Religion

und die

auswärtige

Politik der EU

Wachsendes Engagement

Seit dem 11. September 2001 muss sich die Europäische Union zunehmend mit religiösen Krisen in einer Welt auseinandersetzen, in der die Globalisierung die Religionsdemografie verändert. Parallel zu ähnlichen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten und den Vereinigten Staaten hat die EU Instrumente entwickelt, um religiösen Strömungen bei der Beschäftigung mit Menschenrechtsfragen und der Einbindung wichtiger Partnerstaaten stärker Rechnung zu tragen. Konfessionelle Organisationen spielen in einigen neuen Bereichen, einschließlich Klimawandel, Entwicklung und Konfliktlösung, eine entscheidende Rolle und werden von der EU zunehmend berücksichtigt. Zudem kommt der in der Innen- und Außenpolitik einiger wichtiger Partner der EU eine wichtige Rolle zu, wie dies in den Anhängen zu dieser Studie dargestellt ist. Dieser Bereich entwickelt sich daher nach und nach zu einer neuen Dimension in der auswärtigen Politik der EU. Die Anhänge dieses Dokuments zu einzelnen Staaten wurden von Naja Bentzen, Gisela Grieger, Beatrix Immenkamp, Elena Lazarou, Velina Lilyanova, Martin Russell, Alexandra Friede und Jessica Park verfasst.

PE 614.612 ISBN 978-92-846-2265-8 doi:10.2861/038284

QA-05-17-197-DE-N Das Originalmanuskript in englischer Sprache wurde im November 2017 fertiggestellt. Übersetzung abgeschlossen: Februar 2018

HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHTSSCHUTZ Dieses Dokument wurde für die Mitglieder und Bediensteten des Europäischen Parlaments erarbeitet und soll ihnen als Hintergrundmaterial für ihre parlamentarische Arbeit dienen. Die Verantwortung für den Inhalt dieses Dokuments liegt ausschließlich bei dessen Verfasser/n. Die darin vertretenen Auffassungen entsprechen nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt des Europäischen Parlaments. Nachdruck und Übersetzung – außer zu kommerziellen Zwecken – mit Quellenangabe gestattet, sofern das Europäische Parlament vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird. © Europäische Union, 2018 Fotonachweise: © Europäische Union 2017/Quelle: Kommission – Audiovisueller Dienst/Foto Jennifer Jacquemart [email protected] http://www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet) http://www.europarl.europa.eu/thinktank (Internet) http://epthinktank.eu (Blog)

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ZUSAMMENFASSUNG Nach Jahrhunderten der Religionskriege verstanden sich viele europäische Staaten Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert als Vorreiter des Säkularismus weltweit. Sie waren daher der Ansicht, dass die Bedeutung von Religion in der Politik immer weiter abnehmen würde. Als die Organe der EU gegründet wurden, verfügten sie daher nicht über Mechanismen für den Umgang mit religiösen Fragen. Dennoch musste sich Europa seit dem 11. September 2001 und dem Streit um die Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed in der Zeitung Jyllands- Posten im Jahr 2005 mit größeren religiösen Konflikten auseinandersetzen. Im Rahmen des Vertrags von Lissabon wurden Mechanismen geschaffen, um den Dialog zwischen den Organen der EU und den Vertretern konfessioneller und nichtkonfessioneller Gemeinschaften in Europa zu organisieren. Im Jahr 2013 veröffentlichte die EU Leitlinien, um ihren Ansatz für die Förderung und den Schutz der - und Glaubensfreiheit einzubeziehen, im Jahr 2016 wurde Ján Figeľ zum Sonderbeauftragten für die Religions- und Glaubensfreiheit außerhalb der EU ernannt. In den EU-Mitgliedstaaten besteht ebenso wie in den Vereinigten Staaten ein zuneh- mendes Interesse daran, religiöse Organisationen besser zu verstehen und einzube- ziehen. Dieses Interesse ist von großer Bedeutung, da die Zahl der Menschen, für die Religion ein wichtiger Teil ihrer Identität ist, weltweit zunimmt, das Zusammenleben von Anhängern verschiedener Religionen zunehmend problematisch ist und sich die Religionsdemografie weltweit stark verändert. Konfessionelle Organisationen könnten künftig aus vielen Gründen wichtige Partner beim globalen Handeln der EU in Bereichen wie Klimawandel, Entwicklung und Konfliktlösung sein. Bei der Frage des Klimawandels sind viele religiöse Führer weltweit der Ansicht, dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen einer gerechten Entwicklung und dem Schutz des Planeten gefunden werden muss. Sie haben wie die EU, die auf diesem Gebiet weiterhin weltweit führend ist, aktiv an den Gipfeltreffen der COP 21 und COP 22 teilgenommen. Einige der größten Geber und Nichtregierungs- organisationen (NRO), die Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe vor Ort leisten, sind konfessionelle Organisationen. Sie erbringen einen Großteil der Gesundheits- und Ausbildungsdienstleistungen in Entwicklungsländern; die EU ist sich zunehmend des Potenzials bewusst, die eine Partnerschaft mit ihnen birgt. Die EU hat mit konfessionellen NRO immer im Rahmen einer Politik der Nicht- diskriminierung zusammengearbeitet, setzt aber zunehmend darauf, Entwicklung und religiöses Bewusstsein zu verbinden, indem Schulungen und Aufforderungen zur Interessenbekundung zur Förderung des interreligiösen Dialogs durchgeführt werden. Konfessionelle Organisationen sind durch Prävention, Bildung oder Vermittlung auch an friedenserhaltenden Maßnahmen in vielen Teilen der Welt beteiligt. Vor Ort werden sie von der EU bei ihren friedensbildenden Maßnahmen als wichtige zivilgesellschaftliche Akteure berücksichtigt. Um mehr religiöse Organisationen einzubeziehen und die Religions- und Glaubensfreiheit zu schützen, verstärkt die EU ihre Kapazitäten im Bereich der religiösen Kompetenz. Die EU steht bei dieser Entwicklung nicht allein. Religion spielt in der Außen- politik mehrerer Länder eine wichtige Rolle. Die Anhänge zu dieser Studie bieten einen Überblick über ausgewählte Fälle (Bosnien und Herzegowina, China, Iran, Russland, Saudi-Arabien, Türkei, Vereinigte Staaten und Ukraine).

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INHALT 1. Einleitung ...... 3 1.1. Von Europa als Vorreiter zu Europa als Ausnahme ...... 3 1.2. Die EU angesichts religiöser Krisen ...... 3 1.3. Bewertung religiöser Faktoren, Einbeziehung religiöser Akteure und Abstimmung der EU-Politik ...... 4 2. Religion und Glauben in der internen und externen Dimension der EU ...... 4 2.1. Eine Vielzahl europäischer Modelle ...... 4 2.2. Die EU und Religion: interne und internationale Aspekte ...... 5 2.3. Westliche Diplomatie und Religion ...... 7 3. Religiöse Gemeinschaften als potenzielle Partner beim auswärtigen Handeln der EU ...... 9 3.1. Wandel der Weltreligionen ...... 9 3.2. Die Rolle von Religion im auswärtigen Handeln der EU: Klimawandel, Entwicklungspolitik und Konfliktlösung ...... 10 4. Religion als neu entstehender Bereich des auswärtigen Handelns der EU ...... 14 5. Wichtige Quellen ...... 15 6. Anhänge: Die Verbindung zwischen Staat und Religion in ausgewählten Partnerstaaten der EU ...... 16 6.1. Bosnien und Herzegowina ...... 16 6.2. China ...... 19 6.3. Iran ...... 23 6.4. Russland ...... 26 6.5. Saudi-Arabien ...... 29 6.6. Türkei ...... 32 6.7. Ukraine ...... 35 6.8. Vereinigte Staaten von Amerika ...... 38

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1. Einleitung 1.1. Von Europa als Vorreiter zu Europa als Ausnahme In den 1950er- und 1960er-Jahren stellte die Modernisierungstheorie1 eine Verbindung zwischen technologischer Entwicklung und allgemeiner Modernisierung der Wirtschaft und einer Abnahme der Religiosität weltweit her. Sie basiert auf europäischen und teilweise marxistischen soziologischen Theorien und sah den Westen als Avantgarde, der sich der übrige Teil der Welt bald anschließen würde. Heute zeigt ein allgemeiner Prozess, der zuweilen als Entsäkularisierung2 beschrieben wird, dass es eine solche Verbindung nicht gibt: Europa scheint zusammen mit einer globalen internationalen säkularisierten Elite eher die Ausnahme als die Avantgarde zu sein. Weltweit sind ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum und parallel dazu eine Zunahme der Religiosität zu beobachten (religiöse Menschen haben in der Regel mehr Kinder);3 die beiden Länder, in denen Atheismus oder Agnostizismus am ehesten zunehmen werden, sind Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA).4 Ferner scheint die Moderne nicht systematisch mit einer neuen und liberaleren Auslegung religiöser Dogmen einherzugehen. Dem führenden Religionssoziologen Peter Berger zufolge haben sich Religionen, die ihr Dogma an die Moderne angepasst haben, demografisch weniger entwickelt als Religionen, die eine konservative supranatura- listische Einstellung beibehalten haben.5 Ein dritter Aspekt besteht darin, dass die Modernisierung stärker mit einem Pluralismus als mit einem Säkularismus verknüpft ist: die religiöse Vielfalt hat überall zugenommen, teilweise aufgrund der Globalisierung. Daher sollten die EU und der Westen dringend neu über die Stellung religiöser Gemeinschaften im 21. Jahrhundert und die Interaktion dieser Organisationen mit der Außenpolitik nachdenken. Die europäische sowie beispielsweise auch die US-amerikanische Diplomatie haben diese religiösen Tendenzen bis in die späten 1990er-Jahre eher vernachlässigt, da Religion in der Innen- und Außenpolitik immer als zweitrangig betrachtet wurde. 1.2. Die EU angesichts religiöser Krisen Seit Beginn der 2000er-Jahre muss die EU auf diplomatische Krisen reagieren, bei denen die religiöse Dimension eine Schlüsselrolle spielt. Angefangen mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA, die von Osama bin Laden als ein Akt des Religions- kriegs dargestellt wurden und eine Reaktion der Vereinigten Staaten in Afghanistan und später im Irak zur Folge hatten, die in der Region als Zusammenprall der Zivilisationen wahrgenommen wurden, bis zur Krise der Propheten-Karikaturen in Dänemark,6 die

1 Die Theorie geht zum Teil auf Max Webers Arbeit zur Modernisierung zurück. Siehe Encyclopaedia Britannica. 2 Peter Berger, Hrsg.: The Desecularisation of the World: Resurgent Religion and World Politics. Eerdmans, 1999. 3 Robert Rowthorn: Religion, fertility and genes: a dual inheritance model. Proceedings of the Royal Society, 2011. 4 Pew Research Center: The Changing Global Religious Landscape, Pew Research Center's Religion & Public Life Project, 5. April, 2017. 5 Pew Research Center, The Changing Global Religious Landscape, 2017. 6 Die Krise breitete sich vor allem im Jahr 2006 mit dem Nachdruck der Karikaturen in norwegischen und französischen Zeitungen aus. Im Januar 2006 stürmten bewaffnete Männer das Büro der EU in Gaza Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 4 von 43

gewalttätige Reaktionen muslimischer Länder und gewaltsame Proteste muslimischer Bevölkerungsgruppen weltweit auslöste, musste die EU dem Faktor Religion Rechnung tragen. Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 besaß die EU keine Rechtsgrundlage, um Mechanismen für die Analyse und den Dialog mit religiösen Gemeinschaften entwickeln zu können. Daher ist dieses Gebiet für die EU und ihren erst seit relativ kurzer Zeit bestehenden Europäischen Auswärtigen Dienst (gegründet im Jahr 2011) noch recht neu. Der Rat nahm erst im Jahr 2013 erste Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit an.7 1.3. Bewertung religiöser Faktoren, Einbeziehung religiöser Akteure und Abstimmung der EU-Politik In diesem Dokument soll der Stellenwert religiöser Fragen in der auswärtigen Politik der EU untersucht werden. In den beiden letzten Jahrzehnten mussten die europäischen Institutionen aufgrund des Wandels der Religion weltweit religiösen Aspekten mehr Aufmerksamkeit schenken und vorausschauend oder reaktiv handeln. In dieser Untersuchung werden zunächst der Ansatz der EU beim Thema Religion in der auswär- tigen Politik und die Vielzahl der europäischen Modelle behandelt und untersucht, welches Interesse die Mitgliedstaaten daran haben, den Faktor Religion in ihre Außenpolitik aufzunehmen. Danach wird auf einige der Prioritäten der EU und mögliche Synergien mit konfessionellen Organisationen in den Bereichen Klimawandel, Entwick- lungspolitik und Konfliktlösung eingegangen, bei denen ein gemeinsames Interesse sichtbar ist. Abschließend werden die jeweiligen Modelle der EU und der USA beim Umgang mit religiösen Fragen verglichen. Die Anhänge enthalten kurze Fallstudien zu Religionsdemografie, Religionsfreiheit und Einfluss der Religion auf die Außenpolitik für eine ausgewählte Gruppe von EU-Partnern weltweit.

2. Religion und Glauben in der internen und externen Dimension der EU 2.1. Eine Vielzahl europäischer Modelle In der EU gibt es kein einheitliches Modell für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Aufgrund besonderer historischer Umstände hat jeder Mitgliedstaat ein eigenes spezifisches Gleichgewicht im Hinblick auf die Beziehungen zur Religion geschaffen. In Dänemark beispielsweise ist der Monarch die oberste weltliche Autorität in der evangelisch-lutherischen Kirche, die als Staatskirche vom Staat unterstützt wird. In anderen Mitgliedstaaten, wie Deutschland, Griechenland und Irland, enthält die Verfassung einen Gottesbezug. Andere Mitgliedstaaten, darunter Slowenien, Portugal und die Slowakei, haben ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl. In Frankreich besteht diese Tradition nicht, die laïcité ist in der Verfassung verankert, die eine gegenseitige Unabhängigkeit von Staat und Religion vorsieht.

und forderten eine Entschuldigung, im März 2008 drohte Osama bin Laden der gesamten EU mit einem Religionskrieg. 7 Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Rat der Europäischen Union, Juni 2013. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 5 von 43

Auch auf regionaler Ebene gibt es spezielle Vereinbarungen: In Frankreich beispielsweise hat die Region Elsass-Mosel einen besonderen Status, da sie im Jahr 1905, als das Gesetz über die laïcité (Laizität) verabschiedet wurde, deutsch war. In Deutschland hat Schleswig-Holstein im Jahr 2009 ein Konkordat unterzeichnet. Daher heißt es in Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)8: (1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. (2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. Gemäß diesem Artikel des Vertrags unterstützt die Europäische Union beim Umgang mit den verschiedenen Modellen für die Beziehungen zwischen Politik und Religion in der EU das Subsidiaritätsprinzip. 2.2. Die EU und Religion: interne und internationale Aspekte 2.2.1. Der Dialog der Europäischen Union mit Religionen und weltanschaulichen Gemeinschaften9 In den Europäischen Verträgen ist jedoch eine Rechtsgrundlage im Hinblick auf den Dialog der EU mit konfessionellen und weltanschaulichen Gemeinschaften vorgesehen. Im gleichen Artikel 17 AEUV heißt es: (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog. Folglich führen die Kommission und das Europäische Parlament einen regelmäßigen Dialog mit Kirchen und religiösen Gemeinschaften sowie auch mit weltanschaulichen Gemeinschaften. Die europäischen Organe treffen sich regelmäßig mit Vertretern religi- öser Gemeinschaften und kommen auch mit den Vertretern weltanschaulicher Gemeinschaften10 zusammen, um die Politik der EU zu erörtern. Im Europäischen Parla- ment wird der Dialog gemäß Artikel 17 von einem seiner Vizepräsidenten geführt, der Sitzungen, Konferenzen und Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit konfessionellen und weltanschaulichen Gemeinschaften durchführt. Zusätzlich zu diesem Dialog setzt sich die Europäische Union für die Religions- und Glaubensfreiheit als Menschenrecht ein. In Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es: (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. (2) Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.

8 Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 13. Dezember 2007. 9 Zu den weltanschaulichen Gemeinschaften, die am Dialog teilnehmen, gehören humanistische Organisationen, die Freimaurer sowie freidenkerische, ethische und adogmatische Gemeinschaften. 10 Magdalena Pasikowska-Schnass: Dialogue of the EU institutions with religious and non-confessional organisations. EPRS, Europäisches Parlament, Juni 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 6 von 43

Darüber hinaus ist die Europäische Union durch internationale Normen der Vereinten Nationen und des Europarats gebunden.11 Daher sind die Organe der EU verpflichtet, für diese Grundsätze einzutreten, der Gerichtshof der EU hat in einer Reihe von Rechtssachen über diese Fragen entschieden, beispielsweise bei der heiklen Frage des Verbots des Tragens eines Schleiers am Arbeitsplatz.12 2.2.2. Die Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der auswärtigen Politik Seit 2009 hat das Europäische Parlament wesentlich dazu beigetragen, eine interinstitutionelle Debatte über den Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Drittstaaten einzuleiten. Viele MdEP haben Veranstaltungen durchgeführt, Treffen mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) abgehalten und die Annahme von Leitlinien der EU zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit unterstützt. Im Jahr 2012 wurde eine Arbeitsgruppe im Europäischen Parlament eingesetzt, die sich erfolgreich für Leitlinien in diesem Bereich einsetzte; diese wurden im Jahr 2013 angenommen.13 In diesen Leitlinien erkannte der Rat der EU an, dass der Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu „Demokratie, Entwicklung, Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Stabilität“ beiträgt. Er wies auch darauf hin, dass religiöse Gewalt oder Behinderungen der Religionsfreiheit oftmals ein frühzeitiger Indikator für potenzielle Konflikte sind. In ihrem Ansatz hebt die EU hervor, dass sie weder eine spezielle Konfession noch nichtreligiöse Einstellungen unterstützt: Die EU fördert und schützt die Religions- und Weltanschauungsfreiheit und das Recht, einer Religion oder Weltanschauung anzu- hängen oder auch nicht, sowie das Recht, seine Einstellung zu ändern und eine Religion individuell oder in Gemeinschaft auszuüben („einschließlich des Rechts auf Einrichtung und freie Zugänglichkeit von Kultstätten und Versammlungsplätzen, die Freiheit, ihre Führer auszuwählen und auszubilden, oder das Recht, sozialen, kulturellen, erzie- herischen und karitativen Tätigkeiten nachzugehen“). Bei diesem Schutz unterstreicht die EU die Rolle, die Staaten dabei spielen, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle ihrer Gerichtsbarkeit unterliegenden Personen, einschließlich religiösen Minderheiten, sicherzustellen und sie gleich zu behandeln. Die Staaten sollten Verstöße gegen die Religions- und Weltanschauungsfreiheit sanktionie- ren und Hasspropaganda verhindern.14 Die EU richtet sich gegen Gewalt und verurteilt alle Hinrichtungen aus religiösen Gründen und alle Aufrufe zu Gewalt. Ein besonderes Anliegen der EU ist die Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Sie tritt für Meinungsfreiheit ein und fördert die Vielfalt und die Bekämpfung von Diskriminierung.

11 Eine vorläufige Liste ist im Anhang zu den Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Rates vom Juni 2013 enthalten. 12 Jennifer Rankin und Philip Oltermann: Europe's right hails EU court's workplace headscarf ban ruling, The Guardian, 14. März 2017, zum Urteil in der Rechtssache C‑188/15 – Asma Bougnaoui und Association de défense des droits de l'homme (ADDH) gegen Micropole SA, vormals Micropole Univers SA. EUGH, 14. März 2017. 13 Cornelis (Dennis) de Jong: The Role of the European Parliament in Helping to Protect or via the EU's External Action, Freedom of Religion or Belief in Foreign Policy. Which One?. Europäisches Hochschulinstitut, 2013 und Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Juni 2013. 14 Im Fall der EU wurde diese Verpflichtung durch den Rahmenbeschluss zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, November 2008, verstärkt. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 7 von 43

Zur Förderung ihrer Politik überwacht die EU die Lage bei der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in allen Staaten, in denen sie eine Delegation hat, und führt einen politischen Dialog mit den örtlichen Behörden in diesem Bereich durch. Die EU berücksichtigt diesen Aspekt auch bei bilateralen Besuchen und ist in multilateralen Foren, wie den VN, tätig. 2.2.3. EU-Mechanismen zur Umsetzung der Leitlinien Im Jahr 2008 wurde eine informelle Gruppe gleich gesinnter Beamter der EU und Diplomaten aus den Mitgliedstaaten, Norwegen und der Schweiz eingerichtet, um die Auswirkungen von Religion und Glauben auf die Diplomatie zu erörtern. Seit 2013 führt der EAD Schulungen in religiöser Kompetenz15 für EU-Beamte durch.16 Die Ausbildungs- maßnahmen wurden schrittweise auf Frieden, Gewalt, Entwicklung und damit verbundene Themen ausgeweitet. Der EAD ist Teil des Transatlantic Policy Network on Religion and Diplomacy (TPNRD). Das TPNRD wurde im Jahr 2015 geschaffen, ihm gehören für religiöse Fragen zuständige Diplomaten und Fachleute aus den Vereinigten Staaten, Kanada, den EU-Mitgliedstaaten und des EAD an. Das Netz trifft sich einmal jährlich. Das Sekretariat des TPNRD hat seinen Sitz am Cambridge Institute on Religion and International Studies im Vereinigten Königreich (VK). Darüber hinaus richtete Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Anschluss an eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom Februar 2016 die Funktion eines Sonderbeauftragten für die Förderung von Religions- und Weltanschau- ungsfreiheit außerhalb der Europäischen Union ein, wie dies in der Empfehlung des Europäischen Parlaments vom Februar 2016 gefordert worden war,17 und berief im Mai 2016 das ehemalige Kommissionsmitglied Ján Figeľ in dieses Amt. 2.3. Westliche Diplomatie und Religion Die Initiativen der EU spiegeln die Änderungen wider, die in den vergangenen 25 Jahren auf einer globaleren Ebene stattgefunden haben. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ernennt seit 1986 gemäß einer Erklärung der VN-Generalversammlung von 1981 über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung18 einen Sonderberichterstatter über Religions- und Welt- anschauungsfreiheit. Der Sonderberichterstatter arbeitet mit den Mitgliedstaaten der VN zusammen und führt Erkundungsmissionen durch, um einen jährlichen Bericht für den Menschenrechtsrat und die VN-Generalversammlung zu verfassen. In den Vereinigten Staaten richtete die Regierung Clinton im Jahr 1998 das International Religious Freedom Office (IRF) innerhalb des US-amerikanischen Außenministeriums

15 Religiöse Kompetenz wurde definiert als die Fähigkeit, die grundlegenden Schnittstellen zwischen Religion und sozialem/politischen/kulturellen Leben aus verschiedenen Blickwinkeln zu erkennen. Harvard University Religious Literacy project. 16 Michael Barnett, Clifford Bob, Nora Fisher Onar, Anne Jenicher, Michael Leigh und Lucian Leustan: , Freedom, and Foreign Policy: Challenges for the Transatlantic Community. German Marshall Fund of the United States, 2015. 17 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. Februar 2016 zum Systematischen Massenmord an religiösen Minderheiten durch den IS. 18 Erklärung der VN über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung, A/RES/36/55, Vereinte Nationen, 1981. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 8 von 43

ein.19 Zu dieser Zeit wurde die Einbeziehung von Religion in internationale Angelegen- heiten in erster Linie als Förderung von Religionsfreiheit wahrgenommen, ein rein huma- nitäres Ziel, das von anderen politischen Zielen losgelöst war. Einigen ehemaligen Mitarbeitern zufolge beobachtet das Amt insbesondere die Lage verfolgter Christen.20 Das International Religious Freedom Office erstellt jedes Jahr einen Bericht über die Religionsfreiheit weltweit, der dem US-amerikanischen Kongress vorgelegt wird.21 Im Jahr 2013 richtete die Regierung Obama das Office of Religion and Global Affairs (RGA) mit dem Gedanken ein, dass US-amerikanische Diplomaten besser verstehen müssen, wie religiöse Akteure einzubeziehen sind, wenn sie politische Interessen der USA fördern sollen.22 Diese beiden Ämter haben verschiedene Zielsetzungen und vertreten im Hinblick auf Religion zwei Ansätze: Während sich das IRF mit der Religions- und Weltan- schauungsfreiheit als wesentlichem Bestandteil der Menschenrechte beschäftigt, fördert das RGA das Bewusstsein und die Information von Diplomaten, dazu gehört auch eine Ausbildungseinheit Religion und Außenpolitik. Parallel zur Debatte innerhalb der US-amerikanischen Diplomatie leitete die Weltbank (WB) in den späten 1970er-Jahren erste informelle Gespräche ein, um die Verbindung zwischen Religion und Entwicklung zu untersuchen; Religion wurde schließlich im Jahr 1995 als wichtiger Faktor in der Entwicklungspolitik anerkannt.23 Einige Mitglied- staaten, wie das Vereinigte Königreich, wendeten wenig später den Ansatz der Weltbank bei ihrer eigenen Entwicklungspolitik an. Im Jahr 2005 gründete das niederländische Ministerium ein Wissensforum für Religion und Entwicklungspolitik,24 um religiöse Führer und konfessionelle Organisationen in die Diskussion über die Entwicklungspolitik einzubeziehen. Im Jahr 2006 gab das britische Ministerium für internationale Entwick- lung (Department for International Development, DFID) ein fünfjähriges, mit 3,5 Millionen GBP ausgestattetes Forschungsprogramm zu Religion und Entwicklung in Auftrag. Im Jahr 2012 veröffentlichte das DFID Grundsätze für seine Arbeit mit konfessio- nellen Organisationen („Faith Partnership Principles“,25). Sogar Frankreich als Land, das der strikten Trennung von Staat und Religion verpflichtet ist, baute im Jahr 2009 das (1920 geschaffene) Amt des Beraters für Religionsangelegenheiten beim Außenminister zu einem Ministerium für Religion aus; das Ministerium wurde zwar aufgelöst, das Interesse an religiösen Netzen ist jedoch weiterhin groß.26 Das Gleiche gilt für das französische Verteidigungsministerium, das seit 2016 eine internationale Beobachtungs- stelle für Religionen27 finanziert. Im Jahr 2015 veröffentlichte das deutsche Bundes- ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen Bericht über die Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik.28

19 Judd Birdsall: Keep the Faith: How American Diplomacy Got Religion, and How to Keep It. The Review of Faith & International Affairs, Bd. 14, Nr. 2, 2. April 2016, S. 110-115. 20 Birdsall, 2016. 21 2001 Report on International Religious Freedom. Außenministerium der USA. 22 Peter Mandaville: The Case for Engaging Religion in U.S. Diplomacy. Brookings, 7. März 2017. 23 John Rees: Religion in International Politics and Development. Edward Elgar MUA, abgerufen am 8. August 2017. 24 Knowledge forum for religions and development policies. 25 United Kingdom Ministry of Development: Faith Partnership Principles. Ministry of Development, 2012. 26 Loup Besmond: La France reconnaît l'action diplomatique des religions. La Croix, 18. Juni 2017. 27 Observatoire International Du Religieux|Sciences Po CERI, SciencesPo, 19. Oktober 2016. 28 Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit: Die Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik. 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 9 von 43

Kurz, in den vergangenen 25 Jahren haben einige internationale Organisationen, darunter die VN und die Weltbank, Strategien entwickelt, um religiöse Gemeinschaften wirksamer in ihre Arbeit einzubeziehen, diesem Vorgehen schlossen sich EU-Mitglied- staaten an. Da die Zahl der Gläubigen weltweit in den kommenden Jahrzehnten zuneh- men und die Welt religiöser werden wird, kann die EU in einer Vielzahl von Bereichen, in denen gleiche Prioritäten bestehen, gezielt mit religiösen Gemeinschaften zusammen- arbeiten, die ihre Werte teilen.

3. Religiöse Gemeinschaften als potenzielle Partner beim auswärtigen Handeln der EU Die Religionsdemografie der Welt wird sich in den nächsten 100 Jahren ändern und die Zahl der Menschen, für die Religion ein wichtiger Teil ihrer Identität ist, wird zunehmen. Aus diesen Gründen ist der Bedarf an religiöser Kompetenz und Information bei der Festlegung der Ziele und Maßnahmen der EU hoch; ein besseres Verständnis von der Religionsdynamik kann die EU dabei unterstützen, ihre Prioritäten voranzubringen. 3.1. Wandel der Weltreligionen Prognosen zufolge wird die Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen und hauptsächlich in Regionen wachsen, in denen Religion ein wichtiger Teil des sozialen und politischen Lebens ist. Heute leben die meisten konfessionslosen und atheistischen Personen in Asien (76 % im Jahr 2010, 68 % im Jahr 2050), vor allem in China, ihr Anteil an der Weltbevölkerung wird jedoch bis 2060 von 16 % auf 13 % zurückgehen.29 Bis 2060 wird das stärkste Bevölkerungswachstum in der christlichen Gemeinschaft (bis zu 3,05 Milliarden Menschen, +34 %, vor allem in Subsahara-Afrika) und in der muslimischen Gemeinschaft (2,99 Milliarden, +70 %) sowie der hinduistischen Gemeinschaft (1,39 Milliarden, +27%) wachsen und die Zahl der keiner Religion angehörenden oder atheistischen Personen übersteigen (1,20 Milliarden, +3 %). Einige dieser großen Veränderungen werden in Regionen stattfinden, in denen bereits erhebliche religiöse Spannungen bestehen und soziale Konflikte auch eine religiöse Dimension haben. Ein Beispiel ist Subsahara-Afrika, wo die höchste Konzentration christ- licher Gemeinschaften leben wird (Anstieg bis 2060 von 26 % auf 42 % aller Christen weltweit), aber auch der Millionen neuer Anhänger gewinnen wird (da der Anteil der Muslime weltweit bis 2060 von 16 % auf 27 % steigen wird). Gleichzeitig wird Indien, wo bereits starke religiöse Feindseligkeiten bestehen,30 bis 2050 das wichtigste hinduistische und das wichtigste muslimische Land weltweit mit den größten hinduistischen und muslimischen Gemeinschaften werden. Diese Trends werden künftig bei der Konzipierung der EU-Außenpolitik eine wichtige Rolle spielen. Erstens, weil in einer zunehmend vielfältigen Welt die Förderung und der Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit entscheidende Bedeutung haben muss: Die Möglichkeit, religiöse Überzeugung frei auszuüben oder zu ändern, wird wahrscheinlich eher in Frage gestellt, wenn die Steuerung der religiösen Vielfalt zur Herausforderung wird. Zweitens sind mehr religiöse Kompetenz und Verständnis von der

29 Pew Research Center: Least Religious Countries | Atheist Demographics | GRF. Pew Research Center, 2017. 30 Pew Research Center: Religious Hostilities Reach Six-Year High. Pew Research Center's Religion & Public Life Project, 14. Januar 2014. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 10 von 43

Verbindung zwischen religiösen Fragen und den Prioritäten der EU äußerst wichtig, da Religion eine wichtige Dimension im sozialen und politischen Leben der EU-Partner weltweit ist und bleiben wird. 3.2. Die Rolle von Religion im auswärtigen Handeln der EU: Klimawandel, Entwicklungspolitik und Konfliktlösung Die EU hat im Jahr 2013 eine Reihe von Leitlinien zur Religions- und Welt- anschauungsfreiheit angenommen, der EAD wendet sie in jedem Partnerstaat flexibel an. In Russland beispielsweise steht die Tür der EU-Delegation für religiöse Minderheiten offen, doch der EAD unterhält auch gute Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche als moralischer Autorität, auf die sich die russische Führung und die Öffentlichkeit beziehen.31 In der Zentralafrikanischen Republik unterhält die EU einen Dialog mit religiösen Autoritäten, weil sie bei der Förderung des Friedens vor Ort eine Schlüsselrolle spielen.32 Diese Zusammenarbeit ist in Bereichen wichtig, in denen religiöse Gemeinschaften besonders aktiv sind und die für die Umsetzung der Globalen Strategie der EU33 und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung34 von Bedeutung sind, wie Klimawandel, Entwicklung und Konfliktlösung. 3.2.1. Klimawandel Viele religiöse Führer haben in der jüngsten Zeit die Notwendigkeit des Umweltschutzes betont. Die Yale University hat eine Vielzahl von Erklärungen zum Klimawandel zusam- mengestellt, die religiöse Führer abgegeben haben:35 Buddhistische Dharma-Lehrer weltweit, der Dalai Lama,36 der römisch-katholische Papst in seiner Enzyklika Laudato Si,37 der orthodoxe ökumenische Patriarch Bartholomäus38 und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit39 erkennen an, dass der Klimawandel eine dringliche weltweite Herausforderung ist. Im Jahr 2016 kamen zum Interfaith Climate Statement der COP 22 33 religiöse Führer (Christen, Sikhs, Buddhisten und Muslime) zur Unterstützung des Gipfeltreffens der COP 22 zusammen und riefen ihre Anhänger auf, einzeln und gemeinschaftlich zu handeln, um den Klimawandel zu bekämpfen.40 Diese Anliegen stimmen mit denen der EU überein, deren Führungsrolle bei der Bekämpfung des Klimawandels noch an Bedeutung gewonnen hat. Trotz des Rückzugs

31 François Foret: How the European External Action Service Deals with Religion through Religious Freedom. EU Diplomacy Papers, College of Europe, 2017. 32 Les leaders religieux du République centrafricaine se réunissent pour promouvoir la paix. Paris Catholique. 33 Eine globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU – Globale Strategie der EU. Europäische Kommission, 2016. 34 Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Europäische Kommission, 22. Juli 2013. 35 Climate Change Statements from World Religions | Climate Change|Yale Forum on Religion and Ecology. Yale University. 36 Dalai Lama: Climate Change, Wisdom and Experience. Offizielle Website des Dalai Lama, Juli 2015. 37 Papst Franziskus: Enzyklika Laudato Si über die Sorge für das gemeinsame Haus. Heiliger Stuhl, 2015. 38 Ökumenischer Patriarch Bartholomäus: Message by His All Holiness Ecumenical Patriarch Bartholomew for World Environment Day (5. Juni 2009). Ökumenisches Patriarchat, 2009. 39 Organisation für Islamische Zusammenarbeit: Final Communique of the 13th Islamic Summit of the Heads of State/Government of the OIC Member States. Organisation für Islamische Zusammenarbeit, 15. April 2016. 40 COP 22 Interfaith Climate Statement, 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 11 von 43

der USA aus dem Pariser Übereinkommen wird die EU weiterhin die internationale Zivilgesellschaft einbeziehen und lokale Sensibilisierungsmaßnahmen und individuelle Änderungen fördern, um diese dringliche Frage zu lösen. 3.2.2. Entwicklungspolitik: vom Tabu zum Trend Einige der größten entwicklungspolitischen und humanitären NRO weltweit sind konfessionelle Organisationen. Jedes Jahr stellt die Caritas Internationalis, die der katholischen Kirche angeschlossen ist, etwa 5 Mrd. USD41 für ihre Arbeit in 162 Ländern bereit. Das Aga-Kahn-Entwicklungsnetz (Aga Kahn Development Network, AKDN) wurde im Jahr 1957 vom Aga Kahn,42 dem 49. erblichen Imam der schiitischen Glaubens- gemeinschaft der Ismailiten, gegründet. Das Jahresbudget des AKDN für gemeinnützige Entwicklungstätigkeiten liegt bei etwa 925 Mio. USD; jedes Jahr erhalten über 5 Millionen Menschen Unterstützung des AKDN bei der Gesundheitsversorgung. World Vision (WVI), eine evangelische christliche Entwicklungshilfe-NRO, die im Jahr 1950 gegründet wurde,43 ist in 100 Ländern aktiv; ihre Gesamteinnahmen (Bar- und Sach- mittel) für das Jahr 2016 beliefen sich auf über 2,7 Mrd. USD. In einigen Fällen ist es schwierig, die verschiedenen Dimensionen der Maßnahmen konfessioneller Gemein- schaften auseinanderzuhalten, die Hilfsaktionen mit missionarischen Tätigkeiten verknüpfen; diese Verbindung wird von anderen Gebern zuweilen kritisiert.44 Lange Zeit stand die Zusammenarbeit internationaler Geber mit Religionen und konfessionellen Gemeinschaften bei der westlichen Entwicklungshilfe außer Frage. In den letzten 15 Jahren wurde dieser Frage jedoch immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet, dies führte zu einer zunehmenden Zahl45 an Konferenzen, Berichten und Strategien größerer Geber. Ein beträchtlicher Anteil der Entwicklungshilfe geht zweifellos in Länder, in denen die Religion ein wichtiger Teil des sozialen Lebens ist; religiöse Führer sind zuweilen die einzi- ge Möglichkeit, lokale Gemeinschaften zu erreichen. In Afrika unterstützte die TerrAfrica- Initiative der Weltbank in Partnerschaft mit der ARC 27 Glaubensgemeinschaften – mit einer potenziellen Reichweite von 184 Mio. Menschen – bei der Erstellung langfristiger Pläne für den Umweltschutz.46 In dieser Region wird die Hälfte47 aller Hilfs- und Bildungsdienstleistungen von religiösen Organisationen erbracht, daher müssen interna- tionale Geber die Arbeit dieser Organisationen vor Ort berücksichtigen. Trotz des zunehmenden Interesses an Religion, das in der Ernennung eines Sonder- beauftragten für Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Jahr 2016 zum Ausdruck kommt, verfolgt die EU bei der Auswahl von Partnern zur Umsetzung ihrer Entwicklungspolitik eine nichtdiskriminierende Politik. Daher sieht die EU keine bevorzugte Behandlung konfessioneller NRO vor und ist dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung und humanitären Prinzipien verpflichtet. Im

41 Caritas: Jahresbericht 2016. 42 Aga Khan Foundation. 43 World Vision. 44 Elisabeth Ferris: Faith-Based and Secular Humanitarian Organisations. Internationales Komitee vom Roten Kreuz, 2005. 45 Ignatius Swart und Elsabé Nell: Religion and Development: The Rise of a Bibliography. HTS Teologiese Studies/Theological Studies, Bd. 72, Nr. 4, 25. November 2016. 46 Engaging with faith groups to restore land in Africa. Website der Weltbank, 12. Januar 2015. 47 Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit: Die Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik. 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 12 von 43

Zeitraum zwischen 2007 und 2016 wurden 263 Finanzierungsvereinbarungen im Wert von 150 Mio. EUR mit religiösen Organisationen unterzeichnet, dies entspricht etwa 9 % des Gesamthaushalts des thematischen Programms für zivilgesellschaftliche Organisa- tionen und lokale Behörden im Rahmen des Finanzinstruments für die Entwicklungs- zusammenarbeit.48 Mit dem im Jahr 2007 geschaffenen Europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte (European Instrument for Democracy and Human Rights, EIDHR)49 mit einem Gesamthaushalt von über 1,3 Mrd. EUR für den Zeitraum 2014-2020 wird Unter- stützung hauptsächlich an zivilgesellschaftliche Organisationen geleitet, deren Projekte im Anschluss an Aufrufe zur Einreichung von Vorschlägen (veröffentlicht von EU- Delegationen oder dem Hauptsitz in Brüssel) ausgewählt werden. Das EIDHR ist ein äußerst flexibles Instrument, das es der EU ermöglicht, eine Vielzahl von Organisationen oder auch Einzelpersonen vor Ort durch direkte oder indirekte Förderung entsprechend dem lokalen Bedarf zu unterstützen. Im Jahr 2013, als die EU-Leitlinien angenommen wurden, veröffentlichte das EIDHR erstmals einen ausdrücklichen globalen Aufruf zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung, der nächste globale Aufruf zu Religions- und Weltanschauungsfreiheit soll im Herbst 2017 gestartet werden. Eine nicht erschöpfende Liste der zwischen 2007 und 2016 im Rahmen des EIDHR geförderten Projekte enthält etwa 40 mit Religions- und Weltanschauungsfreiheit verbundene zivilgesellschaftliche Projekte, vor allem in Asien. Die Kommission veröffentlicht üblicherweise keine genauen Daten zur Art der Begünstigten, da der religiöse Charakter der Organisation nicht zu den Auswahlkriterien gehört; die Religions- und Weltanschauungsfreiheit kann von religiösen Organisationen ebenso wie von nichtkonfessionellen NRO gefördert werden. Auch wenn mit Instrumenten der Außenbeziehungen im Wesentlichen zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützt werden, gibt es keine systematische Aufschlüsselung von Daten nach religiöser Ausrich- tung der zivilgesellschaftlichen Organisation und damit keine ohne Weiteres verfügbaren Zahlen insbesondere zur Förderung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Zudem sind einige Projekte vertraulich, weil sie in sensiblen Kontexten stattfinden. Konfessionelle Gemeinschaften sind als Teil der weiteren Zivilgesellschaft aufgefordert, sich um EU-Mittel zu bewerben. Im Jahr 2016 unterzeichnete die Kommission Partner- schaftsrahmenabkommen mit einigen zivilgesellschaftlichen Organisationen nach einer offenen Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen. Eine von ihnen, Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité Internationale (CIDSE),50 ist die einzige konfessionelle Organisation von 24 NRO und Plattformen, die in das Partnerschaftsrahmenabkommen mit der Kommission aufgenommen wurden. Darüber hinaus gibt es weitere Zeichen für das Interesse der EU am Entwicklungsdialog mit konfessionellen Organisationen: Im Jahr 2017 fand zum ersten Mal ein Forum zum Thema Religion während der Europäischen Entwicklungstage51 statt und wurde eine

48 Thematisches Programm „Zivilgesellschaftliche Organisationen und lokale Behörden“. Alle in diesem Briefing enthaltenen Statistiken wurden freundlicherweise von der Kommission zur Verfügung gestellt, sind jedoch unvollständig und beruhen auf nicht repräsentativen Stichproben, da die EU keine Daten zum religiösen Status der Organisationen speichert, die sie unterstützt. 49 Europäisches Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR). 50 Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité Internationale (CIDSE). 51 Entwicklungstage 2017, Programm. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 13 von 43

Kategorie Religions- und Weltanschauungsfreiheit in den Lorenzo-Natali-Medienpreis der Kommission52 aufgenommen. Ein Aufruf zur Einreichung von Vorschlägen zur Unter- stützung des Dialogs zwischen Kulturen und Religionen wurde im Rahmen des DCI ebenfalls eingeleitet. 3.2.3. Konfliktverhütung Religiöse Gruppen spielten bei einigen der mörderischsten Konflikte in der Welt eine Schlüsselrolle.53 Bei zwischenstaatlicher Gewalt, wie im Krieg zwischen dem Irak und dem Iran (1980-1988) oder dem Streit zwischen Indien und Pakistan kann die Religion auch nur ein Aspekt des Konflikts neben nationalen oder wirtschaftlichen Ursachen sein. In der postwestfälischen Welt sind die meisten Konflikte staatliche Konflikte,54 und da sehr wenige Staaten weltweit Theokratien sind, ist es schwierig, einem Konflikt eine rein religiöse Ursache zuzuschreiben. Seit 1946 sind jedoch immer mehr Konflikte Bürgerkriege gewesen. Im Falle eines internen/transnationalen Bürgerkriegs kann die religiöse Dimension sichtbarer sein. Monica Toft55 zeigt anhand von Datenbanken zu Bürgerkriegen,56 dass religiöse Bürgerkriege57 ein Drittel ausmachen (44 von 135) und in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen haben.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist darauf Abbildung 1 – Anteil der religiösen Bürgerkriege hinzuweisen, dass diese Konflikte nicht an Bürgerkriegen weltweit seit 1940 immer religiöse Ursachen haben. 60 Juergensmeyer58 argumentiert, dass politische Theologie, das heißt die Art 50 von politischer Vereinbarung mit dem 40 Staat, die im Dogma einer Religion 30 vorgesehen ist, nicht immer im 20 Mittelpunkt des Konflikts steht. Kriege 10 und Konflikte haben wie alle sozialen 0 Verhaltensweisen eine Vielzahl 1920 1940 1960 1980 2000 2020 wirtschaftlicher oder identitäts- bezogener Ursachen, der religiöse Datenquelle: Toft, 2007. Aspekt von Kriegen ist immer nur höchstens ein dominierendes Merkmal unter anderen. Die British Academy unterstreicht,59 dass die Rolle der Religion vom nationalen Kontext abhängt. Selbst wenn ein Konflikt keine religiöse Dimension hat, können religiöse Gemeinschaften zuweilen zu seiner Verhütung oder Lösung beitragen. Neben den religiösen NRO im

52 Lorenzo-Natali-Medienpreis der Kommission. 53 Philippe Perchoc: Religious organisations and conflict resolution. EPRS, Europäisches Parlament, 2016. 54 Centre for Systemic Peace: Assessing the Quality of Systemic Peace. Centre for Systemic Peace, 2017. 55 Monica Toft: Getting Religion? The Puzzling Case of Islam and Civil War. International Security, Bd. 31 (4), S. 97-131. 56 An Bürgerkriegen sind mindestens zwei Kampfgruppen beteiligt, wobei eine der Staat ist; die Zahl der Toten liegt bei mindestens 1 000. 57 Religionskriege sind definiert als Bürgerkriege, an denen mindestens eine religiös motivierte Gruppe beteiligt ist. 58 Mark Juergensmeyer: The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular State. University of California Press, 1993. 59 Sara Silverstri und James Mayfall: The Role of Religion in Conflict and Peace Building. British Academy for the Humanities and Social Sciences, 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 14 von 43

Bereich der humanitären Hilfe und Entwicklung sind religiöse Organisationen auch wichtig für die Konfliktprävention, Beispiele dafür sind das Royal Institute for Inter-faith Studies in Jordanien und die Sarvodaya-Shramadana-Bewegung60 in Sri Lanka. Bei der Vermittlung spielten Gruppen wie Sant'Egidio61 eine zentrale Rolle in Mosambik und sind heute in der Demokratischen Republik Kongo aktiv. In Sierra Leone trug der Interreligiöse Rat zur Beendigung des Bürgerkriegs (1991-2002) bei und in der Zentral- afrikanischen Republik halfen religiöse Führer dabei, einen unsicheren Frieden durch Mediation auf allen Ebenen (national und lokal) zu erreichen und zu wahren.62 Bei der Aussöhnung haben religiöse Akteure und Persönlichkeiten wie Daisaku Ikeda und Desmond Tutu wichtige Rollen in ihren Ländern gespielt.

4. Religion als neu entstehender Bereich des auswärtigen Handelns der EU Europa mit seinem besonderen Charakter als Kontinent, auf dem Religion und Politik weniger miteinander verknüpft sind als anderenorts, galt stets als Vorreiter, wird nun aber als Ausnahme betrachtet. Dies ist die Folge der jahrhundertelangen Geschichte des Kontinents; das neue Interesse an Religion in der diplomatischen Gemeinschaft ist eine Aufforderung, Religion beim auswärtigen Handeln der EU als wichtigen Faktor neben anderen zu behandeln, nicht jedoch, die Verbindung zwischen Staat und Religion in Europa zu überdenken. Da sich die Religionsdemografie der Welt in den nächsten Jahr- zehnten ändern wird, müssen die Auswirkungen, die dies auf die Rezeption der EU- Außenpolitik haben wird, genau untersucht werden. Aus diesem Grund müssen das Fachwissen und der Dialog mit religiösen Gemeinschaften erweitert werden, wie dies einige EU-Mitgliedstaaten und die Vereinigten Staaten getan haben; dabei muss auch die Rolle der Religion in den Partnerstaaten der EU bewertet werden. Im Vergleich zur EU haben sich in den Vereinigten Staaten beim Thema Religion zwei Aspekte mit der Zeit unterschiedlich entwickelt (siehe Anhänge). Der erste Aspekt ist die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, zu der das US-amerikanische Außen- ministerium dem Kongress einen jährlichen Bericht vorlegen muss. Dabei stützt sich das Außenministerium auf das Fachwissen der US-amerikanischen Botschaften weltweit und das Team des Office of International Religious Freedom. Eine zweite Dimension ist der Dialog mit religiösen Autoritäten weltweit; Präsident Obama beschloss, ein zweites Amt, das Office for Religion and Global Affairs, mit der Beratung des Außenministers in Religionsfragen und der Unterstützung diplomatischer Missionen bei deren Einbezie- hung zu beauftragen. Im Falle Europas ist die erste Funktion heute teilweise durch den EU-Sonderberater für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit abgedeckt, der im Jahr 2016 eingesetzt wurde, die zweite Funktion wird auf Ebene des Präsidenten der Europäischen Kom- mission und des Präsidenten des Europäischen Parlaments wahrgenommen, die von

60 Sarvodaya: About Us. Sarvodaya, 21. Juli 2016. 61 Nikolai Henrik W. Hegertun: Faith-Based Mediation?: Sant' Egidio's Peace Efforts in Mozambique and Algeria. University of Oslo, 2010. 62 Thierry Vircoulon: À la recherche de la paix en Centrafrique. Médiations communautaires, religieuses et politiques. Institut français des relations internationales, Juni 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 15 von 43

speziellen Vizepräsidenten unterstützt werden. Der Dialog ist jedoch hauptsächlich auf die europäische Ebene ausgerichtet, wie dies in Artikel 17 des Vertrags vorgesehen ist. Einige EU-Beamte beschäftigen sich täglich in verschiedenen Abteilungen der Kommission (GD DEVCO, einschließlich des EU-Sonderberaters für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit und GD HOME) und beim Europäischen Auswärtigen Dienst (einschließlich des EU-Sonderbeauftragten für Menschenrechte) mit religiösen Fragen. Im Europäischen Parlament ist zudem eine interfraktionelle Arbeitsgruppe über Religions- und Glaubensfreiheit und religiöse Toleranz sehr aktiv. Die Vernetzung und der Informationsaustausch zwischen den verschiedenen europäischen Akteuren sowie eine strategische Bewertung der Stellung von Religions- und Weltanschauungsfreiheit und religiöser Gruppen beim Dialog zur Förderung europäischer außenpolitischer Prioritäten können eine Möglichkeit sein, die Evaluierungs- und Handlungsfähigkeiten der EU weiterzuentwickeln.

5. Wichtige Quellen  Michael Barnett, Clifford Bob, Nora Fisher Onar, Anne Jenicher, Michael Leigh und Lucian Leustan: Faith, Freedom, and Foreign Policy: Challenges for the Transatlantic Community. German Marshall Fund of the United States, 2015.  Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Europäischer Auswärtiger Dienst, Juni 2013.  Pew Research Center: The Changing Global Religious Landscape. Pew Research Center's Religion & Public Life Project, 5. April, 2017.

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6. Anhänge: Die Verbindung zwischen Staat und Religion in ausgewählten Partnerstaaten der EU Alle Partnerstaaten der EU weltweit haben im Hinblick auf das Gleichgewicht zwischen Staat und Religion ihren eigenen Ansatz, der häufig geschichtliche Entwicklungen wider- spiegelt. Am einen Ende des Spektrums stehen Länder, in denen der Staat lediglich ein Vehikel zur Förderung und Verbreitung der Ausübung einer bestimmten Religion ist, am anderem Ende die Länder, in denen der Staat das religiöse Leben streng kontrolliert, wie dies in den kommunistischen, offiziell atheistischen Regimen der Fall war. In vielen Fällen ist es für die europäische Diplomatie sehr wichtig, dieses Gleichgewicht zu verstehen, da es eine wesentliche Dimension des sozialen Lebens darstellt, die sich auf die Menschenrechte auswirken kann, sehr häufig aber auch ein Faktor in der Außenpolitik von Partnerstaaten ist. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen sieben Länder, zu denen die EU enge Beziehungen hat, und in denen es eine Vielzahl von Modellen für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat gibt. 6.1. Bosnien und Herzegowina Bosnien und Herzegowina (BiH), ein möglicher Bewerber um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, stellt einen besonderen Fall ethnischer und religiöser Vielfalt dar. Seine komplexe Geschichte und sein komplexes politisches System63 gehen mit einem komplexen Verhältnis64 zwischen Religion und Politik einher. 6.1.1. Religionsdynamik in Bosnien und Herzegowina BiH ist ein multireligiöser Staat:65 Islam, orthodoxes Abbildung 2 – Ethnische Christentum, römisch-katholischer Glaube, Juden- Gruppen im Jahr 1991 tum und weitere Religionen bestehen hier seit Jahr- hunderten nebeneinander, wobei sich das Gleich- gewicht zwischen ihnen immer wieder verschoben hat. Die Religionsfreiheit und die rechtliche Stellung religiöser Gemeinschaften wurden auf verschiedene Weise geregelt. Unter dem osmanischen Millet- System66 wurden religiöse Gemeinschaften befähigt, ihre internen Angelegenheiten zu regeln, damit wurde die Religion mit der nationalen und kulturel- len Identität verknüpft. Unter österreichisch-ungari- Datenquelle: Ministry for Human scher Herrschaft bestanden Vorschriften zur Sicher- Rights and Refugees, 2005. stellung der Religionsfreiheit für alle. Später führte das sozialistische Jugoslawien das Modell des säkularen Staats ein, die Religion trat im öffentlichen Leben in den Hintergrund. Ethnische und religiöse Spaltungen, die im ehemaligen Jugoslawien unterdrückt worden waren, kamen nach der Auflösung des Staates wieder an die Oberfläche. Religiöse Unter- schiede waren nicht die eigentliche Ursache des Kriegs in den 1990er-Jahren, spielten

63 Velina Lilyanova: Bosnia and Herzegovina: Political parties. EPRS, Europäisches Parlament, 2015. 64 Legal position of churches and religious communities in Bosnia and Hercegovina, International Institute for Middle East and Balkan Studies (IFIMES). 65 Reframing the Relations between State and Religion in Post-War Bosnia: Learning to be Free!. Journal of Balkan and Near Eastern Studies, 2017. 66 Efrat Aviv: Millet System in the Ottoman Empire. Oxford Bibliographies, November 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 17 von 43

aber eine entscheidende Rolle.67 Die engen Verflechtungen zwischen Religion, Ethnizität und Politik verschärften nationalistische und separatistische Bestrebungen in dem heterogenen Land und beschleunigten einen tödlichen Konflikt, der im Jahr 1995 mit dem Abkommen von Dayton endete. Mit Anhang 4 des Abkommens, der derzeitigen Verfassung von BiH, wurden eine komplexe institutionelle Struktur mit zwei autonomen Entitäten (die Republika Srpska (RS) und die Föderation Bosnien und Herzegowina) und eine auf ethnischen Quoten beruhende Regierungsstruktur auf der Grundlage der festgelegten drei „konstituierenden Völker“ geschaffen; diese Struktur wurde von allen unter „Sonstige“ zusammengefassten Personen, die sich nicht mit einem der drei Völker identifizieren, als diskriminierend betrachtet. Die vor dem Krieg im Jahr 1991 durchgeführte Volkszählung zeigt, dass sich trotz der jahrzehntelangen Schaffung einer jugoslawischen Identität weniger als 6 % als Jugoslawen bezeichneten (Abbildung 1). Die drei „konstituierenden Völker“ – Bosniaken, Serben und Kroaten – decken sich größtenteils mit den religiösen Identitäten. Bosniaken sind größtenteils Muslime, Serben gehören hauptsächlich der östlich-orthodoxen Kirche an, Kroaten sind im Wesentlichen römisch-katholisch. Ergebnissen des jüngsten Abbildung 3 – Ethnische und religiöse Gruppen im Jahr 2013 Zensus von 2013 zufol- ge,68 die im Jahr 2016 veröffentlicht wurden, ist das Land weiterhin nach Ethnien und Konfessio- nen getrennt, die demo- grafische Struktur hat sich jedoch verändert. Datenquelle: Index Mundi, 2017. Die Bosniaken machen heute nur knapp über 50 % der Bevölkerung aus, die Zahl der Personen, die sich mit den jeweiligen Religionen identifizieren, stimmt nahezu vollständig mit ihrer ethnischen Gruppe überein (Abbildung 2). Die Ergebnisse erwiesen sich als äußerst heikle Frage, da sie zum ersten Mal zeigten, dass eine Religionsgruppe, die Muslime, in BiH in der Mehrzahl sind, und deutlich machten, dass die Bevölkerungszahl um 20 % zurückgegangen ist. Die Republika Srpska stellte die Ergebnisse umgehend in Frage und löste damit einen Streit über die Methodologie69 aus, da die Demografie beim System der Machtteilung seit den Abkommen von Dayton eine wichtige Rolle gespielt hat. 6.1.2. Verbindung zwischen Staat und Religion BiH ist heute ein säkularer Staat ohne Staatsreligion. Der Rechtsrahmen, der die verschiedenen Verfassungen des Landes und das Gesetz von 2004 über die Religions- freiheit und die Rechtsstellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften umfasst, stellt höchste Standards der Religionsfreiheit, eine Vielzahl individueller und kollektiver Religionsrechte sowie die Neutralität des Staats gegenüber Religionsgemeinschaften sicher. Er garantiert die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, legt fest, dass niemand

67 Bosnia: Ethno-Religious Nationalisms in Conflict, case study. Berkley Center for Religion, Peace, and World Affairs, 2013. 68 Rodolfo Toe: Census Reveals Bosnia's Changed Demography. Balkan Insight, 30. Juni 2016. 69 Charles Recknagel: Bosnia Erupts In Feuding Over New Census Data. Radio Free Europe/Radio Liberty, 30. Juni 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 18 von 43

aus religiösen Gründen seine Staatsbürgerschaft verlieren oder diskriminiert werden darf und sieht vor, dass keine Religion Staatsreligion werden oder besondere Privilegien erhalten kann.70 Der Staat greift nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirche und Religionsgemeinschaften ein und kann ihnen auf der Grundlage der Gleichheit Finanzmittel bereitstellen. Das staatliche Gesetz über Religionsfreiheit aus dem Jahr 2004 wurde vom Interreligiösen Rat von BiH verfasst (bestehend aus Mitgliedern der vier wichtigsten Religionsgemeinschaften). Es regelt die rechtliche Stellung von Kirchen und Religions- gemeinschaften, die Vorschriften für die Gründung neuer Kirchen und Gemeinschaften und die Zusammenarbeit mit dem Staat in Bereichen von gemeinsamem Interesse (Bildung, Kultur, Wohlfahrt). In einem Konkordat mit dem Heiligen Stuhl aus dem Jahr 2007 wird die öffentliche Rechtspersönlichkeit der katholischen Kirche anerkannt. Im Jahr 2008 ratifizierte die Präsidentschaft von BiH ein ähnliches Abkommen mit der serbisch-orthodoxen Kirche. Im Jahr 2010 beantragte die Islamische Gemeinschaft71 von BiH bei der Präsidentschaft von BiH ein eigenes Abkommen mit dem Staat, das bislang noch nicht unterzeichnet wurde. Auf staatlicher Ebene werden religiöse Feiertage nicht als gesetzliche Feiertage anerkannt, Entitäten und Kantone berücksichtigen jedoch religiöse Feiertage, die von den Mitgliedern der Mehrheitsreligion in der Region begangen werden. Bürger haben auf allen Ebenen des Bildungswesens das Recht auf Religionsunterricht. Wie das Bildungssystem im Allgemeinen ist auch der Religionsunterricht dezentralisiert. Lehrer werden von einem offiziellen Vertreter der jeweiligen Kirche oder Religions- gemeinschaft ernannt. Staatliche Schulen bieten Religionsunterricht in der Regel nur in der Mehrheitsreligion der Kommune an. Schüler haben von Rechts wegen die Möglich- keit, nicht am Religionsunterricht teilzunehmen. Eltern können ihre Kinder aus religiösen Gründen in Privatschulen anmelden. Für die Hauptreligionen bestehen auch religiöse Einrichtungen auf Hochschulebene. In bilateralen Protokollen zwischen Religions- gemeinschaften und dem Staat sind die Bereiche und Bedingungen der Zusammenarbeit näher geregelt. Trotz der hohen Standards, die in den Gesetzen von BiH vorgesehen sind, wird die praktische Umsetzung durch Probleme wie diskriminierende Praktiken, informelle Privilegien für bestimmte Gemeinschaften in einzelnen Einrichtungen, Zurschaustellung religiöser Symbole in der Öffentlichkeit und den illegalen Bau religiöser Gebäude behindert. Es wurden keine Fortschritte72 im Hinblick auf eine Änderung der Verfassung erreicht, mit der ethnische und religiöse Diskriminierung verboten werden sollen.73 Die Religionsfreiheit und die Rechte religiöser Minderheiten werden durch mangelhafte Verwaltungs- und Justizsysteme eingeschränkt.

70 In der Verfassung der Republika Srpska wird eine Verbindung zwischen einer bestimmte Kirche und einer ethnischen Gruppe hergestellt. Es heißt dort, dass die serbisch-orthodoxe Kirche die Kirche des serbischen Volkes und anderer Anhänger des orthodoxen Glaubens ist, allerdings werden ihr keine besonderen Privilegien eingeräumt. 71 International Religious Freedom Report for 2016, US-amerikanisches Außenministerium. 72 Human Rights Watch: World Report 2017. 73 Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat im Urteil Sejdić-Finci anerkannt, dass Bürger, die als „sonstige“ bezeichnet werden, durch die Verfassung diskriminiert werden, da ihnen versagt wird, sich als Kandidaten für einige öffentliche Ämter zu bewerben. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 19 von 43

6.1.3. Religion in der Außenpolitik von Bosnien und Herzegowina Bosniens Islamische Gemeinschaft ist der Hauptvertreter der muslimischen Gemein- schaft; sie führt einen Dialog mit dem Staat und ist ein wichtiger politischer Akteur,74 der die nationale Identität der Bosniaken fördert. Sie betrachtet sich selbst als einzige und geeinte Organisation der Muslime in BiH sowie in der weiteren Region (Sandschak, Kroatien, Slowenien und Serbien). Ihr früherer Anführer, Mustafa Cerić, hat dafür gesorgt, dass der Islam eine Rolle in der Politik spielt, während der derzeitige Großmufti Husein Kavazović als gemäßigt gilt und sich für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den Religionen und die Bekämpfung des gewaltsamen Extremismus einsetzt. Er ist dafür bekannt, die EU und ihre Mitgliedstaaten darin zu bestärken, aus den Erfahrungen europäischer Muslime zu lernen, um Herausforderungen der Integration zu bewältigen. Sein Vorgänger, Cerić, engagierte sich ebenfalls sehr für den Dialog mit den Organen der EU, die Menschen in BiH sahen in ihm die Verkörperung dieses modernen Denkens – einen „europäischen Muslim“. Die serbisch-orthodoxe Kirche ermöglicht75 Russland durch ihre Zusammenarbeit mit der russisch-orthodoxen Kirche, eine weiche Macht auszuüben, dabei werden kulturelle und religiöse Bindungen76 mit den Serben geltend gemacht. Ganz konkret unterstützt Russland separatistische Tendenzen in der Republika Srpska und unterstützt dessen Präsidenten Dodik. Beispielsweise befürwortete Russland im Jahr 2016 im Gegensatz zur EU und den USA ein strittiges Referendum der RS77 zur Einführung eines serbischen Nationalfeiertags, das der Bundesstaat ablehnt. 6.2. China 6.2.1. Religionsdemografie in China In der Volksrepublik China sind fünf Religionen anerkannt: Buddhismus und Taoismus (die als indigene Religionen gelten) und die „importierten“ Religionen Katholizismus, Islam und Protestantismus.78 Die chinesische Regierung gibt seit mehreren Jahrzehnten die Zahl der Gläubigen in China konstant mit knapp 100 Millionen79 an, die im Laufe der Zeit deutlich gestiegenen Zahlen kommen darin nicht zum Ausdruck (siehe Abbildung 3). Das chinesische Staatliche Amt für religiöse Angelegenheiten (State Administration for Religious Affairs, SARA) legt lediglich lückenhafte statistische Daten zu den chinesischen Anhängern dieser Religionen vor.80 Diese offiziellen Zahlen berücksichtigen nicht die

74 Bosnia's dangerous tango: Islam and nationalism, International Crisis Group, 2013. 75 Russian soft power gaining strength in Serbia: goals, instruments, and effects. CEAS study, 2016. 76 Martin Russell: Russia in the Western Balkans. EPRS, Europäisches Parlament, 2017. 77 The Serbian referendum in Bosnia and Herzegovina. Centre for Eastern Studies (OSW), 2016. 78 Jinghao Zhou: in China in: The Routledge International Handbook on Religious Education. Derek H. Davis und Elena Miroshnikova (Hrsg.), Routledge, 2013, S. 76-83. 79 Mickey Spiegel: China: State control of religion. Human Rights Watch, 1997; VN-Menschenrechtsrat: National report, eingereicht gemäß Artikel 15 Buchstabe a des Anhangs zur Resolution des Menschenrechtsrats 5/1 – China, 10. November 2008; VN-Menschenrechtsrat: National report, eingereicht gemäß Artikel 15 Buchstabe a des Anhangs zur Resolution des Menschenrechtsrats 5/1 – China, Montag, 5. August 2013. 80 Schätzungen der Zahl der buddhistischen und taoistischen Gläubigen werden unter Berufung auf Schwierigkeiten bei der Datenerfassung nicht veröffentlicht. Den Angaben des Amts zufolge wird die muslimische Bevölkerung Chinas auf 22 Millionen, die Zahl der Katholiken auf über 5,7 Millionen und die Zahl der Protestanten auf über 23 Millionen geschätzt. Im Gegensatz dazu schätzt Open Doors Germany die Zahl der Christen in China auf 97,2 Millionen. Laut der US-amerikanischen Commission on International Religious Freedom gibt es etwa 300 Millionen Chinesen, die eine Volksreligion Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 20 von 43

beträchtliche Anzahl an Gläubigen, die an religiösen Tätigkeiten im Untergrund teilnehmen. 6.2.2. Verbindung zwischen Staat und Religion In China ordnet die Chinesische Kommunistische Partei eine strikte Trennung zwischen Religion und dem von der Partei regierten säkularen Einparteienstaat an. Die Partei schreibt allen ihren etwa 90 Millionen Mitgliedern (die als Avantgarde der 1,4 Milliarden Chinesen gelten) einen marxistischen Atheismus vor und betrachtet Religionen in unterschiedlichem Maße als Konkurrenz zur politischen Macht und als potenzielle Bedrohung der nationalen Sicherheit und ihres eigenen Überlebens. Die Partei weiß um die Rolle, die die katholische Kirche in Polen beim Zusam- Abbildung 4 – Religion in China im Zeitverlauf menbruch der kommunis- tischen Regime in Mittel- und Osteuropa gespielt hat, und ist sich der gegenwärtigen Rolle des Buddhismus und des Islam beim politischen Separatismus in Chinas tibe- tischen Provinzen und der Provinz Xinjiang bewusst. Aus Sicht der Partei dürfen Religionen daher nicht ein-

fach unabhängig neben dem Quelle: Religion in China: Council on Foreign Relations. 2015, auf der Grundlage Staat bestehen, sondern der World Religion Database. müssen streng kontrolliert werden. Nachdem die Kommunistische Partei große Teile des religiösen Erbes Chinas landesweit radikal ausgelöscht und religiöse Tätigkeiten während der von Mao geführten Kulturrevolution (1966-1976) in den Untergrund verbannt hatte, ließ sie im Rahmen der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiapings im Jahr 1978 jedoch zu, dass die Religions- freiheit in der jüngsten Verfassung der Volksrepublik von 1982 wieder festgeschrieben wurde.81 Artikel 36 der Verfassung begrenzt den Schutz der Religionsfreiheit jedoch auf „normale“ religiöse Tätigkeiten82 und setzt deutliche Grenzen, auch im Hinblick auf die potenzielle politische Dimension von Religionen und „Fremdherrschaft“. Das Recht wird zudem durch die Tatsache weiter eingeschränkt, dass die Religionspolitik der

praktizieren, über 246 Millionen Buddhisten, mindestens 68 Millionen Christen, knapp 25 Millionen Muslime und jeweils unter 3,6 Millionen Anhänger des Hinduismus, Judentums oder Taoismus. US-amerikanische Commission on International Religious Freedom: 2016 Annual Report. April 2016. 81 Dies geschah aufgrund der Erwartung, dass in einer sozialistischen Zivilisation mit ihren eigenen materiellen und spirituellen Werten Religionen schrittweise verschwinden würden. Zentralkomitee der Chinesischen Kommunistischen Partei, Dokument 19: Basic Viewpoint and Policy on the Religious Question During Our Country's Socialist Period, 31. März 1982, [ins Englische übersetzte Abschnitte veröffentlicht in: Donald E. MacInnis: Religion in China Today: Policy and Practice. Orbis Books, 1989.]. 82 Sie sind in der Verfassung nicht definiert, bei der Bewertung besteht daher ein breiter Ermessenspielraum. Verfassung der Volksrepublik China, Artikel 36. Aus den Beispielen des Weißbuchs über Religionsfreiheit in Xinjiang folgt, dass religiöse Tätigkeiten keine wie auch immer geartete politische Dimension haben dürfen, Staatsrat: White Paper on Freedom of Religious Belief in Xinjiang. 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 21 von 43

chinesischen Regierung/Kommunistischen Partei in der Praxis über der Verfassung steht.83 Das Dokument 19 aus dem Jahr 1982 sieht vor, dass Religion nicht in Politik, Bildung und sonstige Bereiche eingreifen darf.84 Es heißt dort, dass konterrevolutionäre Tätigkeiten, die unter dem Deckmantel der Religion stattfinden, verboten sind. Gleichzeitig sollen Religionen jedoch einbezogen werden, um die wirtschaftliche und soziale Agenda der Partei zu unterstützen. Die im Jahr 2017 durchgeführte Überarbeitung der Verord- nungen zu religiösen Angelegenheiten aus dem Jahr 2004,85 in denen die Bedingungen für die Arbeit religiöser Organisationen und Führer in China festgelegt sind, stellt einen von mehreren Versuchen der Kommunistischen Partei dar, unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit gegen nicht staatlich sanktionierte religiöse Aktivitäten vorzu- gehen, die mit der angeblichen Infiltration Chinas durch ausländische Religionen in Zusammenhang gebracht werden.86 Die chinesische Regierung schreibt vor, dass alle religiösen Organisationen, um in China als rechtmäßig zu gelten, sich bei einem der staatlich kontrollierten religiösen patrio- tischen Verbände registrieren lassen müssen, die sich für den Grundsatz einer unabhängigen Kirche einsetzen und vom Staatlichen Amt für religiöse Angelegenheiten87 überwacht werden. Das Amt wird wiederum von der Abteilung Einheitsfront der Partei kontrolliert. Religiöse Organisationen, die nicht zu den fünf Religionen gehören und nicht beim Staatlichen Amt für religiöse Angelegenheiten registriert sind, gelten als illegal oder sogar offiziell verboten wie Falun Gong88 und können nach dem chinesischen Gesetz verfolgt werden. Es gibt eine große Anzahl nicht beim Staatlichen Amt registrierter und damit nicht staatlich kontrollierter christlicher Untergrundkirchen in China. Sie sind offiziell illegal, werden jedoch abhängig von der jeweiligen Einstellung der kommunis- tischen Führung in Provinzregierungen in unterschiedlichem Maße toleriert.89 Religiöse Tätigkeiten traditioneller chinesischer Volksreligionen werden von lokalen Behörden in

83 Jinghao Zhou: Religious education in China, op. cit., Seite 78. 84 Zentralkomitee der Chinesischen Kommunistischen Partei. Dokument 19: Basic Viewpoint and Policy on the Religious Question During Our Country's Socialist Period, op. cit. 85 Staatsrat: Regulations No 426 of 2004, Regulations on Religious Affairs, 1. März 2005; Eric R. Carlson: China's New Regulations on Religion: A Small Step, Not a Great Leap, Forward, Brigham Young University Law Review, Bd. 2005 (3), 1. September 2005, S. 747-798. 86 China's revised regulations on religion fend off foreign influences, Global Times, 12. September 2017. China's underground churches head for cover as crackdown closes in. South China Morning Post, 11. September 2017. 87 Im Jahr 1997 gab es sieben von ihnen: die Vereinigung der Buddhisten Chinas, die Patriotische Vereinigung der chinesischen Katholiken und der Chinesische Bischofsrat, die Chinesische Taoistenvereinigung, die Islamische Gesellschaft Chinas und die beiden Verbände der protestantischen Christen, das Chinesische Christliche Patriotische Komitee der „Drei-Selbst-Bewegung“ und die Chinesische Christliche Vereinigung. Staatsrat: White Paper Freedom of Religious Belief in China, 1997. 88 United Kingdom Home Office: Country Policy and Information Note – China: . November 2016. 89 Staatlich sanktionierte Kirchen wurden jedoch auch ins Visier genommen. Im Jahr 2014 startete der neue Parteisekretär, Xia Baolong, in der Provinz Zhejiang, einem Zentrum der Christen in China, eine breit angelegte Kampagne zur Entfernung von Kreuzen auf den Dächern christlicher Kirchen; auf dem Höhepunkt der Kampagne wurde die Kirche Sanjiang in Wenzhou zerstört, die angeblich zu groß und damit illegal war. In einem durchgesickerten Dokument der Regierung war von einer politischen Bedeutung der Symbole und einer Infiltration ausländischer Kräfte die Rede. Interview with a Wenzhou Pastor: The Chinese Government's Large-Scale Destruction of Crosses in Zhejiang Province. China Change, 29. Juli 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 22 von 43

der Regel stillschweigend geduldet, da sie als indigene und nicht gefährliche Religionen gelten. Staatlich kontrollierte religiöse Organisationen in China führen ihre Geschäfte unabhängig,90 müssen allerdings ihre Lehre an die Parteidoktrin anpassen, Religionen mit chinesischen Eigenschaften sein und dürfen keinem finanziellen, politischen oder geistlichen Einfluss von außen unterliegen. Religiöse Führer und Führungsgremien staatlich sanktionierter religiöser Einrichtungen werden gemäß ihren eigenen Bestim- mungen ausgewählt und geweiht.91 Katholische Gruppen, die sich zum Vatikan bekennen, konnten sich daher nicht als Rechtspersonen registrieren lassen.92 Es bleibt abzuwarten, ob die angekündigte Einigung zwischen China und dem Vatikan bei der Ernennung von Bischöfen zu einer Aussöhnung zwischen den offiziellen und den inoffiziellen katholischen Gemeinschaften in China führen wird.93 Im Juni 2017 waren das Leben und die Freiheit vom Papst ernannter Bischöfe weiterhin gefährdet.94 Staatlich kontrollierte religiöse Organisationen gründen eigene Religionsschulen und religiöse Einrichtungen zur Ausbildung ihrer religiösen Führer. Um die Kontrolle über die religiösen Aktivitäten95 in der unruhigen Provinz Xinjiang im Westen Chinas zu ver- stärken, in der islamistischer Separatismus und Terrorismus unter der sunnitisch- muslimischen96 uigurischen Bevölkerung, die eine Turksprache mit arabischer Schrift spricht, als Bedrohung der nationalen Sicherheit gelten, hat die chinesische Regierung ihr Angebot an staatlich kontrollierter religiöser Ausbildung erhöht und ist gegen die Koranschulen im Untergrund vorgegangen.97 Gleichzeitig mit der Organisation von Charterflügen für die jährliche Pilgerfahrt der muslimischen Uiguren nach Mekka98 hat sie repressive Maßnahmen ergriffen und unter anderem Reisen durch die

90 Staatsrat: White Paper Freedom of Religious Belief in China, op. cit. 91 Das US-amerikanische Außenministerium berichtet, dass die Patriotische Vereinigung der Chinesischen Katholiken im April 2013 eine Verordnung über die Wahl und Weihung von Bischöfen veröffentlichte, die vorschreibt, dass sich Bischofskandidaten öffentlich zur Unterstützung der Kommunistischen Partei verpflichten müssen. 2014 International Religious Freedom Report, 14. Oktober 2015. 92 United Kingdom Home Office: Country Policy and Information Note – China: Christians, März 2016. 93 Rachel Xiaohong Zhu: The Division of the Roman in Mainland China: History and Challenges: Religions. Bd. 8 (3), März 2017. 94 Vatican breaks silence on missing Chinese bishop. USA News.com, 28. Juni 2017. China. Why the Agreement With Rome Is Slow In Coming. With a Postscript. L'Espresso, 22. Juni 2017. 95 United Kingdom Home Office: Country Policy and Information Note – China: Non-Christian religious groups. August 2016. 96 Der sunnitische Islam ist bei Weitem der größte Zweig des Islam: der Anteil der Sunniten an der muslimischen Gesamtbevölkerung liegt zwischen 87 % und 90 %. Sein Name leitet sich aus dem Begriff ahl al-sunna wa-l-jama'a („Anhänger der Prophetentradition und der Gemeinschaft“) ab. Wie diese Beschreibung nahelegt, macht der sunnitische Islam für sich geltend, den muslimischen Konsens im Hinblick auf die Lehren und Regeln des Propheten zu vertreten. Er entstand unter den Muslimen, die im Gegensatz zu den Schiiten und Khawarij leugneten, dass Ali als einziger legitimer Nachfolger Mohammeds bestimmt worden war. 97 Jacques Neriah: The Chinese Approach to Radical Islam. Jerusalem Centre for Public Affairs, Bd. 17(7), 27. März 2017. 98 Xinjiang ergreift aktive Maßnahmen, damit sich die Religionen an die sozialistische Gesellschaft anpassen, und verhindert, dass Religion genutzt wird, um in die administrativen, justiziellen, bildungspolitischen und sonstigen sozialen Angelegenheiten einzugreifen, Staatsrat, White Paper Freedom of Religious Belief in China, op. cit. Chinese Muslims Begin Annual Pilgrimage to Mecca with China Southern Flight, China Aviation Daily, 16. August 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 23 von 43

Beschlagnahme von Reisepässen eingeschränkt.99 Chinas zweitgrößte muslimische Gemeinschaft, die mandarinsprachigen Hui, die überall in China leben, hat sich dagegen größtenteils in die Mehrheitsgesellschaft der Han integriert, im Hinblick auf ihre religiösen Tätigkeiten bestehen keine Spannungen mit der chinesischen Regierung.100 Da sich China für die Trennung von Religion und Bildung einsetzt, findet in chinesischen Schulen kein Religionsunterricht statt, das Fach marxistische Theorie ist dagegen Pflicht. In einigen Provinzen wurde Schulkindern in der jüngsten Zeit die Teilnahme an christlichen Zeltlagern oder der Besuch von Gottesdiensten mit ihren Lehrern untersagt; dies ist Ausdruck einer härteren Linie gegenüber religiösen Tätigkeiten.101 6.2.3. Religion und Außenpolitik Da sich die Führung der Kommunistischen Partei selbst Atheismus vorschreibt, fördert oder schützt die chinesische Regierung keine bestimmte Religion im Ausland. Dagegen überwacht sie die Tätigkeiten ihrer buddhistischen und uigurischen Diaspora genau; ihre Außenpolitik soll verhindern, dass ausländische Regierungen möglicherweise religiöse Kräfte innerhalb oder außerhalb Chinas unterstützen, die die Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei gefährden könnten. Das bekannteste Beispiel ist der Dalai Lama, den die chinesische Regierung beschuldigt, den politischen Separatismus in Tibet aus seinem indischen Exil zu steuern, und damit als Bedrohung der Einheit Chinas betrachtet.102 China erwartet daher im Rahmen seiner Beziehungen zu ausländischen Regierungen, dass diese keine offiziellen Kontakte zu religiösen Führern unterhalten. Wenn es in der Vergangenheit dennoch zu diesen Kontakten kam, verhängte die chinesische Regierung Wirtschaftssanktionen oder brach die diplomatischen Beziehungen zu diesen Regierungen ab, bis sich jene angesichts der wirtschaftlichen Asymmetrien an die wichtigsten Interessen Chinas anpassten.103 6.3. Iran Die Islamische Republik Iran ist in der Verfassung als theokratischer Staat definiert. Der schiitische Islam104 ist die offizielle Staatsreligion, eine strikte Auslegung der Scharia bestimmt alle Aspekte der Gesellschaft. Dies kann von der offenen Diskriminierung aus religiösen Gründen in Bereichen wie Beschäftigung, Bildung und Wohnungswesen105 bis zu weniger sichtbaren Formen der „Bewachung“ des politischen, beruflichen und

99 China: Passports Arbitrarily Recalled in Xinjiang. Human Rights Watch, 21. November 2016. One Passport, Two Systems. China's Restrictions on Foreign Travel by Tibetans and others. Human Rights Watch, Juli 2015. 100 Brent Crane: A Tale of Two Chinese Muslim Minorities. There is a chasm between the conditions experienced by the Hui and Uyghur peoples in China. The Diplomat, 22. August 2014. 101 World Watch Monitor: China bans children – and their teachers – from churches. 11. September 2017. 102 China lodges diplomatic protest after US delegation meets Dalai Lama. Hindustan Times, 10. Mai 2017. 103 Mongolia Vows No More Dalai Lama Visits After China Turns Screws. Bloomberg, 21. Dezember 2016. Jichang Lulu: The costs of normalisation: Norway and Mongolia respond to Chinese sanctions. China Policy Institute: Analysis. University of Nottingham, 22 Februar 2017. 104 Sebastian Kusserow und Patryk Pawlak: Understanding the branches of Islam: . EPRS, Europäisches Parlament, Januar 2016. Der schiitische Islam unterscheidet sich vom sunnitischen Islam im Wesentlichen dadurch, dass Ali, der Neffe Mohammeds, als dessen einziger legitimer Nachfolger betrachtet wird. Ursprung des Schiismus ist das Märtyrertum von Alis Sohn Husain, der von umayyadischen Truppen in der Schlacht von Kerbala im islamischen Monat Muharram im Jahr 680 n. Chr. getötet wurde. Mehrere Zweige des Schiismus erkennen eine unterschiedliche Anzahl von Imamen (Nachfolgern) Alis an. Die Mehrheit der Schiiten erkennt zwölf Imame an. 105 GlobalSecurity.org: Iranian religious groups, abgerufen am 23. Oktober 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 24 von 43

sozialen Lebens der Bürger reichen. Auf dem Papier enthält die geänderte Verfassung von 1989 „liberal-demokratische“ Elemente, wie Meinungsfreiheit und Gewalten- trennung, sie sind in der Praxis jedoch kaum gewährleistet. Die Organisation des iranischen Staates beruht auf dem Prinzip „Velayat-e Faqih“, das heißt der Herrschaft des islamischen Rechtsgelehrten. Alle Gesetze und Verordnungen müssen islamische Kriterien erfüllen, der Übertritt zu einer anderen Religion als dem Islam ist nicht zulässig. Nur einige wenige Minderheiten sind vom Staat anerkannt, andere werden stark verfolgt. Der derzeitige Präsident Irans, Hassan Ruhani, der im Jahr 2013 die Regierung übernahm, galt zunächst als Befürworter bürgerlicher Freiheiten, hat seine Versprechen jedoch nicht eingelöst.106 6.3.1. Religionsdemografie im Iran Das Statistische Zentrum des Iran führt alle zehn Jahre Volkszählungen durch. Die offiziellen Statistiken enthalten jedoch nur wenige Angaben zur genauen Aufteilung der Religionen. Externen Schätzungen zufolge sind 99 % der iranischen Bevölkerung Muslime (etwa 74 Millionen Menschen), 90 % sind Anhänger der Zwölfer-Schia (auch bekannt als Imamiten) und 9 % sind Sunniten. Der Iran ist daher das Land mit der siebtgrößten muslimischen Bevölkerung weltweit; nur ein verschwindender Anteil der iranischen Bevölkerung, etwa 1 % bis 2 %, sind Nichtmuslime.107 Bahai (etwa 300 000),108 Christen (etwa 85 000) und Yarsan (unbekannt) stellen die drei größten nichtmuslimischen Minderheiten dar. Zoroastrier (etwa 25 000), Juden (9 000 bis 20 000) und Sabier- Mandäer (5 000 bis 10 000) bilden den übrigen Teil.109 Die Statistiken zu diesen Gruppen unterscheiden sich doch und sind fehlerhaft, da manche Bürger ihren religiösen Glauben möglicherweise aus Angst vor Nichtanerkennung und Verfolgung geheim halten. In Irans Verfassung sind drei religiöse Minderheiten anerkannt, nämlich Juden, Zoroastrier und nicht konvertierte Christen. Anhänger dieser Glaubensrichtungen sind, sofern sie sich ordnungsgemäß registriert haben, vom Staat geschützt und berechtigt, ihren religiösen Glauben öffentlich zu praktizieren. Im Parlament sind fünf von 290 Sitzen für Anhänger dieser religiösen Minderheiten reserviert. Anhänger anderer religiöser Minderheiten werden jedoch diskriminiert. Insbesondere die Bahai stehen oft im Fokus der Regierung: Seit 1979 wurden mehr als 200 Führer der Bahai exekutiert,110 etwa 10 000 wurden staatlich finanzierter Positionen enthoben, Unternehmen im Besitz von Bahai wurden geschlossen.111 Konvertierte Christen und Evangelisten werden ebenfalls unterdrückt: Seit 2010 wurden mehr als 600 Christen inhaftiert, Führer von Hauskirchen eingeschüchtert und christenfeindliche Ressentiments von den Medien geschürt.112 Obwohl der Iran die Heimat der zweitgrößten jüdischen Bevölkerungsgruppe im Nahen Osten ist, beteiligt sich die Regierung auch an israelfeindlicher Rhetorik und der

106 United States Commission on Religious Freedom: Iran Chapter – 2017 Annual Report. 107 Pew Research Center: Mapping the Global Muslim Population. 2009. 108 Das im 19. Jahrhundert im Iran entstandene Bahaitum lehnt sich an andere Weltreligionen an und lehrt die Gleichheit zwischen den Menschen. Buddha, Jesus und Mohammed sind wichtige Figuren des Bahaitums, dessen Anhänger die Überzeugung vertreten, dass göttliche Offenbarung verschiedene Figuren in verschiedenen Zeiträumen genutzt hat. Es gibt zwischen fünf und sieben Millionen Bahai, die hauptsächlich in Indien und im Iran leben. 109 US-amerikanisches Außenministerium: International Religious Freedom Report 2016. 110 Website der Baha'i International Community: Situation of Baha'is in Iran, 19. September 2017. 111 United States Commission on Religious Freedom: Iran Chapter – 2017 Annual Report. 112 US-amerikanisches Außenministerium: International Religious Freedom Report 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 25 von 43

Leugnung des Holocaust.113 Im Iran bestehen schiitische Sekten, die von den Geistlichen der Zwölfer-Shia als „ketzerisch“ betrachtet werden, dazu gehören die Siebener-Schiiten oder Ismailiten. Mehrere Tausend Ismailiten leben im Nordosten des Iran. Ihr geistlicher Führer ist der Aga Khan, der in Indien ansässig ist.114 6.3.2. Religionsdynamik Die Vorherrschaft des Schiismus im Iran geht auf den Anfang des 16. Jahrhunderts und die Begründung der Safawiden-Dynastie zurück (1501-1722); damals wurde die Zwölfer- Schia offizielle Religion der Regierung. Die nachfolgenden Dynastien förderten den schiitischen Islam unter den Eliten, der im Laufe der Zeit an Einfluss gewann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breiteten sich progressive und liberale Bewegungen aus. Ab 1925 modernisierte und säkularisierte die Pahlevi-Dynastie die iranische Gesellschaft. Die Iranische Revolution von 1979 stellte einen Wendepunkt in dieser Entwicklung dar. Der Sturz des Schah-Regimes bereitete den Weg für einen autoritären Regimewechsel, die schiitischen Geistlichen erhielten erhebliche politische Macht. Infolgedessen verschlech- terte sich die Lage der Nichtmuslime. Im Jahr 1979 sagte Ajatollah Khomeini der jüdischen Gemeinschaft körperliche Unversehrtheit zu. Er konnte jedoch einen Massen- exodus von Juden nicht verhindern, deren Zahl seitdem deutlich zurückgegangen ist. Im heutigen Iran lebt lediglich ein Zehntel der jüdischen Bevölkerung von 1979. Neueren Prognosen zufolge wird die muslimische Gemeinschaft in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich wachsen (auf etwa 86 Millionen Muslime im Jahr 2050).115 6.3.3. Verbindung zwischen Staat und Religion Der iranische Staatsapparat gründet sich auf den islamischen Glauben und diskriminiert religiöse Minderheiten in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft. Die isla- mische Rechtsordnung gilt als „heilig“ und „göttlich“. Kritik am Regime ist daher gleichbedeutend mit Blasphemie und „Propaganda gegen die Islamische Republik“ wird erbittert verfolgt.116 Der höchste islamische Führer übt zwar Einfluss auf die Legislative, Exekutive und Legislative aus, ist dabei jedoch in ein komplexes islamisches Netz eingebettet, bei dem ein internes Kräfteverhältnis gewahrt werden muss.117 Der große Einfluss unabhängiger Ajatollahs, das heißt hochrangiger schiitischer Geistlicher, wirkt sich auch auf die Tagespolitik aus. Darüber hinaus finanziert der Staat islamische Orga- nisationen, die in den Bereichen öffentliche Diplomatie, gemeinnützige Arbeit, Bildung und Verlagswesen tätig sind.118 Ferner haben parastaatliche „Bonyads“ (Stiftungen) große Bedeutung für die Wirtschaft des Iran; sie sind von Bundessteuern befreit und kommen islamischen religiösen Gruppen zugute.

113 So finanzierte beispielsweise im Mai 2016, das staatliche Owj Media & Art Institute and Sarcheshmeh Cultural Complex einen internationalen Wettbewerb für Holocaust-Karikaturen. Die Beiträge wurden in der Islamischen Propaganda-Organisation in Teheran ausgestellt und wegen ihres Antisemitismus weithin kritisiert. Die iranische Regierung versuchte später, sich von der Veranstaltung zu distanzieren. 114 Sebastian Kusserow und Patryk Pawlak: Understanding the branches of Islam: Shia Islam. EPRS, Europäisches Parlament, Januar 2016. 115 Statista – Das Statistik Portal: Iran: Religionszugehörigkeit der Bevölkerung im Jahr 2010 und Prognosen bis 2050, abgerufen am 23. Oktober 2017. 116 Bertelsmann Stiftung: Iran Country Report, 2016. 117 Alireza Nader, David E. Thaler und S. R. Bohandy: The Next Supreme Leader. Succession in the Islamic Republic of Iran. RAND Corporation, 2011. 118 Saeed Paivandi: Discrimination and Intolerance in Iran's Textbooks. Freedom House, abgerufen am 23. Oktober 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 26 von 43

6.3.4. Religion in der Außenpolitik des Iran Der Iran hat ein starkes Interesse an einer stabilen und sicheren Nachbarschaft. Es übt in mehreren Ländern und bei Konflikten in der Region, an denen schiitische Mehrheiten oder Minderheiten beteiligt sind, eine Führung aus dem Hintergrund aus, darunter im Irak, im Libanon, in Syrien und im Jemen; damit sollen in erster Linie der Status quo wiederhergestellt und Instabilität verhindert werden. Dennoch wird der Iran häufig beschuldigt, Stellvertreterkriege in der Region zu schüren. Innen- und Außenpolitik sind im Iran eng miteinander verknüpft, Religion und die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten haben zentrale Bedeutung für die außenpolitische Strategie des Iran. Die territoriale Integrität des vorherrschend schiitischen Irak und des von Alawiten regierten Syrien119 sind ein nationales Anliegen. In gleicher Weise unterstützt der Iran Schiiten weltweit und versucht, den Expansionismus Saudi-Arabiens, das heißt der Sunniten, zu begrenzen. Der Aufstieg radikaler sunnitischer Terrorgruppen, vor allem des IS, stellt eine große Bedrohung für den Iran dar. Im Hinblick auf die Menschenrechte versprach die Ständige Vertretung des Iran bei den VN im Jahr 2006, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern, ging jedoch nicht speziell auf die Religionsfreiheit ein.120 Gleichzeitig lehnt das iranische Regime eine uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem VN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte ab. Die Europäische Union bemüht sich weiterhin um engere Beziehungen zum Iran, durch die feindselige Haltung der Regierung Trump gegenüber dem iranischen Regime stehen die Beziehungen des Westens zum Iran jedoch erneut unter Druck. 6.4. Russland 6.4.1. Religionsdemografie Russlands Unveröffentlichten Daten des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Levada Center zufolge waren im Jahr 2016 79 % der Russen orthodoxen Glaubens, die Mehrheit davon gehörte der russisch-orthodoxen Kirche an. Katholiken und sonstige nichtorthodoxe Christen machen weniger als 0,5 % aus. Dem Levada Center zufolge liegt der Anteil der russischen Muslime bei 5,7%, laut anderen Schätzungen sind es bis zu 15 %.121 Die höchsten Konzentrationen befinden sich im Nordkaukasus und in Tatarstan, Muslime leben jedoch im gesamten Land, viele von ihnen sind Migranten aus ehemals sowjetischen zentralasiatischen Staaten. Da sich russische Muslime keineswegs mit einer muslimischen Sekte identifizieren, werden sie sich selbst wahrscheinlich sehr viel eher als sunnitische denn als schiitische Muslime beschreiben.

119 Alawiten sind eine bedeutende Minderheit in Syrien, dem Libanon und der Türkei. Das Alawitentum ist traditionell eine Geheimlehre, das Wissen um die Religion war auf ausgewählte männliche Mitglieder der Gemeinschaft begrenzt. Aufgrund des stark synkretistischen Charakters des Glaubens der Alawiten ist ihre Zugehörigkeit zum Islam umstritten, sie wurden als Ketzer gebrandmarkt. Die syrische Herrscherfamilie und große Teile des inneren Machtzirkels im Staat sind Alawiten. Auszug aus: Sebastian Kusserow und Patryk Pawlak: Understanding the branches of Islam: Shia Islam. EPRS, Europäisches Parlament, Januar 2016. Angesichts der umstrittenen Zugehörigkeit des Alawitentums zum Islam wird angenommen, dass die Unterstützung des Irans für das Assad-Regime eher geopolitische als religiöse Gründe hat. 120 Ständige Vertretung der Islamischen Republik Iran bei den Vereinten Nationen: The Islamic Republic of Iran's Pledges and Commitments on Human Rights, 8. Mai 2006. 121 Gabriela Baczynska: Putin opens Moscow's largest mosque, warns against extremists. Reuters, 23. September 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 27 von 43

Zu den kleineren Minderheiten gehören die Paganisten (1,2 %122 im Jahr 2012), viele von ihnen stammen aus den indigenen Völkern Sibiriens, aber auch aus der Kaukasusregion Nordossetiens, Buddhisten (0,4 %, traditionell aus südsibirischen Regionen wie Burjatien) und Juden (0,1 %).

6.4.2. Religionsdynamik Abbildung 5 – Religiöse Überzeugungen in Religionen wurden in der Sowjetunion unter- Russland drückt (blieben aber dennoch einflussreich; Kin- der aus kommunistischen Familien, die orthodox getauft wurden, wie Präsident Wladimir Putin, waren keine Ausnahme). Im Jahr 1989 bezeich- neten sich 26 % selbst als orthodoxe Christen, im Jahr 2016 war dieser Anteil jedoch auf 79 % gestiegen; im gleichen Zeitraum fiel der Anteil der Atheisten von 72 % auf 5 %. Für die Zukunft prognostiziert eine Quelle,123 dass der Anteil der

Muslime bis 2050 auf 17 % steigen könnte, da sie Datenquelle: unveröffentlicht, Daten von Levada Center. mehr Kinder haben als die Allgemeinbevöl- kerung. 6.4.3. Verbindung zwischen Staat und Religion Laut Verfassung ist Russland ein säkularer Staat. Formal gesehen sind alle Religionen gleichgestellt und können sich rechtlich anerkennen lassen, sofern sie informell seit mindestens 15 Jahren bestehen; die russisch-orthodoxe Kirche hat jedoch enge Beziehungen zum Staat und beträchtlichen Einfluss. Dieser Einfluss wird allerdings durch einen Säkularismus begrenzt, der ein Erbe der atheistischen sowjetischen Ära ist; auch wenn die meisten Russen nominell orthodox sind, erklären 62 %124 von ihnen auch, dass Religion in ihrem Leben keine oder nur eine geringe Rolle spielt, und lediglich 13 % aller Russen (einschließlich Muslime) besuchen regelmäßig einen Gottesdienst. Viele sind gegen eine größere Rolle der orthodoxen Kirche; im März 2017 protestierten Tausende von Einwohnern von Sankt Petersburg gegen den Beschluss der Stadt, die Sankt Isaakskathedrale der orthodoxen Kirche zurückzugeben.125 6.4.4. Das Bündnis zwischen dem Kreml und der orthodoxen Kirche Unter dem Einfluss nationalistischer Denker wie Alexander Dugin weist Wladimir Putin der Orthodoxie zentrale Bedeutung für die russischen Werte zu, die er vor dem dekadenten westlichen Liberalismus zu schützen behauptet (diese Ansicht wird von einfachen Russen geteilt, von denen 57 %126 die Orthodoxie als wesentlichen Bestandteil ihrer nationalen Identität betrachten). Die ideologische Affinität zwischen dem Kreml und der russisch-orthodoxen Kirche ist die Grundlage für eine beidseitig nützliche Allianz: Im Jahr 2012 unterstützte Patriarch Kirill, dessen Popularität nur von Putin übertroffen wird (derzeitige Zustimmungsrate: 71 %)127, die Präsidentschaftskandidatur des letzteren und beschrieb dessen

122 Arena Atlas of Religions and Nationalities of the Russian Federation. Sreda Research Service, 2012. 123 Pew-Templeton Global Religious Futures Project. Pew Research Center, 2016. 124 Public Opinion 2016 (Общественное Мнение-2016), S. 166. Levada Center, 2017. 125 Thousands Protest Cathedral Transfer In St Petersburg. Radio Free Europe/Radio Liberty, 18. März 2017. 126 Religious Belief and National Belonging in Central and Eastern Europe. Pew Research Center, 2017. 127 Church and State (Церковь и государство). Levada Center, 8. Februar 2012. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 28 von 43

Regentschaft als „Wunder Gottes“.128 Im Gegenzug verabschiedete der Kreml an ortho- doxen Werten orientierte Rechtsvorschriften (wie das Gesetz zum Verbot „homosexueller“ Propaganda)129 und stellte Verhalten unter Strafe, das als respektlos gegenüber der Kirche betrachtet wird; im Mai 2017 wurde gegen einen Blogger eine Bewährungsstrafe verhängt, weil er in der Kirche Pokémon Go gespielt hatte.130 Ein jüngstes Verbot131 der Missionstätigkeit gibt der russisch-orthodoxen Kirche den Vorzug vor ihren kleineren Konkurrenten, das gleiche gilt für den Beschluss, die Zeugen Jehovas wegen „Extremismus“132 zu verbieten. Gleichzeitig hält Putin, im Bewusstsein der Notwendigkeit, als Präsident aller Russen zu gelten – einschließlich der Muslime und der 66 %133 Russen, deren Ansicht nach die orthodoxe Kirche keinen Platz in der Politik hat –, eine gewisse Distanz zu von Ortho- doxen unterstützten Vorschlägen, die den weltlichen Werten des Landes widersprechen, beispielsweise zur Verhinderung von Abtreibungen.134 Der Religionsunterricht in Russland ist ein Beispiel für das Gleichgewicht des Landes zwischen orthodoxen Werten und Säkularismus. Bis vor Kurzem war Religionsunterricht nicht Pflicht, auch wenn orthodoxe Einflüsse in vielen Schulen spürbar waren.135 Nach jahrelanger Lobbyarbeit der Kirche wurde der Religionsunterricht im Jahr 2012 für alle Viertklässler Pflicht.136 Das Fach Grundlagen der orthodoxen Kultur ist jedoch nur eine von mehreren Optionen und wird lediglich von einem Drittel der Schüler gewählt; viele entscheiden sich für andere Fächer, wie säkulare Ethik oder Weltreligionen. Kürzlich hat Patriarch Kirill auf acht Jahre Religionsunterricht gedrängt,137 dieser Vorschlag wurde vom Bildungsministerium jedoch nicht berücksichtigt. 6.4.5. Finanzielle Aspekte Religiöse Organisationen finanzieren sich in Russland im Wesentlichen selbst. Die orthodoxe Kirche erhielt im Jahr 2016 entsprechend ihrem Sonderstatus staatliche Subventionen in Höhe von 35,1 Millionen USD (einschließlich zur Renovierung von Kirchen) und profitierte von verschiedenen finanziellen Vereinbarungen.138 Es wird angenommen, dass Patriarch Kirill139 Milliarden Dollar durch das Recht der Kirche verdient hat, zollfrei Alkohol und Zigaretten einzuführen.

128 Gleb Bryanski: Russian patriarch calls Putin era 'miracle of '. Reuters, 23. September 2015. 129 Jennifer Rankin: Russian 'gay propaganda' law ruled discriminatory by European court. The Guardian, 20. Juni 2017. 130 Natalia Shurmina: Russian who played Pokemon Go in church avoids jail term. Reuters, 11. Mai 2017. 131 Fred Lucas: Putin Goes to War with Russia's Free Churches. Newsweek, 23. Juli 2016. 132 Jehovah's Witnesses Added to Russia's Extremism Registry. The Moscow Times, 17. August 2017. 133 Church and State (Церковь и государство), op. cit. 134 Ola Cichowlas: Russia's Abortion Debate Is Back. The Moscow Times, 29. September 2016. 135 Clifford Levy: Welcome or Not, Is Back in Russia's Public Schools. The New York Times, 23. September 2007. 136 Matthew Brunwasser: Russia's New Required Religion Class for 4th Graders. Public Radio International, 26. Dezember 2012. 137 Patriarch Wants More Religious Education in Russian Schools. The Moscow Times, 3. Februar 2015. 138 Anna Kuchma: Where does the Russian Orthodox Church get its money from?. Russia Beyond, 9. März 2016. 139 Fiona Clark: Russian Orthodox Church tries to make hay. Deutsche Welle, 16. August 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 29 von 43

6.4.6. Religion in der Außenpolitik Russlands Im Jahr 2014 behauptete Wladimir Putin zur Begründung der russischen Annexion der Krim, die Halbinsel sei für Russen ebenso heilig wie der Tempelberg für die Juden.140 Da Patriarch Kirill viele Gläubige in der Ukraine verlieren könnte, hat er den Einfall Russlands in die Ukraine nicht gebilligt. Allerdings haben viele russisch-orthodoxe Priester in der Ostukraine prorussische Separatisten offen unterstützt.141 Russisch-orthodoxe Kirchen im Ausland, wie die neue, vom Kreml finanzierte Kathedrale in Paris, sind der materielle Ausdruck von Orthodoxie als Mittel zur Projektion der weichen Macht Russlands.142 Eine neuere Umfrage zeigt, dass orthodoxe Christen selbst in prowestlichen Ländern wie Rumänien und Georgien ein starkes Russland als Gegenpol zum Einfluss des Westens sehr viel stärker unterstützen als Mitglieder anderer Glaubens- gemeinschaften.143 Moskaus Verteidigung orthodox geprägter konservativer Werte findet auch Anklang bei europäischen rechtsextremen Parteien.144 Patriarch Kirills historisches Treffen mit Papst Franziskus im Februar 2016 und ein möglicher künftiger Besuch des Papstes in Russland könnten dem Kreml dabei helfen, auch Katholiken zu erreichen. 6.5. Saudi-Arabien Saudi-Arabien ist offiziell ein islamischer Staat, der Koran und die Sunna (die Lehren und Überlieferungen des Propheten Mohammed) sind wesentlicher Bestandteil seiner Verfassung.145 Das Rechtssystem des Landes ist insoweit einzigartig, als aus dem Koran und der Sunna abgeleitete Gesetze den Kern des Systems bilden, das durch Rechtsgutachten (Fatwas) des Rats der Höchsten Religionsgelehrten und königliche Dekrete ergänzt wird. Der Rat der Höchsten Religionsgelehrten besteht aus sunnitischen Religionsgelehrten und Juristen unter Leitung des Großmufti. 18 seiner 21 Mitglieder sind in der hanbalitischen Rechtsschule ausgebildet, die übrigen bestehen aus jeweils einem Vertreter der anderen drei sunnitischen Schulen (malikitische, hanafitische und schafiitische Schule).146 Der Rat hat keine schiitischen Mitglieder. Alle Bürger müssen Muslime sein. Gemäß der Verfassung ist jeder Bürger verpflichtet, den islamischen Glauben sowie die Gesellschaft und das Heimatland zu verteidigen (Artikel 34). 6.5.1. Religionsdemografie Saudi-Arabiens Von den etwa 20 Millionen Bürgern Saudi-Arabiens (Schätzungen von Juni 2016)147 sind zwischen 85 % und 90 % sunnitische Muslime. Die meisten folgen der hanafitischen Rechtsschule. Die übrigen 10 % bis 15 % der Bevölkerung sind schiitische Muslime. Die meisten Schiiten sind Anhänger der Zwölfer-Schia oder Imamiya,148 dem größten der

140 Ishaan Tharoor: Why Putin says Crimea is Russia's 'Temple Mount'. The Washington Post, 4. Dezember 2014. 141 Paul Coyer: Putin's Holy War And The Disintegration Of The 'Russian World'. Forbes, 4. Juni 2015. 142 John Lichfield: Paris welcomes Kremlin-funded Russian Orthodox cathedral. The Independent, 18. März 2016. 143 Majorities in Orthodox countries look to Russia to counter the West. Pew Research Center, 5. Mai 2017. 144 Antonis Klapsis: An Unholy Alliance. Wilfred Martens Centre, 2015. 145 Saudi Arabia's Constitution of 1992 with Amendments through 2005 (Fassung vom 6. Juni 2017). 146 Beatrix Immenkamp: Understanding the branches of Islam: . EPRS, Europäisches Parlament, Januar 2016. 147 United States Commission on International Religious Freedom: Annual Report on Saudi Arabia, 2017. 148 Sebastian Kusserow und Patryk Pawlak: Understanding the branches of Islam: Shia Islam. EPRS, Europäisches Parlament, Januar 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 30 von 43

Schia-Zweige, die der dschafaritischen Rechtsschule folgen. Etwa 700 000 Schiiten sind ismailitischen Glaubens; sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung in der ölreichen östlichen Provinz Nadschran. Eine sehr kleine Zahl – 20 000 – gehören zum Zweig der Zaiditen, auch bekannt als Fünfer-Schiiten. Die Zaiditen sind eine wichtige Gruppe im benachbarten Jemen (30 % bis 45 % der Bevölkerung). Daneben leben rund zehn Millionen Ausländer in Saudi-Arabien. Dazu gehören etwa 5,5 Millionen Muslime, 1,2 Millionen Christen (darunter östlich-orthodoxe Christen, Protestanten und römisch-katholische Christen), 310 000 Hindus, 180 000 keiner Reli- gion zugehörige Personen, 90 000 Buddhisten, 70 000 Anhänger von „Volksreligionen“ und 70 000 Anhänger sonstiger Religionen. Die saudische Regierung untersagt das Praktizieren nichtmuslimischer Glaubens- richtungen in der Öffentlichkeit. Überdies gelten die Verwendung nichtislamischer religiöser Symbole in der Öffentlichkeit, der Übertritt eines Muslims zu einer anderen Religion und missionarische Tätigkeiten als Straftat.149 Die Regierung hat eine spezielle Religionspolizei eingesetzt – die „Behörde für die Verbreitung von Tugendhaftigkeit und Verhinderung von Lastern“ –, die damit beauftragt ist, öffentliche Moral durchzusetzen, darunter die Verwendung von Symbolen nichtislamischer Glaubensrichtungen oder die Nichtachtung des Islam. Nichtmuslime dürfen ihren Glauben in der privaten Umgebung praktizieren. Die Religionspolizei hat jedoch in der Vergangenheit private, nichtmusli- mische Versammlungen aufgelöst und die Teilnehmer festgenommen oder sogar ausgewiesen, vor allem, wenn es laute Veranstaltungen waren, eine große Anzahl Personen beteiligt war oder religiöse Symbole verwendet wurden, die von außerhalb des Gebäudes sichtbar waren. Infolgedessen üben Nichtmuslime ihre Religion in Angst vor Repressalien aus. Seit vielen Jahren stehen insbesondere schiitische Muslime im Fokus der Regierung. Offiziell wird dies mit Sicherheitsbedenken begründet, vor allem gegenüber schiitischen Verbindungen in den Iran. Der prominente schiitische Geistliche Nimr al-Nimr wurde im Januar 2016 wegen der Anstachelung zu Aufruhr und Ungehorsam gegenüber dem Herrscher exekutiert.150 Schiitische Muslime wurden wegen Verstößen festgenommen und inhaftiert, zu denen die Abhaltung kleiner religiöser Versammlungen in Privat- häusern, die Organisation religiöser Veranstaltungen oder das Begehen religiöser Feiertage und das Lesen religiöser Materialien gehörte. Die schiitische Gemeinschaft wird auch im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt, in der Armee, bei der politischen Vertretung und in der Justiz diskriminiert. In einigen vorherrschend schiitischen Provinzen ist das Begehen schiitischer Feiertage jedoch gestattet, Richter können schiitische Schulen islamischer Rechtsprechung in Fällen im Zusammenhang mit dem Familien- und Erbrecht sowie bei Schenkungen einsetzen. 6.5.2. Religionsdynamik Saudi-Arabien ist ein Land, das gemäß dem US-amerikanischen International Religious Freedom Act von 1998 Anlass zu besonderer Besorgnis gibt, das heißt, das Land ist an systematischen, fortgesetzten und eklatanten Verletzungen der Religionsfreiheit beteiligt. Jeder Ausdruck religiösen Glaubens muss mit der besonders puritanischen Auslegung des sunnitischen Islam (bekannt als Wahhabismus) vereinbar sein, der volkstümliche religiöse Praktiken wie den Sufismus oder die Anbetung von Heiligen

149 US Department of State: Saudi Arabia International Religious Freedom Report, 2016. 150 Mark Townsend: Sheik Nimr al-Nimr: Shi'a cleric was a thorn in Saudi regime's side. The Guardian, 2. Januar 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 31 von 43

ablehnt. Die Religionspolizei setzt in Abstimmung mit den Strafverfolgungsbehörden die öffentliche Sittlichkeit durch. Dazu gehört die Bekämpfung öffentlicher und privater Kontakte zwischen nicht verwandten Männern und Frauen, unschickliche Kleidung, Verkauf von Medien, die dem Islam widersprechen (einschließlich Pornografie), der Konsum von Alkohol sowie Ehebruch, Glücksspiele und Homosexualität. Einzelpersonen wurden aufgrund von Apostasie, Blasphemie, Verstoß gegen islamische Werte und Moralvorstellungen, Beleidigung des Islam, Schwarzer Magie und Hexerei inhaftiert.151 Raif Badawi, ein saudischer Blogger, der sich für liberale Vorstellungen einsetzt, wurde im Jahr 2015 zu zehn Jahren Haft, 1 000 Peitschenhieben und einem Bußgeld in Höhe von einer Million Saudi-Riyal (266 000 USD) unter anderem wegen Beleidigung des Islam und religiöser Stellen verurteilt. Das Europäische Parlament zeichnete Badawi im gleichen Jahr mit dem Sacharow-Preis aus.152 6.5.3. Verbindung zwischen Staat und Religion Das Königreich Saudi-Arabien wird seit seiner Gründung im Jahr 1932 von der Dynastie der Saud regiert. Das Regime hat eine „Arbeitsbeziehung“153 zwischen Politik und Religion geschaffen, die den Anhängern der puritanischen Lehren des muslimischen Gelehrten und Reformers Muhammad ibn Abd al-Wahhab im Austausch gegen die Bestätigung der religiösen Legitimität der Monarchie Autorität verleiht.154 Wahhabi- tische Geistliche sind ein wesentlicher Bestandteil des religiösen und politischen Establishments, die Bestimmungen und Gesetze zur Regelung sozialer und religiöser Angelegenheiten in Saudi-Arabien basieren auf wahhabitischem Gedankengut. Staatseigene religiöse Medien und Rundfunkprogramme bestehen in großem Umfang. Journalisten und Verlegern, deren Artikel als Beleidigung des religiösen Establishments oder der regierenden Behörden gelten, wird die Arbeit untersagt. Die Regierung unterstützt etwa 70 % der sunnitischen Moscheen finanziell, die übrigen 30 % sowie schiitische Moscheen werden privat finanziert und betrieben. Im Jahr 2007 begann die Regierung, Inhalte aus Schulbüchern und Lehrplänen zu entfernen, die andere Religionen verunglimpften. Dennoch besteht in den Schulen weiterhin Intoleranz, Lehrer bringen Berichten zufolge diskriminierende und von Hass geprägte Standpunkte gegenüber Nichtmuslimen und muslimischen Minderheitensekten zum Ausdruck. In den vergan- genen zwei Jahren hat sich der neu ernannte Kronprinz Saudi-Arabiens, Mohammed bin Salman, im Rahmen des Projekts Vision 2030 für soziale und wirtschaftliche Reformen eingesetzt. Er hat versprochen, das Königreich aus der Umklammerung des puritanischen Islam zu befreien und eine gemäßigte Form des Islam zu fördern, der den Erwartungen der 70 % der Saudis unter 30 Jahren, besser gerecht wird.155

151 US Department of State: Saudi Arabia International Religious Freedom Report, 2016. 152 EU-Parlament zeichnet Raif Badawi mit dem Sacharow-Preis 2015 aus, Europäisches Parlament, 29. Oktober 2015. 153 Natana J. Delong-Bas: Islam and Power in Saudi Arabia, in: The Oxford Handbook of Islam and Politics. S. 411. 154 Freedom House, Freedom in the World 2017 – Saudi Arabia: Key developments in 2016. 155 Martin Chulov: I will return Saudi Arabia to moderate Islam, says crown prince. The Guardian, 24. Oktober 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 32 von 43

6.5.4. Religion in der Außenpolitik Saudi-Arabiens Die Verbreitung des sunnitischen Islam weltweit ist ein wichtiger Grundsatz des Wahhabismus und des saudischen Bildungssystems.156 Schätzungen zufolge hat Saudi- Arabien seit 1979 – dem Jahr der islamischen Revolution im schiitischen Iran – Milliarden ausgegeben, um seine wahhabitische Ideologie durch gemeinnützige Stiftungen zu fördern. Die Stiftungen haben Bildungsinstitute und religiöse Einrichtungen sowie Krankenhäuser in Süd- und Südostasien, im Nahen Osten, in Nordafrika, in der Sahelzone und in den Balkanländern finanziert.157 In einigen Fällen wurden Mittel zur Unterstützung terroristischer Organisationen umgeleitet, dies hat zu den Beschuldigungen beigetragen, Saudi-Arabien finanziere den Terrorismus. Gleichzeitig hat sich durch die puritanische Form des Islam, den diese gemeinnützigen Stiftungen fördern, das Gesicht des Islam158 in vielen muslimischen Gemeinschaften weltweit verändert.159 Mittlerweile wurde mit einem königlichen saudischen Dekret die Finanzierung von Religionsschulen, Moscheen, Hassliteratur und sonstigen Tätigkeiten außerhalb Saudi-Arabiens, die religiöse Intoleranz und Gewalt gegenüber Nichtmuslimen und nicht den Konventionen entsprechenden Muslimen unterstützen, untersagt.160 Zudem wurden Maßnahmen ergriffen, um Reisen umstrittener, in Saudi-Arabien ansässiger Geistlicher ins Ausland zu unterbinden und das scheinbare oder tatsächliche Eingreifen in Saudi-Arabien ansässiger Geistlicher in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zu verhindern.161 Vor dem Hintergrund der Bürgerkriege im Irak,162 in Syrien und im Jemen hat die saudische Unterstützung für eine Seite des Konflikts eine andere, konfessionelle Dimension, mit der einer Ausbreitung des schiitischen Islam Einhalt geboten und der Einfluss seiner iranischen Unterstützer begrenzt werden soll. 6.6. Türkei Jahrzehntelang wurde das säkulare Modell der Türkei mit dem französischen Modell verglichen. Die Verwendung des Worts laïcité (oder Weltlichkeit) ist jedoch irreführend: im Falle Frankreichs verkörpert es die gegenseitige Unabhängigkeit von Staat und Religion. In der Türkei ist die Unabhängigkeit einseitig, da der Staat zwar unabhängig von der Religion ist, jedoch aktiv an der täglichen Verwaltung der verschiedenen Religionen beteiligt ist. Beim französischen Modell fördert der Staat keine Religion, da alle Religionen als gleich gelten, beim türkischen Modell wird der sunnitische Islam de facto vom Staat unterstützt. Religiöse Symbole wie Kopftücher waren in Schulen und staatlichen Einrichtungen verboten, in den letzten 15 Jahren wurde diese Auslegung des Säkuralismus jedoch von der AKP abgemildert. 6.6.1. Religionsdemografie der Türkei Die Türkei legt wie Frankreich keine genauen Statistiken über die Religionszugehörigkeit ihrer 79 Millionen Bürger vor, auch wenn die Religionszugehörigkeit normalerweise auf

156 Stephen Stalinsky: Preliminary Overview - Saudi Arabia's Education System: Curriculum, Spreading Saudi Education to the World and the Official Saudi Position on Education Policy. The Middle East Research Institute, 20. Dezember 2002. 157 Claude Moniquet: The involvement of Salafi/ in the support and supply of arms to rebel groups around the world. Europäisches Parlament, 2013. 158 Carlotta Gall: How Kosovo Was Turned Into Fertile Ground for ISIS. New York Times, 21. Mai 2016. 159 Stephen Kinzer: Saudi Arabia is destabilizing the world. The Boston Globe, 11. Juni 2017. 160 United States Commission on International Religious Freedom: Annual Report on Saudi Arabia, 2017. 161 US Department of State: Saudi Arabia International Religious Freedom Report, 2016. 162 Patrick Cockburn: We finally know what Hillary Clinton knew all along – US allies Saudi Arabia and Qatar are funding ISIS. The Independent, 14. Oktober 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 33 von 43

den Personalausweisen angegeben ist. Die Bevölkerung besteht zu 98 % oder 99 % aus Muslimen, hauptsächlich hanafitischen Sunniten.163 Unter den türkischen Muslimen bilden die Aleviten164 eine große Minderheit (zwischen 15 und 20 Millionen). Unter den Gelehrten gibt es Diskussionen über den Status des Alevitentums als unorthodoxem Zweig des sunnitischen Islam, als Teil des schiitischen Islam oder als unabhängige Version des Islam. Die schiitische Gemeinschaft in der Türkei umfasst etwa drei Millio- nen Gläubige, zumeist Zwölfer-Schiiten. Es gibt auch eine kleinere Anzahl anderer Religionen: Juden (17 000), armenisch- orthodoxe Christen165 (90 000, darunter 60 000 türkische Bürger), römisch-katholische Christen (25 000), syrisch-orthodoxe Christen (20 000),166 Jesiden167 (22 000, 17 000 von ihnen sind seit 2014 aus Syrien gekommen), Bahai (10 000) und weniger als 2 000 griechisch-orthodoxe Christen. 6.6.2. Religionsdynamik Während der osmanischen Zeit und in den ersten Jahren der Türkischen Republik gab es eine relativ große Vielfalt der Religionen in der Türkei. Durch den Bevölkerungsaustausch mit Griechenland im Jahr 1923 (als 1,2 Millionen Griechen die Türkei verließen und nach Griechenland gingen) und der Vertreibung der verbleibenden Griechen in den 1950er- und 1960er-Jahren, wurde die Türkei zu einem Land, das für den Säkularismus eintrat, aber eine große muslimische Mehrheit besaß. In den letzten Jahren hat die Zahl der religiösen Minderheiten wieder zugenommen, hauptsächlich aufgrund der Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien. 6.6.3. Verbindung zwischen Staat und Religion Die Türkei ist ein säkularer Staat, die Verfassung sieht Religionsfreiheit vor. Dennoch wird die Religion vom Staat über ein kompliziertes Anerkennungssystem geregelt. Das dem Büro des Ministerpräsidenten unterstellte Diyanet İşleri Başkanlığı (Präsidium für Religionsangelegenheiten) koordiniert religiöse Fragen, verwaltet Gebetsstätten in der Türkei und im Ausland und fördert den Islam. Das Diyanet organisiert die Ausbildung von Imamen, überwacht die Predigt, die in den über 80 000 Moscheen des Landes jede Woche verlesen wird, und bezahlt die Gehälter der Imame. Seit 2006 hat sich der Haushalt des Diyanet vervierfacht (auf etwa 2 Mrd. USD im Jahr 2016),168 die Rolle der Behörde hat sich von der Steuerung der Religion durch den säkularen Staat hin zu einer stärkeren Gewichtung der Förderung des Islam verändert. Die Anzahl der Beamten im

163 Die hanafitische Schule ist eine der vier wichtigsten Rechtsschulen des sunnitischen Islam und die größte weltweit. 164 Das Alevitentum unterhält Verbindungen sowohl zur Zwölfer-Schia, die Ali als den rechtmäßigen Nachfolger des Propheten anerkennt, auf den 12 Imame folgten, als auch zum sunnitischen Islam. Im Gegensatz zu anderen Zweigen des Islam verwenden die Aleviten Wein und Musik in ihrem Gottesdienst, beten nicht fünfmal täglich und betrachten die Pilgerreise nach Mekka nicht als Pflicht. Sie praktizieren eher in Versammlungshäusern als in normalen Moscheen; Männer und Frauen sind während der Zeremonie nicht getrennt. 165 Die armenisch-apostolische Kirche, auch als gregorianische Kirche oder armenisch-orthodoxe Kirche bezeichnet, ist die nationale Kirche Armeniens und Teil der orthodoxen Familie. 166 Die syrisch-orthodoxe Kirche ist eine selbstverwaltete Kirche der orthodoxen Familie. 167 Das Jesidentum wird hauptsächlich von Kurden im Nahen Osten praktiziert. Es ist ein monotheistischer Glaube mit alten iranischen Wurzeln (möglicherweise mit dem Mithrakult verbunden) und Elementen aus dem sunnitischen Glauben. Ihr wichtigster Tempel befindet sich in Lalisch im irakischen Kurdistan. Aufgrund der Kriege im Irak seit 2003 und der Entstehung des IS mussten die Jesiden in die Türkei oder nach Westeuropa auswandern. 168 David Lepeska: Turkey Casts the Diyanet. Foreign Affairs, 17. Mai 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 34 von 43

Diyanet hat sich auf 150 000 verdoppelt, sein Budget liegt um 40 % über dem des Innenministeriums. Das Strafgesetzbuch untersagt Imamen und religiösen Führern die Kritik oder Verunglimpfung der Regierung oder der staatlichen Gesetze, es gibt gesetzliche Beschränkungen im Hinblick auf die Beleidigung von Religionen. Andere Religionen, einschließlich der nichthanafitischen Sunniten, müssen selbst für ihren Unterhalt sorgen,169 zuweilen werden sie in ihrer Glaubensfreiheit behindert. Die rechtliche Anerkennung von Führung, Strukturen und Besitz ist häufig ein Problem, für nichtmuslimische Religionen ebenso wie für Aleviten. Daran zeigt sich der besondere Status des sunnitischen Islam in der Türkei. Religionsunterricht ist Pflicht, der sunnitische Islam wird dabei jedoch in der Regel bevorzugt. Anerkannte religiöse Minderheiten können ausgenommen werden und dürfen teilweise Unterricht in ihrer eigenen Religion erteilen, nicht jedoch Aleviten, nichtsunnitische Muslime, Bahai, Jesiden, Agnostiker oder Atheisten. Das einzige griechisch-orthodoxe Seminar in Halki wurde im Jahr 1971 geschlossen und bislang nicht wieder geöffnet. Die Regierung hat jedoch auch einige positive Schritte eingeleitet: religiösen Gruppen wurde Eigentum zurückgegeben, griechisch-orthodoxen Metropoliten wurde die doppelte Staatsbürgerschaft gewährt, um am Heiligen Synod teilnehmen zu können, die Lehrpläne der Schulen wurden überarbeitet, um einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nachzukommen, das die gleichberechtigte Vertretung der Religionen sicherstellen soll. 6.6.4. Religion in der Außenpolitik der Türkei Seit 1983 hat das Diyanet eine diplomatische Abteilung zur Überwachung des türkischen Islam im Ausland,170 durch diese Entwicklung hat die Türkei eine Rolle bei der Gestaltung des Islam in vielen europäischen Ländern, darunter in Deutschland, übernommen. Seit Jahren wird diese Politik von Experten171 als einer der Gründe für die geringe Radikalisierung unter türkischen Gemeinschaften im Ausland betrachtet. In Ländern wie Belgien wird der türkischen Gemeinschaft meistens ein türkischer Imam, den das Diyanet entsendet, in einer Moschee zur Verfügung gestellt, die ebenfalls das Diyanet betreibt.172 Die Türkei, ein offiziell säkularer Staat, fördert somit den Islam im Ausland. Die Türkei ist Mitglied einiger internationaler religiöser Organisationen, darunter der Organisation für islamische Zusammenarbeit. Bei der humanitären Hilfe und Entwicklungspolitik in den Balkanstaaten, im Nahen Osten und in Afrika, vor allem in Somalia, legt das Land den Schwerpunkt auf islamische Solidarität.173 Die Türkei setzt sich für eine Reform der Charta der Vereinten Nationen ein, um eine muslimische Nation als ständiges Mitglied in den VN-Sicherheitsrat aufzunehmen. Die Religionszugehörigkeit

169 Diese Ungleichstellung hat zu Beschwerden über Diskriminierung geführt. Im Jahr 2016 zahlte die Regierung die Betriebskosten der meisten Moscheen, aber auch von 419 Gebetsstätten von Minderheiten. 170 Leela Jacinto: Turkey's Post-Coup Crisis Arrives in Europe, Dividing the Diaspora. France 24, 2. August 2016. 171 Leela Jacinto: Morocco's Outlaw Country Is the Heartland of Global Terrorism. Foreign Policy, 7. April 2016. 172 Didier Leroy und Joost Hiltermann: Why Belgium?. The New York Review of Books, 24. März 2016. 173 Philippe Perchoc: Turkish Humanitarian Policy: An Emerging Donor. EPRS, European Parliament, 17. Mai 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 35 von 43

der Türkei hält das Land jedoch nicht davon ab, eng mit Partnern anderer Glaubensrichtungen wie Israel oder den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten. 6.7. Ukraine 6.7.1. Religionsdemografie der Ukraine In der Ukraine – einem vorherrschend christlich-orthodoxen Land, das vor dem Hintergrund der offiziell atheistischen Sowjet-Ära eine hohe Religiosität aufweist – gibt es drei orthodoxe Glaubensgemeinschaften: die ukrainisch-orthodoxe Kirche unter dem Patriarchat von Moskau (UOC-MP), die ukrainisch-orthodoxe Kirche (UOC-KP) unter dem Patriarchat von Kiew und die ukrainische autokephale orthodoxe Kirche (UAOC), ursprünglich eine (von Moskau) abtrünnige Kirche in der Sowjet-Ära. Ein weiterer wichtiger Akteur ist die ukrainische griechisch-katholische Kirche (UGCC), die orthodoxe Riten pflegt, aber auch die Autorität des Papstes in Rom anerkennt.174 Die orthodoxen Zweige in Moskau und Kiew entwickelten im Mittelalter voneinander getrennte und unterschiedliche Traditionen; der russische Zar vereinigte die beiden Kirchen im Jahr 1686 nach Begründung einer politischen Union mit der Ukraine. Die UOC-KP erlangte im Jahr 1992 nach der politischen Unabhängigkeit der Ukraine die Autokephalie.175 In einer Umfrage aus dem Jahr 2015176 bezeichneten sich 73,7 % der Befragten als orthodoxe Christen. Unter diesen bekennen sich 37,9 % zur UOC-KP, 19,6 % zur UOC-MP und 39,1 % bezeichnen sich als „nur orthodox“. In der ukrainischen Bevölkerung gibt es 8,1 % griechisch-katholische, 0,8 % römisch-katholische Christen, 0,9 % Protestanten und 0,7 % „sonstige religiöse Gruppen“. Unter den Umfrageteilnehmern erklärten 8,5 %, sie seien „nur Christen“ und 6,1 %, sie gehörten keiner religiösen Gruppe an.

Abbildung 6 – Orthodoxie in der Ukraine

50% 40% 30% 20% 10% 0% Ukrainisch-Orthodoxe Ukrainisch-Orthodoxe Ukrainische Autokephale Nur orthodox Kirche (Moskauer Kirche (Kiewer Orthodoxe Kirche Patriarchat) Patriarchat)

2000 2005 2010 2013 2014 2016

Datenquelle: Kyiv Post, Juni 2016.

174 Encyclopaedia Britannica: Ukrainian Greek Catholic Church, abgerufen am 9. Oktober 2017. 175 Church and Religion in Ukraine: The Religious Dimension of the Current Conflict. Radbout University, Institute of Eastern Christian Studies, September 2016. 176 Nationale Umfrage von Februar 2015, durchgeführt von den unabhängigen Meinungsforschungsinstituten Center for Social and Marketing Research, SOCIS, Sociological Groups Ratin, Kyiv International Institute of Sociology und Razumkov Center. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 36 von 43

6.7.2. Religionsdynamik Die Bedeutung von Kirchen als Instrumente öffentlicher Diplomatie hat parallel mit dem sich in der Ukraine entwickelnden Konflikt zugenommen. Die Gemeinschaften, die sich als nicht zum Moskauer Patriarchat gehörend bezeichnen – die UOC-KP und die UAOC – werden weiterhin nicht anerkannt, da sich das Moskauer Patriarchat weigert, sie als autokephal anzuerkennen, und auch keine andere orthodoxe Kirche dies getan hat. Die UAOC spielte bei der Erstgründung der UOC-KP eine Rolle, blieb aber aus internen Gründen von ihr getrennt. Patriarch Filaret (mit weltlichem Namen Mykhailo Denysenko, derzeitiges Oberhaupt der UOC-KP und ehemaliger russisch-orthodoxer Bischof) hat die UOC-KP zu einer starken religiösen Gemeinschaft sowie zu einem proukrainischen zivilgesellschaftlichen Akteur gemacht. Zudem stieß das Drängen der ukrainischen Gesetzgeber, die Tätigkeiten der UOC-MP zu regeln und eine unabhängige orthodoxe Kirche für die Ukraine zu schaffen, auf den Widerstand von Kräften, die das Moskauer Patriarchat unterstützen.177 Im Februar 2016 kam es zu einem historischen Treffen zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill in Kuba als Teil der Bemühungen der katholischen Kirche, die historische Spaltung mit der orthodoxen Kirche zu überwinden.178 Analysten betrachten die ausdrückliche Billigung dieses Treffens durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin als geopolitischen Spielzug zur Verbesserung der Stellung Russlands, was Besorgnis in der Ukraine auslöste. Trotz dieser Annäherung sieht das Russische Patriarchat in Moskau die UGCC und ihre Loyalität gegenüber dem Vatikan weiterhin mit Argwohn; sie beschuldigt die UGCC, einen Keil zwischen die orthodoxen Christen und die Katholiken zu treiben, und behauptet, die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine positioniere sich immer wieder als Kraft, die Feindschaft und Hass verbreite und die Aussöhnung zwischen Osten und Westen systematisch verhindere.179 6.7.3. Verbindung zwischen Staat und Religion Wie bereits festgestellt, sind die Gräben zwischen den Religionen seit 2014 tiefer geworden. Die orthodoxen Kirchen der Ukraine sind entlang der politischen Grenzen des Landes gespalten, diese Tendenz hat sich während der Maidan-Revolution verschärft. Die UOC-KP hat sich während der Proteste als starker proukrainischer Akteur erwiesen. Die Demonstranten hatten sich im November 2013 zwar ursprünglich von politischen und religiösen Akteuren distanziert, doch das Kiewer Patriarchat schritt ein, als die öffentlichen Versammlungen in Gewalt umschlugen. Das Sankt-Michael-Kloster bot den Verletzten einen Zufluchtsort und kurze Zeit später errichteten geistliche Führer verschiedener Glaubensrichtungen (darunter einige vom Moskauer Patriarchat) Zelte zur geistlichen Betreuung der Demonstranten. Aufgrund der aktiven Rolle der UOC-KP bei der Unterstützung der Demonstranten und Russlands Unterstützung für die separatistische Bewegung im Osten, ist die Gefolgschaft des Kiewer Patriarchats in den letzten Jahren stärker gewachsen als in der gesamten Zeit seit dem Ende des Kommunismus.180 Einer Umfrage des Kiev International Institute of Sociology aus dem

177 Ukrainian anti-Russian Church bills run into resistance. BBC Monitoring, 5. Juni 2017. 178 Why meeting between pope and Russian church leader is a big deal. The Christian Science Monitor, 6. Februar 2016. 179 Russian Church: Ukrainian Greek Catholic Church is stumbling block in East-West relations. Tass, 2. August 2016. 180 Thanks to Russia, Ukrainians Swell Ranks of Kyiv Patriarchate. Atlantic Council, 22. Juni 2016. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 37 von 43

Jahr 2016 zufolge stuften 60 % der Befragten die Kirche (ohne nähere Bezeichnung) als die ukrainische Institution ein, der sie am meisten vertrauen. 6.7.4. Religion in der Außenpolitik der Ukraine Auch wenn der Konflikt in der Ostukraine weiterhin eher von politischen als von religiösen Faktoren bestimmt wird, haben religiöse Identitäten doch die Gräben vertieft und dienen Milizen in der Ostukraine dazu, angebliche Feinde auszumachen. Das Moskauer Patriarchat ist weiterhin intern in ein prorussisches und ein antirussisches Lager gespalten und hat beide Seiten zur Beendigung der Gewalt aufgerufen. In der ukrainischen Öffentlichkeit wird es jedoch als Unterstützer der Separatisten wahrgenommen.181 Am 16. Mai 2014 veröffentlichten Vertreter der selbst ernannten Volksrepublik Donezk eine „Verfassung“, der zufolge der orthodoxe Glaube, wie ihn die russisch-orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) bekennt, der führende und vorherrschende Glaube ist. Das historische Erbe und die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) werden anerkannt und respektiert, einschließlich der Doktrin der „Russischen Welt“.182 Priester im Donbass haben öffentlich für die Separatisten gebetet,183 der Moskauer Patriarch Kirill I. stellte den Konflikt in einem Schreiben an den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. in Istanbul im Jahr 2014 als Religionskrieg dar. Einem Bericht über die Rolle der Religion im bewaffneten Konflikt in der Ostukraine von 2015 zufolge, den das Center for Civil Liberties und International Partnership for Human Rights erstellten, haben separatistische Milizen gewalt- orientierte, religiöse Führer aus der OUC-KP, der protestantischen Kirche und der UGCC.184 Alle orthodoxen Glaubensgemeinschaften in der Ukraine haben eine konservative Einstellung gegenüber LGBT, und dies in einem Land, das im Hinblick auf die Akzeptanz von LGBT bereits am unteren Ende in Europa rangiert. Im politischen Bereich hat sich die UOC-KP jedoch als proeuropäische Kraft positioniert, die über den renommierten Gesamtukrainischen Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften (AUCCRO) Kontakt zu europäischen Organisationen sucht, um im Ausland für die Ukraine zu sensibilisieren. Im Juni 2015 besuchte eine Delegation des AUCCRO Berlin und traf den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, sowie Vertreter einer Gruppe der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Im März 2016 besuchte der AUCCRO vor dem Referendum über das Assoziierungs- abkommen zwischen der EU und der Ukraine die Niederlande. Das Fehlen führender Vertreter der UAOC und der UOC-MP ließ darauf schließen, dass bei der Frage einer europafreundlichen Ukraine politische Spaltungen möglicherweise nicht überwunden werden können. Eine Delegation des AUCCRO hielt im Mai 2017 in Straßburg Treffen auf hoher Ebene mit dem EP, dem Europarat und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ab. Im September 2017 fand in Kiew eine Konferenz zum Thema „The role of religion in European integration – from the perspective of Ukraine and the

181 A. Hug: The EU's Eastern Partnership God problem. November 2015. 182 When God becomes the weapon, Persecution based on religious beliefs in the armed conflict in Eastern Ukraine. Bericht des Center for Civil Liberties und von International Partnership for Human Rights, April 2015. 183 'Rebel priest' prays for Ukraine gunmen, denies doing more. Reuters, 29. April 2014. 184 When God becomes the weapon, Persecution based on religious beliefs in the armed conflict in Eastern Ukraine. Bericht des Center for Civil Liberties und von International Partnership for Human Rights, April 2015. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 38 von 43

European Union“ statt, an der der AUCCRO und Mitglieder der Europäischen Volkspartei teilnahmen.185 6.8. Vereinigte Staaten von Amerika Die Vereinigten Staaten sind ein religiös vielfältiges und pluralistisches Land, in dem mehrere christliche Kirchen neben anderen Religionen wie Islam und Hinduismus bestehen. Die freie Religionsausübung ist in der US-amerikanischen Verfassung und im „Religious Freedom Restoration Act“ festgeschrieben. In der Außenpolitik setzen sich die USA für die Förderung der Religionsfreiheit weltweit ein, sie spielen in diesem Bereich der internationalen Politik eine führende Rolle. 6.8.1. Religionsdemografie Im Jahr 2016 wurde die Bevölkerung der USA auf 324,6 Millionen geschätzt.186 Laut der Pew Research Center's Religious Landscape Study,187 die auf einer Stichprobe von 35 000 Amerikanern aus allen 50 Staaten basiert, die nach ihrer Religionszugehörigkeit, ihrem religiösen Glauben und ihren religiösen Praktiken befragt wurden, sind die wichtigsten religiösen Gruppen in den USA folgende: 70,6 % Christen (davon 25,4 % evangelikale Protestanten, 14,7 % Mainline-Protestanten, 6,5 % schwarze Protestanten, 20,8 % Katholiken; 1,6 % Mormonen,188 0,5 % orthodoxe Christen, 0,8 % Zeugen Jehovas und 0,4 % sonstige christliche Konfessionen). Von den 6,0 % Amerikanern, die sich zu einem nichtchristlichen Glauben bekennen, sind 1,9 % Juden, 0,9 % Muslime, 0,7 % Buddhisten und 0,7 % Hindu. Die übrigen 22,8 % erklären, keiner Religion anzugehören (Agnostiker oder Atheisten). 6.8.2. Verbindung zwischen Staat und Religion Dem 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zufolge darf der Kongress kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat oder die freie Religionsausübung verbietet. Der Regierung ist es durch die Verfassung somit untersagt, eine offizielle Religion einzuführen und Maßnahmen zu erlassen, die eine Religion übermäßig begünstigen. Rechtswissenschaftlern zufolge bedeutet dies auch, dass eine Religion einer Nichtreligion beziehungsweise eine Nichtreligion einer Religion nicht ungerechtfertigt vorgezogen werden darf. Mit dem zweiten Teil des Zusatzartikels, der „Free Exercise Clause“ (Ausübungsklausel), wird amerikanischen Bürgern das Recht eingeräumt, jeden religiösen Glauben anzunehmen189 und religiöse Bräuche zu befolgen. In Artikel VI der Verfassung heißt es zudem, dass für die Qualifizierung für ein Amt oder eine öffentliche Vertrauensstellung in den Vereinigten Staaten niemals eine religiöse Prüfung vorgeschrieben werden darf.190 Obwohl dies dem Geist der US-amerikanischen Verfassung zuwiderläuft, die keinen ausdrücklichen Verweis auf Gott oder das Göttliche enthält, nehmen alle 50 Verfas- sungen der amerikanischen Bundesstaaten auf Gott Bezug.191 In sieben Staaten ist es

185 Member of the European Parliament and AUCCRO discuss the role of religion in society, Religious Information Service of Ukraine, 22. September 2017. 186 CIA World Factbook. 187 Pew Research Center: Religious Landscape Study. 188 Der offizielle Name der mormonischen Kirche lautet „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“. 189 Legal Information Institute: Free Exercise Clause. 190 Legal Information Institute: US Constitution. 191 Aleksandra Sandstrom: God or the divine is referenced in every state constitution. Pew Research Center, 7. August 2017. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 39 von 43

Personen, die nicht an Gott glauben, gemäß der Verfassung sogar verboten, ein öffentliches Amt auszuüben.192 Über die Bestimmungen der Verfassung hinaus ist die freie Religionsausübung durch den „Religious Freedom Restoration Act“ von 1993193 geschützt. In neun Staaten steht der Erlass von Rechtsvorschriften zum Religious Freedom Restoration Act (RFRA) 2017 noch aus. 6.8.3. Religion in der US-amerikanischen Außenpolitik Gemäß dem „International Religious Freedom Act (IRFA)“ von 1998 bestehen zwei Ziele der US-amerikanischen Außenpolitik darin, Verletzungen der Religionsfreiheit zu verurteilen und das Grundrecht der Religionsfreiheit zu fördern sowie andere Regierungen bei der Förderung dieses Rechts zu unterstützen; ferner sollen der Sicherheitsbeistand und die Entwicklungshilfe der USA gezielt Regierungen zur Verfügung gestellt werden, die keine schwerwiegenden Verletzungen des Rechts auf Religionsfreiheit begangen haben.194 Innerhalb des US-amerikanischen Außenministeriums hat das „Office of International Religious Freedom“195 die Aufgabe, die Religionsfreiheit zu fördern. Es ist dafür zustän- dig, die Verfolgung und Diskriminierung von Religion weltweit zu überwachen, Maßnahmen in den jeweiligen Regionen oder Ländern zu empfehlen und durchzuführen und Programme zur Förderung der Religionsfreiheit zu entwickeln. Der Sonder- botschafter für internationale Religionsfreiheit leitet das Amt. Das Amt ist der institutionelle Ausdruck der Verpflichtung Amerikas gegenüber der Religionsfreiheit und gegenüber den internationalen Übereinkommen, die Religions- freiheit als Recht jedes Menschen garantieren. Das Amt arbeitet bei der Ausübung seiner Aufgaben mit einer Reihe von Instrumenten, dazu gehören ein Jahresbericht über internationale Religionsfreiheit in der Welt, den der US-amerikanische Kongress in Auftrag gibt und der ihm vorgelegt wird;196 die Einstufung von Ländern, die sich besonders schwerer Verletzungen der Religionsfreiheit schuldig gemacht haben, als „Länder mit besorgniserregenden Entwicklungen“ durch den Außenminister;197 Zusammentreffen mit ausländischen Regierungsbeamten sowie mit religiösen Gruppen und Menschenrechtsgruppen in den USA und im Ausland, um Probleme der Religionsfreiheit zu behandeln; Aussagen vor dem Kongress zu Fragen der internationalen Religionsfreiheit; Zusammenarbeit mit der unabhängigen „United States Commission on International Religious Freedom“;198 Finanzierung von Aussöhnungs- programmen bei Konflikten zwischen Gruppen, die aufgrund der religiösen Identität gespalten sind; Unterstützung für NRO.

192 Maryland, Arkansas, Mississippi, North Carolina, South Carolina, Tennessee und Texas. 193 103. Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika, Religious Freedom Restoration Act von 1993. 194 105. Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika, Religious Freedom Restoration Act von 1998. 195 US Department of State: Religious Freedom. 196 Annual Report on International Religious Freedom. 197 Gegen derart eingestufte Länder können die USA weitere Maßnahmen ergreifen, darunter Wirtschaftssanktionen. 198 Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) ist eine unabhängige, parteiübergreifende bundesstaatliche Kommission der USA, die durch den IRFA eingerichtet wurde und das universelle Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit im Ausland überwacht. Die USCIRF gibt politische Empfehlungen gegenüber dem Präsidenten, dem Außenminister und dem Kongress ab. Religion und die auswärtige Politik der EU Seite 40 von 43

2013 richtete das Außenministerium das „Office of Religion and Global Affairs“ (RGA) unter Leitung eines Sonderbeauftragten ein.199 Im RGA arbeiten zudem drei weitere leitende Beamte: der Sondergesandte zur Überwachung und Bekämpfung von Antisemi- tismus, der Sondergesandte für die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) und der Sonderbeauftragte für muslimische Gemeinschaften.200 Im Rahmen der Umset- zung der „National Strategy on Religious Leader and Faith Community Engagement“201 nimmt das RGA folgende Aufgaben wahr: Beratung der Führungsebene des Außen- ministeriums zu politischen Fragen im Zusammenhang mit Religion; Unterstützung staatlicher Stellen bei der Bewertung der Religionsdynamik und Einbeziehung religiöser Akteure; Anlaufstelle für alle, die das Außenministerium in Fragen von Religion und internationalen Angelegenheiten einbeziehen wollen.

199 Office of Religion and Global Affairs. 200 Die US-amerikanische Politik der Einbeziehung von Religion hat bei Rechtswissenschaftlern unterschiedliche kritische Reaktionen ausgelöst. Roberto Bosco vertritt beispielsweise die Ansicht, dass die globale Strategie der USA zur Mäßigung des Islam, mit der Bündnisse mit Schlüsselstaaten begründet und die Religionsfreiheit gefördert werden sollen, relativ erfolgreich war. 201 National Strategy on Religious Leader and Faith Community Engagement.

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