TH 01_18 40-51 Dramaturgie.qxp_Layout 1 11.12.17 16:43 Seite 47 © Willy Saeger/Theater© Willy heute Archiv

GISELA MAY, WILLI SCHWABE, und in «Der Messingkauf» am Berliner Ensemble 1963

Polizeiliche und Politische Dramaturgie Während sich der klassische Dramaturg im Theater behaupten muss, wird Dramaturgie international derzeit als Hot Topic gehandelt und ihr zwiespältiges Erbe offen gelegt

Von Nikolaus Müller-Schöll

1/2018

Theater heute

47 TH 01_18 40-51 Dramaturgie.qxp_Layout 1 11.12.17 16:43 Seite 48 © Hildegard Steinmetz/Theater heute Archiv © Hildegard

Polizeiliche Dramaturgie: Peter Weiss’ «Viet Nam Diskurs», inszeniert an den Münchner Kammerspielen von Peter Stein, abgesetzt von August Everding

er Dramaturg ist ein armer Tropf. Glaubt man seinen Worten, sich. Mäßige Bezahlung, Arbeitsüberlastung, befristete Verträge und die hat er alles schon gesehen, alles schon gemacht im Theater. Politik vieler Theater, mit immer weniger künstlerischem Personal immer Er ist ein wandelndes Theaterlexikon. Aber er ist fertig mit mehr zu veranstalten, resultieren in sich häufenden Fällen von Burn-out dem Theater. Nun soll «Der Philosoph», eine Koryphäe, von Syndrom und inneren Kündigungen. In der Freien Szene, die lange Zeit dessen persönlichem und institutionellem Hintergrund uns als Ort einer sehr viel intensiveren Beteiligung des Dramaturgen an der nichts Genaues bekannt ist, die alte Institution neu beleben. Eine Schau- Produktion gelten konnte, mehren sich die Fälle, wo angesichts prekärer spielerin hat ihn angeschleppt. Ein kleines Trüppchen von Theaterleuten Finanzen dieser Posten als erstes den Kürzungen zum Opfer fällt. Dhat sich mit ihm zum Gespräch bei Wein auf der noch angeheizten Büh- Auf der anderen Seite wird Dramaturgie –genauer: «Dramaturgy»–seit ne des Theaters nach der Vorstellung getroffen und lässt sich nun vier einigen Jahren in der internationalen Theatertheorie als «hot topic» gehan- Nächte lang coachen. Ausgang ungewiss. delt. Es ist, als sollte, mit Hegel gesprochen, die Eule der Minerva zu ihrem «Der Messingkauf», das Denkmal für den unbekannten Dramaturgen, Flug in der Abenddämmerung anheben, die begriffliche Untersuchung das der Weltliteratur vermacht hat, blieb unvollendet. Es also in dem Moment erst richtig beginnen, in dem das klassische Phä- ist ein Meisterwerk dramaturgischer Arbeit, auch wenn der Fachvertreter nomen selbst langsam zu verschwinden droht: Symposien, Forschungs- darin eher eine traurige Figur macht, bloßer Stichwortgeber und Spar- projekte und eine große Zahl von Publikationen feiern sie als «Revolution ringspartner des Denkenden ist, den am Theater nicht mehr interessiert, im Theater» (Mary Lockhurst), unterscheiden visuelle, mediale, «neue», als den Wertstoffhändler an einer Tuba, eben das Messing, das «Theater- «erweiterte», «relationale» oder «postdramatische» Dramaturgie und kon- gold». Es ist ein Text, der, wenn schon nicht den «Dramaturgen», so doch statieren einen «fundamentalen Wandel» oder gar eine «kopernikanische Dramaturgie, diese sonst hinter der Bühne bleibende Abteilung, in actu Wende» (Patrice Pavis) auf diesem Arbeits- und Forschungsfeld. so vorführt, wie sie im emphatischen Sinne gedacht werden kann: Ein Teil des Theaters, bleibt sie doch diesem soweit fremd, dass sie es immer wie- Dramaturgie? – Dramaturgien! der als Ganzes infragestellen kann. Sie kennt seine Notwendigkeiten, Sach- zwänge, Abläufe und Automatismen. Aber sie erinnert es auch an die An- In älteren Darstellungen wurde der Begriff des Dramaturgen vom spät- sprüche, die von seiner Geschichte, von der Gesellschaft und der Politik griechischen «Dramatourgos» abgeleitet, womit der Autor, aber auch be- an es gestellt werden, und sie vertritt die künstlerische Arbeit nach außen. reits der Aufführungsleiter von Dramen bezeichnet wurde, und die Funk- Die von Brecht in Schrift und Tat auf einen Höhepunkt geführte Tradi - tion auf jene Spielart vor allem des deutschsprachigen Theaters zurück- tion der Dramaturgie, die seit den 50er Jahren in vielen Ländern Europas geführt, die sich, eine europäische Entwicklung nachvollziehend und Schule machte, findet sich heute in einer paradoxen Situation. Während verändernd, von der Mitte des 18. Jahrhunderts an herausgebildet hat. Dra- sie im deutschsprachigen Kontext an Bedeutung zu verlieren droht, rückt maturgie galt als eine Art von «tacit knowledge», als Praxiswissen der als sie als Forschungsfeld und Gegenstand immer mehr in den Blick der in- Dramaturgen arbeitenden Theatermitarbeiter. Als ihre Aufgaben wurden ternationalen Theaterforschung: Auf der einen Seite beginnt der Drama- entsprechend einschlägiger Stellenbeschreibungen Lektüre und Inter- turg als der unabhängig denkende Eindringling von außen in der von pretation von Stücken, Analyse ihrer Produktion sowie Auswahl und Qua- Brecht in Gestalt des «Philosophen» im Theater erneuerten Form, zuneh- litätssicherung der Inszenierungsweisen, daneben Spielplangestaltung, mend aus den deutschsprachigen Stadttheatern zu verschwinden. Seit Außendarstellung, Stoffbearbeitungen, Kommunikation mit der Presse längerem wird er dort schon faktisch – durch Manager, Marketing- und und Organisation des Diskurs- und Konzertprogramms aufgeführt.

Öffentlichkeitsmitarbeiter – ersetzt, seit Neuestem, am programmatischs- Beschrieben oder entdeckt werden nun darüber hinaus Dramaturgien 1/2018 ten in der neuen Volksbühne , durch «Kurator*innen» und eine «Di- des Schauspielers (Eugenio Barba), des Zuschauers, der Erziehung, des

rektorin». Damit nicht genug: Seine Arbeitsbedingungen verschlechtern Tanzes (Lepecki), des Visuellen (Knut Ove Arntzen) oder des vom gemein- Theater heute

48 TH 01_18 40-51 Dramaturgie.qxp_Layout 1 11.12.17 16:43 Seite 49

Dramaturgie © Bernd Uhlig/Theater heute Archiv

Politische Dramaturgie: die Berliner Volksbühne 1999

samen Arbeiten mit Regeln ausgehenden Devised Theatre. Der Dramaturg, NS-Erfindung «Chefdramaturg» so fasst der französische Theatersemiotiker Patrice Pavis in einem alle diese Neuerungen referierenden, enzyklopädischen Artikel den gegenwär- Einen «umfassend gebildeten und unabhängigen Intellektuellen im Thea- tigen Stand zusammen, werde heute in einer «performativen Dramatur- ter» zu haben, das sei es, so Deutsch-Schreiner, was das moderne Theater gie» zum Künstler unter Künstlern. Als solcher sei er eine weniger verzwei- zuallererst Lessing verdanke. Der Dramaturg, so konstatiert sie mit Blick felte und depressive Person. Allerdings gehe dieser Wandel auch damit auf den Verfasser der «Hamburgischen Dramaturgie», stand «zu der ent- einher, dass «Dramaturgie nicht länger ein solides Wissen, einen Corpus scheidenden Zeit an der Seite des deutschsprachigen Theaters (…), als die- von Doktrinen oder wenigstens eine systematische Methode» bezeichne. ses sich professionalisierte. Es war die Zeit, in der der literarische Stück- Diese Diagnose bestätigt sich bei der Vertiefung in die Literatur zum text die Grundlage der Theaterarbeit wurde, in der sich das deutsche Thea- The ma: Spezifikum des Phänomens und Forschungsfelds «Dramaturgy» ter zu einer Kunstform ausbildete, in der die umherziehenden Wandertrup- scheint zu sein, dass es bei genauerer Betrachtung als Syno nym für Struk- pen in stehenden Theatern sesshaft wurden und sich das Theater als tur, Organisation, Architektur, für Kontrolle und Überwachung des Thea- kulturelle Institution etablierte». Von Lessing aus stellt sie die Geschichte ters in allen seinen Formen begriffen wird, aber auch für das gerade Ge- der Dramaturgie in Einzeldarstellungen vor, die von Schiller als dem Dra- genteil dieser Beschreibungen, für Unterbrechung, Ungewißheit, Des- maturgen des Theaters der Weimarer Klassik über Joseph Schreyvogel, Ar- orientierung, Destabilisierung und Öffnung. Mitunter wird Dramaturgie thur Kahane, Bertolt Brecht, Rainer Schlösser, Kurt Hirschfeld, Heinar Kipp- geradezu zum Synonym für Performance, Theater oder die Kunst im all- hardt, Dieter Sturm und Hermann Beil bis zu Stefanie Carp und Nadine gemeinen, andernorts zu der Instanz, die gleich welche dieser Künste Jessen reichen. Kritik, Reflexion und Vermittlung sieht sie bei allen Unter- immer von Neuem in Frage stellt. Die historiografische Überblicksdarstel - schieden als Kernaufgaben von Dramaturgie. So weit, so bekannt. Der ei- lung der österreichischen Theaterwissenschaftlerin Evelyn Deutsch- gentliche Sprengsatz ihrer Darstellung und deren großes Verdienst ist al- Schreiner «Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart» lerdings, dass sie zugleich in so bisher kaum ausgeführter Drastik vor Augen und der von drei praktisch wie theoretisch das Feld neu vermessenden führt, dass dieser Theaterberuf in seiner heutigen Ausprägung und Verbrei- Autorinnen, Konstantina Georgelou, Efrosini Protopapa und Danae Theo- tung mindestens ebenso ein Erbe der NS-Zeit wie ein solches der Brecht- doridou, gemeinsam herausgegebene Band «The Practice of Drama turgy. schen Arbeit am Berliner Ensemble ist. Erst in der NS-Zeit wird die Funk- Working on Actions in Performance» stecken als komplementäre Gegen- tion «verbreitet an den Staats- und Stadttheatern eingeführt, und erst seit pole das Feld gegenwärtiger Dramaturgieforschung ab. ihr gibt es die Bezeichnung und Funktion des «Chefdramaturgen». Es ist eine «nationalsozialistische Erfindung», Ausdruck der im NS-Staat durch- gesetzten Hierarchisierung der Theater, ihres Umbaus in zentral gesteuerte Stätten der erweiterten Propaganda. Eine «Reichsdramaturgie» im Propa- Die von Brecht in Schrift und gandaministerium «verstand sich als geistige Führungszentrale der Theater» und übte Druck auf sie aus. Spielpläne wurden im Einklang mit der in Ber- Tat auf einen Höhepunkt geführte lin ersonnenen Kulturpolitik aufgestellt. Deutlich wird die polizeili che Funk- tion von Dramaturgie auch in einem Kapitel zur Dramaturgie in der DDR Tradition der Dramaturgie erkennbar: Der Chefdramaturg am Deutschen Theater, so refe riert Deutsch- Schreiner mit Blick auf Heinar Kipphardts dortige Zeit, war ein dem ZK

1/2018 findet sich heute in einer para- der SED «verantwortlicher Politkommissar für den Spielplan». doxen Situation Während Deutsch-Schreiner die Geschichte der Dramaturgie entlang

Theater heute der Etappen einschlägiger Theatergeschichtsschreibung nachvollzieht,

49 TH 01_18 40-51 Dramaturgie.qxp_Layout 1 11.12.17 16:43 Seite 50

Dramaturgie © Judith Buss

Ganz in Schwarz: Anna-Sophie Mahlers «Mittelreich», reenacted von Anta Helena Recke an den Münchner Kammerspielen

dabei in den Grenzen des deutschsprachigen Theaters bleibt, sich me- schen Neuentdeckung andererseits zu entwickeln wäre, ist eine Theorie thodisch auf die Darstellung exemplarischer Dramaturgenpersönlichkei- der Dramaturgie, welche die zwei Pole der Dramaturgie, die in der Lite- ten beschränkt und so im Wesentlichen darstellt, was man als State of ratur wie Praxis sichtbar werden – Dramaturgie als Polizei und Politik – the Art bezeichnen könnte, lässt sich «The Practice of Dramaturgy» als zusammenzudenken vermöchte. Eine solche Theorie der Dramaturgie eine Art von gemeinschaftlichem Manifest für Dramaturgie als Praxis mit müsste ausgehen von einer genealogischen Perspektive. Warum, so hätte politischem Einsatz beschreiben. sie zu fragen, wird die Funktion des Dramaturgen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeführt? Was lässt das Theater einen Intellektu- Räume der Unterbrechung ellen an seine Seite rufen, der es bei der Auswahl und Gestaltung seiner Stoffe, bei deren Einrichtung und Ausgestaltung, bei der Erziehung der Mit Verve verwerfen die Herausgeberinnen eingangs das bisherige Ver- Schauspieler und der Vermittlung des Stoffs für das Publikum berät? War- ständnis von Dramaturgie als die Tätigkeit eines spezifischen Mitarbeiters, um Dramaturgie, und warum erst zu diesem Zeitpunkt? welche mit Kohärenz, Sinnerzeugung, Komposition und Aufmerksam- keitslenkung zu tun hat. Nicht minder kritisch begegnen sie der in der Politisch und/oder polizeilich neueren Literatur aufgestellten Behauptung des Neuen, Erweiterten oder Postdramatischen in der Dramaturgie oder der Pluralisierung von Dra- Eine Antwort auf diese Fragen legt der Blick in Michel Foucaults Unter- maturgien. Dagegen stellen sie ihre Definition von Dramaturgie, die von suchungen zur Entstehung der Regierungskunst im 18. Jahrhundert nahe. den Wortbestandteilen drama und ergon ausgehend der dramaturgi- Wie der Soziologe und Philosoph aufbauend auf seinem ausgedehnten schen Praxis eine katalytische Funktion bei jeder künstlerischen Arbeit Studium der polizeiwissenschaftlichen Schriften des 16.-18. Jahrhunderts zuspricht. Sie wird als «actions at work» und «working on actions» defi- in seinen Vorlesungen zur «Gouvernementalität» entwickelt, bildet sich niert – Handlungen im Verlauf der Arbeit bzw. Arbeit an Handlungen. im 18. Jahrhundert als Gegenentwurf zu Nicoló Machiavellis Lehre für den Dramaturgische Fragen und Prinzipien, so erläutern sie, werden selbst souveränen Fürsten eine Lehre von der Regierungskunst heraus, die auf dort getestet, wo kein als solcher ausgewiesener Dramaturg anwesend drei Quellen zurückgeführt werden kann: Auf das archaische Vorbild des ist. Es gehe hier um ein Tun, das weder der zielorientierten Poiesis noch christlichen Pastorats, also die Vorstellung einer Masse von Individuen, der aristotelischen Praxis entspreche, sondern vielmehr mit Öffnung und die, einer Schafherde gleichend, mit Rücksicht auf jedes einzelne indivi- Bildung von Räumen der Verhandlung, der Konflikte, des Dissenses, des duelle Wesen zu hegen und zu pflegen ist, auf eine diplomatisch-militä- Orientierungsverlusts, des Nicht-Wissens, der Unterbrechung, des Ein- rische Technik sowie auf eine die Verwaltung und Organisation im enge- griffs und der Imagination zu tun habe, um so neue soziale und politi- ren wie im weitesten Sinne besorgende «Polizey». Die Machttechniken sche Entwürfe zu ermöglichen. Unter Verweis auf Chantal Mouffes Theo- rie des Politischen postulieren sie, dass die ‹Politizität dramaturgischer Praxis› darin zu sehen sei, dass auf ‹eine pluralisierte Unterbrechung und Neukonfigurierung hegemonialer Organisationen der Koexistenz und Warum wird die Funktion Zusammenarbeit› hingearbeitet werde. Zusammen betrachtet legen die beiden so unterschiedlichen Neuer- des Dramaturgen in der scheinungen nahe, dass Christel Weilers 2005 publizierte Einschätzung,

dass eine Theorie der Dramaturgie noch immer fehle, trotz vieler Bemü- zweiten Hälfte des 18. Jahr - 1/2018 hungen der vergangenen Jahre weiterhin zutrifft. Was fehlt und ange- hunderts eingeführt? sichts der praktischen Krise der Dramaturgie einerseits, ihrer theoreti- Theater heute

50 TH 01_18 40-51 Dramaturgie.qxp_Layout 1 11.12.17 16:43 Seite 51

dieser Regierungskunst richten sich auf die Individuen, die auf dem Weg Golonka als Hausregisseurin ins Ensemble des Frankfurter Schauspiels der Subjektivierung ihre dauerhafte Bestimmung erhalten sollen. Drama - unter Elisabeth Schweeger, wo sie als beständiger Störfaktor und produk- turgie, so könnte man von hier aus formulieren, antwortet auf die staat- tive Unruhestifterin, die in ihren Produktionen zunächst und vor allem lichen Bestrebungen, im Interesse der Herausbildung eines neuen, nicht das Funktionieren des Apparats Stadttheater selbst zum Gegenstand der länger auf der Souveränität des feudalen Fürsten basierenden Staatswe- Verhandlung auf und hinter der Bühne erhob, buchstäblich neu definierte, sens im 18. Jahrhundert, eine neue Kunst des Regierens herauszubilden, was ein Theater in einer Stadt wie Frankfurt überhaupt sein kann. Poli- mit der Entwicklung einer neuen Form der Regierung der Künste. tisch ist die Setzung, mit der Anta Helena Recke in ihrem Re-Enactment Dramaturgie korrespondiert, kurz gesagt, als Ausformung der Ratio- von Anna Sophie Mahlers «Mittelreich»-Inszenierung mit People of Co- nalität im Theater den Absonderungstechniken der Psychiatrie, den Dis- lour dem Stadttheater in seiner Münchner Ausprägung seinen faktischen ziplinartechniken des Strafrechtssystems und der Biopolitik in der Me- Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen aus der täglichen Arbeit vor Au- dizin. Wenn Foucault einerseits unterstreicht, dass der neue «Regierungs- gen geführt hat. staat, der sich wesentlich auf die Bevölkerung stützt und sich auf die In- Polizeiliche oder politische Dramaturgie sind allerdings immer beide strumente des ökonomischen Wissens» beruft, die aus der Ordnung der zugleich am Werk, niemals in der einen oder anderen Weise alleine und Familie abgeleitet werden, einer «durch die Sicherheitsdispositive kon- in Reinform anzutreffen: Am Vortag der legendär gewordenen Bremer trollierten Gesellschaft» entspricht, andererseits aber immer wieder «Tasso»-Premiere kam es, wie die Theaterwissenschaftlerin Sabine Päsler betont, dass eben mit der Kunst des Regierens auch das Potential der Wi- jüngst in Erinnerung gerufen hat, im gleichen Theater zum Eklat: Die in- derständigkeit entsteht, der Kritik als des Willens, «nicht so regiert zu stitutionskritisch angelegte Lesung der «Frauenvolksversammlung» nach werden», so sind damit die zwei gleichursprünglichen Prinzipien be- Aristophanes wurde sofort abgesetzt. Nicht selten verwandelt sich die nannt, die, aus einer genealogischen Perspektive betrachtet, Dramaturgie politische Dramaturgie von gestern in die polizeiliche Dramaturgie von seit damals und bis heute bestimmen: Polizei und Politik – wobei das heute: Dann wacht eine Garde verdienter älterer Herren, seltener Damen, zweite Wort in dem Sinne zu begreifen ist, wie es der politische Philosoph denn sie stiegen dafür zu selten in die männlich dominierte Führungs- Jacques Rancière formuliert hat, dabei Foucaults aufs 18. Jahrhundert etage der Theater und Akademien auf, argwöhnisch über die Errungen- gemünzte Unterscheidung aufgreifend. Dramaturgie ordnet, regelt, kon- schaften, etwa die sogenannte «Technik» und das als nicht diskutierbar trolliert und diszipliniert den kreativen Prozess bis zu dem Punkt, dass bezeichnete «Handwerk», das sie selbst mühsam oder spielerisch erar- man sie noch heute als «Polizei der Intendanz» (Mark Lammert) bezeich- beitet haben und nun gegen die vermeintlich oder tatsächlich ignoranten nen könnte. Aber sie ist auch in der Lage, diesen Prozess, die Kunst im Jüngeren glauben verteidigen zu müssen. Entstehen, dort wieder zu öffnen, wo er sich den Ansprüchen der von Das passierte nicht zuletzt mit Brechts «Messingkauf», in dessen Mit- ihm ausgeschlossenen Anderen zu verweigern droht, wo der Konflikt zu- telpunkt mit dem ebenso anarchistisch wie marxistisch geprägten Phi- gunsten erpresster Versöhnung (Adorno) verschwindet. losophen ein Dramaturg steht, der diesen Namen nicht länger trägt. Die Polizeiliche und politische Dramaturgie in diesem Sinne lassen sich Zettelsammlung kann mit der gefundenen Unterscheidung als klassi- an vielen Beispielen beobachten, die nicht immer eine klare Trennung sches Beispiel politischer Dramaturgie bezeichnet werden, als grundlegen- zwischen beiden, nur selten im Extrem zu findenden Polen erlauben. Als de Infragestellung des existierenden Theaters bis zum Punkt, wo nicht Polizei treten Dramaturgen nicht selten überall dort auf, wo sie die Affekte, länger klar ist, ob am Ende der Neuerungen noch ein Theater – oder die die Kunst mobilisiert, zu regulieren und normalisieren versuchen, wo nicht vielmehr ein «Thaeter» – übrigbleiben wird. Nicht von ungefähr sie Prozesse, die das Haus gefährden könnten, abbrechen und aus dem hat Brecht, den Politik im definierten Sinne mehr interessierte als Polizei, Ruder gelaufene Produktionen mit Blick auf die Notwendigkeit, am Ende diesen Entwurf niemals abgeschlossen. Darin ist gewiss mehr und ande- mit einem fertigen Produkt vor das Publikum treten zu können, zurück- res als eine nur kontingente Unabgeschlossenheit zu sehen, wie sie das fahren. Polizeilich – wenn auch nicht im engeren Sinn dramaturgisch – Berliner Ensemble nach seinem Tod zu erkennen glaubte, als es das Frag- in diesem Sinne war, um historische Beispiele zu nennen, August Ever- ment zum Stoff einer Komödie machte. Was das exemplarische Beispiel dings Absetzung von Peter Steins Inszenierung des «Vietnam-Diskurses» politischer Dramaturgie vielmehr vor Augen führt, ist, dass der Flucht- von Peter Weiss im Jahr 1968 wegen ihres Endes mit einer Spendensamm- punkt jeder politischen Dramaturgie kein mögliches, sondern vielmehr lung für den Vietcong und die damit verbundene Kündigung des Regis- ein unmögliches Theater ist. Jenes unmögliche Theater, das die Gegen- seurs, polizeilich war die Absetzung der Premiere von Fassbinders «Der wart mit ihren Zwängen, Regeln und Ordnungsmodellen als das Reich Müll, die Stadt und der Tod» im Frankfurter Schauspielhaus (1986) oder des Möglichen negiert und unmöglich machen will. Im Interesse eines in jüngster Zeit die Räumung der von Aktivisten besetzten Berliner Volks- anderen Theaters oder vielleicht auch von etwas ganz anderem als dem, bühne. Viele andere, weniger spektakuläre Beispiele wären anzuführen. was wir heute noch Theater nennen. Politisch könnte dagegen die gezielte Provokation der DDR-Kulturpolitik durch Brechts «Hofmeister»-Inszenierung des Jahres 1950 genannt wer- den, die der zur Norm erhobenen Klassik deren ausgegrenzte andere Literatur: Literatur- und Theatertradition vor Augen führte. Politisch war mit Sicher- Behrndt, Synne, Cathy Turner: «Dramaturgy and Performance». Basingstoke, 2008. heit der Aufbruch, aus dem mit Steins «Tasso» am Ende der 60er Jahre im Behrndt, Synne, Cathy Turner: «New Dramaturgies», Contemporary Theatre Review, 20, 2, 2010. Cochrane, Bernadette, Katalin Trencsenyi: «New dramaturgy. International perspectives on theory Bremer Theater das Ensemble der Schaubühne der 70er Jahre mit ihren and practice». London 2014. herausragenden dramaturgischen Leistungen hervorging. Eine politische Deutsch-Schreiner, Evelyn: «Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart». Wien 2016. Dramaturgie im besten Sinne war diejenige von Frank Castorfs Volksbüh- Georgelou, Konstanina/Theodoridou, Danae/Protopapa, Efrosini (Hg.): «The Practice of Dramaturgy. Working on Actions in Performance». Amsterdam 2017. ne der Anfangsjahre mit ihrer permanenten Neuverhandlung der Umbrü- Foucault, Michel: «Kritik des Regierens». Schriften zur Politik. Berlin 2010. che nach 1989 auf allen Bühnen des Theaters und jenseits von ihnen. Po- Foucault, Michel: «Omnes et singulatim: vers une critique de la raison politique». litisch war der «Formenkanon», mit dem das Theater Einar Schleefs auf In: Ders.: Dits et Écrits 1954-1988, IV 1980-1988, Paris 1994, S. 134-161. Pavis, Patrice: «Dramaturgy and Postdramaturgy». In: Pewny, Katharina, Johan Callens, Jeroen Coppens (Hg.): das mit «Konzeptionen» arbeitende Regietheater antwortete, um dessen «Dramaturgies in the New Millenium. Relationality, Performativity and Potentiality», Tübingen 2014,

1/2018 räumliche, zeitliche und schauspieltheoretische Blindheiten und damit S. 14-36. seine Grundlagen radikal infragezustellen. Politisch war die Einbindung Rancière, Jacques: «Das Unvernehmen, Politik und Philosophie», Frankfurt am Main 2002. Weiler, Christel: «Dramaturgie». In: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar,

Theater heute der aus Tanz und Bildender Kunst kommenden Choreographin Wanda 2. Auflage, 2014, S. 84-87.

51