Lins, und hautnah an der Realität las von Rio de Janeiro: «Cidade de bewegt sich auch Meirelles’ Film. Die Deus», zu Deutsch: «Stadt Gottes». Hier Darsteller sind Kids aus den Favelas; hausen die Allerärmsten, herrscht das die bewegte Kamera sowie eine äus- Gesetz des Stärkeren, spielen kleine serst virtuose Montage, die in ihren Buben mit geladenen Pistolen und ent- glanzvollsten Momenten zwanzig Jahre decken Neunjährige die Lust am Töten. in eine einzige Einstellung packt, spie- Im Mittelpunkt von CIDADE DE DEUS geln die Hektik des Lebens: CIDADE DE steht Buscapé, ein dunkelhäutiger Jun- DEUS ist ein epochales Leinwandepos, ge, zu sensibel für eine Gaunerkarriere, erschütternd wie ein Erdbeben. als Aussenseiter und Fotograf aber der Regie: Fernando Meirelles. Mit: Alexandre ideale Beobachter. Beginnend in den Rodrigues, Leandro Firmino da Hora. Ver- 60er Jahren zeichnet Buscapé die leih: Frenetic Films. tadpole

Oscar hat es erwischt: Wie dereinst Goethes Werther ist der Protagonist prüfung noch nicht hinter sich», belustigt sich der Vater beim Dinner an von TADPOLE in schwärmerischer Liebe zu einer verheirateten Frau ent- den Liebesabenteuern seines Sohnes: In nonchalanter Abgeklärtheit brannt. Fünfzehn Jahre alt ist er, ein Voltaire-Liebhaber und Romantiker, begegnen die Erwachsenen in TADPOLE den ersten Amouren und libi- der die Qualitäten einer Frau an deren Händen ablesen kann. Eve, die dinösen Gehversuchen des Juniors. Überhaupt hebt sich Gary Winicks Dame seines Herzens, nun aber ist bereits vierzig, die Lebenspartnerin Film äusserst wohltuend vom Gros gängiger Teenie-Lovestorys ab. Er seines Vaters und demzufolge seine zielt mit feinem Sinn für leise Zwischen- Stiefmutter. «15/40: Ein Verhältnis, das töne und einer graziösen Verbeugung du zu bevorzugen scheinst», frotzelt vor New Yorks Akademikerwelt in eine diese unwissend beim Tennisspiel: Sel- ähnliche Richtung wie die Komödien ten hat Sigourney Weaver auf der Lein- von Woody Allen und stellt in der Rolle wand derart feminin gewirkt, wie in die- des frühreifen Protagonisten einen her- ser zärtlich-queren Coming of age-Story vorragenden Aaron Stanford vor: TAD- von Gary Winick. Eve ahnt nichts von POLE ist eine wunderbar zarte Love- Oscars wirren Gefühlen, spielt vielmehr story, made in Manhattan. auf die letzte Nacht an, in der Oscar betrunken in den Armen ihrer besten Regie: Gary Winick. Mit: Aaron Stanford, Freundin landete. «Das ist wie in ‹The Sigourney Weaver, Bebe Neuwirth. Verleih: Graduate›, nur hat Oscar seine Reife- Monopole Pathé Films AG. 319376_0001_MovieNews 76 5.5.2003 10:46 Uhr Seite 1 (2,1) russian ark

96 Minuten ohne Schnitt und Pause: In Anbetracht von Alexander denschaftlich disputierend durchschreiten die beiden die prachtvollen Sokurows neustem Film kommt man nicht darum herum, von Machart Korridore und Salons und werden dabei Zeugen von Szenen aus drei und Technik zu sprechen. Sokurow – erinnert sei an «Mutter und Sohn» Jahrhunderten russischer Geschichte: Peter der Grosse peitscht einen – hatte schon immer eine Vorliebe für lange Takes und ausgewogene General aus. Katharina die Grosse hetzt durch die Proben eines Thea- Kompositionen. Doch RUSSIAN ARK sprengt den Rahmen alles bisher terstücks über ihr Leben. Die letzte Zaren-Familie sitzt beim Dinner, Dagewesenen. RUSSIAN ARK nämlich derweil die Revolution heranrollt und besteht – modernste HD-Technik macht die Gäste beim letzten königlichen Ball es möglich – aus einer einzigen, un- von 1913 Walzer tanzen. RUSSIAN ARK geschnittenen, traumhaft-gleitenden ist Kino pur. Ein Film über den Fluss der Steadycam-Fahrt, der wohl ausgetüf- Zeit und die Kraft der Imagination. Ein teltsten Kamerabewegung der ganzen Muss nicht nur für Cinephile, Kunst- bisherigen Filmgeschichte. Diese führt und Geschichts-Interessierte, sondern in einer Länge von 1300 Metern durch für alle, denen bewusst ist, dass die die fünfunddreissig Säle der St. Peters- Siebte der Höhepunkt aller Künste ist. burg Eremitage. In ihrem Zentrum stehen ein zeitgenössischer russischer Regie: Alexander Sokurow. Mit: Sergey Filmemacher und ein französischer Dreiden, Maria Kuznetsova, Leonid Mozgo- Marquis aus dem 19. Jahrhundert. Lei- voy. Verleih: Trigon-Film.

Vive la France! heisst es diesen Sommer im Arthouse Nord-Süd: Bereits zum vierten Mal wird mit Unterstützung des Ambassade de France en Suisse das FESTIVAL DU CINEMAFRANÇAIS durchgeführt. Auf dem Programm steht, was das Kino unserer westlichen Nachbarn bis heute zu einem der weltweit besten macht: Heitere, komi- sche, ernste, vor allem aber innovative Filme voll Charme und Raffinesse, die vom französischen Savoir-vivre, aber auch von kleinen und grossen Dramen berichten. Es gibt Reprisen und Erstaufführungen. Ein Jacques Tati-Special zum Beispiel, in dem FESTIVAL nebst zwei kurzen auch die besten langen Filme des grossen französischen Komikers – «Playtime», «Mon oncle», «Les vacances de M. Hulot», «Jour de fête» – gezeigt werden. Aber auch ein Querschnitt durchs Allerneuste, made in France. Gespannt sein darf man auf Olivier Dahans «La vie promise», in dem Isabelle Huppert eine Pro- stituierte spielt und nach einem Mord mit ihrer Tochter zu einer Odyssee quer durch DUCINEMA Frankreich aufbricht. Oder auf Jacques Sarasins «Je chanterai pour toi», einem Doku- porträt des malischen Bluesmusikers Boubacar Traoré. Ganz besonders natürlich auf Jacob Bergers «Aime ton père», in dem sich Gérard Depardieu und dessen Sohn Guil- laume als erfolgreicher, schriftstellernder Vater und sanftmütiger, drogensüchtiger Sohn in die Haare geraten: Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind garantiert FRANÇAIS nicht nur zufällig. Spannend ist dieses Vater-Sohn-Duell und macht Spass – wie das ganze FESTIVAL DU CINEMA FRANÇAIS. AVEC LE SOUTIEN DE 5. FESTIVAL DU CINEMA FRANÇAIS 2003 L’AMBASSADE DE FRANCE EN SUISSE Mai–August 2003 im Arthouse Nord-Süd. mein letzter film

Alle mögen Hannelore Elsner und seit Oskar Roehler ihr vor drei Jahren Mentor. «MEIN LETZTER FILM», meint Regisseur Oliver Hirschbiegel, «ist in «Die Unberührbare» die Hauptrolle gab, ist der deutsche Fernsehstar ein Film für Frauen, weil darin alle Themenbereiche vorkommen, die fürs Kino zurückgewonnen. In MEIN LETZTER FILM spielt Hannelore Els- eine Frau betreffen.» Doch was eine Frau betrifft, geht auch ihre Män- ner nun die Schauspielerin Marie. Marie hat nach dreissig erfolgreichen ner an; und noch etwas: Der Monolog der verlassenen Schauspielerin, Jahren die Nase voll von ihrem Beruf, vor allem aber auch voll von den den Marie, oder eben eigentlich Hannelore Elsner hier spricht, ist keine Männern. Doch bevor sie geht, zieht sie der üblich klischierten, geschlechter- Bilanz. Packt die Koffer und setzt zu kämpferischen Tiraden. Es ist im Gegen- einem Solo an, das von einem jungen teil ein höchst poetischer, qualitativ Kameramann auf Video gebannt der hochstehender und in die Tiefe gehen- letzte Film ihres Lebens sein wird. Ihre der Text von Bodo Kirchhoff – den Worte sind an ihren Ex-Mann Richard Regisseur Oliver Hirschbiegel mit Han- gerichtet, doch manchmal spricht Marie nelore Elsner in neunzig Minuten fes- auch einfach so vor sich hin. Sie erzählt selndes, formal hochinteressantes und von ihrem Leben und von ihren Lieben. publikumsnahes Kino verwandelt hat. Von ihrem Verhältnis mit dem Politiker Paul, ihrer Affäre mit dem Fussball- trainer Tomas. Und immer wieder von Regie: Oliver Hirschbiegel. Mit: Hannelore Richard, ihrem Entdecker, Regisseur und Elsner, Wanja Mues. Verleih: Stamm Film AG. 319376_0001_MovieNews 76 5.5.2003 10:46 Uhr Seite 1 (3,1)

bilderwelt – weltbilder ernst scheidegger

Ernst Scheidegger. In Zürich geboren, in Zürich aufgewachsen, in Zürich Giacometti, vor allem Werner Bischof waren seine Freunde. Es gibt Schei- lebend. Weisses Haar, dunkle Augen, wacher Blick. Einer, der die Welt degger, den Magnum-Reporter: Eine der eindrücklichsten Sequenzen von gesehen hat und die Menschen kennt. Ein Charmeur auch, der da sicht- BILDERWELT – WELTBILDER lebt nur von Scheideggers Fotos, anhand lich gern sitzt und erzählt in BILDERWELT – WELTBILDER, diesem Doku- derer, wie es hier so treffend heisst, man weite Reisen in ferne Länder, film über das Leben und Werk des grossen Zürchers, der dieses Jahr die arabische Welt, Indien, den Nahen Osten unternehmen kann. Dann seinen achtzigsten Geburtstag feiert: gibt es Scheidegger, den Cineasten, den «Ernst Scheidegger – Fotograf, Verleger, Lehrer für visuelle Kommunikation, den Maler, Cineast» steht im Untertitel, es NZZ-Bildredaktor. Und Scheidegger, der könnte da ebenso gut «E.S. – Lebens- liebend gerne Bücher macht: BILDER- künstler» stehen. Ausgehend von Schei- WELT – WELTBILDER, ungewohnt, aber deggers Erzählungen, seinen Fotos und sympathischerweise in Schweizer Mund- Filmen, fächert das von Franziska Wirz art gehalten, ist das liebenswerte und gefertigte Porträt das Leben seines Pro- geistvolle Porträt eines Mannes, den tagonisten vom ersten Babyfoto bis zum nebst Talent, der Liebe zum Bild und Mann, der geruhsam die Früchte seines dem bildnerischen Gestalten vor allem Lebens erntet, auf. Da gibt es Scheideg- eine grosse Bescheidenheit auszeichnet. ger, den bescheidenen Weggenossen Regie: Franziska Wirz und Otmar Schmid. grosser Künstler: Max Bill, Alberto Dokumentarfilm. Verleih: Franziska Wirz. respiro – lampedusa

Valeria Golino ist Grazia. Eine bildschöne Frau, Gattin und Mutter, sanft Protagonistin von RESPIRO – LAMPEDUSA wie vom Erdboden ver- und zärtlich, aber auch launisch und von unbefangener Sinnlichkeit. schluckt verschwunden. Doch dann kommt die Nacht von San Bartolo Sie mag keine Gewalt und tut, was ihr gefällt. Doch auf Lampedusa, und als am Strand die Feuer angehen, sieht man draussen auf dem dieser von der Sonne ausgebleichten Insel im Süden Siziliens, wo Meer eine merkwürdige Erscheinung. Eine alte Legende liegt dem zwei- RESPIRO – LAMPEDUSA spielt, darf man so wie Grazia ist nicht sein. Da ten Spielfilm des Italieners Emanuele Crialese zu Grunde. Verhaftet in fahren die Männer zur See und arbeiten der Tradition des Neorealismus ist die Frauen in der Fischfabrik. Man lebt RESPIRO – LAMPEDUSA «italienisches in Einklang mit alten Traditionen und Kino, realistisch und poetisch, pitto- weiss, was man der Dorfgemeinschaft resk in seiner Exotik, wie man es schon schuldet: In den Augen der Dörfler ist lange tot geglaubt hat», jubelte Grazia, die auch schon mal die Türen «Télérama». Und «Le Monde» meinte, des Tierasyls öffnet, um die eingesperr- Crialeses Film sei eine «Entdeckung ten Hunde vor dem Tod zu retten, ganz voller Versprechen» und Valeria Golino einfach verrückt. Also bearbeiten sie als Grazia eine Frau von «exzessiver Grazias Gatten so lange, bis er einwil- Schönheit».

ligt, seine Frau nach Mailand in Behand- Regie: Emanuele Crialese. Mit: Valeria lung zu geben. Das aber lässt sich Gra- Golino, Vincenzo Amato, Francesco Casisa. zia nicht gefallen: Eines Tages ist die Verleih: JMH Distributions SA. auto focus

«Light Sleeper», «Cat People», «American Gigolo»: Paul Schrader hatte der- und Sexsucht. Hier setzt Schraders Film ein. Ausgehend von einem schon immer eine Vorliebe für zwiespältige Charakteren und bizarre Roman von Robert Graysmith fächert AUTO FOCUS Cranes Leben auf. Obsessionen. Geradezu das Paradebeispiel eines typischen Schrader- Beschreibt den rasanten Aufstieg, den Crane der TV-Serie «Hogan’s Films ist so betrachtet AUTO FOCUS, sein neustes Werk, das wie Heros» verdankt, schildert die Krise, in welche Crane später rasselt. Im «Mishima» und «Patty Hearst» auf der Biographie eines Menschen Fokus aber steht Cranes Beziehung zum zwielichtigen Videovertreter beruht, der wirklich gelebt hat. Bob John Carpenter. Carpenter (nicht der Crane ist dessen Name, er war in den Regisseur!) funktioniert in AUTO FOCUS 70er Jahren ein ziemlich bekannter US- als teuflischer Verführer. Er führt Crane Fernsehstar. Eines schönen Morgens, im in die Party- und Sexszene ein, sorgt Sommer 78, allerdings fand man in dafür, dass beim Vögeln fotografiert einem schäbigen Motel in Scottsdale, und gefilmt wird: AUTO FOCUS, mit Arizona, Cranes Leiche. Weniger der Greg Kinnear und Willem Dafoe als Mord als vielmehr das in dessen Folge ungleichem Freundespaar, ist einer von aufgedeckte Doppelleben des Stars hat Schraders provokativsten, aber auch für Furore gesorgt: Im Hotelzimmer ge- gelungensten Filmen. fundene Fotos, Tagebücher und Video- Regie: Paul Schrader. Mit: Greg Kinnear, bänder, alle nicht jugendfreien Inhalts, Willem Dafoe. Verleih: Buena Vista Inter- zeugten von Cranes egomanischer Bil- national. 319376_0001_MovieNews 76 5.5.2003 10:46 Uhr Seite 2 (1,1) blue gate crossing

Zwei beste Freundinnen, ein Junge und eine Verwechslung: Von unbe- Moment verwandelt sich BLUE GATE CROSSING und beginnt von etwas schwerter erster Liebe und der Suche nach sexueller Identität erzählt zu erzählen, das man im Kino kaum je sieht: Dem Wachsen einer Chih-Yen Yee in BLUE GATE CROSSING. Da sind Yuezhen und Kerou, Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Leicht und zwei 17-jährige Girls, die in Taipeh die Schulbank drücken. Yuezhen beschwingt ist BLUE GATE CROSSING, spielt zwischen Schule, Park, träumt von einer Zukunft als Mutter und Gattin und schwärmt für Strand und baumgesäumten Strassen und holt mit bewegter Kamera den gutaussehenden Shihao. Kerou die Rastlosigkeit der Protagonisten ein, hingegen hat noch keine konkreten die sich im Sturm der Gefühle abwech- Zukunftsvisionen. Doch sie empfindet selnd suchen und meiden. En passant für Yuezhen mehr als bloss freund- geschieht dabei ein lesbisches Coming- schaftliche Gefühle und ist bereit alles out und wird das Thema Homosexua- zu tun, um der Freundin zu gefallen. lität gestreift, das Yen schon in seinem Zum Beispiel auch den Postillion Erstling «Lonely Hearts Club» (1995) d’amour zu spielen und Shihao einen behandelte. BLUE GATE CROSSING ist Liebesbrief von Yuezhen zu bringen. ein wunderbar schräger und liebens- Shihao nun aber meint, Kerou sei des- werter Film aus Taiwan. sen Absenderin und Kerou ist zu verdat- Regie: Chih-Yen Yee. Mit: Bo-Lin Chen, tert, ihn im ersten Augenblick über das Lun-Mei Guey, Shu-Hui Liang. Verleih: Missverständnis aufzuklären. In diesem Trigon-Film. henri cartier-bresson biographie eines blicks

«Genau beobachten» – «schnell abdrücken» – «abhauen»: So lautet das an einer Mauer: Cartier-Bresson redet von der Ästhetik der Geometrie, Berufscredo von Henri Cartier-Bresson, das am Anfang von Heinz Bütlers der Kunst der richtigen Wahl. Man kennt seine Bilder, beginnt sie in Büt- Film über den französischen Meisterfotografen steht. Fünfundneunzig lers Film nochmals neu zu entdecken. Kommentiert vom Fotografen, Jahre alt wird Cartier-Bresson dieses Jahr und wenn es etwas gibt, das er aber auch von anderen: Von Isabelle Huppert, die über die Intensität nicht mag, sind es Interviews. Vor allem solche über seine Person. Eher des festgehaltenen Moments reflektiert. Von Arthur Miller, dem vor allem schon seine Sache ist das Gespräch, das das Foto gefällt, das Marilyn Monroe in Sich-Unterhalten über etwas. Eine Art einer Drehpause von «Misfits» zeigt. filmisches Gespräch ist auch Heinz Büt- Und vom Fotografen Elliott Erwitt, der lers HENRI CARTIER-BRESSON. «Biogra- erklärt, wie er dank Cartier-Bresson be- phie eines Blicks» lautet dessen Unter- griff, dass ein guter Fotograf nicht viel titel und das ist Programm: Wer etwas wissen, aber genau beobachten muss. über Cartier-Bresson erfahren will, muss In diesem Sinne ist HENRI CARTIER- dessen Fotos anschauen. Gleichwohl ist BRESSON nicht nur das packende Werk- Cartier-Bresson da. Ein alter Mann mit porträt eines grossen Fotografen, son- schönen, blassblauen Augen, vor sich dern auch eine amüsante Schule des Bücher und Fotos. Er blättert, hält das Sehens. eine oder andere hoch: Ein Liebespaar Regie: Heinz Bütler. Dokumentarfilm. Ver- unter einem Regenschirm, zwei Männer leih: Heinz Bütler. das letzte versteck

Eva und Irene, zwei polnische Schwestern, beinahe erwachsen. Arzt- nach Deutschland. Mit falschen Papieren, versteht sich, damit sie als töchter. Jüdinnen. Die eine blauäugig, blond. Die andere dunkelhaarig. «arische Polinnen» freiwillig Kriegsdienst leisten können. Die Schwes- Herbst 1942. Die Deutschen kommen. «Mich werden sie brauchen», tern landen im Ruhrgebiet, arbeiten in einer Metallfabrik, werden verra- denkt der Vater. Doch die Töchter sind zu Hause nicht mehr sicher. Nein, ten, entkommen. Sie reisen weiter, immer in Gefahr entdeckt zu wer- ein Shoah-Drama ist DAS LETZTE VERSTECK nicht. Eher schon ein Aben- den, immer auf die Hilfe Fremder angewiesen, von denen sie nicht wis- teuerfilm, oder, wie Regisseur Pierre sen, ob sie ihnen freundlich gesinnt Koralnik es formuliert: «Eine Art Road- sind. DAS LETZTE VERSTECK ist ein lei- movie», gleichzeitig aber auch «eine ser Film, der ohne Spektakel und ohne Schilderung der Kriegsjahre und der Stars daherkommt. Er stellt eine Reihe Landschaft mit kleinen Leuten, fernab unverbrauchter neuer Darsteller vor – der Front». Koralnik hat schon öfters Fil- unter ihnen Nina Hagen-Tochter Cosma me über jüdische Menschen und The- Shiva – und brennt sich mit seinen men gedreht. Doch so nahe daran am zärtlichen Bildern von menschlicher Not Zweiten Weltkrieg wie in DAS LETZTE tief in die Erinnerung. VERSTECK, der auf einem autobiogra- phischen Roman von Ida Fink beruht, Regie: Pierre Koralnik. Mit: Johanna Woka- war er noch nie. «Ihr müsst weg!» sagt lek, Agnieszka Piwowarska. Verleih: Pierre der Vater und schickt Irene und Eva Koralnik. 319376_0001_MovieNews 76 5.5.2003 10:46 Uhr Seite 2 (2,1) dolls

Kaum ein Künstler hat ein derart facettenreiches Werk geschaffen wie einem Band an sich und fortan wandern die beiden zusammen durch Takeshi Kitano. In seiner Heimat vor allem als Komiker populär, betätigt die Gegend. In der zweiten Story wartet eine Frau jahrelang auf ihren sich der Japaner auch als Schriftsteller, Maler und Schauspieler. Bei uns Geliebten, erkennt ihn aber nicht, als er dreissig Jahre später zurück- ist er bekannt als Yakuza-Darsteller – und als Regisseur von epischen kehrt. Die dritte Geschichte erzählt von einer Sängerin, die bei einem Filmen wie «Hana-Bi» und «Kikujiro». Hoch poetisch ist auch Kitanos Unfall verunstaltet wird und ihrem Fan, der sich die Augen aussticht, neuster Film, DOLLS. Dieser orientiert damit er sie unversehrt in Erinnerung sich am legendären Puppentheater behält. DOLLS ist Kitanos ver- Japans und handelt von der Schönheit wunschenster und schönster Film. Er der Trauer und von der Liebe, die in führt durch vier Jahreszeiten und den Tod führt. Erzählt werden drei dicht schlägt eine Brücke zwischen dem tra- ineinander verwobene Geschichten. Die ditionellen und dem modernen Japan. erste dreht sich um ein junges Liebes- Zu seinen grössten Reizen gehören die paar, das für die Ehe bestimmt scheint. Kostüme von Modeschöpfer Yoshij Doch dann zwingt die Familie den Mann Yamamoto; kein Wunder wurde DOLLS zur Hochzeit mit einer anderen Frau. in Venedig frenetisch gefeiert. Das stürzt seine Geliebte in den Wahn- Regie: Takeshi Kitano. Mit: Miho Kanno, sinn. Als der Mann von ihrem Unglück Hidetoshi Nishijima, Kyoko Fukada. Ver- erfährt, kommt er zurück, bindet sie mit leih: Frenetic Films. ich kenn keinen – allein unter heteros

Fünf bis zehn Prozent aller Menschen, schätzt man, haben homosexuel- chen Stammtisch mit flotten Thai-Mädchen-Storys unterhielt, bis ihn ein le Neigungen, und in der postmodernen urbanen Gesellschaft, in Städ- positiver HIV-Befund zum Coming-out zwang. Und der 38-jährige Uwe, ten wie Zürich, Paris und Berlin, ist Schwulsein heute eine Selbstver- der auf Militärklamotten steht, bei Muttchen lebt, ab und zu nach Berlin ständlichkeit. Wie aber, hat sich Jochen Hick gefragt, sieht das Leben ausbuchst und sich zu Hause aber doch viel wohler fühlt. Hick hat sei- von Homosexuellen heute auf dem Lande aus? Die Kamera im Anschlag ne Protagonisten im Alltag beobachtet, sie bei ihren Ausflügen begleitet, brach er auf, um das rurale Schwaben- sich mit ihnen unterhalten. Er lässt aber land diesbezüglich unter die Lupe zu auch ihre Umgebung zu Wort kommen nehmen, und stellt mit ICH KENN KEI- und spürt dabei amüsiert (Vor-)Urteilen NEN – ALLEIN UNTER HETEROS einen so nach: ICH KENN KEINEN – ALLEIN UNTER ehrlichen wie heiteren, bisweilen aber HETEROS ist ein bewegter Dokfilm, der auch nachdenklich stimmenden Doku- dringend Not tut, wenn – wie Richard mentarfilm vor. In dessen Zentrum ste- unter dem Eindruck der nun endlich hen Homosexuelle aller Altersgruppen. auch in Stuttgart stattfindenden Christo- Der 78-jährige Richard und sein Freund pher Street Day Parade meint: – «der Eduard etwa, die schon vor fünfzig Jah- homosexuelle Befreiungskampf wirklich ren nach Zürich fuhren, um an den Akti- gewonnen werden will». vitäten des «Kreis» teilzunehmen. Der Regie: Jochen Hick. Dokumentarfilm. Ver- 51-jährige Hartmut, der den heimatli- leih: Pink Apple. dieter roth

Dieter Roth. Geboren 1930 als Karl-Dieter Roth in Hannover, gestorben 1998 in Basel. Pseudonym: diter rot. Ein grosser Mann. Ein Multitalent und genui- ner Künstler: So sein internationaler Ruf und so auch der Eindruck, den DIETER ROTH hinterlässt. Im Zentrum des von Edith Jud gedrehten Porträts steht Roths Werk: Seine Installationen, Bücher, Zeichnungen, Performances und Filme. Einiges atmet den Hauch des Flüchtigen, anderes zerfällt, drittes ist für die Dauer geschaffen: An Roths Werk scheiden sich die Meinungen, muss der Begriff der Kunst neu definiert werden. DIETER ROTH nun aber zeigt nicht nur den radikalen Künstler, sondern auch Dieter Roth den Menschen. Seine Wegbegleiterinnen, Freunde, Mitarbeiter und Kinder kommen darin vor. Allen voran Sohn Björn, der Roths künstlerisches Erbe angetreten hat. Björn führt nach Island und Basel, in Roths diversen Studios, weiss aber auch von seines Vaters Gedanken und Ideen zu berichten. Jud indes ver- knüpft in kühnem Bogen Roths Lebenslandschaften – das karge Island, die pulsierenden Städte – mit seinem Werk. Auf dass DIETER ROTH zur eindrück-

8001 ZÜRICH lichen Hommage an einen Mann wird, der in treffender Pointiertheit auch

✩ schon als «produktivste Einmannbewegung der Kunst» bezeichnet wurde.

P.P. Regie: Edith Jud. Dokumentarfilm. Verleih: Look Now! 1 · 8001 Zürich · Grossmünsterplatz AG Arthouse Movie Commercio Herausgeber · · gestattet. Quellenangabe und mit der Redaktion nur mit Genehmigung Nachdruck