Owen Hatherley – These Glory Days Owen Hatherley ist freier Autor, lebt in London und schreibt vor allem über politische Ästhetik. Veröffentlichungen: »Mili- tant Modernism« 2009, »A Guide to the New Ruins of Great Britain« 2010, »A New Kind of Bleak« 2012. Titel der Originalausgabe: »Uncommon. An Essay on Pulp«, Zero Books, Winchester, Washington 2011. Copyright © Owen Hatherley, 2011.

Edition TIAMAT Deutsche Erstveröffentlichung Herausgeber: Klaus Bittermann 1. Auflage: Berlin 2012 © Verlag Klaus Bittermann www.edition-tiamat.de Buchumschlag unter Verwendung eines Fotos von Andrew Cotterill © Getty Images ISBN: 978-3-89320-168-6 Owen Hatherley These Glory Days

Ein Essay über Pulp und

Aus dem Englischen von Sylvia Prahl

Critica Diabolis 199

Edition TIAMAT

INHALT

Intro – 7

Über Freaks und Männer – 33

Kinder, die auf den Fluren von Meadowhall gezeugt wurden – 51

Wohlhabende gegen Habenichtse – 85

Das geht da rein – 117

Glückliches Ende – 143

Danksagung – 167

Intro

»Das wegen der vulkanischen Staubwolke verhängte Flugverbot führte zu den unvermeidlichen Beschwörun- gen des Geistes von Dünkirchen: ›Kleine Schiffe‹ legten von den Häfen des Ärmelkanals ab, um die gestrandeten ›Brits‹ nach Hause zu schippern. Es erinnert daran, wie irritierend der Zweite Weltkrieg gewesen sein muss, hat er doch rechthaberischen Typen geradezu unbegrenzte Möglichkeiten gegeben, sich als Möchtegern-Helden zu inszenieren, während jeder andere einfach nur versuch- te, irgendwie über die Runden zu kommen. ›Brits‹. Die- ses kleine tapfere Wort verrät so viel darüber, was seit Mrs Thatcher hassenswert ist auf dieser Welt.« Alan Bennett, Tagebücher , 19. April 2010

»Was, wenn du niemals runter kommst?«

Dieses Buch erzählt eine der eindrucksvollsten Ge- schichten von Aufstieg und Fall in der Geschichte der Popmusik – von einer Band, die aus trostlosesten Ver- hältnissen kam und unwahrscheinlich erfolgreich wurde, nur um dann ähnlich grandios zu scheitern. Pulp gründe- ten sich 1979 in und veröffentlichten 1983, 1987 und 1992 drei seltsame, morbide Alben, die kom- merziell keinerlei Erfolg hatten. 1994 wurde die Band plötzlich und unerwartet berühmt, und ihr Sänger Jarvis Cocker war nun so bekannt, dass er von allen nur noch beim Vornamen genannt wurde. 1995 und 1996 landeten einige ihrer Singles auf dem zweiten Platz der Hitparade,

7 ein Album auf dem ersten, und ein Vorfall auf einer Preisverleihung bescherte ihnen eine geradezu notorische Berühmtheit. Als sie dann 1998 erneut auf der Bildfläche erschienen, haben es ihre Singles nicht mal mehr in die Top 20 geschafft. Ihre Alben erhielten zwar allseits gute Kritiken, verkauften sich aber kaum. Ihr letzter Seufzer, ein augenzwinkernd tiefstapelnd betiteltes Greatest-Hits- Album namens Hits schaffte es gerade noch in die Charts. Als sich Pulp 2002 schließlich (vorläufig) auflösten, wirkte es fast so, als könne sich kaum noch jemand an sie erinnern. Viele ihrer Zeitgenossen machten unverdrossen weiter, brachten entweder Konzept-Alben heraus – die meisten Bands verzichteten jedoch darauf, die vorher so angesagten Pseudo-Cockney-Akzente zu benutzen –, oder sie lieferten gleich eintönigen Pubrock mit rätselhaft andauerndem Erfolg. Jarvis Cocker überdauerte als na- tionales Kulturgut, obwohl sich scheinbar kaum jemand daran erinnern konnte, weshalb er noch mal berühmt war – Pulp jedoch waren von der Bildfläche verschwunden, wie es schien, ohne die Welt auch nur im Geringsten verändert zu haben. Ich werde in diesem Buch belegen, dass Pulp die letz- ten ihrer Art waren. Ihr Aufstieg und Fall spiegelt das Schicksal einer langen Reihe von Musikern wider. Seit den frühen siebziger Jahren reüssierten in Großbritannien zahlreiche Bands und Künstler, die aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht stammten. Sie haben Kunsthochschulen besucht, staatliche Förderungen bezo- gen und lebten in möblierten Zimmern oder Sozialwoh- nungen, bis sie sich nur wenige Monate später in Fünf- Sterne-Hotels wiederfanden. The Kinks, David Bowie, Roxy Music, Japan, The Associates, Soft Cell, Kate Bush, Pet Shop Boys, The Smiths, und andere – alle Ge- nannten vereinten auf mysteriöse Weise so gegenläufige Themen wie Sexualität und Bildung, Größenwahn und Rechtschaffenheit, Ehrgeiz und Klassenressentiments.

8 Sie schafften es, all das zu glaubwürdiger Musik zu ver- arbeiten, die erstaunlicherweise den Geschmack der Mas- sen traf. Es war möglich, ihre Songtexte zu lesen, ohne peinlich berührt zu sein, und in den meisten Fällen konnte man sogar zu dieser Musik tanzen – und musste nicht mit den Armen rudern oder herumspringen. Ir- gendwann in den Neunzigern verschwand diese Poptra- dition mit intellektuellen und experimentellen Bezügen, die völlig unpassend unter dem Label »Indie« subsumiert wurde, auf der Höhe ihres Erfolgs von der Bildfläche. Dafür gibt es einige Gründe. Der Bezug von Arbeitslo- sengeld als Haupteinnahmequelle von Musikern wurde durch verpflichtende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen er- schwert, Sozialwohnungen wurden nur noch an wirklich Bedürftige vergeben und besetzte Häuser wurden sofort geräumt. Außerdem war die an den Kunsthochschulen gepflegte Allianz zwischen der Kunstszene und der jun- gen Arbeiterklasse längst zerbrochen. Mit dem Ergebnis, dass nicht nur alle Musiker den gleichen sozialen Status hatten, sondern auch der Sound der Musik zum Einheits- brei verkam. 2010 hatten laut einer Statistik 60 Prozent der in den Top Ten vertretenen britischen Künstler eine Privatschule besucht – im Jahr 1990 war es nur ein Pro- zent. Der Status von Pulp als letzte Band ihrer Art kann auch daran festgemacht werden, dass sie eigentlich keine Nachfolger hatten. In der oben angeführten Liste finden sich viele ihrer Vorläufer, aber eine jüngere Band zu finden, die Pulp explizit zitiert, oder auch nur ihr musi- kalisches Erbe antritt, ist geradezu unmöglich. Ganz am Rande des Spektrums gibt es ein paar Bands, die halb- wegs ins Bild passen. Die Synthie-Primitivlinge von X oder Fat Truckers zeigten einige Anklänge der Pulp’schen Ästhetik und ihres Sounds, ebenso wie die Elektro-Heulsusen Ladytron. Das Album Pickled Eggs and Sherbet der Band The All Seeing I war durch und durch pulpesk, was angesichts der Tatsache, dass Jarvis

9 Cocker die Hälfte der Songs geschrieben hat, auch nicht weiter verwunderlich ist. Einzig The Long Blondes plün- derten Pulps Look und thematische Vorlieben der Jahre 1990 bis 1994. Die ebenfalls aus Sheffield stammende Band wirkte ohnehin wie eine tanzende, heuchlerische und künstliche Hommage an His’n’Hers , dem Pulp- Album von 1994. In den letzten Jahren war bestenfalls das postfordistische Gejammer der Alben SyMptoMs von Mordant Music und North von Darkstar aufgrund der psychologischen und geografischen Nähe zu Pulp Anzei- chen dafür, dass die Ahnenreihe doch noch nicht ganz ausgestorben ist. Aber beide konnten den Privatschulab- solventen in ihnen nicht verhehlen. Verglichen mit den vielen Blur- und Oasis-Epigonen, oder der Postpunk- Revivalband des Jahres 2000, Franz Ferdinand, hinterlie- ßen Pulp keinerlei Vermächtnis. Die Arctic Monkeys ge- hören zu den wenigen englischen Bands, die in den letz- ten zehn Jahren so etwas wie Zeitgeist definierten. Sie sind die einzigen, die mit ihrer nordenglischen Hemds- ärmeligkeit, genauer mit blankem Zynismus und einer durchaus belebenden Wolllust, Vergleiche mit Pulp rechtfertigen. Aber weder ihr grindiger funky Rock noch ihre etwas selbstverachtende Rüpelhaftigkeit ähnelten ihren Sheffielder Vorgängern. Dass die oben genannte Ahnenreihe fast verschwunden ist, wird zwar oft beweint, doch Pulp werden nur selten in diesem Zusammenhang erwähnt. Manche rollen mit den Augen, wenn von Pulp gesprochen wird, andere ergehen sich in nostalgieschwangerer Bewunderung, die auf un- angenehme Weise an den Ausverkauf erinnert, den die Kulturindustrie in den neunziger Jahren betrieben hat. Pulp werden nach wie vor entweder komplett abgelehnt, oder sie sind Teil einer »Das Beste der Neunziger«- Erinnerungsmaschinerie. Diese Polarisierung stammt aus der Zeit ihrer größten Erfolge. Pulp waren gewissermaßen die beste englische Pop- band der neunziger Jahre, und sie müssen den Vergleich

10 mit ihren Vorgängern nicht scheuen. Roxy Music ent- wickelten nicht einmal in ihren unterkühltesten Helmut- Newton-Zeiten eine derart zwingende Vision von Erfolg und Opulenz, um sie dann in Anomie und Psychose münden zu lassen – wie Pulp in dem Song »This is Hardcore«. Selbst Morrissey hat keinen so perfekten Rundumschlag wie »Common People« hinbekommen. Die Welt, die sie auf den Alben aus der Zeit von 1990 bis 1994 heraufbeschwören, ist ähnlich obsessiv, sprachlich kompakt und inspiriert wie die von The Fall in ihren be- sten Zeiten. Besonders unter den in den siebziger und achtziger Jahren sozialisierten Kritikern besteht ein Kon- sens, dass sich The Smiths und vielleicht noch die späten My Bloody Valentine in die oben genannte Ahnenreihe stellen dürfen. Dabei wird ganz und gar außer Acht ge- lassen, dass Pulp es 1995 fertig brachten, ein Krautrock- Epos über den Klassenkampf an zweiter Stelle in der Hitparade zu platzieren. Zudem nutzen sie das öffentliche Wohlwollen drei Jahre später dafür, Zehntausende Leute dazu zu bringen, sich mit »This is Hardcore« einen sechsminütigen Grabgesang auf die Amateurpornografie zuzulegen. Einige der Gründe für diese ängstliche Kritik sind ab- solut verständlich: Pulps zweifellos vollführter Zusam- mengang mit diesem schrecklichen Britpop-Spektakel, ihre Retro-Referenzen und Jarvis Cockers doppelbödige Pop-Berühmtheit. Cockers Texte sind komplex und gut recherchiert, er lässt sich dabei von seinen ausgefallenen Vorlieben treiben. Er reimt niemals abstrakt, sondern stets realistisch, wie unversöhnlich dieser Realismus auch sein mag. Es ist kaum vorstellbar, dass Cocker einen Sprung vom Alltäglichen hin zu den wortkargen, bruch- stückhaften Schrecknissen vollführt, wie es sein Idol und späterer Produzent Scott Walker auf dem Album Tilt getan hat. Trotz alledem ist Pulp eine Band, die sehr ernst genommen werden muss. Deswegen werde ich mich in diesem Buch mit den drei Themen befassen, die sich wie

11 ein roter Faden durch Pulps Werk ziehen: Klasse, Sex und urbanes Leben. Doch zunächst müssen Pulp, sozusa- gen als historische Unabwendbarkeit, von dem Verhäng- nis, das über sie gekommen ist, befreit werden.

»Wenn du mich willst, werde ich diese glorreiche Zeit verschlafen«

Von allen Bauernfängereien und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, denen England seit 1979 frönt, ist das musikalische Phänomen Britpop eines der am aller- schlechtesten durchdachten. Je nach Geschmack oder Standpunkt wird Britpop definiert von Bands aus dem Londoner Umland (Blur, Menswear, Elastica, Echobelly, Sleeper – alles Bands, die sich als Möchtegern-Gesell- schaftsversteher gerieren und den Akzent benutzen, der im Gebiet der Themsemündung gesprochen wird) oder South Lancashire (das großmäulige Badewannenpupser- Proletentum von Oasis, Cast, Northern Uproar). Britpop reduzierte englischen – selten schottischen, irischen oder walisischen – Rock zu grenzwertig rassistischer, rhyth- misch träger Musik, die bei allem Optimismus sinnent- leert ist. Flankiert von neuartigen poujadistischen natio- nalen Ressentiments, wirkte Britpop dem Selbstverständ- nis entgegen, das sich Großbritannien als multiethnisch geprägtes Land seit den sechziger Jahren angeeignet hat- te. Der Ethos und die finanziellen Strukturen von Britpop brachten der bisher als »Independent« betitelten Mu- siksparte etwas, das dort lang verachtet wurde. Britpop hatte aber auch gute Momente: die aufrechte, einem Mod-Styling verpflichtete Ablehnung der schlampigen Schlurfigkeit »echter« Indie-Zeitgenossen und der Bruch mit der hochnäsigen Mittelklasse-Verachtung der Indie- Szene gegenüber jeder Massenkultur.

12