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BodyArt –X-

"Einkörperung" und "Entkörperung" als ästhetische Prinzipien

postmoderner Grenzgänge

Dissertation zur Erlangung

des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr.phil.)

an der Universität Kassel

im Fachbereich Kunstwissenschaften

vorgelegt von

Angelika Froh (M.A.)

Datum der Disputation: 23.06.2010

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„ soll die welt vollkommen sein, so muss sie fabriziert werden. und wenn es diese art von unsterblichkeit erlangen will, dann muss auch das menschliche wesen sich als artefact produzieren...“ J. Baudrillard 1996

Für meine Familie

Fotos S.3 u. S.9: Tanztheater KÖRPER Inszenierung von Sasha Waltz, Schaubühne Berlin 22.1.2000

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung 10

1 Die Bedeutung künstlerischer Avantgarden in Zeiten des technischen 22 Umbruchs

1.1 Kennzeichen der Moderne und Grenzszenario –Postmoderne- 23

Ein beispielhafter Exkurs: Abstraktion und Verlust des Originals 24

1.1.1 Postmoderne und postmediale Phänomene 26 Ein beispielhafter Exkurs: schmerzhafte und Körperparadoxien

1.2.1 Die postmodernen Erscheinungen und ihre Prinzipien: 31 populär, polymorph, push the Body

1.2 Die Signatur der postmodernen Kultur - the inspired Body 33

1.2.1 Die Anzeichen des Grenzgänger-Daseins - der überreizte Körper 37

1.2.2 Im Zenith des Crossover – the Body of Generation X 42 Exkurs: Crossover ein postmoderner Manierismus?

1.2.3 Generation-X– postmodern transformed Body by Techno 46 Exkurs: der postindustrielle Mensch nach Hage und Powers (1992)

1.3 Körperkunst und Kunstkörper der Generation X – electronic vibrations 49

1.3.1 Im Bewusstsein eines Patchwork–Daseins 51 Künstlerischer Exkurs: Jana Sterbaks Flesh dress (1987)

1.3.2 Der Körper als Metapher - Indiz für den Zustand einer 54 Gesellschaft

1.3.3 Körperparadoxien: Body or Readymade 56 Künstlerischer Exkurs: Die Körpermetapher bei Felix Gonzales-Torres

2 Selbstkonstruktionen der Generation X = Krisenschauplatz Körper 61

2.1 Realisation von Utopien 63

2.1.1 Der Körper in der raving society - zwischen unity und difference 65 Ein künstlerischer Exkurs: Mariko Mori - beschleunigte Körperideale

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2.1.2 Multimedia als Leitmotiv – ästhetische Reaktionen der BodyArt-X- 68 Exkurs: ästhetische Ansprüche im Wandel

2.2 Körperliche Neuorganisation – postmoderne Übergangssubjekte 71

2.2.1 Zwischen Simulation und Irritation 73 Ein künstlerischer Exkurs: erotische Hyperphantasien à la Hans Bellmer

2.2.2 Auf dem Weg zur Superästhetik 79 Ein künstlerischer Exkurs: Das Chamäleon Cindy Sherman – plastic phantasies

2.2.3 Allianzen zwischen Sinnen und Dingen – 84 inside and outside the body

2.3 Faszination des Anorganischen 87 Exkurs: Symptome einer entfremdeten Gesellschaft

2.3.1 Schnittstellenästhetik 90 Ein künstlerischer Exkurs: Dummy - Philosophie und `s PING BODY

2.3.2 Posthumane Körperkonzepte – Statement veränderter 93 Selbstwahrnehmung

2.3.3 Postmediale Ästhetik als künstlerisches Grenzszenario 96

2.3.4 Ästhetische Herausforderung für eine postmoderne 97 Body Art

2.4 Zeitgenössische Body Art – grenzüberschreitende Selbstkonstruktion 100

2.4.1 Performance versus Werkhaftigkeit 100 Ein künstlerischer Exkurs: FLATZ –Provokateur und Selbstdarsteller, Demontage IX

2.4.2 Projekt versus Subjekt 105 Ein künstlerischer Exkurs: Teresa Margolles „Ich will das Publikum mit der Realität konfrontieren.“

2.4.3 Künstliche Szenarien versus leibliche Ansichten 108

3 Der Körper zwischen Kommunikation und Konsum 109

3.1 Moderne Manipulation – der User zwischen Alltags -und 112 und Computerontologie

3.1.1 Körper-Tuning – simulierte Gemeinschaft und beschleunigte 113 Illusion

3.1.2 Fixierung auf Künstlichkeiten 117

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3.2 Der Körper zwischen Integration und Bemächtigung 120 Exkurs: das Übergangssubjekt – Indiz für den nomadischen Künstler

3.2.1 Kunstbetrachtung zwischen ästhetischer Wahrheit und 124 objektiviertem Selbstverständnis

3.2.2 Grenzästhetik: Kunst zwischen Rezeption und Erkenntnis 125 Exkurs: Was macht die Kunst mit mir – wann stoße ich an Grenzen?

3.3 Von der Krise des Originals – postmediale Überzeichnungen 128 Exkurs: das soziale Netzwerk – kollektive Entpersonalisierung

3.3.1 Neue Synergieeffekte – zeitgeistliche Körperkunst 133

3.3.2 Auswirkungen der medialen Techniken auf menschliches 136 Handeln

3.3.3 BodyArt –X-: Auf dem Weg zu neuen Ordnungen 140 Exkurs: Körperkunst zwischen „Sinnereignis und Sinnkatastrophe“

3.4 Grenzästhetik – Erkenntnis als Handlungsbefähigung 145

3.4.1 Von Angesicht zu Angesicht: ästhetische Rezeption und 147 Erkenntnistheorie

3.4.2 Die Prozesse der Äquilibration nach Piaget 150

3.4.3 Assimilation und Akkomodation als ästhetische Prinzipien 152 der Body Art

3.4.4 BodyArt –X- als Äquilibrationsform 155

3.5 Einkörperung und Entkörperung als Spuren einer anderen Natur 160 Exkurs: Jede Kunst eine „andere Natur“

3.5.1 Body + Mind +Art = Erkenntnisgewinn für das Leben 162 Exkurs: Was kann die Body Art der Gegenwart?

3.5.2 BodyArt –X-: Ästhetik der Überprüfung 165

3.5.3 Der Gegenwartskörper: Speicher und Verwerter von 168 Informationen

3.5.4 Der Körper – ein postmediales Organ der Wahrheit 170

3.5.5 Der Körper – eine dauerhafte Bruchstelle 171

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4 Künstlerische Exkurse zur Thematik der Einkörperung und Entkörperung 173

4.1 Elemente des ästhetischen Prinzips -Einkörperung- 173

4.1.1 Einkörperung: Sehnsucht nach Ganzheit und Schutz 175 Exkurs Damien Hirst – postpostmoderner Körpermythos

4.1.2 Einkörperung: Betonung des Körperfragments 184 Exkurs Paul Thek – Körperspuren und Identitätskern

4.1.3 Einkörperung: Hervorhebung des Verdrängten 186 Exkurs Rachel Whiteread – Verkörperung des Verschwundenen

4.1.4 Körperliche Grenzfälle - zwischen Integration und 191 Neukonstruktion

4.2 Elemente des ästhetischen Prinzips –Entkörperung- 193

4.2.1 Entkörperung: Absonderung des Körpers 195 Exkurs: Stelarc – MaschineMensch - oder vom An- und Ausschalten

4.2.2 Schwellenexistenzen – auf dem Weg zu Neukörpern 201 Exkurs: Orlan –Mobile Körper- Performance als Akt der Entkörperung

4.2.3 Körpererfahrung in Parallelwelten: -Sich–In-Sich- Wohlfühlen 206

Exkurs: Mariko Mori -Future Body– Körperkapseln im Wunderland

Exkurs: Tony Oursler –der Dummy- als menschlicher Stellvertreter

Exkurs: David Blaine –Selbstkultur- zwischen Leben und Tod

5 Die Wahrnehmung des Körpers in der Kunst des 21. Jahrhunderts 216

5.1 Die neuen Arten des „In–der–Welt-Seins" 217 5.2 Euphorie der Gegenwärtigkeit 219 5.3 Körperlichkeit in der postmedialen Kunst: mit oder ohne Body? 222 5.4 Körpererkenntnis: Potenziale der postmedialen Wirklichkeiten 223 5.5 Körpererlebnis: Das provozierte Ungleichgewicht 226

6 Resümee: BodyArt-X- : die Kunst der Widerstandsidentitäten 231

7 Literaturverzeichnis 240

8 Abbildungsverzeichnis 249

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Einleitung

Mit dem Eintritt der Gesellschaft in die postindustrielle Phase des 20.Jahrhunderts kommt es zu einer Demokratisierung der Kultur und zu einer Kulturalisierung der industriellen Produktion. Mit der Geburtsstunde der technischen Massenmedien in den 1990ern scheint im Konflikt zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, der Rolle der Kunst eine entscheidende Bedeutung anzuhaften. Der Mythos einstiger Avantgardebewegungen und die Kultur der Provokation werden abgelöst durch eine Kultur der Banalisierung. Mit dem Vorstoß neuer Kommunikationsmedien werden Sprach- und Handlungsmuster modifiziert und in ökonomische Globalkonzepte integriert. Im Angesicht des 21.Jahrhunderts konzentriert sich die poststrukturelle künstlerische Bewegung auf die Besetzung von Zwischenräumen und die Bildung von künstlerischen Nischen, die sich an dem Bestehenden und den Prozessen des Integrierens orientieren. Die Vitalität des physischen Körpers wird zum Experimentierfeld und unterliegt den immer schneller aufeinanderfolgenden Impulsen der Außenwelt. Auf den ersten Blick scheint die Postmoderne durch den medialen Entwicklungsschub überholt. Offensichtlich folgt der Ungewissheit einstiger Avantgarden tatsächlich ein Gefühl der Ambivalenz. Im Forschungsinteresse steht das vielgestaltige Kunstverständnis, das eindeutig im Zeichen des Crossover steht. Die bewussten Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Kommerz charakterisieren eine neue Generation, die flexibel und provokativ mit den medialen Möglichkeiten operiert.

Rückblickend stellt sich die Frage nach den Phänomenen des Übergangs. Die postmoderne Avantgarde ist für Jean Francois Lyotard noch ein Paradebeispiel für die umsichgreifende „Polymorphie“. Mit der Ausbreitung der Kommunikations- medien kommt es zu einer globalen Vernetzung, die zwar offensichtlich Verbindungen herstellt, gleichzeitig aber auch sinnliche Wahrnehmungen kontrolliert und manipuliert. Die Rationalisierung auf allen Ebenen der postmodernen Entwicklung verursacht eine erhöhte Anpassungsleistung für das Subjekt und bedeutet andererseits die zunehmende Abkehr von den natürlichen, intuitiven Handlungsabläufen. Hieraus lässt sich eine grundlegende These für die Zwiespältigkeit der Subjektbehandlung innerhalb der nachmodernen Kunstproduktion ableiten. Für die Kunst der Body Art bedeutet das Stadium des soziokulturellen Wandels gewissermaßen eine Umbruchsituation, die in den 10 mannigfaltigen und oftmals provokanten Körperbehandlungen zum Ausdruck kommt. Daraus ergibt sich ein kunstwissenschaftliches Interesse, das den Vergleich zu anderen Avantgardebewegungen untersucht, um die neuartigen körperlichen Erscheinungsformen in der Gegenwartskultur zu analysieren. Die anhaltende Technisierung erzeugt beim Individuum ein wahrnehmbares subjektives Dilemma. Augenscheinlich divergieren die Vorstellungen von sich und dem Stellenwert des Körpers in der Gesellschaft. Daraus ergeben sich in der darstellenden Kunst offensichtliche Grenzszenerien, in denen sich das paradoxe Subjektverständnis offenbart.

Das Subjekt ist einerseits die unterdrückende und gestalterische Substanz gegenüber der Natur, zugleich nimmt es die Stellung als überwältigtes Opfer ein, im Sinne der Unterdrückung der inneren Natur.1 (Thorsten Scheer).

Die poststrukturalistischen Theorien und die zunehmende Fixierung auf den Körper erfordern nicht nur die Erforschung der oberflächlichen Phänomene (der äußeren Gestalt), sondern beinhalten gleichsam eine intensive Auseinandersetzung „mit den Fragen nach Identität und Subjektivität eines Individuums.“ Der Körper ist sozusagen in dieser Phase des zeitgeistlichen Übergangs ein geeignetes Anschauungsobjekt für eine kunstwissenschaftliche Diskussion mit den Phänomenen und Diskursen der Kultur der Gegenwart.2 Unter Berücksichtigung einer medial inspirierten Ästhetik wird die postmoderne Body Art unterteilt, in die der körperdistanzierten und der körperaufwertenden Behandlung. Die medientheoretischen Diskurse in Verbindung mit ausgewählten Kunstwerken ermöglichen die detaillierte Analyse einer veränderten Körperkunst und die anschließende Erkenntnisgewinnung.

Die Kunst der Jahrtausendwende und ihre streitbaren Grenzszenarien stehen deshalb im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Überprüfung. Ein wesentlicher Aspekt ist das spezifische Lebensgefühl der Künstlergeneration, die mit dem Kult- und Eventcharakter der Neunziger konfrontiert ist. In den kulturellen Übergangssituationen lassen sich auf der einerseits ein Werteverlust und andererseits eine enthusiastische Neuorientierung erkennen. Die körperliche

1 vgl. Scheer, Thorsten: Postmoderne als kritisches Konzept: die Konkurrenz der Paradigmen in der Kunst seit 1960. München, 1992, S.20

2 s. auch Flach, Sabine: Körper-Szenarien. Zum Verhältnis von Körper und Bild in Videoinstallationen. Wilhelm Fink Verlag. München, 2003, S.13 11

Grenze zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit ist durchlässiger geworden; Leben wird als mechanisiert erfahren und im umgekehrten Zug, die Mechanik im Spiegel des Begehrens humanisiert. Parallel lässt sich durch die verstärkende Verunsicherung des Individuums in seinem technisierten Umfeld das Wiederaufleben von traditionellen Tendenzen wahrnehmen – das Prinzip der Remythologisierung ist in der Kunst, als auch in der Musik, Mode und Literatur sichtbar.

Die Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten überlagert Grenzen und Schnittstellen. Die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf die veränderte Realität fördern die Bildung zahlreicher Subkulturen, die sowohl Tendenzen zur Regression als auch die beunruhigende Stimmung eines utopischen Aufbruchs einschlagen. Der Einfluss der Neuen Medien als instabiles Moment und die gestalterische Euphorie machen sich erst als sogenannte Subkultur bemerkbar und setzen dort die Trends, bevor diese dann von der Gesellschaft als spezifische Kulturerscheinung integriert werden. Gerade die Technokultur der 1990er gehört zu diesen zeitgeistlichen Phänomenen, welche genau die intensive Kooperation von Kunst und Technik widerspiegeln. Das polykulturelle Kunstverständnis, das sämtliche Kunstgattungen wie , Mode, Musik, Performance etc. zu einer Bewegung verschmilzt, demonstriert sowohl den Freiheitsgedanken, als auch die Macht des elektronischen Lebensrhythmus. Eine ganze Generation wird mit dem Pseudonym –X- definiert und markiert damit eine elektronische Erregung, die Electronic Vibrations, die die generationstypische Zwiespältigkeit gegenüber Natur und Technik in sämtlichen kulturellen Bereichen zum Kult erhebt. Zwischen ängstlicher Neuorientierung und der Faszination für das Anorganische werden Auflösung und Fragmentierung zu Grunderfahrungen. Der Körper, the body, und seine Darstellungsformen werden im Angesicht der Überreizung zu einer geeigneten Projektionsfläche für die Einheits- und Geborgenheitsphantasien einer Generation des “in between“. Er fungiert mehr denn zuvor als Schnittstelle zwischen dem Physischen und dem Bild, das man sich von ihm macht. Die Erkenntnis dieser Beobachtung lautet:

Der Körper avanciert in der Gegenwartskunst zum Krisenmotiv – dabei bleibt er nach wie vor das Medium des Realen und Sozialen. Der Körper trägt in der raving society dieses Wechselspiel aus und repräsentiert die Schnittstelle von unity and difference. Für die wissenschaftliche Unterscheidung von Postmoderne und Post- Postmoderne ist die Generation dieses Übergangs anhand ihrer ästhetischen

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Eigenheiten, insbesondere der Körperwahrnehmung und visuellen Ausdrucksformen, ein geeigneter Mikrokosmos, um die melting area der Kunst in ästhetische Reaktionen zu unterteilen. In der Werkvielfalt der postmedialen Avantgarde offenbaren sich - wie schon bei ihren Vorläufern- die Visionen von einem fragmentierten und wieder zusammengefügten Körper. Die Schnittstellen der heterogenen Montageelemente müssen auf ihre mediale Bedingtheit überprüft werden, um die ästhetische Struktur und die Rolle des Unbewussten in den Figurationen des Übergangs sichtbar zu machen. Anstelle der Weltbeobachtung tritt nun die Medienbeobachtung, damit vollzieht sich eine ökonomische Transformation, die auch für die künftige Avantgarde-Kunst des 21.Jahrhunderts zutrifft.

Um den Einfluss der Medientechnik auf die Gesellschaftsstruktur wissenschaftlich zu formulieren, eignet sich die Untersuchung der Kunstszene, die sich in den achtziger und neunziger Jahren neu formiert. Mit dem Begriff –crossculture- werden die grenzüberschreitenden Projekte unter dem Einfluss einer Mixed-Media- Philosophie zusammengefasst. Die Interaktion von Kunst und Medien bewirkt soziologisch einen „posthumanen Sturm“ in den künstlerischen Darstellungsformen. Im Geflecht von Wirklichkeit und Virtualität entsteht eine Dimension, die das künstlerische Potenzial erheblich stimuliert. Die Körperdarstellung in dieser Zeit des Crossover, der zitierten Grenzästhetik, dokumentiert den plötzlichen Wechsel von einer mechanisierten zu einer beschleunigten elektronischen Welt, deren konventionelle Zielsetzungen und Verhaltensmuster abrupt verändert werden. Die künstlerische Neuorganisation des Körpers zeigt sich in der Kombination von belebten und unbelebten Körpern. Die verwirklichten Entwürfe repräsentieren die Entdeckung einer neuen Erlebniswelt, die durch die Faszination der „körperüberwundenen Seinsweise“ eine enorme Anziehungskraft auf den Künstler ausübt; sowohl in der Fragmentierung eines unbelebten Körpers als auch im belebten Kunst-Körper werden auf der einen Seite die Austauschmöglichkeiten visualisiert, ebenso die Grenzgänge zwischen den beiden Zuständen als Metapher des Übergangs erkennbar. Inspiriert wird der postästhetische Diskurs durch die Aufhebung von Markierungen und Grenzen. In der medialen Kunst wird der Körper als hochgradig veränderbares Projekt definiert.3 Die Körperwahrnehmung und das sinnliche Erlebnis von Kunst werden durch die Techniken der virtuellen Realität

3 vgl. Flach, S. 22 13 erheblich verändert. Die körperliche Wahrnehmung wird durch die Beschleunigung der Sinne selbst zur Grenzerfahrung. Die Körperbilder der Gegenwart sind deshalb auch als Projektionsfläche physischer Prozesse anzusehen. Die bedeutungsvollen ästhetischen Prinzipien lassen Rückschlüsse auf das Körperbewusstsein der Gesellschaft zu. Dieser Wahrnehmungswandel wird anhand einer spezifischen Ästhetik formuliert. Die Elektronisierung kollidiert mit den bestehenden Milieus und nimmt Einfluss auf die künstlerische Körperbehandlung in der Postmoderne.

Anhand einer definierten Ästhetik der Einkörperung werden die Neuheiten der globalen Modernisierung von der Kunst adaptiert und in vorhandene Milieus integriert. Mit den medialen Avantgarden verweist die Kunst auf die Durchdringung des Natürlichen mit dem Künstlichen, als auch auf die Tendenz, die Künstlichkeit darüber zu legitimieren, dass ihr ein Anschein von Natürlichkeit gegeben wird. Damit befindet sich die Kunst in einer kritischen Gegenposition.4

Die Kunst und ihre Ausdrucksmöglichkeiten sind ein Teil des Lebens und werden zum Zeugen der gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungen. In den differenzierten Erscheinungsformen der Body-Art in den 1970ern spielen die Provokation und der Happening-Charakter eine zentrale Rolle. Auch hier sollte das Publikum durch schockierende Darbietungen zum Umdenken bewogen werden. In der folgenden Generation BodyArt-X- entschließt sich der Künstler, die symptomatische Zwiespältigkeit von Körperansicht und innerem Befinden in seine Kunstwerke zu integrieren. Die revolutionäre Allianz zwischen den Dingen (Elektronisierung) und Sinnen erfordert die Herausbildung neuer Kriterien für die gegenwärtige Lesbarkeit der körperlichen Darstellung. Die gegenwärtige BodyArt – X- erzeugt ausdrücklich ein Gegenmilieu und erregt mit ihren ungewöhnlichen Körperdarstellungen nicht nur Aufsehen, sondern hat auch die Kraft, das Selbstverständnis und die Gewohnheiten des Individuums nachhaltig zu beeinflussen.

In den folgenden Abschnitten konzentriert sich die wissenschaftliche Untersuchung auf die spezifischen Darstellungsstrategien der künstlerischen Bewegung BodyArt- X-. Die Radikalität dieser künstlerischen Konzepte hebt sich von der bisherigen Körper-Kunst ab. Ziel der Analyse ist die künstlerischen Konzepte auf ihre ästhetische Besonderheit zu untersuchen.

4 Puff, Melanie: Postmoderne und Hybridkultur. Passagen Verlag. Wien, 2004, S.26f 14

Die Prozesse innerhalb des Kunstsystems müssen hinsichtlich der Wechselwirkung außerhalb dieses Systems erweitert werden. In der Nachmoderne übernimmt der Körper immer eine Modellfunktion, er wird als Beispiel für jedes (abgrenzbare) System herangezogen. Der Wunsch nach einer Verschmelzung oder Einverleibung beinhaltet gleichzeitig die Maschine unter Kontrolle zu bringen und signalisiert immer auch die Sehnsucht nach körperlicher Vollkommenheit. In seiner empfundenen Unvollständigkeit und gegenwärtigen Unbestimmtheit ist der Körper ein ideales Medium für die Verdeutlichung von gesellschaftspolitischen und kulturellen Grenzbereichen. Die Wahrnehmung des Körpers wird neu strukturiert und orientiert sich nicht länger am Verlust seiner Einheit, sondern zeigt seine Durchlässigkeit und Wandelbarkeit, damit wird die Grenzästhetik zum anhaltenden Phänomen der Postmoderne. Auf diese Weise lässt die Virtualität bzw. der Hyperrealismus den Menschen und seinen Körper von einer Epoche der Repräsentation zu einer Ära der Verfügbarkeit übergehen. Während der avantgardistische Körper ein zerstückeltes Collagenwerk ist, wird der hybride Körper im postmedialen, virtuellen Zeitalter zum „Nebeneinander von disparaten Knotenpunkten.“5

Die Verabschiedung der Postmoderne postuliert neuartige ästhetische Prinzipien innerhalb der Körperkunst. Die elektronische Revolution umfasst auch die Informationsverarbeitung von lebendiger Materie auf der Basis der Biotechnologie und unterstützt das wissenschaftliche Zusammenwachsen mit der Techno-Kultur. Der menschliche Körper ist das Musterbeispiel für die innovativen Kommunikationsstrukturen der Neuen Medien. Die Ästhetik der Beschleunigung hat ihren Ursprung in der Mensch-Maschinen-Vision. Die poststrukturelle Schnittstellen- Ästhetik unterliegt dem sezierenden Blick der Wissenschaft: der Körper ist die zu untersuchende Materie und wird zu einem abstrakten Zell-Neuronen-Modell. Die postmodernen Symbiosen von Maschine und Mensch werden aufgrund ihrer qualitativen Annäherung kaum noch als Bemächtigung gegenüber dem Körper wahrgenommen.

Die Mechanismen und sozialen Geflechte der Erlebnisgesellschaft bewirken einen wahrhaften Ästhetik-Boom. Der beständige Ästhetisierungskult bezieht sich im Wesentlichen auf die Hülle bzw. die Oberfläche von Körpern und Objekten. Dem

5 s. Puff, S.27 15 kritisierenden Body-Artisten der Generation –X- kann die Rolle des Mediators zugestanden werden. Seine Intention ist die Beherrschung der Medien in dem Sinne, dass er die Mediatisierung als den Prozess der Bildung von Formen in den Medien durchschaut. Für die kunstwissenschaftliche Analyse, die sich mit veränderten künstlerischen Ausdrucksformen und im speziellen mit körperbezogenen Kunstkonzepten befasst, ist die variierende Ästhetisierung ein Instrument der Beweisführung.

Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die Pluralisierung und Ästhetisierung der Lebenswelt im Hinblick auf die sich konstituierende BodyArt zu untersuchen. Die einstigen Prinzipien der Moderne und Postmoderne, welche an die Originalität und den überhöhenden Charakter eines Werks gekoppelt sind, unterliegen nun dem Wandlungsprozess einer gegenwärtigen Patchwork-Ästhetik. Der kulturelle Stellungswechsel wurde bereits in den sechziger Jahren eingeläutet. Mit der Herrschaft der Apparatur vollzieht sich ein Übergang von der ehemaligen Werkästhetik hinzu einer performativen ästhetischen Praxis. Aufgrund dessen ist in der transkulturellen Gesellschaft der Gegenwart ein verändertes Subjektsein zu beobachten. Eine Ursache für die veränderte Selbstkonstruktion, der sich neu formierenden BodyArt-X- ist die weltweite Vernetzung und die gegenseitige Einflussnahme der verschiedenen Kulturen. Die rasante Entwicklung und der kulturelle Austausch fordern Flexibilität und eine erhöhte Assimilationsleistung vom Individuum. Die neuen Fixierungen auf Künstlichkeiten wirken sich auf die Körper- Obsessionen des 21.Jahrhunderts aus. In der alltäglichen Konfrontation mit Brüchen und Fragmenten in einer zunehmend aufgespalteten Welt, stellt der Körper die einzig verfügbare Einheit dar.

Die Ästhetik der New Economy hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Aufleben neuer, komplexer Systeme und der damit verbundenen Verhaltensänderung bei den betreffenden Generationen geführt. Der Körper wird in seinen spezifischen Darstellungsformen zwischen Integration und Bemächtigung positioniert. Die BodyArt der neunziger Jahre und ihre Nachfolger reagieren auf die intermediären Entwicklungsschübe und bedienen sich sogar der Neuen Medien als Gegenwehr zur Gleichmacherei. Der Avantgarde-Gedanke der gegenwärtigen Entwicklung ist das Wechselspiel der bewussten technischen Aneignung und der inszenierten Missverhältnisse von Körper und Technologie. Daraus resultiert ein

16 revolutionäres ästhetisches Prinzip, welches die Integration als Möglichkeit des demonstrativen Widerstands erscheinen lässt.

Die gegenwärtige Künstlergeneration reflektiert die globalen Ereignisse und deren Auswirkungen auf die menschliche Körperwelt. Um wiederum eine Reaktion auf den involvierten Kunstbetrieb zu erzielen, integriert sie den Körper in anschaulicher Weise in Behältnisse seiner natürlichen und künstlichen Umwelt.

Das sind die neuzeitlichen Synergieeffekte von Kunst und Virtualität, von Mensch und Maschine, von Kultur und Künstlichkeit. Das Ziel dieses objektivierten Selbstverständnisses ist die zeitgenössische Konstruktion einer ästhetischen Wahrheit. Im Mittelpunkt der kunstwissenschaftlichen Untersuchung stehen die typischen Erscheinungsformen dieser Kunst, die ihr Experimentierfeld zwischen den Welten sucht und deshalb unter die Definition der Grenzästhetik fällt. Die ästhetische Wahrheit ist nicht mit der wissenschaftlichen Wahrheit vergleichbar. Bei der ästhetischen Wahrheit handelt es sich um eine von der Seite der Kunstschaffenden verstandene schöpferische Existenz. Das Interesse einer genauen Betrachtung liegt bei der umwälzenden Kraft der gegenwärtigen Körperkunst. Mit welchen Mitteln und Ausdrucksformen konstruiert sie ihre Anschauungsvisionen, die sich von der Allgemeinheit abgrenzen? Mit der Hervorhebung des Erlebnisses im Denken und Sein der Natürlichkeit, Einzelheit und Unmittelbarkeit verleiht sie der Welterfassung im Ganzen eine höhere Gewichtung. Die damit erworbenen ästhetischen Erfahrungen offenbaren eine Fülle von ästhetischen Wahrheiten und beinhalten infolgedessen auch ein Potenzial möglicher Verhaltensänderungen.

Das Kunstwerk ist das Medium der Daseinserfahrung, welches von der Rezeption über die Erkenntnis bis zur Handlung seine revolutionäre Idee von der Subjekt- Objekt-Identität äußert.

Es gilt die künstlerischen Reaktionen auf die Veränderungsprozesse der Informationsgesellschaft einzubeziehen. Von den sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen ist auch die Selbstorganisation des Subjekts betroffen. Die Künstler, die den Körper als Metapher für diese Umwälzungssituationen verwenden, filtern die Eindrücke und vermitteln in ihren teilweise reaktionären Kunstwerken der BodyArt sozusagen hervorstechende “Erkenntnis-Werke.“ Die entstehende Körperkunst ist gewissermaßen eine Erscheinung, die sich aus der Erlebniswelt zwischen Übersättigung und Befriedigung als Bedürfniserfüllung ergibt. Die Kunst nimmt die 17

Herausforderung der Neuen Medien an und organisiert die bezugnehmende Körperkunst zwischen Sinnereignis und Sinnkatastrophe. Die Kunstwerke wenden sich in ihrer Funktion als Erkenntniswerke an den Rezipienten. Denn in ihrer spezifischen Konstruiertheit sind sie in der Lage, Instabilitäten zu erzeugen, das bedeutet, die Wahrnehmung des Betrachters auf eine bestimmte Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen. Insofern sollen die künstlerischen Konzepte der BodyArt- X- auf ihre mögliche Wirksamkeit, also der Auslösung dieser emotionalen Instabilität betrachtet werden. Die künstlerische Fähigkeit zu destabilisieren, obliegt dem künstlerischen Eindruck, dadurch entwickeln sich neue Lebenskonzepte, Sinneseindrücke und Erlebniszustände. Die demonstrative körperliche Darstellung in den verschiedensten Kombinationen ist durch den garantierten Wiedererkennungswert des Betrachters immer in der Lage zu berühren, zu verletzen und soziales Handeln auszulösen.

Die BodyArt-X- integriert die Konzepte und wissenschaftlichen Ansätze der Erkenntnisgewinnung in ihre symptomatische Grenzästhetik mit dem Anspruch, auf das soziale Handeln einzuwirken.

Die beispielhaften Kunstkonzepte der BodyArt-X- werden zum Akt der Selbstbeobachtung. Im Gegensatz zu der Vorläuferbewegung Body-Art richtet sich die Generation der BodyArt-X- an Gedächtnisinhalte und erlebte Gefühlszustände. Im Mittelpunkt steht nicht eine einmalige Handlung (Happening, Performance), sondern eine fortwährende Überprüfung der eigenen Wahrnehmung. Die Verbindung des Dargestellten, sozusagen der rein visuellen Wahrnehmung mit dem sinnlichen Ereignis der Selbstbeobachtung, führt zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber dem Gezeigten. Diese Genese der kognitiven Erfahrung bezieht sich im dritten Kapitel auf die Erkenntnistheorie des Schweizer Epistemologen Jean Piaget. Die ästhetischen Prinzipien der Einkörperung und Entkörperung manifestieren sich in Piagets beschriebenen Regulierungsprozessen der Assimilation und Akkomodation. „Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus [...] unterordnen [...] während die Akkomodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Zwängen der Umwelt beugt.“6 Gerade in Bezug auf die Ästhetik der zeitgenössischen Kunst ein geeigneter wissenschaftlicher Ansatz, um die Paradoxien des aktuellen

6 Scharlau, Ingrid: Jean Piaget. Zur Einführung. Hamburg 1996, S.91 18

Körperverständnisses zu diskutieren. Ein wissenschaftlicher Grundgedanke, der in die Betrachtung von nachmoderner Körperkunst einfließen soll, ist die von Piaget benannte Äquilibrationstheorie. Sie beschreibt, wie sich durch Konfrontation mit strukturellen Veränderungen neue, unvorhersehbare Ungleichgewichte ergeben und dadurch die Erfahrungen relativer Irrationalität. Das erkennende Subjekt organisiert seine Welterfahrung, indem es seine Erkenntnisstrukturen der Realität anpasst. Die Aufnahme und Verwertung der lebensnotwendigen Informationen stellen dabei einen Prozess der Akkomodation dar. Das Subjekt reagiert mit der Anpassung seiner körperlichen Verfasstheit auf die Objektstruktur der Außenwelt und bewertet identitätserhaltende Erfahrungen durch das Prinzip der Gleichgewichtsfindung. Die Notwendigkeit der Äquilibration für das Überleben des Subjekts beruht nach Piaget darauf, dass Konstruktion (Assimilation) und Kompensation (Akkomodation) nicht voneinander getrennt werden können, „denn, damit das Ganze bei jeder Veränderung die Teile erhält und umgekehrt, müssen gleichzeitig eine Erzeugung und eine Erhaltung stattfinden.“7 Die Regulierungsprozesse der Assimilation und Akkomodation lassen sich auf die ästhetischen Prinzipien der BodyArt übertragen. Die Thematisierung dieser ständig aber unbewusst ablaufenden Differenzierungs-und Integrationsprozesse eines Subjekts wird durch die Einkörperungs- und Entkörperungsästhetik der zeitgenössischen BodyArt-X- aufgegriffen. Die unterschwellig ablaufenden Prozesse lassen sich insofern auf die künstlerischen Konzepte übertragen, als eine Schnittstellen-Ästhetik entsteht, die aus den Kompensationen zwischen Affirmation und der Negation struktureller Veränderungsprozesse resultiert. Die Generation der BodyArt-X- wird als Reaktion auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Kultur untersucht. Diese spezifische Künstlergeneration existiert mit und durch die soziokulturellen und ökonomischen Veränderungen. Die BodyArt-X- setzt die körperliche Informationsfläche ein, um Interaktionsprozesse der Gegenwart zu verkörpern. Der Subjektkörper wird als Körper für andere und sich selbst zum Gegenstand der Interpretation und Zuschreibung. Die künstlerische Methodik orientiert sich an der Auseinandersetzung mit dem Innen und Außen; der psychologischen Verarbeitung und der körperlichen Anpassung. Die alltäglichen Konfliktsituationen dieser fortwährenden Regulierungsprozesse

7 s. Piaget, Jean: Die Äquilibation der kognitiven Strukturen. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1976, S.47 19

(Äquilibration) sind die entscheidenden ästhetischen Elemente dieser grenzüberschreitenden Darstellungsweise. Die Grenzen des Körpers werden nicht nur in den künstlerischen Darbietungen überschritten, sondern die visualisierten Grenzen zu anderen Wissenschaftsgebieten sind auch für die Erscheinung von post-postmodernen ästhetischen Prinzipien wie der Einkörperung und Entkörperung verantwortlich. Das unter dem ästhetischen Aspekt diskutierte Thema der Einkörperung und Entkörperung in der gegenwärtigen Körper-Kunst ist das Ergebnis eines Sinngebungsbedürfnisses. In den kontroversen Inszenierungen der BodyArt-X- wird der Körper als Organ der Wahrheit institutionalisiert. Dabei ist zu erwähnen, dass der Körper in seiner bloßen Erscheinung noch keine Wahrheit garantiert. Das Körpererleben durch die gegenwärtige BodyArt-X- setzt gewissermaßen auf die reflektierende Beobachtungsgabe und richtet sich auch an die Thematik der Imagination. Die erfassbaren sinnlichen Qualitäten gewinnen durch die Vermittlung der Imagination an Bedeutung und ergänzen den „Rezeptionsakt, als Akt der produktiven Konstituierung von Sinn.“8 Der Körper ist ein Ort der immer flexibler wird, da er sich ständig den äußeren Gegebenheiten anpassen muss und mit dieser permanenten Angleichung wiederum zu einer fortwährenden Umgestaltung seiner Umwelt beiträgt. Aufgrund dessen ist er stets in Bewegung; der Körper ist wie ein Molekül, das seine Aggregatzustände ändert, wenn äußere Kräfte auf ihn einwirken. Für die genaue Betrachtung der BodyArt-Kunstwerke gilt, dieses Brüchige, Durchlässige und Flexible in den neuartigen Darstellungsmethoden und ästhetischen Prinzipien zu analysieren.

Im Vordergrund des vierten Abschnitts stehen deshalb Kunstprojekte, die eine spezifische Dialektik der Ambivalenz repräsentieren. In den angeführten künstlerischen Diskursen wird der Körper als offene Projektionsfläche für wechselnde Einschreibungen verstanden, die sich im Spannungsfeld zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, von Innen –und Außenwelt bewegen. Im Zuge der programmatischen Entgrenzung verliert der Körper an Stabilität; seine materielle Seite wird zur fluiden Grenze. Die ausgewählten Beispiele der postmedialen Körper- Kunst, fördern mit ihrer ästhetischen Struktur der Ein- oder Entkörperung die

8 s. Bahr, Andreas: Imagination und Körpererleben. In: Materialität der Kommunikation, S.681 20 selbstreferentielle Befragung des Werkes. Darüber hinaus werden das ausgewählte Medium und der Realitätsbezug hinterfragt. Die Kunstwerke, die sich unter der Definition BodyArt und BodyArt-X- einordnen lassen, gehören mit ihren ästhetischen Verästelungen zu der neuen Generation einer streitbaren Kunst. An den ästhetischen Schnittstellen passiert eine rezeptive, soziale und kommunikative Differenzierung der Kunst, nach und mit den Neuen Medien. Im Zentrum der kunstwissenschaftlichen Betrachtung stehen die ästhetischen Schnittstellen und deren neue sinnliche Qualität. Das aktuelle Körpererleben wird durch die zunehmende Adaption der Technik revolutioniert, daraus ergeben sich grenzästhetische, geradezu rebellierende künstlerische Ansichten. Der Anwender, Benutzer oder Rezipient begreift die Integration oder seine Anpassungsleistung als erweiterte Leistungsfähigkeit seines Körpers und Geistes. Jedoch trägt jede technische Errungenschaft zu einer Abstrahierung von Sinn, Geschichte und Körpererleben bei und damit zu einer Verkümmerung der bewussten Erfahrung.

Das offensichtliche Ungleichgewicht von Innen und Außen, Anpassung und Veränderung der Umwelt werden nicht zuletzt durch den Menschen selbst verursacht. Das Ungleichgewicht der eigenen Identität ist der Auslöser für den generationstypischen Zustand der Leere, der durch die multiplen Selbstbilder vermindert werden soll. Das ständige Wechseln zwischen symbolischer und imaginärer Identifikation ist wie ein dauerhafter Zustand des Oszillierens.

Die zeitgenössische BodyArt ist ein Wegweiser im Dschungel der postmedialen Errungenschaften. Sie konstruiert mit ihren Werken anschauliche Denk- und Reflexionspausen, die sich zwischen den Grenzen von Handeln und Nichthandeln bewegen. Ihre Grenzästhetik ist geprägt durch die reaktionären Spannungen von Wissen und Nichtwissen.

21

1 Die Bedeutung künstlerischer Avantgarden in Zeiten des technischen Umbruchs

Mit den kunstwissenschaftlichen Definitionen Moderne, Postmoderne und Post-Postmoderne werden zunächst immer Avantgardebewegungen innerhalb bestehender Gesellschaftssysteme bezeichnet. Eine Neuorientierung ist gleichzeitig mit Umbruchsituationen für verschiedene gesellschaftsspezifische Bereiche verbunden. Für die Veränderungen und ästhetischen Neuausrichtungen in der bildenden Kunst sind vor allem die soziokulturellen Umwälzungen von Belang. Die Auswirkungen auf den Menschen sind vielfältig und zeigen sich auf sämtlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern: wissenschaftlich, wirtschaftlich, politisch, soziokulturell und künstlerisch. Mensch und Gesellschaft werden durch technische Neuerungen noch enger miteinander verbunden, die Dynamik sorgt für gegenseitige Abhängigkeiten. Rückblickend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass sich bestehende Gesellschaftssysteme durch die menschliche Handlungsweisen in Verbindung mit revolutionären Entwicklungsschüben modifizieren, also stetig transformieren. Insbesondere die sozialen Ordnungsgeflechte werden durch menschliche Verhaltensweisen und abhängige Veränderungsprozesse gestaltet. Albrecht Wellmer formuliert die einstige Umbruchsituation zu Beginn des 20.Jahrhunderts gegenüber der heutigen kulturellen Avantgardebewegung als sehr drastisch. Der einstige Pluralismus von Werten, Bedeutungen und Lebensformen, der mit dem technischen Fortschritt einherging, wird gegenwärtig zu einem Synonym für Umwelt -und Traditionszerstörung.9 Damit deutet er den Einfluss und die Auswirkungen von zunehmender Elektronisierung und Digitalisierung bereits an.

Zurück zum Grundgedanken der künstlerischen Avantgarde: einer Avantgarde anzugehören bedeutet zuerst einmal, das Gewesene nicht zu wiederholen, sondern weiterzugehen, die Zustände des Gegebenen zu befragen, Regeln und Entwürfe zu hinterfragen. Dem Antrieb dieser Fortschrittsbewegungen liegt das Experimentieren mit den materiellen und immateriellen Neuheiten zugrunde, die auf verschiedene Ebenen des sozialen Lebens übergreifen. Die Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Politik sind Nährboden für revolutionäre Ideen, die vor allem das

9 vgl. Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1985, S.118 22

Kulturbewusstsein einer Gesellschaft beeinflussen. Weibel spricht von einem unendlichen Prozess der Differenzierung, der sich auf das Verhältnis von Natur und Gesellschaft von Kultur und Mensch auswirkt und im Wesentlichen durch die Technokratisierung eingeleitet wird.10

Vor dem Hintergrund dieser Auffassungen bezeichnet der kunstwissenschaftliche Begriff der –Avantgarde- in erster Linie eine wahrnehmbare Veränderung gegenüber einer bestehenden künstlerischen Erscheinung, wobei ein exakter Zeitpunkt des Umbruchs im Zuge einer neuen, besser gesagt, moderneren Bewegung oder Generation erst durch die erfahrbaren Auswirkungen exakter definiert werden kann.

1.1 Kennzeichen der Moderne und Grenzszenario –Postmoderne-

Wo hört die Moderne auf und wann beginnt die so genannte Postmoderne? Zieht man wie Albrecht Wellmer den vernünftigen und nahe liegenden Vergleich mit dem Beginn des 20.Jahrhunderts, so lassen sich die technischen Faktoren und deren Einfluss auf das Leben und Arbeiten des Menschen nicht von der Hand weisen. Ereignen sich gravierende Einschnitte in Forschung, Wissenschaft und Industrie, so stehen Veränderungen in Gesellschaftssystemen bevor. Tatsächlich nutzte die moderne Entwicklung die erheblichen technischen Umwälzungen, um sich aus Elend, Unterwerfung und Unwissenheit zu befreien. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts sieht sich die Gesellschaft ganz anderen Herausforderungen gegenüber stehen: durch den Vorstoß neuer Kommunikationsmedien werden Sprach- und Handlungsmuster modifiziert und es kommt zu einer revolutionären ökonomischen Umstellung von Globalkonzepten.

Der von Menschen erzeugte Fortschritt in Wissenschaft und Technik bildet sozusagen eine Trennlinie, von dem was nach der Industrialisierung passiert und sich vor der Elektronisierung ereignen wird. Das Projekt der Moderne besteht im Ursprünglichen in der Postmoderne weiter, da gesellschaftliche Aspekte wie Unruhe, Ungewissheit und die Instabilität der offenen Strukturen ein wesentlicher Bestandteil neuer Realitäten (Bildwelten) sind und bleiben. Jede künstlerische

10 vgl. Weibel, Peter: Transformationen der Techno-Ästhetik, In: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Hrsg. v. Florian Rötzer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1991, S.224 23

Ausprägung, ob modern oder postmodern ist deshalb geformt von den Möglichkeiten des Experimentierens und Assimilierens. Kunst und Wissenschaft gehen stets Verbindungen ein, dementsprechend markieren die Integrations- möglichkeiten der Informationsgesellschaft die sichtbaren Grenzgänge nachmoderner, künstlerischer Dimensionen. Besser als Jean-François Lyotard lässt sich die Intention einer Übergangsbewegung nicht beschreiben: Die Postmoderne macht es sich zur Aufgabe die moderne Avantgarde fortzuführen, ohne sich durch deren Ideale zu legitimieren.11

Für die Kunst des 20.Jahrhunderts existiert der zusammenfassende Begriff der Moderne. Die Postmoderne wird von Heinrich Klotz als Teil der Moderne definiert. Sie ist eine „Revision der Moderne“. Die klassische Moderne oder der Internationale Stil bezieht sein Wesensmerkmal aus dem Autonomiestatus des Kunstwerks. Der tabula-rasa-Anspruch bedeutet bedingungslose Neugestaltung, also Radikalität in Konzeption und Formensprache. Die Abkehr von der Künstlichkeit der Kunst sowie dem schönen Schein wird zum charakteristischen Manifest der Moderne. Heinrich Klotz fasst die Ablehnung zusammen:

„...jeglicher Rückzug auf die Geschichte wird als Verrat bezeichnet [...] Moderne bedeutet an die Zukunft zu denken, Orientierungen allein an sich selbst gegen finden [...] jeder Bezug zu einer äußeren Wirklichkeit im Sinne gleich welcher Nachahmungstheorie hatte sich erledigt [...] allein die vom Kunstwerk selbst gesetzte Realität enthalte auch seine Beurteilungsnorm.“12

Ein beispielhafter Exkurs: Abstraktion und Verlust des Originals

Die Abstraktion ist das zentrale Ereignis der modernen Avantgarde. Wassily Kandinskys erstes abstraktes Aquarell (1910) ist wohl das bedeutendste Statement für die avantgardistische Entgrenzung der Kunst. Abstrahieren bedeutet sich von der natürlichen Form entfernen und damit eine höhere, allgemeingültige Form zu erlangen. Der Verzicht auf die Nachahmung der Natur und der Verlust des Illusionscharakters sind Ursprung zahlreicher moderner künstlerischer Erscheinungsformen. Die Überwindung des Ästhetizismus des ausgehenden 19.Jahrhunderts ist der Beginn eines Stilpluralismus. Die Fragmentierung der

11 vgl. Lyotard, Jean-François: Immaterialität und Postmoderne. Merve Verlag, Berlin 1985, S.30

12 s. Klotz, Heinrich: Kunst im 20.Jahrhundert. Moderne-Postmoderne-zweite Moderne. Verlag C.H. Beck, 1994, S.17 24

Formensprache, das Aufsplittern der Gestalt wird zum kunstimmanenten Prozess. Kandinskys Kompositionen konzentrieren sich auf innere Vibrationen, seine Farbklänge und Liniengeflechte basieren auf einer verinnerlichten Abstraktion des Erlebten. Der Malakt wird dadurch zur notwendigen Aktion des Lebens. Die Effekte der steten Differenzierung und Abhebung gegenüber dem bereits Existierenden werden zum Programm der Moderne. „[...] Die Konsequenz der pluralisierenden Methode verrät am Ende den Monomythos der rationalistischen Selbstbegründung.“13 Zweifelsohne dokumentiert die Abstraktion auch den Fortschrittsgedanken der modernen Gesellschaft. Die serielle Formenvielfalt ist bereits eine Hinwendung zu metaphorischen Kommunikationselementen. Auf diese Weise entlässt die Moderne die Postmoderne aus sich selbst heraus. Es entsteht im Sinn der steten Innovation und Abgrenzung gegenüber dem Vorherigen ein legitimer Historismus.

Die Sehnsüchte einer modernen Kulturintelligenz werden im postindustriellen Zeitalter mit den Begriffen Konsum und Kommerz konfrontiert. Die Grenzen zwischen Kultur und Massenkultur verwischen. „In der Postmoderne wird das Soziale kulturalisiert“, stellt Vester 1993 fest.14 Die zeitlichen Markierungen dieser Übergänge können nicht exakt formuliert werden, lediglich die Wahrnehmung von einschneidenden Veränderungen, die als Keimzelle einer postmodernen Avantgarde angeführt sind. Heinz-Günther Vester spricht von einer „postmodernen Polyvalenz.“ Ihre markanten Anzeichen wie Ambivalenz, Polyvalenz und Dezentrierung führen in der Postmoderne nicht zu einem tragisch-heroischen Weltgefühl und nicht zur existentialistischen Verzweiflung. Lyotard dagegen bestimmt den Eintritt in die postindustrielle Phase des 20.Jahrhunderts und den Übergang in die Postmoderne mit dem Ende der fünfziger Jahre. Seiner Analyse zur Folge, führt das Ende der Wiederaufbauphase in Europa zu einer Demokratisierung der Kultur und zu einer Kulturalisierung der industriellen Produktion.

Demzufolge ist die Pop-Art die künstlerische Ankündigung der Postmoderne. Nicht die Natur, Landschaft und der Mensch stehen im Zentrum ihrer Darstellung, sondern die Künstlichkeit der Konsumwelt und die Artefakte des Banalen bilden die Pfeiler

13 s. Klotz, S.27

14 Vester, Heinz-Günther: Soziologie der Postmoderne, Quintessenz, München 1993, S.33 25 ihres postmodernen Programms. Die Pop-Art, allen voran Andy Warhols Prinzipien des Seriellen und des Reproduzierten verabschieden das Original und entwickeln künstlerische Parodien auf die Identitätsspannungen zwischen Kommerz und Konsum. Seine in Siebdrucktechnik produzierten Serien „Twenty Jackies“ (1964) oder „A Set of Six Self-portraits“ (1966) stehen stellvertretend für einen weiteren Abstraktionsschub, der anhand maschineller Möglichkeiten die individuelle Handschrift eines Kunstwerks gänzlich auslöscht, eine Demystifizierung des modernen Avantgardegedankens

„Warhol hat stets schon Identifiziertes gemalt, [...] nie das Original, sondern das Abbild [...], nie das Bezeichnete/den Inhalt, sondern das Zeichen/den Namen, [...] nie die Wirklichkeit, nur ihr Foto, [...] nie den Grund oder das Wesen, sondern immer nur die Oberfläche oder die Tarnung [...].“15

Zwar sind die Motive und Themen der Pop-Art aus dem Leben gegriffen, so wie einst die Menschen, Landschaften und Gegenstände der Expressionisten, jedoch sind die Werke stark an mediale Wahrnehmung und Reproduktion angelehnt. Für die Pop-Art und ihre Hauptvertreter Warhol, Wesselmann, Lichtenstein oder Rosenquist ist das Kunstwerk das Ergebnis eines Wahrnehmungsprozesses und verneint den Anspruch des Absoluten.

1.1.1 Postmoderne und postmediale Phänomene

An dieser Stelle lässt sich behaupten, dass die Postmoderne tatsächlich als Essenz der Moderne aufgefasst werden kann. Eine Zuspitzung der künstlerischen Darstellungen und Phänomene, die allerdings keine dramatische Umbruchsituation markieren.16 Die epochalen Umwälzungen werden fließender, dieser Eindruck ergibt aus dem charakteristischen Merkmal der neuen Medien. Die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften sorgen für einen Gattungswechsel innerhalb der Kunstbewegungen am Ende des 20.Jahrunderts. Grundsätzlich gilt: Das Altbewährte wird durch das Innovative abgelöst. Der Blick auf einen geradlinigen Entwicklungsprozess reduziert das pathetische Grundmotiv der einstigen

15 Pfütze, Hermann: Identitäten. In: Kunstforum International. Das Magische I. Band 164, März - Mai 2003, S.267

16 s. Klotz, S.105 26

Avantgarde. Sabine Flach stellt dazu fest: „Die Kunst der Postmoderne ist charakterisiert durch den Versuch, Veränderungen jenseits von Geschichtsmodellen zu entwickeln.“17

Der methodisch radikale Pluralismus der Postmoderne hat im postmedialen Wandel eine von der Gattungsvielfalt getragene Basis erhalten:

Klassische Gattungen Neue Medien/ Gattungspluralismus Postmoderne Postmediale Moderne Malerei Foto Skulptur Computer Installation Video Performance Multimedia Illusion Simulation

Bei der Gegenüberstellung der zeitgenössischen Experimentierfelder wird deutlich, dass eine Einteilung unbewegtes Bild versus bewegtes Bild den Charakter der Grenzüberschreitung am anschaulichsten formuliert. Die innovative Ästhetik der Medienkunst hat ihre Avantgardegebärde zum Programm erhoben. Das neue ästhetisches Manifest lautet: Mit den Mitteln der Simulation, die Simulation zu durchbrechen, im Vordergrund steht dabei die totale Wirklichkeitsillusion.18 (zitiert n. Morton Heilig, S.190). So lässt sich an diesem Punkt bereits festhalten, dass die konsequente Entwicklung der Avantgarden unter dem Einfluss von Medien und Gesellschaft, dass wesentliche Prinzip herausragender künstlerische Phänomene ausmacht. Auch François Plucharts Manifest der Body Art (1974) erhebt die Ausdruckskraft des Körpers gegenüber politischen Veränderungen als überaus wichtig: „[…] Der Ausdruck des Körpers viel wichtiger sei, als die prostitutionsmäßige Überbewertung von Schönheit und Body Art ist exklusiv, arrogant und unversöhnlich.“19 Daraus spricht Plucharts Überzeugung, dass die Body Art eine revolutionäre Energie besitzt, die das Individuum stärken und gesellschaftspolitische Veränderungen herbeiführen kann. Umkehrt lässt sich ableiten, dass die

17 s. Flach, S.35

18 vgl. Klotz, S.190

19 s. Pluchart, François, L`Art corporel, Paris, Limange 2/ Alain Avila, 1983 27

Elektronisierung maßgebend für die Entstehung neuartiger Körperkonstruktionen verantwortlich ist.

Des Weiteren stellt die Medienkunst auch neue Anforderungen an ihre Betrachter: Die Vielfalt der Bilder und die Qualität des Kunsterlebnisses ändern die Interaktion zwischen Kunstwerk und Betrachter. Das Publikum wird von der bloßen Betrachtung zu mehr Aktivität stimuliert. Für die Sinne stellt es eine zunehmende Herausforderung dar und die Wahrnehmung muss sich ebenfalls der Beschleunigung anpassen. Die sinnliche Erfassung eines Kunstwerks stellt teilweise sogar eine Überforderung der Sinnkapazitäten dar, und somit ist der Abschied von einer „Ästhetik der Einheit“20 ein weiteres Phänomen der postmedialen Techno- Kunst-Generation.

Ein vorläufiges Fazit: Der Progressionsgedanke der Moderne wird in der postmodernen und anschließenden postmedialen Kunst im Sinne einer kritischen Revision und Reflexion weitergeführt.21 Mit dem Fortschritt der Elektronisierung geht es auch in der körperbezogenen Kunst um die Besetzung der Zwischenräume und die Bildung künstlerischen Nischen. Der Körper, als künstlerisches Material, orientiert sich ebenso an den Prozessen des Integrierens. Da wird das postmoderne und medial geprägte Kunstwerk nicht mehr der Ort der rebellierenden Widerstandskraft, sondern der Ort des Sozialen.22 Die ausgeprägte künstlerische Parole des anything goes bezeichnet den andauernden Pluralismus und die Verbrüderungen mit der Beliebigkeit. Design und Alltag haben den revoltierenden Kunstwillen der Moderne überholt. Die Verknüpfung von ökonomischen Erfolg und der Ästhetisierung der Lebenswelt prägen die Zeichensprache der 80erJahre. Eine vor dem Hintergrund des medialen Fortschritts zu erwartende Folgeerscheinung oder sogar die visuelle Zuspitzung der Pop-Art-Philosophie. Die Gebärde des Revolutionären beschränkt sich auf grenzüberschreitende Darstellungsweisen und übertriebene Wirkungsstärken des Kunst-Konsums. Ein Avantgardismus des Hässlichen, Kitschigen und Wertlosen markiert diesen zeitgenössischen Retro-Kult,

20 s. Klotz, S.182

21 vgl. Flach, S.43

22 s. Reck, Hans-Ulrich: Dialektik der Provokation und die Antiquiertheit der Revolte. In: Kunst als Revolte? Von der Fähigkeit der Künste, Nein zu sagen. Hrsg.: Karin Wilhelm, 1.Aufl., Anabas Verlag, Gießen 1996, S.88 28 der ein Kontrastprogramm zum Inbegriff des „Yuppie-Lifestyle“ bildet.23 Wolfgang Hauser beschreibt die Hassliebe zwischen Kunst und Lifestyle als eine Bindung an Paradoxie: „Kunst muss, um Kunst zu sein, sich von anderen Ästhetiken abgrenzen. Kunst muss zugleich ihre Abgrenzungen stets überschreiten. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Regeln führt zu Flirt, Krieg und deren unendlicher Vermischung.“24

Ein beispielhafter Exkurs: schmerzhafte Body Art und Körperparadoxien

Gerade im Hinblick auf neuartige, avantgardistische Kunstformen, ist die Body Art als Ausdruck unmittelbarer Körpererfahrung zu nennen. Mit ihren teils schockierenden Aktionen und Körperperformances (, Through the night softly, 1973)25 machte diese internationale Kunstbewegung in den 1970ern auf sich aufmerksam. François Pluchart verfasst 1974 das einzige Manifest der Body Art (Ľ Art corporel, Paris, Limage 2/ Alain Avila, 1983) und ist davon überzeugt, dass durch körperliche Erfahrungen, wie Anstrengung und Schmerz eine „Stärkung des Individuum“ erfolgen kann und gleichzeitig eine Art Revolte von gesellschaftlichen und politischen Zwängen.

Im Mittelpunkt der paradoxen Körperszenarien in den 1990ern stehen weiterhin die Sehnsüchte nach schmerzhaften Grenzüberschreitungen und eine Mensch- Maschinen-Ästhetik. Die Französin Orlan lässt vor laufenden Kameras in ihre Dauerperformance Omniprésence 26chirurgische Eingriffe an ihrem Gesicht vornehmen und der Kanadier Stelarc schwebt in seiner Installation stretched skin (1992) nackt an Fleischerhaken aufgehängt an einem Trapez.27 Die daraus entstehenden Irritationen und Paradoxien veranschaulichen den speziellen Sinn für die Übersteigerung und den Hang zur Simulation bzw. Hybridbildung.

23 s. Reck, S.194

24 ebd., S.195

25 Chris Burdon erweist sich in seinen Körper-Kunst-Aktionen als sehr leidensfähig. In through the night softly (1973) wälzte er sich in Glasscherben und in der Performance shoot (1971) ließ er sich von einem Helfer in den Arm schießen. Burden, als einer der radikalen Vertreter der Body Art, machte das zuschauende Publikum für seine Schmerzen und die erheblichen Verletzungen verantwortlich. Ein wesentliches Merkmal der Body Art ist, den Zuschauer zum Handeln zu bewegen, ihn mit Grenzerfahrungen vertraut zu machen, um die Passivität zu beenden.

26 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.21

27 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.15 29

Wolfgang Welsch beschreibt dieses Phänomen des Postmodernismus:

„[...] er überschreitet das Nebeneinander und er überschreitet auch noch die bloße Zuschärfung und Potenzierung der Pluralität. Er überschreitet sie in Richtung Irritation, zunächst im Sinn der Vieldeutigkeit und zuletzt im Sinn der Unfasslichkeit.“28

Im Vergleich mit dem revolutionären Motor zu Beginn des 20.Jahrhunderts fehlt es der Postmoderne an Deutlichkeit in Bezug auf einheitliche Gesinnung und Konsequenz, vielmehr sind es die genannten Phänomene Pluralität und Paradoxie, die die künstlerischen Konzepte kennzeichnen. Die postmoderne Pluralität wird zu einem Ausgangspunkt für die heutige Wahrnehmung einer postmedialen Splitter- Kunst. Die vorübergehenden Tendenzen und kurzlebigen Übertreibungen bestehen nebeneinander, erzeugen aber keine andauernden Reibungspunkte beim Publikum. Dessen Wahrnehmung ist durch die vielfältigen Ausprägungen überfordert und konzentriert sich, wenn überhaupt, auf eine “verfeinerte“ Ästhetik, die wie Gerhard Richters Fotorealismus oder Neo Rauchs Neuer Figuration im Gedächtnis bleibt.

Abschließend lässt sich festhalten, dass eine Form der „verfeinerten Ästhetik“ für die Wahrnehmung einer avantgardistischen Bewegung innerhalb neuartiger Kunstgattungen verantwortlich ist. Nach Umberto Eco erfüllt die Funktion des Avantgardistischen „diejenige Kunst, die, um die Welt zu erfassen, zu ihr hinabsteigt, aus ihr die Bedingungen der Krise aufnimmt und, um sie zu beschreiben, dieselbe entfremdete Sprache verwendet, in der diese Welt sich ausdrückt: indem sie aber diese Sprache transparent macht, sie als Form der Darstellung herausstellt, tut sie das uns Entfremdende von ihr ab und befähigt uns sie zu demystifizieren. Das kann der Anfang des Handelns werden.“29

Die Postmoderne kann, nach Jean Francois Lyotard, als nachmoderner Zeitstil bezeichnet werden. Durch die stetigen progressiven Wandlungen in Technik und Gesellschaft handelt es sich nicht um ein kurzlebiges Phänomen, dennoch sind gerade in Bezug auf Körperdarstellung und Ästhetisierung erhebliche Unterschiede zur Moderne erkennbar. Die postmediale Entwicklung resultiert erneut aus einem

28 Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1988, S. 324

29 siehe, Welsch, 1988, S.281 30 umwälzenden technologischen Schub; die Elektronisierung kreiert die postmedialen Phänomene der Vernetzung und Transformation.

1.1.2 Die postmodernen Erscheinungen und ihre Prinzipien: populär, polymorph, push the Body

Fest steht das leitende Prinzip der Postmoderne ist Pluralität, mit ihr können alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Tendenzen der Umwälzung charakterisiert werden. Zwei wesentliche Prozesse bilden sich als gesellschaftliche Triebkräfte ab: die Kulturisierung der Ökonomie und die Ökonomisierung der Kultur. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff –Kultur- mit der Vermischung von Hoch- und Populärkultur längst weiter zu fassen ist.30

Das postmoderne Prinzip der Vielheit plädiert geradezu für heterogene Konzeptionen in sämtlichen Lebensbereichen. Ein wesentlicher Grundzug ist die Sensibilität für gesellschaftliche Problemfelder und soziale Brennpunkte. Mit der Trans-Avantgarde werden abermals neoexpressionistische Tendenzen erkennbar. Die Malerei der Neuen Wilden entsteht wie ihre modernen Vorläufer aus inneren Antrieben und benötigt nicht die Impulse der Außenwelt, wie der Kunsthistoriker Achille Bonito Olivia erklärt. Die postmoderne Kunst zielt auf die „Produktion von Diskontinuität“, auf einen „vielfältigen Normandismus“, wo „jedes Werk verschieden vom anderen ist.“31 Die postmoderne Avantgarde ist für Lyotard ein Paradebeispiel für die umsichgreifende „Polymorphie.“ Die künstlerische Entwicklung nimmt keinen geradlinigen Kurs, vielmehr sind die vielfältigen Erscheinungsformen bereits durch die fortschreitende Technisierung geprägt. Die postmoderne Schnittstellen-Ästhetik widmet sich auch thematisch den Grenzgängen, Konfliktzonen und den Reibungspunkten zwischen dem Unbekannten und der gewohnten Vernunft.32 Die Totalitätsabsage schafft eine Verbindung mit der modernen Radikalität, sie setzt ihr aber keine Antihaltung entgegen, ist nicht nur unbestimmter Ausläufer ihrer Vorläuferbewegung. Mit ihrer Förderung der Unterschiedlichkeit trägt die

30 vgl. Hurton, Andrea: Grenzästhetik In: Kunstforum International. Band 143, 1999, S.195

31 s. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S.25

32 s. Welsch, S.34 31

Postmoderne wesentlich zur Vielschichtigkeit der zeitgenössischen Kunst- und Kulturszene bei.

Lyotards Programmschrift beschreibt den Zustand der Moderne noch als Ganzheitsmelancholie, während das Stadium der Postmoderne durch das Vielheitsinteresse gestaltet wird:

„Solange die Auflösung der Ganzheit noch als Verlust erfahren wird, befinden wir uns in der Moderne. Erst wenn sich eine andere Wahrnehmung dieses Abschieds - eine positive- herausbildet, gehen wir in die Postmoderne über.“33

Die Postmodernitätskonzeptionen verschiedener Philosophen u.a. Baudrillard, Kamper und Slotendijk besprechen die eher düsteren Auswirkungen des anbrechenden Informationszeitalters. Ihre katastrophischen Visionen lassen sich kurzum als verdüsterte Romantik aber ohne offensichtliche Hoffnung für die Zukunft einordnen. Die philosophischen Mahnungen sprechen dem bisherigen Pluralitätsanspruch eine gewisse Ernsthaftigkeit und Weitblick ab, vielmehr steht der künstlerischen Bewegung der Sinn nach Popularität und Oberflächlichkeit. Im Mittelpunkt stehen die Ausbreitung der Massenmedien und die Auswirkungen der globalen Vernetzung auf den Menschen und die Gesellschaft. Bezogen auf das Individuum und seine körperliche Existenz birgt dieser intensive Wechsel hinsichtlich Elektronisierung sowohl Chancen als auch Gefahren; die sinnliche Wahrnehmung kann durch die neuen Medien kontrolliert und manipuliert werden. Die Ästhetik der Beliebigkeit ist eine wesentliche Begleiterscheinung multimedial strukturierter Gesellschaften. Die künstlerischen Strömungen verschreiben sich dem Prinzip der Pluralität und nutzen den vergrößerten Materialpool, um ihren Ideen der Zeit und Gesinnung entsprechende Formen zu geben. Mit dem elektronischen Zeitalter und den stetigen Innovationen hat auch für die Kunst die unbegrenzte Reproduktion begonnen. So ist es nicht ungewöhnlich, dass selbst die banale und alltägliche Realität immer mehr im Zeichen der Kunst steht und ästhetisch wird. Alle Kulturen unterliegen dem „Floating der Zeichen“, und durch den Austausch und die Kombination steigt die Anzahl der flüchtigen Verbindungen. Kunst und Industrie profitieren von diesem permanenten Transfer und sind maßgeblich an der Entstehung von temporären Zyklen beteiligt.34 Dazu gehören die Kategorien Mixed

33 Lyotard zit. von Welsch, S.175

34 Lischka, Gerhard Johann: Splitterästhetik. Benteli -Werd Verlag, Wabern-Bern 1993, S.140f 32

Media und Cyberkunst, die erhebliche Auswirkungen auf den technisch gepushten Körper, also die medial inspirierte Body Art haben.

Das Internet ist das neue Medium der 1990er. An der Schwelle zur Virtualität kommt es zu einer Einbettung der Körperlichkeit in die Bedienungssystematik des Computers. Push the body könnte die Devise dieser Informations- und Kommunikationstechnik lauten. Die Einheit des Körpers unterliegt im Cyberspace einer medialen Dauerperformance; kreative, innovative und kombinatorische Veränderungen gestalten ihn mehr oder weniger um. Für Achim Bühl „korrespondiert das Surfen in weltweiten Netzen und das Eintauchen in virtuelle Welten […] mit einem zunehmenden Verlust des Realkörpers.“ (Die virtuelle Gesellschaft, 1997). Durch die virtuelle Welt und ihre Technik kommt es zu einer Organerweiterung, zu einer künstlichen Extension des menschlichen Körpers. Die Body Art ist zukünftig nicht passé, sondern ihr >Material< wird durch die Technikschübe weiter inspiriert. Mariko Mori schwebt in Esoteric cosmos (1996/97) in einer geschützten Körperkapsel geradewegs ins Reich der unendlichen Möglichkeiten.35 Die Japanerin ist mit ihren Space-Outfits und Videoinstallationen eine postmediale Alice im Wunderland.

1.2 Die Signatur der postmodernen Kultur - the inspired Body

Mit dem zivilisatorischen Fortschritt entsteht eine Kultur, die an die Genese von Kommunikations- und Informationssystemen gekoppelt ist. Die Sprach- und Zeichensysteme sichern die Existenz und bilden die Grundlage für die Entstehung weiterer Orientierungshilfen. Thorsten Scheer spricht in diesem Zusammenhang gleichzeitig die Kehrseite von einer „fortschreitenden Vereinnahmung der Welt“ an, die zugleich die Unterdrückung der eigenen Triebe fordert.“36 Die Rationalisierung bewirkt zum einen die Konzentration auf das menschliche Überleben im Zeitalter der Digitalisierung und bedeutet zum anderen die Entfernung von der natürlichen Existenz. Daraus resultiert eine grundlegende These für die darzustellende

35 s. Abbildungsverzeichnis, Abb. 22

36 Scheer, Thorsten: Postmoderne als kritisches Konzept: die Konkurrenz der Paradigmen in der Kunst seit 1960. München 1992, S.20 33

Zwiespältigkeit der Subjektbehandlung innerhalb der nachmodernen Kunstproduktion. Nach Scheer handelt es sich um das subjektive Dilemma:

„Das Subjekt ist einerseits die unterdrückende und gestalterische Substanz gegenüber der Natur und andererseits überwältigtes Opfer im Sinne der Unterdrückung der inneren Natur, als Preis für die Selbsterhaltung.“37

Während der Mensch bzw. das Subjekt den Zwang der ersten Natur überwindet, gewissermaßen aus ihr heraustritt, wird die zweite Natur auf einer wissenschaftlich technisierten Ebene in der Form gesellschaftlicher Verzahnungen reproduziert, die dem Menschen als objektive entfremdete Mächte ihres eigenen Tuns entgegentreten.38 Mit dem Fortschreiten der Verdinglichung wird auch die Body Art zu einer Art “Fortschrittsmodell“. Der Künstler, als erkennendes Subjekt, orientiert sich an den ästhetischen Mitteln, die ihm die modernen Kommunikationspotenziale zur Verfügung stellen. Die Kunst, als Schöpfer bestimmter Codes, unterliegt immer dem Entwicklungsprozess moderner Gesellschaften. Deshalb ist eine emanzipatorische Kunst an den gesellschaftlichen Diskurs gebunden, den sie kritisiert. Der negative Bezug des entfremdenden Kommunikationsangebots ist sozusagen die Antriebskraft einer kritischen Kunstproduktion.

Die Kunst entwickelt eigene Kommunikationsprozesse: Die Codes der neuen Medien werden nicht einfach übernommen, sondern differenziert, selektiert und teilweise sogar neu kombiniert. Die Kunst kann sich dabei nicht über die bestimmenden Codes hinwegsetzen, da der Empfänger (Betrachter) an gewisse Codes gebunden ist. Deshalb verwendet der Kunstproduzierende (Sender) einen bekannten Code für seine Botschaften, um die Decodierung des Empfängers zu gewährleisten. Die Kritik erfolgt nicht durch die Verweigerung gegenüber den nachmodernen Medien, sondern ereignet sich an den Schnittstellen, wo sich Subjektverlust und Verdinglichung gegenüberstehen. Die Anpassung der Kunstproduktion an die Maschinerie des Informationszeitalters beruht auf der instrumentellen Rationalität und ist als gesellschaftliche Orientierungshilfe zweckhaft.

37 s. Scheer, S.20

38 vgl. ebd., S.20 34

Ein vorläufiges Fazit: Die postmoderne Kultur wird belebt durch eine intelligente und informations-verarbeitende Technik. Die postmodernen Techniken können als geistesorientiert und immateriell beschrieben werden. Der Übergang von einer materie- und energieverarbeitenden Technik zu einer Informationstechnologie charakterisiert das veränderte Kulturbewusstsein der Postmodernität. Die Indizien für den Wandel gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Strukturen werden spürbar durch die Auswirkung der veränderten Netzwerke. Der kulturelle Wandel ist nicht durch die Analyse gesellschaftlicher „hard ware“, sondern vor allem durch die „soft- facts“, wie Seelenbewegungen, [...] Symbole, Emotionen [und] Lebensgefühle zu erklären.39

Die Wechselbeziehung von Kultur, Wissenschaft und Technik lassen einen nachmodernen, medial inspirierten Organismus der Ordnung entstehen. Dabei spiegelt die Kultur die Selbst-Deutung der Gesellschaft und ihre Beziehungen zu anderen Kulturen wider.40 In diesem Sinne ist Kultur Ausdruck von Komplexität: Kultur ist die sinnliche Wissenschaft der Gesellschaft. Die Nebenwirkungen der Flüchtigkeit, die schnelle Abfolge von Bildern, die Möglichkeiten der Grenzverwischung und technologischen Nachbereitung entreißen die Gegenwart der Vergangenheit.

Deshalb offenbart sich in der Computerisierung eben auch das Streben der Postmoderne nach „Entgegenständlichung, Enträumlichung und Entmenschlichung der Darstellung.“41

Erkennbar werden Parallelen zur Moderne: die Kunstformen bemühen sich, die neuartigen Bildschöpfungen von den Vorstellungen des Subjektes zu befreien. Die Pixel der Bildschirmleinwand ermöglichen eine Abstraktion und Fragmentisierung per Tastendruck. Der Gestaltungsprozess unterliegt den fortschrittorientierten Wandlungsperioden. Die einstige Formzertrümmerung erlebt eine Potenzierung: die Zerlegung in Dateneinheiten ist ein signifikantes Merkmal der postmodernen

39 s. Hurton, S.194

40 Koslowski, Peter: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftliche und –kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung, 2. Auflage, München 1988, S.8f

41 s. Berr, Marie-Anne: Das Bild als materielle Kommunikation. In: Kunst als Revolte? Hrsg. von Karin Wilhelm, 1. Aufl., Anabas Verlag, Gießen 1996, S.29 35

Kunstschöpfung. Beschleunigung und Crossover sind die charakteristischen Merkmale der neu inspirierten Body Art.

Hans –Ulrich Reck typisiert die neuorganisierte künstlerische Generation:

1. Ausweitung der Materialbasis. Die Möglichkeiten der Bilderträger dehnen sich aus.

2. Die Verbindung der Gattungen und Medien zu einem Verbundsystem, welches die Kopplungen unterschiedlichster Reize und Sinne ermöglicht.

3. Integration der stetig neuen Apparaturen und Maschinen in die Entwürfe der Kunst.

4. Synergieeffekte mit den gesamtgesellschaftlich wirkenden Technologien mit dem Ziel Erlebniswelten zu konstruieren und dadurch eine Revolutionierung der Lebensverhältnisse zu bewirken.

5. Neue Organisation des Materials verweist auf Radikalismen; das neue elektronische Spektakel nährt sich von den Obsessionen der Avantgarde.42

Im Zusammenhang mit der verstärkten elektronischen Pluralisierung kann die Etablierung der Medienkunst in den neunziger Jahren als ein symptomatisches Stadium des künstlerischen Aufbruchs beurteilt werden.

Mit dem Eintritt in das Zeitalter der Hard- und Software reduziert sich der Begriff der Materialität auf die Anwesenheit von Technik und das Funktionieren von Apparaturen.

Die Entwicklung und Visualität künstlerischer Vormarsch-Projekte orientieren sich vordergründig an der technischen Machbarkeit. Die Body Art der 1990er ist zunehmend medial inspiriert und nimmt im Hinblick auf den künstlerischen Crossover in Performance und Installation, die Herausforderung der Schnittstellen- Ästhetik Mensch /Apparatur an.

Die Neuen Medien erscheinen mehr und mehr als Opposition gegenüber klassischen Kunstgattungen. Die Multimedialität erleichtert jedoch die Integration künstlerischer Bewegungen. Ebenso entsteht mit der Digitalisierung und Vernetzung

42 vgl. Reck, Hans-Ulrich: Mythos Medienkunst. Überliefertes und Unerledigtes im Gebiet der bildenden Künste. In: Kunstforum International, Bd.157, Nov.-Dez.2001, S.258 36 eine permanente Vermischung, der mediale Lifestyle der Postmoderne vereint auch die kommunikativen Kunstgattungen wie Design und Musik, es kommt zu Überschneidungen, den so genannten Interfaces.

„Die neuen Grenzüberschreitungen und Genrevermischungen zwischen Kunst und Mode, Kunst und Kommerz sind der große Kulturtrend der zweiten Hälfte der 90er Jahre.“43 Ein deutliches Merkmal der der postmodernen Kultur ist deshalb auch die andauernde Umformung der Kunst und ihrer Definition. Eine Herausforderung für die körperbetonten Kunstprojekte der Zukunft, the inspired Body Art, ist und bleibt der Kampf um Differenzen und Besonderheiten.

1.2.1 Die Anzeichen des Grenzgänger-Daseins - der überreizte Körper

Die postmoderne Kultur ist neben ihren medialen Innovationen auch eine „Kultur des Recycling.“44 In der Philosophie tauchte der Begriff „postmodern“ erst bei Jean-François Lyotards „La condition postmoderne“ 1979 in Frankreich auf. Dabei ist die Postmoderne nicht als „nach-modern“ zu begreifen, sondern im Sinne einer Radikalmoderne zu verstehen.45 Ihre vorrangigen Kennzeichen sind Pluralismus der Kulturen, Traditionen, Ideologien, Lebensformen und Sprachspiele. Die industrielle Moderne veraltet durch ihre Beschleunigung und daraus entwickelter Eigendynamik. Die Nebenfolge dieses Selbstläufers ist nicht mehr in der Zweckrationalität begründet, sondern in Risiken, Gefahren, Individualisierung und Globalisierung. Imbusch spricht von einer reflexiven bzw. verselbständigten Modernisierung.46 Die Modernisierungen gegenüber dem Bekannten und Bewährten, auch auf wirtschaftliche, soziale und ästhetische Aspekte bezogen, sind immer schleichend und häufig sehr radikal in ihren Erscheinungsformen. Symptomatisch für die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten ist ihre zeitliche Koexistenz. Die Übergänge sind nicht abrupt, sondern unterliegen dem „floating der

43 s. Hurton, S.196

44 s. Vester, 1993, S.63

45 vgl. Imbusch, Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert.1. Auflage. VS Verlag, Wiesbaden, 2005, S.81

46 s. Imbusch, S.77 37

Zeichen“. Lischka charakterisiert damit den fortschreitenden Einfluss der Neuen Medien und die damit verbundene Überlagerung von Grenzen und Schnittstellen.

Häufig machen sich einschneidende Veränderungen zuerst als so genannte Subkulturen bemerkbar und setzen Trends, bevor sie von der Mehrheit der Gesellschaft als Kulturphänomen wahrgenommen werden. Der mediale Crossover ermöglicht also, dass im Verlauf der musikalischen Techno-Bewegung in den 1980er eine radikalisierte Body Art entsteht, die sich durch Cyberspace und Roboter-Ästhetik inspirieren lässt.

Auf diese Weise werden bereits die Entfremdung vom Natürlichen, Eigenen und Individuellen thematisiert. Die zunehmenden Adaptionen neuer Technologien führen in der Körperkunst der 1990er bei Orlan, Stelarc und Stenslie zu extremen Darstellungsformen. Auch in dieser radikalen Body Art besteht die aufklärende Tradition der modernen Kunst fort, in dem sie den bewährten Prinzipien der Beunruhigung oder Entgrenzung, sozusagen dem Hang zu Extremität, Exzessen und Provokation folgt. „Die zeitgenössische Kunst ist postindustriell in dem Maße, wie die Elektronik die Industrie, alle Gewerbe, Herstellungs- und Erzeugungsarten erobert hat.“ Sie ist nichts anderes als die empfindsame Spiegelung der Werte in unserem Umfeld. Wenn dieses Umfeld sich verändert, dann ändern sich auch die Werte, folglich ändern sich auch die Kunst und ihre Werke.47

Die Verbrüderung mit den technischen Visionen führt auch zu einer Übernahme von gleichartigen Zielen. „Die Technik ist, wie Heidegger einst bemerkt hat eine Form des Entbergens, des Erscheinenlassens von Wahrheit. Die Technik fordert die Natur heraus, ihre Gesetze zu entbergen.“48 Die Strategien der postmodernen Kunst orientieren sich an diesen Methoden des Entbergens, sie wollen mit den medialen Mitteln bisher nicht Gesehenes schaffen, konstruieren und entbergen.

Bezogen auf die radikalen Darstellungsformen der Body Art befindet sich der Körper in einer Art Grenzgänger Dasein:

Der menschliche Körper ist in der Übergangsphase von der Technologisierung zur Elektronisierung ein faszinierendes Forschungsobjekt, dessen Geheimnisse längst nicht komplett entschlüsselt sind. Sein Vorbildcharakter für Datenverarbeitungs-

47 zit. n. Moles, Abraham: Gibt es eine spezifische Kunst des elektronischen Zeitalters? In: Nach der Postmoderne. Hrsg. v. Andreas Steffens. Bollmann Verlag. Düsseldorf/ Bensheim. 1992, S.225f

48 Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre (1962). Neske, Pfullingen, 1976, S.22 38 prozesse und Gedächtnisarbeit optimierter Software macht ihn für die Elektronikindustrie und die gesamte New Economy unersetzlich. Der mikroelektronische Blick in den Körper enträtselt letzte Geheimnisse, die für die Bestimmung von Erbkrankheiten und die Kolonisierung der menschlichen Organe notwendig sind. Nach der revolutionären Massenkommunikation erfolgt nun eine Revolution, die sich mit dem inneren als auch mit dem äußeren Wandel des Körpers beschäftigt.

Baudrillard sieht in der Gegenwart durch die Omnipräsenz der Medien und die grenzenlose Nähe der Darstellung allen sozialen Geschehens [...] den Verlust des Leiblichen als Darstellungsfeld des Menschlichen.49 Dabei bezieht sich diese Leibfeindlichkeit auf das fehl entwickelte Leib-Seele bzw. Körper-Geist-Verhältnis der Nachmoderne. Der Vergleich mit einem Hardware-Software-Dialog wird durch ein ausgewähltes Beispiel deutlich. Die bereits von Koslowski angeführte „Hackerkultur“ unterstützt die These der Disharmonie von Körper und Geist. Die ständige Verfügbarkeit der Computerwelt und ihre Mechanismen der Simulierbarkeit beeindrucken den Anwender und geben ihm „ein Gefühl der Macht und Überlegenheit [...] Die Maschine erscheint dem Hacker als der Welt der Leiblichkeit weit überlegen. Die Hackerkultur der 1990er ist demnach eine Kultur der Unsinnlichkeit. Komplexität des Ausdrucks ist in ihr nur im Programm, aber nicht in den menschlichen Beziehungen erwünscht.“50

Mit der Faszination der vollständigen Transparenz durch die Informations- technologien entsteht der Eindruck der Überflüssigkeit des Leibes, sogar die Auffassung seiner Hinderlichkeit für einen „reibungslosen“ Datentransfer. Die Übernahme informationstechnischer Begriffe in den alltäglichen Sprachgebrauch verweisen auf eine zunehmende Identifikation mit der maschinellen Intelligenz. Die Sozialbeziehungen und die Selbstwahrnehmung orientieren sich an technischen Abläufen. Umschreibungen wie surfen, online sein, chatten suggerieren Einfachheit, Schnelligkeit und Unverbindlichkeit beim Benutzer.

Während in der Body Art der 1960er Jahre und 1970er der Körper als Material noch sehr provokant (Paul Thek, ) eingesetzt wurde, zeigt sich in den 1990ern auf dem vorläufigen Höhepunkt der Technokultur seine Materie deformiert,

49 Baudrillard, zit. von Koslowski, S.43

50 Koslowski, S.43 39 zerstückelt, fragmentiert und „gelegentlich verschwindet er gänzlich im Bewusstsein des Vergehens alles Physischen.“51

Der australische Künstler Stelios Arcadious, alias Stelarc, äußert sich zu der eindringenden Technologie wie folgt: „[…] durchdrungen von Maschinen ist die Haut nicht mehr die weiche empfindliche Oberfläche eines Ortes […] Haut bedeutet nicht mehr Abschließung. Aufbrechen der Oberfläche und der Haut ist die Auslöschung des Innen und des Außen.“ (1996, Kunstforum International)

Paul Virilio, französischer Philosoph und Kulturkritiker, sprach bereits 1993 von der Eroberung des Körpers und kritisiert das „Niedergehen der neuen Technologien auf den Körper.“52 Die Überreizung durch die Elektronisierung fördert demnach offensichtlich die Triebkräfte der Verschmelzung. Neben der unbestrittenen Erleichterung für die Lebens- und Arbeitswelt zeigen sich auch eindeutige Symptome der Entleiblichung oder Entkörperung, die mit der Adaption der Hard- und Software (Einkörperung) vollzogen werden.

Offensichtlich muss sich der Körper der schnelllebigen Entwicklung anpassen, die Geschwindigkeit der Technik verlangt eine noch höhere Kompatibilität; eine Akkomodation des Körpers an die äußeren Umstände.

Der überreizte Körper sieht sich ständigen Veränderungen bzw. Korrekturen ausgesetzt. Seine natürlichen Formen und individuellen Merkmale unterliegen schnelllebigen Trends und modellhaften Idealen. Vom Body der 1990er wird mehr und mehr eine Beschleunigung und Umkehrung seines Biorhythmus verlangt; ist der Körper bisher gealtert, und man hat versucht diesen Prozess zu verlangsamen, versucht man nun, den menschlichen Körper durch strukturelle Eingriffe zu verjüngen. Die operativen Maßnahmen werden vorwiegend für eine Veränderung der Optik eingesetzt. Das Eindringen in den Körper über die Haut ereignet sich in Form von Unterspritzungen mit Collagen oder Eigenfett, welches dem Körper erst entnommen wird, um es an anderer Stelle wieder hinzuzufügen. Der Körper wird mit seiner eigenen Masse modelliert. Damit die Gefahr der Abstoßung möglichst gering bleibt, verwendet die Medizin körpereigene Stoffe und formt damit die Vorstellung einer idealen Körperstruktur. Die Methodik der plastischen Chirurgie demonstriert die perfektionierte Technik der Körperverwertung. Mit Hilfe eines Körperrecyclings

51 Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont Verlag, Köln, 2002, S.49

52 Virilio, Paul: Die Eroberung des Körpers. Frankfurt am Main, 1996, S.124 40 gelingt eine demonstrative Einkörperung zugunsten eines gesellschaftsorientierten Körperbildes. Die französische Performancekünstlerin Orlan nutzt für ihre Arbeit L`Art Charnel die technischen Möglichkeiten der Körpermodifizierung. In unzähligen Operationen (1990-1993) verwandelt sie ihr Gesicht nach den Schönheitsidealen der Kunstgeschichte.53 De facto wird in dieser Dauerperformance der Körper zum „wandelbaren Fleisch“, der sich den gesellschaftlichen und individuellen Leitbildern anpasst.

Der menschliche Körper wird immer mehr als Struktur verstanden. Mit dieser veränderten Sichtweise erfolgt eine Entwertung des alten Körpers, der aufgerüstet wird, um einem schnelleren Lebensrhythmus standzuhalten.54 Das Verständnis der Körperkultur ändert sich mit der Verjüngungsstrategie der postindustriellen Gesellschaft. Der Freizeitkörper hat den Arbeitskörper abgelöst, und der Erlebniskörper löst den Freizeitkörper ab. Damit ereignet sich auch der Eintritt, besser gesagt, der Übergang in ein neuzeitliches Verständnis der postmodernen Kultur, inklusive dem damit verbundenen Körperbewusstsein. Mit der Erlebnisgesellschaft ergeben sich neue Erfahrungen von Lust und Schmerz, die bereits auf die Grenze des körperlichen Erfahrungsfeldes hindeuten.

Im Angesicht der Jahrtausendwende zeigen sich die künstlerischen Verschiebungen des Körpers weiterhin als Tableau des Realen und Sozialen. Der Körper ist somit nicht nur Projektionsfläche für Einheits- und Geborgenheitsphantasien, er fungiert mehr denn zuvor als Schnittstelle zwischen dem Physischen und dem Bild, das man sich von ihm macht. Die Festlegung des Körpers auf eine konservierte Unversehrtheit macht ihn immer mehr zu einem Darstellungs- und Verhandlungsobjekt. Diese Hinwendung zu einer Grenzästhetik heißt auch: „Es gibt keine kollektive Norm, kein Selbst oder eine symbolische Ordnung mit universellem Anspruch [...] Also kann auch kein fester Ort, kein festes Ding oder Objekt zum Halt oder Gegenstand werden – die Stellung des modernen Subjekts wird unhaltbar.“55 Auf den Körper bezogen bedeutet dies, dass sich die Präsenz des Körpers sich nicht mehr in seiner physischen Materialität artikuliert, sondern in der Radikalität der

53 s. Abbildungsverzeichnis, Abb. 20

54 vgl. Virilio, Paul: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Hauser Verlag, München, Wien, 1994, S.130

55 vgl. Strunk, Marion: Vom Subjekt zum Projekt. In: Kunstforum International, Band 152, 2000, S.156 41 postmedialen Kunst existiert vielmehr nur die physische Spur, die er hinterlässt, oder eine ständig oszillierende Bedeutung, die er evoziert.56

In der Kunst kann der Körper immer noch als Medium des Selbstausdrucks verstanden werden. In der Inszenierung von offenen Kunstwerken bleibt er meistens ein Ort der Montage verschiedener Selbstbilder und ein Ort der Vereinnahmung durch das jeweilige Kulturverständnis der Gesellschaft. Die selbstverständliche Wahrnehmung des Körpers und dessen Behandlung innerhalb einer Gesellschaft sind immer ein Ausdruck der generationstypischen Zwiespältigkeit gegenüber Natur und Technik.

Die Pluralität seiner Erscheinung ist ein Garant für eine stabile Identität, aber zugleich auch Beweis für die Konstruktion und Multiplizierbarkeit von Identitäten.57

1.2.2 Im Zenith des Crossover - the Body of Generation X

Es ist die Philosophie der Gleichzeitigkeit unter der das Arbeitsprinzip der Post-Postmoderne und ihrer kulturellen Ereignisse gestellt werden kann. Mit der Angebotsfülle wächst nicht nur die Unüberschaubarkeit, auch die Einordnung der künstlerischen Komplexität wird immer schwieriger. Die Grenzüberschreitung innerhalb der verschiedensten Bereiche wuchert; Künstler, Musiker, Performer wollen ihre Mehrfachbegabungen ausleben. Der Ausklang des 20.Jahrhunderts mit seinen kunstvollen Massenevents wie Love-Parade, Christopher-Street-Day (CSD) wird zu einem Crossover der Stile, Sparten und Kunst-Gattungen. Die Club-Szene organisiert die Plattform für eine modernisierte Avantgarde. Bei solchen Großveranstaltungen wird nicht nur getanzt, performt, gemalt, fotografiert, gefilmt und installiert, das grundsätzliche Prinzip des „Kunst-Zappings“ 58 kann hautnah ausgelebt werden. Ganz gleich ob Musiker, Maler, Filmer oder DJs, die neuen Heroen der Club-Kultur sprengt mit ihrer Strategie des Ausprobierens und Verwirklichens das einstige Schubladendenken der modernen und postmodernen Kunstszene. Die Ästhetik als Disziplin wird vom zeitgenössischen Künstler ohnehin

56 vgl. Flach, S.57

57 s. Bronfen, Elisabeth: Die Verschiebungen des Körpers. In: DU. Die Zeitschrift der Kultur, Heft 4, April 1998, S.20ff

58 Koether, Jutta: Art-&-Pop-Crossover. In: Kunstforum International, Band 135, S.187 42 abgelehnt. Das neue Verständnis von Ästhetik befreit sich von der Bevormundung durch die Philosophie. Die Kriterien für die Beurteilung von Gegenwartskunst sollten reflektierend und jederzeit revidierbar sein.59

In den 1990ern kommt es zu durch die zunehmende Vernetzung der Gesellschaft, zu einer verstärkten Ausweitung des Erlebnismarktes und der Ausbildung multilokaler Szenen. Die kulturelle Szenebildung verursacht eine weitere Herausbildung unausgesprochener Konventionen durch Sprache, Kleidung, Kunststile, Körper und soziale Einstellungen. Die Szenezugehörigkeit bedeutet immer auch Milieuzugehörigkeit. Gegenwärtig wirkt sich die kulturelle Dominanz der Selbstverwirklichungsmilieus auf den großstädtischen Erlebnismarkt aus. Im Mittelpunkt der Erlebnisangebote steht die Verknüpfung mit der Selbstinszenierung: Die Selbstverwirklichungstendenz wird kombiniert mit erlebnisorientierten Selbstdarstellungsangeboten, die als Gruppenereignis zelebriert werden.

Gerade die Musik bietet sich als neuartige Plattform des erweiterten Kunstbegriffs an. Die Schnittstellen zur Performance und Installation bringen neue Bilder hervor und sind die Inspirationsquellen der Crossover-Art. Beispielsweise hat sich die Techno-Generation an der Popmusik der 80erJahre orientiert und durch die Erhöhung der Geschwindigkeit, der Massenwirksamkeit und der Fähigkeit die Gruppierungen zu einigen, ein kollektives Erlebnis zu kreieren, dieses soziokulturelle Phänomen der Gleichzeitigkeit realisiert. Der Begriff Artist beinhaltet die Idee von einer Ästhetik der Überschreitung und Auflösung. Die neue Generation des Kunstwilligens äußert die Idee, den Sonderstatus des Künstlers aufzugeben und „ [...] ein ganz alltägliches Besonders-Sein-wie-alle-Anderen auch den Anderen zu zeigen, dass sie ihre jeweilige Besonderheit und das sie verbindende Gemeinsame erkennen können.“60

Die Unübersichtlichkeit der Medienrealität bringt also neue postmoderne Poeten hervor. Die Massenkultur ist durchsetzt mit den redundanten Zeichen der multimedialen Codes und ist Nährboden für künstlerische Synthesen. Die Interaktion der unterschiedlichen Codes ist die Basis für verschiedene Sphären, in denen sich Kunstproduktion äußert. Die Klangräume und Bildräume werden nicht mehr separiert, sie existieren in einem Nebeneinander. Während in der Moderne die

59 vgl. Pries, Christine: Ästhetik- zwischen Kunst und Philosophie. In: Steffens, Andreas: Nach der Postmoderne. Bollmann Verlag. Düsseldorf/Bensheim, 1992, S.2000 60 s. Koether, S.188 43

Spezialisierung und das Nacheinander zelebriert wurden, ist ein Symptom der post- postmodernen Kultur die Simultanität und Anti-Spezifität.61

Die Beschleunigung in der Stil- und Trendbildung durch die Mainstream-Medien- Kultur fordert zu einer zügigen Einverleibung auf und repräsentiert damit die Offenheit und Empfänglichkeit des globalen Kulturaustausches. Die Sensibilität für die Subkulturen leidet teilweise unter dieser Verschiebung: das Crossover- Arbeitsprinzip impliziert auch die Gefahr der “kulturellen Verbreiung“.

Exkurs: Crossover ein postmoderner Manierismus?

Erkennbar ist, dass durch die zunehmende internationale Vernetzung, ebenso wie die Durchdringung und Vermischung innerhalb und außerhalb der Kulturen eine Auswirkung auf die Auflösung der traditionellen Einzelkultur beschleunigt wird. Wolfgang Welsch spricht in seinem Konzept der Transkulturalität von neuen Lebensformen, die nach dieser Auflösung entstehen.62 Paul Virilio bezeichnet den Börsenkrach im Jahr 1987 als ein Vorzeichen für verschiedene ökonomische Katastrophen, vor allem aber ist es das Anzeichen für „eine Vielzahl der dramatischen Brüche im Bereich des sozialen Austauschs und der sozialen Kommunikation.“63 Daraus lässt sich ableiten, dass die heutigen Kulturen ihre Homogenität und Separiertheit abgelegt haben und längst zu Kulturen des Übergangs geworden sind. Da die Kulturformen ebenso Lebensformen beeinflussen, ändert sich der Verlauf nachmoderner Lebensentwürfe. Die Lebensenergie und die Handlungsmuster des Subjekts konzentrieren sich immer mehr auf die Verwirklichung von verschiedenen Identitäten, eben im Bewusstsein verschiedener sozialer Welten. Die individuellen Anforderungen wie Flexibilität, Mobilität, Entscheidungsdruck verstärken den Eindruck der Zersplitterung, eine Fragmentierung im Zuge selbstorientierter Offenheit. Die Empfänglichkeit des „fragmentierten Selbst“ steigert so die Anzahl der Identitäten, und das jeweilige Anpassungsniveau wird zur Charakteristik für das „Plurale Selbst“ der post- postmodernen Generation.64

61 vgl. Antunes, Arnaldo: >Ich strebe die Interaktion der Zeichen in einem einzigen Projekt an<. Gesprächsaufzeichnung von Augusto Massi. In: Kunstforum International, Band 135, S.204

62 Welsch, Wolfgang 1991 erscheint ungekürzt unter dem Titel: „Transkulturalität- Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“. In: Information Philosophie (1992), Heft 2, S.5-20

63 s. Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Carl Hauser Verlag. München/ Wien 1992, S138

64 s. Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Reclam Verlag, Stuttgart 1996, S.278 44

Mit dem Verlust der Tiefendimension avanciert die Zeit zwischen Moderne und zweiter Moderne zu einem „Allzweckchamäleon, eine diffuse Zerstreuungskultur“, die sämtliche Ausmaße der Pluralität gänzlich ausschöpft und die Anpassungsmodalitäten stark vereinfacht.65 Die Anforderungen für das Subjekt gipfeln in einer Vieldeutigkeit der Lebenserfahrungen und Sinnerwartungen.

„Das Ego wird relativiert, variiert, flexibilisiert, entstrukturiert, entpersonifiziert und in differenzierte pluralistische sprach- und tiefenlose Stilformen aufgelöst.“66 Diese Auflösung des Ganzen wird von der postmodernen Generation nicht als Verlust empfunden, vielmehr als eine Bereicherung der Lebens- und Erfahrungswelt. In dieser Situation des gelebten Crossover lässt sich tatsächlich von einem postmodernen Manierismus sprechen: Kunst- und Lebensstile existieren und ändern sich unter dem Einfluss der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie. Die Überreizung des Körpers und der Gesellschaft gipfelt in eine „Strategie der Infraindividualisierung.“67 In den neunziger Jahren wird die „Kluft zwischen Styling (Person) und Substanz (Körper)“ immer deutlicher.68 Kleidung und Musik dienen dabei als Abgrenzungsszenarien für eine „verfügbare Individualität“, eine sogenannte „Ich-Präsentation.“

Ferchhoff bezeichnet dieses „Marketing des Selbst“69 als die Ausformung eines „patchwork affinen Habitus“, der sich an der exzentrischen, disponiblen oder multiplen Identität orientiert.70

Für die Body Art dieser Generation werden Transformation und Metamorphose wieder zum Thema. Die Darstellung so genannter Patchwork-Identitäten rekonstruieren die tragischen Bemühungen nach Selbstkompensation

65 s. Ferchhoff, Wilfried/Neubauer, Georg: Patchwork-Jugend. Eine Einführung in postmoderne Sichtweisen. Leske Budrich, Opladen, 1997, S.73

66 s. Ferchhoff/ Neubauer, S.83

67 Ferchhoff/Neubauer, S.86

68 ebd., S.101

69 Ferchoff zit. Dröge/Krämer-Badoni: Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform, Frankfurt/Main 1987, S.279

70 s. Ferchhoff/ Neubauer, 1997, S.107 45

1.2.3 Generation X - postmodern transformed Body by Techno

Der Begriff –Techno-Generation- ist eng mit der Typisierung der Generation X verbunden. Der amerikanische Autor Douglas Coupland bezeichnete in seinem gleichnamigen Buch die „erste amerikanische Absteigergeneration“. Die Romanhelden werden zu Schwimmern gegen den Strom von Konsum- und Karrieresucht, sie avancieren mit ihrem Illusionslosen Fatalismus und kritischer Ironie zu „Bohemiens im Zeitalter der Postmoderne.“71 Die mediale Vielfalt wird von der beschleunigten Generation, der Generation X, als Chance wahrgenommen. Der Versuch, mit ihr umzugehen und neue Möglichkeiten der Wahrnehmung des Selbst und des Anderen zu finden, fordert die nachmoderne Generation heraus. Die Techno-Kultur der neunziger Jahre ist vergleichbar mit der Disco-Bewegung der siebziger Jahre. Im Mittelpunkt steht die Inszenierung individualisierter Körperbewegungen. Die Raves dominieren die Club-Szene demonstrieren eine Sucht nach Augenblickslust, die sich in Marathon-Tänzen (bis zu 48 Stunden) potenziert. Die Historie des Techno ist vergleichbar mit den Salons und Kunst-Clubs der Avantgarde zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Die bizarren Aufführungen des Cabaret Voltaire (1916) waren spontane Kunstaktionen, die in die Lokale verlagert wurden, ein Indiz für die Überschreitung der konventionellen Kunstdarbietung auf dem Weg zur modernen Kultur. Die Club-Kultur der 1990er repräsentiert die von Norbert Elias bezeichnete Pseudo-Verquickung der Ich-Wir-Balance.72 Die neu formierte Club- bzw. Raveszene praktiziert den Wechsel sexueller Identitäten und die Bildung von Mehrfachidentitäten nicht nur auf den ausschweifenden Techno- Events. Durch die Dancefloor-Communities werden diese Synergieeffekte von Mensch, Maschine, Körper und Künstlichkeit jedoch perfektioniert. Sie liefern einen Hinweis auf die Mechanismen der Medien, die das Subjekt entäußern und konsumieren und es einem medialen Narzissmus unterwerfen, in dem es verschwindet.73 Die Grenzüberschreitung vom Ich und Anderen führt zu einer stilisierten Grenzerfahrung, die von Ravern selbst als Ekstase beschrieben wird.

71 s. Stöber, Michael: Generation X: Werke der Sammlung. Kunstmuseum Wolfsburg 8.7.2005 –15.1.2006. In: Kunstforum International. Band 177. Sept. – Okt. 2005, S. 365

72 zit. n. Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt /M, 1987. In: electronic vibrations. Popkulturtheorie. Hrsg. v. Gabriele Klein. Hamburg 1999, S.165

73 vgl. Puff, S.233 46

Die Soziologin Gabriele Klein beschreibt das Phänomen –Techno- als kulturelle Praxis, die durch Körpereinsatz und Kommunikation ästhetische Erfahrungen ermöglicht. Diese Bewegung beeinflusst in zwei unterschiedliche Richtungen; sowohl die zunehmende „Individualisierung und Atomisierung“ als auch die „Verkümmerung und Verwahrlosung ästhetischer Sensibilität.“74

Gerhard Lischka schildert die Verwandlung zum menschlichen Mediator noch drastischer: „Um sich in diesen Gefilden der Techno-Imagination noch zurechtzufinden, müssen wir uns in eine Ästhetik der Existenz ins Monitorstadium begeben, in den Mediator verwandeln, um auf der Höhe der Zeit zu sein und überleben zu können.“75

Die kulturelle Entwicklung der 1990er steht vollkommen unter dem Einfluss der virtuellen Realität. In der Konturenlosigkeit der Simulation verwirklicht sich eines neues Spektrum unbegrenzter Möglichkeiten. Die Club-Kultur ist Symptom der Hybridkultur. Ihre Hybridität besteht im ironischen Oszillieren zwischen den disparaten medialen Elementen. Dabei geht es nicht um die Möglichkeit der Vereinbarkeit bzw. Verschmelzung von Eigenem und Fremden, sondern um die „Begegnung auf der Schwelle“, die sowohl das Eigene als auch das Fremde verändert.76

Exkurs: der postindustrielle Mensch nach Hage und Powers (1992)

In post-industrial lives untersuchen Jerald Hage und Charles Powers zu Beginn der Neunziger die rollen- und identitätstheoretischen Konsequenzen der Postindustrialisierung. Eine wesentliche Schlussfolgerung aus der drastischen Veränderung in der Wissens- und Technologieentwicklung ist, dass der postindustrielle Mensch zukünftig weniger Anstrengungen auf die Präsentation des Selbst, als auf die Konstruktion des Selbst verwenden wird. Die Analyse der Sozialwissenschaftler lautet: „ [...] dass die postindustrielle Wirtschaft mit ihren komplexen, flexiblen und dezentralen Strukturen und Funktionen von den Menschen auch ein flexibleres komplexes Selbst verlangt“ [...], welches in den unterschiedlichen sozialen Situationen mit den diversen Identitäten und Rollen

74 s. Klein, S.183

75 s. Lischka, S.144

76 s. Puff, S.232f 47 operieren muss.77 Durch die ständige Rekombination der sozialen Identitäten wird die Selbsteinschätzung der eigenen Person, die auf der Beurteilung anderer beruht, weniger bedeutend. Die neuen Bewährungsmechanismen werden von der dynamischen gesellschaftlichen Umwelt an das Individuum gestellt. Die Bewältigung von Problemen in identitätsstiftenden sozialen Situationen wird nach Hage und Powers hauptsächlich durch die Fähigkeit zur Flexibilität reguliert.78

Diese komplexen Identitätskonstellationen innerhalb der sozialen Organisationen verursachen eine Vernachlässigung des einzigen „Kernselbst.“79 Was bedeutet diese gesteigerte Flexibilität für die generationstypische Identität der Generation X? Mit dem Begriff der Generation kann somit auch eine bestimmte historische Erfahrung gedeutet werden. Die Transformationen innerhalb bestehender Gesellschaften können ebenso als generationstypische Erfahrungen bezeichnet werden. So wird die Betrachtung einer speziellen Generation zu einem Deutungsmuster sozialer Positionen. Die Identitätspolitik gesellschaftlicher Gruppen, so auch künstlerischer Bewegungen können anhand ihrer Repräsentationspolitik ermittelt werden.80 Die seit den 1990ern verwendeten Termini Generation X, Generation Y oder Z deuten darauf hin, dass die Eindeutigkeit der Merkmale verwischt und sich die Ablösung von Generationsstilen immer schneller vollzieht. Im Alltag werden die Beschleunigungsphasen der Generationswechsel durch permanente Änderungsformen innerhalb bestehender Lebensstile sichtbar. Die zunehmende Wahlfreiheit in fast allen Lebensbereichen führt ebenfalls zu Instabilität und Inkonsistenz in Einstellungen und Lebensweisen.81

Der Begriff -Generationswechsel- bezieht sich längst nicht mehr auf die biologisch begründete Generationsfolge. Der Generationsbegriff ist mittlerweile ein erfolgreiches Instrument zur Benennung und Einordnung kultureller Umbrüche und sozialer Bewegungen. Deshalb lässt sich die Definition des Wechsels der Generationen auch auf die Kunst und ihre Tendenzen übertragen. Die spezifische Körperkunst des ausgehenden 20.Jahrhunderts kann unter verschiedenen

77 Vester zit. Hage, Jerald/Powers: Post-industrial lives. Roles and Relationship in the 21.Century. Newbury Park, 1992, S.126ff

78 s. Hage/ Powers. In: Vester,1993, S.127

79 Vester, S.127

80 vgl. Kilian, Eveline,/Komfort-Hein, Susanne (Hrsg.): GeNarrationen. Variationen zum Verhältnis von Generation und Geschlecht. Attempto Verlag 1999 Tübingen, S.79

81 Ferchhoff, S.126ff 48

Aspekten als generationstypisch analysiert werden, deshalb erfolgt in Anlehnung an Generation X die Bezeichnung der BodyArt –X-.

1.3 Körperkunst und Kunstkörper der Generation X - electronic vibrations

Um die maßgeblichen Veränderungen, die mit der Medienkunst einhergehen eindeutiger zu klassifizieren, wird der Terminus „hybrid“ von Christian W. Thomsen ausgewählt. In seinem Forschungsbericht Hybridkultur von 1994 analysiert er den Einfluss der Bildschirmmedien auf die Künste. Demzufolge können die einschlägigen Veränderungen der soziokulturellen Erscheinungen, also auch der Körperkunst unter den Aspekten der Hybridisierung untersucht werden.82

Die Hybridisierung steht vor allem für eine so genannte Vermischung von Lebensformen. In Bezug auf das Verhältnis von Kunst und Technik wird diese Vermischung besonders in den Produktionsmöglichkeiten von Kunstwerken deutlich, aber auch in den zunehmend veränderten Präsentationsformen. Diese „Philosophie der Gemenge und Vermischungen“83 entsteht durch die multiplen Wahlmöglichkeiten, welche durch die ausgedehnte Quelle an verfügbaren Kommunikationsmitteln scheinbar unerschöpflich sind. Die eindeutigen Abgrenzungen zwischen dem Natürlichen und Künstlichen werden mit der gesteigerten Kombinierbarkeit verwischt. Melanie Puff definiert das „Hybride nicht als Symbiose, sondern als eine Durchdringung, die ein gegenseitiges Anziehen und Abstoßen beinhaltet und in einem ständigen Prozess des Austausches und Aufeinanderverweisens“, der différance zu begreifen ist.84

Die Hybridität ist eine Erscheinung der spät- oder postindustriellen Kultur. Im Mittelpunkt steht die Verschmelzung zweier oder mehrerer Medien. Der Computer avanciert zum Leitmedium der Gegenwartskultur und hat die Position des Fernsehens abgelöst. Die Zukunft der Medien ist ohne eine Durchdringung der Computertechnologie nicht denkbar. Dessen Kompatibilität und Speicherkapazitäten bewirken eine neue Erscheinungsform von Kunst und dementsprechend eine

82 Thomsen, Christian W.: Hybidkultur. Bildschirmmedien und Evolutionsformen der Künste. Annäherungen an ein interdisziplinäres Problem. DfG-Sonderforschungsbereich 24, 1994, Arbeitsheft 46, Siegen,1994, S.2

83 s. Schneider, Irmela: Hybridkultur. Eine Spurensuche. In: Thomsen, Siegen 1994, S. 11

84 vgl. Puff, Melanie: Postmoderne & Hybridkultur. Passagen Verlag. Wien, 2004, S.246 49 separierte Künstlerbewegung oder – Generation. Die neunziger Jahre können nicht als „seichtes Auslaufen der Postmoderne“ angesehen werden, vielmehr ergeben sich durch die „Kunst der Oszillation“ neue Gesellschafts- und Subjektentwürfe, die aus den elektronischen und virtuellen Medien entstehen.“85

Die herausragenden Eigenschaften und die Möglichkeiten, welche mit der Durchdringung verschiedenster Zeichenmengen und Organisationsformen auf kleinsten Raum (Hardware) künstlerisch und vor allem wirtschaftlich nutzbar sind, avancieren zu den markantesten Kennzeichen der „Hybridkultur.“86 Die unsichtbaren Geschwindigkeitsimpulse verleihen dem neuartigen Mythos -des Machbaren- etwas Grenzenloses und eine beliebige Erweiterungsfähigkeit. Damit verbunden ist die unweigerliche Auflösung traditioneller gesellschaftlicher Modelle. Die heutige Kultur basiert infolgedessen auf einer medialen Hyperrealität, die die Wirklichkeit deformiert, konsumiert und sich vor sie schiebt.87

Die Zukunft liegt in einem Hypermedium, dessen Integrationsleistungen oder Einkörperung und schnellst mögliche Entkörperung, bezogen auf seine Hardware und Software-Eigenschaften, in kürzesten zeitlichen Dimensionen vollzogen werden kann. Das jetzige Verhältnis des Rechners zu dem Faktor Zeit verweist längst auf die dauernden Zustandsänderungen. Diese Verständigung beruht ebenso auf der Basis des Hybriden: „[...] ein unentwegtes Oszillieren zwischen Statik und Dynamik, zwischen Fixierung und Animierung, zwischen Stillstand und Bewegung.“88

Der Computer ist multifunktional, er ist das Medium der künstlerischen Gestaltung und gleichzeitig das Medium der Präsentation. Der Bildschirm ist nicht nur Teil von Installationen. Die produzierten Bildformen vermischen sich durch die Hybridisierung zu prozesshaften Bildfolgen. Die Werkkategorie wird abgelöst durch das Performative, die Ereignishaftigkeit durch Arrangements und Prozesse.89

85 s. Puff, S.245

86 Kirchmann, Kay: Mendels elektronische Kinder. Anmerkungen zur Hybridkultur. In: Thomsen, S.81

87 vgl. Puff, S. 246f

88 s. Puff, S.82

89 vgl. Thomsen, S.19 50

1.3.1 Im Bewusstsein eines Patchwork-Dasein

Das Gleichgewicht zwischen individuellem und sozialem Leben, sowie wissenschaftlich-technischer Effizienz hat sich im Zeitalter der Medienexpansion eindeutig in Richtung der technischen Rationalität verschoben. Durch die Simulation, die postmediale „Ästhetik des Immateriellen“, gerät die Welt zunehmend ins Fließen.90 Klein schildert in electronic vibrations dieses alltägliche Erlebnis, als ein Eintauchen in die Strukturen der Welt. Die Vorstellung vom handlungsfähigen Individuum mit Weltanschauung, Intention, Moral und definierbarer psychischer, körperlicher und sozialer Welt verwischt. Horx benutzt in seinem Trendbüro den Sammelbegriff –Amorphilität- für die spezifischen Bewusstseinsphänomene der Neunziger oder der sogenannten Generation X:

• „Multiphrenie“ steht für das Gefühl einer Generation, mehrere Identitäten gleichzeitig zu haben. •„Polypolitik“ steht für die Unfähigkeit, sich einer bestimmten politischen Denkweise zugehörig zu fühlen.

Die Impulse der multikulturellen Gesellschaft auf die sozialen Handlungs- kompetenzen des Individuums sind verkümmert und unterliegen dem Wandel, hin zu einer „polykulturellen Gesellschaft.“91

Die Orientierungslosigkeit, der Identitätsverlust und die zunehmende mediengesteuerte Wahrnehmung charakterisieren die Generation X. Das Selbst oder die Identität dieser Generation entwickelt mit den kulturellen Wandlungsprozessen und den damit verbundenen Integrationsleistungen neue Formen der kultischen Selbstbezogenheit. Die bereits angesprochene These der stetigen Veränderung und Transformation kann auch auf die flüchtigen, ästhetisierenden Selbstinszenierungen angewendet werden. Werner Helsper spricht von einem dezentrierten, Collagen–oder Bastel-Selbst bzw. von einer Patchwork- Identität.92

90 s. Thomsen, S.27

91 Horx, Matthias: Trendbüro. Econ Verlag, 1996, S.180

92 vgl. Helsper,Werner: Das >postmoderne Selbst< -ein neuer Subjekt- und Jugend-Mythos? In: Identitätsarbeit heute: klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Hrsg.: Heiner Keupp, Renate Höfer, 2.Aufl., Frankfurt a. M. 1998, S.181 51

Die Postmoderne und die einhergehende Pluralisierung fordern das Individuum erheblich; die Vielheit der Ausprägungen steigert zwar die Entfaltungsmöglichkeiten, verursacht ebenso Stressmomente in Bezug auf die Selbst-Deutung. Die freie Aneignung der Selbsttätigkeit wird durch das erweiterte Spektrum der Erfahrungssituationen verkompliziert. Das individuelle Selbst erfährt den Prozess der Selbstfindung als einen Prozess der Verwertung und Verwerfung. Die sich immer schneller wandelnde soziale und natürliche Umwelt verlangt einen beschleunigten Prozess der Aneignung, Auswertung und Nutzbarmachung.

In den 1990ern taucht im Zusammenhang mit Flexibilität und Verunsicherung auch der Begriff des modernen Nomadentums auf. Peter Koslowski erklärt dazu:

„Der Mensch ist Monade: ein Wesen der Einheit aber auch Alleinheit (solitudo).“93 Trotz der Befriedigung seiner materiellen Grundbedürfnisse sieht er sich konfrontiert mit dem Ungenügen der Welt, diese Entzweiung aufzuheben. Das Nomadentum und das Angebot gesellschaftlicher Utopien führen zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Selbst.

Für die Körperkunst der 1990er ist neben der Hybridisierung, also die Mensch- Maschine-Philosophie, auch der Ansatz der kultischen und rituellen Körperinszenierung ein Indiz für das Patchwork-Empfinden einer Generation.

Künstlerischer Exkurs: Jana Sterbaks Flesh dress (1987)

In den 80er und 90er Jahren wird in der Body Art mit dem Material Fleisch, die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit des Menschen dargestellt. Flesh steht symbolisch für die Originalität des Körpers aber auch für seine Vergänglichkeit. Fleisch ist ein reales Material um den Körper und seinen mythischen Stellwert in einer sich wandelnden Gesellschaft zu positionieren. Jana Sterbak inszeniert mit ihrer schockierenden Arbeit flesh dress for an albino anorectic (1987) eine Body- Performance aus einem genähten Ochsenfleischkleid. Die provozierende Darbietung auf einer Schneiderpuppe verdeutlicht das Patchwork-Dasein des Menschen im postmedialen Zeitalter.94

93 Koslowski, S.53

94 Abbildung Jana Sterbak, Flesh dress, 1987. In: Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont Verlag, Köln, 2002, S.126 52

Jana Sterbak: Flesh dress, 1987

Die Zerrissenheit und Schutzlosigkeit werden ebenso thematisiert, wie die Angst vor dem Verfall. Sterbak ritualisiert das Fleischkleid als modernes Vanitas-Symbol. Der Unterschied Mensch/Tier liefert hier auch Diskussionspotential. Das Ochsenfleischkleid schützt den menschlichen Körper, aber was schützt nach der Verwesung des Fleisches die menschliche Hülle? Sterbaks flesh dress regt zum Nachdenken an: Welchen Stellenwert hat das Fleisch/der Körper im Zeitalter der Elektronisierung und Simulation? Führen die Verdinglichung des Materials und seine ständige Verfügbarkeit gar zu einem Respektverlust? Die zusammengenähten Fleischstücke verkörpern etwas Rituelles und liefern einen Hinweis auf das Auseinanderdriften von Mensch und Gesellschaft. Der künstliche (genähte) Zusammenhalt ist nicht auf Dauer, eine Anspielung auf die wissenschaftlich- technische Zivilisation, die sich immer mehr in Richtung Entzweiung als Versöhnung bewegt. In der übernatürlichen Darstellung des Fleischkleides erfüllt sich die Sehnsucht nach einheitsstiftenden Funktionen, die eine personale und kulturelle Identität aussöhnen können. Sterbaks Body Art behandelt den Körper als Artefakt. Durch ihr Fleisch-Recycling taucht das unbelebte Material am Körper des Menschen

53 wieder auf, wird auf künstlerische Weise gewissermaßen wiederbelebt. Jana Sterbak nutzt nicht nur das reale Fleisch für ihre Darbietung, sondern setzt auch die Gebrauchsspuren besonders in Szene. Die Merkmale seiner Nutzung und des Verfalls bekunden seine Geschichte und dokumentieren den zeitlichen Prozess, der Körper wird in ihnen über sie ansichtig.

Kunst, die auf den Körper zurückgreift, ihn durch Verhüllung oder optische Aufbewahrung beschützt oder archiviert, reagiert mit der demonstrativen Einkörperung auf die Beschleunigung der immateriellen Strukturen.

Diese Form des künstlerischen Recyclings bezieht sich auf die Wiederkehr des “alten Materials“ als neues Zeichen mit erhöhtem Symbolcharakter mit dem Vorhaben, die Monotonie der medialen Überreizung zu unterbrechen. In der Neubewertung des Endlichen, Körperlichen und Individuellen kehren die Grundmotive des Humanismus wieder.

1.3.2 Der Körper als Metapher – Indiz für den Zustand einer Gesellschaft

Die postmediale Moderne ist im Hinblick auf das Kunstphänomen –Body Art- ein charakteristischer Umbruchsfaktor. Die gewählte Definition BodyArt-X- soll vor allem als Neubestimmung und Abgrenzung zu bereits vergangenen Epochen der Körperkunst zu verstehen sein, natürlich immer vor dem Hintergrund generationstypischer Veränderungsprozesse mit ihren charakteristischen Ausprägungen.

Wird der Körper zum Mittelpunkt einer künstlerischen Gestaltung, hat seine Wiederentdeckung immer auch mit einem ursprünglichen Bedürfnis nach körperlicher Freisetzung zu tun. Die jeweiligen gesellschaftlichen Zwänge, wie beengte Handlungsspielräume und Entfremdungsmechanismen, werden immer in der spezifischen Körperbehandlung zum Ausdruck gebracht. In den neunziger Jahren ist die als Body Art in die Kunstgeschichte eingegangene Bewegung bereits ein Phänomen veränderter Körper-Wahrnehmung. Allerdings wird im Gegensatz zu den Arbeiten von oder der orgiastisch orientierten Body-Art nicht der Körper direkt verhandelt, sondern ein Diskurs über den Körper. Der Körper dient nicht mehr nur als Vehikel zur Darstellung äußerer Einflüsse, er avanciert zum Träger veräußerlichter innerer Prozesse. Die Radikalität der performativen Kunst 54 zeigt sich in der Selbstreferenz und Selbstisolierung im Hinblick auf materielle Körperlichkeit, bis hin zur Untersuchung und analytischer Beobachtung psychischer Prozesse.95

Die Tabubrüche verweisen auf neue Maßstäbe hinsichtlich körperlich-sinnlicher Wahrnehmung und verändertem Beobachtungsverhalten in Bezug auf ihre Erscheinung. Die extremen Formen der nachmodernen BodyArt demonstrieren eine Grenzüberschreitung, deren Auswüchse noch nicht überschaubar sind.

Der Körper ist also weiterhin ein Sensor für individuelle und gesellschaftliche Erneuerungssehnsüchte und avanciert gerade unter dem enormen Einfluss neuer Technologien zum Provokationspotenzial einer sich abgrenzenden Künstlergeneration. Im Grunde sind das Zeitalter der rasenden Veränderungen und der zunehmende Umgang mit den technischen und medialen Prothesen im Alltag, deren Eindringen in das Subjekt und dem damit veränderten Subjektverständnis, für die vielseitige Körperkunst verantwortlich.96

Das Nebeneinanderbestehen von verschieden künstlerischen Körperbewertungen in Werk und Aktion erschwert eine Klarheit in der Entwicklung. Daraus resultiert eine Rechtfertigung der unbekannten Variablen (-X-) als Ergänzung der bereits feststehenden Benennung –Body Art - .

Das körperliche Zerrbild der Mediengesellschaft konzentriert sich auf die Widersprüchlichkeiten einer zeitgleichen Erscheinung von Körperaufwertung und Körperentwertung. Der offensichtliche Kult um den Körper und die Ersatz- Expressivität der Körperbewussten zeugen von einer zunehmenden Oberflächlichkeit, hierin kündigt sich die Verdrängung des Ethischen durch das Ästhetische an. Die Unterschiedlichkeit seiner Behandlung äußert sich in der Wertschätzung: der Körper als Statussymbol, als Prothese oder Benutzeroberfläche.97

Der Körper ist stets eine Metapher für die augenblickliche Denkweise der Gesellschaft. In seiner Darstellung und Wahrnehmung äußern sich sowohl die individuelle Einheit als auch die Geschlossenheit des gesellschaftlichen Körpers.

95 vgl. Flach, S. 51

96 vgl. Puff, S. 231 97 Klein, Gabriele: Der Körper als Erfindung. In: von Randow, Gero (Hrsg.): Wie viel Körper braucht der Mensch? Edition Körber Stiftung, Hamburg, 2001, S.54

55

Durch die körperbezogenen Grenzüberschreitungen werden die Transformationen von Individuen und Gesellschaft sichtbar. Erst die Synergien von Körper und fortschrittlicher Technologie begründen das gesellschaftliche und individuelle Interesse. Mit der Verschmelzung treten die Ambivalenzen wie Aufwertung und Abwertung, Faszination und Angst, Anziehung und Bedrohung oder Begierde und Verletzung auf, die das Körperverständnis prägen und die künstlerische Reflektion mit Material versorgen.

1.3.3 Körperparadoxien: Body or Ready made

Die Steigerung der zuvor angesprochenen Zwiespältigkeit hinsichtlich einer eindeutigen Körperbehandlung erreicht am Ende des 20.Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt. Die Verzerrungen des Körperbildes in der gesellschaftlichen Wahrnehmung verlieren sich in Übertreibungen. Da die Darstellungen des Körpers allgegenwärtig sind, kann von einem Verlust oder Verschwinden des Körpers nicht unbedingt die Rede sein. Analysiert man jedoch die verschiedenen Erscheinungs- formen, ist eine neue Oberflächlichkeit bzw. Flachheit der bildhaften Körper- darstellung feststellbar. Darin begründet sich eine Voraussetzung für seine gesteigerte Wandel- und Anpassungsfähigkeit an die bereits geschilderten alltagskulturellen Ansprüche gesellschaftlicher Systeme.

Der humane Körper der Moderne, der durch die Annäherung von Mensch und Maschine bereits Dekonstruktionen unterworfen ist, erfährt im Verlauf des Übergangs in die Postmoderne eine weitere Phase wissenschaftlich geprägter Modifikation. Die Digitalisierung der Kommunikation ersetzt die Körpermaschine und übervorteilt die Geistmaschine. Die Bewahrung der organischen Einheit des Körpers steht nicht mehr zur Diskussion, vielmehr geht es um die Begrenzung neuer Körperentwürfe, die sich durch die Auflösung von Zeit und Raum ergeben könnten. Die Hybridkultur ist von der ständigen Angst um die Auflösung des Subjekts in und hinter den Bildern geprägt, es geht um die Enttarnung eines eher „schwachen Seins, das sich im Entschwinden entfaltet.“98

98 s. Puff, S.247 56

Die körperliche Anwesenheit verliert ihre Notwendigkeit. Die nachmodernen Kommunikationstechnologien transformieren das Reale und ermöglichen auch der Kunst die Aufhebung von Grenzen. Die Ästhetisierung zum digitalen Bild erobert die organische Einheit und verursacht ein Grenzdasein der körperlichen Wahrnehmungs- und Darstellungsfläche, ein Ursprung für grenzenlose kulturelle und geschlechtliche Visionen, in denen das Potenzial des Körpers zu einer Projektionsfläche mutiert. Die Erfindungen und Entwürfe des Körpers resultieren nicht aus der mangelnden Präsenz, sondern aus dem Verlust seiner Eindeutigkeit. „So wird ein Kunstwerk, welches über den Körper reflektiert, nicht mehr als dessen anatomisch exakte Wiedergabe verstanden, sondern die künstlerische Arbeit gerät zu einer Reflexion des historischen Körperbegriffs und einer Thematisierung der Diskurse über den Körper.“99

Die medienbewusste Gesellschaft inszeniert ihn mehr und mehr als Spektakel und unterwirft ihn fortdauernden Umgestaltungsprozessen. Melanie Puff spricht von einem „Akt des Konsumiertwerdens“ durch die Medien. Darin liegt letztlich die Gefahr der Auflösung des Subjekts, welches diese mediale Bilderflut als Mythen und damit als natürlich liest und versteht.100 „Jedoch löst sich der Körper als die materielle Entität im Bild nicht auf, sondern wird im Gegenteil hochgradig komplex.“ Die neuen Technologien in der bildenden Kunst schreiben den Körper im Feld des Sichtbaren ein. Betont werden muss die notwendige Prozessualität dieses Vorgangs; Körperbilder sind also prozessual in ihrer Struktur.101

Durch die Mediatisierung erweitert sich das Spektrum der Utopie-Entwürfe. Die Kompensation von Defiziten in der bestehenden alltäglichen Ordnung beinhaltet den Anspruch einer neuen Ordnung. Darin verbirgt sich stetige Differenzierung, welche immer die Wechselbeziehung von Wiederherstellen oder Stabilisieren impliziert. Hierin begründen sich ebenfalls die wahrnehmbaren Zustandsänderungen der Körper-Behandlung. Die Auf- und Abwertung markieren den dauerhaften Status zwischen Fortschritt und der Sehnsucht nach spürbarer Stabilität.

99 Flach, S.75

100 Puff, S.247

101 vgl. Flach, S.175 57

Künstlerischer Exkurs: Die Körpermetapher bei Felix Gonzalez-Torres (1957-1996)

Die Provokation der Nacktheit verliert in der postindustriellen Gesellschaft ihre Wirksamkeit. Die Entblößung an sich ist längst nicht mehr das Wesen des Tabus, im Mittelpunkt steht die Art und Weise, wie über den Körper gesprochen wird. Die Öffentlichkeit des Körpers in den medialen Inszenierungen ist ein weiteres Indiz für die Grenzüberschreitung von der Privatheit zur Vergesellschaftung des Körpers. Der Einsatz der körperlichen Ressourcen ist grenzüberschreitend, die Nacktheit ist nicht die Spitze der Darstellbarkeit, die Auslotung der natürlichen Grenzen ist Teil der postmodernen Körperbehandlung. Tabubruch und Schockzustände werden in der Werbung zu einer Kategorie, die ganz bewusst mit der Irritation der menschlichen Wahrnehmung kokettiert und somit trotz Reizüberflutung zumindest einen Bruchteil an Aufmerksamkeit gewährleistet. Krankheit und Makel des Körpers stehen oftmals stellvertretend für den Zustand einer Gesellschaft. Wenn eine Gesellschaft verharmlost oder tabuisiert, dann werden auch für den Körperstatus neue Bilder erfunden.

Der kubanische Künstler Felix Gonzalez-Torres (1957-1996) thematisiert in seinen Installationen die Erkrankung mit HIV. AIDS gilt seit den 1980ern als „Seuche“, die von der Öffentlichkeit stets tabuisiert wird. Für seine Objekte verwendet Torres keine Körper oder Skulpturen, in Lover-Boys (1991) werden beispielsweise 161 kg Bonbons zu einer Metapher für das gemeinsame Gewicht von ihm und seinem an AIDS gestorbenen Freund Ross.102

102 Abb. Felix Gonzalez-Torres, Lover- Boys (1991). Siehe in: Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont, Köln, 2002, S. 48 und Abbildung, S.48 58

Torres künstlerisches Anliegen war das persönliche mit dem gesellschafts- politischen Leben zu verbinden. Mit alltäglichen Materialien wie Bonbons oder Bonbonpapier entwirft er Metaphern für ganz private, ja sogar intime körperliche Zustände, wie Krankheit und Tod und erzeugt mit seinen unaufgeregten Kunstwerken tatsächlich einen leichteren Zugang zum gesellschaftlichen Tabuthema. Dabei übt Torres lediglich eine leise Kritik am System. „Die aufgehäuften, in glänzende Papiere gewickelten Bonbons sollen ein Denkmal für zwei Verstorbene sein, dessen nachfüllbare Bestandteile am Kreislauf des Lebens teilhaben.“ Der Kreislauf des Lebens ist für den Künstler ein ständiges Verfallen und Auflösen – so kann sich auch dieser Stapel durch ständiges Wegnehmen der Bonbons auflösen.103 Gonzalez-Torres Objekte sind keine offensichtliche Anklage über das Verschwinden von kranken und vom todgezeichneten Menschen, er verwendet buntes, glänzendes Bonbonpapier und präsentiert damit eine neue Metapher für das schnelle Vergessen in der hypermedialen Gesellschaft.

Um den Körper und sein Verschwinden zu thematisieren wird nicht mehr provokant auf Nacktheit gesetzt, sondern in den 1990ern wird der Körper in der Kunst immer mehr zum Readymade. Alltägliche Materialien werden zum Symbolträger oder eben zur Metapher für seine Deformation oder sein Verschwinden. Gonzalez-Torres war davon überzeugt, „dass der Körper in unserer Kultur durch Sprache konstituiert

103 Schneede, S. 49 59 werde – […] ungeachtet der Tatsache, dass „es einen Haufen Zellen [gibt], die einen Körper bilden.“

Die Kunstschöpfenden der postmedialen Body Art greifen den Körper als Projektionsfläche für Visionen von Kultur und Geschlecht auf. Der Körper unterliegt den prozessualen Transformationen und wird als Material oder Metapher zum Instrument des Widerstands und der Erfindung. Der Körper ist das Readymade der zeitgenössischen Kunst. Seine Zitatfähigkeit repräsentiert die aktuellen Erfahrung von Alltag: Der Körper wird sozusagen in einem ästhetischen Prinzip zur Schau gestellt. Die Prinzipien der Einkörperung und Entkörperung, die zu einem späteren Zeitpunkt genauer erläutert werden, charakterisieren eine neue künstlerische Generation der Body-Art. Die Formulierung eines ästhetischen Prinzips ist eine Reaktion auf die Flüchtigkeit der Gegenwart und die daraus resultierenden Irritationen für das Subjekt. Der Körper ist materialisierte Gegenwart der Vergangenheit und kann auf diese Weise in den Kontext der Zukunft gestellt werden.

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2 Selbstkonstruktionen der Generation X = Krisenschauplatz -Körper-

Im folgenden Kapitel sollen nun das neue Körperverständnis und die Körperkonstruktionen der nachmodernen Body-Artisten genauer betrachtet werden. Welche gesellschaftlichen Einflüsse und medialen Wandlungen haben den größten Einfluss auf die Körperbilder des 21.Jahrhunderts? Welche Erscheinungen in der Körperkunst unterstreichen den Aufbruch bzw. das Revolutionäre einer neuen Generation der Body Art? Um diese Fragen zu beantworten und Beweismaterial für eine Neubewertung der Body Art zu rekonstruieren, bedarf es einer wissenschaftlichen Analyse der Faktoren: gelebte Erfahrung und ästhetische Prinzipien.

Rückblickend lässt sich tatsächlich von einer „Rhetorik des absoluten Neubeginns“ sprechen.104 Wie bereits im ersten Kapitel angesprochen, ist mit dem Hype um die Neuen Medien ein Neustart/Reset für die Body Art erkennbar. Die Euphorie der bildlichen Illusionen und der Vorstoß neuer Technik auf den menschlichen Körper beeinflussen die Körperwahrnehmung des Individuums und die wissenschaftlichen, als auch künstlerischen Konzepte. Seit dem Beginn der 90er Jahre steht die Entwicklung der virtuellen Computerbildwelten im Mittelpunkt der elektronischen Industrie. Ganz besonders die Wirtschaftszweige Elektronik und Informationstechnik profitieren von dem andauernden Projekt der Erforschung der virtual reality. Die private Nutzung markiert einen Boom dieser neuen Kommunikationsart, die sich natürlich auch innerhalb der Kunst in Form intensiver Vernetzung von Körper und Medien bemerkbar macht. Die globale Vielfalt führt gleichzeitig zu einer verstärkten Ungewissheit des Individuums. Der Wunsch nach Sicherheit, Stabilität und Identität erzeugt unterschiedliche Reaktionsweisen. Die mediale und soziokulturelle Unruhe ist ein Faktor, der ebenso für die Pluralität von Formen und Zustandsänderungen verantwortlich ist. Durch die Immaterialität und die mangelnde Transparenz werden die Dinge für das wahrnehmende Individuum immer komplexer. Das Phänomen der Verschmelzung beinhaltet einen Verlust deutlicher Abgrenzung, klarer Bestimmung und Resistenz gegenüber äußeren Einflüssen.

104 zit. nach Oliver Grau: Kunst als Inspiration medialer Evolution. In: Mimetische Differenzen: der Spielraum der Medien zwischen Abbildung und Nachbildung. Hrsg. V. Flach, Sabine, Kassel Univ. Press. 2002, S.70 61

Die Auswirkungen dieses erlebten Umschwungs verändern den gesellschaftlichen Alltag. Es geht zunehmend um den Umgang mit technischen und medialen Prothesen, „die in das Subjekt eindringen und seinen Subjektstatus verändern.“105

Das Spektrum der digitalen Information und der Codier- oder Dekodierungssysteme vermittelt neuartige Realitäten, die in ihrer Faszination unbegreiflich sind und „neue Sensibilitäten“ in Aussicht stellen.106 So sind es auch der Faktoren Unruhe und Flexibilität, die die Bewegungsabläufe der Techno-Generation bestimmen. Das Prinzip des ständigen Wechsels zwischen den Medien unterstützt die These, dass der Lebensinhalt der Medien-Junkies dem Grundsatz gehorcht: „das Unendliche liegt in der Dialektik der Suche selbst.“107

Die Jahrhundertwende ist der neue Krisenschauplatz der Identität. In der Ausstellung: Ich ist etwas Anderes- Kunst am Ende des 20.Jahrhunderts werden die künstlerischen Spielarten zwischen dem Ich und der anderen Existenz als Symptom andauernden von Ich-Teilungen und Verdopplungen gezeigt.108 Die Potenzierung der Informations- und Bilderflut (Internet) ist ein Ausgangspunkt für die Überwindung einstiger Körperschranken wie Geschlecht, Alter oder Partner. Die virtuellen Räume, die Klonierung und der Cyberspace sind die eindeutigsten Auswirkungen einer zunehmenden Ich-Dezentralisierung.

Die Kunstgeneration, die jenen Schwebezustand zwischen Ungewissheit und Vorläufigkeit am eindringlichsten erlebt, inszeniert die Eigenwahrnehmung als dauerhaften Konflikt: Die „Struktur der Subjektivität“ wird zur künstlerischen Idee. Die Digitalisierung der Lebenswelten führen zu einer „Aushöhlung bzw. Auflösung des Subjekts“, die natürlich auch den Künstler betreffen. Der in der Ausstellung thematisierte Spielraum zwischen Identität und Nichtidentität ist der Nährboden künstlerischer Erfindungen. Deutlich wird, dass die Stimulierung und Erweiterungspotenziale der Neuen Medien einerseits die Möglichkeiten der

105 s. Puff, S.232

106 s. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne. Merve Verlag, Berlin 1985, S.13

107 Lyotard, S.101

108 Anmerkung: Global Art Rheinland 2000 - Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 19.02.-18.06.00, Titel der Ausstellung als Rückgriff auf Rimbauds berühmte Formel der dichterischen Doppelexistenz: „Je est un autre.“ 62

Selbststilisierung vergrößern, andererseits führen sie zu einer sinnlichen Minimalisierung und zur Selbstentfremdung.109

Die künstlerische Bewegung, die diesen medialen Hype erlebt, reflektiert die subjektiven Befindlichkeiten und das objektive Sozialverhalten einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Anhand der konstruierten Body Art liefert der Künstler sozusagen eine Standortbestimmung der eigenen Identität mit all ihren Vorrausetzungen, psychischen Dispositionen und respektive Phantasien.110

Die Zustände der gefühlten und erlebten Instabilität sind der Ursprung experimenteller Selbstkonstruktionen. In dem Bewusstsein der Nicht- übereinstimmung mit sich selbst, kommt es zu einer Erkenntnis über den oberflächlichen Schein einer Ich-Identität. Diese Erfahrung und Einsicht über die Abhängigkeit der Identität innerhalb der sozialen Beziehungssysteme und umgebenden Strukturen führen zu einer Distanzierung. In diesem Akt der Distanz wird der Körper oftmals als Behausung empfunden und visualisiert. In der Ästhetik des Abstandsnehmens bewahren sich das Individuum und ebenso der Künstler eine Sicht auf das Innen und Außen, damit eröffnen sich der nachmodernen Kunstszene erweiterte Spielräume, die den Objektkörper favorisieren.

2.1 Realisation von Utopien

Der Bedeutungswandel der Interaktivität vollzieht sich mit der Entdeckung der Spannbreite zwischen technologischer und sozialer Auffassung. Kunst soll traditionelle Grenzen überwinden. Mit Hilfe der Medientechnologie können die Ideale von einer intensiven Interaktivität der Kunstgattungen noch offener gestaltet werden. Die Kombination neu gewonnener Kreativität und Rebellion gegenüber bisherigen Standards vereinen die hybride Technologie und die Kunstgeneration der elektronischen Moderne. Die Medientechnologie hat das Potenzial eine gesamtgesellschaftliche Veränderung auszulösen, die Verbrüderung mit den elektronischen Utopien verspricht neue mobilisierende Kräfte.

109 vgl. Ausstellungskatalog: „Ich ist etwas Anderes- Kunst am Ende des 20.Jahrhunderts“. Hrsg. v. Armin Zweite, Doris Krystof und Reinhard Spieler, Global Art Rheinland 2000, S.23ff 110 vgl. Ausstellungskatalog: „Ich ist etwas Anderes- Kunst am Ende des 20.Jahrhunderts“. Hrsg. v. Zweite, Armin / Krystof, Doris/ Spieler, Reinhard. Ausstellungskatalog. Global Art 2000, S.25

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Der Einfluss der Medientechnik auf die Gesellschaftsstruktur zeigt sich sehr deutlich in der Neuformierung der Kunstszene der achtziger und neunziger Jahre. Der Begriff crossculture stammt aus der amerikanischen Kultursoziologie und beschreibt die grenzüberschreitenden Projekte, deren Ursprünge und “Mixed- Media-Philosophie“ vor allem in der Musik- und Clubszene zu finden sind .111 Das Zusammentreffen von Musik, Video- und Installationskunst auf Festivals und subkulturellen Foren wird zu einer Art –Selbstläufer- und hat sich im Rückblick als Kulturphänomen der neunziger Jahre etabliert. Die Verbrüderung zwischen diesen durch Medientechnik inspirierten Kunstgattungen, wird der euphorischen Masse in kreierten Locations präsentiert. Die Offenheit gegenüber diesem Phänomen der gefeierten Zusammenkunft, resultiert im Wesentlichen auf der Verbindung von Eigenem und Fremden. Diese Gegenstrategie zu den einst isolierten Subkulturformen der klassischen Moderne, verdeutlicht fast ein Jahrhundert später das ausgeprägte Interesse an einer neuen Öffentlichkeit.

Als Vordenker der digitalen Entwicklung bezeichnet Vilém Flusser die „kodifizierte Welt in der wir leben, als Welt ohne erzählte Geschichten.“ Die neue Generation, die unter dem Einfluss der Digitalisierung und Programmierung aufwächst, teilt deshalb nicht die überlieferten Werte: Sie wird hauptsächlich von Techno-Bildern und Texten programmiert.112 Unter dem Einfluss der uneingeschränkten Verfügbarkeit dieser programmierten Bilder wird die globale Ästhetisierung immer schneller vorangetrieben. Die Kunstszene, die sich mit dieser Multimedialität konfrontiert sieht, arrangiert sich nicht nur mit den Standards, sondern plädiert geradezu für die Überschreitung auf allen parallelen sowie konkurrierenden Ebenen sämtlicher Kunstgattungen. Das Markenzeichen dieses postindustriellen Sturms ist seine grenzüberschreitende Wirkung. Melanie Puff spricht von einem „lustvollen thrill“, der bei der Dehnung und Überschreitung die zwiespältige Gefühlswelt am besten beschreibt. Die hybride Struktur von Kunst stellt eine Irritation dieser von audiovisuellen Medien etablierten Normalität dar.113 Im Vordergrund stehen somit

111 Anmerkung: Definition die durch Wolfgang Max Faust geprägt wurde. 1985 bezeichnet Faust das Kulturphänomen des Cross-Culture als Gegenbewegung zu den isolierenden Subkulturformen bezeichnet.(vgl. Medien Kunst Interaktion, S.28)

112 vgl. Flusser, Vilém: Medienkultur. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1997, S.23ff

Anmerkung: Vilém Flusser (1920-1991) gehörte zu den bedeutendsten Philosophen der so genannten digitalen Epoche. Nach McLuhan und Bazon Brock einflussreicher Schriftsteller der siebziger und achtziger Jahre. Vordenker einer anthropologischen Wende der Kommunikations- und Medientheorie.

113 s. Puff, S.63f 64 nicht das kreative Einzelgängerdasein und die bewusste Isolation, vielmehr gilt es von der Vielheit zu profitieren. Die Handhabung der Medialität erfolgt genau mit diesem Prinzip: Im Zentrum der Kunstschöpfung steht nicht die Entlarvung der Medialität, sondern die Kunstwerke unterstützen einen „intensiven Dialog mit einem Ort, Kontext und vor allem mit einem Gegenüber.“114 Die Hybridität bricht mit den stabilen Grenzen und bietet neue Wahrnehmungsformen an.

2.1.1 Der Körper in der raving society - zwischen unity und difference

Der Körperkult wird durch die mediale Verdopplung weiter radikalisiert. Im Rave, dem Tanzspektakel der Techno-Generation, verdeutlicht sich das Wechselspiel von „Gesehen und Gesehenwerden“ am eindringlichsten. Das spezifische Outfit, welches rave-tauglich ist, „[...] wird zur Selbststilisierung und fungiert als Vehikel erotischer Phantasiebeflügelung: ist Instrument diffuser sexueller Stimulierung - quasi Spielzeug zwischen Verlockung und Enthaltsamkeit.“115 Dieses auffällig aggressionslose Spiel intensiviert das Erleben des eigenen Körpers und resultiert aus einem „dialektischen Spannungs- und Vermittlungsverhältnis“ zueinander.116 Dabei geht es sowohl um die Abgrenzung durch das eigentümliche Merkmal, als auch um das Eins sein und das kollektive Erlebnis. Der Körper trägt dieses Wechselspiel aus und repräsentiert die Schnittstelle von „unity“ and „difference.“ Hitzler beschreibt unity als das Zusammenkommen und oberflächliche Zusammengehören, während mit difference, die Abhebung von der Masse durch eine individuelle Körpershow im Mittelpunkt steht. Die Masse ist lediglich Katalysator und Bühne der Selbstdarstellung. Klang- und Körperraum harmonisieren in der Sinnwelt des Techno, die enthusiastisch- ekstatische Stimmung ist keineswegs von sexuellem Desinteresse geprägt, sondern können als erotisierende Atmosphären bezeichnet werden. Es geht um eine arrangierte Form der Erotik, die gegenüber den tradierten Vorstellungen als „postsexistisch“ beschrieben werden kann.117 Die Gruppenzugehörigkeit basiert

114 s. Frieling, S.35

115 s. Hitzler, Ronald u. Michaela Pfadenhauer: Raver-Sex. Körper und Erotik in der Techno-Szene. In: DU. Die Zeitschrift der Kultur, Heft 4, April 1998, S.67

116 ebd., S.66

117 s. Hitzler, S.67 65 nicht auf intensiven Erfahrungen, sondern in der Fähigkeit zur Flexibilität. Die Identitätsfindung wird mehr und mehr zur strategischen Suche. Einerseits stiftet die Clubkultur somit Identität, andererseits ist sie in ihrer Unverbindlichkeit ebenso verantwortlich für die Zerstreuungskultur einer Generation. Beispielsweise dokumentieren ravetaugliche Songtexte vor allem das Bedürfnis nach einfachen, verständlichen Botschaften und Sehnsüchten. Im Text des Technoschlagers „Somewhere over the rainbow“, der DJane Marusha spiegelt sich dieses Wechselspiel von unstillbarer Lebenslust und Melancholie wider. Peter Weibel verwendet ebenfalls die Assoziation des Regenbogens für das Funktionieren der Neuen Medien. „Sie setzen sich aus Teilen des Realen und des Fiktionalen zusammen, kombinieren subjektive und objektive Elemente neu und bilden sich gegenseitig ab.“118

In der Netzkunst und der „one nation“- Philosophie werden der Zustand des „Dazwischen“ zum Kult erhoben. Die Vernetzung und Rhythmisierung der Welt werden zum Kennzeichen der „On/ Off“ -Lebensweise. Die raving-society ist nach Theo Altenberg die „Vision einer vorurteilsfreien, künstlerisch denkenden, basisdemokratischen Gesellschaft - eine regional/global orientierte Form des Lebens.“119 Anstelle der Weltbeobachtung tritt die Medienbeobachtung, damit vollzieht sich eine wirtschaftliche Transformation, die auch für die zukünftige Avantgardekunst zutrifft. Die neuen Praktiken werden durch die interdisziplinär und interkulturell operierenden Künstler ständig aktualisiert.120

Im Vordergrund neuer Lebensräume steht die Intensität und genussvollere Auslebung der Wirklichkeit, mit den Möglichkeiten der virtuellen Realität. So beweist die Aufbruchsstimmung des Techno, dass die Vermarktungsstrategie der Multimedia auf dem individuell-kollektiv ausgelebten Geschwindigkeits- und Intensitätsrausch basiert. Hier wird das Tanzen vor Anderen und mit anderen zu einer Körperperformance, welche durch das Gefühl eines „grenzenlosen Vertrauens in die umgebende Masse“ noch gesteigert werden kann.

Der virtuelle Raum ermöglicht seinem Benutzer diverse Realitäten vorzutäuschen. Der Anwender kann, da keine direkte Möglichkeit der Identifikation besteht, seine

118 s. Weibel, Peter: Neue Akteure und Allianzen der Kunst im 21. Jahrhundert. In: art. Das Kunstmagazin, Nr.12, Dez.1999, S.45

119 s. Altenberg, Theo: Situationistische Transglobale. In: Kunstforum International, Band 135, S.107

120 vgl. Weibel, S. 45 66

Identitäten ändern und an den unterschiedlichsten Orten kommunizieren. Auf diese Weise konsumiert der Internet-Junkie ebenso wie der Technojünger das große Angebotspektrum der Medienidentitäten: Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Beruf können beliebig variiert werden.

Künstlerischer Exkurs: Mariko Mori – beschleunigte Körperideale

Eine Reaktion auf die veränderte Weltstruktur zeigt sich auch in den imaginären Transformationen der japanische Künstlerin Mariko Mori. Feenhaft und überirdisch schwebt sie durch menschenleeres Niemandsland.121 Die begeisterte Verwandlungskünstlerin entpuppt sich als Expertin des fließenden Zeitgeistes und macht sich die „populäre New-Age Ikonografie“ des Cyberspace zu nutze.122 Ihre aufwendigen Fotomontagen und Videoinstallationen widmen sich dem futuristischen Körperideal. Sie konstruiert „hyperfortschrittliche virtuelle Utopien“ und schwebt entweder in transparenten Kapseln durch Phantasiewelten oder ist als hyperreale Mangafee selbst ein Teil ihrer mystischen Verquickung von fernöstlicher Tradition und postmedialer Technologie. Mariko Mori genießt es in ihren Videoinstallationen die Hauptrolle zu spielen, sie schlüpft in selbst kreierte metrosexuelle Cybergeschöpfe und thematisiert mit ihrer ideellen Body Art, die möglichen Verflechtungen des Körpers mit der virtuellen Welt. Im Mittelpunkt steht auch die Doppeldeutigkeit der neuen Technologien. Mori benutzt die Medien und futuristischen Ideale, um eine Superästhetik zu entlarven. Sie enttarnt auf spielerische, fantasievolle Weise die unendlichen Möglichkeiten der virtual reality.

Der Körper behält seine physische Wirklichkeit und kann trotzdem auf jede äußere Stimulierung entsprechend reagieren. Das Internet ist das Medium der Individualisierung und lässt große Spielräume für jegliche Idealisierung. Das Internet verkörpert eine legale postmoderne Droge. Die Versuchung verschiedene Persönlichkeiten anzunehmen wird technisch vereinfacht und sogar gefördert. Mit dieser grenzüberschreitenden Kommunikationstechnologie verliert der Benutzer zwar die körperlich-sinnliche Materialität des direkten Miterlebens, gewinnt aber die Illusion des uneingeschränkten „Überall-dabei-seins“.123

121 s. Abbildungsverzeichnis, Abb. 23

122 zit.nach O` Reilly Sally: Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. Übersetzt v. Dino Heicker. Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München, 2012, S. 125

123 vgl. Elsner, Monika und Müller, Thomas: Der angewachsene Fernseher. Frankfurt a. M., 1988, S.401 67

Mariko Mori zählt definitiv zur Body-Artistin des Informationszeitalters. Ihre Kunstwerke sind Adaptionen von Technik und Wissenschaft und sorgen beim Betrachter für eine intensivierte Wahrnehmung des künstlich animierten Körperbildes. Frei nach dem Motto: „Jeder Fortschritt im Bereich Geschwindigkeit tendiert zu einer Minimierung des Materials und zur Maximierung des Verfahrens [...].“124

Ihre digitale Welteroberung aktualisiert die Warholsche Identitätsproduktion. In der biotechnologischen Diskussion um das Klonen von Lebewesen, verkehrt sich der Gedanke von der Welt als Kollektiv in eine Negation, die in der Vision vom Einheitswesen für öffentliche Kontroversen sorgt. Mariko Moris superäthetische Transformationen stehen sinnbildlich für die Reproduktion von Doubles in Petri- Schalen und den wissenschaftlichen Drang zur körperlichen Perfektion. Innerhalb der Cyberkunst verdeutlichen ihre gekünstelten Figurinen im Nirvana (1996-1998), dass es auch in der zeitgenössischen Body Art einfach nur zu steril anmutenden Verdopplungen kommen kann.

2.1.2 Multimedia als Leitmotiv – ästhetische Reaktionen der BodyArt –X-

Die Medien der postmodernen Kommunikationskultur werden für die Interfaces der Kunstbewegung interessant und infolgedessen auszuschöpfende Quellen der Kreativität. Die Multimediavisionen verbreiten auch neue Ich-Ansichten, durch die Digitalisierung hat sich das Körperbewusstsein drastisch. Während noch im Zeitalter der Renaissance die Erforschung des menschlichen Innenlebens als Tabubruch galt, wird mit der systematischen Vernetzung sämtliche Information über den psychologischen und physischen Körper verwertet. Die Wissenschafts- methoden wie Ultraschall, Röntgenstrahlen, minimalinvasive Chirurgie und endoskopische Untersuchungsarten erzeugen Ein- und Ansichten, die auch in der neu ausgerichteten Body Art ihren Einsatz finden.

Das ästhetische Prinzip der Verfremdung ist gerade im Hinblick auf Körperkunst ein geeignetes Mittel, um effektvolle Formen der Beunruhigung zu inszenieren. Die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst erzeugt oftmals ein Wechselspiel

124 vgl. McLuhan, S.217 68 zwischen Realität (Body) und bedrohlicher Vision. Anders als in der Renaissance erweitert sich das Repertoires der zeitgenössischen Body Art stetig und die Sozialisierung der Netzwerke legitimiert den gezielten Tabubruch. Die Elektronisierung und ihre medialen Innovationen sind längst zum Leitmotiv avanciert aus der alle sozialen, kulturellen und ökonomischen Erneuerungen hervorgehen.125 Die Vernetzung befördert den Computer zum zwischen-menschlichen Kommunikationsmedium und bildet die Basis für die gegenwärtige Synthese mit der computergesteuerten Simulation, die mit dem Cyberspace ihre vorläufige Utopie noch erprobt. Die Allgegenwart der Scheinbilder verwurzelt den Menschen in die Apparate und kreiert eine Gesellschaft der Vernetzung. Abraham Moles bezeichnet die verkabelte Stadt als neuen Mythos der Gegenwart.126 Die Wurzeln der erlebnisorientierten Kulturphilosophie zeigen sich zwar bereits in den sechziger Jahren, die Abhängigkeiten haben sich jedoch in das Gegenteil verkehrt. Und so heißt es für die Künstlergeneration des Übergangs, die Vorreiterstellung der Technologie zu akzeptieren und ähnlich der Hackerethik, die eigene Gestaltungskraft zu nutzen, um die negativen Entwicklungsschübe zu demaskieren.

Das Internet ist deshalb eine der größten Herausforderungen der zeitgenössischen Kunst und ihrer Vertriebssysteme. Die Verbreitung und Vermarktung der künstlerischen Ideen kann in die Oberflächlichkeit abgleiten, spiegelbildlich den Benutzerebenen der Bildschirmgeneration. Die Internetkunst richtet sich medial an alle und integriert den Gedanken der künstlerischen Freiheit ebenso, wie die Idee von der unelitären “Volkskunst“, gerät dabei in Gefahr sich medial an alle aber kontextuell an niemanden zu richten.127

Exkurs: ästhetische Ansprüche im Wandel

Welche Reaktionen liefert die Kunst auf das veränderte globale Szenario? Die ästhetischen Ambitionen sind vielfältig und lassen sich doch auf zwei Positionen reduzieren, nach Sarah Kofman in Melancholie der Kunst werden die Unterschiede wie folgt beschrieben:

125 vgl. Daniels, Dieter: Strategie der Interaktivität. In Frieling/Daniels: Medien Kunst Interaktion. Die 80er und 90er Jahre in Deutschland. Springer Verlag, Wien, New York, 2000, S.146

126 vgl. Moles, Abraham: Gibt es eine spezifische Kunst des elektronischen Zeitalters? In Steffens, Andreas: Nach der Postmoderne.1992, S.229

127 vgl. Daniels, S.165 69

„[...] moderne Ästhetik ist eine Ästhetik des Erhabenen [...] sie vermag das Nicht- Darstellbare nur als abwesenden Inhalt anzuführen, während die Form dank ihrer Erkennbarkeit dem Leser oder Betrachter weiterhin Trost gewährt und Anlass von Lust ist.

Das Postmoderne [...] das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht- Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Form verweigert, den Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen: das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt [...].“128

Hier lässt sich ebenso mit den Begrifflichkeiten Anwesenheit oder Abwesenheit erklären, ob die gegenwärtige Body Art mit oder ohne den Körper die weltliche Situation erhellt. Die Spielereien mit den Medien erzeugen Gegenwartstile, die entweder vorhandene Lebensräume oder verborgene Milieus beleuchten. Die Kunst erscheint dadurch respektloser und gehorcht dem Willen der Grenzüberschreitung: Alles geht. Dabei werden nicht nur die bestehenden Paradigmen hinterfragt, sondern auch der eigene Stellenwert, in jenem spielerischen Umgang mit der vorherrschenden Technik. Eine Grenzästhetik äußert sich in diesem Oszillieren zwischen medialer Hingabe und deren Verweigerung: dem sich konsumieren lassen durch das technisch Erhabene einerseits und der gleichzeitigen ironischen Distanzhaltung andererseits.129

Tatsächlich kann man auch bei der neu motivierten Body Art von einer Kunst des Übergangs sprechen. Rückblickend und aktuell dominieren im medial inspirierten Subjektverständnis und den Ich-Ansichten das Befremdliche und die Irritationen. Mit den teils schockierenden Inszenierungen vergrößert die Körperkunst nicht nur ihr Interpretationsspektrum, sondern erreicht durch die demonstrative Antihaltung eine optimale Aufmerksamkeit. Damit holt sie sich aus der Versenkung bzw. dem Stellenwert einer ästhetischen Nebenerscheinung zurück.

128 Kofman, Sarah: Die Melancholie der Kunst. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Hrsg. Peter Engelmann, Reclam Verlag, Stuttgart 1990

129 vgl. Puff, S.232 70

2. 2 Körperliche Neuorganisation – postmoderne Übergangssubjekte

„In das Virtuelle hineinzutauchen, ist eine Art der Geburt. Man geht aus der realen Welt, wie aus einem Uterus heraus und fällt in eine Welt, die ein wenig kalt, ein wenig klinisch ist. Der Körper gelangt in das Virtuelle wie durch einen Einbruch. Man taucht auf – und von da an ändern sich die Gesetze.“130

Bisher war das Bild, vor dem man steht, das Ereignis. Ab sofort kann man die Bilder betreten, man kann sich ihnen bewegen. Diese Erweiterung inspiriert nicht nur den Betrachter, sondern auch die Stylisten von Bildwelten. Die effektvollen, konstruierten Präsenzen bedienen sich den Techniken der Körper-Illusionierung. Da der Körper nach wie vor fleischlich ist, werden aufgrund von simulierten Sinnestäuschungen neue Spannungen und Ekstasen erzeugt. Es bleiben kalkulierte Inszenierungen, da der Körper durch seine Fleischlichkeit ein Garant für Realität ist, und die Verankerung in der Realität gewährleistet. Eine Sicherheit, die das Risiko minimiert zugleich aber die Vorstellungskraft beflügelt. Die Faszination basiert auf den Widersprüchlichkeiten der Virtualität: In der natürlichen Welt verfügt der Mensch über eine bestimmte Perspektive und eine beschränkte Materie. Im virtuellen Raum bilden die Blickwinkel das Fundament. Der Besucher digitaler Netzwerke begreift die virtuelle Szenerie als komplexes Geflecht, deren Verknüpfungen von ihm erkundet werden können. Die künstlerischen Konzepte profitieren von den Fenstern in die neue Welt. Die dreidimensionale Sinnestäuschung verliert durch die vierte Dimension, den Charakter der Vortäuschung. Der Vernetzte kann Dinge unter all ihren Oberflächen ergreifen, er kann virtuell in den Gegenstand eindringen, damit kann er die Welt, den Horizont und die Sichtweise wechseln.

Die Künstler der Globalisierungsmoderne bestreiten den Weg des entindividualisierten Kunstwerks und sind zugleich „Postsubjekte“, die im Nachhinein das, was unsere Umwelt -und damit wir Menschen selbst- als unser Selbst wahrnehmen, zurechtrücken. Deswegen erfindet die Kunst unentwegt und verbündet sich mit der Selbstironie auf dem Weg zu einer „Selbstkultur“.131 Im Vordergrund steht die Entdeckung einer neuen Erlebniswelt, die durch die Faszination der „körperüberwundenen Seinsweise“ eine enorme Anziehungskraft

130 s. Quéau, Philippe: Virtuelle Visionen. In: Die Zukunft des Körpers II, Kunstforum International, Band 133, 1996, S.126

131 vgl. Feuerstein, S.87 71 auf die Kunst ausübt. Der Wille zur Transzendenz zeigt sich als Wunsch nach dem Überschreiten gesetzter Bedeutungsgrenzen, in der Sehnsucht nach Überwindung des Materiellen und nach dem Erlangen einer spirituellen Dimension.132 In Simulationsräumen werden komplexe natürliche Zustände in den Kunstraum überführt, die Grenzüberschreitung markiert Schnittstellen bisher ungenutzter Erlebnisräume. Mit diesen wahrnehmbaren Aktionsräumen besteht die Möglichkeit sinnliche Zustände, Erfahrungen und somit “frische“ Formen der Visualisierung zu konservieren. Die Erlebnisse im virtuellen “sozialen“ Raum basieren auf der Verführung und sind geprägt durch den Anspruch der „Superästhetik“ (Lischka); zu schön um wahr zu sein.133

Inspiriert durch mediale Fortschritte konfrontiert die Body-Art mit diesen Wirklichkeitsansichten. Der Künstler realisiert gewissermaßen die bisher nicht verwirklichten Lebensentwürfe als Utopien in seinen Werken. Mit dem Rückgriff auf den menschlichen (Margolles)134 oder auch tierischen Körper (Hirst)135 in der künstlerischen Präsentation, können diese Übergänge und Veränderungen sichtbar werden. Auch in der Kombination belebter und unbelebter Körper oder der Fragmentierung (Thek)136 eines unbelebten Körpers werden auf der einen Seite die Austauschmöglichkeiten visualisiert, andererseits markiert die Kunst aber auch die Grenzgänge zwischen den beiden Zuständen als Metapher des Übergangs. Das Fragmentarische als sinnerfüllte Präsenz zeigt Fragmentarität oder Fraktalität als Abwesenheit. Sabine Flach sieht in der Darstellung des fragmentierten Körpers einen Hinweis auf die abgelegte Vorstellung der Selbstkonstitution über eine autonome Entität und somit auf die dem Körperbild immer inhärenten gesellschaftlichen und politischen Machtphantasien.137

Thomas Feuerstein spricht von „Übergangssubjekten“, die in den Zeiten der ungesicherten Identität des Subjekts entstehen. Was dem Künstler bleibt, ist die Schaffung von >Übergangssubjekten<, Vehikeln und Schnittstellen, die zwischen

132 vgl. Kohle, S.144f

133 vgl. Daniels, S.160

134 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.1 und 2

135 s. Abbildungsverz., Abb. 3 und 4

136 S. Abbildungsverz., Abb.10 und 11

137 s. Flach, S.246 72 den symbolischen Ordnungen operieren. Im Mittelpunkt dieser Übergänge [...] stehen Fragen der Befindlichkeit des Menschen in seinen Systemen.“138

Der fragmentierte Körper kann in seiner dargestellten Unvollständigkeit, Rückschlüsse zulassen auf die Psyche des Subjektes. So ist die dynamische Veränderung der Body Art spiegelbildlich ein Indiz für das zwiespältige Körperverständnis unter dem Einfluss des strukturellen Wandels.

2.2.1 Zwischen Simulation und Irritation

Bei der Integration des Körpers in ein künstlerisches Konzept werden immer auch Fragen provoziert, die der Künstler direkt oder indirekt in seinen Szenarien formuliert. Die unsichtbaren Fragestellungen integrieren den natürlichen Körper wieder in die Realität, sozusagen in die augenblickliche Wahrnehmung des Betrachters. Die interaktive Kunst verwendet nach außen gesetzte Realien, die nicht selten den Menschen oder dessen Aktivitäten vertreten. Mit dem Artefakt und dem Blick auf den menschgemachten Menschen oder dem durch und durch künstlichen Wesen, werden Gedanken an den Verbleib des natürlichen Menschen evoziert.

Sobald die Kunst den Körper als Hauptakteur einsetzt, von der Kunst eingesetzt wird, müssen die Prinzipien seiner Darstellung untersucht werden. Steht die Integration bzw. das Bild des natürlichen Menschen stellvertretend für den künstlichen Menschen oder das göttliche Wesen? Welche Symbolik verwendet der Kunst für die Existenzerhellung des Betrachters? Die von der Kunst geschaffenen Körper erscheinen: Sie demonstrieren das Andere, das Machbare, die Möglichkeiten und das Visionäre.

Das neuzeitliche Verhältnis von Kunst, Technik und Wissenschaft ist sowohl geprägt von Entfremdungsstrukturen, als auch von Annäherungsprozessen. Die Vertreter dieser beschleunigten, im Zwiespalt befindlichen Body Art reagieren mit teils beunruhigen Konzepten auf den gesellschaftlichen Wandel. Mit der Einkörperung in das Kunstprojekt kann sich die Aufmerksamkeit und Aussagekraft auf die in der Realität fortschreitende Entkörperung richten, oder auf den Wunsch nach einer anderen Realität, die den menschlichen Körper zum Vorbild hat, aber grundsätzlich

138 s. Feuerstein, S.87 73 für die Verwirklichung eines neuen Modells steht. Der Wunsch nach Zustandsänderungen dominiert die technisch gestylte Body Art. Ihre Erscheinungsformen sind eine durchaus normale Reaktion auf die spürbaren Grenzüberschreitungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft.

Natürlich verschieben sich dadurch auch die physischen und psychischen Grenzen des eigenen Systems – der Körper positioniert sich neu im Rahmen der äußeren Veränderungen.

Die wissenschaftlich-technisch Transformation der Kultur trägt zur Distanzierung und kontinuierlichen Entfremdung von der Lebenswelt bei. Eine extreme Beobachtung dieser “Daseinsspielerei“ ist die Verquickung von Ersatzhäuten mit der körperlichen Hülle. Das Überstreifen einer “zweiten Haut“, die der natürlichen Hülle in Sensualität und Durchlässigkeit nachgeahmt ist, impliziert den Wunsch das Veraltete kurzfristig zu erneuern. Der Körper wird in Anlehnung an die Erlebnisgesellschaft immer mehr als Dienstleister verstanden. Die Informationsverarbeitung der Medienkultur ist ein Vorbild für den simulierten Wunschkörper. Die ständige Verwertung von Informationen, die Speicherung der wesentlichen Inputs und deren Vergrößerung unterstreichen die Flexibilität und Adaptionsfähigkeit. Durch den plötzlichen Wechsel von einer mechanisierten zu einer beschleunigten elektronischen Welt, werden die konventionellen Zielsetzungen und Verhaltensmuster abrupt verändert. Auf diese Weise werden Identitätsbilder und vorrangige Zielsetzung immer wieder erneuert. Da sich die Vorstellung von der eigenen Identität an der Umwelt orientiert und sich mit ihr wandelt, können die Einflüsse der zunehmenden technischen Dienstleistung auf das Selbstempfinden nachvollzogen werden. Mit jeder technischen Erweiterung und elektronischen Beschleunigung des Alltags, werden neue Milieus geschaffen, die direkt auf das sensorische Leben und die Formung des Identitätsbildes einwirken.

Die Folge der Hyperbeschleunigung aller Lebensbereiche ruft auch Irritationen hervor. Jedes neue Medium bedeutet eine Ausweitung des menschlichen Sensoriums und damit eine zunehmende Einengung, da sich die Intensitäten und Trennschärfen der Sinnesorgane den neuen sensorischen Strukturen anpassen müssen, um subjektive Präferenzen ausbilden zu können. Mit der elektronischen Revolution entsteht eine neue Generation von Zeichen und Codes. Bereits der Pop- Artist Andy Warhol kritisierte in seinen Verdopplungen den verschwimmenden Unterschied von Original und Imitation. 74

Mit der wissenschaftlichen Entschlüsselung des genetischen Codes ist ein wesentliches Geheimnis der körperlichen Existenz und seines Funktionierens gelüftet worden. Das hat zur Folge, dass die Aura um das Wunder des menschlichen Körpers durchbrochen wird, und die elektronischen Zugänge einen erleichterten Zugang zu der einst rätselhaften Körperwelt erhalten.

Die Postmoderne und ihre technische Durchdringung haben die Hyperrealität durch Reproduktion (Fotografie), Film, Werbung und Video schon eingeführt und standardisiert. Mit dem Eintritt in das multimediale Zeitalter ist ein fortgeschrittenes Stadium der realistischen Simulation erreicht. Durch die Perfektionierung der Computeranimation und die Favorisierung einer taktilen Kommunikation werden die Widersprüche zwischen dem Realen und dem Imaginären immer unkenntlicher. Die Krise der Repräsentation äußert sich, wie schon in der Pop-Art, in der Integration des Realen in der Wiederholung. Das erweiterte Spektrum der technischen bzw. elektronischen Innovationen vergrößert auch den Spielraum für die künstlerische Bildschöpfung. Dagegen irritieren Puppen, Dummys oder Mischwesen durch ihre stumme Präsenz. Sie demonstrieren in ihrer Unlebendigkeit das Unheimliche der perfekten Imitation. Zu diesen lebensgroßen Marionetten (Beispiel: Jake und Dinos Chapmann, Zygotic acceleration, biogenetic, de-sublimated, libidinal model, 1995) kann weder durch Sprache oder Berührung Vertrauen aufgebaut werden.139

139 Abbildung Jake und Dinos Chapman, Zygotic acceleration, biogenetic,de-sublimated, libidinal model, 1995. In: O`Reilly, Sally: Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst, 2012, S. 151 75

Ihre Erscheinung hinterlässt Verwirrung und Unsicherheit, ist aber gleichzeitig gepaart mit Faszination gegenüber dem Befremdlichen. Genau hier äußern sich die zwiespältigen Gefühlsregungen, denen die neue Generation der Body Art nachgeht.

Im Wesentlichen geht es dem postmodernen Body-Art Künstler um das Ausleben seiner Emotionen und Lebensvorstellungen, der Künstler will aber ebenso vom Publikum wahrgenommen und anerkannt werden. Mit diesen Zielen vor Augen entstehen auch unterschiedliche Strategien:

1. vorrangig ist das künstlerische Denken und Handeln darauf ausgerichtet ein präsentables künstlerisches Selbst zu erarbeiten. Mit diesem Vorhaben sollen die Einzigartigkeit und die Abgrenzung zu anderen Künstlern gesichert werden.

2. der künstlerische Inhalt hat einen gesonderten Stellenwert gegenüber den alltagsästhetischen Episoden. Die Darbietung von Kunst muss sich von Alltagserlebnissen und deren Anbietern abheben. Der Künstler erreicht häufig gerade durch eine demonstrative Antihaltung, eine optimale Aufmerksamkeit und somit profitable Selbstdarstellungsplattform.

Im Bereich der Installation und erweiterten Objekt- und Performancekunst dominieren in den letzten Jahrzehnten vorrangig die schockierenden Inszenierungen rund um die gegenwärtige Body Art. Die Kritik am Umgang mit dem Körper weitet sich aus, wird politischer und radikaler.

Künstlerischer Exkurs: erotische Hyper-Phantasien à la Hans Bellmer

Die Cyborgisierung ist die Entwicklung, die maßgeblich durch die Kommunikations-, -Informations- und Biotechnologien gefördert wurde.140 Während die Filmindustrie die scheinbare Unbezwingbarkeit des Cyborg-Soldaten (Terminator, Robocop, Total Recall, I, Robot) für den Gut-gegen-Böse-Showdown inszeniert, übernimmt die Kunst den realutopischen Entwurf des neuen Körpers, als Reflexion auf die gegenwärtige Existenzweise, die Präferenzen und Phantasien einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft. In Anlehnung an gezüchtete, geklonte, plastisch-korrigierte und medizinisch-erneuerte Körper ist die Vision vom Körper aus dem Baukasten und der Grenzverwischung von echt und künstlich, eine willkommene

140 Anmerkung: »Cyborg« ist die Abkürzung für »kybernetischer Organismus« und wurde 1960 erstmals von den Wissenschaftlern Manfred E.Clynes und Nathan S. Kline verwendet. Als Bezeichnung für einen sich selbst regulierenden Mensch-Maschine-Hybriden, dem es möglich ist im Weltraum zu überleben. 76

Darstellungsebene für die zeitgenössische Kunst. Die erotische Komponente des Cybersex ist eine Steigerung der surrealistischen Automatenkörper. Die Simulation ersetzt die zweidimensionale bildliche Metamorphose und den dreidimensionalen Puppenersatz à la Hans Bellmer.141

Hans Bellmer, Die Puppe 1935-37 Aus: Marina Schneede. Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. 2002, S. 41

Die Faszination der Cybersexualität basiert auf der erotischen Anziehung, die jedoch die Körperteile der sich Begegnenden abstößt. Die kurzfristige Verbindung beruht auf Diskretion und wechselseitiger Entfernung. Das anonyme Vergnügen wird der körperbetonten, direkten Sexualität vorgezogen. Die neuen Dimensionen

141 Der Surrealist Hans Bellmer (1902-1975) vereint in seinen grotesk verformten Puppen und menschlichen Körpern eine skurrile Mischung aus Begierde, Fetischismus und Sadomasochismus. Deformierte Leiber werden zu Stellvertretern männlich-erotischer Phantasien, die abstoßende und anziehende Wirkung besitzen. Die Puppe fungiert als Ersatzwesen, die sich aus männlicher Vorstellungskraft konstruiert. 77 des erotischen Vergnügens führen die Körper nicht zusammen, sondern tragen zu einer „Ästhetik des Verschwindens“ des Nächsten, des Ehegatten, des Geliebten zugunsten desjenigen Fernen bei.142 Die Stimulation der sexuellen Begierden orientiert sich nicht mehr am weiblichen Objekt, sondern im Zentrum der körperbezogenen Simulation steht die objektivierte Frau. Die Lebendigkeit der Kopulation wird zugunsten einer unverbindlichen und ferngesteuerten Selbstbefriedigung aufgegeben. Ein sinnliches Erlebnis wird einzig durch die Haut garantiert. Der Datenanzug wird zum Informationsträger, die taktile Empfindsamkeit wird mit dem Gehör gekoppelt und erzeugt die Simulation einer Berührung, im Kopf des Datenträgers. Der eigentlich sensible Körper erhält eine zweite Haut, die lediglich die Schnittstelle zwischen elektronischen Impulsen und neuronalen sowie muskulären Reaktionen markiert. Diese „Schutzbekleidung“ der virtuellen Paarung ist nach Virilio ein weiteres Indiz für die sexuelle Divergenz. Die Körper-Ausstoßung oder die Abkopplung des Körpers innerhalb der virtuellen Gemeinschaft plädiert nur noch für eine unmittelbare Nähe. Die Notwendigkeit der körperlichen Präsenz wird minimiert, neben dem vermeintlichen Erlebnisspektrum der virtuellen Lust stellt sich die Frage nach der Gewährleistung der sozialen Maxime bei zunehmender Körper- Entfremdung. Die Hightech-Simulationen der Cyberspace-Installationen faszinieren durch die kurzzeitige Überbrückung von körperlicher und räumlicher Trennung. Die Hilfsmittel, wie Datenhandschuh und Helm, sind die technischen Hilfsmittel, um in den Datenraum einzutauchen. Angestrebt wird eine Kunst, die keinen Zwängen unterliegt und erst durch die Kommunikation der Teilnehmer erlebt werden kann, und die den Automatismus der stetigen Erneuerung in ihre Werke integriert. Der Künstler wird mehr und mehr zum Akteur, er avanciert zum erfahrbaren Kunst- Subjekt mit Gestaltungsmacht. Das Selbst wird sozusagen zum Hyperwerk. Die bisherige augentäuschende Imitation wird mit Hilfe der Berührung noch glaubwürdiger:

„In dem die Berührung für die Menschen die sensorische, sinnliche Bedeutung immer mehr verliert, ist es möglich dass sie wieder zum Schema einer Welt der Kommunikation wird – aber als Spielraum für taktile und taktische Simulation; die message wird zur massage.“143

142 vgl. Virilio Paul: Von der Perversion zur sexuellen Diversion. In: Die Zukunft des Körpers I, Kunstforum International, Band 132, 1995/96, S.194

143 zit. n. Baudrillard; Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Matthes &Seitz Verlag, München, 1982, S.101 78

Die Begeisterung für das Virtuelle rührt aus der Möglichkeit ihrer raffinierten Dosierbarkeit. Die sensorischen Komponenten der Erkenntnis oder ästhetischen Erfahrung können durch die verschiedenen Verknüpfungen je nach Neigung dosiert werden, während sich in der Wirklichkeit die taktilen und visuellen Daten vermischen. Wenn sich die Kunst dieser erlebnisreichen Welt des „mentalen Panoramas“ widmet, erschließt sie auf der einen Seite neue Dimensionen künstlicher Räume, sozusagen eine Potenzierung ihrer eigenen Erfahrbarkeit und befriedigt auf der anderen Seite ebenso den alltäglichen Wunsch des Ausbrechens und nach Veränderung.

2.2.2 Auf dem Weg zur Superästhetik

Mit dem Bewusstsein das die physische Identität des Körpers brüchig geworden ist, markiert die Kunst am Ende des 20.Jahrhunderts einen eher unsicheren Körper-Status. Die vielfältigen Wucherungen der Körperkunst reflektieren die körperliche Fragmentiertheit, Dissoziation, Verstörtheit und Zerstörtheit. In den 1990ern wird der “Body“ als „Resonanzkörper“ verstanden, das körperliche Sensorium antwortet mit Reiz-Reaktionen, die es in der nachmodernen Repräsentationsmethodik als „Statements der Sinne“ aufzuspüren gilt.144 Der Körper und seine Verfassung sind immer mehr Austragungsort gesellschaftlicher Prozesse. Hybridität ist nicht mehr nur Irritation, sondern kann als ständige Revision des eigenen und der anderen Standpunkte, zwecks einer flexiblen Anpassung an permanent wechselnde Anforderungen in einer hybriden Gesellschaft, angesehen werden. Die künstlerische Körperbehandlung zeigt auch welcher Stellenwert dem Leib gegenüber der technologischen Entwicklung zugemessen wird. Werden die modernen Technologien als Bereicherung empfunden, dann werden sie dementsprechend als Erweiterung des Menschen realisiert. Die erzeugten Schnittstellen bilden die Hinweise auf das jeweils andere Medium. Der gezielte Hinweis auf Konfusion ist eine Bejahung der Ästhetik von Flexibilität: Der gesellschaftliche Zustand zwischen Auflösung traditioneller Werte und deren Ersatz mit instabilen Strukturen.145 Mit Hilfe der Apparatur gelingt eine Befreiung von sich

144 s. Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts - eine postmoderne Utopie? In: „Das ich ist etwas Anderes“, S.72

145 vgl. Puff, Melanie: Postmoderne & Hybridkultur. 2004, S.256f 79 selbst, eine Überwindung der Trägheit, freie Beweglichkeit durch den Verlust von Widerständigkeit und Massivität.

Durch die Verquickung mit den medialen Möglichkeiten kann Realität überwunden werden und die Konstruktion einer virtuellen Welt erfolgen. Der Körper wird zum Ort der Gegensätze. Die Virtualität befähigt den konservativen Körper zu einer Synthese mit einer zweiten, dritten oder vierten Realität. Mit den neuen Apparaturen der multimedialen Zeitrechnung vollzieht sich ein Übergang der Wahrnehmungsformen von mäßig beschleunigten Gesellschaften, zu Formen hyperbeschleunigter Gesellschaften, bei denen die Lebensprozesse nun mit absoluten Grenzwerten konfrontiert werden.

Eine Folge der globalen Modernisierung ist eindeutig die Beschleunigung der Sinne. Der Soziologe Götz Großklaus benennt die wesentlichen Prinzipien der Hyperbeschleunigung und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, die sich natürlich ebenso auf den menschlichen Körper übertragen lassen. Die von Großklaus genannten Prinzipien ermöglichen eine Verkürzung der Reaktionen auf weitere Veränderungen und permanente Erneuerungen:

- „das Prinzip der Geschwindigkeit“ ist grundlegend für die beschleunigte Bewegung und den beschleunigten Zugriff.

- „das Prinzip der Verbindung“ ist generelles Symptom für die globale Vernetzungstechnik, die nicht mehr an Orte und Räume gebunden ist.

- „das Prinzip des Zergliederns und Fragmentierens“ ermöglicht die sowohl die Montage wie auch notwendige Demontage und ist kennzeichnend für die unbedingte Flexibilität.

- „das Prinzip der Nähe“ bestimmt alle Formen der Telekommunikation, räumlich-zeitliche Distanzen werden aufgelöst, grenzüberschreitend von innen nach außen von privat und öffentlich.

- „das Prinzip der Visualisierung“ erzeugt hyperreales Jetzt und Hier; die Ferne der Außenwelt und das Fremde vereinen sich zu punktuellen Nah- Einstellungen.146

146 s. Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum: zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. 1.Auflage, Frankfurt a. M., 1995, S.79f 80

Die durch mediale Fortschritte angeregten „Neuerfindungen“ verfolgen in erster Linie die Strategie der Zerlegung. Diese Aufteilung des Objektes in seine Einzelheiten, ermöglicht eine unbegrenzte Auflösung. Dabei wird die tiefgründige Wahrnehmung des einst Realen nicht mehr reflektiert, es geschieht eine Zurückentwicklung in seine Bestandteile, eine Recherche mit dem Ziel einer perfekten Simulation. Die verlässlichen Grenzen nah/fern, außen/innen, offen/geschlossen, sowie die abgeleiteten Orientierungsmuster werden elektronisch aufgebrochen und bewirken zugleich eine neue „Erzählstruktur der Welt.“147

Auf dem Weg zur Superästhetik wird das Motto „Konstruiere dich selbst“ ein Hinweis auf die Idealisierungsmöglichkeiten in körperlichen Krisenzeiten.

Künstlerischer Exkurs: Das Chamäleon Cindy Sherman – plastic phantasies

Kaum eine andere Künstlerin hat in den 1990ern so tabulos die Abstumpfung der Sexualität demonstriert. Cindy Shermans provozierende Fotoserien „Sex Pictures“ (1992) zeigen surrealistisch überzeichnet die Phantasielosigkeit des Medienzeitalters. Knallhart und teilweise abartig, inszeniert sie mit künstlichen Gliedern, Prothesen und Verkleidungen die Schnelllebigkeit von Sex und den schmalen Grat zu Gewalt und Künstlichkeit. Die Künstlerin selbst liebt die Verwandlung und stellt ihre schauspielerischen Qualitäten unter Beweis, schlüpft in andere Rollen und maskiert sich bis zur Unkenntlichkeit. Damit spielt Cindy Sherman auf die künstlichen Welten an, deren Versuchung zur Plage wird. Die Flexibilität der Bilder, die ständige Verfügbarkeit wird zum Fluch für den menschlichen Körper und die medialisierten Geschlechterrollen. Im Mittelpunkt ihrer Fotoserien stehen immer wieder das „Androgyne, die Entmythologisierung des Körpers, sowie die Wandlung des Frauenbildes in der heutigen Gesellschaft.“148 Sherman macht sich die Wirksamkeit der Bilderflut zunutze; ihre spektakulären Inszenierungen besitzen eine fetischartige Qualität und liefern einen Querverweis zu männlichen Performancekünstlern wie Stelarc und FLATZ. Sofortige Aufmerksamkeit und eine strategische Grenzüberschreitung charakterisieren ihre

147 s. Großklaus, S.98

148 s. Zdenek, Felix u. Schwander, Martin: Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975-1995. Katalog anlässlich der Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, 1995., S. 14 81 künstlerische Arbeit. Sherman portraitiert in zahlreichen Fotoserien die Wunschvorstellung einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr der Künstlichkeit unterwirft und damit billigend den Autonomieverlust in Kauf nimmt. So sind Shermans Maskierungen kein Indiz der Selbstverliebtheit, sondern eine fotografische Performance der gesellschaftlichen Entfremdung. Das Chamäleon Cindy Sherman „inszeniert auch ein hybrides Wesen, zwischen bemächtigten Subjekt und entmächtigten Blickobjekt, oszillieren ihre Selbst-Bilder.“149

Damit visualisiert Sherman den Wechsel zwischen männlicher Wunschvorstellung und dem Rollenspiel weiblicher Maskeraden. Die Spielfläche gleicht einer Barbie- Verkörperung, das Vorbild-Modell der medialen Gesellschaft, kann mit postmodernen Phantasien zur leblosen Puppe à la Bellmer avancieren, zum animalischen Mischwesen oder zur demütigen Hausfrau. 150

Cindy Sherman, # 261, 1992

Auf diese Weise entstehen fotografische Chiffren für die Verwobenheit von Idealisierung und Monstrosität.“151 Zugleich liefert Sherman den hysterischen Ursprung und Fingerzeig für die Macht der Virtualität.

Der Cybersex ist eine Spielart des Sexes, der gewissermaßen auf den Leib geschneidert wird, ohne reale Körper zu benötigen. Gerade die narzisstische Vision,

149 s. Zdenek, S.15

150 Abbildung, Untitled # 261, 1992 Cindy Sherman. In: Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst, S.157

151 vgl. Zdenek, S. 14 82 folglich die Betrachtung aus sicherer Entfernung und der Wunsch des Erlebens, vereinen sich im Cyber-Blickwinkel. Der Cybersex impliziert die „onanistisch- voyeuristische Kontroll-Phantasie“, sich weder zu verletzen noch wirklich hingeben zu müssen.152 Hinter dieser Idee steckt nach Getty, die Sehnsucht nach künstlichen Paradiesen, die aber die Überschreitung von Grenzen und die Erweiterung des Körpers durch Prothesen beinhalten.153

Die vorgetäuschte Anwesenheit des Anderen, die „Pseudo-Nähe“, erlaubt dem Besucher die Flucht und sichert ihm zwei Formen der Anschauungen, die er aber nicht hinterfragt. Darin liegt die Gefährlichkeit dieser technisch herbeigeführten Halluzination, die suggeriert, dass man in den Objekten ist, obwohl man sich vor seinem Körper befindet. Der Verlust einer kritischen Distanz zwischen dem Eintauchen in simulierte Körperwelten und der körperlichen Welt führen zu einem instabilen Bewusstseinszustand: Das Fliehen aus der Welt und die Rückkehr in die Welt verliert an Eindeutigkeit innerhalb der menschlichen Wahrnehmung. Die Verschmelzung von Präsenz und Repräsentation produziert lediglich Zustände körperlicher Anwesenheit.

„Es gibt verschiedene Möglichkeiten in seinem (virtuellen) Körper zu sein. Der virtuelle Raum bildet eine Art geistigen Panoramas, mit deutlichen und konfusen [...] Bereichen.“ Die Vielfalt der konstruierten Welten, die man vor sich aufbauen kann, erlauben einem seine Gedanken wie Dinge vorzuführen. Das Virtuelle ist ein reiner Repräsentationsraum. Die Faszination und die Verwechselbarkeit mit der Wirklichkeit liegen in der technischen Raffinesse; einer Verbindung der beweglichen Beziehungen.154

Die Projektionsfläche –Körper- hat einen weiteren Entwicklungsschritt vollzogen: Das Wissen um eine stabile Identität, die durch den Körper ausgedrückt wird, hat die Technologie inspiriert an der Konstruktion und Multiplizität von Identitäten zu arbeiten. Diese wissenschaftliche Herausforderung trägt maßgeblich zur Gefährlichkeit des Menschen bei. Das zunehmende Abwälzen des Alltäglichen auf intelligente Maschinen und die Falle der multiplen Identitäten sieht Baudrillard als

152 s. Getty, Gisela/ Winkelmann, Jutta: Future-Sex. Leben im 21.Jahrhundert. Hrsg.: Horx, Matthias, Metropolitan Verlag, Düsseldorf, München, 1996, S.34

153 ebd., S.70 154 s. Quéau, Philippe: Virtuelle Visionen. In: Kunstforum International, Bd.133, 1996, S.66

83

Gefahr. Da durch das „Verschwinden eines allgemeinen Äquivalents alle neuen Möglichkeiten äquivalent sind und sich daher in einer generellen Indifferenz virtuell aufheben. Eine der beiden Existenzen muss dann verschwinden.“155

2.2.3 Allianzen zwischen Sinnen und Dingen: Inside and outside the Body

Die Nachmoderne entwickelt jedoch eine gesteigerte Formensprache der Beunruhigung, in dem alltägliche Abnormitäten und Verzerrungen virulent eingesetzt werden, um die Erkenntnis über den Identitätsverlust und die Ich- Entgrenzung zu transportieren. Dabei wird mit der Körperbehandlung kokettiert:

Der Körper wird in Extremsituationen versetzt, getestet und befragt. In dem offenen Verhalten gegenüber den Neuen Medien und einer Rationalisierung des Ausgesetztseins, spiegelt sich allerdings die Zwiespältigkeit der Künstlergeneration wider. Die zeitgenössische Kultur arrangiert den Körper als Reibungsfläche, einerseits zeigt sie die weitest mögliche Integration (Einkörperung), die Vereinnahmung seiner Funktionen, der Räume und der Menschen an sich andererseits präsentiert auf radikalste Weise seine Ersetzbarkeit durch die Vielzahl der technischen Prothesen, die seine Anwesenheit schrittweise ausschließen und somit einen Prozess der Entkörperung einleiten.

In der Perfektion der körperlichen Ausblendung agiert bereits die künstliche Intelligenz. Jean Baudrillard bezeichnet diese „unmenschliche Hyperrealität als „acting out“ und festigt mit dieser Ansicht die These einer Grenzästhetik, die auf den Körper zurückgreift und ihn entsprechend seiner Echtheit und Funktion auf – oder abwertet.156 Innerhalb der künstlerischen Neuorganisation wird der Körper also zu einer Projektionsfläche, die die Bedingungen seiner Konstruktion spiegelt. Er oszilliert sozusagen als ästhetisches Objekt zwischen Symptom und Symbol.157

Eine Gegenbewegung und Tabubruch stellt die künstlerische Arbeit mit leblosen Körpern oder verwesenden Körperteilen dar. Teresa Margolles (geb.1963 in Culiacan, lebt in Mexico City) wurde in den Neunzigerjahren für ihre Kunst als

155 s. Baudrillard, Jean: Lob der Singularität. In: Kunstforum International. Die Kunst der Selbstdarstellung. Bd. 181, 2006, S.69f

156 Baudrillard, Jean: Das perfekte Verbrechen. Matthes & Seitz Verlag, München 1996, S.65

157 vgl. Flach, S.271 84

Auseinandersetzung mit dem Tod, immer wieder mit Preisen und Stipendien belohnt.158 Die Künstlerin beschäftigt sich genau mit dem Moment, in dem der Mensch zu Abfall und der betrauerte Tote zum Problem der Lebenden werden. Ihr Interesse gilt der paradoxen Schnittstelle von einem wertvollem zu wertlosem Körper. Margolles thematisiert die Bedeutungslosigkeit der menschlichen Existenz von Angehörigen der besitzlosen Klasse, wie auch die dekadente Lebensweise der Reichen. So verwendete sie für eine Aktion im Oktober 2002 in Berlin flüssiges menschliches Fett und bemalte damit eine Wand, welches zu unterschiedlichsten Reaktionen führte. Die FAZ titelte: „Das erste Werk des 21.Jahrhunderts“, während die Boulevardpresse von „einer Wand des Ekels“ berichtete. Die provozierende und in vieler Augen eher abstoßende Ästhetik demonstriert ein anderes künstlerisches Vorgehen: Polarisierung durch eine entfremdete Ästhetik. Eine künstlerische Methode die Gesellschaft aufzurütteln und zum Nachdenken zu bewegen. Margolles ästhetischer Ansatz ist kein Einzelfall, auch die monumentale Body Art der Rachel Whiteread zielt auf das gesellschaftliche Gewissen.

Mit dem provokanten Aufleben der körperlichen Darstellung in der Kunst werden auch die theoretischen Ansätze der Rezeption neu überdacht. Der Betrachter ist gezwungen die „all-over-Oberfläche“ (Clement Greenberg) als ein Forschungsfeld wahrzunehmen, in dem nicht zwischen Figur, Grund, Bildzentrum und Rand differenziert wird. Durch die Mediatisierung wandeln sich die Lesearten und Interpretationsstrategien im technisierten Betriebssystem Kunst.

Das überholte Verhältnis zwischen Körper und Raum steht unter dem Einfluss einer unkonventionellen Bildsprache. Der traditionelle Bildraum wird zwar weiterhin in Projekte integriert, unterliegt aber ähnlich wie das Künstlersubjekt den temporären Veränderungen der Außenwelt. Deshalb müssen die Kriterien zur Beurteilung der sich wandelnden körperlichen Darstellung, das System innerhalb der Kunst, als auch die Wechselwirkung außerhalb dieses Systems in jedem Fall berücksichtigen.159

Beispielsweise wurde in dem strikten Abstraktionsprozess der Moderne und der postmodernen Ausdrucksmalerei des action-paintings der Körper in spontane

158 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.1 und Abb.2, Theresa Margolles: Aire, Performance. Körperfetteinreibung, Mexico City

159 vgl. von Falkenhausen, Susanne: Verlangen nach Bedeutung. Zur Lesbarkeit moderner Kunst. In: Raum und Körper in den Künsten der Nachkriegszeit. Hrsg. von Akademie der Künste. Zusammengestellt v. Angela Lammert, Verlag der Kunst, 1998, S.20ff 85

Formen und Strukturen aufgelöst. Ein Indiz für gesellschaftliche Entfremdung und künstlerische Kritik am System. Eine Vorrausetzung für diese Entwicklung ist die jeweils selbst empfundene Distanz zur eigenen und figurativen Ganzheit, hin zu einer durch wissenschaftliche Erkenntnisse veränderte Oberflächenästhetisierung. Die fortwährende Einstellungsänderung der Postmoderne äußert sich in den Prinzipien der Reduzierung oder Transformation.

In den nachmodernen Grenzgängen findet die postmoderne Bezugnahme auf den aktuellen Körperzustand weiterhin statt: Erinnerungen, subjektive Erfahrungen, Vergleichs-momente konstituieren den Körper am Rande einer von Paradoxien geprägten künstlerischen Stellungnahme.

Die gegenwärtige Body Art, die mit und durch die kulturellen Kodierungen des Übergangs in das 21.Jahrhundert entsteht, entwickelt neue Körper-Ansichten und Körperkonzepte, die sowohl die innere Befindlichkeit ausdrücken, als auch das Vordringen in den realen und sozialen Raum: Eine Einkörperung, die mit Hilfe der ausdrücklichen Anwesenheit des Körpers außergewöhnliche „Nischen des subjektiven Erlebens“ ausfüllen soll.160 Mit dem Rückgriff auf den ursprünglich ausgemusterten Körper in der Technokultur gelingt ein Coup, der das ästhetische Prinzip der Einkörperung, dem künstlerischen Versuch seiner Wiederbelebung, eine richtungweisende Bedeutung verleiht. Die dreidimensionale Kunstproduktion der letzten zwei Jahrzehnte etabliert eine konzeptuelle Installation. Als Folge von Happening, Fluxus und Body Art wird der Körper, sein Einsatz und seine Behandlung, neu gedacht. Der Begriff –posthuman- definiert bereits die manipulativen Umstrukturierungen von Psyche und Körper und daraus resultiert die Verdrängung früherer Selbst-Konstruktionen. Der Gedanke von der Körper-Einheit funktioniert nur durch die physischen und sozialen Einschreibungen in seine Oberfläche. Wissenschaftlich wie auch posthuman betrachtet, besteht der Körper aus einzelnen Elementen, dessen Zusammenhalt aus dem Verhältnis der Oberfläche zu seinen Körperteilen entsteht. In der Nachmoderne übernimmt der Körper immer eine Modellfunktion, er wird als Beispiel für jedes (abgrenzbare) System herangezogen. In seiner Unvollständigkeit und seiner gegenwärtigen Unbestimmtheit ist er ein ideales Medium für die Verdeutlichung von gesellschaftlichen, kulturellen und damit menschlich bestimmten Grenzbereichen.

160 s. Beckett, Jane: Körperspuren-Körperräume. Einige Aspekte der britischen Skulptur der Nachkriegszeit. In: Raum und Körper in den Künsten der Nachkriegszeit. S.57 86

Die Lesbarkeit des Körpers ist neu strukturiert, sie orientiert sich nicht länger am Verlust der Einheit, sondern integriert seine Durchlässigkeit und Wandelbarkeit, um sein Grenzendasein als unaufhörliche Entwicklung zu demonstrieren. Die fließenden Übergänge konkurrieren mit einem „Schon-Körper“ oder einem „Noch- Körper“, erfahrbar in einem relativen Ich-Bewusstsein.161

2.3 Faszination des Anorganischen

Die eigene Empfindung, als auch die Fremdwahrnehmung des Körpers innerhalb der Gegenwartskultur, ist geprägt durch den Einfluss des Künstlichen. Besonders in der Sexualität, einem wesentlichen Erlebnismoment der subjektiven Körpererfahrung, wird eine zunehmende Dominanz des Anorganischen deutlich. Die Öffnung gegenüber bisherigen Erfahrungsbereichen beinhaltet die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung. Im Mittelpunkt stehen neue Erlebniskonstrukte, die in der Verbrüderung mit dem Künstlichen eine „zügellose Erregung“ in Aussicht stellen. Die Transformationen der Gegenwart haben den Wert und die Bedeutungen von Berührungen auf eine Mindestanforderung reduziert. Dabei definieren sich gerade Menschlichkeit und Körperlichkeit durch eine tiefe Innerlichkeit. Mit der Rationalisierung des Leibes geht eine Lethargie der Empfindung einher. Zudem ist der menschliche Körper untrennbar mit dem Begriff des Fleischlichen verbunden. Dabei beinhaltet dieses Synonym die Fatalität der Vergänglichkeit ebenso, wie die der Begierde. Bei der Transformation des Fleisches zum Ding, des Organischen zum Anorganischen wird dagegen eine Erregung hervorgerufen, die von dem Gedanken gesteigert wird, die Sexualität, das lustvolle Körper-Erlebnis schlechthin, über das Leben hinaus zu erweitern.162

In dem der Körper immer mehr als meat (Fleisch), im Sinne des Dinghaften gesehen wird, zeichnen sich immer radikalere Dimensionen seiner unpersönlichen Behandlung ab. Die Virtualität ist ein Beispiel für die Porosität zwischen dem wesenhaften und unmenschlichen Stadium. Der Körper ist lediglich das Material, das Fleisch (meat ) dieser stetigen Übergangserlebnisse. Seine Neutralisierung zum Erlebnisträger macht ihn gerade für die „neutrale Sexualität“ besonders

161 s. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. In: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe 1975, Bd.3

162 vgl. Freud, S.109 87 interessant.163 Gerade in diesem einst zwischenmenschlichen Bereich können mit Hilfe der sensiblen Apparaturen, dass noch unvollständig erforschte Feld der Erregung und Wollust entdeckt werden. Die ehemals moderne Vorstellung vom petit morte gipfelt in der Allianz mit der Maschine: „[...] die Verengung überschwänglichen Reichtums eines gemeinsamen Empfindens, das dem Tod zuläuft.“164 Der Cyborg ersetzt die Organe durch künstliche Apparate und bekleidet den Modellkörper mit einem hautähnlichen Anzug. Die Empfindsamkeit wird dem menschlichen Körper sensorisch nachgeahmt. Mit der virtuellen Sexualität wird der Körper bewahrt und gleichzeitig konsumiert. Dabei ist der Cyborg nach Perniola ein „Fast-Ding“.165 Seine Sexualität und Reizbarkeit hängt von der Fähigkeit ab, den Körper als Ding zu empfinden. Die Unabhängigkeit zum menschlichen Körper vollzieht sich nicht vollständig, da er sich nur unter der Voraussetzung entfalten kann, dass der Mensch ihm sein Empfinden leiht. Die Entkörperlichung bezieht sich auf den Verlust des eindeutig Menschlichen aber noch nicht gänzlich Künstlichen. Im Fokus steht die perfekte Abstraktion mit dem Ziel der optimalen Verdinglichung, der Herstellung eines Doubles.

Exkurs: Symptome einer entfremdeten Gesellschaft

Marc Guillaume konstruiert einen Vergleich, der die Ausmaße der bisherigen technologischen Entwicklungen anhand der körperlichen Konstitution veranschaulicht.

„Wenn der soziale oder physische Körper seinen Maßstab verliert, kann die Fettsucht ihn aufschwemmen [...] Man kann die Fettleibigkeit als ein Individuum betrachten, dass seinen eigenen toten Körper vorwegnimmt, was zu viel Körper ergibt und den Körper als überflüssig erscheinen lässt. Die gegenwärtigen Informationssysteme haben den toten Sinn in der starken Bedeutung vorweggenommen und erscheinen als sinnüberladen.“166

Die viel zitierte Verabschiedung der (Post-)moderne fundiert nach Guillaume in der Zunahme von Überschüssen. Die Folge ist eine Potenzierung von gesellschaftlichen

163 s. Perniola, Mario: Der Sex-Appeal des Anorganischen. Turia und Kant Verlag, Wien, 1999, S.33

164 s. Perniola, S.39

165 ebd., S.45

166 s. Guillaume, Marc: Post-Moderne Effekte der Modernisierung. In: Verabschiedung der (Post-) Moderne? Hrsg. v. Jacques Le Rider u. Gérad Raulet, Tübingen Narr, 1987, S.79 88

Veränderungen, die zu neuartigen Exzessen führen. Der Überschuss oder die exzessiven Auswüchse werden zu den Merkmalen der gegenwärtigen Weltentwicklung, sie werden in der Ökonomie von Bataille als schicksalhaft beschrieben. In der sozialen Gemeinschaft setzt sich das Gesetz des Stärkeren durch und ist Verursacher für eine egomanische Entgleißung, die das gesamte System zu überrennen scheint.167 Die globalen Probleme und ökologischen Krisen kennzeichnen den „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ ... dieser von Rolf Löther beschriebene Stoffwechsel, bildet die Grundlage für die Existenz und Entwicklung der Menschheit. Durch die gegenwärtigen Konflikte und zugespitzten Widersprüche reagiert das Ökosystem mit Überforderung und gerät aus dem Gleichgewicht. Auf dieses Gleichgewicht hat sich der Mensch eingerichtet, die gegen ihn gerichteten Reaktionen verdeutlichen den Zustand der Wehr- und Hilflosigkeit.168 Der zunehmende Mangel an Naturverbundenheit prägt die neuen Formen des Exzesses, die Folgen dieser andauernden Krisen liegen auf der Hand: Grenzenloses Weltbevölkerungswachstum, Rüstungswachstum, weltweite Kriege, Wachstum der Information, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Umweltkatastrophen sind Indizien für Anomalien. Symptome dieses Aufsteigens zu Extremen vereinen sich in den technologischen Entwicklungen, die im monatlichen Takt alte Standards verschwinden lassen. Die Anomalien implizieren das Phänomen des Verschwindens, die Überschreibung, Befüllung, Entgrenzung des Alten werden gewissermaßen zur Vorschrift.169

Der Übergang von einer organischen Industriegesellschaft in ein polymorphes Informationssystem, bewirkt einen Wechsel von den hierarchischen Formen der Unterdrückung zu einer Herrschaft der Informatik. Die Werkzeuge dieses Übergangs in Form von Kommunikations- und Biotechnologie stellen auch den Körper neu her. Denn wie Donna Haraway bemerkt, werden Körper nicht einfach geboren, sie werden gemacht. Ebenso wie Zeichen, Kontext und Zeit sind Körper im späten 20.Jahrhundert vollständig denaturalisiert.170 Durch die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse konstituieren sich auch neue Mythen. Für die

167 vgl. Guillaume, S.75f

168 vgl. Löther, Rolf: Der unvollkommene Mensch. Philosophische Anthropologie u. biologische Evolutionstheorie. Dietz Verlag, Berlin, 1992, S.268

169 vgl., Löther, S.79

170 vgl. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 1995, S.170 89 postmoderne Biologie sind die Körper mittlerweile organisch-technologische Artefakte, die durch biomedizinische Eingriffe bis zu einem bestimmten Grad repariert und umprogrammiert werden können. In ihren materiellen Bedingungen ergeben sich Anpassungs- und Erweiterungsschnittstellen, die in der Vorstellung vom kybernetischen Organismus, im Hybrid aus Maschine und Organischem, einen posthumanen Mythos verbildlichen. Der Cyber-Mythos handelt von den überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen, lustvoll engen Verkopplungen aber auch von gefährlichen Möglichkeiten, die von dem Künstlersubjekt erkundet werden.171

2.3.1 Schnittstellen-Ästhetik

Der menschliche Körper ist das Musterbeispiel für die innovativen Kommunikationsstrukturen der Neuen Medien. Die Geschwindigkeit und Abläufe der Kommunikation zwischen den Zellen und den Körperorganen sind maßgeblich an der Software-Entwicklung moderner Kommunikationssysteme beteiligt. Die Wechselwirkung der körpereigenen Zeichensprache auf das Nerven-, Hormon- oder Immunsystem lassen sich auf körperfremde Kommunikationssysteme übertragen. Die neuro-elektronischen Schnittstellen sind Hinweis auf das Eindringen in den Körper und markieren zugleich einen Ort außerhalb der Körperwelt. Die Verbindung des Neurons mit dem Elektron wird von der Mensch-Maschine-Vision vorangetrieben. Die Mensch-Computer-Schnittstelle wird durch Analogien in der Datenverarbeitung, ähnlich wie bei der Hirntätigkeit und Gedächtnisfunktion, bereits repräsentiert. Mit Hilfe des Computers können bereits Sinnesorgane wie Augen oder Ohren simuliert werden. Durch spezifische Sensoren können dann gleichzeitig mehrere der sonst verborgenen „somatischen-, kortikalen-, psychophysiologischen Signale“ erfasst werden. Die Konstruktion des medialen Körpers, der neben Ausdruckseffekten auch Handlungen ermöglicht, ist infolgedessen eine Mischform unserer informationsverarbeitenden Lebensphilosophie. Er lässt sich als Schnittstelle zwischen „künstlicher Intelligenz und intelligenter Kunst“ einordnen.172

171 s.Perniola, S.33ff

172 vgl. Prehn, Horst: Körperzeichen - Zeichenkörper. In: Die Zukunft des Körpers II, Kunstforum International, Bd.133, 1996, S.189ff 90

Der menschliche Körper ist demnach das Vorbild des posthumanen, medialen Körpers - er avanciert gewissermaßen zum Dummy. 173 Die alltäglichen Erfahrungen und Anforderungen sind geeignete Experimentierfelder, um die körperliche Unvollständigkeit und fehlerhaftes Verhalten durch technische Leistungen und analytisches Modellieren zu korrigieren. „Die künstlerische und wissenschaftliche Eigen-Art dieser neuen hybriden Medien, ihre suggestive Kraft und Eindringtiefe sowie die Möglichkeit, unsere Empfindungen und Imaginationen als materielle Metapher zu objektivieren, eröffnen neue Dimensionen der interindividuellen Kommunikation.“174

Diese Schnittstellen-Ästhetik unterliegt dem sezierenden Blick der Wissenschaft: Der Körper ist die zu untersuchende Materie und wird zu einem abstrakten Zell- Neuronen-Modell. Der menschliche Körper fasziniert und beflügelt die Forschung, er ist das Experimentierfeld überhaupt, aus seiner fleischlichen Natur lassen sich die Ideale für die Medienapparatur der postmedialen Elektronisierung ableiten. Diese kontroverse und stetig fremdelnde Beziehung zwischen Natur und Technik sind die Basis für neue Konzepte einer posthumanen Body Art. Die Spannweite verschiedener Regungen und Neigungen, die sich in paradoxen Ansichten und Objekten manifestieren. Diese Polarität zwischen Leben und Tod, zwischen Wertvollem und Wertlosen erregt zunehmend Aufmerksamkeit und wird medial inszeniert und ausgereizt.

Die Grenzüberschreitung und die Quintessenz der Schnittstellen-Ästhetik ist nicht die Gestaltung von Objekten, sondern die Strukturierung einer vom Körper abgekoppelten Empfindung. Sowohl auf psychischer als auch auf der realen Ebene des Biologisch-Technischen verwischen die Grenzen zwischen „Teddybär, Tamagotchi und der wilden Entität aus Fleisch und Blut.“ Kein Ausweg führt aus diesen Identitätsverwischungen, es bleibt nur die Selbsterfindung und die Verbrüderung mit den Übergangssubjekten.175 Die „mentale Formbarkeit“ gilt es zu rekonstruieren: Die Elektrostimulation beruht auf Manipulationen und „Feedback- Ekstasen.“ Grundsätzlich sollte sich die künstlerische Ästhetik der medialen

173 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.26, Tony Oursler, Test Dummy, 1993

174 s. Prehn, S.195

175 vgl. Feuerstein, S.87 91

Entwicklungen bedienen, um regulative Grenzen aufzubauen, indem sie Grenzüberschreitungen thematisiert und Kommentare provoziert.176

Künstlerischer Exkurs: Dummy -Philosophie und Stelarc`s PING BODY

Stelarc gilt als extremer Verfechter einer BodyArt, die sich der Kombination von Apparatur und menschlichen Körper beschäftigt. Mit wissenschaftlicher Analyse von körperlichen Leitfunktionen und Adaptionsmöglichkeiten erweitert der australische Künstler sein Performance-Repertoire. Während die legendären Aufhängungen (in den 1970ern) noch zu seinen „postbiologische menschlichen Körperstudien“ zählten, ist PING BODY (1995) ein künstlerisches Statement zur fortschreitenden elektrischen Simulation, eine anschauliche Erklärung der Cybersex-Machart.177

Stelarc, PING BODY, Ablaufschemata, 1995

Stelarc bleibt dabei der teils schmerzvollen Erfahrung als Resultat seiner künstlerischen Idee treu. Seine interaktive Performance übergibt dem Zuschauer,

176 s. Prehn, S.195

177 s. O`Reilly, Sally: Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München 2012, S.129 92 dem Benutzer von Netzwerken die Macht.178 Das räumlich entfernte Publikum kann den Körper des Künstlers (PING BODY) „mittels elektrischer Simulation manipulieren“.179 Damit demonstriert der Künstler in einem Selbstversuch inwieweit Empfindungen und Begierden gänzlich außerhalb des Körpers gesteuert werden können. Durch diese interaktive Performance wird deutlich, welchen Einfluss soziale und sexuell inspirierte Netzwerke auf den Körper haben können. Mit dieser Dummy- Philosophie konstituiert Stelarc den Hinweis auf eine von allen biologischen Bedingtheiten losgelöste körperliche Aktivität.

Zur Performance: Immer wenn das Publikum in Paris den Touchscreen betätigte, wurde der Körper von Stelarc in Luxembourg über einen Muskelstimulator zu unkontrollierten Bewegungen veranlasst. Die räumliche Trennung und das unkalkulierbare Verantwortungsgefühl des Zuschauers bei solchen ferngesteuerten Szenarien verursacht ein gewisses Risiko. PING BODY ist neben dem Hinweis auf die Macht von Netzwerken auch ein künstlerisches Beispiel für die Körpermatrix. Die Technologien des 20. und 21. Jahrhunderts entschlüsseln die letzten Geheimnisse des Körpers; seine intakte, funktionierende Gliederung liefert die Vorlage für künstliche Systeme, die sich zwar an ihm orientieren, aber eine Unabhängigkeit anstreben.

2.3.2 Posthumane Körperkonzepte - Statement veränderter Selbstwahrnehmung

Die gegenwärtigen Mensch-Maschine-Schnittstellen sind fließender geworden. Die Metamorphosen der Neuen Medien haben sie im Lauf des 20. Jahrhunderts immer bequemer, handlicher und unsichtbarer für den Menschen gemacht. Die Maschinen werden den alltäglichen Gebrauchsanforderungen des Menschen angepasst. Diese Flexibilität steht für eine bildende Kraft, die Gegensätzliches weder versöhnt noch gegeneinander setzt. Es herrscht das Prinzip des anything goes, des Sowohl-als-auch. Die postmodernen Symbiosen werden aufgrund ihrer qualitativen Annäherung kaum noch als Bemächtigung gegenüber dem Körper wahrgenommen. Dabei wird die ständige Fluktuation von Daten und

178 Abbildung, PING BODY, Stelarc, 1995. In: Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. S.129

179 s. O` Reilly, S.130 93

Informationen wegen der Unsichtbarkeit der Schnittstelle und der Unverbindlichkeit der Kommunikation nicht als Einschränkung oder gar als Unfreiheit empfunden. Im Gegenteil, würde man jetzt die neu gewonnene mediale Freiheit zensieren, dann würde dies in der Gesellschaft eher zu einem Aufschrei führen. Denn die Entwicklungsschritte, die der Körper mit Hilfe der Neuen Medien vollzieht, bedeuten für ihn zunächst die Ausdehnung der körperlichen Erfahrungswelt. Die Extension des Körpers ändert sein Selbstverständnis und erschließt neue Formen der Kommunikation. Der Körper wird zum androiden Informationsträger und zu einer unsichtbaren Schnittstelle perfektioniert. Zur Jahrtausendwende hat die expandierende Interaktivität zwischen Körper und Technologie ihren Höhepunkt fast unbemerkt erreicht. Damit verschwimmen auch die Differenzen zwischen Natürlichem und Künstlichem, zwischen Geist und Körper, eben zwischen der Bestimmung durch das Selbstbewusstsein und der Bestimmung von außen, der so genannten Fremdbestimmung.

Mit den neuen medialen Gestaltungsmitteln ändern sich auch die künstlerischen Beiträge und können daher auch nicht mehr mit den gewohnten Fragestellungen analysiert werden. Der traditionelle Kunstbegriff impliziert das Ausbrechen (Entkörperung) aus den Konventionen, den herkömmlichen Vorstellungen und ursprünglichen Wertesystemen. Die Entmaterialisierung der Kunst erzeugt neue künstlerische Wirklichkeiten, die als Repräsentanten der neuartigen Kommunikations- und Beziehungssysteme in Erscheinung treten. Die Ontologie dieser Kunstwerke und ihre spezifischen Gedankenbilder können nur durch eine Auseinandersetzung mit ihren medialen Ursprüngen erfolgen. Auch wenn die post- mediale Kunst sich der sterilen Hightech-Apparatur bedient, ist sie nach wie vor in der Lage, die digitale Weltsicht durch das Freilegen der Unabhängigkeit zu entlarven. Die Ästhetik der Flexibilität bedeutet auch den Blick auf die Welt zu flexibilisieren. Die Kunst ist in der Lage das Reflektieren der eigenen Person durch flexibles Denken, Handeln, Fühlen und Kommunizieren offen zu halten. Die Fatalität der multimedialen Kunst besteht in ihrer Integrationsfähigkeit, sie fügt den Zuschauer sowie den Zuhörer in das Kunstwerk ein. Damit erfüllt sich eine traditionelle Phantasie des Menschen, nämlich die Maschine zu imitieren und der natürlichen Vergänglichkeit zu trotzen. Es geht nicht um das Enträtseln von Geheimnissen, sondern um das Begreifen von selbst bestimmter Lebensführung und die Herausbildung von Widerstandsidentitäten.

94

An dieser Stelle möchte ich nochmals beispielhaft auf die bereits im ersten Kapitel erwähnte Technokultur zurückkommen:

Als Ausgangspunkt für den heutigen Boom sozialer Netzwerke kann tatsächlich die kulturelle Erscheinungsform des Techno genannt werden. Mit dem Begriff des Techno wird ein Zusammenspiel aus Tradition, Kultur und Technik definiert. Die Verbindung von Elementen aus dem religiösen, meditativen und musikalischen Bereich mit den Erkenntnissen modernster naturwissenschaftlicher Forschung erzeugt ein prägnantes Lebensgefühl, welches nicht auf Konfrontation sondern auf Erlebnisintensität durch Gemeinschaft setzt. Der Sammelbegriff Techno bedeutet gegenwärtig eine multimediale, sequenzielle Kunst- und Ritualform, die sich längst von dem einstigen Musik- und Tanzstil der Jugendbewegung zu einem Überbegriff des künstlerischen Ausdrucks weiterentwickelt hat. Die gesteigerte Kombinations- und Anpassungsqualität zeigt sich eindrucksvoll im reinen Technosatz, der in der Musikkultur des letzten Jahrzehnts eine revolutionäre Welle der Rhythmuskomposition markiert: „Im reinen Technosatz (pure Techno ) ist jede Spur jederzeit mit einer anderen Spur kombinierbar, so dass man aus den einzelnen Spuren, die technisch gesehen gleichwertig und parallel geschaltet sind, beliebige Sequenzen miteinander mischen kann, das heißt gleichzeitig spielen kann.“180

In der Begeisterung für die unendliche Produktion von Rhythmusfolgen kommt auch die positive Gesinnung gegenüber der technischen Durchdringung zum Ausdruck. Die Elektronisierung und die damit verbundene Distanz zwischen den Menschen werden durch die neu gewonnene Interaktivität zwischen Mensch und Maschine ausgeglichen und erzeugen die erwünschte Vielseitigkeit im Zusammenspiel von Mensch, Maschine und Kunst. Durch die Digitalisierung und die zunehmende Flucht des Menschen in die virtuelle Welt lässt sich diese Adaptionsmöglichkeit auch auf den menschlichen Körper und seine Sozialkontakte übertragen. Sämtliche soziale Netzwerke gleichen die körperliche Distanz durch ein medial gestütztes Gemeinschaftsgefühl aus. Die Funktionen like it und posten von Fotos erzeugt zwar ein Wir-Gefühl, das aber nicht auf Echtheit und körperlicher Wahrnehmung geprüft werden kann.

180 s. Cousto, Hans: Vom Urkult zur Kultur. Drogen und Techno. Nachtschattenverlag, Solothurn, 1995, S.55 95

2.3.3 Postmediale Ästhetik als künstlerisches Grenzszenario

Die Mechanismen und Strukturen der Erlebnisgesellschaft, die von Kurzlebigkeit und Wandel bestimmt sind, bewirken einen Ästhetik-Boom der industriellen und natürlichen Lebensformen. Die gegenwärtigen Ästhetisierungs- prozesse dokumentieren die gesellschaftlichen und kulturellen Grenzgänge.

Hinter der ästhetischen Überformung der Realität verbirgt sich in erster Linie immer der Wunsch nach Verbesserung der Lebensumstände. Freiheit und Unabhängigkeit sind oftmals der Grund für eine intensive Verbrüderung mit technischen Systemen. Welche Auswirkungen diese gesellschaftspolitische Entwicklung für die Kunst hat, kann beispielhaft durch einen Rückblick auf die neunziger Jahre erfolgen. Wie schon in den vorherigen Kapiteln angesprochen, bewirkt die Zunahme medialer Fortschritte auch Grenzüberschreitungen in der Kunstszene einer sich neu ausgerichteten Body Art. Diese Kunstrichtung entwickelt sich immer mehr zum Spezialisten für das Verhältnis von Ästhetik und Gesellschaft. Die immateriellen und materiellen Medien bilden eine Schnittstelle, die das Ende der Vorstellung von überholten Konzepten und Konventionen markiert. Es geht nach wie vor, um das Erkennen und Sehen durch Erfahrung und die Medien. Die unendliche Flut an Bildern und Informationen erfordert jedoch einen anderen Umgang mit den Medien.

Die postmediale Kunst ist gefordert, dass Massen-manipulative Sender-Empfänger- Verhältnis zu relativieren, als auch die eigene, eigenwillige Auseinandersetzung mit der Welt zu erzwingen.181 „Potenziert wird diese Erfahrung durch den Einsatz technischer Medien in die künstlerische Arbeit, die über die Möglichkeit der simultanen Wiedergabe des Bildes die Wahrnehmungen, die über den Körper als notwendig konkrete Anwesenheit erzeugt werden, intensivieren.“182 Die posthumane Body Art verbindet die Medienrealität mit den Botschaften des Eigenen. Diese Grenzästhetik verlangt die Herstellung neuer Kontexte. Der Künstler wird zum Mediator, der die Medien beherrscht „in dem Sinne, dass er die Mediatisierung als den Prozess der Bildung von Formen in Medien durchschaut und sowohl die

181 vgl. Lischka, Gerhard Johann: Jede/r ein Mediator. In: Kunstforum International. Bd. 143. Jan.- Feb. 1999, S.142

182 zit.n. Flach, S.179 96

Verbindung zwischen ihm und den Medien als Intermedium definiert, als auch die künstlerische Verschweißung von Medium mit Medium.“183

2.3.4 Ästhetische Herausforderung für eine postmoderne Body Art

Der gegenwärtige Ästhetisierungskult berücksichtigt vor allem die Hülle von Körpern und Objekten. Der Ausdruck ästhetisch wird hauptsächlich mit den Adjektiven schön und sinnlich in Verbindung gebracht. Darin äußert sich der intensive Trend zur Überformung, Überhöhung und Veredelung des Sinnlichen.

Die Pseudosensibilität der Erlebnisgesellschaft fördert den Zustand der Unempfindlichkeit und ästhetischen Überdrehtheit: Ästhetisierung schlägt in Anästhetisierung um.184 Um die ästhetische Reflexion und damit das ästhetische Bewusstsein des Individuums wieder zu schärfen, sind Momente der Besinnung erforderlich. Dazu zählen Ereignisse, die zu Neuorientierung anregen und sich vermehrt auf das Wahrnehmungspotenzial des Betrachters konzentrieren. Denn gegenüber der gesteigerten Oberflächenästhetisierung wäre eine wirklich ästhetische Kultur empfindsam für Differenzen und Ausschlüsse - nicht nur in Bezug auf Formen der Kunst, sondern ebenso im Alltag und gegenüber sozialen Lebensformen.

Tatsächlich verhindert die Strapazierung des Begriffs -Ästhetik- im Alltag die Ausschöpfung seines Potenzials. Die konventionelle Ästhetik fokussiert die Schönheit und Sinnlichkeit der zu betrachtenden Objekte, während sich die epistemologische Ästhetik auf die Wahrheit konzentriert. Grundsätzlich ist die Disziplin –Ästhetik- auf Weitblick und Differenzierungsvermögen ausgerichtet und beschränkt sich nicht nur auf eine Materialästhetik sowie formale Ansichten. Der Komplexität der ästhetischen Analyse wird man nur gerecht, wenn man ihre wissenschaftlichen und wahrheitsbezogenen Dimensionen von einer Verengung befreit. Die augenblickliche Aktualität der Ästhetik-Diskussion resultiert gerade daraus, dass die konventionelle Gleichsetzung von Ästhetik und Kunst unhaltbar

183 s. Lischka, S.143 184 vgl., Welsch, Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Reclam Verlag, Stuttgart, 1996, S.57

97 geworden ist.185 Wolfgang Welsch spricht von einem erweiterten Verständnis der Disziplin –Ästhetik-. Die Leistungsfähigkeit dieser Fachrichtung hat sich bisher zu sehr auf die Artistik beschränkt und die begrifflichen Fragen der Kunst in den Mittelpunkt gestellt. In ihrer Tradition hat die Ästhetik deshalb weniger die Empfindung, Wahrnehmung und die sinnlichen Aspekte berücksichtigt. Eine Öffnung der Disziplin und ein Umdenken bezüglich einer Ästhetik außerhalb der Ästhetik würden die analytische Kompetenz und die Nachhaltigkeit der wissenschaftlichen Aussagen positiv beeinflussen. Mit dem Wissen das Ästhetisierung heute nicht nur „ästhetische Gegenstandsprädikate“ betrifft, sondern immer mehr Einfluss auf gesellschaftliche Erkenntnisprozesse und Wirklichkeitsauffassungen nimmt, sollten auch die Forschungsansätze überdacht werden.186

Die Konsequenz ist eine Erweiterung der ästhetischen Disziplin, die in ihrer wissenschaftlichen Betrachtungsweise die Globalisierung und die Veränderung der Lebenswelt einbezieht. Die Auswirkungen der globalisierten Ästhetik auf die zeitgenössische Ästhetik liefern die aufschlussreichen Erkenntnisse, über das ästhetische Bewusstsein einer Generation.

Für eine kunstwissenschaftliche Analyse, die sich mit veränderten künstlerischen Ausdrucksformen und mit körperbezogen Kunstkonzepten befasst, ist die Ästhetik ein Instrument der Beweisführung. Die ästhetische Aktivität einer Kunstgeneration bezieht sich immer auf die globale Ästhetisierung. Sie sollte deshalb die Ansichten der traditionellen Ästhetik überschreiten und den außerkünstlerischen Zustand, nämlich das „Styling der Umwelt“, in die Komplexität der Untersuchung mit einschließen. Die Dominanz der Medienkultur und die damit verbundene Veränderung der Gestaltungs- und Wahrnehmungsmechanismen, unterstützen die Argumentation von einer Ästhetik außerhalb der Ästhetik, die im Kunstwerk verarbeitet wird. Die Fehler der globalisierten Ästhetisierung eröffnen den künstlerischen Ideen neue Perspektiven, die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu schärfen. Um die Bilderflut und Verfügbarkeit zu durchbrechen, bedarf es Momente der Fassungslosigkeit, Situationen der Beunruhigung und Augenblicke der Einmaligkeit.

185 s. Welsch, S.43

186 ebd., S.129 98

Mit dem Rückgriff auf den Körper bzw. das vorherrschende Körperbild, reagiert die Kunst in gewisser Weise auf die Sehnsucht, die Wiederholbarkeit und die „elektronische Omnipräsenz“ zu durchbrechen.187 Der menschliche Körper ist nach wie vor ein Indiz für die Einmaligkeit und steht stellvertretend für das singuläre Ereignis. „Der konkrete materielle Einsatz des Körpers als ästhetisches Objekt lässt diesen innerhalb der künstlerischen Arbeit zu einer wichtigen Sinninstanz als einer direkt mit ihm verbundenen Aussage werden.“188 Die Enttarnung der globalen Ästhetisierungsstrategie kann von der Kunst auf unterschiedlichem Weg erfolgen:

1. durch die Strategie der Verhübschung und Überformung wird die Qualität des Schönen zerstört, die Kunst kann mit Hilfe der bewussten Verkitschung diese Übertreibung thematisieren und das ästhetische Bewusstsein sensibilisieren.

2. die dauerhafte Ästhetisierung des Alltags wird in seinen globalen Auswirkungen zunehmend als Terror empfunden. Der Unempfindlichkeit gegenüber der Hyperästhetisierung kann nur durch „Anästhetisierung“ entsprochen werden.189 Die Kunst reagiert auf dieses Verlangen und setzt ganz gezielt auf das Nicht-Ästhetische, welches in der Lage ist Unterbrechungen und Störungen der Wahrnehmung hervorzurufen. Diese Paradoxien werden durch das Schockerlebnis und den Moment der Abstoßung zu einer künstlerischen Strategie, um sinnliche Freiräume für die ästhetische Reflexion zu schaffen.

Die zeitgenössische Body Art ist immer enger mit der Realität verbunden. Die Kunsterfahrung und umfassende Analyse verlangen mehr und mehr nach einer Ästhetik, welche die Verflechtungen und Durchdringungen der gesellschaftlichen, alltäglichen und politischen Dimensionen berücksichtigt. Die Kunstwerke der zeitlichen Übergänge, als auch der epochalen Überschreitungen sind prädestiniert für die Einführung neuer Wahrnehmungsweisen. Dabei sollte eine ästhetische Analyse die eigensinnige Rangfolge beachten. Das Feld der ästhetischen Wahrnehmung ist polymorph und fundiert nicht auf Abgrenzung und Verengung,

187 s. Welsch, S.154

188 s. Flach, S.271

189 vgl. Welsch, S.146 99 sondern gründet auf eine „transdisziplinäre Struktur einer Ästhetik außerhalb der Ästhetik.“190

2.4 Zeitgenössische Body Art - grenzüberschreitende Selbstkonstruktion

Die Ideen, Konzepte und Prinzipien der klassischen Ismen werden im Verlauf der medialen Einflussnahme drastisch verändert. Die nachfolgenden künstlerischen Generationen radikalisieren die Prozesse der Vorgänger-Avantgarden stets neu, dadurch kommt es zu Transformationen und ultimativen Wechselerscheinungen in dem dynamischen Betriebssystem –Kunst-. Auf diese Weise wird Lebenskunst zur Überlebenskunst in dem Sinne, dass die Kunst wie eh und je das Andere, der Bereich jenseits des Lebens ist, aber zum poetischen Akt wird, in dem sinnliche Erkenntnis und Produktion in einem bisher nicht gekannten Maße verschmelzen können.

2.4.1 Performance versus Werkhaftigkeit

Die Pluralisierung und Ästhetisierung der Lebenswelt bewirken eine Umwälzung der Gefühlswelt. Die einstigen Prinzipien der Werks gekoppelt an Originalität und auratischen Charakter unterliegen dem Wandlungsprozess einer Patchwork- und Puzzle-Ästhetik der Gegenwart. Dabei werden Lifestyle und Lebenskunst in einem Atemzug genannt und thematisieren weniger die Befindlichkeiten des einzelnen Subjekts, sondern konzentrieren ihren Einsatz auf grundsätzlich Menschliches. Dieser Vorstoß der Performativität erfolgt nicht augenblicklich, bereits in den sechziger Jahren ebneten Künstler wie Pollock, Beuys, Horn, Vostell und die Wiener Aktionisten den Weg für die heutige Integration der Neuen Medien in künstlerische aber auch „cultural performances“ oder urban performances (Love Parade, CSD, Rock am Ring, Skate-Festivals etc.). Bereits zum Ende des 20.Jahrhunderts ist die Vormachtstellung der Multimedia-Kultur deutlich spürbar. Die Beliebigkeit hält Einzug und die Kombinationsmöglichkeiten von Kunst, Musik, Tanz und Sport rücken den Eventcharakter in den Vordergrund.

190 vgl. ebd., S.177 100

Die Inszenierung muss in der Öffentlichkeit eine erhöhte Aufmerksamkeit erzielen, deshalb liegt der Fokus immer mehr auf der Ereignisüberhöhung, der Sensation, dem Spektakel.191

Die zeitgenössische Kunst unterliegt ebenfalls der medialen Vorherrschaft und ist längst Bestandteil performativen Kultur. Bereits in der Postmoderne zeichneten sich die Umbrüche hinsichtlich Beliebigkeit, Diskontinuität – kurzum einer Ästhetik des Diversen ab. In Anbetracht der fortschrittsbejahenden Medienkultur ist die Reproduzierbarkeit der Kunstwerke zu einem festen Bestandteil des funktionierenden Kunstsystems geworden. Die Assimilation an das Technische führt auch zu einer Abrichtung der Sinne.

Die Überfülle der Reizeinströmung auf die Sinnesorgane, hat den Verlust der Sinnschärfung und deren Abstumpfung zur Folge. Dieser kulturelle Stellungs- wechsel ist bereits in den sechziger Jahren eingeläutet worden, mit der Herrschaft der Apparatur vollzieht sich ein Übergang von der einstigen Werkästhetik, hin zu einer performativen ästhetischen Praxis.192 In den Vordergrund rücken nicht mehr Zeichen und Symbole, vielmehr werden Ereignisse in den Mittelpunkt des Kunstschaffens gestellt, die natürlich unter dem Einfluss der Erlebnisgesellschaft konstruiert werden. Das multimediale Spektakel beinhaltet die Kombinierbarkeit von akustischen und visuellen Momenten, daraus resultiert die neue Einmaligkeit. Die Performance ist die ideale Kunstgattung, hinsichtlich gestaltbarer Freiräume für das sinnliche Erlebnis. In dem Wagnis der Loslösung vom Original, welches an Örtlichkeiten und Traditionen gebunden ist, entwickelt das Prozeßhafte neue Chancen der Selbst-Zelebrierung, mit unvorhersehbarer Eigendynamik. Mit diesem demonstrativen Austritt erwartet man die Freisetzung neuer Kräfte und gesteigerter Intensität.

Künstlerischer Exkurs: FLATZ – Provokateur und Selbstdarsteller, Demontage IX

In der Silvesternacht 1990/91 hängt der Künstler FLATZ mit dem Kopf nach unten, an Händen und Beinen gefesselt zwischen zwei Stahlplatten. Diese Aufsehen erregende Performance fand in der Alten Synagoge in Tbilisi (Georgien/UdSSR)

191 s. Abbildungsverzeichnis, Abb. 29

192 s. Ingold, Felix Philipp: Life is art enough. In: Kunstforum International: Kunst ohne Werk, Bd.152, 2000, S.95 101 statt. Der fast nackte FLATZ wurde fünf Minuten lang zwischen den Stahlplatten hin- und her bewegt. Ein Tanzpaar wiegte sich zum Kaiserwalzer von Strauss vor dem Hängenden. „Ruhig und gleichmäßig wird da ein Mensch, wie ein Klöppel geschwungen, fünf endlose Minuten lang. Da kracht mal der Kopf gegen die Platte, dann wieder der ganze Oberkörper, mal schlägt das Gesicht zuerst auf, dann wieder hofft man es wären die Schultern (…).“193

Der Aktionskünstler hat mit qualvollen Selbstaktionen den Werkbegriff kritisiert und für sich neu definiert. „Mein Kunstwerk, das bin ich“, heißt es im Artikel in „Die Zeit“, der im Zusammenhang mit Demontage IX 1991 erschien.194 FLATZ geht es eindeutig um Aufmerksamkeitssteigerung, seine künstlerische Öffentlichkeitsarbeit geht über die bisherigen Vorstellungen des körperlich Machbaren hinaus. Um aufzufallen konstruiert der Künstler, ähnlich wie Stelarc, eine öffentlich wirksame Kulisse, ein scheinbar selbstmörderisches Event, das den Zuschauer in die Verantwortung nimmt. Er empfindet sich im wahrsten Sinne des Wortes als

193 „ Die Zeit“, Magazin, Nr.4, 20. Januar 1995, S.24f

194 Abbildung, Demontage IX, 1990/91, Flatz. In: Kunstforum International, Bd.143, 1998, S.178 102

„Lebenskünstler“, in seiner Performance verschmelzen Kunst und Lebenspraxis. FLATZ gehört zu den Künstlern, die körperliche Qualen und Voyeurismus, Lust und Leid, den schmalen Grad von Leben und Überleben in ihre Performance integrieren. Kunstproduktion wird für diese BODY-Artisten ein wichtiger Teil der Lebenspraxis. Dieses Modell einer „reflexiven Kunst“ charakterisiert eine neue Generation der Body Art, die sich im Übergang ins 21.Jahrhundert formiert.195 Seine künstlerische Arbeit funktioniert nur durch die Einbindung des Rezipienten in sein inszeniertes Kunst-Lebens-Ereignis. FLATZ inszeniert seine Aktionen/Performances als eine Form des Aufbäumens gegen die Kulturindustrie. In der Dramatik und Fassungslosigkeit seines Publikums spiegelt sich die bereits angesprochene „Ästhetik des Schocks“ wider. Der Künstler nutzt in der „reflexiven Kunst“ zwar die verfügbaren, kulturindustriell hergestellten Ressourcen, kämpft aber fast selbst zerstörerisch für eine autonome Anerkennung seiner Kunst. In einem Interview mit „Die Zeit“ berichtet FLATZ mit Stolz im Unterton: „Das Stück haben inzwischen eine ganze Menge Mediziner gesehen, und für die meisten ist es unerklärlich, wie jemand so etwas überleben kann, (...)“196 Mit dieser Äußerung überhöht FLATZ seine Performance in eine Art Heiligenstatus. Die lebensbedrohende Situation wird unter dem künstlerischen Aspekt wieder mit dem auratischen, dem wundersamen Charakter gleichgestellt.

In der Kunst bedeutet also die Ereignis-Zuwendung ein Bekenntnis zum Konstrukt; zur Künstlichkeit der Kunst. Die erzeugte spontane Realität steht im Gegensatz zum traditionellen Werkcharakter. Die Eigentümlichkeit des klassischen Werks fungiert als Denkmal. Durch seine Originalität bzw. unverwechselbare Identität schreibt sich das Werk in das kulturelle Gedächtnis. „Demgegenüber schließen Ereignisse ihre eigene Negation mit ein: Sie löschen sich mit dem Moment ihrer Präsentation selbst aus und setzen so der Norm der Kontinuität eine Anomie des Diskontinuierlichen entgegen.“197 Ein Merkmal, welches sich auch in der Instabilität und Unbestimmtheit der kulturellen Entwicklung widerspiegelt. Die künstlerische Strategie, die gegen eine „Entauratisierung“ wirkt, benutzt die performative Kunst gerade wegen ihrer Fähigkeit der Überschreitung.

195 vgl. Resch, Christine: Fast wie im richtigen Leben. In: Kunstforum International, Bd.143, 1998, S. 178

196 zit. n. Resch, siehe S.176

197 s. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. In: Kunstforum International, Bd.152, 2000, S.102 103

Das Ereignis erzeugt seinen auratischen Charakter in der einmaligen, unwiederholbaren Präsenz. Eine wesentliche Kritik an performativer Kunststrategie ist das Detail ihrer Konstruiertheit, ihrer systematischen Organisation und der Offenheit. Durch die Konstruktion des künstlerischen Ereignisses verschwindet der Wesenszug des Geheimen. Die Öffentlichkeit des Entstehens bewirkt eine vollständige Analyse des Ereignisses und damit wird der Weg für die Wiederholbarkeit geebnet.

Das Ereignis setzt mehr auf die Kommunikation: Ein wechselseitiges Geschehen zwischen Künstler, Kunst und dem Publikum. Mit diesem Anspruch der Offenheit bewahrt sich der Künstler auch den Ausdruck seiner Zwiespältigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen. Somit ist die künstlerische Arbeit nicht nur als eine dynamisch performative Situation zu verstehen, „in der die gesellschaftlichen Implikationen des Körpers kritisch analysiert werden, [...] diese Form der reflektierenden Ästhetik erlaubt sowohl dem Künstler und während der Rezeption dem Besucher, [...] die mitunter repressiven Maßnahmen einer künstlerischen Arbeit kritisch zu hinterfragen.“198

Gerade die Kunst der Body Art nutzt die körperliche Präsenz um die künstlerische Offenheit zu zelebrieren. In der Übertreibung und ihrer wirksamen Fassungslosigkeit zeigt sich die Radikalität der künstlerisch-ästhetischen Performance. Sie steht für eine integrierte Grenzüberschreitung, da gerade die Befremdung des Ereignisses zu einer Unterbrechung der Kommunikation führt. Infolge dieser Unterbrechung verliert der Betrachter für einen Moment die Orientierung und empfindet die Unsicherheit, welche zur gefühlten Einmaligkeit des Erlebnisses beitragen soll. Die Kunst produziert keine allgemeingültigen Bilder, sie erzeugt eine eigene Wirklichkeit, die immer in Beziehung zur materiellen Realität steht, aber keine direkte Absonderung derselben ist. Die geheime künstlerische Mission besteht im temporären Aufscheinen des menschlichen Elements, in einer punktuellen Verschiebung der Maßstäbe.

198 s. Flach, S.271 104

2.4.2 Projekt versus Subjekt

Bereits in der Postmoderne und vor allem in der transkulturellen Gesellschaft der Gegenwart ist ein verändertes Subjektsein zu beobachten. Wie schon angesprochen, hat sich die Konzentration von der Einmaligkeit auf die Verschiedenheit und der damit verbundenen Flexibilität verlagert. Die Patchwork- Identität orientiert sich nicht mehr am Bewahren von einmal erlernten Tugenden oder Idealen, vielmehr werden die Energien verstärkt auf die Bewältigung der Verschiedenheiten gerichtet. Die gesellschaftliche Entwicklung und der kulturelle Austausch fordern Flexibilität und eine erhöhte Assimilationsleistung vom Individuum. Die weltweite Vernetzung begünstigt die Grenzüberschreitung und die gegenseitige Einflussnahme der verschiedenen Kulturen. Der Eindruck einer multikulturellen Gesellschaft zeigt sich vorwiegend in der Oberflächenästhetisierung. Vor allem in Bezug auf Selbstinszenierung werden die Styling Trends fremder Länder gern übernommen, dagegen wird von einer Auseinandersetzung mit fremdländischen Lebensformen und Kulturgeschichte abgesehen.

Auch in der Kunst kann sich der Künstler nicht mehr auf festgelegte Strukturen und Werte beziehen, ebenso wie die nachmoderne Gesellschaft unterliegt das Handeln nicht länger den statischen, dauerhaften Systemen. Die künstlerische Aktivität greift diese Wandlung zum Prozesshaften auf. Judith Butler bezeichnet diese Hinwendung zu den kurzlebigen und variablen Systemen als „Strategie der Performativität.“199 Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die großartige Einzelleistung des Künstlersubjekts, sondern das künstlerische Projekt und die Offenheit der künstlerischen Gruppierungen. Die neuen Technologien heben die künstlerische Produktion hervor. Die technische Durchdringung der Kunstgattungen bewirkt einen Pragmatismus und die Bildung neuer Gruppierungen. Die Grenzüberschreitung äußert sich in spontaner Kollektivität und Interdisziplinarität bezüglich der Gestaltungsformen. Die selbst bestimmte Aktivität resultiert aus der „Selbstorganisation“. Der Künstler orientiert sich an den konkreten Lebensvorstellungen, die sich aus den jeweiligen Lebensumständen ergeben und thematisiert sie in performativen Praktiken.200

199 zit. n. Strunk, Marion: Vom Subjekt zum Projekt. In: Kunstforum International, Bd.152, 2000, S.122

200 s. Strunk, S.126 105

In der versierten Selbstorganisation äußern sich eine gewisse Akzeptanz der veränderten Lebensumstände und die pragmatische Neigung ihrer Nutzbarmachung. Gegenwärtig profitiert die künstlerische Arbeit von der medialen Vielfalt und der so genannten Netzkultur. Aus einem Pool von Ideen entstehen Koproduktionen, die den Gedanken vom multiplen Subjekt transportieren: Die neuen Formen der Zusammenarbeit heben nicht das Subjekt hervor, sondern richten alle Aufmerksamkeit auf das Projekt.

Künstlerischer Exkurs: Teresa Margolles:

„Ich will das Publikum mit der Realität konfrontieren.“201

Seit den 1990er beschäftigt sich Teresa Margolles mit dem Thema –Körper-. Im Verlauf ihrer künstlerischen Entwicklung befassen sich ihre Arbeiten thematisch mit der Allgegenwart des Todes. Ihre minimalistischen Konzepte stellen den Verlust des Körpers und das körperliche Leiden in den Mittelpunkt, ohne den Körper darzustellen. Ihre konzeptuellen Projekte sind angelehnt an die gesellschaftspolitischen Ereignisse und den sozialen Wandel ihres Heimatlandes Mexiko. Im Interview mit Amine Haase beschreibt sie ihren künstlerischen Schwerpunkt folgendermaßen: „Die Arbeit besteht im Untersuchen des Körpers, dem Leben und in der Aneignung von leblosen menschlichen Elementen (...) Dabei beschäftigt mich die physische und soziale Verwandlung des Körpers.“202

Das künstlerische Projekt von Teresa Margolles heißt soziale Analyse, immer im Hinblick auf die menschlichen Spuren, Überreste und „die soziale Dimension des Todes.“ Die Konfrontation mit dem Tod auf eine unspektakuläre, ja sogar eher zurückhaltende Weise ist ihr eigentümlicher Stil. Wer sich nicht mit dem Schwerpunkt ihrer Kunst auseinandersetzt, wird die Betonbank („Banco“, 2004) nur als Sitzmöglichkeit wahrnehmen, ohne das Hintergrundwissen zu ihren Projekten würde sich das Subjekt, das Menschliche, das Körperhafte nicht zu erkennen geben. Ihre „Banco“ (2004) ist mehr als eine minimalistische Sitzgelegenheit; „der Zement wurde mit dem Waschwasser obduzierter Leichen angerührt.“203

201 Haase, Amine: Der Realität ins Auge schauen. Interview mit Teresa Margolles im Rahmen der ersten Quadriennale in Düsseldorf 2006. In: Kunstforum International, Bd. 182, Okt.-Nov.2006, S. 279

202 ebd., S.278

203 siehe, Kunstforum, Bd.182, S. 275 106

Teresa Margolles konfrontiert ihr Publikum mit einem Tabuthema. Sie transformiert ihre soziale Analyse in eine konzeptuelle Repräsentation des Todes. Dabei geht es der gebürtigen Mexikanerin nicht um schockierende Wirkung, sondern vielmehr um die Wahrnehmung des gesellschaftspolitischen Wandels in verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt. Mit ihren tabubrechenden Installationen wie „On the Wall“ (Berlin, 2002) oder „The clothes of death“ (Kunsthalle Wien, 2003) setzt sie neue Maßstäbe hinsichtlich körperlich-sinnlicher Wahrnehmung. Ihre metaphorischen Körperansichten dokumentieren die neuen ästhetischen Ausprägungen zwischen Subjekt und Objekt. Es sind die Erosionen und Implosionen der klassischen Körperwahrnehmung, die Margolles in ihrer Grenzästhetik des Leiblichen verdeutlicht. Sie selbst ihre Körperkunst als „Ex-Body-Post-Art“ mit Provokationspotenzial.

Teresa Margolles: „The clothes of death“(Kunsthalle Wien, 2003)

107

2.4.3 Künstliche Szenarien versus leibliche Ansichten

Die Faszination des medialen Fortschritts macht auch vor der Kunst nicht halt. Der Kunstszene eröffnen sich neue Möglichkeiten, wobei auf eine “schöne“ Kunst verzichtet werden kann. Dann nämlich würde die Kunst hinter ihren Möglichkeiten bleiben und lediglich zur Hyperästhetisierung des Alltags beitragen. Die künstlichen Paradiese besitzen für den Künstler ebenso eine Versuchung, wie für das erlebnisorientierte Subjekt. Trotzdem sollte die Kunst eine gewisse Distanz aufrechterhalten und die künstlichen Szenarien lediglich annektieren, jedoch nicht mit ihnen verschmelzen. Die Kunstprojekte der Nachmoderne sollten weiterhin eine Instanz der Fremdheit bleiben, da eine Einflussnahme auf das ästhetische Bewusstsein der Gesellschaft nur durch eine gewisse Sperrigkeit, Grenzüberschreitung und Störungsmomente gelingen kann. Sich den künstlichen Szenarien zu unterwerfen, hätte eine Verkümmerung der Interventionskräfte und ein Verlust des visionären Charakters zur Folge. Die Kunst wird modern oder bleibt Avantgarde, indem sie eine Selbstwerdung vollzieht. Kunst wird „selbstreferentiell und autonom, indem sie nach Luhmann zu einem sich selbst bestimmenden, sich selbst hervorbringenden sowie an inneren Kohärenzen und Widersprüchen orientierten System wird.“ Die Kunst wird zu einem Paralleluniversum innerhalb des Gesellschaftlichen und erst ihre Abgegrenztheit ermöglicht die Selbsterfahrung als Immanenzerfahrung.204

204 Feuerstein zit. Luhmann. In: Me, Myself & I: Das Selbst als Server. S.82 108

3 Der Körper zwischen Kommunikation und Konsum

Eine der vertrautesten Vorstellungen vom menschlichen Körper richtet sich auf dessen Bedürfnisse. Die Körperbedürfnisse gestalten die essentiellen Lebens- phasen und bestimmen maßgeblich die individuellen Ziele. Dabei gilt es vor dem Aspekt der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung eine Differenzierung zwischen den Grundbedürfnissen und den „exzessiven oder unnatürlichen“ Bedürfnissen vorzunehmen.205 Das Streben nach Befriedigung dieser Bedürfnisse hat sich aufgrund der Elektronisierung von den primären Begierden entfernt. Damit ist neben Essen und Trinken ein bestimmtes Niveau an Gesundheit und Sicherheit gemeint, welches mit der ansteigenden Vielfalt von Lebensweisen an Authentizität und Beachtung verliert.

Die Differenzierung zwischen primären und sekundären Bedürfnissen kann nicht vor dem Hintergrund einer Gut-und Böse -Theorie erfolgen. Letztendlich tragen die individuellen Bewertungen der Bedürfniserfüllung zu einer Neuorganisation der Gesellschaftsstruktur bei und müssen deshalb immer vor dem Hintergrund des Vor- und Nachteils für die zukünftige Gesellschaftsform betrachtet werden.

Generell versteht man unter einem Bedürfnis, das subjektive Gefühl eines Mangels. Mit der körperlichen und geistigen Wahrnehmung dieses Mangels äußert sich das Streben nach dessen Beseitigung. Nach Günter Ropohl unterscheidet man zwischen Individualbedürfnissen und Kollektivbedürfnissen. Im Fall der Individual- oder Einzelbedürfnisse liegen Bedürfnisentstehung und Bedürfnisbefriedigung bei dem einzelnen Menschen. Die Kollektivbedürfnisse dagegen sind Bedürfnisse der Individuen, die nur kollektiv befriedigt werden können.206 Innerhalb des Sozialisationsprozesses lernt das Individuum seine Bedürfnisse zu befriedigen. Gleichzeitig werden beim Individuum stets neue Begierden geweckt, die durch stetige Anpassungsleistung wiederum veränderte Handlungsabläufe hervorrufen. Die Entdeckung erneuter Befriedigungsmöglichkeiten kann also die Prioritätensetzung der Bedürfnisse verändern und demzufolge die Entwicklung des Individuums in eine bestimmte geistige und materielle Entwicklung lenken.

205 vgl. O`Neill, John: Die fünf Körper. Medikalisierte Gesellschaft und Vergesellschaftung des Leibes. Wilhelm Fink Verlag, München 1990, S.89

206 vgl. Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphilosophie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1991, S.78 109

Die veränderte Bedürfnisbefriedigung eignet sich deshalb zur Beweisführung, für wahrnehmbare Erneuerungen, bedingt durch soziokulturelle Umbrüchen innerhalb moderner Gesellschaften.

In erster Linie konsumiert der Körper. Dabei sind Nahrungsmittel und Informationen eine notwendiger Beitrag um die Existenz zu sichern. Damit der Körper seine Handlungsfähigkeit innerhalb der sich stets wandelnden Gesellschaft bewahren kann, orientiert er sich an anderen Körpern/Subjekten. Das Individuum, der stets bedürftige Mensch, sucht in der Gesellschaft nach sich selbst – im Spiegel der sozialen Gesellschaft überprüft er ständig seine Handlungen. Das Sozialverhalten der Gesellschaft befriedigt das ureigene Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität, die das Individuum wiederum zu weiteren Aktionen ermutigen. Grundsätzlich ist der Körper durchlässig für jedes Sozialverhalten; unsere Körper sind wahrhaftig das „Fleisch der Gesellschaft.“207

Das eigene Körperbild entwickelt sich durch die Aneignung von Kompetenzen, die bereits im Säuglingsalter durch einen intensiven Austausch an Gesten, Mimik und Verhalten über das Spiegelbild der Mutter erlangt werden. Die Interaktion mit der Mutter beschreibt Charles Horten Cooley als entscheidende Spiegelungsphase, welches das „Spiegelbild-Selbst“ und das spätere Körperbild oder „body image“ absichern und die eigene Körpererfahrung stabilisieren.208 Dieses Gespür für weitere Handlungen wird durch den sozialen Kontakt mit anderen Personen und gesellschaftlichen Institutionen zu einer sozialen Erscheinung, die O´Neill als „menschliche Verleiblichung zwischen dem Selbst und der Gesellschaft“ bezeichnet. Identität hat unterschiedliche Konjunkturen. Die Suche nach der „wahren Identität“ war zeitweise ein starker Antrieb, besonders für künstlerische Experimente und Neuanfänge. Heute indes, unter dem Diktat der flexiblen Selbstverwirklichung scheint Identität eine eher konservative Attraktion zu sein. Identität bedeutet heute eher ein Gegenprogramm zur identifikatorischen Globalisierungsdynamik.

Die Informationen, die sich das Individuum im Laufe seines Erwachsenwerdens aneignet, basieren auf einer „unaufhörlichen Augenarbeit“, mit der die sozialen

207 O`Neill, S.19

208 vgl. O`Neill, zit. aus seinem Aufsatz: Embodiment and Child Development: A Phenomenological Approach. In: Recent Sociology No. 5: Childhood and Socialization, (Macmillan) New York 1973, S.65-81, hier auf S. 20 110

Bräuche, alltäglichen Rituale und das Wertesystem überprüft und gespeichert werden. Auf diese Weise können die Ressourcen dieser täglichen Konfrontationen mit der sozialen Realität in den jeweiligen sozialen Situationen abgerufen werden. Dadurch entstehen die verschiedensten Körper-Techniken, die auch durch körperliches Werben (Bsp. Waschen, Schminken, Parfümieren, Kleidung) beeinflusst werden und das menschliche Auftreten in spezifischen Lebenssituationen sogar umformen. Die Vielfalt dieser angeeigneten Körper- Techniken wirken sich natürlich auf die Konstitution des sozialen Selbst aus. Die Vielzahl der ständig verfügbaren Kompetenzen, deren Verarbeitung zu einer Inkarnation der Gesellschaft führen, sind nach O’Neill die verleiblichte Realität des alltäglichen Lebens.209 Die Meisterung des Alltags und die Orientierung in der persönlichen Lebensweise fußen auf der Analyse von Verhalten und der Interaktion mit der Umwelt. Die Aufnahme in die physische und geistige Konstitution gewährleistet das alltägliche Wunder der sozialen Ordnung, mit all ihren Freuden und Leiden, ihren Belohnungen und Bestrafungen.210

Durch die mediale Angebotsexplosion der Digitalisierung ändern sich die persönlichen Bedürfnisse des Menschen stetig. Die Wechselbeziehungen zwischen Individuum und sozialer Umwelt werden durch die angestrebte Bedürfnisbefriedigung weiterhin stark beeinflusst. Die Reizüberflutung der mittlerweile entstandenen Stresskultur spricht die verschiedensten Körperebenen des sozialisierten Individuums an. Gravierende Veränderungen der „verleiblichten Rationalitäten“ können anhand der stärker ausgeprägten Körper-Techniken des Individuums analysiert werden.211

Die gesellschaftlichen Umwälzungen sowie die Prioritätenverschiebung führen das Individuum an seine physischen und psychischen Grenzen. Die Elektronisierung und ihre weit reichenden Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche beinhalten nicht nur eine Macht über die Natur, sondern implizieren zugleich eine mächtige Gestaltungskraft gegenüber der Zivilisation. Die bisherige Körper-Historie und ihre enge Bindung an die familiären Strukturen werden sich durch die Digitalisierung weiter differenzieren und fragmentieren, im Vordergrund der medial

209 s. O`Neill, S.20ff

210 ebd., S.21

211 ebd., S.77 111 geprägten Gesellschaft steht das konsumierende Individuum. Es gilt das Verlangen nach einer Identität mit sich selbst und nicht die Identifikation mit der außerkünstlerischen Wirklichkeit sichtbar zu machen. Damit gewinnt der Körper – the Body- in der Kunst der 1990er wieder mehr an Beachtung. Denn „der Körper als künstlerisches Objekt erlaubt eine Recherche, die ihn aus den individuellen Befindlichkeiten einer bestimmten Person entbindet und zu einer überindividuellen Untersuchung führt.“212

3.1 Moderne Manipulation – der User zwischen Alltags- und Computerontologie

Die Hypergeschwindigkeit des Datentransfers ist für das menschliche Auge nicht zu erfassen. Die Datenmenge bildet jedoch die Substanz der Netzkultur und ist mittlerweile Teil der Alltagsrealität. Vergleicht man die Alltagsontologie mit der Computerontologie, so sind die Erscheinungen des Computers, d.h. die Bildschirmgebilde eine zusammengesetzte Datenmenge, die per Mouseclick verschwindet und ebenso wieder auf der PC-Oberfläche realisiert werden kann. Mit einem Tastendruck ist der Benutzer in der Lage über Sein und Nichtsein einer Erscheinung zu entscheiden, die in Bruchteilen von Sekunden vor dem menschlichen Auge wiederhergestellt werden kann. Diese „Welt der Instantaneität“ charakterisiert Welsch mit dem Ausspruch: „[...] was soeben vernichtet wurde, ist sofort und alterslos wieder da.“213 Deutlich wird das die Computerontologie auf die Oberfläche, d.h. auf die Benutzeroberfläche konzentriert ist, während sich die Alltagsrealität und ihre Gegenstände durch eine bleibende Form der Erscheinung auszeichnen.

Die Glaubwürdigkeit der PC-Ontologie ist durch ihre Effekte so überzeugend, dass sie inzwischen in die Alltagsontologie eingebettet ist. Die Räume, die durch die Virtualität für den User bereitgehalten werden, besitzen eine faszinierende Versuchung. Die virtuellen Welten erwecken, für die sich als „unvollkommene Wesen empfindenden“, den Anschein die Gewohnheit hinter sich zulassen und

212 s. Flach, S.271

213 Welsch, Wolfgang, Künstliche Welten? Blicke auf elektronische Welten, Normalwelten und künstlerische Welten. In: Synthetische Welten: Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. Hrsg. v. Eckard Hammel, Verlag Die Blaue Eule. Essen, 1996, S.167 112 erzeugen stets neue Schauplatzwechsel.214 Die Medienrealität produziert neue Leitbilder und diese prägen natürlich auch die Identitätsstiftung und haben ehebliche Auswirkung auf die Persönlichkeitsbildung. Dadurch werden die medientypischen Vorbilder wieder zu Realerscheinungen in der Alltagswelt. Die Omnipräsenz der elektronischen Kommunikationswelt trägt dazu bei, dass die Wirklichkeit immer mehr als Konstruktion verstanden wird. Indem der Zutritt in eine virtuelle Welt ebenso möglich ist, wie in die reale Welt zurückzukehren, erwächst die konkrete Erfahrung, dass das Virtuelle auch real sein kann und somit die Vermutung, das vielleicht alles Reale in anderer Hinsicht auch virtuell sein kann, die Grenzen werden durch gebilligte Unwissenheit immer unsicherer und durchlässiger.215

Immaterielle und materielle Medien bilden die Schnittstelle, an der wir Menschen, die Grenzen unserer Fähigkeiten und Erlebnismöglichkeiten erfahren. Sie sind der Körper, der Geist und die Gefühle. Eine exakte Grenzziehung zwischen materiellen und immateriellen Medien gelingt nicht mehr. Seit es die Neuen Medien und die sozialen Netzwerke gibt, kommen sie dem Menschen näher. So mutiert der Mensch vom Jäger zum Gejagten. Um sich in den Gefilden der Techno-Imagination noch zurechtzufinden, muss sich der Mensch ins Monitorstadium begeben, in einen Mediator verwandeln, um auf der Höhe der Zeit zu sein und überleben zu können.216

3.1.1 Körper-Tuning – simulierte Gemeinschaft und beschleunigte Illusion

Der Medienkritiker Baudrillard hat diesen Zustand der postmodernen Welt mit der Überdeckung eines Landes (der Realität) mit der Landkarte (der Hyperrealität, der Simulation) verglichen und daraus die „Ununterscheidbarkeit zwischen Simulation und Realität“ abgeleitet.217 Er sieht in dem übermächtigen Potenzial der digitalen Datenbanken den Ausgangspunkt für eine neue Entwicklungsstufe der Medialität. Der digitale Code der Neuen Medien ist physisch geprägt und unwandelbar festgelegt. Während die analogen Medien, beispielsweise

214 Kamper, Dietmar: Das Nadelöhr, In: Rötzer, Florian/Weibel, Peter: Strategien des Scheins, Kunst Computer Medien, Klaus Boer Verlag 1991, S.19

215 vgl. Welsch, S.175

216 vgl. Lischka, Gerhard Johann: Jede/r ein Mediator. In: Kunstforum International. Bd.143, S.144

217 zit. n. Weibel, Peter: Virtuelle Realität: Der Endo-Zugang zur Elektronik. In: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. Hrsg.: Rötzer, Florian/Weibel, Peter. Klaus Boer Verlag. München,1993, S.34 113

Tonbandaufnahmen noch Spuren von Lebendigkeit aufweisen, findet sich bei der identischen Kopie, der CD-ROM oder dem Speicherstick keine Abnutzungserscheinung. Die neue Qualität der Medien vermeidet die Spuren des natürlichen Verfalls und hinterlässt durch die perfektionierte Reproduzierbarkeitstechnik keinen Hinweis auf das Original. Entscheidend ist das die technischen Medien eine künstliche Modellwelt darstellen, welche die reale Welt immer mehr überziehen. Unbestritten ist, dass die Medienvielfalt wichtig für die Kommunikationsstrategien der Menschen ist. Die Technisierung der Kultur wirft ihre Schatten voraus, denn nicht nur die digitale Musikbewegung fordert die menschliche Aufmerksamkeit, sondern auch andere künstlerische und alltägliche Technikszenarien beanspruchen die sinnliche Wahrnehmungskraft des Menschen. Die Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Medien verdeutlicht die Zunahme der Reizüberflutung, denen sich der Mensch selbst aussetzt und die daraus resultierenden sozialen Kontakte und Austauschmöglichkeiten. Während aktive Medien, wie Bücher und Gemälde, bewusst ausgewählt werden und eine innere Bereitschaft für ihr Verständnis voraussetzen, empfindet der Mensch gegenüber passiven Medien ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Anzahl der Eindrücke, die durch die zunehmende Mediatisierung auf die natürliche Umgebung des Menschen einwirken, erschweren die bewusste Entziehung. Um sich der Ausbreitung und dem Einfluss dieser Neuen Medien zu entziehen, muss das Individuum immer mehr Energie aufbringen.218

Die Informationsverarbeitung wirkt sich auf die bisherigen Kommunikationsformen der Gesellschaft aus. Die Technisierung entpuppt sich als Lebensgefühl und so benennt sich auch in den 1990ern die ekstatische Musikbewegung des Techno nach dem postmodernen Gestaltungsinstrument. Bei genauer Betrachtung zeigen sich innerhalb der post-postmodernen Generation zwei gegensätzliche Tendenzen. Neben der Globalisierung ist eine stetige Ausdifferenzierung bzw. Segmentierung spürbar. Durch die weltweite Vernetzung entsteht ein virtueller, neuer sozialer Raum an dem alle partizipieren können, egal welchen Standort sie auf der Welt besitzen. Die nach wie vor räumlich definierte Gesellschaft wird durch die elektronischen Medien immer heterogener und pluralistischer. Die sozialen Netzwerke, allen voran face book, twitter und instagram erleichtern die Verständigung und die

218 vgl. Buermann, Uwe: Techno, Internet, Cyberspace. Jugend und Medien heute. Zum Verhältnis von Mensch und Maschine. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 1998, S.15f 114

Aufrechterhaltung von Beziehungen. Die Zunahme der Möglichkeiten, sich unabhängig von Ort und Zeit mit anderen Personen zu kommunizieren, führen zu einer Auflösung verbindlicher Normen und zum Verlust einheitsstiftender Verhaltensweisen.219 Immerhin steht das Internet für die Freiheit des Einzelnen, für eine uneingeschränkte Verfügbarkeit von Information und somit für Demokratisierung. Das unüberschaubare Netzwerk birgt aber auch eine Fatalität: Neben der Horizonterweiterung führt die Benutzung auch zu einer Spezialisierung. Da die totale Vernetzung die sozialen Prozesse unterwandert, benötigt der Benutzer die Informationen um sich zu orientieren, da eine Bestätigung durch die direkte Kommunikation mit anderen Menschen ausbleibt. Die Information im Netz ist verstärkt zum Selbstzweck geworden. Ebenso wie bei den musikalischen Zusammenkünften der Massen auf einem Techno-Event, fehlt die Kommunikation zwischen den Menschen. Das Internet konstruiert eine Scheinwelt, die letztlich den individuellen Spaß des Einzelnen in den Vordergrund stellt und das Kollektiverlebnis simuliert. Im Mittelpunkt steht, das „sich selbst erleben“ und in dieser Fixierung auf die eigene Person liegt die manipulative Kraft des digitalen Phänomens.220 Das scheinbare Zusammenführen von Menschen führt in seinen mentalen Auswirkungen zu einer Unfreiheit. Ob Internet oder Massen-Event, die bisherigen Sozialisations- und Kommunikationsabläufe werden durch die Technisierung unterlaufen und führen zu einer engen Verbindung von Mensch und Maschine in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Computer, Smart-Phone oder IPad werden zum besten Freund, sozusagen vermenschlicht, und der Mensch wird maschinalisiert. Eine Herausforderung für den Menschen im Umgang mit den informationsverarbeitenden Systemen, ist die kritische Haltung gegenüber Neuerungen und deren Einflussnahme. Der Entfremdung durch die Informationstechnologie kann man nur durch eine offene Haltung begegnen, sie ist ein Gegengewicht, welches vor allem durch künstlerische Akzente zusätzliche Aufmerksamkeit erfährt.

Die künstlerische Auseinandersetzung hilft die gesellschaftliche Situation zu begreifen, da Gesellschaft gegenwärtig nur noch begriffen werden kann, indem die konstitutive Rolle der Technik anerkannt wird.221 Die elektronische Welt mit ihren

219 vgl. Anz, Philipp/Walder, Patrick (Hrsg.): techno. 1.Auflage, Verlag Ricco Bilger, Zürich, 1995, S.186

220 s. Buermann, S.42

221 vgl. Ropohl, S.192 115

Modellwelten und Computersimulationen, mit ihren Interfaces und virtuellen Realitäten unterstreicht ihr offensichtliches Schnittstellen-Problem der Welt. Da die Frage nach der Natur der Realität, nach dem Original, nach der Identität der Menschen, Gesellschaften und Dinge mit der Frage nach der Kunst gekoppelt ist, kann eine neue Realitätsauffassung auch neue Kunstformen unterstützen bzw. legitimieren. Die Kunst kann diese Entwicklung entweder beschleunigen oder bedauern, sie hemmen und ästhetisch verklären, sie ins Bewusstsein bringen oder ignorieren.

Das Maschinen-Körper-Ideal ist auch im dritten Jahrtausend präsenter und radikaler denn je. Die Vernetzung der Gegenwart treibt den Vorgang des „Hinter-sich- lassens“, vor allem im Hinblick auf den Alltag voran.222

Mit Hilfe der wissenschaftlichen Forschung und der elektronischen Schnittstellen- Hardware gelingt der Übertrag der mentalen Informationsstrukturen schneller und komplexer. Die Träume müssen nun nicht mehr von Innen kommen, sondern können von außen konstruiert werden. Die Erzeugung von Illusionen passiert außerhalb des Körpers und trotzdem ist der Körper sowohl passiver als auch aktiver Teil dieser fremdproduzierten Erscheinung. Die Beschleunigung des Körpers in der virtuellen Realität besteht in der „Immersion“, sozusagen in der Einbindung des Benutzers in das Geschehen.223 Das angestrebte Ziel der Forschung ist die Komplettierung dieser Einbindung, die mit der vollwertigen künstlichen Wirklichkeit des Cyberspace bereits über den Laborstatus hinausgegangen ist. Die verschiedenen Komponenten des Cyberspace bergen eine Fatalität der technischen Informationsübertragung, die sich über den subjektiven Sinn hinwegsetzt und allein auf die Vermittlung von Information bauen. Der ungehinderte Datenfluss wird durch die perfektionierte Verkopplung der Hardware erreicht, dazu gehört auch die Miteinbeziehung des menschlichen Körpers. Die Sinne des Benutzers werden künstlich stimuliert, folglich von außen kreiert und deshalb als Scheinwelt angenommen. Die Faszination für die Bemächtigung des Körpers zeigt sich in der Interaktivität der beteiligten Medien. So können die vorprogrammierten Daten vom Benutzer abgerufen werden und zugleich kann er aktiv die Programme gestalten

222 Rötzer, Florian: Über Ausbrüche und Einschlüsse. Bemerkungen zu Illusion und Wirklichkeit. In: Illusion und Simulation – Begegnung mit der Realität,. Hrsg. v. Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, Elisabeth Schweeger, Cantz Verlag, Ostfildern 1995, S.12

223 s. Buermann, S.114 116 und seine Illusion beeinflussen. Durch den Datenanzug wird der Körper zum „Bio- Adapter“. Der Benutzer ist nun im Bild, nicht mehr außerhalb und innerhalb des Bildes zugleich. Ihm wird mit Hilfe des Datenanzugs und der VR-Technologie eine Welt vorgespiegelt, die nach den Wünschen des Subjekts ständig in >Echtzeit< manipuliert wird.224

Der Benutzer/User ist behandelter und handlungsfähiger Informationsträger dieser künstlichen Welt, durch das bereitwillige Körper-Tuning ist er in der Lage seine realitätsstiftende Umgebung zu verlassen und eine an der Echtheit orientierte zweite Natur zu betreten. Ein Ziel der künstlichen Stimulation, die sich bisher hauptsächlich auf den Tastsinn konzentriert hat, ist die Erregung aller Sinne. Der Entwurf eines reizübermittelnden Datenanzugs wird durch die Implantation eines Chips in den menschlichen Körper noch übertroffen. Die postmoderne Sucht nach Mehrfachidentitäten beschleunigt diese Utopie von einer handlungsbefähigenden Technik im Körper.

Mit der Errechenbarkeit der Ereignisse des menschlichen Nervensystems auf der Grundlage von (multisensoriellen) Daten wurde die Feedback-Forschung der Kybernetik zum zentralen Thema der VR-Technologie. Mit der Idee diese Daten vom fleischlichen Körper in den Computer zu transformieren, erreichen die Körperobsessionen des 21.Jahrhunderts ihren vorläufigen Höhepunkt. Das Ziel ist die Perfektion: Die Idee von der Wirklichkeit als Natur, in die Idee der Wirklichkeit als eine künstliche Konstruktion und schließlich als berechenbare Simulation.225

3.1.2 Fixierungen auf Künstlichkeiten

Die künstlichen Paradiese sind allgegenwärtig und der Benutzer verzichtet in der Unübersichtlichkeit des stetig steigenden Angebots auf die notwendige Transparenz. Wie bereits angesprochen, sind die künstlichen Paradiese gewissermaßen ein Opiat der postmodernen Lebensphilosophie, die mit dem Eintritt in das dritte Jahrtausend eine weitere Hürde der Entwicklung und Verbreitung erreicht haben.

224 vgl. Weibel, Peter: Virtuelle Realität: Der Endo-Zugang zur Elektronik. In: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. Hrsg.: Rötzer, Florian/Weibel, Peter. Klaus Boer Verlag. München,1993, S.18

225 vgl. Weibel. In: Virtuelle Realität., S.20 117

Die künstlichen Welten waren und sind die Kontraste zu der natürlichen Welt, die nach Kant der Inbegriff aller Erscheinungen ist. Die natürliche Welt ist entweder die Welt der erlebten Natur oder die alltägliche Welt. Die künstlichen Szenarien der elektronischen Informationssysteme bilden mittlerweile den Ersatz für Ausnahmezustände von Geist und Sinn; Rauschzustände, die bisher eigentlich synthetischen Drogen vorbehalten waren. Eigentlich sollte der Erkenntnisgewinn des Menschen durch die Neuen Medien und ihren Einfluss in Wissenschaft und Technik, infolge stärkerer Transparenz, gesteigert werden. Ebenso wie die Kunst sind die Technologien der Simulation in der Lage ein spezifisches Ereignis zu beschwören. Den Zustand der Fixierung innerhalb der alltäglichen Welt durch einen Zustand der Instabilität zu unterbrechen und eine Offenheit gegenüber Einflüssen von außen und innen für die Selbstorganisation zu nutzen. „Die Wirklichkeit des Scheins“, sozusagen der Simulation, ist inzwischen „ins Leben selbst eingebrochen und der Mensch scheint im Simulakrum seiner Medien zu verschwinden.“226

Die Ästhetik der digitalen Netzwerke hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Aufleben neuer, komplexer Systeme und der damit verbundenen Verhaltensänderung bei den betreffenden Generationen geführt. Während die Neuheiten der Informations- und Kommunikationstechnologie durch ihre illusionären Strategien zuerst für die notwendigen Instabilitäten verantwortlich waren, sind die elektronischen Effekte, wie auch die Erzeugung von Ähnlichkeiten, in der Alltagswelt inzwischen zu Fixierungen geworden. Eigentlich bestand ihre Aufgabe in der Durchbrechung von menschlichen Fixierungen. Mit dieser Loslösung von traditionellen Sichtweisen sollten innovative Sprünge in Verhalten und Strukturierung verwirklicht werden. Die Einbettung der Simulation ist zu einem Automatismus mutiert, der die Gewohnheit des Daseins und der Lebenssituation vergessen macht. Die Ersatzwelt ist mittlerweile zur Fixierung geworden, da ihre Benutzung und Erschließung, auf einer Erprobung mit geringem Risiko fundiert. Diese Faszination sich selbst immer wieder zu erproben, dabei aber der natürlichen Welt zu entfliehen ohne ihr abzuschwören, ist für viele Menschen bereits Alltag. Sie haben die künstliche Welt gewählt, um damit ihre „Anti-Faszination“ gegenüber der banalen Wirklichkeit auszudrücken. Die künstlichen Paradiese zeichnen sich durch Glück, Überfüllung, Überhöhung und Ablösung der traditionellen Werte aus.

226 s. Bolz, Norbert: Die Wirklichkeit des Scheins. In: Strategien des Scheins. Hrsg. v. Rötzer/Weibel, 1991, S.119 118

Ihre Umgebung ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch Leichtigkeit, freie Beweglichkeit, freies Spiel von Dimensionen, quasi einer Welt in der Welt, dagegen wird der eigene Körper in der natürlichen Welt als träge, massiv, unbeweglich und widerständig empfunden.227

Mit Hilfe der Computerarchitektur und seiner Verbindung zu einem weltweiten Netzwerk, wird die Materie zum Leichtgewicht und gipfelt in uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, die letztendlich eine Assimilation an die modellierbaren Umgebungen ermöglicht. Die zunehmende Fixierung auf die künstlichen Welten hat sich vom einstigen kurzfristigen Rauschzustand (Instabilität) zur Dauererregung gewandelt und ist nicht nur Indiz für eine Anti-Faszination gegenüber der natürlichen Welt, sondern auch ein Faktor für die ansteigende „Derealisierung der Wirklichkeit“, die nachhaltig die gewohnte Realerfahrung verändert und damit den Ausschließlichkeitsanspruch.228

Die Auswirkungen sind bereits Normalität: Die Durchdringung der Medienrealität prägt die Persönlichkeitsbildung und beeinflusst somit die Identitätsstiftung. Da mediale Leitbilder als Vorbilder fungieren und ihre Verwirklichung in den Realbeständen eine natürliche Reaktion der menschlichen Verhaltensänderung auf modifizierte Erlebnis- und Erfahrungswelten widerspiegelt. Im Umgang mit den elektronischen Medien, mit den Tönen und Bildern, welche aus der Eigenwelt der Apparate aufsteigen, lässt sich ganz klar feststellen, dass der Mensch nicht einfach nur externer Benutzer und Beobachter ist, sondern dass es sich um eine neue Entwicklungsstufe der Mensch-Maschine-Symbiose handelt. Die Schnittstelle spielt dabei eine zentrale Rolle. In der elektronischen Welt wird der Mensch zum inneren und äußeren Beobachter. Durch die wachsende Infiltration der Welt mit elektronischen Medien sehen wir die Welt zunehmend von innen. Somit haben die elektronischen Medien eine Techno-Transformation der Welt bewirkt, die einem Verschwinden der vertrauten Wirklichkeit gleichkommt.229

227 vgl. Bolz, S.166

228 s. Bolz, S.167

229 vgl. Weibel. In: Virtuelle Realität.. S.36 119

3.2 Der Körper zwischen Integration und Bemächtigung

Der Körper ist kollektiv und geschichtlich, also phylogenetisch und ontogenetisch. Die sinnliche Wahrnehmung und der daraus resultierende Erkenntnisgewinn sind abhängig von Umwelt und dem Bild, welches sich das Individuum von ihr macht. Um sich in der Umwelt zu orientieren und zu bestehen, werden Wahrnehmung und Handlung in einem Wechselspiel stets neu angepasst und bestimmen die individuelle Entwicklung. Die Vielfältigkeit der Wechselspiele äußern sich am eindringlichsten durch und mit dem eigenen Körper. Er ist das Gefäß (Einheit), in dem sich Konflikte, Widersprüche und Übereinkünfte am deutlichsten veranschaulichen.

Die Entkörperlichung wird durch die verstärkte Elektronisierung des Alltags immer weiter vorangetrieben. Die neuen Technologien setzen auf virtuelle Räume, digitale Zeichensysteme und Simulation und sind nur noch in der Präsentation an eine technisch inspirierte Hardware gebunden. Die Body Art der neunziger Jahre, sowie ihre Nachfolger, reagieren auf die intermediäre Entwicklung und bedienen sich der Neuen Medien, als Gegenwehr zur Gleichmacherei. Die wechselseitige Durchdringung und Verschmelzung werden in extremen Darstellungsformen geradezu zelebriert; es geht ganz offensichtlich um die Verformung des eigenen und fremden Körperbildes. Die Emanzipation gegenüber dem passiven Konsum äußert sich in einer neuartigen Experimentierfreudigkeit. Die Kunst versteht sich als Teilnehmer und Mitgestalter, sie macht sich die Verfügbarkeit der Medien zunutze und relativiert sie zum Ideenträger. Die Medien werden zu Geräten, die der Vermittlung von künstlerischen Botschaften dienen. Die künstlerischen Konzeptionen und Sichtweisen der Postmoderne zeigten, dass der Abstand des Menschen zum Ding, sich zugunsten einer Dominanz des Materials verengte. Diese Überzeugung zeigte sich in einem „Überästhetizismus der Ware und in der totalen Anbiederung an das Medium.“230

Die inhaltsreichen Konzepte der postmodernen Body Art zielen auf die Thematik der medialisierten Lebensbereiche ab. Die ästhetischen Prinzipien der Ein- und Entkörperung kooperieren mit den technischen Neuheiten, zielen aber in den Inhalten auf eine Differenzierung. Der Betrachtende wird in seiner Erkenntnis auf

230 s. Lischka, Superästhetik, S.52 120

Widersprüchlichkeiten des Realen gelenkt. Das Wechselspiel der bewussten technischen Aneignung und der inszenierten Missverhältnisse von Körper und Technologie, lassen ein spezifisches ästhetisches Prinzip erkennen: Die Integration als Möglichkeit des demonstrativen Widerstands. Das daraus resultierende ästhetische Potential kann Handlungsstrukturen am Körper als Surrogat für konventionalisierte Positionen entlarven.231

Die neuen Konstellationen zwischen Körper und Maschine ereignen sich ganz im Sinn der künstlerischen Vielfalt und der Verdichtungen, die in der Lage sind Aufmerksamkeiten zu erregen. Die Ästhetik, die sich mit den technischen Entwicklungen verbündet, verfolgt ein bestimmtes Ziel: In der Komplexität der Inhalte sensibilisiert sie das Differenzierungsvermögen. Die Neugierde und Phantasie werden durch einen gezielten Einsatz von modernen Technologien geweckt und nicht erstickt.

Diese Übergangssubjekte der zeitgenössischen Body Art reflektieren durch den bewussten Gebrauch des Körpers die Gratwanderung von anästhetischer Bemächtigung und ästhetischer Integration. „Anästhesie bedeutet in diesem Zusammenhang, von der makellosen Präsentation der Medien dermaßen fasziniert zu sein, dass man nur noch an sie angeschlossen ist und sein kann“, eine Akzeptanz der Auslieferung an die erzeugten Images. Lischka beschreibt die Gegenbewegung als „ [...] Ästhetisierung, die auch das Hässliche umfasst, weil sie es auf einer höheren Ebene wiederum »schön« macht und durch eine Remediatisierung, die Ästhetik zu einem poetischen Akt hin zu verdichten oder sie doch als nicht-repressiv zu erleben.232

Exkurs: das Übergangssubjekt - Indiz für den nomadischen Künstler

Die Kunst ist und bleibt eine Erfahrung der menschlichen Freiheit. Ihre Darstellungsebene ist ein Reflektor, der sich äußeren Formzwängen entzieht, die Erkenntnisse der sozialen Realität aber in einer kunsttypischen Sprache dem Beobachter zugänglich macht. Durch ihre Kommunikationswege bereichert sie die

231 vgl., Flach, S.270

232 s. Lischka, Superästhetik, S.356 121 kulturelle Rationalität und sichert mit ihrem Interaktionspotenzial die Meinungsvielfalt und Handlungsfähigkeit der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit der Kunst liefert in allen Epochen eine Erkenntnis über die menschliche Existenz. Die symbolischen und allegorischen Gestalten sind Sprach-Bilder, die das sich wandelnde Menschenbild zu jeder Zeit kommentieren. Die Analyse ihrer Chiffren und schematischen Zeichengefüge geben bis heute Aufschluss über die Höhen-, Krisen- und Scheidepunkte in der bisherigen Geschichte des Menschen.233

Insofern ist der Umgang mit dem Körper als „Schauplatz der Macht“, als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, symptomatisch für politische Krisen, ebenso ist das Körperbild in der zeitgenössischen Kunst ein Symptom, an dem die Zeichen der Krisen gedeutet werden können.234

Der Begriff des künstlerischen Nomaden existiert seit dem 19 Jahrhundert. Der einsame Künstler, der durch stetiges Reisen und die Vielfalt seiner Ideen zu neuen Gestaltungsformen getrieben wird. Rastlos und geprägt von Stilen und gesellschaftlichem Wandel beeinflusst er vor dem Hintergrund der postmodernen Freiheit die kulturelle Sprache. In seinen Werken spiegeln sich die Wanderung zwischen den Existenzformen und die Möglichkeit wechselnder Identitäten. Vor dem Hintergrund der medialen Vielfalt ist der postmoderne Body-Artist tatsächlich ein Initiator der skizzierten Übergangssubjekte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Künstler selbst die Erfahrungen der Entfremdung und der Entwurzelung in seiner authentischen Kunst formuliert. „[…] das der Migrant nicht nur Opfer, sondern auch Akteur in einer zugleich global wie regional geprägten Gesellschaft ist, und durch das, was er mitbringt, jeweils soziale und kulturelle Veränderungen und Erneuerungen auslöst.“235 Unter dem Einfluss des ständigen Bewegtseins entsteht eine zwiespältige Body Art. Medienkritische Philosophen wie Baudrillard, Virilio und Flusser beschreiben die neuen Formen des Nomadismus als eine „Welt die zunehmend ins Fließen geraten ist“ und der Mensch „die Wirklichkeit nur noch als wogendes Netz der Relationen“ wahrnimmt, in dem er selbst als ein sich ständig verschiebender Knoten existiert, in dem Informationen zusammenkommen und

233 vgl. Stelzer, Petra: Ästhetik aus existenzieller Erfahrung. Versuch einer anthropologischen Kunsterklärung. Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt a. M., 1995, S.49

234 vgl. Schade, Sigrid: Andere Körper. Kunst. Politik und Repräsentation in den 80er und 90er Jahren. Katalog. Andere Körper. Different Bodies. Hrsg.: Sigrid Schade. Wien 1994, S.11

235 siehe Katalog zur Ausstellung: gehen bleiben. Bewegung, Körper, Ort in der Kunst der Gegenwart. Hrsg.: Kunstmuseum Bonn. Ausstellung mit gleichnamigen Titel v. 28.Nov. 2007 - 17.Feb. 2008. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2007, S.25 122 auseinanderfließen.“236 Die Beschleunigung und das Gefühl des ständigen In- Bewegung-Seins fördern diesen Gedanken an das fließende und offene Gestaltungssystem, gleichzeitig keimt auch das Bewusstsein der gefühlten Instabilität auf. Die Übergangssubjekte der zeitgenössischen BodyArt –X- greifen diese Wahrnehmung des Weltgeschehens auf; das Halt- und Rastlose, das Vorübergehende [...] das Signum der Selbstauflösung wird zum Thema eines selbst empfundenen Körperverständnisses.237 Ihre teils spielerische Verständigungsstrategie unterstützt die Toleranz und symbolisiert auf spezielle Weise, die „konkrete Freiheit des Menschen in seinem Inderweltsein.“238 Der Künstler realisiert Denkfiguren, die in der geschlossenen-allegorischen Form ihren Ursprung in der Realität besitzen und das bisher Erfahrene implizieren, während sich im Freien-Symbolischen die Mitte der Balance von Abstraktion und Konkretion findet. Im Sammelpunkt der konkreten Formen und dem inhaltlichen Verweis auf eine ästhetische Wahrheit bündeln sich im künstlerischen Denkspiel alle Erkenntniskräfte des Werks.239

236 zit.n. Flusser, in siehe: gehen bleiben. Bewegung, Körper, Ort in der Kunst der Gegenwart. S. 26

237 vgl. Katalog: gehen bleiben. Bewegung, Körper, Ort in der Kunst der Gegenwart. S. 27

238 s. Stelzer, S.166

239 Anmerkung: Ästhetik und ihre besondere Wahrheit beinhalten in konkreter Gestalt und inhaltlicher Ausprägung eine verschlüsselte Erfahrung. Der von Petra Stelzer bezeichnete Chiffrencharakter der Bildenden Kunst lässt sich eindrücklich am Werk von Georg Baselitz belegen. Der Mensch wird hier selbst als Chiffre dargestellt, durch die Umkehrung der menschlichen Figur, weist der Künstler auf seine Weise im Medium des Malerischen auf die hoffnungslose Konditionierung des modernen Menschen hin, dessen Weltbild durch die einseitige Betonung des homo faber und der technischen Rationalität geprägt ist. Wie bereits angesprochen ist die Ästhetik ein Produkt der Erkenntnis, welche die Erfahrungen im Allgemeinen und besonderen verbindet und in der konkreten Darstellung geschichtliche Veränderungen reflektiert und Grenzüberschreitungen in ihren Denkfiguren verwirklicht (vgl. hierzu S.165). 123

3.2.1 Kunstbetrachtung zwischen ästhetischer Wahrheit und objektiviertem

Selbstverständnis

„Das Ich existiert nur im Austausch mit der Welt und gleichzeitig in

Abgrenzung zu ihr.“240

Die ästhetische Wahrheit, die in jedem Werk enthalten ist, gründet sich auf die mannigfaltigen Sichtweisen, die wiederum die Ansichten des Seins und somit das Selbstverständnis des Betrachters bereichern. Die ästhetische Wahrheit ist nicht mit der wissenschaftlichen Wahrheit zu vergleichen. Während sich die wissenschaftliche Wahrheit auf logische Beweis- und Begründungsverfahren stützt, kann die ästhetische Wahrheit von der Seite der Kunstschaffenden als schöpferisch verstandene Existenz bezeichnet werden. In ihr manifestiert sich keine Wahrheit im traditionell logischen Sinne, aber eine auf dem ursprünglichen Erleben beruhende existentielle Welterfahrung. Die Fülle der Ideen charakterisiert die ästhetische Wahrheit und sichern im Erfahrungsfeld der Kunst die Vielzahl von „Wahrheitsweisen“, die sich aus dem freien Denken ergeben.241 Der Künstler bietet diese Art der Wahrheitsfindung durch seine subjektive Reflexion an, dabei geht es nicht um die Darstellung einer Wahrheit durch das Erkennen von Gegenständlichem im Werk, sondern die Fülle von offensichtlich Erkennbarem und verschiedenen Sachverhalten führen den Beobachter schließlich zu einer weiteren Form der Anschauung, die sich von der Allgemeinheit abgrenzen kann. Im Moment dieser Verflechtung von künstlerischem Diskurs und individuellem Verständnis kommt es zu einer neuen schöpferischen Aussprache, in deren Zentrum das eigene Selbstverständnis steht. In der Konfrontation mit der objektivierten Wahrheitskonzeption, in Form des Kunstwerks, entwickelt sich eine Diskursivität, die mittels konkreter Kommunikation und freier Entfaltung „einen objektiven und ästhetisch verstandenen neuen Wahrheitssinn entwirft.“242 Durch die Kunst erhält das Individuum, die Möglichkeit Wahrheits- und Sinngehalte der Welt, auch in deren Negation zu erfahren und in Bezug zum Selbstverständnis zu erklären. Die

240 Zitat aus „Künstler und Nomaden“, in: gehen bleiben. Bewegung, Körper, Ort in der Kunst der Gegenwart. S.30

241 Stelzer zit. Jaspers, S.167

242 s. Stelzer, S.168f 124

Intensität, mit der die Betrachtung erfolgt, kann sinnbildlich als Einkörperung bezeichnet werden.

Bezogen auf die Body Art ist die Kunstschöpfung, die Verkörperung einer konkreten Seinserfahrung und eröffnet dem Rezeptionsverhalten des Betrachtenden, die Möglichkeit der Integration (der Einkörperung), in dem allgemeine Erfahrungswerte durch freie Entfaltung neue individuelle Wahrheitshinweise erhalten. Dieses Verstehen der Welt durch die Kunst erweitert den Erkenntnisgewinn, der durch die Spiegelung der Verhaltensweisen in der alltäglichen, allgemeinen Realität zustande kommt. Darin liegt die umwälzende Kraft der Kunst, da sie mit der Hervorhebung des Erlebnisses im Denken und Sein der Natürlichkeit, Einzelheit und Unmittelbarkeit der Welterfassung des Ganzen eine höhere Gewichtung verleiht und das Verstehen der Welt durch das Nur-Allgemeine bereichert.243

3.2.2 Grenzästhetik: Kunst zwischen Rezeption und Erkenntnis

Sämtliche Kunstwerke aller Epochen beinhalten immer die vom schöpferischen Menschen, dem Künstler, reflektierten Seinserfahrungen und vereinen in ihrer anschaulichen Gegenwart eine komplexe, vieldimensionale Vernunft. Abbild und Ausdruck des Kunstwerkes sind bestimmt durch die Techniken, die sich den geschichtlichen und gesellschaftlichen Umständen anpassen. Die Akkomodation der zunehmenden Technisierung verbindet die Kunst immer mit dem Alltag und erleichtert auf diese Weise die Strategien der rezeptiven Aneignung durch den Betrachter. Mit der Integration neuester Techniken sichert sich die Kunst den Anspruch des freien Denkens durch die Vielzahl der Erkenntnisse, die im Kunstwerk gebündelt werden. Ebenso erweitert sie das Potenzial der kritischen Auseinandersetzung mit den werkimmanenten Themenbereichen, welche den Betrachter im Zuge der individuellen Erkenntnis zu einer Handlung bewegen können. Die künstlerische Arbeit thematisiert folglich die konkreten Probleme gesellschaftlicher Interaktion, ihre Intention liegt in der kritischen Intervention.

Die Grenzästhetik des künstlerischen Beitrags ist das Resultat einer wahrnehmbaren Zwiespältigkeit des aktuellen Inderweltseins neben der

243 vgl. Stelzer, S.133 125

Seinserfahrung des Künstlers spiegelt sich auch die allgemeine Noterfahrungen des Menschseins wieder. Der Betrachter wird mit den Sichtweisen des Künstlers, in Form seiner Kunst, mit einer individualisierten Weltsicht konfrontiert.

Jene künstlerischen Konzepte, die sich beispielsweise mit den Mängeln und der Fatalität der Informationstechnik auseinandersetzen, müssen diese nicht grundsätzlich ablehnen, sondern entscheiden sich für die Einbindung in meist provokative Projekte. Die bewusste Erzeugung von Illusion, etwas erscheinen zu lassen, das noch nicht wirklich vorhanden ist, vertieft das Wissen darüber, wie man getäuscht werden könnte. Die absichtliche Verquickung von Puppe und Technik, wie bei Tony Ourslers Dummies, markiert genau diese Zwiespältigkeit zwischen Herstellung einer Illusion und der Begegnung mit dem bereits Realen. 244 Die schockierende Wirkung erhalten diese Werke, weil sie ein Stück selbstverständliche Realität oder Materialität, wie den menschlichen Körper, in einer erschreckenden, ästhetischen Anschauung präsentieren. Die zeitgenössischen Reproduktionen sind das Ergebnis einer Suche nach dem, was noch nicht einverleibbar oder reproduzierbar ist und das treibt zugleich die Mechanismen der Reproduktion voran.245 In der künstlerischen Demonstration einer symbolischen Einkörperung wird die Frage nach der Machbarkeit dieser Illusion aufgeworfen. Die Konfrontation mit dem Körper in der Kunst reflektiert immer auch die Diskussion, inwieweit der Rezipient in das Bild, Objekt, die Installation oder Simulation eintauchen kann. Durch die Gegenüberstellung mit dem Stellvertreter, dem Dummy der Realität, wird der Gedankenaustausch zwischen integraler Erfahrung und reinem Repräsentationsraum wieder entfacht.

Die Inszenierung der sinnbildlichen Einkörperung eröffnet dem Betrachter, neben den Empfindungen der Bemächtigung und Einschränkungen, auch die verschiedenen Möglichkeiten in seinem Körper zu sein. Die grenzästhetischen Standpunkte der Körperintegration zeigen die beiden Gesichter der Repräsentationsverfahren: „[...] dem Realen zugewandt und somit die Verbindung mit ihr ermöglichend, dem Imaginären zugewandt und so eben die Flucht vor eben dieser Wirklichkeit ermöglichend.“246

244 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.26 u. 27

245 vgl. Rötzer, S.24

246 s. Quéau, Philippe: Die virtuelle Simulation: Illusion oder Allusion? Für eine Phänomenologie des Virtuellen. In: Illusion und Simulation, S.69 126

Exkurs: Was macht die Kunst mit mir – wann stoße ich an Grenzen?

Die ästhetische Erfahrung des Kunstwerks wird aber zuerst durch eine anschauliche, objektive Erfassung des Gegebenen begründet. Petra Stelzer unterteilt die rezeptive Vorgehensweise in ein Stufenmodell:

1. die erste oder die abstrakt-analytische Stufe

Kunsterfahrung als rezeptive Leistung des Verstandes. Die Anwendung von Methoden, die auf das Erkennen des Objekts im Werk ausgerichtet sind. Das Kunsterlebnis ist durch wissenschaftliche Sichtweisen und analytische Verarbeitung des Gesehenen charakterisiert. Die Spaltung vom Subjekt zugunsten einer distanzierten, empirischen Ansicht sind die Voraussetzungen für eine abstrakte Analyse von Kunst.247

2. die zweite oder die konkret-verstehende, synthetische Stufe

Im Mittelpunkt dieser Stufe des Kunsterlebens steht eine Intensität, die sich von der rein abstrakten Sichtweise unterscheidet. Das „tiefe In-Sich-Gehen“ erzeugt eine andere Kunsterfahrung, die sich in einer „Subjekt-Objekt-Identität des Denkens und Seins“ mit dem Kunstgegenstand vollzieht. Voraussetzung dieses Stadiums der Kunsterfahrung ist ein Zusammenwirken der analysierenden Anschauungsfähigkeit mit allen Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus Verstand, Gefühl, Vernunft, Körper und Phantasie ergeben. Dieses Zusammenspiel ist der Ursprung für das positiv, spekulative Kunsterlebnis: Hierin liegt der Unterschied zur abstrakt-analytischen Kunsterfahrung, welche das einseitige Kunsterlebnis impliziert. Während in der „erfüllten Konkretion“ das vieldimensionale Verständnis von Form, Inhalt und Identität zum Ausdruck kommt.248

3. die dritte Stufe oder die Stufe der Ekstase

Auf dieser Stufe der besonders intensiv erlebten Kunsterfahrung, die man nach Stelzer als „Idealität der Kunstschöpfung“ bezeichnen kann. Eine Steigerung in der erlebten Rezeptionsleistung macht sich durch die vollzogene Subjekt-Objekt- Identität bemerkbar, welche das „mystische Kunsterlebnis“ kennzeichnet. Die

247 s. Stelzer, S.142

248 vgl. Stelzer, S.142f 127

Stufe der Ekstase ist die höchste Stufe der Kunsterfahrung, in der sich das komplexe Erkenntnisvermögen als absolutes Erlebnis der Subjekt-Objekt- Identität mit dem Kunstgegenstand in einem zwanglosen spielerischen Zusammenwirken vereinigt. Die Ekstase als Ausdruck der totalen Erlebnisfähigkeit, dem Ergriffensein und der Überwältigung durch Emotionen markiert diese Aufstufung gegenüber den anderen Phasen der Kunsterfahrung.249

Die Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen Stufen der Kunsterfahrung bestehen in ihrer Wirkungskraft auf den Betrachter, der durch die bloße Anschauung bereits die erste Stufe des Kunsterlebnisses erklimmt und sich durch seine Einheit von Denken und Sein ein anderes Leben mittels des erkennbaren objektiven Geistes der Kunst erschließt. Das Erkenntnisvermögen und die Bereitschaft einer totalen Integration, gewissermaßen die Einkörperung, von Seiten des Kunstbetrachters, können die Weltansicht und die Handlungen beeinflussen und dadurch an der Lenkung neuer Ideen beteiligt sein. Die ästhetische Wahrheit, die grenzüberschreitend wirksam ist, markiert in ihren Spekulationen über den Lebensentwurf eine revolutionäre künstlerische Idee, die vom Rezipient entsprechend als Grenzästhetik wahrgenommen und erlebt wird.

3.3 Von der Krise des Originals – postmediale Überzeichnungen

Mit den technischen Verfahren der postindustriellen Gesellschaft werden der Bildbegriff und der Standpunkt der Bildbetrachtenden erheblich verändert. Die Kunst, als kulturelles Phänomen, bedient sich der technischen Vervielfältigungs- verfahren und trägt zu einer erweiterten Krise des Originals bei. Da schon die Postmoderne die Variationen der Wiederholung durch innovative Reproduktions- verfahren ersetzte, ermöglicht der Technikboom im Übergang zur zweiten Moderne die Fortführung dieses merklichen Originalverlustes. Die Paradoxie von Warhols “Star-Ikonen“ markiert die Aushöhlung des Originals zugunsten einer „entpersönlichten, entsubjektivierten Kunstproduktion.“250

249 vgl. Stelzer, S.143f

250 vgl. Weinhart, Martina: Den Tod im Nacken. In: Kunstforum International. Die Kunst der Selbstdarstellung . Bd. 181, Juli – Sept. 2006, S.124 128

Das Original wird mit Individualität und der Ursprünglichkeit, also mit Echtheit gleichgesetzt. Für die Körperlichkeit der Kunst bedeutet dies Wahrheit und auf keinen Fall einen technischen Bluff – eine vorgetäuschte Wirklichkeit. Das Original verweist in seiner Einzigartigkeit ebenso auf die Aura des Einzelnen, des Autors, Künstlers oder des genialen Subjekts. In dem Dasein des Originals vereinigen sich Assoziationen wie Genialität, Eigentümlichkeit und Authentizität. Berücksichtigt man den Wandel der technischen Errungenschaften, lässt sich eine Krise des Originals schon im Übergang zur Postmoderne erkennen. Die Reproduktionsverfahren und die Strategie der Auflagenkunst ebneten den Weg für die digitalen Doppelgänger der Post-Postmoderne. „Die Ästhetik der Absenz“ bezieht Peter Weibel auf den bewusst herbeigeführten Wandel des Kunstbegriffs. Absenz bedeutet hierbei die „Abwesenheit der historischen Erscheinungsform der Kunst, einer dieser wesentlichen Absenzen ist das Original definiert als Objekt.“251

Das Auftauchen von Kopien ohne Originalstatus, gewissermaßen die absichtliche Konstruktion einer zweiten Natur, hat der künstlichen Welt eine Etablierung erleichtert. Weibel spricht sogar von einer Erniedrigung des Subjekts zum Konsument und einer Entwicklung vom Individuum mit Anspruch auf Authentizität zum „positionalen Subjekt“ mit Patchwork-Identität.252 Die Instabilität der gesellschaftlichen Ordnung und die Vielfalt der Subjektpositionen verunsichern das Individuum. Der Mangel an sozialer Orientierung wird in der gegenwärtigen Heterogenität des Subjekts sichtbar. Die Schnittstelle –Mensch- harmonisiert mit den veränderten Umweltgegebenheiten und konstruiert die existenzsichernden Identitäten.

Der Verlust des Originals begründet die Steigerung der Heterogenität: Die plurale Identität des postmodernen Subjekts ist die Antwort auf die Abwesenheit der Einzigartigkeit. Die Variabilität der Identität ist eine Folge der mittlerweile bruchhaften Einheit von Individuum, Person, Subjekt und Identität. Mit der Aufgabe dieser Koalition zugunsten einer Kohabitation entsteht eine Kunstfigur, ein Duplikat. In der akzeptierten Koexistenz mit der Maschine kommt es, wie in der Filmwelt des Science Fiktion bereits sichtbar, zu einer Idealisierung des Menschen durch die Apparatur und umgekehrt zu einer Perfektionierung der Apparatur durch den

251 s. Weibel, Peter: Digitale Doubles. In: Illusion und Simulation – Begegnung mit der Realität, S.195

252 s. Weibel, S.205 129

Menschen. Die Annäherung erzeugt die „terminale Identität“ als Ausdruck des zukünftigen Subjektstatus (Replikat/Kopie). Die Bemächtigung ist ein auf gegenseitige Idealisierung und zwangsläufige Identifizierung beruhende Handlungsstrategie, die den Zustand der Krise des Originals in der Objektwelt und der Identität in der Subjektwelt, auf fiktive Weise thematisiert.253

Im Rückblick auf die Kunstgeschichte gibt es immer wieder Epochen, welche sich durch die Steigerung der Bildwirklichkeit gegenüber ihren Vorläufern abgesetzt haben. Die Neuzeit und die Entdeckung der Zentralperspektive wurden durch die überzeichnete Körperbehandlung des Manierismus übertroffen und die barocke Bildkonstruktion überwindet durch den Effekt des trompe l’oeil, die bis dahin eindeutigen Merkmale des Abbildes. Ein Abbild kann sich nicht mit der Realität messen, das menschliche Auge erkennt die künstlerischen Täuschungsmanöver, seitdem haben sich die Illusionstechniken immer wieder an der Wirklichkeit versucht.

Die Realität ist das Ideal, welches es zu kopieren oder zu duplizieren gilt, dass hat sich auch seit der Barockkunst nicht verändert, lediglich die Mittel der illusionsstiftenden Wirklichkeitsabbildung wurden perfektioniert und dadurch neue Grenzen der Wahrnehmung markiert. Ähnlich den Überzeichnungen des Manierismus, ist die erlebbare virtuelle Realität, eine Übertreibung der Realität, die dem Wesen nach eine Grenzüberschreitung impliziert. Während sich der Betrachter der barocken Bildwelt außerhalb der künstlichen Bildwelt befindet und sie mit der ihn umgebenden Realität vergleicht, erschaffen die neuen Illusionstechniken ein Abbild ohne Original. Das erzeugte Simulakrum wird als Faktum vorgetäuscht und erhält seine Bedeutsamkeit und Faszination nur durch die Gewissheit der natürlichen Realität. Mit Hilfe der elektronischen Medien und der informationsverarbeitenden Hardware gelingt es den Übertreibungsfanatikern der medialen Neuzeit, die ausgewählten Weltausschnitte in Zeichenprozesse zu übertragen und so in die Wirklichkeitskonstruktion einzuarbeiten, dass die grafischen Konfigurationen in sinnlich, explorierbare Erfahrungsfelder verwandelt werden.254 In der unaufhörlichen Überbietung der Konstruktion von der Konstruktion zeigt sich auch der Unterschied

253 s.Weibel, S.205

254 Krämer, Sybille: Vom Trugbild zum Topos. In: Illusion und Simulation – Begegnung mit der Realität, S.135 130 zur einstigen Augentäuschung durch den künstlerischen Geniestreich des trompe l`oeil.

Die Mystifikation der Sinne in Form der Augentäuschung wird durch eine kühl inszenierte Abstraktion der Realität ersetzt. Das Bild, so weiß der Betrachtende, wenn er vor demselben steht, ist immer eine Abstraktion der Welt in zwei Dimensionen. In dem das Bild der wirklichen Welt eine Dimension entzieht, so Baudrillard, ermöglicht es sich selbst die Macht der Illusion.255 Robert Jacobson fragt: „Wer bin ich, wenn ich nicht nur fähig bin, zu mehreren Zeiten an mehreren Orten zu sein, sondern dies auch noch in mehreren Identitäten: als Mann, als Frau, als etwas anderes, alt, jung [...] als Mensch, als Tier, Pflanze oder unbelebtes Objekt [...].“256

Die Übersteigerung der Virtualität besteht in der Möglichkeit des Eintretens in das Abbild, durch die Erzeugung der dritten und vierten Dimension. Mit dem Ziel das Abbild oder Trugbild noch realistischer zu konzipieren, entscheidet sich die virtuelle Realität für die Verführung und gegen die Mystifikation. Die Wendung hinsichtlich der Bildwahrnehmung ist bezeichnend für die Verflüchtigung der Mystifikation; war der Betrachter zuvor extern und distanziert gegenüber der Abstraktion, erfolgt nun durch die Simulationstechnik der Perspektivwechsel vom externen zum internen Beobachter. Die mediale Neuzeit und ihre virtuell (abstrahierte) Realität integrieren sowohl die visuelle, als auch akustische und die taktile Erfahrbarkeit in die Bildwahrnehmung. Auf diese Weise verschwindet der Beobachter im Bild und wird zum Teilnehmer. Die Materialität der Medien bemächtigt sich des Körpers, so Sybille Krämer, und drückt dies nicht nur in der Externalisierung des Leibes durch die Medien aus, sondern verstärkt die Internalisierung der elektrischen Technik durch den Leib.257 Mit dem Rückzug des Körpers aus der Realität in die flüchtige zweite Natur der Scheinwelt, verschwimmen die Grenzen zwischen dem Realen und dem bloß Imaginären.

Mit der Entstehung einer idealen Abstraktion in Form einer perfektionierten, erlebbaren Ersatzrealität wird die Mystifikation der Bildwahrnehmung ersetzt durch

255 vgl. Baudrillard, Jean: Illusionen, Desillusion, Ästhetik. In: ebd., S.92

256 Jacobson, Robert. In: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. Klaus Boer Verlag. München, 1993, S.176

257 s. Krämer, S.137 131 ein tückisches Spiel, zwischen den Perspektiven des exogenen Beobachters und des endogenen Teilnehmers.258

Exkurs: das soziale Netzwerk – kollektive Entpersonalisierung

Im Virtuellen ist die Anwesenheit des Körpers die sicherste Verbindung zur Realität. Zu Beginn steht die Faszination für den neuen Erfahrungsraum, den die virtuelle Welt ihrem Benutzer anbietet. Ähnlich der expressionistischen Ansicht vom Naturerlebnis, welches zum Sinnereignis und letztlich zur Wahrnehmungs- erweiterung der eigenen körperlichen Verfassung beiträgt, ist das Subjekt der postmedialen Postmoderne darauf fixiert, sich neue Erlebniswelten innerhalb seiner Wirklichkeit zu erschließen.

Dabei verlässt sich das Subjekt nicht gänzlich auf die Maschine, sondern konstruiert mit der Virtualität eine garantierte Anwesenheitspflicht, die eigentlich die Verankerung und Sicherheit der Realität in ihren Relationen gewährleistet. Dadurch ermöglicht sich der User das Floatieren zwischen wirklicher Gemeinschaft und einer privaten fiktiven Einsamkeit, die jedoch nicht als bedrückend, sondern als Flucht vor dem Alltäglichen empfunden wird. Die Shit-Storm und Like-it-Generation im Netz hat nichts mehr mit der urbanen Performance und künstlerischen Protestbewegung der 1980er und 1990er zu tun. Spontaneität und Kreativität, Originalität und Improvisation lassen sich den Happings (Kaprow) und der Performance-Kunst von Horn, Nauman, Export und Abramović eher zuordnen, als den personalisierten Kommentaren auf Twitter oder facebook. Dennoch entstehen in den 1990ern neue organisierte Protestformen durch die vernetzte Generation. Dabei handelt es sich weniger um politische Gegenbewegungen als um ästhetisch orientierte Körperpräsenz in der Öffentlichkeit. Beispielsweise werden Flashmops per face book organisiert und inszeniert, die sich eindeutig als ästhetischer Protest an öffentlichen Plätzen kategorisieren lassen. Einstudierte Choreografien stehen im Vordergrund der kollektiven Körperpräsenz. In den Anfängen der Love Parade stand der Protest gegenüber politischen und sozialen Benachteiligungen von Schwulen und Lesben im Mittelpunkt, das Anderssein wurde mit heftigen Beats, dem Techno,

258 Krämer, S.137 132 untermauert. Der Massen-Rave wurde größer und schließlich zum wiederkehrenden Event ausgebaut: das kollektive Erlebnis eines von Veranstaltern organisierten Raves kann als eine der ersten ästhetischen Performances eingeordnet werden.

Die heutigen, über soziale Netzwerke organisierten körperlichen Statements fokussieren sich ebenfalls auf die Massen – es geht nicht mehr um den Protest des einzelnen Körpers, wie bei künstlerischen Protesten in den 1970ern der 80ern, sondern um ein choreografisches Schauspiel, das im Kollektiv funktioniert und Aufmerksamkeit erregt, dabei aber auch die Entpersonalisierung, die Anonymität und die Macht der Netzwerke verdeutlicht.

3.3.1 Neue Synergieeffekte – zeitgeistliche Körperkunst

Der Künstler des virtuellen Zeitalters hat sich nicht nur mit der Apparatur angefreundet, vielmehr schöpft er aus dem Reservoir ihrer Möglichkeiten für künstlerische Welten, die wiederum neben der viel zitierten künstlichen Welt, eine weitere Welt der Entdeckung und Erfahrung für den Menschen bereithalten.

Der Künstler kann mit den ihm zur Verfügung stehenden Medien zwischen den Welten vermitteln und dauerhafte, d.h. erkenntnisreiche Synergien erzeugen. Das entkrampfte Verhältnis zum Stilpluralismus der Postmoderne, erreicht in der Kunstszene der neunziger Jahre einen vorläufigen Höhepunkt. Die Akzeptanz der Kommunikationstechnologie erweitert die ästhetische Formensprache, die zugleich als Sozial- und Lebensformen lesbar sind. Die Erweiterung der Ästhetik sollte hauptsächlich als Bereicherung der augenblicklichen Wahrnehmungsformen aufgefasst werden. Die Analyse, welche ästhetischen Formen in der Lage sind Gegenwartsverständlichkeit zu transportieren, entsteht innerhalb der Diskussion um ihre Wirksamkeit.

Entscheidet sich der Künstler für die Synergie von Mensch und Maschine innerhalb der eigens ausgewählten Kunstgattung, so muss diese Verbindung nicht unbedingt eine Befürwortung der Gegenwartskultur bedeuten. Deshalb sollte die Vernetzung des menschlichen Körpers mit der technischen Apparatur nicht immer als radikales Integrationsmoment bewertet werden. Sobald sich der Künstler für eine Integration, des Körpers in eine künstliche oder kunstvoll arrangierte Ausstattung entscheidet und dieses Kunstwerk durch das Prinzip der Wiederholung in seiner Wirksamkeit 133 noch verstärkt, erzeugt er mit Hilfe der inszenierten Synergie einen künstlerischen Multiplikator.

Es entsteht ein visueller Protest, der in der Lage ist dem Künstler zu einem Wiedererkennungswert zu verhelfen. Es ist die Ungewöhnlichkeit der Inszenierung, die dem Non-Stop-Bilderhype des Alltags, einen Moment der Ruhe, des “In-sich- gehens“ entgegensetzt.

Die postmoderne Künstlergeneration reflektiert die Ereignisse und deren Auswirkungen auf die menschliche Körperwelt. Um wiederum eine Reaktion auf den festgefahrenen Kunstbetrieb zu erzielen, integriert sie den Körper in anschaulicher Weise in Behältnisse seiner natürlichen und künstlichen Umwelt. Die demonstrative Einkörperung hebt den Synergieeffekt provozierend hervor und konfrontiert den Zuschauer durch das Eingesperrtsein im Medium mit der Passivität seiner Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit. Die direkte Gegenüberstellung eines reaktionsunfähigen Körpers, der gewissermaßen behandelt wird und nicht in der Lage ist selbst zu agieren, löst Ängste, Unbehagen und zugleich Faszination aus.

„Der Körper bringt diese Objekte selbst hervor und distanziert sich genau in diesem Moment der Hervorbringung von ihnen und auch von dem Ort, an dem sie erscheinen.“259 Diese Kombination bezieht sich auf das Erlebnisspektrum der elektronischen Medien, die der kritische Künstler auf doppelsinnige Weise in einer essentiellen Ästhetik zum Ausdruck bringt. Die künstlerische Realität greift in ihren Synergieeffekten auf die Wirkung des Körpers und seines Abbilds zurück: Die Anwesenheit oder Bildfläche des Körpers erhöht den Aufmerksamkeitsgrad und wirft den Betrachter auf sich selbst zurück.

Als Mittel zum Zweck ist die Wiederholung als künstlerisches Prinzip in der zeitgenössischen Body Art zum Markenzeichen avanciert. Es sind Künstler wie Damien Hirst mit seinen Formaldehyd-Behältnissen oder Rachel Whiteread mit ihren Matratzen- und Badewannenabgüssen, deren Kunstwerke sich an das kollektive Gedächtnis richten. Das präparierte Tier (Tigerhai bei Hirst) oder alltägliche Gegenstände werden zu Aufsehen erregenden Projektionsflächen, die den Verlust und die Abwesenheit des Körperlichen und Menschlichen thematisieren. Dabei ist die Wiederkehr des Gleichartigen auch ein Symptom für die Anwesenheit

259 s. Flach, S.339 134 des Originals, damit ist neben dem Hinweis auf den Urheber und sein Werk, auch die kunstvoll arrangierte Aura des Einmaligen gemeint.

Die originelle Installation oder Performance suggeriert in Monumentalität und Sensationalität ein unikales Sinnereignis. Der Körper ist also in diesen Arbeiten die Quelle der Erfahrungen, die zum Kern- und Ausgangspunkt des Selbsterlebens werden. Der künstlerische Aufwand und die angestrebten Dimensionen orientieren sich an der Phänomenalität der medialen Ereignisse. Wie kann ein Wachsabdruck einer Matratze oder mit Edelsteinen besetzter Totenkopf das kollektive Gedächtnis ansprechen?

Es gelingt in der spezifischen Symbolik einer wiederholten Darstellung, die sich an den gesellschaftlichen Grenzszenarien orientiert: Leben und Tod, Elend und Überfluss, Krankheit und Wohlstand. Der stille Protest ist eindeutig eine Anspielung auf die mediale Macht und den damit verbundenen Sinnlichkeitsverlust.

Die Wahrnehmung dieser bedrohlichen Entwicklung wird von den postmodernen Body Art-Künstlern aufgenommen, deren Konzepte in Form von Installationen, Objekten, Performances die Mehrdeutigkeit der Virtualität reflektieren. Durch die Strategie der Einkörperung und demonstrierten Entkörperung steht der menschliche Körper für eine Aussicht auf eine phantasmatische Realität. Diese konnte bis jetzt nur durch ihn erlebt werden und nimmt nun immer mehr die Position eines Relikts ein, welches durch die völlige Einbettung (Einkörperung) das Privileg eines „schwindenden Mediators“ zu Teil wird.260 In der Wiederholung verwendet der Künstler die Bildkonstruktion der modernen Technologie. In dem er den Körper zeigt, ihn behandelt und öffentlich bestaunen lässt, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Aufrechterhaltung der Illusion. Die Distanz zum eigenen Körper und seinen Wahrnehmungsfähigkeiten reflektiert zugleich die zunehmende Faszination für die technische Apparatur. Der Körper, wie die Maschine, sind nach wie vor Objekte der menschlichen Begierde, beide arbeiten an der Aufrechterhaltung der Illusion, die Kunst benutzt den Körper, um mit Hilfe der objektiven Realität die falschen (illusorischen) Wahrnehmungen zu entlarven, während die technische Apparatur durch ihre illusorische Bildkonstruktion für eine Erweiterung der menschlichen

260 s. Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen: Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien. Hrsg. Peter Engelmann, Wien 1997, S.95 135

Erfahrungswelt plädiert, die im Wesentlichen auf einem Anwachsen der Undurchschaubarkeit basiert.

Die Körperkunst, als Zeitzeugnis der medialen Erlebniswelt, produziert mit ihren doppeldeutigen Szenarien ebenso eine andere Welt, wie die künstlichen Realitäten der Elektronisierung. Indem sie den Körper als Material der natürlichen Welt dem Betrachter gegenüberstellt, setzt sie ihn wiederholt Wahrnehmungsreizen aus, die ihn für die Erfahrung der Unterscheidung zwischen wahrem Leben und der Simulation sensibilisieren sollen. Die Frage nach der objektiven Realität und der mechanischen Illusion werden durch die Wiederholung verstärkt, die Differenzierung zwischen fließenden Affekten, Gefühlen, Haltungen und den zurückbleibenden harten Kern des Selbst werden durch die stetigen Szenarien der Grenz- überschreitungen, zum Impuls der sich gegen den Realitätsverlust wendet.

Im Gegensatz zum Hyperrealismus der VR-Apparatur, in denen Farbe und Silhouette den Anschein als Wirklichkeit präsentieren, bedient sich die Ästhetik der Einkörperung und Entkörperung der Tiefe und des Volumens des Körpers und setzt der Flachheit, die Unergründlichkeit des Lebens gegenüber. Damit erreicht sie zwei Ziele: Die Abhebung von unüberschaubaren Feld der Anschauung innerhalb der Kunst und die Wiederbelebung der Sehnsucht nach dem Original.

3.3.2 Auswirkungen der medialen Techniken auf menschliches Handeln

„Man spricht nicht mehr vom Bewusstsein oder vom Subjekt, sondern von Regeln, von Codes, von Systemen; man sagt nicht mehr, dass der Mensch Sinn macht, sondern dass der Sinn dem Menschen zufällt; man ist nicht mehr Existenzialist, sondern Strukturalist.“261

Mit dem Eintritt in das neue Jahrtausend und der Überreizung durch die medialen Techniken werden die Grundstrukturen des menschlichen Handelns und die Zeiterfahrung des Menschen erheblich beeinflusst. Verschiedene medienphilosophische Grundpositionen konstruieren und verteidigen ihre wissenschaftlichen Ansätze gegenüber der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung. In deren Fokus stehen die menschliche Wahrnehmung und die körperlichen Reaktionen auf die Elektronisierung.

261zit. nach Bianchi, Paolo: Die Kunst der Selbstdarstellung. In: Kunstforum International. Bd. 181, 2006, S.51 136

Im Mittelpunkt der Diskussionen um die Einflussnahme auf menschliches Handeln stehen die Analysen der Kommunikationstechniken, die sich auf Interaktionsprozesse außerhalb und innerhalb des Körpers auswirken. Die verschiedenen Theorien können als unterschiedlich radikal bezeichnet werden. Das Spektrum dieser Ansätze unterstreicht den nachhaltigen Diskussionsbedarf, der sich in der Ungewissheit der weiteren Medienevolution manifestiert. Um die wissenschaftlichen Denkansätze mit den künstlerischen Entwürfen zu vergleichen ist ein Diskurs mit den bedeutendsten medienphilosophischen Einstellungen sinnvoll.

Informationstheoretischer Materialismus:

Die radikalen und provokanten Analysen des französischen Architekten und Urbanisten Paul Virilio haben die gegenwärtige Diskussion um die Vor- und Nachteile der Elektronisierung verschärft. Seine „Ästhetik des Verschwindens“262 bezieht sich auf die Auflösung der menschlichen Zeitlichkeitsstrukturen und Wahrnehmungsformen, an deren Ende eine rücksichtslose Auflösung und restlose Destruktion durch die gesamte menschlich erzeugte Medienwelt steht. Die Fatalität der postrevolutionären Mensch-Maschine-Symbiosen besteht in ihrer Strategie der Verblendung. Die ständigen Neuerungen vermehren die sinnlichen Wahrnehmungsprozesse künstlich und entfernen sie damit vom menschlichen Körper. Die Auswirkung verdeutlicht sich in der wachsenden Entfremdung von der leiblichen Identität und der steigenden Faszination für die Maschinenprothese.

Ebenso wie Virilio sieht auch Friedrich Kittler die Bemächtigung der Maschine, die in einer „strategischen Eskalation“ mündet.263 Die permanente Ausgestaltung und Einflussnahme der Medientechnologie verursacht eine Vormachtstellung der künstlichen Intelligenz gegenüber dem menschlichen Bewusstsein und seiner Handlungsbefähigung. Die technologische Aufrüstung übervorteilt die Maschinenkonstruktion, die letztlich zum Ziel hat eine künstliche Intelligenz zur Interzeption möglicher Intelligenzen im Weltraum zu erschaffen. Die Überlebens- und Strapazierfähigkeit dieser Intelligenz hat nur noch im Entferntesten mit dem

262 Mike Sandbothe zit. Virilio, In: Mediale Zeiten. Zur Veränderung unserer Zeiterfahrung durch die elektronischen Medien. Aus: Synthetische Welten: Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. Hrsg. Eckard Hammel, Verlag Die Blaue Eule, Essen, 1996,S.138

263 zit. nach Sandbothe, S.138 137 menschlichen Körper eine Gemeinsamkeit, denn in Zukunft gilt, so wird Kittler zitiert: „nur was schaltbar ist, ist überhaupt“.264

Medienphilosophischer Postmodernismus

Während Virilio und Kittler die extreme Destruktionsthese für die zukünftige Weltanschauung vertreten, werden von François Lyotard und Jacques Derrida eine weniger revolutionäre Theorie des Übergangs erläutert. In Anbetracht der Intensivierung der kommunikativen Phänomene über eine lange Entwicklungsphase kommt es zu „Transformationen der menschlichen Zeiterfahrung“ und somit zu Reaktionen und Aktionsgefügen.265 Das Anwachsen des Informationsflusses ist eine weitere Stufe innerhalb eines Modernisierungsprozesses, der von der Gesellschaft und ihren selbst hervorgebrachten Fortschritt- und Erneuerungsmodalitäten vorangetrieben werden. Die Szenarien des Übergangs werden durch technische Innovationen intensiver und nachhaltiger empfunden, haben sich aber bereits in der Vergangenheit ebenso ereignet und sind immer für Veränderungen innerhalb soziokultureller und ökonomischer Zusammenhänge verantwortlich.

Die Dramatik der Entwicklung und ihre Selbstverständlichkeit finden natürlich auch in den künstlerischen Beiträgen der Gegenwartskunst ihre Gestaltung. Damit wird nicht die Behauptung aufgestellt, dass sich Künstler und Künstlerinnen an den jeweiligen Theorien orientieren, sondern eine unbewusste Einstellungen gegenüber den Evolutionsschüben der Neuen Medien in ihren Werken veranschaulichen und sich ebenso wie die Medientheoretiker über derzeitige und mögliche menschliche Transformationen in ihren Werken äußern.

Unterschiedliche Ausblicke werden auch von den Medientheoretikern Derrick de Kerckhove und Richard Rorty entworfen. Dabei stehen die Essenzen der augenblicklichen Weltentwürfe im Mittelpunkt. Die Reaktionen auf die Informationsflut und die geschwindigkeitsbetonten Bildeinheiten können auch positive Auswirkungen hervorrufen. So vertritt der Kanadier de Kerckhove die Meinung, dass sich durch die interaktiven Multimedia- und Virtual Reality- Technologien kein dezentrierender Effekt einstellt. Sondern die Etablierung der interaktiven Virtualitätstechnologie eher einen Übergang von Visualität zur Taktilität

264 Sandbothe, S.138

265 s. Sandbothe, S.140 138 bewirken wird.266 Die Fixierung auf die visuelle Wahrnehmung wird durch die Beschleunigung der Informationen für das menschliche Wahrnehmungsgefüge erschwert. Dadurch entstehen neue Verflechtungen, gewissermaßen ein „vielheitliches strukturiertes Geflecht“, als Antwort auf die menschliche Einstellung gegenüber den umwälzenden Lebensumständen.

Die tele-technologischen Apparaturen und ihre Bildgeschwindigkeit überfordern die visuelle Wahrnehmung, dadurch werden andere Sinnesorgane wieder verstärkt aktiviert. Derrick de Kerckhove sieht gerade in der „Lichtgeschwindigkeit“ der visuellen Informationsdarbietung eine Chance für den Berührungssinn. Die Aktivierung des Tastsinns ist eine Reaktion auf die nicht mehr zu verarbeitende Bilderflut, denen das menschliche Wahrnehmungssystem ausgesetzt wird. In dieser Entwicklung manifestiert sich laut de Kerckhove der Übergang in eine neue taktile Kultur. Die Wiederentdeckung des Tastsinns beruht seiner Ansicht nach, auf dem „Bedürfnis nach Telepräsenz, das Verlangen nach Interaktivität, sowie eine völlige Umkehrung der Beziehung Mensch und Bildschirm in virtuellen Realitäten.“267

In der virtuellen Welt wird sich nach de Kerckhoves Theorie der Mensch von der visuellen Fixierung befreien und dadurch wieder lernen, wie andere Sinne die Realität wahrnehmen und für das menschliche Handeln organisieren. Um seinen Standpunkt zu untermauern fügt er an, dass gerade der Tastsinn, der Sinn ist dem der Mensch vertrauen kann, da er so wie kein anderer Sinn die Wirklichkeit markiert. Trotz den positiven Erkenntnissen, die de Kerckhove dem Cyberspace abgewinnen kann, bleibt der bittere Beigeschmack: wenn die Kopplung von visuellen und taktilen Eindrücken erfolgreich ist, kann Realität auch simuliert werden, obwohl der Körper nicht anwesend ist.

Hingegen verfällt Richard Rorty in seinem Ausblick keiner Euphorie, sondern fordert stattdessen keine Verehrung der Neuen Medien. Die Nüchternheit mit der er die Aufgaben der Informationstechnologie analysiert, bezieht sich lediglich auf die möglichen Kommunikationsebenen, die ein neuartiges Gemeinschaftsgefühl durch die weltweite Vernetzung hervorbringen können. Die Verbindungen und die sich damit ergebenen Strukturen bezeichnet er als zufällige Produkte der Zeit. Die Aufgabe der Neuen Medien sieht er in der „Schaffung einer Solidarität zwischen den

266 vgl., Sandbothe, S.146

267 Sandbothe zit. de Kerckhove, S.149 139

Menschen, die mit unterschiedlichen Vokabularen aufgewachsen sind und mit Hilfe der Medien lernen sollen, ihre Sprachen miteinander zu vernetzen.“268

Für die zeitgenössische Körperkunst sind die Neuen Medien natürlich auch ein Pool darstellender Möglichkeiten: Ein Reservoir um die Aufmerksamkeit auf die eigene Lebensform zu lenken. Die Kultur des Selbst, die körperliche Präsenz in der Kunst, ist insofern immer eine Grenzästhetik, da sie aus der Verknüpfung von privaten Empfindungen und öffentlichen Diskursen etwas Neues, Drittes, extrahiert.269

3.3.3 BodyArt -X-: Auf dem Weg zu neuen Ordnungen

Der Einzug der Medienrealität in die Alltagswelt ruft in den bildnerischen Möglichkeiten der Kunst verschiedene Haltungen hervor. Die künstlerische Grammatik bleibt von der medialen Einflussnahme nicht unberührt, konzentriert sich jedoch auf eigene Ordnungen in dem komplexen System der Informationsgesellschaft. Die Reaktionen der künstlerischen Generation, die mit der Beschleunigung der Bildwelten aufgewachsen ist, kann in verschiedene Ausprägungen unterteilt werden. Geht man von der Grundthematik des Körpers aus, so lassen sich neben den Tendenz der Gegenposition auch die Neuartikulation des Körpermotivs oder Körperobjekts erkennen.

Die Kontrasterfahrung, die der Künstler mit den Neuen Medien macht, nämlich die Zugänglichkeit und gleichzeitige Begrenztheit oder auch Spezifizität, verdeutlichen ihm sowohl die Qualitäten, als auch die Mängel dieser neuen Interaktivität. Die Beschleunigung der Prozessoren ist für die Sensoren des menschlichen Körpers nicht mehr zu erfassen. Die motorischen und psychischen Potenziale wachsen nicht mit den Anforderungen der neuzeitlichen Bildverarbeitung. Der Körper stellt sich in gewisser Weise auf die Geschwindigkeit der Bilder ein, indem er selektiert und einen Großteil der Informationen nicht ansammelt, sondern nur für ihn bedeutende, herausragende Informationen im Gedächtnis abspeichert. Die Datenflut führt in erster Linie zu einem größeren Umfang von Gedächtnismüll; Informationen, die registriert aber nicht als speicherungswürdig eingestuft werden. Die körperliche

268 Sandbothe zit. Rorty, ebd., S.152

269 vgl. Bianchi, Paolo: Die Kunst der Selbstdarstellung. In: Die Kunst der Selbstdarstellung. Kunstforum International. Bd. 181, Juli-Sept. 2006, S.55 140

Verarbeitungskapazität hat bereits ihr Limit erreicht und entwickelt lediglich effektive Methoden des Selbstschutzes, um die Informationsströme zu bewältigen. Die Abgestumpftheit gegenüber dieser Strategie der Sortierung und der täglichen Enthüllung von Wichtigkeit und Banalität, erkennt auch die Kunst und setzt als konträre Erfahrung, die Trägheit zur Aufmerksamkeitssteigerung ein.

Gegenüber der Hypergeschwindigkeit lernt der Betrachter die Trägheit, sozusagen die Aufwertung der Langsamkeit neu zu schätzen.270

Auch die Hinwendung zur Besonderheit gegenüber der beliebigen Wiederholbarkeit ist erkennbar. Ebenso rücken Verlässlichkeit und Konstanz, sowie Materialität und somit die Würdigung des verletzlichen aber kraftvollen Körpers in den Vordergrund. Der Perfektion des Immateriellen wird eigentlich nur das Traditionelle oder Bewährte entgegengesetzt. Kein neues Prinzip, sondern eine Wiederbelebung oder im Sinne des gegenwärtigen kulturellen Trends: Ein nostalgisches Revival. Dabei arbeitet die Kunst mit dem strategischen Moment, von dem auch die Perfektion der virtuellen Bildwelt nicht gefeit ist - die Sehnsucht nach Abwechslung. Denn die Nonstop- Perfektion läuft auch Gefahr langweilig zu werden und hat dem künstlerischen Spurwechsel im Rahmen kurzfristiger Aufmerksamkeit nichts zu entgegnen. Das demonstrative Festhalten an der „Andersheit“, der Ruhe, den „Zonen der Unterbrechung“, die gegen die Dauererregung arbeiten, ist die künstlerische Antwort auf eine Überreizung. Welsch bezeichnet diese bewusste Reduzierung der künstlerischen Mittel als Post-Minimalismus, wobei der Effekt auf der Seite „des Übersehenen“ anzusiedeln ist.271

Jene Körperkunst, die mittels neuer Medien bestimmte Haltungen und Erkenntnisse vermitteln möchte, arbeitet mit Schnittstellen herkömmlicher und elektronischen Kunstformen, um den Dialog zwischen den Welten zu thematisieren. Häufig realisieren sie ihre Kunstwerk ganz dicht am gesellschaftspolitischen Geschehen und integrieren die allgemeine Faszination gegenüber der elektronischen Bildwelt, die ein Indiz für den „sehnsüchtigen und unbefriedigten Körper“ impliziert. Dabei bestimmt Komplementarität die Orientierung der Neuartikulation innerhalb der Kunstschöpfung: „Den technologischen Druck nicht vollständig nachgeben, sondern weiterhin misstrauisch sein [...] den Bedürfnissen nach Gegenwerten nachgeben“,

270 s. Welsch, S.175

271 Welsch, S.189 141 die künstlichen Paradiese genießen aber auch die Dinge hinterfragen und sich die natürliche Skepsis erhalten.272

Exkurs: Körperkunst zwischen „Sinnereignis und Sinnkatastrophe“273

Kunstwerke sind grundsätzlich in der Lage emotionale Instabilitäten zu erzeugen, dass bedeutet die Wahrnehmung des Betrachters auf eine spezifische Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die alltäglichen Wahrnehmungen werden durch das Nervensystem verarbeitet und je nach biologischen und geistigen Potenzial des Menschen in Handlungen bzw. Aktivitäten umgesetzt. Künstlerische Projekte, die sich am Leben und den kulturellen Entwicklungsprozessen orientieren, registrieren das stärker werdende Verlangen des Menschen nach Katastrophen, die im Prinzip wie ein „Sinnbruch“ die Wahrnehmung unterbrechen und einen Zustand der erhöhten Aufmerksamkeit und des Abwartens bewirken. Die permanente Bilderflut fördert nach Jeudy den kollektiven Voyeurismus, der stellvertretend im Spiel der Emotionen, den Menschen blind macht für die Ereignisse.

Kunstwerke, die mit der Strategie des „Sinn-Bruchs“ arbeiten, setzen diesen „Angriff auf das Weltgleichgewicht“ in ihrer Konzeption um und realisieren durch das Prinzip der Angst oder des Unheils einen Stillstand, der die Passivität auflöst und durch die erlebte Furcht, die Lähmung zwar bewusst werden lässt, jedoch von dem Willen zur Aktion abgelöst wird.274 Das Prinzip der Einkörperung, dass Damien Hirst mit seiner Installation „The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living“ (1991) mit der Konservierung eines Tigerhais wirkungsvoll einsetzt, beinhaltet gleich mehrere Komponenten, die den Sinn-Bruch, als Effekt der Wahrnehmungs- intensivierung durch Instabilität verdeutlichen.275 Der Tigerhai ist aus seiner natürlichen Umwelt entnommen, die Authentizität ist erschreckend, die künstlerisch erzeugte Nähe lässt den Betrachter erstarren und für einen Augenblick innehalten. Die Konfrontation mit einem Lebewesen, welches ansonsten Angst und Hysterie auslösen würde, führt zu einem Zustand des Verharrens und der Faszination. Die

272 s. Welsch, S.179

273 s. Jeudy, Henri-Pierre: Sinnereignis und Sinnkatastrophe. In: Strategien des Scheins,1991, S.248

274 s. Jeudy, S.255

275 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.7 142

Faszination ist ambivalent, sie beruht auf der Doppeldeutigkeit von Angst: Die Sehnsucht nach dem Unbekannten und die damit verbundene Erotik der Todesnähe (Passivität= bedingungslose Hingabe). Da ist der Überlebenswille, der an die Erkenntnis der Situation und die damit verbundene kontrollierte Aktivität/Handlung gebunden ist. Die museale Einkörperung des Tigerhais figuriert die Hysterie der Medienbilder von Schrecken, die für den Betrachter jedoch erträglich gemacht wird, indem sie ihm einerseits den Status des Außenstehenden sichert und andererseits seine Begierde befriedigt noch Handelnder zu sein, auch wenn dies nur noch Täuschung ist.276

Der Sinn-Bruch wurde bereits von den Avantgarden der Moderne benutzt, um gängige Vorstellungen der Kunst zu durchbrechen und andere Bildkonstruktionen und ihre Aktualität zu etablieren. Sinn-Bruch ist immer ein Instrument, das mit Modernität und Umwälzung verbunden wird, da er den Zustand des lebensnotwendigen Gleichgewichts (Äquilibration) destabilisiert. Der Künstler verfolgt mit dieser Form der kritischen Gewalt (Moment der Instabilität) am Körper durch den Körper (Einkörperung), das Verlangen Sinn zu machen und ihn zu hintertreiben.

Mit der Integration von Körpern oder Körperfragmenten in Kunstwerke verursacht die BodyArt-X- ein kurzzeitiges emotionales Chaos. Die Kontrolle des Körpers durch die Kunst beschneidet die Sehnsucht nach Freiheit und uneingeschränkter Aktivität, der Bewegungsdrang wird konserviert und erzeugt Unsicherheit. Der Anblick des menschlichen Körpers in einer unangenehmen Situation wirkt sich auf die reflexiven Denkprozesse aus; richtet sich sowohl an die Eigenaktivität von handelnden Systemen, als auch an die Abwägung zur Passivität zum Schutz der eigenen Persönlichkeit. Die bewusste Provokation von Bedürfnis und Motivation sind notwendig für intelligentes Handeln, welches die Fähigkeit bedeutet in einer hochkomplexen Umwelt komplexe Handlungen durchführen zu können. Natürlich nutzen Künstler auch die Technik der virtuellen Realität, um die imaginären Fähigkeiten des Menschen zu erweitern. Vor allem ist der Künstler ein Schöpfer künstlerischer Welten und macht es sich zur Aufgabe neue Welten zu gestalten. Insofern ist der Künstler der Erzeuger eines schöpferischen Chaos, indem er gezielt

276 vgl., Jeudy, S.248 143 emotionale Instabilitäten auslöst, damit „starke Schwankungen oder kritische Fluktuationen für die Entstehung neuer Ordnungen“ sorgen.

Die Fähigkeit zu destabilisieren, obliegt dem künstlerischen Eindruck, dadurch entwickeln sich neue Lebenskonzepte, Sinneseindrücke und Erlebniszustände.277

Die Wechselwirkung zwischen Kunstwerk und Betrachter rücken in das Zentrum der Kunstproduktion: Fixierungen sollen durch die Natur der Instabilitäten vermieden werden, so Hermann Haken, da häufig auftretende Reize eventuell zur Ermüdung oder Gewöhnung in der Wahrnehmung führen können. Die Suche nach Differenzen basiert auf dem menschlichen Bedürfnis in andere Wirklichkeiten einzutreten, um die gegebene Welt ästhetisch zu verbessern. Die Störungsmomente der gewohnten Wahrnehmungen tragen entscheidend dazu bei, welche Denkmuster sich ausprägen und schließlich Handlungsänderungen hervorrufen. Die zeitgenössische Körperkunst arbeitet mit methodischen Objekten, deren Wahrnehmung ästhetische Erlebnisse auslösen. Dabei nutzen Künstler die Arbeitsweise des Gehirns, welches darauf ausgerichtet ist, auffallende Informationen zu erfassen und extreme Augenblicke der sinnlichen Erfahrung zu speichern. Die rapiden Bildsequenzen der Gegenwart unterscheiden sich sehr stark von einem statischen Bild, beispielsweise in Form eines Objektes oder einer Installation, die natürlich deshalb schon mehr Aufmerksamkeit erhalten. Die Präsentation des Körpers in Verbindung mit der Strategie der Irritation erzeugt nicht selten eine Überforderung bei der Informationsverarbeitung, ist aber für die Entstehung eines „Aha-Erlebnis“ eine wesentliche Voraussetzung.278

277 Haken, Hermann: Kunstwerke rufen Instabilitäten hervor. In: Vom Chaos zur Endophysik. Hrsg. v. Florian Rötzer, Klaus Boer Verlag, München 1994, S.62

278 Franke, Herbert W.: Informationstheorie und Ästhetik. In: Vom Chaos zur Endophysik, S.401 144

3.4 Grenzästhetik – Erkenntnis als Handlungsbefähigung

In der Biologie und der Wahrnehmungspsychologie lässt sich die Aufmerksamkeit als Warn- und Konzentrationssystem definieren, welches das Leben eines Organismus oder einer sozialen Gruppe sichert, in dem es auf abweichende, unbekannte und wichtige Signale von außen und innen verweist. Die Kunst, die sich auf den Körper bezieht und thematisch in den Mittelpunkt stellt, übernimmt mit dem wieder entdeckten Aufmerksamkeitsfaktor ein maßgebliches Prinzip der Informationsgesellschaft.

Der Organismus sucht nach Reizen, denen er sich zuwenden oder die er vermeiden möchte. Die Informationen, die ihm durch seine Umgebung zur Verfügung gestellt werden, rufen Reaktionen hervor. Auf neue Informationen, d.h. bisher nicht wahrgenommene Datenmengen, reagiert der Organismus mit Bewertung und mit gespeicherten Erinnerungen, die er benötigt um Vergleiche herzustellen und seine Handlungen abzusichern. Bei der Betrachtung von Kunst befindet sich der Organismus in einem aktiven Wahrnehmungsprozess, an dem der ganze Körper beteiligt ist.279

Sozialität und Leiblichkeit bedingen sich gegenseitig und können natürlich auch in einer Kunstform bzw. einer spezifischen Ästhetik thematisiert werden. Die Betrachtung von Kunst und der Erkenntnisgewinn stützen sich auf die biologischen und psychologischen Grundlagen des sozialen Verstehens und der daraus resultierenden Handlungsbefähigungen. Der anschließende Exkurs verdeutlicht die Zusammenhänge.

Wissenschaftlicher Exkurs:

Der Mensch handelt vorwiegend aus pragmatischen Erwägungen und Motiven, aber schon in der natürlichen Einstellung legt sich der Mensch seine Lebenswelt bis zu einem bestimmten Grad aus. Diese Interpretation der lebensbedingten Situationen gründen in einem Wissensvorrat, der sich sowohl aus eigenen Erfahrungen als auch aus Überliefertem gebildet hat. Der Erfahrungsvorrat ist strukturiert, so wie die gemeinsame Lebenswelt historisch strukturiert ist. Käthe Meyer Drawe erklärt diese sinnhafte Konstruktion durch die körperliche Verfassung: „Die anderen sind wie ich

279 vgl. Rötzer. In: Digitale Weltentwürfe, S.108 145 körperlich verfasst, und diese Körper sind mit einem Bewusstsein ausgestattet, das mit dem meinen vergleichbar ist.“280 Schmitz äußert zur konstitutiven Phänomenologie die These der natürlichen Einstellung. Das –Ich- geht in seiner natürlichen Einschätzung davon aus, dass auch die Mitmenschen aus ähnlichen Motiven Handlungen vornehmen, wie das Individuum selbst und das ihnen ihre Umwelt ebenso begegnet.281

Das soziale Handeln des Individuums beruht letztlich auf einer Betonung der subjektiven Sinndeutung und ist in einem egozentrierten –Ich- begründet. Reagieren und körperliches Handeln verweisen auf den Überlebenswillen des Menschen. Dabei ist das Leben auf die Koexistenz mit anderen ausgerichtet. Da der Andere in gewisser Weise eine Sicherheit des eigenen Handelns reflektiert: Er erscheint ebenso als leibliches Wesen, welches ein äußeres Verhalten zeigt. Soziales Handeln in der lebensbedingten Gemeinschaft ist ein „Ineinandergreifen von Existenzen, ein Miteinander zu tun haben.“282(Ortega y Gasset)

Der Körper des Anderen in seiner radikalen und unbestreitbaren Wirklichkeit appelliert an ein Verspüren der Innenwelt des Anderen, durch die gemeinsame Wirklichkeit, die jeder Mensch nur bei sich selber unmittelbar kennt. Die Ausdruckskraft des menschlichen Organismus in der zeitgenössischen Body Art integriert diesen Wahrnehmungsautomatismus in ihre Körper-Konzepte. Das Hineinversetzen in den Anderen, als Reaktion auf die gefährdete Selbstidentität wird als ästhetisches Prinzip der Einkörperung inszeniert. Jedes soziale Handeln zeigt zugleich öffnende und destrukturierende Tendenzen, zum Beispiel in dem „Abbau von Fremdheit und Domestizierung der Andersheit.“ Damit vollzieht sich in der Kommunikation mit dem Anderen zugleich eine „Eröffnung und Verschließung.“ Kommunikation bedeutet hierbei „nicht Verstehen des Anderen, sondern Verständigung, Aushalten von Fremdheit und Durchsetzen der Eigenheit.“283

Im Vordergrund steht immer die Erhaltung und Sicherung der Selbstidentität. Das Individuum kann sich zwar von seiner Sozialwelt abwenden, bleibt aber in Bezug zu ihr strukturiert. Merleau Ponty macht in seinem Konzept des Egos die Entfaltung des

280 vgl. Meyer- Drawe, Käthe: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. Wilhelm Fink Verlag, 2.Auflage, München, 1987, S.120f

281 Drawe zit. Schmitz, S.120

282 zit. nach Drawe, S.127

283 vgl., ebd. S.153 146

–Ich- als Entwicklung von Sozialität deutlich. Der Mensch versteht sich selbst in seinem Handeln und Erkennen als Bewusstsein, „da sich unsere Leiblichkeit im Vorbewussten hält, als vorreflexive Bedingung der Wirklichkeit unserer Vollzüge. „Die leibliche Verbundenheit mit dem Anderen zeigt sich in der Verwundbarkeit durch den Anderen.“284

Als Resümee daraus kann folgendes formuliert werden:

Der Erkenntnisprozess wird durch das Leibliche verstärkt. Die Demonstration des Körperlichen ist in der Lage zu berühren, zu verletzen und soziales Handeln auszulösen. Die BodyArt-X- überträgt die Konzepte und wissenschaftlichen Ansätze der Erkenntnisgewinnung sowie die Auslösungsmomente des sozialen Handelns auf ihre Grenzästhetik. Deren offensive Darstellung soll ein menschliches Agieren, durch eine Zurschaustellung des Quasi-Ichs in einer übertriebenen (kunstvollen) Situation herbeiführen.

3.4.1 Von Angesicht zu Angesicht: Ästhetische Rezeption und Erkenntnistheorie

Jean Piaget untersucht die Genese der kognitiven Erfahrungen. Dabei wendet er sich gegen die statischen Reiz-Reaktions-Schemata. Piaget vertritt die Auffassung, dass der Erkenntnisprozess und seine organisierten Strukturen allmählich aufgebaut werden. „Dabei richtet sich die differenzierende Tätigkeit des Subjekts auf eine Realität, die keine Wirklichkeit an sich, sondern eine durch die epistemische Arbeit des Erkennenden vermittelte Realität ist.“285

Das erkennende Subjekt organisiert seine Welterfahrung, indem es seine Erkenntnisstrukturen an die Realität anpasst. (Akkomodation/ Entkörperung)

Exkurs zur Wahrnehmung:

Die technischen Neuheiten der Informationsgesellschaft überfordern die Wahrnehmungsstrukturen (gleichzeitig Erkenntnisstrukturen des Organismus), die sich im Laufe der Entwicklung an die Impulse und Reize der fortschrittlichen Elektronisierung gewöhnen. Die Aufnahme und Verwertung der lebensnotwendigen

284 Meyer-Drawe zit. Merleau Ponty, S.150

285 Meyer-Drawe zit. Piaget, S.164 147

Informationen stellen dabei einen Prozess der Akkomodation dar. Das Subjekt reagiert mit Anpassung seiner körperlichen Verfasstheit auf die Objektstruktur der Außenwelt und bewertet identitätserhaltende Erfahrungen durch ein Prinzip der Gleichgewichtsfindung.

Dabei werden die bisherigen Erfahrungen in Form einer konstruierten Realitätsauffassung ständig modifiziert, indem das Subjekt seine Erfahrungen aufgrund der Bewertung der einströmenden Information intern umgestaltet (Assimilation). „Wenngleich in sich antagonistisch, so bewegt sich diese gesamte Genese der Rationalität auf einen Punkt zu, nämlich auf den Zustand, indem ein Gleichgewicht zwischen Akkomodation und Assimilation herrscht.“286 Das Ziel des Subjekts ist die Gleichmäßigkeit dieser beiden Prozesse, die für ein körperlich wahrnehmbares Wohlgefühl sorgen.

Exkurs zur Verarbeitung des Wahrgenommenen:

Die ständige Verarbeitung von Informationen beeinträchtigt den Zustand des Gleichgewichts zwischen Akkomodation (Entkörperung) und Assimilation (Einkörperung). Die Genese der Rationalität bewertet die Außenwelt (Realität) und verstärkt, je nach Bewertung, die Umgestaltung der internen Erfahrungen (Assimilation/Einkörperung). Die Voraussetzung für diese Modifikation der bisherigen Erfahrungen ist natürlich die körperliche Anpassung (Akkomodation/Entkörperung) an die Außenwelt (Realität).

Dieser antagonistisch ablaufende Erkenntnisprozess wird demnach als Adaption durch Selbstregulierung von Piaget gedeutet. Dabei versteht Piaget die Konstruktion der Erfahrungsstrukturen als aktive Komponente, während die Interaktion in seinem theoretischen Ansatz der Erkenntnisgewinnung eher als passive Wechselwirkung zu bewerten ist. Trotz der interaktiven Beziehung zu Mithandelnden und Objekten seiner Umgebung, bleibt das Subjekt fundierender Modus der Realitätsauffassung.

Exkurs zur Handlungsbefähigung:

Die Handlungen und der Sinn der Verhaltensänderungen konstituieren sich gewissermaßen in einem aktuellen Feld, in der Begegnung von Handelnden und Mithandelnden im Hinblick auf die Gegenstände, mit denen agiert wird. Kunst, die den Körper konzeptuell integriert, schafft eine verstärkte Wechselwirkung von

286 s. Meyer-Drawe, S.165 148

Akkomodation und Assimilation. Die demonstrierte Anpassung (Akkomodation) des Subjekts (Körpers) ist im Kunstwerk bereits vollzogen.

Das agierende Subjekt (Betrachter) befindet sich jedoch noch in der Phase der Assimilation (Bewertung und Umgestaltung) als Vorstufe der eigenen Anpassung (Entkörperung).

Der vollständige Intelligenzakt und damit die höchste Form moralischen Urteils ist dann erreicht, wenn Assimilation und Akkomodation in einem mobilen oder auch stabilen Gleichgewicht stehen. Jean Piaget benennt natürlich auch Faktoren, die dieses angestrebte Ziel stören:

„Die Assimilation gefährdet dieses Gleichgewicht dann, wenn sie durch Überbetonung subjektiver Interessen, gegenüber den objektiven Merkmalen [...] der Dingwelt überwiegt. Umgekehrt wird das Gleichgewicht durch Dominanz der Akkomodation dann gestört, wenn die objektive Wirklichkeit nur als Modell fungiert und die Assimilationspläne nicht wirklich modifiziert.“287

Exkurs zur Erkenntnis

Der Erkenntnisprozess des Subjekts kann gestört sein, wenn sich das Gleichgewicht zwischen Umgestaltung und Anpassung nicht einstellt. Dabei spielt die Bewertung und Umgestaltung der Erfahrungsstrukturen (Assimilation) eine wesentliche Rolle. Erfolgt die Umgestaltung ohne eine ausreichende Bewertung der objektiven Merkmale, so orientiert sich die Realitätsauffassung zu sehr an subjektiven Interessen und ist nicht mehr im Einklang mit der Dingwelt und den Mithandelnden.

Erfolgt die Akkomodation (Anpassung) an die objektive Dingwelt, ohne ausreichende Bewertung und Modifikation der internen Erfahrungsstrukturen, überwiegt ebenso ein Ungleichgewicht zugunsten einer Anpassungsleistung, die nicht im Einklang mit der eigenen (internen) Realitätsauffassung entstanden ist.

Für Piaget beginnt das Bewusstsein bei einer unbewussten und integralen Ich- Bezogenheit. Während die Fortschritte der sensomotorischen Intelligenz zur Erstellung eines objektiven Weltbildes führen, in dem der eigene Körper als ein

287 Meyer-Drawe zit. Piaget, S.169f 149

Element unter anderen wirkt, dem steht das im eigenen Körper lokalisierte Innenleben gegenüber.288 (Piaget 1972)

3.4.2 Die Prozesse der Äquilibration nach Piaget

Piaget führt das Gleichgewicht der kognitiven Systeme auf eine Vielfalt von Unausgewogenheit und Wiedereinstellungen zurück. Die kognitiven Systeme sind wie die Organismen gleichzeitig in einer Richtung offen (Austauschvorgänge mit der Umwelt) und in einer anderen Richtung geschlossen. Dieser wechselseitige Zusammenhang zwischen der Differenzierung und der Integration führt demnach zu qualitativ unterschiedlichen Gleichgewichtszuständen.289

„Falls eine äußere Störung eintritt [...] folgt daraus, dass entweder diese Erhaltung des Ganzen unmöglich wird, worauf der Organismus stirbt, oder eine kompensierende Modifikation zustande kommt, worauf es bei einem Organismus zu einer Anpassung mit Überleben und bei einem kognitiven System zu einem neuen Gleichgewicht kommt.“290

Dieser von Piaget beschriebene Gleichgewichtszustand, der im Ernstfall eine Garantie des Überlebens ist, kann differenziert als individueller Erkenntnisprozess bezeichnet werden. Die Austauschprozesse in Form von Differenzierung und Integration unterstützen die Wiederherstellung des Gleichgewichts, setzen aber eine Verarbeitung und Wertung der Informationen (außerhalb und innerhalb des Körpers) voraus.

Jean Piagets Theorie der Äquilibration basiert auf zwei Postulaten, die zugleich verdeutlichen welche Abläufe innerhalb der kognitiven Strukturen erfolgen, wenn der Organismus auf unbekannte oder störende Einflüsse reagiert:

1. „Jedes Assimilationsschema hat die Tendenz zu wachsen; d.h. sich die Elemente einzuverleiben, die ihm äußerlich und mit seiner Natur verträglich sind.“

288 zit.n. Meyer-Drawe, S.169

289 vgl. Piaget, Jean: Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Ernst Klett Verlag Stuttgart, 1976, S.11f

290 ebd., S.12f 150

2. „Jedes Assimilationsschema ist gezwungen, sich an die Elemente zu akkomodieren, die es assimiliert, d.h. sich entsprechend ihren Besonderheiten zu verändern [ ...] je nach Akkomodation an äußere Gegenstände oder an andere Schemata können diese Veränderungen exogen oder endogen sein und sehr unterschiedliche Anteile an Transformationen enthalten.“291

Das bessere Gleichgewicht führt Piaget auf den Vorgang einer „majorierenden Äquilibration“ zurück. Nach seiner Schlussfolgerung „kann man aber unmöglich auseinanderhalten, was bei diesen majorierenden Äquilibrationen von den Kompensationen, d.h. von der Äquilibration als solcher herrührt und was von Konstruktionen im eigentlichen Sinne des Wortes kommt, die sich in neuen Kompositionen oder in der Ausweitung des Bereichs äußern und die im Prinzip aus spontanen Initiativen des Subjekt oder aus zufälligen Begegnungen mit den Objekten der Umwelt hervorgehen können.“292

Die ineinander greifenden Prozesse der Assimilation und Akkomodation sind aufgrund dieser Erkenntnisse keine unterschiedlichen Verhaltensweisen, sondern bestehen in einer gewissen Abhängigkeit zueinander, mit dem Ziel einer Gleichgewichtsverbesserung. Das bedeutet einer gemeinsamen Ausrichtung gegenüber inneren und äußeren Ungleichgewichten, die durch die kognitiven Strukturen registriert werden.

Die Registrierung von Störfaktoren führt zu dem Einsetzen dieser eng miteinander verbundenen Prozesse. Dabei „spielt die neue Assimilation offensichtlich die Rolle der Konstruktion (Ausweitung des Bereichs des Schemas, Einführung neuer Glieder in den Zyklus usw.) und die neue Akkomodation diejenige der Kompensation (neue Einpassung der unvorhergesehenen Eigenschaften des Objekts durch Reziprozität oder Inversion), wobei diese Ausrichtungen in einem unauflösbaren Ganzen miteinander verbunden sind.“293

Konkret lässt sich formulieren, dass die Verbindung der Konstruktionen und der Kompensationen verantwortlich ist für die Mäßigung von bemerkbaren Ungleichgewichten. Alltägliche Konfliktsituationen zwischen Aktionen des Subjekts

291 Piaget, S.14f

292 Piaget, S.45

293 ebd., S.46 151 und dem offensichtlichen Widerstand des Objekts werden durch die Wechselwirkungen und gegenseitige Beeinflussung eingeschränkt. Die Notwendigkeit der Äquilibration für das Überleben des Subjekts beruht darauf, dass Konstruktion (Assimilation) und Kompensation (Akkomodation) nicht voneinander getrennt werden können, „denn damit das Ganze bei jeder Veränderung die Teile erhält und umgekehrt, muss gleichzeitig eine Erzeugung und eine Erhaltung stattfinden.“294

3.4.3 Assimilation und Akkomodation als ästhetische Prinzipien der Body Art

Die Thematisierung dieser ständig aber unbewusst ablaufenden Differenzierungs- und Integrationsprozesse eines Subjekts, kann auf die Einkörperungs- und Entkörperungsästhetik der zeitgenössischen Body Art betragen werden. Die Konfliktsituationen zwischen betrachtendem Subjekt und Körper-Objekt im Zusammenhang mit einer künstlerischen Installation, sind sowohl Aufmerksamkeitsfaktor als auch Störfaktor, welche die kognitiven Strukturen des betrachtenden Subjekts mit einer bekannten und gleichsam befremdlichen Situation konfrontieren. Die Kunst konstruiert in den Gegensätzen des Gezeigten, nämlich in der positiven Anziehung der Körperdemonstration und in der teilweise abstoßenden Körperbehandlung, zwei elektrische Ladungen mit entgegengesetzten Vorzeichen. Aus dieser entstehenden Spannung bezieht die BodyArt-X- ihre Besonderheit. Ähnlich wie bei der Erklärung Piagets zu der Wechselwirkung der Elemente bei der kognitiven Äquilibration, bedingen Anziehung und Abstoßung eine gegenseitige Erzeugung, die zur Bewusstwerdung von Ungleichgewichten und zur Beseitigung dieser führen.

Natürlich sind die Reaktionen bzw. Kompensationen immer abhängig von dem betrachtenden Subjekt. Die Reaktion des Betrachters beruht auf der individuellen Auffassung und Verarbeitung gegenüber dem Gezeigten. Dadurch ergibt sich ein psychologischer Mechanismus, der je nach subjektiver Empfindung die wahrgenommenen Störungen auf unterschiedliche Art reguliert. Aus der

294 s. Piaget, S.47 152 individuellen Regulierung gehen verschiedene Verhaltensweisen hervor. Piaget beschreibt diese wie folgt:

1. Die erste Verhaltensweise, „[...] ist durch das Fehlen der Retroaktionen und Antizipierungen charakterisiert, die dazu nötig wären, um äußere Störungen zu integrieren – deshalb erfolgt eher ein tastendes und schrittweise vorgehen, welches darauf abzielt, diese Störungen aufzuheben oder ihre Wirkungen beiseite zu schieben.“ (Ignoranz/Unwissenheit)

2. „Bei den Verhaltensweisen des zweiten Typs ermöglichen retroaktive Prozesse teilweise Umformungen [...] bis zu einer Neutralisierung der Störung durch eine Integration, die sie dem System einverleibt.“ (Kompensation/Einkörperung)

3. „die Verhaltensweisen des dritten Typs verallgemeinern schließlich diese Antizipierungen und Retroaktionen in Form direkter und inverser operativer Kompositionen [ ...] Was ursprünglich Störung war, wird folglich als innere Transformation des Systems vollständig assimiliert.“295 (Neukonstruktion/Entkörperung)

Diese unterschwellig ablaufenden Prozesse innerhalb des menschlichen Organismus lassen sich auf die künstlerischen Konzepte der BodyArt-X- übertragen. Die von Piaget beschriebenen Prozesse der Äquilibration erhalten in der Ästhetik der zeitgenössischen Körperkunst eine Form, die aus den Kompensationen zwischen Affirmation und der Negation struktureller Veränderungsprozesse resultieren. Die Kunst, die sich in spezieller Weise mit dem Körper und seinen unmittelbaren Anpassungsleistungen auseinandersetzt, konkretisiert diese dauerhaften Entwicklungsstufen als Differenzierung und Integration. Letztlich verdeutlicht die Repräsentationsmethodik der BodyArt-X- den formalen Prozess der Äquilibration. Dabei versteht sich der Künstler oder die Künstlerin nicht als Konstrukteur des Gleichgewichts, sondern vielmehr als Schöpfer neuer Relationen und Denkwerkzeuge, die sich in der Behandlung und Ästhetik des Körpers widerspiegeln.

295 s. Piaget, S.73 153

Die Darstellung oder Behandlung des Körpers als integriertes, beobachtbares Element im Kunstwerk wird zu einem wahrnehmbaren Inhalt. Das Kunstwerk ist in erster Linie für den Betrachter ein Objekt, ein Gegenstand mit „wahrnehmungsmäßigen Inhalt“.296 Mit der symptomatischen Präsentation, d.h. der künstlereigenen Aussage im Werk, erzeugt das Kunstschaffende eine beobachtbare Form (Tatsache) der Bewusstwerdung. Diese Bewusstwerdung wird durch den wahrnehmungsmäßigen Inhalt getragen und dem Betrachter als regulierende situative Begegnung angeboten. Die Konfrontation mit dem Bekannten in Form des Körpers/Lebewesens verstärkt beim betrachtenden Subjekt die Suche nach Eigenschaften mit qualitativer Bedeutung. Die regulierende Wirkung der Bewusstwerdung erfolgt durch die „Notwendigkeit zu einer Neuanpassung“, wie sie von Piaget bezeichnet wird und zugleich auf die Ästhetik der BodyArt-X- übertragen werden kann. Aus dem Blickwinkel der Assimilation gesehen wird und muss es immer Gründe geben, weshalb das Subjekt den beobachteten Gegenstand zuerst auf genaue oder verformende bzw. unvollständige Weise aufnimmt. Und dann stellt sich erst der wesentliche Moment ein, „durch welche Regulierungen ein Gleichgewicht zwischen den assimilatorischen Formen und dem Inhalt, an den sie sich akkommodieren müssen, ausgebildet wird“.297

In der Kunst der BodyArt-X- werden diese Regulierungen sowohl inhaltlich, als auch im Rezeptionsverhalten des betrachten Subjekts deutlich. Der menschliche Körper oder erkennbare Teile des Organischen erzeugen einen höheren Aufmerksamkeitsgrad als die abstrakte Form. Die Wiedererkennung ist bereits Teil der Kompensation des Wahrgenommenen. Durch den bewussten Einsatz von Störfaktoren, die zum Beispiel in unvorhersehbaren Eigenschaften und Unterschieden zur Normalität beruhen können, fordert die Kunst vom Betrachter eine starke Akkomodation. Und so läuft die Kompensation darauf hinaus, die Hindernisse zu beseitigen oder sie im Rahmen des Möglichen zu integrieren. Durch das Kunstwerk erreicht der Kunstschaffende die Bewusstwerdung und somit die Vorstufe der Regulierung. Diese kann der Rezipient auf die jeweilige Situation (Ausstellung) aber auch auf die Allgemeinheit übertragen.

296 s. Piaget, S.132

297 s. Piaget, S.133 154

Die intensive Auseinandersetzung mit den beobachtbaren Tatsachen in Form der Körperkunst, fordert im Idealfall vom betrachtenden und verarbeitenden Subjekt das Hervorgehen des differenzierten Neuen. Die BodyArt-X- versinnbildlicht gewissermaßen durch die Ästhetik der Ein -und Entkörperung diese permanent ablaufenden Prozesse der Differenzierung bzw. Integration und bezieht sie absichtlich auf die Wahrnehmung und Entwicklung des Körpers im gegenwärtigen Weltgeschehen. Dieser Übergang von den Zuständen des Körpers zu Transformationen mit Erhaltungscharakter wird ästhetisch thematisiert. Die bewusst eingesetzten Störfaktoren sind Ursprung der Regulierungen, deren Feedback zu Retroaktionen zwingen. Diese sollen die Einstellungen des Denkens auf die Veränderung des Gezeigten verlagern.

3.4.4 BodyArt-X- als Äquilibrationsform

Der Prozess des Erkennens ist nach Piaget eine aktive Transformation durch das Erkenntnissubjekt, nicht ein passives Registrieren von unmodifizierten Ereignissen.298 Die Körperkunst der Gegenwart kombiniert Bekanntes mit dem Faktor des Fremden. Das Fremdartige kann als Störfaktor aufgefasst werden, der die Interaktion zwischen dem Subjekt und dem Objekt in Gang setzt. Dieser Austauschprozess zwischen der Assimilation der gezeigten Objekte, als auch ihren Aktionsschemata und zwischen der Akkomodation dieser Aktionsschemata an die Objekte, ist eine Form der Äquilibration.

Das künstlerische Objekt ist notwendig für den Ablauf einer Aktion, die durch das Subjekt vollzogen wird. Und umgekehrt verleiht das Assimilationsschemata dem Kunstobjekt seine Bedeutung, indem dieses Dank der Aktion transformiert wird: Assimilation und Akkomodation bilden somit ein Ganzes und schaffen den Ansatz zu einer gegenseitigen Erhaltung.

Die Einkörperung ist der Vergleich mit diesem alltäglichen Prozess der Assimilation. Der Anspruch mit seiner Umwelt zu wachsen, fordert die kognitiven Strukturen des Organismus zu einer stetigen Überprüfung des Gleichgewichtszustands auf. Dabei spielt die künstlerische Objektivierung eines „integrierten Körpers“ auf den

298 s. Weingarten, Michael: Organismen - Objekte oder Subjekte der Evolution? Philosophische Studien zum Paradigmenwechsel in der Evolutionsbiologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S.237 155 andauernden Prozess zwischen Differenzierung und Integration an. Die Integrierung zu einem Ganzen ist in diesem Fall eine Sache der Assimilation, und die Differenzierung erfordert Akkomodation; am Ende steht eine gegenseitige Erhaltung des Ganzen und damit auch des Körperlichen.299

Die BodyArt-X- greift dieses Stoffwechsel-Prinzip auf und fordert in der Darbietung der andauernden Transformation, die Eigenaktivität des Betrachters heraus. Durch die Körperperformance wird das betrachtende Subjekt mit der Funktion und Organisation des Körpers konfrontiert. Die kontinuierliche Transformation, deren Inhalt sich im Austausch mit der Außenwelt (Neue Medien, Virtuelle Realität) fortwährend erneuert, hält die Interaktion aufrecht und gewährleistet die sukzessiven Regulationen. Die provozierten Handlungsweisen, die durch das Erkennen zustande kommen, erfolgen dann im Zuge der Äquilibration durch die vom Subjekt selbst vollzogenen Assimilationen und Korrekturen.

Exkurs: Einkörperung als Sinnbild der Kompensation

Den Zustand des körperlichen Ungleichgewichts, welches unter dem Einfluss der technischen Apparatur und ihrer Möglichkeiten entsteht, demonstriert die BodyArt-X- der Öffentlichkeit als beobachtbares Ungleichgewicht. Der in sich gefangene Körper, die ästhetische Form der Einkörperung, ist die künstlerische Offenbarung einer unvollkommenen Gleichgewichtsform. Dabei ist die Einkörperung als künstlerisches Objekt (Installation) sowohl Störfaktor als auch Übergangserscheinung zu einer besseren Form, die jedoch eine Mitwirkung des Subjekts erfordert. Diese Art der Neukonstruktion wird aber durch die Erfordernisse der Kompensation und der Reäquilibration durch das betrachtende Subjekt bestimmt.

Das ästhetische Prinzip der Einkörperung ist für den Betrachter ein unvorhergesehenes Ereignis, welche eine starke Akkomodation erfordert. Die regulierenden Prozesse der Kompensation zielen darauf ab, die Hindernisse und Störungen zu beseitigen oder sie im Rahmen des Möglichen zu integrieren. Diesen Vorgang der Kompensation, der vom Individuum täglich verlangt wird, verschärft die Kunst durch die Metapher der Einkörperung. Der integrierte Körper steht stellvertretend für die Kompensation, als regulierende Anpassungsleistung des Individuums. Damit ist einerseits die Beseitigung des Ungleichgewichts verbunden,

299 vgl. Piaget, S.17 156 andererseits steht an deren Ende eine bedingungslose Integration bzw. Neukonstruktion.

Exkurs: Entkörperung als Sinnbild der Neukonstruktion

Das ästhetische Prinzip der Entkörperung geht über die regulierende Anpassung hinaus. Die Kompensation der Störfaktoren erfolgt im Rahmen eines Verinnerlichungsprozesses, während sich die Neukonstruktion als Übergang in den Zustand der Transformation ohne Erhaltungsabsicht beurteilen lässt. Der Körper wird zum öffentlichen Objekt der Transformation. Um die Enge des Leibes bildet sich eine charakteristische Dynamik. Diese Bewegung und Veränderungsprozesse außerhalb des Leibes stehen stellvertretend für die Dynamik der Gegenwart. Um der Enge des Leibes eine Möglichkeit der Ausweitung zu geben, werden die gegeneinander strebenden Tendenzen der Enge und Weite künstlerisch thematisiert. Die leibliche Kommunikation wird durch die Apparatur erweitert. Die körperlichen Veränderungen demonstrieren eine vollständige Integration an die einwirkenden Störfaktoren – eine uneingeschränkte Symbiose mit der Apparatur findet statt. Die ästhetische Entkörperung bevorzugt die Darstellung des Kunst- Körpers, des Mensch-Maschine-Konstrukts oder die Realisierung einer zweiten Natur, die eine Form der Überhöhung suggerieren.

Diese Überhöhung kann ebenfalls als Beseitigung des empfundenen Ungleichgewichts verstanden werden. Die Präsentation einer zweiten Natur verzichtet aber auf die Reäquilibration in Form von regulierenden Prozessen, wie der Kompensation, die ebenfalls einer Konstruktion bedarf. Die Neukonstruktion verzichtet auf die Differenzierung und zeigt die Einverleibung durch die technische Apparatur. Der Körper wird als instabil und mannigfaltig aufgefasst. Die Weitung oder Ausdehnung durch die Maschine ist eine einseitige Form der „Einleibung“. Diese kann nach Hermann Schmitz auch wechselseitig sein, da die leibliche Dynamik grundsätzlich dialogisch ist. Bei Einseitigkeit werden die Wahrnehmung und leibliche Regung an ein Objekt geknüpft, das die Zuwendung jedoch nicht erwidert.

157

Fazit: BodyArt-X- als Schema der Regulierung

Die neue Generation der BodyArt-X- ist eine Reaktion auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Kultur. Diese Künstlergeneration existiert mit und durch die soziokulturellen und ökonomischen Veränderungen. Die zeitgenössische Körperkunst, deren provokante Werke sich inhaltlich mit dem Körper und seiner Transformation auseinandersetzen, ist das Resultat einer sich entfremdenden Gesellschaft. Auf die soziokulturellen Ungleichgewichte wird durch körperbetonte Konzepte aufmerksam gemacht, damit sie intensiver wahrgenommen und zum Auslöser von Regulierungen werden können.

Die Regulierungsvorgänge vollziehen sich immer durch Aktionen, d.h. Handlungen, die zu einem neuerlichen Ablauf führen. „Allgemein spricht Jean Piaget von einer Regulierung, wenn die Wiederholung A´ einer Aktion A durch deren Ergebnisse verändert wird [...] Die Regulierung kann sich in einer Korrektur von A (negatives Feedback) oder in einer Verstärkung von A (positives Feedback) äußern.“300

Die wiederholte Thematisierung des Körpers und der Wiedererkennungseffekt der künstlerischen Darstellungsform verstärkt die Interaktion zwischen Objekt und Subjekt. Um die gewöhnliche Sichtweise zu unterbrechen, muss sich die Körperbehandlung des Künstlers von den alltäglichen Benutzungen abheben. Die regulierenden Aspekte der BodyArt-X- basieren im Wesentlichen auf einer Negation der Körperbehandlung, die oftmals als (Körper-) Verletzung vom Betrachter wahrgenommen werden. Die BodyArt-X- inszeniert ihre Kunst als Drama der Entfremdung, welches vom betrachtenden Subjekt, je nach Medieneinsatz, als „Ekstase er Kommunikation“ erlebt wird.301 Die gegenwärtige Body Art verwendet den Körper um die Faszination einer zukünftigen Körperlosigkeit zu kommentieren. Die spektakuläre Darstellung gewährleistet die Ekstase der Kommunikation zwischen Medium (Körper) und Betrachter. Das Szenario der kontinuierlichen Metamorphose verdeutlicht dem Rezipient die Verflüchtigung in immer neue Erscheinungen. Diese Übergangsformen werden als dauerhafter Zustand inszeniert, um die ständige Einleibung durch die Medien drastischer hervorzuheben. Die BodyArt –X- setzt die körperliche Materialität als Informationsfläche ein, um die

300 s. Piaget, S.25

301 Baudrillard, Jean: Das Andere Selbst: Habilitation/Jean Baudrillard, Passagen, Wien, 1987, S.18 158 mittlerweile körperlosen Interaktionsprozesse darzustellen. Der Subjektkörper wird als Körper für Andere und sich selbst zum Gegenstand der Interpretation und Zuschreibung.

Die künstlerische Verwirklichung dieser Gleichgewichtsprozesse, die von Piaget mit den wechselseitigen Abläufen der Akkomodation und Assimilation erklärt werden, ist Teil einer neuen Kreativität, die auch innerhalb der Kunst zu neuartigen bzw. nachmodernen Formen führen. Jean Piaget hat eine biologische Erklärung für die Gleichgewichtsprozesse; eine innere Logik, die sich auf intelligente, adaptive Austauschbeziehungen zwischen Individuum und Umwelt gründet. Die Wechselwirkungen sollten sich nach Ansicht von Piaget auf allen Niveaus abspielen und somit die kreative Aktivität des Lebens und die Intelligenz verbinden. Auf die Kunst bezogen, bedeuten diese intensiven Austauschbeziehungen auch das Beschreiten neuer Wege, an Grenzen zu stoßen und damit das Neue aus der relativen Geschlossenheit ihrer bisherigen Struktur zu formen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um eine fruchtbare Kreativität, die aus Stabilitäten und Unsicherheiten andere Gebilde, quasi eine andere Natur, hervorbringen.

159

3.5 Einkörperung und Entkörperung als Spuren einer anderen Natur

Die Erscheinungsformen der Kunst können auch als Organismus verstanden werden, der sich hinsichtlich einer Konfrontation mit der Realität auf unterschiedlichen Ebenen entwickelt. Ebenso wie die Evolution des menschlichen Organismus basieren die Ausdrucksformen der künstlerischen Generation auf den adaptiven Strukturen, die als Reaktionen auf die intelligente Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt angenommen werden können. Auf diese Weise kommt es zu verschiedenen Entwicklungsniveaus, die neue Gattungen und künstlerische Phänomene hervorrufen.

Diese offensichtlich anderen Ausdrucksformen künstlerischen Wirkens können als „andere Natur“ bezeichnet werden. Da sie aufgrund der bereits skizzierten Anpassung und erforderlichen Integration als neue Form des „sich-ein-bringens“ aber auch als aktives Gestaltungselement auf die natürliche Umgebung einwirken. Sie sind sogar in der Lage die Veränderung der Strukturen zu bewirken. Diese Art des „sich-ein-bringens“ ist Merkmal eines gesteigerten Ausdrucks, der von der Kunst in Anspruch genommen wird.

In Anlehnung an Piaget bedeuten die Ausprägungen der gegenwärtigen Körperkunst hauptsächlich, sich thematisch mit der körperlichen Entwicklung zu beschäftigen und diese permanente Auseinandersetzung künstlerisch zu formulieren.

Für den Epistemologen Piaget führt das Denken, also die Entwicklung der Intelligenz zu einer Konstruktion immer neuer „Invarianten“, so genannte Unsicherheiten, mit denen die Erfahrung des Wirklichen schrittweise erfolgen. Piaget verfolgt die These, dass gerade diese erlebten Invarianten zu einem immer stabileren und kohärenten Bild des Wirklichen führen werden.302 Auf diese Weise entsteht eine andere Natur, die sich durch und mit den Einflüssen der Natur entwickelt hat, jedoch einen individuellen Weg zu lebensbedingter Kompetenz darstellt. Für die Entfaltung einer bestimmten künstlerischen Idee bedeutet diese Erkenntnis, dass die erfahrene Realität in einer gesteigerten Form konstruiert wird. Die anschließende Kunstschöpfung ist gewissermaßen das verbildlichte

302 vgl. Liebsch, Burkhard: Spuren einer anderen Natur. Piaget, Merleau-Ponty und die ontogenetischen Prozesse, München 1992, S.246f 160

Gleichgewicht, welches sich aus der Harmonie zwischen Notwendigkeit, Wirklichkeit und dem Möglichen herausbildet.

Exkurs: Jede Kunst eine „andere Natur“

Insgesamt ist die Kunst mit ihren epochalen Entwicklungsschüben immer ein Indiz für kulturelle Umbrüche und daraus resultierende Wechselwirkungen mit dem Individuum selbst. Kunstphänomene oder ganze Kunstgenerationen, die sich zusammenfinden und sich hinsichtlich einer übergeordneten Idee verwirklichen, erzeugen eine Konzentration dieser neuartigen Ausdrucksformen. Für die wissenschaftliche Betrachtungsweise bedeutet diese Anhäufung von künstlerischen Ansichten eine verdichtete Struktur, die im Kontakt mit ihrer Umwelt sowohl ein Ausdruck des Gleichgewichts ist, aber auch ein Hinweis auf ein unvorhergesehenes Ungleichgewicht veranschaulicht, eben in der jeweiligen revolutionären Darstellung der Dinge. Hinsichtlich der Body Art natürlich auf die Ausprägung der körperlichen Behandlung in der jeweiligen Kunstform.

Die sinnlichen Katastrophen eines Kunstwerks sind gewissermaßen Nachweis für die Grenzen an die der Künstler selbst gestoßen ist. Jean Piaget beschreibt in seiner Äquilibrationstheorie wie „jede Struktur im Kontakt mit ihrer Umwelt zur Erfahrung relativer Irrationalität am Rande ihres Horizonts gedrängt wird, wie sich immer neue, unvorhergesehene Ungleichgewichte ergeben [...].“303

Auf diese Weise werden die verhafteten Formen des Denkens immer von Neuem mit dem kreativen Störpotenzial der Invarianten konfrontiert und in der Auseinandersetzung zu einer Anpassungsleistung gezwungen, die zu neuen Selbstüberschreitungen veranlasst. Dieser Vorgang ist sozusagen der Auslöser oder Wegbereiter neuer Handlungsweisen und impliziert sowohl die Anpassung (Einkörperung) aber auch die Selbstüberschreitung (Entkörperung), um aus der Bandbreite des Möglichen, das Deduzierbare zu erhalten.

Ein Kernpunkt der genetischen Epistemologie nach Piaget ist die wesentliche Offenheit der Erfahrung. Die inneren Abläufe der Assimilation und Akkomodation wären für das Individuum überflüssig, machten sich am Rande etablierter Strukturen

303 s. Liebsch, S.276 161 nicht immer wieder das Andere, das Irrationale und „Diverse bemerkbar.“304 Bezogen auf die Body-Art stellt das Kunstwerk mit seinen sinnlichen Herausforderungen eine Unsicherheit (Invariante) des Alltags dar. Der Betrachter, der sich mit dieser Unsicherheit konfrontiert fühlt, wird zu einer konstruktiven Intelligenzleistung provoziert.

Das beobachtende Subjekt konstruiert das Gleichgewicht und findet durch den wechselseitigen Prozess der Assimilation und Akkomodation einer persönlichen Stabilität, die sich im Anschluss an die Operation des Denkens als Handlungs- prozess fortsetzt.

3.5.1 Body + Mind + Art = Erkenntnisgewinn für das Leben

Natürlich ist die Übertragung der genetischen Epistemologie auf die Kunstentstehung und den Erkenntnisgewinn aus ihrer Betrachtung ein Versuch, die Abläufe und Konstruktion von Handlungen nachzuvollziehen.

Gerade die Body Art, mit ihren unterschiedlichsten Körper-Übertreibungen, kann mit den radikalen Veränderungen der natürlichen Umwelt und deren Auswirkung auf den menschlichen Organismus in Zusammenhang stehen. Die Kunst selbst ist ein Organismus, der ebenso wie der Körper auf die radikalen Möglichkeiten seiner Umwelt reagiert. Werden diese Wechselwirkungen auch noch durch den Körper als sinnstiftendes Medium abgebildet, so erzielt die Kunst durch ihre spezifische Körperbehandlung eine neue kreativere Produktivität der Natur. Die Komponenten der Wirklichkeit, Notwendigkeit und der zukünftigen Möglichkeiten konzentrieren sich zu einer künstlerischen „Ontologie des Lebens“.305

Die Erkenntnis, welche sowohl der Künstler bei der Schaffung seines Kunstwerks als auch der Betrachter bei der Erschließung des Kunstwerks erlangen, sind ein Ergebnis der relativen Offenheit gegenüber Erfahrungen. Diese Offenheit hat sich der Künstler gegenüber der Außenwelt bewahrt. Durch die Erkenntnisse dieser Unsicherheiten erzeugt der Künstler ein individuelles Gleichgewicht, welches in seinem Kunstwerk zum Ausdruck kommt. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass

304 Liebsch, S.287f

305 ebd., S.305 162 diese Stabilität nicht dauerhaft in sich ist, sondern ihre Beständigkeit durch stetige Überprüfung erhält. Diese Abläufe der individuellen Überprüfung erfolgen wiederum durch den Austausch des Künstlers mit der Umwelt und das schließt die Reaktionen des Publikums mit ein. Die Reaktionen auf die jeweilige Körperdarstellung sind ein Gradmesser: Sie zeigen inwieweit eine Identifikation mit dem Gezeigten existiert und somit das Selbst-Bild schon beeinflusst ist oder ob die Differenzen zwischen Körperkonstrukt und Selbstwahrnehmung erheblich sind.

Die zeitgenössische BodyArt (-X) mit ihrer eindringlichen Körperbehandlung versteht sich als Initiator von Instabilitäten, welche die sinnliche Wahrnehmung der Betrachtenden erschüttern wollen, um dadurch die bisherige Erkenntnis einer bereits erschlossenen Welt wieder als Ungleichgewicht zu verspüren. Die Operation des Denkens ist zwar Wegbereiter der Handlung, letztlich geht dem Denkprozess die sinnliche Wahrnehmung voraus und deren Aufgabe besteht darin, sich auf das Andere einzulassen, um den Blick auf weitere Erkenntnisse zu gewährleisten.

Peter Weibel spricht in seiner Ästhetik der Absenz die künstlerischen Werke an, die zu einem neuen Sehen auffordern, zu einem neuen Rezeptionsverhalten und zu einer bewussten Wahrnehmung.306 Die spezifische Ästhetik der Body Art provoziert die sinnliche Wahrnehmung und richtet sich damit natürlich an die Offenheit des Betrachtenden, der diese Kunst-Erfahrung für seine persönliche Erkenntnis bzw. für sein Gleichgewicht nutzt. Dazu muss sich der Betrachter auf das Kunstwerk einlassen. Kunst, die eine Wirkung erzielt, ist in der Lage zu bewegen und setzt sich in menschlichen Reaktionen fort. Ganz gleich ob kommunikativ oder handlungsorientiert, sie wird damit Teil einer Dynamik der Lebensgeschichte. Man kann die Rezeption und die anschließenden Aktionen als ein Teilstück auf der Suche nach dem persönlichen Gleichgewicht bezeichnen. Die Entwicklung des Erkennens, die Jean Piaget durch seine Äquilibrationstheorie beschreibt, „manifestieren vielleicht nur ein Spektrum möglicher Antworten unter vielen anderen [...].“307

306 Weibel, Peter/Lehmann, Ulrike: Ästhetik der Absenz. Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Klinikhardt & Biermann, München, 1994, S.9

307 s. Liebsch,S.328 163

Exkurs: Was kann die Body Art der Gegenwart?

Wenn ein Künstler den Körper als soziokulturellen Stellvertreter in den Mittelpunkt seines Werks stellt, erzeugt er damit gleichzeitig einen Akt der Selbstbeobachtung.

Die anschließende Interaktion zwischen Kunstwerk und Betrachter erfolgt auf der Basis des Informations-Übertragungsmodells. Dabei wird die Kommunikation zwischen Rezipient und Medium als eine wesentliche Operation der Kopplung verstanden, an der mindestens zwei informationsverarbeitende Systeme beteiligt sind.308 Einfacher ausgedrückt: Der Vorgang der Kommunikation zwischen dem Medium (Kunstwerk) und Betrachter erfolgt durch Wahrnehmung, Beobachtung und Verstehen.

Durch das Körper-Kunstwerk erreicht die Wahrnehmungsintensität eine Steigerung, die durch die Anwendung von elektronischen Medien zu einer neuen Qualität des Dabeiseins führt. Nach William Mitchell (1995) „treten wir in eine Zeit elektronisch erweiterter Körper ein, die an Schnittpunkten der materiellen und der virtuellen Welt leben [...].“309 Der ausgestellte Körper, als Objekt der Betrachtung, von dem zunächst keine aktive Handlung ausgeht ist nach wie vor ein Geheimnisträger. Die Anziehungskraft und der Grad der Identifikation sind jedoch größer, da das Wahrgenommene wieder erkannt wird und mit bereits gespeicherten Informationen verglichen werden kann. In der konkreten Körperdarstellung des Kunstwerks vollzieht sich ein Impuls der Eigenbetrachtung. Die Aktivierung von Erinnerungen in Verbindung mit einer neuen Präsentationsform, führen zu einem erneuten Akt der Selbstbeobachtung. Der Körper wird in den verschiedenen Darstellungsweisen der BodyArt-X- zu einem Ereignis transformiert. Die körperbetonten Kunstkonzepte richten sich vorrangig an Gedächtnisinhalte und erlebte Gefühlszustände des Betrachters. Die Kopplung mit der virtuellen Realität potenziert die Form der Selbstbeobachtung regelrecht. In gewisser Weise konsumiert der Betrachter seine (Um)welt, die er durch die natürliche Realität überhaupt nicht wahrnehmen könnte. Mit den Simulationsvorgängen der Elektronisierung konsumiert der Mensch sowohl Eigen- und Fremdwahrnehmung, er wechselt von Wahrnehmung zu Beobachtung und dabei verkümmert jedoch seine Selektionsleistung.

308 vgl., Gumbrecht, Ulrich/Pfeiffer, Ludwig: Materialität der Kommunikation, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1988, S.778

309 zit.n. de Kerckhove, Derrick: Die Architektur der Intelligenz. Wie die Vernetzung der Welt unsere Wahrnehmung verändert. Birkhäuser-Verlag für Architektur. Basel; Boston; Berlin, 2002, S.71 164

Die Bildung eigener Differenzen zwischen Selbstbeobachtung und fremdbestimmter Beobachtung wird durch die Medienrealität zunehmend erschwert. Die mediale Kommunikation setzt bei der Selbsterfahrung auf das mediale Ereignis, aber das individuelle Orientierungswissen wird durch die moderne Komplexität der Kommunikationssysteme vernachlässigt. Die Beschleunigung dieses Bewusstseins bedeutet deshalb Distanzierung gegenüber der eigenen Wahrnehmung. Der körperliche Innenraum wird durch die elektronischen Medien bedrängt und vermutlich sogar strukturell verändert. Körperkunst in Verbindung mit virtueller Realität oder anderen audiovisuellen Medien konstruiert den Akt der Selbstbeobachtung als Fluchtreaktion, die zwar zu interaktiven Körper-Ansichten führt aber analog als „Entwirklichung der Körpererfahrung“ zu verstehen ist.310

3.5.2 BodyArt-X- : Ästhetik der Überprüfung

Die gegenseitige Beeinflussung von Kunst und Wissenschaft zeigt sich in den Auswirkungen der Körperkonzepte. Die Übertreibungen in der Darstellungsweise von Körpern in Kombination mit Technik oder die provokante Versklavung der Körperlichkeit in der elektronisch inspirierten Kunstwelt, sind in erster Instanz ästhetische Überprüfungen, die von den Kunstschaffenden bewusst inszeniert werden. Sie verfolgen den Erkenntnisgewinn einer modern denkenden und toleranten Gesellschaft, die sich interdisziplinär mit den politischen und medialen Einflüssen auseinandersetzt.

Die BodyArt-X- hat demzufolge den Stellenwert einer Wissenschaft vom Menschen und entwickelt ebenso Methoden der Überprüfung, wie andere wissenschaftliche Disziplinen. Die BodyArt-X- abstrahiert die Realität der Ereignisse und rekonstruiert die Auswirkungen in den symptomatischen Körperkonzepten einer Generation.

1. Künstlerische Methodik

Die Methoden unterscheiden sich gegenüber anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Der Künstler als Mitglied der Gesellschaft berücksichtigt das Leben in der Gemeinschaft und sieht sich selbst als Teil des sozialen Gefüges. Das persönliche Engagement mit dem Ziel die Manifestationen des gesellschaftlichen

310 s. Gumbrecht, S.785 165 und individuellen Lebens zu rekonstruieren und zu verstehen, sind die Grundlagen seiner eigentümlichen künstlerischen Methodik, die letztendlich im Kunstwerk zum Ausdruck kommt. Dabei verharrt der Künstler in einer Vorstufe der Wissenschaften: seine Methodik basiert auf Reflexion und Intuition. Außerdem schließt seine Analyse die grundlegenden Werturteile und persönliche Ansichten ein. Die Überprüfung erfolgt nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten erst durch die Phase, in der das Verifizierbare vom Spekulativen oder Intuitiven getrennt wird.311

Damit lässt sich erklären, warum die Kunst in der Vorstufe zu einer objektiven und analytischen Wissenschaft verharrt. Setzt man sich mit der Wissenschaft vom Menschen auseinander, besteht die Schwierigkeit darin, dass man sich selbst als Objekt, wie dem Subjekt ihrer Forschungen abhängig macht. Die eigenen Aktivitäten (Kunstwerk), die selbst ein Produkt bewusster Erkenntnisakte sind, können nicht ohne persönliche Sichtweise vermittelt werden. Die Rigorosität mancher Darstellungen beruht auf Mechanismen, die wie Verstärker die Wahrnehmung des betrachtenden Subjekts erreichen sollen, um die persönliche Einstellung des Kunstschaffenden eindringlich zu kommunizieren.

Die Body Art repräsentiert keine isolierte Betrachtung der Wissenschaft vom Menschen, sie ist ein Teil des Ganzen. Ihre geistigen und gestalterischen Elemente haben sich in verschiedene andere wissenschaftliche Disziplinen ausgeweitet. Die BodyArt-X- kann deshalb als interdisziplinäres Forschungsgebiet bezeichnet werden. Die Schwierigkeit sich sowohl als erkennendes Subjekt, als auch als Erkenntnisobjekt zu thematisieren überwindet die BodyArt-X- in einer spezifischen Ästhetik und deren symptomatischen Prinzipien. Die Überprüfung der gesellschaftlichen Entwicklung erleichtert dem kunstschaffenden Subjekt die Kombination mit anderen Wissensgebieten.

Die Auseinandersetzung mit dem Innen und Außen, der psychologischen Verarbeitung und körperlichen Anpassung, sind maßgeblich an der Ästhetik der Überprüfung beteiligt. Die Grenzen des Körpers werden nicht nur in den Darstellungen überschritten, sondern auch die Grenzen zu anderen Wissensgebieten sind für die Erscheinung von post-postmodernen ästhetischen Prinzipien, wie der Einkörperung und Entkörperung verantwortlich.

311 vgl. Piaget, Jean: Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen. Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt a. M., 1972, S.35 166

2. Ästhetische Elemente

Die Ästhetik eines Kunstwerks ist ein wahrnehmbares, d.h. auf die Sinne bezogenes Erscheinungskalkül des kunstschaffenden Subjekts. In einer typischen Ästhetik, die sich als analytisches Instrument für die Interpretation einer Künstlergeneration und dem von ihr hervorgebrachten Kunstphänomen eignet, werden einzelne Elemente aufgrund ihrer Wiederholung zu abgrenzbaren Kunstereignissen. Bei der intensiven Betrachtung dieser Darstellungen können identifizierende Elemente den Künstler und sein spezifisches Verständnis als Charakteristik des Oeuvres fungieren. Die Künstlerin Rachel Whiteread mit ihren monumentalen Betonabgüssen, ebenso wie Damien Hirsts archäologisch anmutende Vitrinen und Teresa Margolles Installationen mit körperlichen Spuren (Blut, Körperfett oder Ausdünstungen) sind zu eindeutigen Erkennungs- und Erkenntnismerkmalen geworden. Gerade in der Body- Art werden im Phänotyp des Kunstwerks das Verständnis gegenüber Umwelt und Gesellschaft noch deutlicher erkennbar. Der Körper als biologischer Organismus wird in seiner Struktur zum Mittelpunkt der künstlerischen Aussage. Der menschliche ebenso der tierische Körper wird zum eindringlichen Platzhalter für Selbstverständnis und ist visuelles Tableau der künstlerischen Analyse, die über die bloße Introspektion hinausgeht, sondern grenzüberschreitend wissenschaftliche und soziale Einflüsse in der künstlerischen Körperbehandlung veranschaulicht. Die postmoderne Gegenwart erzeugt neue Szenen und Stationen der Absenz. In der Ästhetik der An- und Abwesenheit kommt Weibels Theorie über die Gestaltungsformen der Absenz zum Ausdruck. Zur Absenz der Dinge gehört, das Verschwinden, die Entfernung oder die Entfremdung. Zum anderen bedeutet Absenz neben räumlicher Ferne und Distanz auch Mangel, Verlust und Defekt. Die Dimension der Absenz beinhaltet die Unvereinbarkeit zwischen zwei Elementen, zwei Realitäten.312 Weibels Ästhetik der Absenz ist ebenfalls eine Form der Grenzästhetik, welche durch die Prinzipien der Ein- und Entkörperung bereits beschrieben wurde. Diese Prinzipien sind ästhetische Strategien, welche das Verschwinden thematisieren. Ähnlich wie eine Ästhetik der Absenz wollen sie ohne Moral die Abgestorbenheit der Gegenstände und Zeichen aufzeigen. Die Kunstrichtung der Body Art und der BodyArt-X- pendelt mit ihren Gestaltungskonzepten neue Grenzbereiche der Wahrnehmung aus, dadurch

312 s. Weibel, S.13 167 entwickelt sich rückblickend eine neue Ästhetik. Die Essenz dieser Ästhetik lehrt die Abwesenheit zu überwinden. Durch jede Verwandlung, Transformation und Fragmentierung des Körpers verschwindet etwas und erscheint etwas. Ein symptomatischer Vorgang für die Welt im Übergang, der zum eigentlichen Gegenstand der Grenzästhetik wird.

Bei der bewussten Integration des Körpers in ein künstlerisches Konzept, geht es nur vordergründig um Oberfläche und Körperabbild. Der Körper, auch in seiner Darstellung als Fragment, bleibt Teil eines Ganzen, welches auch die inneren Prozesse einschließt. Der Körper ist Stellvertreter des funktionierenden Organismus, der in seiner Komplexität die Entwicklung garantiert und neues Verhalten hervorbringt. Der körperliche Organismus steht für Durchlässigkeit, einen lebensnotwendigen und historischen Austauschmechanismus, der in seiner Aktivität zwar von außen manipulierbar aber auch aus dem Inneren revolutionär agieren kann. Wie Maturana feststellt gibt es „draußen keine strukturierte Information, sie wird erst zur Information indem sie sich durch meinen Körper bildet, meinen Körper verwandelt; das nennt man Aktion.“313 (H.Maturana und F.Varela, The Tree auf Knowledge, Shambala, 1987, Kap.7)

In der Körperkunst der Gegenwart ist der Körper ein Erkenntnissubjekt, welches am eindringlichsten die Phänomene des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels aufzeigt.

3.5.3 Der Gegenwartskörper: Speicher und Verwerter von Informationen

Die demonstrative Einkörperung eines Organismus appelliert an dieses psychologische Gedächtnis des betrachtenden Subjekts. Der künstlerische Akt eines konservierten Körpers (Hirsts Tigerhai) symbolisiert als Surrogat die Speicherung von Informationen. Die künstlerische Erscheinung richtet sich sowohl nach innen, wie auch nach Außen und präsentiert einen erlebbaren Austauschprozess, der eine Anlehnung an die biologischen Erkenntnisse und ihre Wirkung hinsichtlich struktureller Veränderungen im menschlichen Verhalten darstellt.

313 de Kerckhove zit. Maturana. In: Die Architektur der Intelligenz, S.54 168

Der Austausch von Organismus und Umwelt (physikalische Umwelt und andere Organismen, Seifenblasen bei Margolles) wird durch die Einkörperung (Vitrine/Behältnis) aufgegriffen. Der Körper reagiert auf die Umwelt durch Speicherung von Informationen (Einkörperung) und verwertet die elektronischen Impulse (Umweltreize), die ihn zu einem körperlichen Gleichgewicht, im Sinne von Selbstregulierungen, motivieren. Die Verwertung der Informationen basieren auf einem Austausch äußerer Reize und innerer Regulierungen. Die Reaktionen des Körpers auf diese Verarbeitungsprozesse führen zu der Entstehung von neuen Strukturen.

Die Einkörperung als Kunstwerk (Abgüsse von Whiteread, meat pieces von Thek) richtet sich auch an den Konsum von Gefühlen. Die Erinnerung an Gefühle wie Angst, Ekel und Übelkeit sind im psychologischen Gedächtnis des Betrachters gespeichert. Das Erkennen und Wahrnehmen eines Objektes (Haus, konservierter Hai, Kuh oder operierter Mensch) führen zu einer erneuten Selbstbeobachtung und verstärken die gegenwärtigen Gedanken im Austausch mit dem Kunst-Objekt. Damit erreicht der Künstler vermutlich die Potenzierung der neuen Gefühle, die für eine augenblickliche Speicherung (Einkörperung) aufgrund von Reizintensität verantwortlich sind.

Das Hauptziel solcher verwissenschaftlichter Kunstwerke ist das Aufzeigen von Tendenzen und nicht von Resultaten. Die Perspektiven und Prospektiven der Wissenschaften vom Menschen sind dabei entscheidend und nicht der jeweilige aktuelle Forschungsstand. Im Gegenteil, es soll gerade durch die Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse innerhalb einer künstlerischen Darstellung der Antrieb zur Erneuerung von Grenzen deutlich gemacht werden.

Die BodyArt-X- macht sich dabei zu einem Gegenstand der interdisziplinären Forschung und richtet sich mit ihren spezifischen Körperkonzepten der Ein- und Entkörperung an eine Reorganisation der Gebiete des Wissens durch Austausch.

Die Körperkunst der Post-Postmoderne reflektiert in denen für sie typischen Verwebungen von wissenschaftlichen, sozialen und psychologischen Erkenntnisse das stetige Anwachsen und die zunehmende Verflechtungen der Wissensgebiete, die mittlerweile auch in der Kunstwelt zu „Hybridationen“ geführt haben.314

314 Jean Piaget bezeichnet die konstruktive Rekombination zwischen zwei anfangs heterogenen Wissensgebieten als „Hybridation“. Er bezieht diese gegenseitige Beeinflussung zwar in erster Linie auf die fruchtbare Hybridation von 169

3.5.4 Der Körper – ein postmediales Organ der Wahrheit

Die offensichtliche Zurschaustellung eines Körpers macht ihn zu einem Element der Beobachtung und damit zum Bestandteil einer zu erwerbenden Erkenntnis. Seine Anwesenheit rückt ihn in den Mittelpunkt von Verhalten und Handeln. Am Körper des Anderen und dessen Verhalten überprüft das Subjekt (Beobachter) das eigene, angemessene Verhalten und entsprechendes Handeln.

Ebenso wie die spezifische Funktion der Wissenschaft und Technologie darin besteht eine objektive und existierende Wissenschaft zu enthüllen, präsentiert die Kunst mit ihren Körper-Äußerungen einen Bereich des Erkennens. Die Basis für das Erkennen durch den Körper liegt in der Fähigkeit, deutlich wahrnehmbare Differenzen zu erzeugen, an die dann konventionelle Bedeutungen angehängt werden können. Der Körper spricht zwar nicht selbst aber der Künstler wählt aus dem gegenwärtigen sozialen System der körperlichen Veränderungen jene heraus, welches für ihn am bedeutungsträchtigsten ist.315

Die BodyArt –X- entwickelt mit den ästhetischen Prinzipien der Ein- und Entkörperung ein Bedeutungssystem, welches mit den spontanen körperlichen Phänomenen und den jeweiligen sozialen Systemen übereinstimmt. Die künstlerische Ästhetik überwindet die Unkommunizierbarkeit durch ihre eigenen Manifestationen des Körpers und erhält auf diese Weise neue Bedeutungs- schöpfungen. Die Prinzipien der Einkörperung und Entkörperung innerhalb der gegenwärtigen Körperkunst sind das Ergebnis dieser Sinngebungsbedürfnisse. Die in ihrer kontroversen Inszenierung den Körper als Organ der Wahrheit institutionalisieren. Der Körper in seiner Erscheinung garantiert natürlich keine Wahrheit, ebenso wie im Alltag wird auch in der Kunst mit der Begleiterscheinung der Täuschung gespielt. Die Kunst ist weiterhin alltagsnah und setzt auf Hybridation, deshalb zeigen sich immer mehr Kombinationen des Künstlerischen mit anderen Wissensgebieten. Damit entäußert die posthumane künstlerische Entwicklung nicht nur das Innere, sondern enthüllt auch zugleich die beabsichtigten und unbeabsichtigten Einwirkungen auf die physische Existenz.

Wissenschaften, wie der Biologie und anderen Naturwissenschaften. Dieser Begriff eignet sich aber auch für die Definition neuer Zweige innerhalb der Körperkunst, die sich mit den Wissenschaften vom Menschen auseinandersetzt und von den Auswirkungen der Elektronisierung maßgeblich inspiriert wird.(s. Piaget, S.291)

315 vgl. Gumbrecht/Pfeiffer: Materialität der Kommunikation, S.670 170

Das Körpererleben durch die BodyArt-X- setzt auf die Beobachtungsgabe, richtet sich aber auch an die Thematik der Imagination. Die erfassbaren sinnlichen Qualitäten gewinnen durch die Vermittlung der Imagination an Bedeutung und ergänzen den „Rezeptionsakt, als Akt der produktiven Konstituierung von Sinn.“316

3.5.5 Der Körper - eine dauerhafte Bruchstelle

Die gegenwärtige Entwicklung der Body Art verwendet den Körper als instabiles, bruchhaftes Kunst-Objekt. Der Körper ist Ort des Geschehens: Seine Oberfläche aber auch sein Innenleben unterliegen sichtbaren Veränderungen. Der Körper ist ein Ort der immer flexibler werden soll, da er sich den äußeren Gegebenheiten anpassen muss und mit der Anpassung wiederum zur Umgestaltung beiträgt. Der Körper ist in gewisser Weise stets in Bewegung, er ist wie ein Molekül, das seine Aggregatzustände ändert, wenn äußere Einflüsse auf ihn einwirken.

Aufgrund dieser Wandelbarkeit ist der Körper ein anschauliches Objekt, um Aufmerksamkeit zu erregen aber auch um auf bedrohte Grenzen hinzuweisen. Seine Materialität ist in der Lage eine Gegensprache zu erzeugen, die eine neue Bedeutsamkeit seiner Anwesenheit in der Gegenwart und Zukunft thematisiert. Der Wiedererkennungsaspekt und die Identifikation mit dem Gezeigten sind ungleich höher, als bei der Betrachtung von Abstraktionen. In Verbindung mit emotionalen Effekten ist das Kunstwerk – Körper- nach wie vor eine Attraktion in der internationalen Kunstszene. (Thema Körper: Biennale Venedig, Körperwelten, Post Human/1995 Hamburg), Nackt! /2003 Frankfurter Städel) Um den Körper gekonnt als Medium der Kommunikation einzusetzen und auf kritische Aspekte seiner jetzigen Behandlung zu verweisen, werden gezielt auf Brüche innerhalb der künstlerischen Inszenierung gesetzt.

Kontinuitätsbruch: Allein die Darstellung des Körpers entfernt ihn von der alltäglichen Wahrnehmung und erzeugt beim Betrachtenden einen erhöhten Grad an Aufmerksamkeit. Durch die Abweichung vom Bekannten verlässt der Künstler den Weg der Tradition und überrascht den Rezipienten. Der offensichtliche Verlust

316 s. Bahr, Andreas: Imagination und Körpererleben. In: Materialität der Kommunikation, S.681 171 der bewährten Körperansicht eröffnet auch dem Zuschauer eine Abweichung von dem konventionellen Betrachtungs- und Interpretationsniveau. Mit dem bewussten Kontinuitätsbruch rückt die Vielschichtigkeit der körperlichen Darstellung aber auch der Anschauungsweise in den Vordergrund. Die Verständnismuster und die Mechanismen des menschlichen Begreifens werden aktiviert und durch die Plötzlichkeit der Veränderung in Frage gestellt. Die Pfade des Bekannten werden offensichtlich verlassen und die Spuren für neue Erkenntnisse gelegt.

Kommunikationsbruch: Das betrachtende Subjekt kommuniziert mit dem Gezeigten. Dabei bezieht sich Begriff –Kommunikation- und ihre Funktion auf den Austausch von sinnlichen Reizen, die natürliche Reaktionen auslösen. Körper-Kunst die ganz selbstverständlich auf einen Kommunikationsbruch setzt, spielt mit den Medien der Flüchtigkeit und der Instabilität. Das Unmittelbare bildet den Mittelpunkt und deshalb entfernt sich das Flüchtige, Unwirkliche aus dem Bereich der kulturellen Normen. Die permanente Zirkulation der menschlichen, d.h. körperlichen Kommunikation ist nicht Bestandteil dieser künstlerischen Inszenierung. Die Verwirrung und die flüchtige Präsenz der Darbietung setzen auf die kontinuierliche Unterbrechung der geregelten Kommunikation zwischen Objekt und Betrachter. Der ständige Bruch in der Kommunikation verursacht einen dauerhaften Zustand der Neuorientierung.

Erstarrung: Bei einem Kunstwerk auf einen speziellen Effekt zu setzen, erfordert eine genaue Selbstbeobachtung des Künstlers. Das Erstarren vor einem Objekt deutet darauf, dass für einen zeitlichen Wahrnehmungsraum der Betrachtende von bestimmten Anblicken so abgelenkt und emotional berührt ist, dass er seine gesamte sinnliche Wahrnehmung auf das Objekt fixiert und die umgebenden Reize ausblendet. Der faszinierende Blick ist mit ekstatischer Selbstwahrnehmung verbunden. Der Beobachter ist in diesem „belebenden Augenblick“317 mit sich und dem Gezeigten auf eine nicht eindeutig erklärbare Art vereint. Der Künstler integriert diesen Moment der Ekstase oder Ergriffenheit in seine Inszenierung. Bei der mutmaßlichen Konstruktion dieses Starrens kann der Künstler nur von der eigenen Erfahrungswelt ausgehen; er kann nur ahnen und vermuten ob sich der Betrachter in seiner Erfahrungswelt wieder findet und die überirdischen Momente der Faszination durch das Kunstwerk übertragbar sind.

317 s. Gumbrecht/Pfeiffer: Materialität der Kommunikation, 1988, S.248 172

4 Künstlerische Exkurse zur Thematik der Einkörperung und Entkörperung

Die künstlerische Strategie der post-postmodernen Avantgarde verfolgt unterschiedliche Momente der Aufmerksamkeitsgewinnung. Die Einkörperung, das bedeutet die demonstrative Zuschaustellen eines Lebewesens oder eines als organisch identifizierbaren Körperteils (Fleisch), provoziert nicht nur durch den Schockmoment, sondern bezieht sich vor allem auf die Konstitution des Selbstbegriffs: kognitive Organismen lernen aus Erfahrung, durch die Fähigkeit des Reflektierens, die es ihnen ermöglicht sich nicht nur das Gelernte, sondern auch das was es zu Lernen gilt vorzustellen.

Das ästhetische Prinzip der Einkörperung bezieht sich auf die alltägliche Überlebensstrategie des Menschen. Auf dem Weg zum Selbstbegriff, in der Entwicklung des Organismus gilt es für das Lebewesen die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt aufzubauen. Die umgebende Wirklichkeit ist für das Lebewesen ein Netzwerk von Begriffen und Beziehungen, die sich für das Subjekt durch die Erfahrung des Erlebens als angemessen und stabil erwiesen haben. Die BodyArt-Kunst integriert diesen überlebensnotwendigen Konstruktivismus in ihre körperbetonten Prinzipien. Die unbewussten Lerneffekte in der erweiterten Entwicklung des Subjekts werden durch die provozierenden Szenarien der Einkörperung unterbrochen und setzen einen Reizfaktor, der das Sensorium der menschlichen Wahrnehmung auf die verzerrte Situation des gegenwärtigen Körperbildes aufmerksam macht.

4.1 Elemente des ästhetischen Prinzips –Einkörperung-

Das Verständnis der Wirklichkeit basiert wie in der konstruktivistischen Definition auf einem Netzwerk von Begriffen und Beziehungen. Diese Wirklichkeit wird auch vom Künstler induktiv aufgebaut, sie ist eben die Welt in der wir leben; ergo die Erfahrungswelt der Lebewesen. In dem der Künstler auf die bekannten Begriffe und Beziehungen in seiner ästhetischen Konzeption zurückgreift, konstruiert er eine andere Realität mit den Begriffen der Wirklichkeit. Die Einkörperung des Lebewesens in ein Objekt, stellt dem betrachtenden Subjekt (außen) ein passives Ebenbild (innen) gegenüber und provoziert eine Reaktion, die

173 von der ästhetisierten Passivität (innen) hervorgerufen wird und sich in der darauffolgenden Handlung des Beobachters (außen) bemerkbar macht.

Der Künstler stützt sein ästhetisches Prinzip auf das Funktionieren der sensorischen Elemente der Wahrnehmung, die dem (beobachtenden) Subjekt, die kognitive Konstruktion ermöglichen.

Ziel der (künstlerischen) Konstruktion:

1. Durch die Einkörperung, gewissermaßen einer Kopie des Lebens(-wesens), appelliert der Künstler an die Erhaltung des inneren Gleichgewichts, welches Piaget in seiner Theorie der Äquilibration, als Baustein des Wissens versteht.318

2. Der Aufbau des entscheidenden Wissens, welches für das Überleben des Subjekts in seiner Umwelt verantwortlich ist, fundiert auf der Koordination sowie auf erfolgreicher Wiederholung und Abstraktion von sensomotorischen Erfahrungswelten. Das künstlerische Prinzip der Einkörperung repräsentiert das Ebenbild mit den Begriffen und Beziehungen der Wirklichkeit, allerdings in einer künstlerischen Konstruktion der Realität. Jene Wahrnehmungs- momente, die der Künstler in seiner Konzeption heraufbeschwört, beruhen auf der „reflektiven Abstraktion“ von figurativen Elementen.319 Das (passive) Ebenbild, der Repräsentant, das heißt die Kopie des Betrachtenden wird zur elementaren Erfahrung des pseudoaktiven Subjekts, welches in der Wahrnehmung der (eigenen) Passivität in die Handlungskompetenz übertragen wird.

3. Die Anwendung des kognitiven Wissens beruht auf den elementaren Erfahrungen. Der Künstler integriert in diese reflektive Abstraktion (inszenierter Selbstbegriff als Einkörperung in Objekt) die Möglichkeit der Handlungsänderung, welche durch die Erweiterung des Wissens hervorgerufen werden kann. Die vom Künstler demonstrativ und übertrieben dargestellte Assimilation (Anpassung) soll zu einer Handlungsänderung führen (Akkomodation), die durch eine Erweiterung des Wissens erfolgreich verläuft.

318 vgl. von Glasersfeld, Ernst: Fiktion und Realität aus der Perspektive des radikalen Konstruktivismus. In: Strategien des Scheins. Kunst Computer Medien. Hrsg. v. Florian Rötzer und Peter Weibel, Klaus Boer Verlag, 1991, S.169

319 ebd., S.169 174

Im ästhetischen Prinzip der Einkörperung sowie in der Wiederholung als verstärkendes Element dieser künstlerischen Methode, wird die Erfahrungswelt des Erlebenden mit einer “Halluzination der Gegenwart“ provoziert. Durch die Wiederholung der Erscheinung (Einkörperung von Lebewesen, Gegenständen des täglichen Gebrauchs) symbolisiert der Künstler die konstruktiven Vorgänge der Assimilation und Akkomodation, die wie im alltäglichen Umfeld des handlungskompetenten Menschen, die Sicherheit und Stabilität der Lebensverhältnisse gewährleisten. Die wiederholte Handlung, die zum Erfolg führt, überwindet die Hindernisse, konstruiert damit den erweiterten Selbstbegriff, stabilisiert die Anpassung des Subjekts an veränderte Begriffe und Beziehungen und sichert somit das Überleben und die Fortpflanzung des Menschen in dieser Umwelt.

In Anlehnung an die konstruktivistische Wissenstheorie benötigt der Mensch oder das Lebewesen allgemein, stets Begriffe und Beziehungen, die sich aus der eigenen Erlebniswelt erweisen, um konstruktive Bausteine für das biologisch physische äquilibrierte Sein herzustellen. Dabei geht es nicht ohne andere konstruierende Lebewesen, die man für die eigenen Konstrukte braucht. Daraus entsteht die soziale Verantwortung, die wiederum für die Erhaltung eines inneren Gleichgewichts (Äquilibration) maßgebend ist.

Das menschliche Körperteil oder die Einkörperung eines Tieres (Hai, Kuh, Schwein)320 ist Bestandteil der eigenen Erfahrungswelt, die für die Bildung eigener Konstrukte notwendig sind. „Die Anderen, so von Glasersfeld, benötigen das kognitive Subjekt, um die höchste Stufe des Wirklichen zu erreichen.“321

4.1.1 Einkörperung: Sehnsucht nach Ganzheit und Schutz

Der menschliche Körper vereint sowohl physiologische als auch soziale Aspekte. Die Darstellung eines Körpers oder Körperfragments in einem Objekt verweist auf das Schutzbedürfnis und stellt durch den musealen Raum und den

320 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.3, Damien Hirst: Mother and child, Divided, 1993

321 s. von Glasersfeld, S.174 175 außenstehenden Betrachter eine metaphorische Verbindung zum individuellen Leib und kollektivem Gesellschaftskörper her.

Die Durchsichtigkeit oder Transparenz der schützenden Hülle ermöglicht einen visuellen Austausch, eine Kommunikation zwischen den Körpern. Die (museale) Hülle ist gleichzeitig eine Metapher der Harmonie, der sozialen Eintracht in einem kollektiven Gefüge (öffentlicher Raum). Durch die gewählte Form der Konfrontation, nämlich dem schockierenden Kunstereignis, stellt sie auch eine neue Kategorie der künstlerischen Revolte dar. Aus der Integration des Körperlichen in ein Gefäß entsteht eine Spiegelung der sozialen Entwürfe. In der künstlerischen Behandlung der dargestellten Körperfragmente spielt die Kunst auf das marode System des Gesellschaftskörpers an. In der Zuschaustellung des Körperlichen in seiner Originalität, richtet er sich an die Kollektivität und fordert das Prinzip der kollektiven Verantwortung heraus. Dabei fungiert der Körper in seiner Gesamtheit als strukturierte Einheit, die jedoch erst in ihrer Einbindung der Einzelteile ein hierarchisches und harmonisches Gefüge ergibt.

Eine Ursache für die Pluralität und den Zerfall der Einheit liegt in der tendenziellen „Selbständigkeit der Organe“ oder der Bestandteile des Gesellschaftskörpers.322 Die Ursachen seiner Auflösung trägt jedes System in sich. Die Methode der Einkörperung verbindet den Tod eines Lebewesens mit dem Ende einer ganzen Gesellschaft. Der menschliche Körper übernimmt dabei die Krone der Schöpfung. Er symbolisiert sozusagen das Oberhaupt der Lebensgemeinschaften und es besteht die Gefahr der sozialen Desintegration, wenn die gewissenlose Individualisierung weiter voranschreitet.

Exkurs: Damien Hirst – postpostmoderner Körpermythos

Tierische oder menschliche Körperteile, die in einem Stahlkasten oder einer hermetisch abgeschlossenen Vitrine aufbewahrt werden, sind in erster Linie Schaustücke. Unter dem Vorwand der Wissenschaft können sie beinahe mit Blicken seziert werden. Die Befriedigung menschlicher Schaulust in Verbindung mit der Enttarnung eines Mythos, verwendet der Engländer Damien Hirst für seine spektakulären Einkörperungen.

322 s. Guldin, Rainer: Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999, S.29 176

Seine Installationen sind Konzentrationen des Verfalls (tote Kühe, Fliegen), die mit den Empfindungen der Betrachter spielen.323 Der Ekel und die Faszination für die Beobachtung dieser Verrottungsprozesse verkörpern die Menschlichkeit, die den Installationen eigentlich zu fehlen scheint. Jay Jopling, der Londoner Kunsthändler, bezeichnet diese Stücke von Damien Hirst, als eine Darstellung der dunklen Seite von Menschlichkeit.324 Mit dem öffentlich inszenierten Verfall, dem Zersetzungsprozess auf Zeit, errichtet Hirst ein Gegendenkmal (Monumentalität der Installationen).325 Er korrumpiert die Gesellschaft der Hygiene und Schönheit mit der natürlichen Verwesung, die ohne äußeren Einfluss nicht aufgehalten werden kann. Hirst schützt seine Objekte und ihre Natürlichkeit durch die Künstlichkeit: Erst die verschlossene Vitrine gewährleistet den Vorgang des natürlichen Verfalls.

Nur der Künstler entscheidet über den Verlauf der Verwesung. Der Zuschauer kann durch die Schutzfunktion der Vitrine keinen Einfluss nehmen, er ist zur Passivität gezwungen und verspürt durch die Beobachtung eine Befriedigung. Die Konfrontation mit der Bequemlichkeit, die dem Genuss von Passivität entspricht, führt zu Irritationen. Eine Kunst, die mit den Empfindungen des Ekels und der Angst vor dem Tod provoziert, ist keine Kunst zum Genießen. Von dem Zuschauer erwartet man Empörung und Abkehr, aber das Sichtbarmachen der dunklen Seite fesselt den Betrachter geradezu an die Installation. Damien Hirst stellt dem Beobachter die menschliche Leere gegenüber, dafür verwendet er die konstruierte Sinnkatastrophe aus dem tierischen Kadaver.

Exkurs: Körper als Bekenntnis der Sterblichkeit

Die nüchterne Art der Körper-Präsentationen in gläsernen Vitrinen erinnert an die öffentliche Darbietung von wertvollen Fundstücken. Diese Artefakte werden in Naturkundemuseen oder historischen Sammlungen in dieser Form dem Besucher präsentiert. Damit werden die Rarität des Fundes und sein geschichtlicher Mythos konserviert. Der gläserne Schutz hält den Betrachter auf Distanz. Zugleich verleiht die durchsichtige Einfassung dem Objekt etwas Einzigartiges und Wertvolles.

323 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.4 , Mother and child, Divided (Seitenansicht), Abb.8: A Thousand years, 1990

324 Quelle: Damien Hirst: Press archive: New York Times, August 04, 1995

325 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.5, Hirst zwischen den Vitrinen, Mother and child, Divided, 1993 177

Aus dieser Originalität entsteht die Kraft des Objektes, die Überhöhung gegenüber ungeschützten, verfügbaren Dingen. Im musealen Raum werden die einmaligen Funde durch die Darbietung ihrer Sterblichkeit zu Schätzen der Gegenwart. Die erneute Einkörperung ist ein Versuch die Sterblichkeit in der konservierten Präsenz aufzuhalten, den Moment des Verlustes für die Menschheit einzufangen, sozusagen auf Dauer sichtbar zu machen.

Damien Hirst wurde 1992 und 1995 mit dem Turner-Preis ausgezeichnet und gilt nicht zuletzt wegen dieser Erforschung der Sterblichkeit als der Vertreter der jungen britischen Kunstbewegung. Hirst verlässt sich ganz auf die Sichtenergie seiner Einkörperungen, die Berührung schließt er durch die Glasvitrinen aus und somit können seine Installationen nicht wirklich spürbar werden. Die Unfassbarkeit wird zu seinem Thema innerhalb der britischen BodyArt-Bewegung: Die Ereignisse, die zwischen Leben und Sterben, zwischen Lust und Angst einen gedanklichen Raum einnehmen. Die Vergänglichkeit des Körpers wird erträglicher durch eine spezifische Sichtsprache, die jene Sterblichkeit der Dinge thematisiert. Diese Ausstellungsformen der Wissenschaftsmuseen (Archäologie, Naturkunde, Völkerkunde usw.) sind den Besuchern bekannt. Hirst verwendet genau diese Arten der Konservierung und Präsentation für seine Werkschau. Wie selbstverständlich gebraucht Hirst aber keine historischen Raritäten für seine Objekt-Kunst, sondern Dinge des Alltags oder Nutztiere und verkörpert gewissermaßen die Sensationen des Alltäglichen, Allgemeinen, die erst durch den Künstler mystifiziert werden. Den Schrecken, den er durch halbierte Schweine oder in Scheiben geschnittene Kühe verursacht, erzeugt die emotionale Nähe beim Betrachter, die er selbst vermeidet. Sein emotionaler Abstand gewährleistet das Prinzip des „cool tool“. Der nüchterne Umgang mit der Sterblichkeit von Lebewesen ist ein Garant für die Authentizität des Ausgestellten. Je sachlicher die Behandlung, desto mehr Distanz liegt zwischen dem Objekt und dem Betrachter. Der Ekeleffekt oder die Faszination für das Gezeigte ist umso größer, je dinglicher es behandelt wurde. Seine geniale Kunstidee besteht darin, diese Spannung in eine Aura zu verwandeln: Eine Erhabenheit, die von der Besonderheit des Lebens ausgeht.

Die Bedeutung der Glasvitrine bei Damien Hirst

Während der Postmoderne wird das Tier zunehmend zum künstlerischen Material. Aus der Arbeit mit Naturmaterialien in den 50er Jahren (Vorläufern der Pop-Art), wie bei Rauschenberg und Arman, entwickelt sich unter dem Begriff der „Realkunst“ 178 eine Steigerung mit körperlichen Absonderungen (Abject Art) und der Darbietung von toten Tieren.326 Mit dem Einsatz von abjektiven Materialien gelingt es den KünstlerInnen sich mit dem Verwischen von Grenzen auseinanderzusetzen, die am Körper vollzogen werden. Das Subjekt, der Betrachtende, kann sich den abjektiven Objekten/Materialien nicht entziehen, da er sie selbst produziert bzw. sie ihm ähnlich sind.

Damien Hirst ist der erste Künstler der Formaldehyd als Konservierungsstoff für tierische Kadaver einsetzt. Auf der Biennale 1995 (Venedig) stellte der dänische Künstler Jan Olsen seine mumifizierten Katzen, aufgelesene Vögel und Fische in Glasvitrinen aus. Die Vitrine ist bei Olsen, wie auch bei Hirst, eine ausgewählte Form der Präsentation, die sich als künstlerisches Konzept stets wiederholt und vor allem die Wahrnehmung des Dargebotenen beeinflussen soll.

Die Vitrine schützt die toten Wesen vor einer weiteren Zerstörung und den Besucher vor dem Verwesungsgeruch. Die konservierten Tiere werden trotz ihrer offensichtlichen Vergänglichkeit und Nutzlosigkeit wie beachtenswerte und kostbare Objekte präsentiert. Die technisch aufwendige Konservierung, wie sie von Hirst bei „The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living“ (1991) 327 durchgeführt wurde, ist ein weiterer Hinweis auf die Wertschätzung gegenüber dem Dargestellten.

Einen Vorbildcharakter für Hirst haben die von Paul Thek ausgestellten „Meat Pieces“ in den sechziger Jahren. Der Brit-Art Künstler verwendet den Präsentationsmodus der Vitrine jedoch auf eine monumentale Weise. Ebenso wie bei Thek spielen zeitgeistliche Entwicklungen eine Rolle und die Vitrine kommentiert sozusagen, die gesellschaftlichen und künstlerischen Tendenzen.

Bei Damien Hirst ist die Größe der Vitrine von entscheidender Bedeutung. Im Gegensatz zu Beuys oder Koons-Vitrinen verwendet er keinen Sockel oder ein Gestell. Die Einkörperung der konservierten Tiere erinnert an naturkundliche Sammlungen. Damien Hirst liefert keine umfassenden Informationen zu den Einkörperungen, die bloße Darbietung erreicht den Zuschauer direkt. Die Schwellenängste werden minimiert, der Zugang zum Kunstobjekt und die

326 s. Thümmel, Konstanze: „Shark wanted“. Dissertation Universität Freiburg (1997), Marburg Tectum Verlag 1998 Anmerkung: Thümmel strukturiert die verschiedenen Arten der Realkunst in ihrer Dissertation. Abject-Art, Eat-Art und die Verwendung von Naturstoffen u.a. von Tieren definiert sie als „natürliche Readymades“ mit gesteigerter Ausstrahlung.(S.48)

327 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.6, Aufbau der Vitrine für Installation mit Tigerhai, 1991 179

Möglichkeit der genauen Betrachtung werden somit erleichtert. Hirst verbindet das Ereignis des kindlichen Staunens mit einem alltäglichem Prozess: Der Verfall, die Verrottung, die Angst vor der Sterblichkeit. Die Tierleiber, die Hirst auswählt um diese Urängste im menschlichen Wahrnehmungsprozess zu aktivieren, verkörpern naturgemäße Emotionen. Mit der Einkörperung in den Vitrinen gelingt Hirst eine gezielte Inszenierung wahrnehmbarer Grenzästhetik. Damien Hirst versucht durch die pseudo-naturkundliche Präsentationsmethode einen emotionalen Abstand zwischen Objekt und Betrachter herzustellen, welcher den Tierleib zu einem wissenschaftlichen Objekt degradiert und folglich eine weitgehend emotionsfreie Betrachtungsweise gewährleistet.328

Diese Distanz ist aber zu gleich die Voraussetzung für eine auratische Wirkung, die vom Kunstwerk ausgeht. Die Monumentalität in Verbindung mit den Attributen der Sensation, wie Todesnähe und Enthüllung von Lebensgeheimnissen, werden durch die Vitrine zu einem seltenen Phänomen, an dem der Besucher durch die übergroßen Schaufenster teilnehmen kann. Hirst erzeugt mit dem Element der Abstoßung erst die Anziehung und Faszination, die von seinen Installationen ausgehen. Damit verbindet Hirst das Konsumverhalten der Gegenwart mit den historischen Präsentationsmethoden: Der Museumsbesucher wird zum Beobachter eines realen Vorgangs.

Hirsts Einkörperungen sind eine Parallelwelt zum alltäglichen Konsum von Katastrophen und Grausamkeiten über Fernsehen, Video oder Internet. Hirst nimmt die postmoderne Konsumhaltung der Menschen zum Anlass der Provokation. Der Einsatz des Vitrinenglases führt die Abgestumpftheit und emotionslose Nähe zum Dargestellten vor Augen. Der entlarvte Voyeur erhält mit dem Tierleib eine spiegelbildliche Metapher für das menschliche Verhalten. Hirst inszeniert Grenzüberschreitung und konfrontiert den Betrachter im Umkehrschluss mit Gefühlen wie Begeisterung, Ekel, Mitleid und Angst. Aus der sicheren Distanz kann auch eine Bedrohung werden, die Grenzästhetik der Einkörperungen demonstriert anhand der tierischen Metapher, dass der Mensch bereits in die alltäglichen Macht- und Beherrschungsstrategien involviert ist.329 Die Vitrine ist ein ideale Präsentationsform für die Enthüllung von akzeptierter Passivität und Konsumlust.

328 vgl. Thümmel, S.82

329 ebd., S.78 180

Wirksamkeit der Einkörperungen bei Hirst

Die gezielte Brechung von gesellschaftlichen Tabus wie die Zurschaustellung von Verwesung und Tod, überträgt Hirst stellvertretend auf das Tier. Der Tierleib, ob als Nutztier oder gefährlicher Meeresräuber, übernimmt in Hirsts Einkörperungen die aktive Rolle der Provokation und Irritation. Der Tod im Museum bekommt durch die ungewöhnliche Art der Darbietung eine neue Emotionalität, die aus der Distanz und Teilnahmslosigkeit eine Aura der Fassungslosigkeit erzeugt.

Bei der Installation „Mother and child, Divided“ (1993) trennt er die Mutterkuh von ihrem Kalb.330 Durch die Verwendung eines Nutztiers erzeugt er Analogien zur menschlichen Existenz und dem sozialen Verhalten. Die Kuh ist eine offensichtliche Metapher für die Alltäglichkeit des Todes, ein Hinweis auf die Tierschlachtung und die Machtverhältnisse innerhalb des postmodernen Gesellschaftsgefüges. Ebenso werden mit der Trennung von Mutter und Kind sinnbildlich der Verlust von sozialen Beziehungen und die Vereinzelung deutlich.

In der kühlen und sterilen Installation demonstriert er den alltäglichen Abstand des Menschen zu diesen Lebensereignissen und erreicht erst durch die Distanz in seiner wissenschaftlich anmutenden Präsentation eine emotionale Reaktion. Durch die grausame Objektivität der Darstellung wird beim Betrachter das Gleichnis Tier - Mensch, Mensch - Tier hervorgerufen. Durch seine typische Technik der Konservierung und Präsentation erreicht Hirst neben der gesteigerten internationalen Aufmerksamkeit für seine Person, eine moderne Form der Mythologisierung in der Objektkunst. Die Tabubrechung und Grenzüberschreitung hebt den Künstler von der Vermassung innerhalb der Kunst ab, die auratische Inszenierung von existenziellen Themen ist zeitlos und setzt trotz wissenschaftlicher Genauigkeit auf Emotionen. Hirst zeigt auf beeindruckende Weise, dass es trotz offensichtlicher Objektivität keine neutrale Präsentationsform gibt, „denn jede Art der Präsentation verfolgt eine Intention und erfolgt aus einem individuellen Blickwinkel.“ Durch die Methoden der Irritation und Täuschung soll der Betrachter veranlasst werden, seine Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Reaktionsweisen zu überdenken.331

330 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.3, Vorderansicht , Installation, 1993

331 vgl. Thümmel, S.84f 181

Bedrohte Existenzen: Hirsts „dangerous art“

Damien Hirst möchte mit seinen Installationen die Betrachter nicht nur verwirren oder täuschen, sondern durch die wahrnehmbare Bedrohung einen gewissen Reaktionsmechanismus hervorrufen. Die Tiere sind Stellvertreter für alles Lebendige und werden bei Hirst zu Todesmetaphern. In „The sign of Life“ (Text zu Katalog) wird die postpostmoderne Vanitas-Symbolik von Hirst wie folgt beschrieben:

„Hirst`s installations return again and again to the notion of the individual life and death as spectacular but transitory manifestations of an endless cycle, cells within a grand, a-temporal tissue: Hirst offers parodies of the desire to, as it were, dissect ourselves out of that continuum.“332

Hirst nennt dieses ästhetische Prinzip selbst „dangerous art“ und schafft mit der Gegensätzlichkeit dieser Typisierung in seiner Kunst wiederum die Besetzung eines Grenzbereichs zwischen Schönheit und Bedrohung, Anziehung und Abstoßung, Geheimnis und Enthüllung, Neugier und Angst.333 In seiner wohl spektakulärsten Installation „The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living“ (1991) nutzt er die negative Einstellung zum Hai, um dessen bedrohliche Illusion zu mystifizieren.334 Die Faszination gegenüber dem Hai, hat seit Spielbergs „Der weiße Hai“ (1975) etwas Kulthaftes. Der Erfolg des Kinofilms „Jaws“ liefert den Beweis für die Sehnsucht nach Erlebnissen im Grenzbereich und deren Mythologisierung, außerdem wird die Macht des Mediums –Film- auf die menschliche Wahrnehmung sehr deutlich. Die Angst vor dem Hai als gefräßiger Räuber aber auch das Geheimnis um seine Existenz und die Verehrung als Herrscher der Meere, verursacht diese ambivalente Wahrnehmung durch den Menschen.

Auf diese Weise werden unterschiedliche Assoziationen mit dem Tigerhai in Hirsts Installation verbunden. Von aggressiv und gefährlich bis zu schön, geschmeidig, geheimnisvoll und mächtig. Die sakrale Aura des Tigerhais erreicht Hirst nicht zuletzt durch die Größe der Vitrine. Über fünf Meter Länge und eine Höhe von 213cm unterstreicht die bedrohliche Illusion. Der Betrachter kann sich nicht über die Vitrine beugen. Er kann sie nur abschreiten und befindet sich in Augenhöhe zum

332 Ausstellungskatalog: A sign of Life. In: Jay Joplin (Hg.). Damien Hirst. Institute of Contemporary Arts. London, 1992

333 zit. nach Thümmel , S.86

334 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.7: The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living, 1991 182 konservierten Tigerhai. Damit rekonstruiert Hirst die lebensbedrohliche Situation im Wasser und durch die grünliche Formaldehydlösung erhöht sich die Lebensnähe des Hais. Er erscheint nicht mehr als Kadaver sondern als perfekte Illusion der Lebendigkeit in Körperhaltung und präparierter Mimik. Die Situation der machtvollen Betrachtung des Menschen gegenüber dem Tier (Naturkundemuseum) verkehrt sich in Hirst Installation. Die optische Monumentalisierung seiner Einkörperungen wirft den Betrachter ganz bewusst auf die eigenen körperlichen Dimensionen zurück. Die Aspekte der Raum- und Körpererfahrung werden in ein neues Verhältnis gesetzt.335

Damien Hirst spielt mit der potentiellen Gefährdung und setzt in seinen Darstellungen auf Grenzverschiebungen hinsichtlich Wirklichkeit, Macht, Freiheit und Opferrolle. Durch die Glas-Stahlkonstruktion in Form einer Vitrine schützt er das Tier, erreicht zugleich eine Lebensnähe in dem er Distanz und Wirklichkeit neu auslotet. Die Beziehung zwischen Objekt und Betrachter und deren Schutzwürdigkeit, verliert bei Hirst seine Eindeutigkeit. Die gläserne Hülle ist Metapher für die Begrenztheit der menschlichen Existenz. Die wahrgenommene Bedrohung durch die perfekte Illusion (Rekonstruktion der Situation im Wasser) ist ein Verweis auf die Macht der Medien und ihren technischen Möglichkeiten der Manipulation.

Damien Hirst verwendet das Tier als biologische Stellvertreter des Menschen. Der Hai, ein vom Aussterben bedrohtes Lebewesen, ist trotz umfangreicher Verhaltensforschung immer noch ein Geheimnisträger. Die tierische Einkörperung suggeriert eine Wertschätzung gegenüber diesem Geschöpf, eine bewundernswerte Seltenheit, die sowohl Herrscher als auch Opfer sein kann. Der Mythos der Vergänglichkeit verkörpert in Hirsts Installationen das Geheimnis des Lebens. Das eigentliche wertvolle Objekt, welches die Vitrine beherbergt, ist dann nicht mehr das was wir als real Vorhandenes erblicken, sondern das was davon in den Köpfen existiert. Es wird zum Blickfang, welcher den eigentlichen Protagonisten in die Vitrine einführt: den Menschen. Der Mensch wird bei Hirst nicht aus der Installation verbannt, sondern ist in Wirklichkeit unablässig anwesend: mittels des Betrachters, der den Platz innerhalb der Vitrine einnimmt.336

335 vgl. Thümmel, S.86f

336 ebd., S.92f 183

4.1.2 Einkörperung: Betonung des Körperfragments

Wenn in den künstlerischen Konzepten die Motive der Zerstückelung von Körpergliedern verwendet werden oder der Blick auf bestimmte Organe gelenkt wird, dann ist dieses ästhetische Prinzip ein weiterer Hinweis auf die gesellschaftliche Segmentierung. Der angestrebten Hierarchisierung, die ein Zusammenwirken der einzelnen Segmente durch Kontrollinstanzen ermöglicht, wird der Zerfall der Kontrollmechanismen, durch die Metapher des konservierten Einzelstücks entgegengesetzt. In der Fragmentisierung oder Vereinzelung wird an den Verlust von Einheit bzw. Ganzheitlichkeit der Systeme appelliert. Natürlich wird auch die Autonomie des Einzelnen in einem klar hierarchisch angeordneten Ganzen betont.337 In der Darstellung des Artefakts im Objekt (Schaukasten) verwirklicht der Künstler ein Widerspiel, um die Zerstückelung und das Zusammenführen eindrucksvoller zu verdeutlichen. Damit forciert er den Gedanken von der Zweckmäßigkeit einer Gemeinschaft, die im Kollektiv die Überlebenssicherheit des Einzelnen gewährleistet und dem -Prinzip der Vernunft- gegenüber dem -Drang zur Unabhängigkeit- nachgibt. Wobei die künstlerische Demonstration des Fragments oder Körperteils einen deutlichen Hinweis auf die Auflösungsprozesse der installierten sozialen Verbindungen bekundet. Die Betonung der Grenze zwischen Ganzheit und Vereinzelung liefert ein Bekenntnis für die Vermeidung eines „inneren Zwistes“ durch die „bekämpfenden Teile“ und unterstreicht die Sehnsucht nach einer „Phase des sozialen Friedens.“338

Exkurs: Paul Thek - Körperspuren und Identitätskern

In einer Ästhetik der Abwesenheit wie Paul Thek sie einsetzte, werden Körperteile wie Artefakte behandelt. Sie verweisen auf eine Spur von etwas Ganzen. Die Bedeutung der Spur ist in der Philosophie der Differenz von Jacques Derrida niemals präsent, „sie ist in einem anderen, anwesend ist sie abwesend.“339 Diese Körper-Spuren zu lesen, ist gleichbedeutend mit einer erkenntnistheoretischen

337 vgl. Guldin, S.33

338 ebd., S.102

339 Weibel zit. Derrida. In: Ästhetik der Absenz, S.25 184

Annahme, die der Künstler mit dem Objekt, dem betrachtenden Subjekt zur Verfügung stellt. Die Materialität des Körpers als verletztes Exemplar wandelt sich durch das künstlerische Konzept der Körperspur in Bedeutung und Information, die wiederum vom Rezipient wahrgenommen wird. Die ästhetische Strategie der Einkörperung funktioniert in zweifacher Hinsicht:

1. In der Theatralität der Darstellung wird der Körper als Darstellungsmittel und Ausstellungsobjekt fokussiert, zugleich zielt diese Theatralität als Korporalität inszeniert auf die Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung.

2. Als Sinnkörper ist er einerseits Kognitionskörper und zwar kognizierender und kognizierter Körper und andererseits Performancesubjekt.

Nach Herbert Willems ist Theatralität eine Art der Körperverwendung in kommunikativen Prozessen. Der Körper ist in der unmittelbaren Interaktion [...] Subjekt und Ressource von Darstellungen, die andere >lesen<, >lesen sollen< und >lesen müssen<.“340

Thek erzählt mit seinen Meat Pieces aus der Serie Technological Reliquaries (1965) postmoderne Allegorien der Abwesenheit.341 Die Bedeutung der Allegorie führte schon im Zeitalter des Barock zu einem verstärkten Bewusstsein von Vergänglichkeit. Die antiquierten Fleischbrocken von Thek setzten diese Reihe der ästhetischen Strategien fort. Mit der Allegorie und der Vanitas-Symbolik ist die Klage über das Schwinden einer Kultur und ihrer Werte verbunden, sie beinhaltet ebenso eine Heilsökonomie. Der zerteilte und zerstückelte Körper diente schon im Barock als Emblem für die Vergänglichkeit. Als Ort der Natur wurde er zum Ort der Geschichte, zu einer rekombinierbaren Sammlung von Fragmenten.342

Thek wählt mit seinen Meat Pieces eine sehr realistische Form der Darstellung. Die Kombination mit Alltagsgegenständen wie bei Meat Piece with Warhol Brillo Box (1965) oder die Verschmelzung mit modernem Werbematerial wie Plexiglas (L- Column, 1966, Untitled, 1966) erweckt den Eindruck von idealer Anpassungsfähigkeit des “Körpermaterials“.343

340 vgl. Willems, Herbert/ Kautt, York: Korporalität und Medialität: Identitätsinszenierungen in der Werbung. In: Identität und Moderne. Hrsg.v. Herbert Willems/Alois Hahn, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1999, 298ff

341 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.9, Paul Thek: Meat Piece, Untitled, 1965

342 vgl. Weibel, Ästhetik der Absenz, S.21

343 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.11, Paul Thek: Meat Piece with Warhol Brillo Box, 1965 185

Der gesteigerte Realismus, welcher in der puren Fleischlichkeit kaum noch verstärkt werden kann, ist paradoxerweise eine ästhetische Strategie, um den Vorstoß des Künstlichen hervorzuheben. Der Körper wird von Thek als dramaturgische Ressource eingesetzt, um die Strukturbedingungen der modernen Gesellschaft zu demonstrieren.

Das -Stück Fleisch- ist Hinweis auf die Ganzheit des Körpers (Abwesenheit), reduziert sich in der Originalität auf den Inbegriff der Authentizität des Selbst, den Identitätskern, in Form des konservierten Fleisches (Behältnis).344 Das Dargestellte wird dabei mit ästhetischen Mitteln „auf den Kern einer individuellen Identität reduziert, die in empfindsamer, unvollkommener und verletzlicher Körperlichkeit verkörpert ist.“345 Im Vorwort zu Paul Thek -The wonderful world that almost was- (1995) wird Theks Gesamtwerk als grenzüberschreitend beschrieben:

„In all of his work, Thek negotiated between the old and the new, between high and low culture. For Thek ...Man is nowhere, he has no place, no dimension or determined size, he is simultaneously large and small, he wanders between the miniscule and the immense and grasps that his surroundings and all he finds familiar lie lost between two infinities.“ 346

4.1.3 Einkörperung: Hervorhebung des Verdrängten

Die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit der Informationen und die mangelnde Überprüfbarkeit der Ereignisse durch die Bilderflut führen zu einem Qualitätsverlust der gezeigten Ereignisse. Die Beschleunigung des Datentransfers verstärkt den Charakter der Oberflächlichkeit und damit verlieren die Ereignisse an Wahrheit und Emotion. Dabei werden heute viele Bilder erzeugt, die dem Ereignis mehr Glaubwürdigkeit verleihen sollen, aber mit der Wiederholung und Überaktivierung von visuellen Effekten tritt das Gegenteil ein: Die Abstumpfung gegenüber dem Gezeigten und die Reduktion von Glaubwürdigkeit.

Durch die Übertragungsmedien werden die Ereignisse immer sicherer. Die Kontrolle über die Bilder und der Wahrheitsgehalt der Ereignisse rücken in den Hintergrund.

344 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.10, Thek: Birthday Cake, 1967

345 s. Willems, S.355

346 s. Paul Thek: -The wonderful world that almost was-, Katalog in Koproduktion mit Wiite de With, Rotterdam, 1995. Deutscher Akademischer Austauschdienst, Berlin, Neue Nationalgalerie, Berlin und Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, S.8 186

Die Denk- und Reflexionspausen halten der Ereignis-Expansion nicht stand und somit werden sie für den Erlebenden reizarmer und verlieren sich in einer „entzauberten Konfusion.“347

Eine künstlerische Variante um die Aufmerksamkeit und damit die Qualität der Ereignisse wiederzubeleben, ist das Unsichtbare sichtbar zu machen. Bei einem Kunstwerk gibt es natürlich die reine Darbietung der Dinge (das Sichtbare) aber in ihrer Anordnung und in Verbindung mit der künstlerischen Intention, wird das Unsichtbare (die Wahrheit) durch die Reflektion erst wirklich.

Die Bilderstürme der Gegenwart sind eine willkommene Basis für denjenigen Künstler, der mit dem vermeintlich Bekannten, das Unsichtbare sichtbar macht. Aufgrund von Zeitnot und den unbewussten Manipulationen der Bildkonstruktions- Maschinerie wird der Beobachter überreizt und hält das Gesehene für die „wahre soziale Wirklichkeit“, da er aufgrund des chronischen Zeitmangels keine Chance zur Überprüfung erhält. Bei der zeitgenössischen Körper-Kunst ist der Körper sowohl Thema als auch Beobachter. Mitten in der Dynamik des Lebens aktualisiert der Künstler sogenannte Gegen-Emotionen, wie Angst und Tod. Die Körper-Kunst verbildlicht durch den Körpereinsatz verdrängte Gefühle und unterbricht die Euphorie der Dynamisierung durch eine bewusste Verletzung.

In einer Konstellation von Mythen mit dem Allgemeingültigen erzeugt Thek eine visuelle Übersetzung dessen, welches sonst nur in einer Unbestimmtheit existiert oder in Zukunft in einer virtuellen Realität, einem Cyberspace stattfinden würde. „Durch die täglich eingeübte, gewohnheitsmäßig routinierte Vorwegnahme des Todes [...] wird die Wirklichkeit des Todes verleugnet“, erklärt Helga Nowotny. Selbst die brutale Wirklichkeit kann durch den Medienschein zum Verschwinden gebracht werden.348 Die Grausamkeit liegt in der Ungewissheit. Die poststrukturelle Body Art nutzt in ihren Konzeptionen jene emotionale Kapazität der Menschen, die durch die Verwissenschaftlichung der Wahrnehmung zunehmend abstumpft. In der technischen Zivilisation zu leben, heißt in einer Umgebung zu leben, die einem eine

347 s. Nowotny, Helga: Das Sichtbare und das Unsichtbare: Die Zeitdimension in den Medien. In: Zeit-Medien-Wahrnehmung. Hrsg. v. Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli, Darmstadt, 1994, S.20

348 s. Nowotny, in: Zeit-Medien-Wahrnehmung. S.21 187 objektive, nichtemotionale Haltung abverlangt, diese ändert auch die Haltung zum Körper.349

Emotionale Bedürfnisse werden durch Massenmedien und imaginäre Welten zwar befriedigt aber durch die Benutzerpraktiken werden sie mit einer wissenschaftlichen Distanzierung erlebt. Infolgedessen wird gewissermaßen die natürliche Schutzfunktion des Körperlichen hinsichtlich seiner psychischen und physischen Empfindsamkeit erweitert, zugleich avancieren seine Wahrnehmungs- und Empfindungsmöglichkeiten zu eingeübten körperlichen Zuständen.

Die Hervorhebung des Verdrängten wird zum inhaltlichen Element der Gegenwartsdiagnose, die durch die BodyArt-X- in einer beklemmenden Weise veranschaulicht wird. Die körperliche Distanz wird durch die demonstrative Körpernähe überwunden. Die Einkörperung von Körperteilen und die Verbildlichung von Gefühlszuständen konfrontieren den Betrachter mit erlebter Unsicherheit. Die erlebte Unsicherheit ist ein Hinweis auf das Unsichtbare innerhalb eines Ereignisses. Die Parallele von Unsicherheit und Unsichtbarem liegen in der Unklarheit des Ereignisses. Der Betrachter wird mit Angstgefühlen ebenso konfrontiert, wie mit Ekel oder Lust und entwickelt mit der quälenden Unsicherheit eine neue Form der Visualisierung. Die Körperkunst, die mit dieser erlebten Unsicherheit oder dem bewussten Ungleichgewicht der sinnlichen Empfindung arbeitet, sensibilisiert den Betrachter in seiner abgestumpften Wahrnehmung.

Gerade Angst ist eine Empfindung, die sowohl die Lust am Risiko als auch die Ohnmacht der Handlung beinhaltet. Die Reizbarkeit in beiden Richtungen wird von der Kunst in einer neuartigen Körpervision vereint.

Exkurs: Rachel Whiteread – Verkörperungen des Verschwundenen

Die Künstlerin der Brit-Art gehört der Künstlergeneration von Damien Hirst an. Ihre Kunst ist still und ernsthaft. Whitereads Skulpturen befassen sich mit den Spuren von Menschen. Dabei konzentriert sie ihre durchaus monumentale Kunst auf die Darstellung von Schnittstellen: scheinbar unsichtbare Räume, die sich zwischen den Formen der An- und Abwesenheit bilden.

349 s. Nowotny, S.24 188

Ihre Abgüsse von alltäglichen Objekten, mit denen sie das Innere nach außen kehrt, verkörpern die unsichtbare Menschlichkeit. Mitte bis Ende der achtziger Jahre nahm sie Alltagsgegenstände -Betten, Stühle, Badewannen und Fußböden - die für eine menschliche Gegenwart standen oder darauf schließen ließen.350 Das Innere dieser Objekte wurde dann durch Abgüsse zum Kunstwerk selbst. Die so erhaltene Negativform aus pastellfarbenen koloriertem Gips, Gummi oder Kunstharz gelangte zur Positivform und symbolisierte in der Abwesenheit eine Vermischung von Persönlichem und Gesellschaftlichen.351

In einem Interview mit Hans Pietsch erläutert sie das Prinzip ihrer künstlerischen Arbeit, die sie selbst als „negativ Räume“ bezeichnet: „Ich wollte diese Dinge unsterblich machen [...] ihnen Größe geben [...] Ich wollte dem Raum unter dem Tisch, wo man seine Beine unterbringt, Würde und Autorität verleihen.“352

Für ihren wohl bisher berühmtesten Abguss „House“ erhielt Rachel Whitread 1993 den Turner–Preis der Tate Gallery.353 Ein House stellt für die Künstlerin einen Mikrokosmos der Welt im Allgemeinen dar; ein gemeinsam genutzter Raum, ein Ort der sozialen Interaktion, wo sich menschliche Grundbedürfnisse und Wünsche erfüllen.354 Ganz im Sinne ihrer künstlerischen Technik, nicht das Objekt selbst abzubilden, lässt sie das Innere eines Wohnhauses komplett mit Zement ausgießen. Auf diese Weise wird die Luft, die den Raum oder Ort umgibt, materialisiert. Die Unsichtbarkeit von Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen, Gerüchen und Verlust wird durch die „Negativ-Räume“ greifbar, sichtbar, spürbar und sorgt für Provokation. Es geht der Bildhauerin darum, den „Blick wieder auf das zu lenken, was als Absenz, als Leere, als die unheimlichen Räume unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens fungierte.“355 Der Betrachter ist mit einer neuen Dimension der menschlichen Überreste konfrontiert, die erst durch die Künstlerin geschaffen wurde. Der Aspekt der dramaturgischen Ressource kommt in der sichtbar gemachten Abwesenheit zum Ausdruck, die Beklemmung wird verstärkt durch die

350 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.12, Rachel Whiteread: Untitled, orangefarbenes Bad, Abguss,1996

351 vgl. Ausstellungskatalog: Rachel Whiteread: Transient Spaces. Organisiert v. Lisa Dennison u.Craig Houser. Deutsche Guggenheim Berlin 27.Okt. 2001 – 13.Jan. 2002. Erschienen im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit, 2001

352 s. Pietsch, Hans: Der Blick ins Innere der Dinge. Interview mit Rachel Whiteread. In: art- Das Kunstmagazin, Nr.2, Februar 1999, S.55

353 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.14, Whiteread: House, 1993

354 s. Ausstellungskatalog, Whiteread, S. 34

355 zit. n. Whiteread, ebd., S.34 189 starre und kühl anmutende Monumentalität von Whitereads Arbeiten. Umfang und Ausmaß ihrer postminimalistischen Arbeiten werden von den Originalen vorgegeben. In dem sie immer auch die menschliche Spur verzeichnen, evozieren ihre Materialien Fragilität und Verletzlichkeit. Ihre Architektur-Skulpturen erinnern an materialisierte psychische Räume. Ihre Abgüsse beschreiben einen inneren Raum. Dieses Innere oder Negativ steht in engem Zusammenhang mit der Bedeutung ihrer Arbeiten: „Absenz wird zur Präsenz“. Und in der sehr präsenten Beziehung, die die Arbeiten zum Betrachter herstellen, finden sowohl auf psychologischer, als auch formaler Ebene Begegnungen statt.356

Ein Beispiel für das kalkulierte Unbehagen ist der Entwurf für ein Holocaust- Denkmal in Wien von 1995.357 Den Wettbewerb gewann Rachel Whiteread 1996 mit einer in Beton gegossenen, nach außen gekehrten Bibliothek. Der nicht zugängliche Innenraum, den die als Bücher modellierten Außenwände umschließen, macht die Leere beklemmend deutlich: Die Leser dieser Bücher existieren nicht mehr.358 Der Verlust von 65.000 österreichischen Juden, die während der Nazizeit ermordet wurden, wird durch die Einkörperung menschlicher Spuren vorstellbar. Der Abdruck eines Raumes ist für die Bildhauerin wie ein Interview, das ihm Gelegenheit gibt, seine Geschichte zu erzählen. Rachel Whiteread mumifiziert Luft, die sie wie einen Körper behandelt.359

Rachel Whiteread entwickelt mit ihren Abgüssen ein Zeichensystem, welches die Absenz in einer künstlerischen Verkörperung konserviert. Gleichzeitig entsteht eine neue Dimension von Körper. Whitereads Interesse gilt dabei nicht irgendeinem Körper, sondern ganz speziell dem pathologischen Körper des 20.Jahrhunderts, dem Homunkulus der Medizin, dem traumatisierten Körper, der nach dem wohl schlimmsten Jahrhundert der Weltgeschichte eine Regeneration dringend notwendig hat. Darin äußert sich der Ausdruck eines Bedürfnisses, Kunst wieder als etwas Einmaliges zu schaffen und zu erleben. Kunst, Architektur und Medizin sieht sie in enger Verbindung. Als Pendant zu den Körperabgüssen der Medizin stellt sie die Modellabgüsse der Architektur. Eine Skulptur, die sich im Grenzbereich

356 Ausstellungskatalog, Whiteread, S.70

357 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.13, Whiteread: Holocaust-Denkmal, Wien, 1995

358 s. Pietsch, S.55

359 vgl. Ausstellungskatalog, Whiteread, S. 2 190 zwischen An- und Abwesenheit befindet. Sie enthüllt die Vergangenheit des Gegenstands, gewissermaßen sein >Unbewusstes<.360

In der Einkörperung des nicht Körperhaften werden Denkräume und Sinnkörper konstruiert. Die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit erzeugt ein Kunstwerk des „Zwischen-Seins“: Kunstwerke zwischen Sein und Schein.361 Die neue Verkörperung stellt in der Einkörperung des Unsichtbaren einen Repräsentant des Anderen dar. Das Abwesende wird durch das anwesende Kunstwerk evoziert.

4.1.4 Körperliche Grenzfälle – zwischen Integration und Neukonstruktion

Aus der Gegenüberstellung von Einheit und Zerfall in einzelne Segmente resultiert eine Thematisierung der Grenzsituation. Der Integration, als Aspekt des Erhaltungswillens für die Gesamtheit und Gemeinschaft, wird die Chance auf Neukonstruktion, Entstehung neuer Ordnungen entgegengesetzt. Auf diese Weise entsteht eine visuelle Markierungslinie des Übergangs. Diese Linie der Überschreitung und damit der Entscheidung für den körperlichen Zustand, ist ein dynamisches Symbol für Veränderung und Umwälzung. Die Auflösung von ganzheitlichen Konzepten wird aber auch als Bedrohung empfunden und führt wieder zu ästhetischen Merkmalen der Schutzbedürftigkeit. So werden in den künstlerischen Konzepten, Körper eingehüllt oder durch andere Objekte begrenzt und damit stabilisiert. Während andere Projekte sehr eindeutig auf die Grenzüberschreitung und die Veräußerlichung einer neuen Körperkonstruktion setzen, die sich in der Vermischung von Körperzustandsformen zeigt. Der Körper hat sich geöffnet, der Organismus wird durch äußere Einflüsse belebt, die räumlichen Grenzen werden durchbrochen und es entwickelt sich ein Aufbruch, der von Innen nach Außen gerichtet ist.

Die Darstellung räumlicher Grenzen im nach innen und nach außen gerichteten ästhetischen Element, symbolisiert die Abwendung von einem abstrakt gehaltenen Gesamtorganismus zu einem spezifischen individuellen Körper. In dem bereits vorangegangenen Exkurs von Rachel Whiteread wurde deutlich, dass die englische

360 Ausstellungskatalog, Whiteread, S.3

361 vgl. Weibel, Ästhetik der Absenz, S.60 191

Bildhauerin Gebäude mit Körpern gleichstellt. Jedoch nicht mit dem idealisierten, gesunden, maskulinen, aufrechten Körper, der ausgehend von Vitruv, den Theoretikern der Renaissance, als Grundmaß der architektonischen Proportion gedient hat. Auch findet das Bodybuilding-Ideal der Jetztzeit keine Verwendung. Whiteread widmet sich dem Grenzkörper des späten 20.Jahrhunderts: ein von der klinischen Diagnose malträtierter Körper, der zur Untersuchung von innen nach außen gekehrt wird. Für die Bildhauerin können Gebäude nicht nur atmen, summen, Wasser lassen und erkranken: „Ich stelle mir Häuser mit Skeletten vor. Die Rohr - und Elektrizitätsleitungen sind die Nerven und Blutgefäße [...].“ Diese Systeme bergen die Geheimnisse, denen Whiteread auf der Spur ist. Der Raum unter dem Fußboden ist „wie der Darm des Hauses, der langsam das Leben der ehemaligen Bewohner verdaut.“362 Das Ausgießen des Wohnhauses ist wie ein >Bariumschluck<, der die Organe des Patienten am Röntgenschirm sichtbar macht.

Dieser Schwebezustand zwischen Verwesung und Konservierung, zwischen Zerfall und Erhaltung, birgt neben dem mythologischen Potenzial auch die Illusionskraft der postindustriellen Kunst. Körperlicher Zerfall, der mit modernster Technologie rückgängig gemacht wird. Der Versuch der Medizin den Körper zu retten, hat sein Korrelat in den Methoden, die nach dem Tod der Verwesung Einhalt gebieten sollen.363

Die Neukonstruktion ist das Anzeichen für die Neuschöpfung, die individuelle Verwirklichung von Wünschen und Sehnsüchten, die sich in einer anderen Gestalt auch in der engeren Verbindung mit der Maschine ausdrücken. Sind die Grenzen porös und akzentuieren einen Austausch oder sogar eine Möglichkeit der Umkehr, so wird ganz bewusst die Weichheit und der Charakter des Verschwimmens, sogar des permanenten Austausch in den Vordergrund gestellt. Das bedeutet, dass die Positionen sich noch nicht verhärtet haben und die Zustandsformen nicht endgültig sind, sondern die permanente Veränderung durch die „osmotische Grenze“ aufrechterhalten wird.364 Guldin schreibt dazu: „[...]Körpergrenzen können systeminnere Schwellen markieren, ein strukturiertes Inneres von einem bedrohlichen, unstrukturierten Äußeren abgrenzen und zugleich, für beide Fälle

362 zit.n. Whiteread, S.76

363 ebd., S.80

364 Guldin, S.141 192 einen Moment des zeitlichen Übergangs versinnbildlichen.“365 Liegt der ästhetische Schwerpunkt eher auf dem Moment der kurzweiligen Zustandsänderung, dann spielt die Haut als Darstellungselement eine gewichtige Rolle. Die ist nicht nur das größte menschliche Organ, sondern die atmende, stets im Austausch befindliche materielle Körpergrenze. Die metaphorische Dimension der Haut übernimmt in dem ästhetischen Prinzip der Entkörperung eine wesentliche gestalterische Rolle.

4.2 Elemente des ästhetischen Prinzips – Entkörperung -

Die Neukonstruktion oder eine Neuschöpfung hat sich vollzogen, wenn die Umgestaltung im Vordergrund der künstlerischen Idee steht. Mit dem Ziel einer dauerhaften Veränderung gegenüber dem vorherigen körperlichen Zustand und einer Realisierung der Konstruktion, ist die Grenze bereits überschritten. Zudem verwirklichen sich in der Neugestalt ebenfalls erneuerte Grenzen.

Ein gestalterisches Element der Entkörperung ist die Haut des menschlichen Körpers. Die Haut ist elastisch und verwundbar. Sie ist die Trennlinie zwischen dem Innenleben und dem äußeren Einfluss, infolgedessen spiegeln sich auf der Oberfläche die Spannungsverhältnisse zwischen Innen- und Außenwelt des Individuums. Die Haut übernimmt eine metaphorische Dimension, die in der BodyArt-X- auch eng mit der Darstellung sozialer Grenzen gekoppelt ist. Die legitime Körpergrenze ist die Durchgangsstelle des Körpers, die sowohl Schutzfunktion als auch Austausch symbolisiert. Die Verletzlichkeit der Haut ist mit einem intensiven Schmerzempfinden verbunden und für den Betrachter sehr gut nachzuvollziehen. Indem die Haut das Innenleben und die Körperorgane schützt, sind zumindest äußerliche Metamorphosen möglich, ohne das Individuum in seinem ursprünglichen Charakter zu beeinflussen. Natürlich ist mit der Veränderung der körperlichen Hülle eine neue Voraussetzung für die Selbstsicht geschaffen. Durch die osmotische Grenze werden die Eindrücke vom eigenen Körper und die Reaktion der Anderen auf den Körper wiederum in das Körperinnere eintreten.

365 Guldin, ,S.141 193

Die Haut ist ein Filter, der in seiner Durchlässigkeit einen Ort des ständigen Austausches darstellt. Die Bedeutungsströme werden in der Kunst jedoch unterschiedlich eingesetzt. Die angesprochene Schutzfunktion soll den Körper vor dem Eindringen von gefährlichen Stoffen schützen. Der menschliche Organismus entwickelt ein Warnsystem, welches auf körperfremde Stoffe reagiert und ein Abwehrsystem alarmiert. Ebenso soll vermieden werden, dass wertvolle Substanzen über die Haut verloren gehen. Neben der Porosität ist das größte menschliche Organ zugleich eine elastische Mauer der Abwehr, die eine lebensnotwendige Stabilität, also ein Wohlbefinden des Körpers gewährleistet.

Die Epidermis ist immer eine Ablagerungsfläche innerer Vorgänge. Die Projektionsleinwand des Individuums dokumentiert die inneren Konflikte und Dramen des Organismus.366 Die Wechselwirkungen zwischen Außenwelt und innerer Verarbeitungsstrategie zeigen sich auf dieser Fläche. Somit ist der Einsatz der Haut in den postmedialen Kunstprojekten ein geeignetes Element, um die zunehmenden Ungleichgewichte zu thematisieren. Die Suche nach Schutz und Stabilität steht der Flexibilität und Beschleunigung gegenüber. Die gegenwärtige Körperkunst registriert diese Angriffe auf körperliche Gleichgewichte und nutzt die Haut als Gradmesser für Zumutbares.

Die Verbindung von individuellem Leibverhalten und kultursoziologischen Gesellschaftskörper zeigt Guldin am Beispiel des Karnevals. Die gesellschaftlich legitimierte Grenzüberschreitung verdeutlicht sich in der Zurschaustellung des „grotesken Körpers“. Im Gegenbild zum klassischen Ideal wird die „Aufhebung sozialer Hierarchien“ sichtbar. Diese Umgestaltung des Körpers und die damit einhergehenden Verhaltensweisen, sind das Merkmal für einen „utopischen Gesellschaftszustand.“367 Der groteske Körper des Karneval, artikuliert nach Guldin, bereits eine vielschichtige Vision der Hybridisierung, die in den neunziger Jahren mit der Technobewegung ihren bisher optischen und emotionalen Höhepunkt erreicht hat. Das Andauern dieser Bewegung hebt die Sehnsucht der Grenzüberschreitung hervor. Denn im Gegensatz zu den klassischen Körpern ist der groteske Körper von der umgebenden Welt nicht abgegrenzt, sondern er überschreitet ganz bewusst Grenzen. In dem er alte Wertvorstellungen ignoriert und in seiner demonstrativen

366 s. Guldin, S.190

367 ebd., S.142 194

Offenheit gegenüber der äußeren Welt für ein freies Spiel mit Teilen und Organen des menschlichen Körpers plädiert.368

Für die einstige Körpergrenze –Haut- bedeutet dies, einen Belastungstest bei dem Durchlässigkeit, Adaptionsmechanismen, Elastizität und Abwehrhaltung auf eine Probe gestellt werden. Die Aussicht auf Neukonstruktion und Einigung auf flexiblere Grenzen demonstrieren die Körperkonzepte der BodyArt-X- durch interaktive Umgestaltungsprozesse.

4.2.1 Entkörperung: Absonderungen des Körpers

Die Haut als Hülle dient dem menschlichen Körper oftmals zur Dekoration oder Gestaltung der Persönlichkeit. Mit dem Antlitz der Haut, ebenso wie mit dem menschlichen Habitus oder der Sprache, wird kommuniziert. Das Körperverhalten in seiner ganzen Erscheinung ist ein Medium, um mit seinem Gegenüber in Kontakt zu treten. Dabei gilt die Haut als Außenseite des Inneren, deshalb wird sie als Ausdruck des Tiefliegenden verstanden bzw. missverstanden. Die zwangsläufige Erschließung des menschlichen Wesens durch die Betrachtung der Haut wird dabei aber in Frage gestellt. Wie bereits angesprochen reflektiert die Haut ein Spannungsverhältnis und lässt keine eindeutige Interpretation des Innenlebens zu.

Diese Freiheit für Spekulationen ist gerade für das künstlerische Konzept interessant. Mit der Haut und ihrer Durchlässigkeit lässt sich das Prinzip der Kommunikation materiell und unabhängig von elektronischen Kommunikationsmedien eindrucksvoll inszenieren. Die jeweiligen Körperzustände kommunizieren über die „5000 Sinneskörper pro qcm“ mit der Außenwelt und erzeugen Reaktionen bei dem Beobachter. Die Überschreitung von Grenzen wird mit dem Gefühl des Schmerzes und der Verwundbarkeit der Haut fühlbar und sichtbar. Ein Angriff auf die schützende Hülle bedeutet Verletzung dieser körperlichen Grenze, die eigentlich erschaffen wurde um Schmerzen zu ertragen. Die Wahrnehmung einer Wunde versinnbildlicht den Blick auf offenes Fleisch, auf den ungeschützten Körper mit seinem Innenleben. Das Austreten von Körperflüssigkeiten oder die Absonderung derselben, sind Reaktion auf einen

368 vgl. Guldin, S.144 195

Körperzustand, der bewusst herbeigeführt wurde oder naturgemäß auf eine Einwirkung folgt.

Das Absondern oder Ausscheiden ist eine „Metapher für die Trennung von Wertvollem und Wertlosem.“369 Die abgesonderten Körperflüssigkeiten, wie Blut, Schweiß oder Sperma können als körperecht bezeichnet werden, da sie aus dem Inneren an die Oberfläche dringen und somit eigentümlich für den jeweiligen Körper sind. Guldin definiert sie als „wahrheitsträchtige Körperflüsse, die nach Außen drängen“ und Einsichten in die Körpergeheimnisse und seine augenblickliche Situation zulassen.370 Die Körperöffnungen transportieren stets Vorstellungen, die „konnotiert sind mit Ideen von Schmutz und Ekel, aber auch Reinheit oder unklaren Unterscheidungen.“371 In der Medizin lässt sich anhand der Ausscheidungen der Gesundheitszustand des Körpers ermitteln. Der Körper gibt sozusagen mit seinen Sekreten und der symbolischen Entkörperung eine “leibhaftige Einsicht“ preis. Die Untersuchung dieser materiellen Zugeständnisse liefert die Interpretationsgrundlage zu der körperlichen Situation. Die demonstrative Entkörperung durch die Verletzung der Haut und ihre abgesonderten Körperflüssigkeiten, lässt sich auch auf den Sozialkörper der Gesellschaft übertragen. Die Lage des Gesellschaftskörpers kann ebenfalls anhand der abgesonderten Gruppierungen analysiert werden. Die Präsenz dieser sozialen Gruppen, ihre Befremdlichkeit oder Normalität liefern Aufschluss hinsichtlich der Unversehrtheit des gesamten Gesellschaftssystems.

Die Körperkunst des letzten Jahrzehnts und die momentanen Entwicklungen besetzen diese Parallelwelten, die den menschlichen Körper mit der Gesellschaftssituation verbinden. Der einzelne Körper wird zur Projektion des Gesellschaftskörpers. Die individuellen Sinnereignisse und Sinnkatastrophen sind Zustände der Gesamtheit, die sich am Schauplatz –Körper- zeigen und sich im Kollektiv wiederholen. Der Prozess kann natürlich auch umgekehrt erfolgen, das kollektive Erlebnis verdoppelt sich am individuellen Körper. Die Austauschdynamik der Haut ist in der Lage, diese kommunikativen Prozesse zwischen Innen – und Außenwelt in ihrer Abhängigkeit anschaulich zu machen.

369 s. Guldin, S.181

370 s. Guldin, S.181

371 vgl. Flach, Körper-Szenarien, S.338 196

Die Intensität wird vom Künstler bestimmt und offeriert entweder ein Schockerlebnis oder eine maßvolle Parallelität.

Das Erkennen von bedrohten Grenzen wird nicht nur durch die Verwundbarkeit und die Absonderung deutlich. Auch wenn die körperliche Hülle keine Wundmerkmale zeigt, wird mit der Überbeanspruchung, der Überdehnung, der Adaption von körperfremden Materien ein Belagerungszustand des Körpers verdeutlicht. Der wie eine Festung seinen Schutzwall erhält, erweitert oder aufgibt. Die Integration oder Anpassung kann sich unterstützend auswirken, während das Austreten des Körperinneren bereits ein Indiz der Entkörperung darstellt und die Wechselwirkung zwischen instinktivem Schutzmechanismus und gewollter Veränderung veräußerlicht. Der permanente Entwicklungsdrang wird durch die Verwissenschaftlichung bzw. Erforschung der Körpergeheimnisse gewährleistet. Dementsprechend können Methoden der künstlichen Metamorphose entwickelt werden.

Exkurs: Stelarc –MaschineMensch- oder vom An- und Ausschalten

Der Australier Stelarc (geb. als Stelios Arcadion) ist Vertreter der cybernetischen Body-Art. Er experimentierte bereits lange vor dem Siegeszug der virtuellen Realität zum Thema Simulationstechniken am Caulfield Institute of Technology und später am Royal Melbourne Institute of Technology. Sein künstlerisches Verständnis der Cyberkultur ist die Verkündung transzendentalistischer Phantasien von der Befreiung aller Fesseln, seien sie nun metaphysischer oder physischer Natur.372 Für den Anhänger McLuhans sind die technischen Apparaturen der virtuellen Realität, des Cyberspace eine Folge der Erkenntnis, [...] dass die physiologische Hardware des Körpers die geistigen Fähigkeiten und das Bewusstsein bestimmt und dass man zu einer anderen Wahrnehmung gelangt, wenn man diese Hardware verändert. Der >Future Body< ist für den „Cyberpunk“ Stelarc die Personifizierung aller posthumanen Sehnsüchte. Der australische Performancekünstler begreift den organischen Körper als „Wirtsorganismus für eine Apparatur, die mit ihm so weit verschmolzen ist, dass sie auch ihrerseits lenken kann.

372 vgl. Dery, Mark: Cyber. Die Kultur der Zukunft. Aus dem Amerikanischen v. Andrea Stumpf. Verlag Volk & Welt. Berlin, 1996, S. 14f. 197

Stelarc begreift den eigenen Körper als Software. Bekannt wurde der Cyberpunk durch seine >Suspensions< zwischen 1976 und 1989, in denen er sich über fünfundzwanzig Mal Stahlhaken durch die Haut treiben ließ, um seinen Körper an wechselnden Orten, in wechselnden Positionen und Situationen, an Seilen aufgehängt in einen Schwebezustand zu bringen.373 Dabei spielt jedoch nicht der - Körper im Schmerzzustand- die gewichtige Rolle seines BodyArt-Verständnisses, nicht der Körperschmerz als Medium, sondern Stelarc versteht seinen Körper als manipulierbare und modifizierbare Struktur - eben als organische Software-, die es mit Hilfe der Technik zu durchbrechen gilt. Sein >Körpertuning< hat den Sinn, des „sich selbst erleben“ mit Hilfe der manipulativen Kraft des virtuellen Phänomens. Die Beschleunigung des Körpers (Tuning) in der virtuellen Realität besteht in der Immersion, also in der bewussten Einbindung des Benutzerkörpers, in das Geschehen. Die Enge des Leibes nimmt Stelarc zum Anlass seiner demonstrativen Entkörperung. Der Körper wird in seinen Performances zum öffentlichen Objekt der Transformation. Diese technische Beschleunigung und die damit verbundenen Veränderungsprozesse außerhalb des Leibes, stehen stellvertretend für die Dynamik der Gegenwart. Das Prinzip seiner künstlerischen Fixierung ist der Enge des Körpers eine Möglichkeit der Ausweitung zu geben. Seinem Verständnis nach, wird die leibliche Kommunikation durch die Apparatur erweitert. Die materielle Körpergrenze als Schnittstelle zwischen Innen und Außen ist das Organ, welches eine direkte Vernetzung mit der elektronischen Erweiterung ermöglicht.374 Die Impulsübertragung entspricht dem körpereigenen Informationstransfer, der einer Reiz-Reaktion-Abfolge zugrunde liegt. Die Hautsinne übertragen die von der Außenwelt erzeugten oder designten Reize direkt auf die Empfindungsebene des Körpers. Dadurch wird ein kontrollierter Kontrollverlust erzeugt, der sich in einem Paradoxon von Selbstbestimmtheit und Ausgeliefertsein bewegt.375 Der Körper und die Geheimnisse seiner Empfindungen (Sinnlichkeit) werden durch die Haut in die elektronische Dimension integriert. Die Erweiterung passiert am Körper und breitet sich in der natürlichen Körperwelt aus. Auf diese Weise wird der Körper zu einer weitergehenden Realerfahrung befähigt, die jedoch simuliert ist.

373 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.15, Stelarc: Stretched Skin, Japan

374 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.16, Stelarc: The Third Hand, Tokyo

375 vgl. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte-Körperbilder- Grenzdiskurse. Rowohlt, Hamburg, 1999, S.265 198

Im Vordergrund dieser (Nach-)Empfindungsästhetik steht die Intensivierung des Kommunikationsbegriffes. Die Kommunikation zwischen zwei Menschen wird auf Sprache, Gestik, Mimik und körperliche Berührungen bezogen. Die Interpretation und Reaktion erfolgt immer auf die Aktionen und sichtbaren Reize des Gegenübers. Die Nachempfindung intensiviert die Kommunikation und die Eigenleib- wahrnehmung durch den Anderen. Liegt der Schwerpunkt der Kommunikation auf der Übermittlung und auf dem Empfang eines sinnlichen Kontaktes, so entsteht nach Stenslie „eine direkte, unmittelbare fast intime Kommunikationsform.“376 Stahl Stenslie erklärt die Intensivierung durch die Eins- zu –Eins-Übertragung: „[...] Wenn ich meinen eigenen Körper berühre, berühre ich gleichzeitig auch den anderen Teilnehmer [...] Wenn ich meine Genitalien berühre, dann wird der Andere merken, dass ich sie berühre.“377 Diese direkte Übertragung der Stimuli bedeutet für Stenslie ein neues Ausmaß der Kommunikation.

Der Wunsch sich in den Anderen zu versetzen wird durch die elektronische Vernetzung zwar angestrebt und als Surrogat der Nachempfindung vermittelt, bedeutet aber auf den zweiten Blick eine kontrollierte Reizerzeugung durch den Körper und damit den verschärften Blick auf die Empfindung des Anderen, bei gleichzeitiger Entfernung (Entkörperung) von sich selbst. Der Blick, die Handlung und die Wahrnehmung konzentrieren sich im Bewusstsein der Selbststeuerung auf die Fernberührung des Gegenübers und den Austausch von taktil erzeugten Botschaften.

Ausgehend von dieser Annahme, hat Stelarc eine eigene Ästhetik des künstlichen Körpers entwickelt, nach der „der Künstler Wegbereiter der Evolution ist, indem er die Flugbahn des Menschen neu berechnet, [...] ein genetischer Bildhauer, der den menschlichen Körper neu erschafft und hypersensibilisiert; ein Chirurg, der Träume implantiert und Wünsche transplantiert; ein Alchimist der Evolution, der Veränderungen in Gang setzt und die menschliche Topographie umgestaltet.378

Stelarc verkörpert mit seinem Amplified Body (1993)379, den Laser Eyes, der Third Hand (1992) und dem Video Shadow, die hybride Mensch-Maschine, keine

376 Benthien zit. Stahl Stenslie. In: Haut, S. 269

377 zit. nach Stenslie, ebd.,S.268f

378 Dery zit. Stelarc: >Strategies and Trajectories<.In: James D.Paffrath und Stelarc (HG): Obsolete Body/Suspensions/Stelarc/, Davies 1984 (S.76), S.176

379 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.18, Amplified Body, Tokyo, 1993 199

Inspiration aus der Zukunft, sondern nach Stelarc eine Realität, die es weiter zu entwickeln gilt.380 Seine ästhetische Entkörperung bevorzugt die konsequente Darstellung und Erweiterung des Kunst-Körpers, des Mensch-Maschine-Konstrukts in Form einer zweiten Natur, die eine Form der Überhöhung suggeriert. „Sein Amplified Body, dessen Gehirnströme, Muskelkontraktionen, Pulsschlag und Blutdruck über verschiedene Sensoren abgenommen, elektronisch verstärkt und zur Steuerung einer komplexen Licht- und Soundmaschinerie eingesetzt werden, ist in den gleichnamigen Performances nur scheinbar der zentrale Akteur.“381 Die Performances des australischen Künstlers sind Cyberpunk in Reinkultur.

In seinem konstruierten cybernetischen Synergismus verwischt der Unterschied zwischen dem, der kontrolliert, und dem, was kontrolliert wird. Er ist mit seinem Körper einerseits Teil des High-Tech-Systems, wie die Apparatur seinerseits von ihm erweitert wird. Diese radikale Identifikation mit der Cyborgisierung impliziert in Form der Überhöhung die Auflösung der Grenzen des Subjekts. Die Distanzierung zum eigenen Körper kommt in Stelarcs zahlreichen Essays zum Ausdruck. In denen spricht er ausschließlich von >dem Körper<, niemals von >seinem Körper<: „Es gibt keinen Sinn mehr den Körper als Sitz der Psyche oder des Sozialen zu betrachten, sondern als Struktur, die gesteuert und verändert werden kann. Der Körper als Objekt, nicht als Subjekt- nicht als Objekt der Begierde, sondern als Objekt der Gestaltung.“382

Die Ästhetik seiner Performances verdeutlicht diese fast klinische Distanzierung zum eigenen Körper, den Stelarc als „Etwas“ und nicht als leibliches Ich versteht. Er vergleicht den Körper mit einem „ballistischen Gerät“, das durch eine Ummodelung, so lange verstärkt und beschleunigt (getunt) wird, bis er zu einem „postevolutionären Geschoss“ wird. Die Gewalt die vom Körper ausgeht, entsteht durch die Neukonstruktion seiner ursprünglichen physischen und psychischen Potenziale. Stelarcs Neukonstruktion verzichtet auf die Differenzierung und zeigt die Einverleibung durch die technische Apparatur. Der Körper wird als instabil und mannigfaltig aufgefasst.

380 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.17, Writing with three hands, und Abb.19, Event for virtual body obscure, Quebec, Kanada

381 s. Kuni, Verena: Mythische Körper II. Cyborg_Configurationen als Formationen der (Selbst-)Schöpfung im Imaginationsraum technologischer Kreation (II): Monströse Versprechen und posthumane Anthropomorphismen. Auf http//wwwmediaartnet.org/themen/cybor_bodies/mythische-loerper_II. 2004, S.4

382 Dery zit. Stelarc, S. 185 200

Basierend auf dieser Erkenntnis prophezeit Stelarc: „Wer sich auf die außerirdische Odyssee begibt, wird die Komplexität, Weichheit und Feuchtigkeit des Körpers nur schwer ertragen können. Der Körper muss ausgehöhlt, gehärtet, dehydriert und von seinen unnützen Eingeweiden befreit werden, damit er ein besserer Wirtskörper für die Technik ist. Die Haut muss abgezogen und durch eine synthetische Hülle ersetzt werden [...].383 Stelarcs Traum vom Körper der kompatibel an jedes Netzwerk anzuschließen ist und durch Ein- und Ausschalten eine perfekte hybride Symbiose demonstriert, verdinglicht und entwertet den menschlichen Körper. Seine Auffassung ist die immer weitere „Narkotisierung des Körpers, um ihn dem elektronischen Wirbel anzupassen.“384

4.2.2 Schwellenexistenzen – auf dem Weg zu Neukörpern

Mit der Überwindung von Grenzen, versinnbildlicht in der Verwundbarkeit der Haut, werden zugleich alte Stabilitäten in Frage gestellt. Die Andeutung des Zerfalls ist nicht gleichzeitig als Auftrag für die Körperunversehrtheit zu bewerten, sondern ebenso ein Hinweis auf fragmentarisches Überleben. Die Integration von Körperteilen wird benötigt für die Adaption modernster Technik. Die zukunftsorientierte Erweiterung des Körperlichen ist ein Indiz dafür, dass das Experiment –Körper- weitergeht.

Die permanente Umgestaltung verfolgt kein konkretes Ziel. Es handelt sich vielmehr um einen fortlaufenden Prozess, da sich die stetig wandelnde Körperstruktur (Außen) wiederum auf das Wesen (Innen) auswirkt und umgekehrt. Im Hinblick auf diese Essenz tauchen in der BodyArt-X- jene Zustandsformen als Schwellenexistenzen auf. Es ist nicht verwunderlich, das gerade der Übergang in das elektronische Zeitalter mit dem zunehmenden Informationsfluss und der Transparenz von Gesellschaften, als Epoche der Überschreitung deklariert wird. Unsere Gesellschaften haben nach Baudrillard den Grenzpunkt einer permanenten Ekstase überschritten: „Ekstase des Sozialen (Masse), des Körpers (Fettleibigkeit), des Geschlechts (Obszönität), der Gewalt (Terror), der Information (Simulation).“ Wenn diese Epoche abgeschlossen ist, „heißt das im Grunde, dass die Dinge selbst

383 s. Dery, S.185

384 ebd., S.188 201 ihre eigenen Grenzen überschritten haben.“385 Die zukünftigen Metamorphosen des Alltags erlauben dem Körper in andere Formen überzugehen. Auf eine gewisse Weise zu verschwinden, heißt auch sich in andere Erscheinungen zu verflüchtigen.

Mit den widersprüchlichsten Zusammenkünften von Körper und einer unvereinbaren Materie, wird die Offenheit und Pluralität des jetzigen Körperzustands in der Performance oder der Objektkunst sichtbar. Die Grenzüberschreitung und die Existenz einer neuartigen Wesenheit, unterstreichen die individuelle Neuorientierung, die durch die äußeren Einflüsse auch die Erscheinungsformen des Körpers mitgestaltet und mit Hilfe der Verwissenschaftlichung die Realisierung der ursprünglichen Phantasieprodukte ermöglicht. Die symbolischen Formen, die in der Kunstwelt konzipiert werden, spiegeln das Verhältnis von Ordnung und Unordnung wieder, in dem sie widersinnige Momente, zum Beispiel in Form von Tierkörpern, Maschinen vorübergehend versöhnen. Diese hybriden Repräsentationen sind die Verschmelzungen, die den Körper in seinem derzeitigen Grenzzustand am eindrücklichsten für das Publikum nachempfinden lassen. Mit dem Aspekt der Nachempfindung wird ebenfalls sehr bewusst gespielt. Die Situation der Neusortierung des Leiblichen erzielt beim Betrachter, der sich in seiner Erinnerung oder Vorstellungskraft in Schmerz, Lust, Unbehagen und Ekel einfühlen kann, eine Motivation. Diese Motivation ruft eine Reaktion hervor, die sich entweder in passivem Körperverhalten oder aktivem Handlungsprozess äußert. Mit den ambivalenten Körperkonstrukten wird auf das „absolute Außen“ hingewiesen, das dem individuellen und nachwirkend dem sozialen Leib mit Auslöschung droht.386

In diesem Fall sind nämlich die Kunstkörper ein Platzhalter für die eventuelle Körperzukunft und somit in erster Instanz ein äußerer Einfluss, welcher auf den Körper und die sinnliche Wahrnehmung des Betrachtenden einwirkt. Im Verlauf des Erkenntnisprozesses entdeckt der Mensch im Anderen und in dessen Handlung einen Hinweis auf sein Verhalten und die Konsequenzen seiner Aktion. Das Individuum interpretiert diese Zustimmung als Sicherheit für zukünftige soziale Verhaltensituationen. In der Konstruktion von Schwellenexistenzen fordert die Kunst diese Abfolge des Erkennens heraus und nutzt dafür die Motive des Leiblichen, um auf die Gefährlichkeit dieser Zwischenphase aufmerksam zu machen.

385 s. Baudrillard, Jean: Das Andere Selbst. Habilitation. Passagen. Wien, 1987, S.65

386 s. Guldin, S.125 202

Denn die Phase ist charakterisiert durch ihre Unbestimmtheit und die Offenheit in alle Richtungen. Die Gefährlichkeit dabei ist die Pluralität und Unentschiedenheit, die sie letztlich charakterisiert. Die Schwellenexistenz des Körperlichen markiert nicht die Überschreitung der letzten Grenze, sie ist Übergangsstadium deren Grenze sich ständig verschiebt und für die Mitglieder der Gemeinschaft nicht erkennbar ist. Die Steuerung erfolgt durch eben diese selbst, sie sind sowohl für die Gestaltung als auch für das Verschwinden von Grenzen verantwortlich.

In der demonstrativen Unwirklichkeit der künstlerischen Neukörper soll der Verlust des Sicheren und Soliden zum Ausdruck kommen. Die Übertriebenheit der Umgestaltung in Performance, Installation oder Objektkunst kann als ritualisierter Übergangs- oder Ablösungsprozess interpretiert werden. Die BodyArt-X- zerstört bestehende Stabilitäten, um die Wahrnehmung für die Stimmung des Alltäglichen zu schärfen. In dem Teile des bekannten Ganzen neu verschmelzen oder die Vollständigkeit des Körpers sogar verwundet und damit symbolisch Grenzen verletzt werden, reflektiert diese Kunstbewegung die sozialen Entwürfe vorausschauend und schafft mit der Darbietung im öffentlichen Raum die Voraussetzung für ein Gefühl der kollektiven Verantwortung in der betrachtenden Masse.

Exkurs: Orlan: –Mobile Körper– Performance als Akt der Entkörperung

Den realen Körper zu unterwerfen und ihn gegenüber Schönheitsidealen oder Bildern einer Überrealität zu opfern, ist wohl der Ausgangspunkt der französischen Künstlerin Orlan. Mit ihrem Langzeitprojekt, welches seit 1990 in ihrem Werkkomplex > The Reincarnation of Sainte Orlan< beginnt, konstruiert sie einen Kunstkörper, bzw. eine Kunst-Weiblichkeit aus den idealisierten Weiblichkeitsdarstellungen der Kunstgeschichte. Ihr künstlerisches Credo: „Mein Körper ist meine Software“, setzt sie, wie der Australier Stelarc, den eigenen Körper für ihre konsequente feministische Performance-Arbeit ein. Ulrike Oudée Dünkelsbühler hat die Videopräsentation und den Vortrag von Orlan wie folgt kommentiert: „Wenn Orlan in der Folge ihrer Performation- durch Performances- ihren Körper aufschneidend, die Hüllen zerreißen lässt und den Anblick dessen offen legt, was der traditionelle Diskurs eine De-Monstration von Monströsem

203 nennen würde, dann ist dies [...] kein Phänomen des andererseits.“387 Orlan setzt ihre Haut („mein Körper“) als zu „beschreibende und zu beschneidende Leinwand“ ein. Sie inszeniert ihre „Schönheitsoperationen“ als Performance, lässt die chirurgischen Eingriffe in allen Einzelheiten auf Video aufzeichnen und bietet sie dann auf dem Kunstmarkt zum Verkauf an. Als Vorlage für die Neugestaltung ihres Gesichts dienen ihr die Idealporträts der Kunstgeschichte aus verschiedenen Epochen. Ob Nofretete oder Venus, aus den Gesichtern und Körperteilen entwickelt die französische Performance-Künstlerin ein Selbstporträt. Auch die Fotografien, die sie vor und nach den Eingriffen zeigen und die allmählichen Mutationen ihrer Gesichtszüge dokumentieren, werden – wie in >Omniprésence< (1993) – als Kunstwerke verstanden und ausgestellt.388 Diese neuzeitlichen und medienwirksamen Selbstbildnisse sind vergleichbar mit den schockierenden Selbstporträts der älteren Kunstgeschichte.

Der berühmte und zu Lebzeiten isolierte Maler Vincent van Gogh erschüttert 1889 mit seinen „Selbstbildnis mit verbundenen Ohr.“ Die gezielte Verstümmelung seines Körpers hält der holländische Maler auf Leinwand fest und erzeugt mit diesem Selbstporträt ein Spiegelbild seines seelischen Zustands, der sich in der Selbstverletzung äußert. Orlan dagegen übertreibt das klassische Porträt durch den Einsatz der neuen Technologien. Der Pinsel wird durch das Skalpell ersetzt und die Verwandlung, Mutation oder das Verschwinden in eine neue Erscheinung werden durch Video und Computer festgehalten. Die Fragmentierung des eigentlichen Ganzen in eine Patchwork-Schönheit, die nach Orlan in einer Inkarnation der >übernatürlichen Schönheit< enden soll, ist ein andauernder Prozess der Grenzüberschreitung und Entblößung des Körpers in der Öffentlichkeit.

Die historische Körpererfahrung ist mit den postmodernen Chancen der Körpermodellierung in einen neuen Aggregatzustand übergegangen. Die stetigen Zustandsänderungen des Körpers, seinen porösen Charakter überträgt die Künstlerin auf die Empfindungsästhetik einer neuen kulturellen Epoche, die insgesamt als Performance definiert werden kann. In der Dauerperformance der Künstlerin werden die Grenzüberschreitungen auf vielen Ebenen zu einem metaphorischen Element der Körperdarstellung.

387 Oudée Dinkelsbühler, Ulrike im Vortrag: „dies ist mein Körper... dies ist meine software“ Videopräsentation und Vortrag von Orlan. Zum Symposium im Thealit/Bremen. 18.10.1997. Im Frauenkultur Haus Thealit in Bremen/www.thealit.de

388 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.20, Orlan: Omniprésence, 1993-94 204

Die festen Strukturen verwischen: die Beziehung zwischen Kunst und Alltag, [...] von Natur und Technik, von Kunst- und Körpersprache, von Vorstellung - Darstellung - Handlung, von Text und Inszenierung, ebenso wie von Bild- und Zeit-Raum.“389

Orlan ist fasziniert von dem Gedanken: „[...] ich kann meinen Körper offen sehen ohne zu leiden! Ich kann mich bis auf den Grund der Eingeweide sehen.“ Es ist diese Grenzerfahrung mit Hilfe der Apparatur. Sie geschieht im Erproben des Schmerzes am eigenen Körper. Im Rahmen dieser Dauerperformance geht es Orlan nicht um die Darstellung eines emotionalen Geschehens am Körper, wie bei dem Selbstporträt von van Gogh. Vielmehr bestimmt die Visualisierung einer künstlich herbeigeführten Grenzerfahrung am eigenen Körper ihre künstlerische Arbeit. Dazu gehört auch die Sichtbarmachung der Gewaltsamkeit dieser chirurgischen Eingriffe: Narben, Schwellungen und blaue Flecken entstellen das Gesicht - an dessen Zügen etwas Monströses, Auswucherndes, Fremdes haftet. Dinkelsbühler zitiert dazu L`art charnel: „Orlan oszilliert zwischen Defiguration und Refiguration.

Sie schreibt sich ins Fleisch ein, weil unsere Epoche uns das zu ermöglichen beginnt. Der Körper wird ein modifiziertes Ready-made, weil er nicht mehr dieses Ready-made ist, das man nur noch signieren muss.“390

Es sind die neuen Formen der Überzeichnung oder „Self-Hybridations“(1998)391 mit denen sich Künstlerinnen wie Orlan die fragmentierten Schönheitsideale anderer Zeiten und Kulturen einverleiben und sich dabei gleichzeitig selbst entblößen.392 Dieser Akt der Entkörperung wird durch die Apparatur so schockierend. Die Visualisierung in Form der Videopräsentation steigert die Entblößung und die Perforation des Körpers durch das Einschneiden mit dem Skalpell. Die Dauer- Operation ist ein Indiz für den Manierismus der Post-Postmoderne in Echtzeit.

Zum Ende der Renaissance war der Manierismus eine Steigerung der Körperwahrnehmung in der Kunst: überlängte Körperteile, Extremitäten mit übertriebenen Drehungen und anatomisch unkorrekte Gliedmaßen sollten die

389 s. Barck, Karlheinz: Materialität, Materialismus, Performance. In: Materialität der Kommunikation, 1988, S.133

390 s. Dinkelbühler, www.thealit.de, S.5

391 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.21, Orlan: Videostill eines chirurgischen Eingriffs, 1993

392 vgl. Kuni, Verena: Mythische Körper II. Cyborg-Configurationen als Formationen der (Selbst-)Schöpfung im Imaginationsraum technologischer Kreation (II): Monströse Versprechen und posthumane Anthropomorphismen. Auf http//wwwmediaartnet.org/themen/cybor_bodies/mythische-loerper_II. 2004, S.6 205

Schönheit, Eleganz, Dynamik des Körpers im Bild fixieren und übertreiben. Die neuen Körpertechnologien ermöglichen Orlan am eigenen Leib dieses Idealbild zu realisieren. Es sind die Phänomene der Hybridisierung, die kennzeichnend für das postkoloniale Zeitalter sind. Die Figuren der Überschreitung erschaffen einen zeitgeistlichen Manierismus, dessen Korpo-Realität die Brüche und Schnittstellen sichtbar macht, anstatt sie zu bespielen.

4.2.3 Körpererfahrung in Parallelwelten: –Sich–In-Sich- Wohlfühlen -

Die Bevorzugung der Virtualität im Alltäglichen, wie in der Kunst, verweist zum einen auf die Unentschiedenheit und natürlich ebenso auf die Faszination, die das Prinzip der virtuellen Realität auf den Menschen ausübt. Sie bietet ihm eine andere Welt an, ohne sich von der natürlichen Realität verabschieden zu müssen. Das Angebot ist eine Parallelwelt, in die er seinen Körper mitnehmen kann, dadurch sogar intensivere Erfahrungen durchlebt.

Mit dem Betreten dieser virtuellen Realität nähert sich der Mensch bestimmten Lebenssituationen, die er gern bei vollständigem Bewusstsein erfahren möchte, aufgrund der Nebenwirkungen aber nicht erleben kann. Die Bewegung in einer virtuellen, also einer künstlichen, manipulierbaren Welt führen ihn in die Nähe des Imaginären. Dazu gehören die Vorstellung der Selbsterfahrung bei Operationen, die körperliche und physische Situation zwischen Leben und Tod oder das nicht wiederabrufbare Erlebnis einer Schlafwandlung oder eines Alptraums. Diese Bereiche sind biologisch und wissenschaftlich erklärbar, trotzdem kann der Mensch sie nicht künstlich hervorrufen und daher hinterlassen sie viel Spielraum für Spekulationen über die vermutliche körperliche Befindlichkeit.

Bei der Konstruktion dieser illusionären Räume wird immer berücksichtigt, dass der Mensch es genießt, sich nach einem bestimmten Bilde zu modellieren. Die elektronische Reproduktion wird als gefahrlose Variante der Selbsterfahrung vorgezogen. Da letztlich die Angst vor Schmerzen oder gar einer lebensbedrohlichen Situation den Zustand der Unentschiedenheit aufrechterhält. Der VR-Welt-Erlebende entdeckt seine Umgebung wie eine Operation von außen, ähnlich wie in der medizinischen Endoskopie kann er in einen Wirkungsbereich hineinsehen und befindet sich sozusagen in einer Parallelwelt. Mit Hilfe der

206

Technologie sind aus den künstlichen Intelligenzen mittlerweile Imaginationsmaschinen geworden, die nicht nur komplexe Erkenntnisse in einer intelligenten Weise visualisieren und damit die imaginären Fähigkeiten ihrer Benutzer erweitern. Die Agitation innerhalb dieses künstlichen Wirkungsraums ist in den Bereich komplexer Handlungsweisen der natürlichen Umwelt gelangt und macht ein Floating zwischen den Lebensbereichen dieser Parallelwelten immer wahrscheinlicher.

Mit der neuen Verbundenheit zum künstlichen intelligenten System wächst die Vorstellung von einer „dynamischen und komplexen Infosphäre“ die zum neuen Marktplatz der Begegnungen (facebook, twitter, instagram) wird.393 Die Vision von einem Kunstkörper, der sich aus unterschiedlichsten Fragmenten zu einem Idealkörper zusammenfügt, ist seit den Traumkonstrukten des Surrealismus nicht unbekannt. Innerhalb der Parallelwelt lassen sich diese überwirklichen Dimensionen der Körperlichkeit in naher Zukunft realisieren: „[...] eine Entwicklung an deren Ende eine konsensuelle digitale und ortlose Parallelwelt steht, in die man durch entsprechende Schnittstellen eintaucht und in der man ähnlich präsent ist, wie mit seinem fleischlichen Körper in der materiellen Welt.“394

In dieser ortlosen Parallelwelt setzen sich der natürliche Prozess der Selektion und der Übergang zu höheren Lebensstufen aus der natürlichen Welt fort. Die kollektiven Erkenntnisprozesse, die sich aus den sozialen Netzwerken der weltweit kommunizierenden Menschen entwickeln, verdichten die Informationen und die zusammenströmende Intelligenz zu „einem Gehirn von Gehirnen“. Rötzer spricht sogar von einem „globalen Gehirn“, welches den Trend der Natur zur Entstehung immer komplexerer Organismen und Gehirne nun in der Technik fortsetzt.395 Diese Denkprozesse, Erlebnis- und Erfahrungsberichte konstruieren ein neues Gesamtverhalten, die jene Vorstellung vom alten Ganzen in eine post-postmoderne Dimension der Technik überträgt und zu Wortschöpfungen wie „Superorganismus“ verleitet.396

393 s. Rötzer, Florian: Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkultur. Karl Hauser Verlag, München, 1998, S.43

394 s. Rötzer, S.44

395 vgl. ebd., S.50

396 s. ebd., S.55 207

Die Austauschbarkeit von Datenmengen und die Aktivierung neuer Bild- und Informationsquellen setzen die Hemmschwellen der Machbarkeit herab. Die Schnelligkeit mit der sich Verbindungen und Kommunikation aufbauen, lassen sie auch wieder verschwinden. Dabei hinterlassen die Experimente keinen Müll und sind von vornherein nicht auf Beständigkeit ausgerichtet. Jene Kunstwerke die sich den Neuen Medien der Informationsgesellschaft annehmen und den Menschen in die imaginären Wirkungsbereiche hineinprojizieren, bedienen sich dem Faktor der Aufmerksamkeitssteigerung. Mit der Schöpfung und Darstellung dieser imaginären Räume und der Integration des menschlichen Körpers in diese “Seifenblasen- Realität“ reagieren sie zum einen auf die Veränderungen ihrer eigenen Umwelt und zum anderen auf den Wandel innerhalb der künstlerischen Medien und Gattungen. In der Leichtigkeit der Kompositionen und der unproblematischen Austauschbarkeit von Objekten, Körpern und Szenarien kommentieren diese künstlerischen Parallelwelten die eindeutigen Hemmschuhe der vernetzten Medien: Bindungen, Dauer und Konzentration werden bei interaktiven Milieus als lästig empfunden, die Netze fordern Individualisierung und Vereinzelung des Menschen, die in der Eingeschlossenheit im Medium vom Künstler zum Ausdruck gebracht werden.

Exkurs: Mariko Mori -Future Body- Körperkapseln im Wunderland

Die futuristischen Szenen ihrer großformatigen Fotografien und ihre populären Videoinstallationen machen Mariko Mori zu einer Botschafterin der Post-PopArt. Mori wurde 1967 in Tokio geboren. Sie zeigt den Körper als feste Größe in einem Spielfeld von technischen Manipulationen. Angeregt durch den Grenzbereich von Realität-Tradition und Imagination-Spekulation. Ihre Körper-Maskeraden operieren als künstliches Konstrukt und als idealisierte Weiblichkeitsfantasie. Sie erfindet sich stets neu. Wie die Pop-Ikonen oder Kylie Minoque ändert sie Erscheinungen mit jedem Comeback und thematisiert auf diese Weise auch die Begrenztheit stereotyper Geschlechterkategorien, indem sie spielerisch mit Geschlechterrollen und –Identitäten jongliert. Ihre Arbeiten konzentrieren sich auf den Pool der medialen Möglichkeiten des 21.Jahrhunderts. Mit Hilfe der postindustriellen Technologien erschafft sie somit Ikonen der Cyberkultur. Ihre Kunst-Subjekte sind Teil der Apparaturen, die sie vereinzeln. Die Apparate dienen

208 der Ausweitung des eigenen Nervensystems. Sie erweitern das Individuum mit Hilfe der Computertechnologie und bieten das Gefühl des Zuwachses an Kompetenz und die Gewissheit der Ausdehnung des eigenen Kontroll- und Einflussbereichs.397 Am Computer werden Moris Fotoserien und elektronische Bildwelten zurechtfrisiert. Auf die Frage, was das Wesentliche an ihrer Welt ist, antwortet die Künstlerin: „Meine Religion ist Kunst.“ Ihre Körperkapseln (1996-97) sind für die in New York lebende Künstlerin wie „Aufklärungskapseln“, in denen sich das darin eingeschlossenen Individuum gänzlich seiner Individualisierung widmen kann, während die transparente Kapsel den Körper in die verschiedenen Wirklichkeiten transportiert.398 Die Japanerin ist die Botschafterin von populären Mythen, Comics, Kitschkultur und Zukunftsszenarien. Die Koexistenz von Alt und Neu ist für Mariko Mori eine Herausforderung. Die Schnittstelle der Parallelwelten bereist sie durch ihre humorvollen Cyborg-Konfigurationen (1996-1997). Mode und Maskierung im Stil eines Kult-Science-Fiktion-Models oder einer Manga-Fee geben den Figurationen in den Kapseln etwas Fremdartiges (Fremd-Körper). Moris Körperkapseln bewegen sich zwischen Erinnerungslandschaften von mehrschichtigen, uneindeutigen Situationen (Unwirklichkeiten) und der Gegenwärtigkeit, die durch den eingeschlossenen Körper (geschützte Zelle) symbolisiert wird. Der begrenzte Erfahrungshorizont wird durch die Einkapselung des Körpers dargestellt. Die Miteinbeziehung einer innerzeitlichen Ebene durch Träume, Erinnerungen und futuristischen Assoziationen spiegelt die verwirklichte Selbstinszenierung der Japanerin wieder.399 Die Realität ist für Mariko Mori zu einengend. Ihre Erfahrungen während Ausbildung und Lebensalltag in Japan unterstreichen die künstlerisch überzeichnete Selbstverwirklichung der Künstlerin, die sie zum ureigenen Stil erhoben hat. „Ich suchte nach Freiheit. Japan ist eine vereinheitlichte Gesellschaft, die keinen Individualismus zulässt.“ 400

Die Cyborg-Konfigurationen der Japanerin verströmen keinerlei Ängste beim Betrachter, vielmehr sollen sie sich optimistisch und belustigend auf die Betrachterwelt auswirken.

397 s. Schubinger, Irene: Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und >self-editing< Dietrich Reimer Verlag GmbH, 2004, S.183

398 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb. 22, Mariko Mori: Esoteric Cosmos/Entropy of Love, 1996/97

399 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.23, Mori: Mirror of Water, 1996/97

400 On-line-Haus Ackland/ www.ackland.org./art/exhibition. Journal der zeitgenössischen Kunst. Interview mit Mariko Mori. 2000 209

Zwar verleihen in Moris Video >Miko No Inori< (1996) die hellen Kontaktlinsen den unheimlichen Blick einer Cyborg, doch sorgt die Künstlerin Mori gleichsam mit der sanften Sphärenmusik für eine positive Gesamtwirkung der unterkühlten Cyborg- Schönheit.401 Sie inszeniert sich als Kristallkugel streichelnde Heilsbringerin, die sich zum einen der harmonisch trivialen Popkultur bedient aber ebenso Attribute der traditionellen, religiösen Ikonographie veranschaulicht.402

Ihre Außen- und Innenraum Trennung zeigt in verspielter Art die Faszination gegenüber der Cyberkultur. Mit ihrem Projekt >Wave UFO< (1999-2002)403 -einer futuristischen Raumkapsel, in der Besucher ihre Hirnströme in fließende Bilder übersetzt sehen sollen- kombiniert Mori alte esoterischen Wunschträume mit Visualisierungen aus Science Fiktion und angewandter Technowissenschaft. Ihre Visionen des Vorstellens und Erwartens werden zu einem phantasmatischen Raum, den sie mit Hilfe der Kunst und Apparatur in den Realraum transportiert, indem sie auf der einen Seite ihr Publikum direkt involviert und sich selbst als Kunstfigur bzw. Selbstschöpfung revitalisiert. Die Körperkapseln demonstrieren den Auswuchs des Menschen und den Menschen als künstlichen Auswuchs seiner eigenen Prothesen.

Die schützende transparente Hülle lässt den Kontakt mit neuen, zukünftigen Welten zu. Die Flexibilität dieses zellenartigen Gefährts liefert einen Hinweis auf die Mobilität des elektronischen Datentransfers. Die Bilder der Zukunft entstehen nicht im Kopf, sondern am Monitor. Der Körper ist zugleich eingeschlossen (Einkörperung) aber hat sich durch technische Aufrüstung zum Sklaven seiner Erlebnissucht (Entkörperung) gemacht. Die freundliche Cyborg ist wie das Monster eine Figur der Überschreitung, der Verschiebung und der Verstörung. Das widerständige Potenzial macht die/den Cyborg zum Konstrukt einer Grenzästhetik zwischen Ein- und Entkörperung.

401 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.25, Miko No Inori, 1996

402 vgl. Kuni, Verena: Mythische Körper II. Cyborg_Configurationen als Formationen der (Selbst-)Schöpfung im Imaginationsraum technologischer Kreation (II): Monströse Versprechen und posthumane Anthropomorphismen. Auf http//wwwmediaartnet.org/themen/cybor_bodies/mythische-loerper_II. 2004, S.8

403 s. Abbildungsverzeichnis, Abb.24, Wave Ufo, 1999-2002 210

Exkurs: Tony Oursler -der Dummy - als menschlicher Stellvertreter

Der amerikanische Künstler Tony Oursler (*1957) hat mit seinen skulpturalen und installativen Arbeiten einen bedeutenden Stellenwert für die internationale Kunst der neunziger Jahre. Die einzigartige Thematisierung des schutzlosen Körpers in Verbindung mit der intensiven Auseinandersetzung der Mediengesellschaft unterstützt die Auffassung, dass Tony Oursler zu den Vertretern einer grenzüberschreitenden BodyArt gehört. Der Künstler macht sich die Bild- und Bildbearbeitungseigenschaften des Video für seine Werke zu nutze. Sie eignen sich ideal für eine künstlerische Untersuchung des Imaginären in Verbindung zur Psychophysiologie der Wahrnehmung. Der Wechsel zwischen Innen und Außen, zwischen Präsenz und Absenz, Volumen und Umriss lassen sich mit psychischer Wucht, Assoziationen und Erinnerungen aufladen.404 Die Auswirkungen der Medienvielfalt auf die Seele des Menschen führen den Amerikaner zu komplexen Zwitterwesen aus „Beseelten und Unbeseelten“. Diese deformierten Körper sind Zwitter aus menschlichem Organismus und Maschine. Nicht im Stil von Stelarc oder Orlan setzt er den eigenen Körper oder organisches Körpermaterial ein, sondern seine Dummies, Puppen und Wolkenstücke bestehen aus Figuren, Gesichtern oder Körperteilen, die auf kleine Stücke industriell und handwerklich gefertigter Materialien projiziert werden.405 Ourslers Kunstwesen sind nicht die eindeutige Übersetzung eines psychischen Defektes in ein artifizielles Wesen, sondern seinen Dummies ist etwas Diffuses zu eigen – ein Verschwimmen von Identität-.406 Durch die Videotechnik löst Tony Oursler die Körpergrenzen auf. Die Deformation des Körperganzen in der Visualisierung des Dummies, des menschlichen Stellvertreters, gelingt ihm durch die Verschiebung von Körperfläche auf Bildschirmfläche. Die Volumina seiner Körper werden verrätselt. Die Deformation in Zwitterwesen entleert die Körperfläche vor den Augen des Betrachters. Es bleibt das „Puppenhafte“, die Verzerrung des Körpers in einen Ersatzkörper. Oursler konzipiert eine quasi- menschliche Form, die auch Geräusche von sich gibt und konfrontiert mit Hilfe der Videotechnik den Menschen mit seinen Ängsten, Wünschen und Gefühle.

404 vgl. Schubinger, S.43

405 s. Janus Elisabeth/Colombo, Paolo : Einige Anmerkungen zu neuen Arbeiten von Tony Oursler. In: Tony Oursler. Portikus. Hrsg. Malsch, Friedermann. Frankfurt a. Main, 1995, S.18

406 vgl. Flach, S. 369 211

Friedermann Malsch beschreibt die Reaktion auf die Installationen mit den Worten: „Den Arbeiten Ourslers haftet seit einiger Zeit eine obsessionale Beschwörung des Schreckens an, ein nackter Horror [...] über kurz oder lang stellt sich meist jener Moment ein, den wir aus der Betrachtung von Gewalt im Kino oder Fernsehen kennen: der > ich-kann-es-nicht-mehr-aushalten < -Reflex, der uns dazu bringt wegzuschauen, uns dem Gezeigten nicht mehr auszusetzen.“407 Im Zentrum seiner komplexen Werke steht die Ambivalenz von Technik und Natur, von Maschine, Mensch und Körper. Seinen Puppenmenschen oder Dummies haftet etwas Geisterhaftes an.408 Diese belebten menschenähnlichen Wesen können Abjekt sein, weil sie weder eindeutig Subjekt noch Objekt sind. Sie sind wie ihr Name schon sagt, „Stellvertreter der Menschen“, schon weil Oursler sie lebensgroß konstruiert. Auf die meist übergroßen Köpfe projizierte der Künstler sprechende Gesichter. Je genauer sich die Bilder auf die kleinen Projektionsflächen platzieren ließen, „desto mehr verselbständigten sich die Köpfe, um zuletzt körperlos existieren zu können.“409 Der Künstler selbst bezeichnet seine „Dummies“ als „the most paranoid“. ( „MMPI Test Dummy, 1993, HYSTERICAL, 1993 und FULL MOON, 1994). Oursler arrangiert diese „merkwürdigen Wesen“, die aus alten Jackets und Hosen bestehen, zumeist hängend oder liegend, die Beine sind häufig unten zugebunden. Damit verweist er den Betrachter auf die Abmessungen des Körpers, der hier aber abwesend ist. Seinen sprechenden „Dummies“ fehlt jede „vitale Energie“. Die Abwesenheit des Körpers ersetzt er partiell durch technische Energie. Malsch zitiert Oursler: „That`s part of their beauty: what they are not, cannot be. It`s part of their design: provocation through absence.“410 Vom ursprünglichen Subjekt bleiben nur arrangierte Bruchstücke. Das Individuum beginnt sich in dieser Fragmentierung zu verlieren. Oursler kreiert mit Hilfe der Technik eine vielfach zergliederte Projektion der multiplen Facetten eines Ichs.411 Seine Dummies (Multiple Personality Disorder, 1998) verkörpern in ihrem entkörperten Wesen die

407 zit.n. Malsch, Friedermann: Eine Art Urschrecken. Über Dummies, Kleidung und die Abwesenheit des Körpers im Werk von Tony Oursler. In: Ausstellungskatalog. Portikus. Frankfurt a. Main, 1994, S.29

408 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.26, Tony Oursler: MMP, Test Dummy, 1993

409 s. Müller, Maria: Tony Oursler. In: Das Ich ist ein Anderes. S.282

410 s. Malsch, Friedermann: Eine Art Urschrecken. Über Dummies, Kleidung und die Abwesenheit des Körpers im Werk von Tony Oursler. In: Ausstellungskatalog. Portikus. Frankfurt a. Main, 1995, S.29

411 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.27, P.O.V. 1993 und Abb. 28, Installation, 1998 212

Konsequenz einer „neuen Ära der Selbstfindung und Selbstbestimmung.“412 Mit der Thematisierung der Mechanismen von Konstruktion und Dekonstruktion der Individualität und Identität enttarnt Oursler die komplexen Bezüge und Machtverhältnisse der postmodernen Gesellschaft.413 Oursler beraubt seine Protagonisten ihres Körpers. Er nimmt ihnen die wesentlichen Komponenten, die ein Individuum unverkennbar machen: die Physiognomie des Gesichtes und die Stimme. So körperlos begegnet dem Betrachter die Person nicht mehr als Gegenüber, vielmehr gelingt es Oursler die Grenzen zwischen Werk und Betrachter zu verschleifen.414 Auf diese Weise wird in seinem Oeuvre dieses Unbehagen spürbar, welches von Malsch schon eindringlich beschrieben wurde. In der ordentlichen Welt stimmt etwas augenscheinlich nicht mehr. Dieses beunruhigende Gefühl paart Oursler gekonnt mit der Faszination. Seine Puppen und Dummies stehen „ als Projektionsflächen für Obsessionen und sind ein Instrument der Phantasien des Betrachters, die auf Verkörperung und Realisation drängen.“415 Damit greift er genau auf die Wirksamkeit der elektronischen Bildmaschinerie zurück. In seinen Installationen werden die emotionalen Widersprüche von Hoffnungslosigkeit, Unsicherheit, Schrecken zum beklemmenden Abgrenzungsversuch des Körpers gegen eine Technologie, die längst über das Niveau einer allgemeinen Nachvollziehbarkeit hinausgeht.416 Ourslers Installationen sind charakterisiert durch die systematische Auflösung von Geschlossenheit, in der Rezeption seiner Werke kombiniert er Abstoßung und Anziehung. Das Fazit seiner Grenzgängerkunst ist die Ununterscheidbarkeit von äußerem Realem und innerlich Vorgestelltem des Geschehens. Für den Betrachter gipfelt diese Mehrdimensionalität der Erfahrung in eine erlebte Unsicherheit.

412 s. Malsch, S.29

413 vgl. Flach, S.368

414 vgl., Müller, S.282

415 zit. nach Flach, S.373

416 vgl. Janus/Colombo, S.20 213

Exkurs: David Blaine -Selbstkultur- zwischen Leben und Tod

Der New Yorker Magier David Blaine (*1973) hat aus seinem Körper eine eventartige Selbstausstellung konstruiert. Seine Ausdauer-Performance nutzt den öffentlichen Raum, um eine neue Form der Selbstkultur und der Selbsterfahrung für jedermann zugänglich zu machen. Wenn Blaine sich also selbst ausstellt, dann geht es um „das Ineinandergreifen von Leben, Privatem, Innerem, Eigenem, Subjektivem, dem Ich und dem Räderwerk des Alltags einerseits und der Kunst, der Öffentlichkeit, dem Äußeren, Fremden, Objektiven, dem Wir und der Gesellschaft des Spektakels andererseits. Die Überschreitung in Form der eigenen Einkörperung in ein Behältnis ist für den amerikanischen Magier, die „reine Form der Kunst.“417 In London hängt er sich am 5. September 2003 nahe der Tower Bridge in eine gläserne Armeleutekammer. Darin will der Hungerkünstler 44 Tage in völliger Isolation, ohne Nahrungsaufnahme, nur am Wassertropf, vor laufenden Kameras ausharren. Die Einkörperung wird zur öffentlichen Entkörperung. Die Überschreitung der körperlichen, vitalen und privaten Grenzen sieht Blaine als Akt der „Selbstbehauptung im Angesicht des Todes.“418 Bei dieser neuartigen Form der Selbstkultur verfällt der selbsternannte Künstler Blaine dem Rausch der Selbstpräsenz. Die Dramaturgie inszeniert der Hungerkünstler, indem er selbst angekündigt, dass „ein Leben ohne Nahrung und menschlichen Kontakt zum reinsten möglichen Zustand führt.“419 Die Ironie liefert der Selbst-Performer indem er die Aktion „Above the below“ (2003) als Medienspektakel organisiert.420 Eine viertel Million Zuschauer verfolgen die „FreakShow“ als Live-Event oder auf der homepage des Künstlers (www.davidblaine.com). Das Mitgefühl und die Schaulust der Hunderttausende ist ihm aufgrund der Werbung gewiss. Der körperliche Verfall als Medienereignis ist die praktizierte Entkörperung als paradoxer Auftritt zwischen Leben und Tod. Blaine spielt sich als living sculpture auf, stellt die Attraktivität seines Körpers aus und hinterlässt doch keine Spuren. Nicht wie Hirst, Thek oder Whiteread regen die Inventare den Betrachter an, eine Empfindung zu re- konstruieren. Sie schaffen aus den Spuren eines fremden Lebens eine Stimulans,

417 s. Paolo Bianchi: Die Kunst der Selbstdarstellung. In: Kunstforum International. Juli-September 2006, Bd. 181, S.55

418 ebd., S.55

419 Bianchi zit. Blaine, S.55

420 siehe Abbildungsverzeichnis, Abb.29, David Blaine: Above the Below, London, 2003 214 die den Betrachter auf sein eigenes Leben, auf sein Ich, seine Vorstellungen und Erinnerungen zurückwirft. Für den Zuschauer der „FreakShow“ des David Blaine bleibt womöglich nur das Gefühl, wie unangenehm öffentliches Fasten sein kann und wie schnell der Körper seine Vitalfunktionen verliert. Außerdem werden in der Nachlese seiner Aktion die Beschwerden des Künstlers, wie Sexverbot mit Modelfreundin oder anhaltende Sehstörungen und Hautreizungen, noch weiter an das Mitgefühl der Zuschauer appellieren. Blaine konstruiert eine Freizeitaktivität (Fasten) als Kunstereignis. Er lädt die Menschen ein zuzuschauen, wie er sein Ich suspendiert. Die Erosion der Schicksale geschieht durch den Exzess an Möglichkeiten an sich – so wie die Erosion des Wissens durch den Überschuss an Wissen oder die sexuelle Erosion durch das Brechen von Tabus geschieht.421

Die öffentliche „Selbstauflösung“ (Erosion) als erfolgreiches Kunst-Spektakel ist ein Indiz für die Grenzüberschreitung der Selbstwahrnehmung: Identität und eigener Wille werden mittlerweile als Geisel empfunden. Freiheit und Individualität werden zu künstlichen Zuständen, denen man sich durch Nahrungsentzug zu entledigen versucht. Das Verschwinden des Körpers durch Verhungern zu demonstrieren ist keine Illusion eines Magiers, sondern Wirklichkeit. Während des Stunts von Blaine verhungerten weltweit eine Million Menschen an den Folgen von Unterernährung. (Bericht der Independent on Sunday, 2003)

421 s. Baudrillard, Jean: Lob der Singularität. In: Kunstforum International. Bd. 181, 2006, S.69 215

5 Wahrnehmung des Körpers in der Kunst des 21.Jahrhunderts

Die ästhetische Welterschließung obliegt einem permanenten Wandel. Die Begrifflichkeiten “neu und modern“ beziehen sich immer auf eine deutliche Wendung innerhalb geschichtlicher Abläufe. Das Hereinbrechen von Veränderungen zeigt sich stets als Bruch in den herkömmlichen Erfahrungen, Methoden und Erkenntnissen, die auf Stabilisierung bzw. Rettung der gewohnten Standards abzielen. Die Mediengeschichte und die damit verbundene Veränderung von Wahrnehmung, Selbstdarstellung und Identitätsbildung werden zum Gegenstand der Theoriebildung zwischen Moderne, Postmoderne und Gegenwartskunst.

Um eine Abgrenzung in Darstellungsformen und Theorieansätzen zu ermöglichen gilt vor allem, die explosive und destabilisierende Wandlung innerhalb bestehender Institutionen und Praktiken visueller Vermittlung deutlich zu machen.422 Die Leistungen und Folgen der technischen Massenkultur beinhalten die kulturellen und ästhetischen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung. Kunst entsteht an den Schnittstellen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, die prozesshaften Veränderungen gestalten wiederum die künstlerischen Interfaces. Hier passiert eine rezeptive, soziale und kommunikative Differenzierung der Kunst vor, nach und mit den Neuen Medien.

Eine grundlegende Erkenntnis muss vorangeschickt werden: Die Bilder der permanenten Informationsströme erlauben dem Menschen längst nicht mehr die Information zu erfassen, die sie liefern und aus denen sie entstehen. Festzuhalten ist: „Wir sind jetzt Träger von Informationen, die wir nicht wirklich erfahren, und haben uns damit in unseren eigenen Geschichten verloren.“423

Die kunstwissenschaftliche Furcht, dass durch die entfesselte visuelle Kultur der Massenkommunikationsgesellschaft Begrifflichkeit und Vision der Moderne eliminiert werden, führt zu einer neuen streitbaren Kunst mit ihren ästhetischen Verästelungen. Vor dem Hintergrund des Bruchs mit der traditionellen Bildlichkeit und dem Verständnis gegenüber Immaterialität, Virtualität und Simultanität der

422 vgl. Koch, Gertrud/Voss, Christiane: Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst. Wilhelm Fink Verlag. München, 2005, S.65

423 ebd., S.65 216 digitalen Bilder, muss sich die Kunstgeschichte selbst als neue Schnittstelle definieren.424 Die Kunstwissenschaft muss sich den Spannungen im ästhetischen Objekt widmen. Der Darstellungsakt oder besser die künstlerische Praxis rückt in den Mittelpunkt. Aufgrund des Spektrums an neuen Möglichkeiten wird das Kunstproduzieren mit seinen jeweiligen Techniken und der komplexen Theorie zur Herausforderung für die gegenwärtige Wissenschaft. Die Kunstwerke verlieren in der Reproduktion die alten Maßverhältnisse, gewinnen aber neue hinzu.

5.1 Die neuen Arten des „In–der–Welt-Seins“425

Die neue Kultur beweglicher Bilder und interaktiver Kommunikation verändern die Wahrnehmung des Gegenübers ebenso wie die menschliche Kommunikation. Die elektronischen Medien verfügen aufgrund ihrer Entmaterialisierung über eine gewisse Flexibilität, deren Anpassung dem menschlichen Körper abverlangt wird. Sie bieten dem Körper aber auch neue Arten des In-der-Welt-Seins und verlangen dafür verschiedenen Arten der körperlichen Beteiligung, im Gegenzug steht das Erlebnis von Gegenwärtigkeit. Dies bedeutet neue Qualitäten der Sinnlichkeit und damit eine andere Dimension von Zeit und Raum, die das aktuelle Körpererleben durch die Adaption der Technik revolutioniert hat.

Die Betrachtung der Medienentwicklung und der damit verbundenen Körper- behandlung sind somit ein Zeugnis für das derzeitige In-der-Welt-Sein des Subjekts. Die Qualität der Selbstwahrnehmung ändert sich mit der Ausweitung der Digitalisierung. Das „Verschwinden des Körpers“ wird nicht registriert, vielmehr sieht sich das Subjekt mit einer „Wiederkehr des Körpers“ konfrontiert. (D. Kamper, in: Kamper/Wulf 1982, S.9). Dabei wird der „Abstraktionsprozess des Lebens mit seiner Distanzierung, Disziplinierung und Instrumentalisierung des Körperlichen“ jedoch nur von den wenigsten Menschen wahrgenommen.426

Die elektronischen Medien unterstützen in ihren verschiedenen Formen und Inhalten die erleichterte Integration des Subjekts, welches mit seinen sinnlichen und

424 vgl., Reck, Hans Ulrich: Das Bild zeigt das Bild selber als Abwesendes. Zu den Spannungen zwischen Kunst, Medien und visueller Kultur. Springer-Verlag, Wien, 2007, S.189

425 s. Sobchack, Vivian: The Scene of the Screen. In: Materialität der Kommunikation, 1988, S.417

426 Bahr, Andreas zit. Dietmar Kamper. In: Imagination und Körpererleben. Aus: Materialität der Kommunikation, S.681 217 psychischen Erfahrungen vom offensichtlichen Zuschauer zum Teilnehmer, ja sogar zum funktionierenden Bestandteil der künstlichen Realität wird und somit die simulierte Wirkungsebene vervollständigt. Die aggressive Durchsetzung der natürlichen Realität durch die elektronisierte Kultur hat auch das Gefühl von „existentieller Gegenwärtigkeit“ verändert.427

Vivian Sobchack verbindet dieses neue Gefühl von „Gegenwärtigkeit“ mit der künstlichen Stimulierung und einem abrufbaren Gefühl des Begehrens, welches mittlerweile den Alltag des post-postmodernen Subjekts erfasst hat.428 Unterstützt wird dieses Erlebnis stetiger Stimulation durch die Vernetzung der zeittypischen Elektronik. Die Digitalisierung und komplexe Virtualität mit der ständigen Verfügbarkeit von Daten ist für den Außenstehenden kaum zu begreifen. Darin zeigt sich auch die Faszination für diese andere Empfindung des In–der–Welt-Seins. Das System wird vom Anwender regelrecht erforscht. Mit jeder technischen Erneuerung wird es vom Benutzer weiter erschlossen und als vollkommener empfunden. Der Anwender, Benutzer oder Rezipient wächst scheinbar mit den Erweiterungen und begreift die Integration, also die Anpassungsleistung an die Technik, als Leistungsfähigkeit seines Körpers und Geistes.

Die Expansion der Medien im 20.Jahrhundert spielt für diese Entwicklung eine gewichtige Rolle. Die Neubewertung der Körperlichkeit in der Kunst und der Selbstdarstellung wird durch zwei Tendenzen beeinflusst.

1. Die stetige Ausdehnung der Materialbasis

2. Die intensive Verbindung der Gattungen und Medien zu einem Verbund, der die Kopplung unterschiedlichster Reize und Sinne ermöglicht.429

Das Neue oder das Trendige ist auf die demonstrative Selbstinszenierung des Rezipienten angewiesen, der sich mit einer Kultur der Selbstthematisierung, einer „Bekenntniskultur“, konfrontiert sieht.430

In der Erlebnisgesellschaft (Schulz, 1992) steht die Innenorientierung im Vordergrund. Die Suche nach der Selbstverwirklichung und dem Selbstausdruck hat

427 s. Sobchack, S.424

428 ebd., S.425

429 s. Reck, S.275

430 s. Burkart, Günther (Hrsg.): Die Ausweitung der Bekenntniskultur- neue Formen der Selbstthematisierung. 1.Aufl. VS-Verlag, Wiesbaden, 2006, S.14 218 eine Konsumsphäre erreicht, wo es um die psychologische Dimension von Erlebnissen geht, um ästhetische und expressive Selbsterfahrung.431 Das moderne Selbst hat seine spezifische Form durch die Verwurzelung in den materialen Medien, des ihn umgebenden Raumes erworben. Die Transformationen des Selbst im spätmodernen Raum begründen sich auf die zunehmende elektronische Materialbasis. Die neuen Technologien, ihre virtuellen Räume haben das Selbst aus seiner unmittelbaren Umgebung herausgehoben. Die Organisationen der alltäglichen Räume hat sich verändert und somit einen wesentlichen Einfluss auf die interne Organisation des Selbst und die daraus resultierende Repräsentation. Die virtuellen Realitäten und Online-Gemeinschaften eröffnen einen neuen Bereich des Selbst, welches die engen modernen Strukturen in Frage stellt und zugleich den Charakter der Selbstreflexion transformiert. „Das relationale Selbst“ ist zunehmend ein sprachliches Wesen, das von abstrakten Äußerungen und Repräsentationen abhängig ist. Die Bedeutung des physischen Körpers, seine Ausstaffierung, seine konkrete Position im Raum und in Bezug auf die Erfahrung einer Gruppenidentität werden geringer.432

5.2 Euphorie der Gegenwärtigkeit

Die Digitalisierung in der gegenwärtigen Welterfahrung setzt auf „eine räumlich-dezentrierte, zeitlich unterdeterminierte und gleichsam körperfreie Sphäre.“433 Die Informationen durch die Umwelteindrücke werden gewissermaßen atomisiert, die neuen Einheiten der verhaltensstiftenden Regulierungsabläufe innerhalb des Körpers werden an den Megabits der Außenwelt gemessen. Die Komplexität dieser elektronischen Datenübermittlung durch die nachmodernen Medien wird nicht mehr als gestalthafte Projektion erfahren, sondern eher als disperse Übertragung. Damit rücken die Transformation der Bits in die verschiedenen Datenträger und die damit verbundene flexible Gestaltbildung in den Vordergrund. Der Benutzer oder Anwender kann das Prinzip der elektronischen

431 vgl., Burkart, S.14

432 vgl. Stepinsky, Jeffrey: Transformationen des Selbst im spätmodernen Raum. Relational, vereinzelt oder hyperreal? In: Die Ausweitung der Bekenntniskultur. Hrsg.: Burkart, Günther. VS-Verlag, Wiesbaden.2006, S.152f

433 s. Sobchack, S.425 219

Vernetzung zwar nachvollziehen aber mit seinen sinnlichen und körperlichen Erfahrungswerten nicht eindeutig erklären. Gleichzeitig wird die Stabilität und Autonomie, die für die moderne Selbsterfahrung zentral ist, durch ein postmodernes oder „relationales Selbst“ ersetzt.434 In dieser unvorstellbaren, nicht fassbaren Leistungsfähigkeit entmaterialisierter Medien gründet auch das Rätsel ihrer Faszination und Anziehungskraft auf den Menschen.

Die elektronische Gegenwärtigkeit ist abgerückt von dem objektiven Besitz der Welt und des Selbst, wie einst in der Fotografie. Noch beansprucht sie eine raumzeitliche Einbezogenheit in die Welt, wie im Film. Dagegen vergegenwärtigt sie ihrem Benutzer ein ganz anderes Erlebnis; die Konstitution eines Simulationssystems.435 Vivian Sobchack bezeichnet dieses Phänomen als Meta-Welt, wo sich alles um die Darstellung-in-sich dreht, quasi ein System welcher Kopien herstellt, ohne dass es noch Originale zu diesen Kopien gäbe. Die Projektionen reproduzieren weder eine empirische Objektivität (Fotografie), noch stellen sie eine Darstellungen des subjektiven Sehens dar.

Die Verbindungen zu einem Original oder einer Wirklichkeit werden vom Zuschauer nicht mehr wahrgenommen. Die digitale Weltgestaltung löst die feststehenden Bezugspunkte der Gestalthaftigkeit Schritt für Schritt auf. Jede technische Erweiterung abstrahiert Sinn, Geschichte und Körpererleben und trägt zu einer Verkümmerung der bewussten Erfahrung bei, indem die Übertragbarkeit der Informationen und die Schnelligkeit, mit der sie sich vollzieht immer wichtiger zu werden scheint.

Die Gefühle die durch die postmoderne Technisierung geweckt werden, orientieren sich immer stärker an der stets abrufbaren Stimulierung der Sinne. Das Begehren nach der künstlichen Stimulation verbindet sich in gewissen kulturellen Stagnationsphasen mit der Nostalgie. Auf dieser Erfahrung basiert der Erfolg des ständig wiederkehrenden Retro-Kults. Insgesamt strebt das System der weltweiten Vernetzung aber die Geschlossenheit und uneingeschränkte Übertragbarkeit der Informationen an. Im Vordergrund steht dabei ein sinnliches Trugbild: Der elektronische Raum erhält durch seine oberflächliche Detailgenauigkeit eine künstliche Tiefenwirkung.

434 s. Stepinsky, Jeffrey, S.153

435 Sobchack, S.425 220

Die Verbindung mit körperlicher Bewegung, die phantastische Farb- und Geräuscherfahrung, täuschen über seine Oberflächlichkeit hinweg und ersetzen Tiefe und Körperlichkeit, durch ein beständiges Geschehen in der Vortäuschung einer zweiten Natur.

Dabei spricht die bloße Ahnung von körperlicher Freiheit, erzeugt durch erregende und verwirrende Effekte, die „körperliche Unerfülltheit“ der Benutzer so stark an, dass sie sich mehr in der elektronischen Gegenwärtigkeit orientieren, als in ihrem natürlichen Seh- und Aktionsfeld. 436 Die Konfrontation mit den multiplen Rollen und Identitäten lassen die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Aspekten des Selbst verschwimmen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ändert sich ebenfalls und verliert die modernen Ideale: Stabilität und Authentizität. Den zahlreichen radikalisierenden Irritationen und Provokationen antworten auch die bildenden Künste zunehmend mit Methoden und Darstellungen, die nicht mehr allein auf das Dasein und die körperliche Rätselhaftigkeit verweisen. Die Entkörperungsthese äußert sich in der Transformation des Kunstmodells. Die Virtualisierung der Kunst verschiebt Werk und Wirkung auf den Rezipienten und macht sie zum Material des Authentischen. Festzuhalten ist, dass die elektronischen Innovationsschübe den natürlichen Raum als Vorlage benutzen und die Konstruktion eines frei-fließenden oder frei-fallenden Raums dagegenstellen und auf diese Weise die Dezentrierung des Subjekts fördern.

Die Kennzeichen der kulturellen Umschwünge sind vielseitig. Eine grundlegende Tendenz der elektronischen Gegenwartskultur ist gerade diese spezifische Form der Euphorie für alles, das die Sehnsucht nach körperlicher Erfüllung unterstützt, damit ist auch das Hauptmerkmal für die Krise der gegenwärtigen Körpererfahrung benannt. Für die postmedialen Avantgardisten der Kunst bedeutet die elektronische Herausforderung auf der einen Seite, das Versprechen an jenes „neue Erlebnis“ in der elektronischen Zukunft einzulösen oder die Chance als eingreifende Wirkung auf Tradition und Aufbereitung zu nutzen.437

436 Sobchack, S.426

437 Reck, S.375 221

5.3 Körperlichkeit in der postmedialen Kunst: mit oder ohne Body?

Solange es neue Technologien gibt und den Forschungsdrang nach der Erweiterung von sinnlichen Erfahrungsbereichen, wird die zeitgenössische Kunst sich herausgefordert fühlen und diese Innovationen für ihre Darstellungsformen nutzen. Dann wird die Frage nach der künstlerischen Nutzung dieser medialen Neuheiten relevanter. Denn stets erscheinen die neuen Technologien als Plattform des Revolutionären. Alte Medien versus neue Medien sind der Nährboden für eine streitbare Kunst, die um den Vormachtsanspruch der Bilder kämpft. Die Erkenntnis dieser umwälzenden Zeiten ist, dass die Anforderungen und Umstände des elektronischen Zeitalters nicht nur erhebliche Veränderung auf die Gesellschaft, sondern auch auf die Urteilsfähigkeit haben werden. Die künstlerische Verantwortung gegenüber der Aufbereitung und Sezierung dieser Entwicklung wird über die zukünftige Körperlichkeit in der Kunst entscheiden. In der folgenden Zusammenfassung werden die Entkörperungsthese und die Virtualisierung der Kunst unter dem Aspekt der Körperlichkeit in der Kunst betrachtet.

Wenn man die Entkörperung nur auf Verlust des Körperbildes in der Kunst bezieht, so muss man die Entkörperung verneinen. Denn tatsächlich verschwindet der menschliche Körper nicht aus der Kunst. Seine Darstellung in sämtlichen Medien ist präsenter denn je. Der Körper wird zwar optisch immer weiter aufgewertet, aber die Einstellung zum realen Körper und zum ständig verfügbaren Onlinekörper markiert die Schnittstelle, die mit ästhetischem Prinzip der Entkörperung verdeutlicht werden soll. Der Bildkörper verändert sich ebenfalls durch den Einsatz der Neuen Medien. Die Kunst ist sowohl in der Lage die Gesellschaft auf die sinnlichen Qualitäten der Medienexpansion aufmerksam zu machen, darüber hinaus unser Körperbild in Bezug auf die Wahrnehmung des realen Körpers kritisch zu reflektieren. Durch die technischen Innovationen kommt es innerhalb der ästhetischen Ausprägungen der Kunstformen zu Erosionen und Implosionen klassischer Grenzen von Subjekt und Objekt. Die Krise der Repräsentationen ist Grundlage des ästhetischen Prinzips der Entkörperung. Während die gegenläufige Bewegung, die Einkörperung, diese konstante, prozessuale bzw. performative Formung und Umformung des Körpers

222

(und auch der Identität) als Anpassungsleistung darstellt.438 Die Darstellungsformen in der Kunst der zeitgenössischen BodyArt werden nach diesen beiden ästhetischen Prinzipien unterschieden. Die Eigenwahrnehmung des Körpers bildet den Ausgangspunkt. Die Urteilsänderung im Zuge der technischen Expansion und das ästhetische Resümee aus einer Vernachlässigung der körperlichen und mithin emotionalen, als auch sozialen Entwicklung werden zu den bildgebenden Prinzipien.

5.4 Körpererkenntnis: Potenziale der postmedialen Wirklichkeiten

Die Verbrüderung der Technik mit der Wissenschaft, gerade auf dem Gebiet der Medizin und Biogenetik, haben dem Körper die wesentlichen Geheimnisse seiner Verdopplung entlockt. Auf dem Weg zum Duplikat der biologischen Strukturen ist der menschliche Körper ein Ideenstifter für technische Apparaturen, die den elektronischen Boom und ihrem Leistungsvermögen etwas Menschliches verleihen.

Die Zusammenführung von menschlicher Physis und Maschine basiert auf den Analogien externer zu interner Kommunikation. Die physiologischen Transportwege (Adern, Nerven usw.) sind die erprobten Prozessoren und somit die Vorbilder der heutigen Halbleiter-Kultur. Schon McLuhan begreift den physischen Körper als Matrix der Technologie und so dient der gegenwärtige technologische Entwicklungsstand, dann umgekehrt auch als Matrix zum Verständnis des Menschen.439

Somit lassen die Fortschritte und Innovationen der Neuen Medien Rückwirkungen auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein der lebenden Generationen zu. Ebenso lassen sich andere Wissenschaftszweige wie Bioinformatik von dem Netzwerk- Mensch inspirieren und reduzieren die organische und zwischenmenschliche Kommunikation sowie ihre sozialen Verhaltensstrukturen auf ein perfekt

438 vgl. Mathez, Judith: Von Mensch zu Mensch. Ein Essay über virtuelle Körper realer Personen im Netz. In: Körper- Verkörperung- Entkörperung. Hrsg. v. Nöth, Winfried/ Hertling, Anke. Intervalle 9. Schriften zur Kulturforschung. Kassel university press GmbH, 2005, S.346

439 vgl. Hammel, Eckhard: Medien, Technik, Zeit. In: Zeit-Medien-Wahrnehmung. Hrsg. von Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1994, S.70 223 funktionierendes Kommunikationssystem, welches auf die Verbesserung und Beschleunigung der elektronischen Datenverarbeitung übertragen werden. Dabei entfernt sich der Vermittlungsprozess vom Körperlichen: Nicht mehr die Vermittlung zwischen den Menschen und der Natur, oder den Menschen untereinander rückt in das Zentrum der Wissenschaft, sondern die Vermittlung zwischen den Dingen sorgt in ihrer universellen Ausweitung für das Verschwinden der körperbezogenen Vermittlung. Den größten Teil unseres Wissens über die Welt konstruieren wir unter Benutzung von Medienangeboten.

Die Medien der elektronischen Datenverarbeitung haben „die Zeit der Rückkopplung minimalisiert, indem sie die Geschwindigkeit der Vermittlung in einem Ausmaß gesteigert haben, das die Hypothese zulässt, dass es nicht mehr die menschliche Zeit ist, mit der die Dauer der Übermittlung beschrieben wird.“440 Das Ziel ist die perfekte Kommunikation, die sich längst von den physiologischen Leitbahnen zu „Supraleitungen“ entwickelt hat.441 Die Gleichgewichte und Abhängigkeiten des Körper hatten eine Vorbildfunktion für die heutige Elektronisierung, aber der Bereich in dem sie funktionieren wurde gewissermaßen immer weiter entmaterialisiert durch eine konsequente Reduktion der Zeit und des Raumes. Der Mikrochip ist gegenwärtig Träger aller Informationen und sozusagen die Nachfolgegeneration der einstigen Annäherung von Maschine und Mensch (Telegraphie). Mit der weitgehenden Entfernung vom Lebendigen verstärkt sich die Manie für die Erforschung des Zwischenbereichs. Mit der aggressiven Animation der Dinge verfrachtet sich der Mensch in die Selbstisolation. Rückwirkend wird durch die Fortschritte der Gen- und Informationstechnologie die Prothese entwickelt, die ihn aus seiner Isolation befreien sollen, letztlich jedoch den Menschen immer weiter zum Kriterium des Imperfekten herabstuft und die Perfektion im Androiden sucht.

Es ist die scheinbar unendliche Transformierbarkeit von Datenströmen in temporalisierbare Oberflächenzustände, die für den Siegeszug der Prozessualität gegenüber der Identität verantwortlich sind.

Die Euphorie mit der sich der Mensch in diesen Prozessen sucht, treibt die Ausprägungen der elektronischen Generation voran. Eckhard Hammel beschreibt das Gegenwartsszenario als „gigantischen Operationssaal“.

440 s. Hammel, S.72

441 ebd., S.72 224

Die „Ekstase der Operationalisierung“ hat den Menschen kurzsichtig gemacht. Er hat sich selbst zum „cool tool“ degradiert, in seiner Isolation ist er der „Beobachter“, der sich berauscht von Wissenschaft und Fortschritt des Informationszeitalters, immer weiter vom Lebendigen verabschiedet.442

Das offensichtliche Ungleichgewicht von Innen und Außen, d.h. Anpassung und Veränderung der Umwelt, wird nicht zuletzt durch den Menschen selbst verursacht. Die Euphorie der neuen Gegenwärtigkeit steigert den Willen zur Anpassungsleistung und ist der Auslöser für eine zunehmende Entfernung vom Natürlichen und Körperlichen, bei der Gestaltung des zukünftigen Lebensraums. Die Aktualität bestimmt die Zeitempfindung des Subjekts und somit verdrängt die Immaterialität der Informationsübertragung die materielle Welt.

Die Wissenserzeugung wird nicht mehr durch den Körper überprüft, die Wege der Erkenntnis werden zeitgemäß an ihrer Kürze und Intensität gemessen. Auf den neuen Märkten des Wissens ist der Körper mittlerweile eine Durchgangsstation.

Er ist „cool tool“: Beobachter und zu beobachtendes Objekt. Die Information fließt zwar durch ihn, aber bedingt durch den verstärkten Handlungsdruck wird die Auswertung der Information zunehmend nach außen verlagert. Die Einkörperung hat ihm im Sinne von Piagets Äquilibrationstheorie ein Ungleichgewicht beschert: Die Informationen der Umwelt werden nicht mehr durch ihn überprüft, sondern das Subjekt unterwirft sich zusehends der Expansion der Wissenserzeugung und verlässt sich auf die organlose Apparatur. Die Entkörperung zeigt sich im fast grenzenlosen Vertrauen gegenüber den wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten und entwertet den Körper zunehmend als fehlerhaft.

Die Potenziale der zeitgenössischen Technisierung führen den Menschen an Grenzen. Die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten fordern Entscheidungen und nicht zuletzt nach neuen Grenzmarkierungen, die durch das Individuum erfolgen müssen. Die markierten Übergänge schließen die Grenzen der wissenschaftlich- technischen Innovationen ebenso ein, wie deren Tragbarkeit für die Gesellschaft. Diese Schnittstellen sind maßgebend für die zukünftige Definition des Lebens. Im Mittelpunkt dieses Selbstverständnisses steht die Orientierung.

442 s. Hammel, S.76 225

Die Body-Art der Gegenwart, als Wegweiser der Post-Postmoderne, konstruiert mit ihren Werken anschauliche Denk- und Reflexionspausen, die sich zwischen den Grenzen von Handeln und Nichthandeln bewegen. Diese Kunstgeneration setzt die Spannungen von Wissen und Nichtwissen für ihre Grenzästhetik ein.

5.5 Körpererlebnis: Das provozierte Ungleichgewicht

Die Technologien der Gegenwart provozieren täglich den Umgang mit “Oberflächen-Helden“. Die Bildschirm-Konstrukte werden dem Selbst-Bild gegenüber gestellt. Das Spiel mit den falschen Bildern verlangt nach einem gewissen Grad an Identifikation. Die Annäherung an das Imaginäre perfektioniert die Empfindungen während des Spielens und wirkt sich somit auf das Selbstbild aus. Je perfekter diese Rückkopplung funktioniert, desto höher ist der Grad sich für einen bestimmten Zeitraum von sich selbst zu befreien und natürlich von der damit verbundenen Verantwortlichkeit für das eigene Tun. Der „Kultur des Zappens“, Twitterns und Surfens gelingt es stabile Identitäten aufzusprengen und den Benutzer in ein jagendes Wechselbad von Emotionen und Identifikationen zu tauchen.443

Körper sind jene organischen Schnittstellen, die uns auch Lust und Erregung vermitteln, die das mentale System reizen. Der besondere Reiz am Cyberspace scheint für den Benutzer darin zu liegen, der Enge körperlicher Identität in der Interaktion mit anderen zu entrinnen. Er kann in der virtuellen Welt agieren, ohne seine Identität preisgeben zu müssen. Die Potenziale der virtuellen Realität animieren den Benutzer zu einem kurzfristigen Tauschgeschäft:

• auf der einen Seite weiß der Benutzer um die Künstlichkeit dieser konstruierten Umgebung und kann die Erlebnisse und Erfahrungen einordnen. Die Befriedigung für einen Zeitraum eine andere Identität anzunehmen genügt ihm. Er konsumiert bewusst diesen Moment der Selbstvergessenheit.

• verschwindet dagegen die Alltagspersönlichkeit hinter dieser Selbstvergessenheit übernimmt der Bildschirm-Held die Identifikationsleistungen. In

443 vgl. Rötzer, Florian: Vom zweiten und dritten Körper oder: Wie es wäre, eine Fledermaus zu sein oder einen Fernling zu bewohnen? Ein Essay. In: Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Hrsg. v. Krämer, Sybille. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. Main 1998, S.162f 226 der virtuellen Realität kann der Benutzer Aktivitäten ausleben, die in der natürlichen Umgebung eventuell nicht gestattet sind oder die der Benutzer nicht wagt auszuleben. Auf diese Weise rückt er von seinem offiziellen Selbst-Bild ab und zieht sich in die Erlebnisräume der VR zurück. Die Spaltung fällt zugunsten der Identifikation mit dem imaginären Selbst-Bild aus.

Das virtuelle Selbst-Bild wird nicht mehr als bloßes Spiel wahrgenommen. Es erlaubt dem Benutzer die nicht offiziellen Seiten seiner Persönlichkeit auszuleben. Er kann mit Hilfe der Apparatur Hindernisse, Konventionen und libidinöse Potenziale frei externalisieren.444 Die Maske erlaubt ihm einen „unbekannten Zug“ seiner wahren Persönlichkeit zum Vorschein zu bringen. Dadurch entfernt er sich nicht unbedingt sofort von seinem offiziellen Selbst-Bild aber die Identifikation mit dem „elektronischen Es“ wird verstärkt.445 Ein wesentlicher Aspekt für die Faszination und die zunehmende Konsumierung ist die Sorglosigkeit und die suggerierte Freiheit, die mit der Befreiung von Verantwortung verwechselt werden.

Der unpersönliche virtuelle Raum (Bsp. Chatrooms, Facebook, twitter etc.) wird durch den Benutzer und seine Identität zu einem persönlichen Raum und Realitätsersatz. Das Potenzial für eine kollektive Begegnung im virtuellen Raum steigert die Authentizität der Erfahrung. Das Empfinden von Gemeinsamkeit macht die Erlebnisse wirklicher und unterdrückt das Wissen von einem imaginären Zusammentreffen. Die Wirkungs- und Leistungsfähigkeit der Apparatur unterstützen die Abkehr von der natürlichen Körperlichkeit und verstärken den Identifikationsgrad mit dem “elektronischen Es“. Die Prägung durch Vorbilder und Imaginationen sind ein allgemein-kulturelles, nicht erst ein modernes Phänomen. Die Leitbildrolle wird heute jedoch weitgehend von den elektronischen Medien übernommen. Die neu- medialen Realitäten überholen die “alten“ spürbaren Wirklichkeiten. Dabei geht es nicht um das bloße Absorbieren der gewohnten Wirklichkeit, sondern die elektronischen Welten setzen Kontraste: Körperlichkeit, Härte, Kontinuität, Widerständigkeit und Verlässlichkeit lernt der Anwender zu schätzen. Die Verhaltensweisen werden durch die neuen Vorbilder modifiziert. Schon heute ist die

444 s. Slavoj, Die Pest der Phantasmen, 1997, S.106

445 ebd., S.107 227

Virtual Reality für manchen Menschen durchaus wirklicher, relevanter und prägender als die Alltagsrealität.446

Die Ungleichgewichte zeigen sich in der Selbstwahrnehmung und den Auswirkungen auf das Selbstbild. Die Anpassung an die elektronischen Empfindungs- und Erfahrungswelten erschweren die Identifikation mit der natürlichen Umwelt und ihren sozialen Abhängigkeiten. „Die VR-Maske bietet somit einen Fall imaginärer Täuschung, insofern sie ein falsches Bild von mir veräußerlicht/anzeigt, und eine symbolische Täuschung, insoweit sie die Wahrheit über mich in der Gestalt eines Spiels erweist.“447

Die Anziehungskraft für dieses elektronische System besteht in dem Geheimnis der eigenen Identität. Das Mysterium zwischen sozialisiertem und ungebeugtem Ich ist das Erfolgsrezept für die stetige technische Verbesserung dieser künstlichen Bild- und Empfindungswelt. In der VR erfüllt sich die konsequente Verstärkung des Multiplen, als Abkehr vom Original mit der Vision einer perfekt angepassten Persönlichkeit. Die Abspaltung verschiedener Identitäten fügen sich zu einer kultivierten Identität zusammen, die mit dem natürlichen Selbst-Bild nicht mehr viel gemeinsam hat. Das Patchwork-Ich ist die Antwort auf die Schnelllebigkeit, die Verantwortungslosigkeit und Sehnsucht nach Stabilität, die im Stadium der permanenten Neuorientierung der Leere näher ist als der Erfüllung.

Das Ungleichgewicht der eigenen Identität ist der Auslöser für diesen Zustand der Leere, der durch die „multiplen Selbstinszenierungen“ vermindert werden soll. Die konstitutive Dimension wird durch die Apparatur ersetzt. Die Vielgestalten der VR erfüllen die Sehnsucht nach Inhalt und Orientierung, da das Subjekt unterschiedliche Ansichten seiner Identität sorglos und unbeschadet ausleben kann. Die Dezentrierung ist gewissermaßen in der Leere des Subjekts begründet. „Die Spaltung ist die Spaltung zwischen leerem Subjekt und der phantasmatischen Maske, als dem Zeug des Ichs.“448

446 s. Welsch, Wolfgang: >Wirklich< Bedeutungsvarianten –Modelle -Wirklichkeit und Virtualität. In: Medien, Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. S. 206f

447 ebd., S.109

448 s. Slavoj, S.113 228

Insofern ist die Spaltung des Subjekts kein Zwiespalt zwischen dem einen und anderen Selbst (z.B. Jekyll/Hyde), sondern die Zerrissenheit zwischen Etwas und Nichts, zwischen Identifikation und der Leere.449

Dezentrierung als Dauerzustand

Die Versunkenheit in der Virtualität intensiviert die körperlichen Erfahrungen. Wie auch immer die weitere Entwicklung verlaufen wird, so wird die Vernetzung des menschlichen Körpers mit externen oder implantierten Systemen, zu einem neuen Verständnis dessen führen, was menschlich und was ein menschlicher Körper ist.450 Diese Vision und das Versprechen der Informatiker und Programmierer erhöhen den Glauben an die Potenziale der vernetzten Systeme. Die Vorstellung von neuer Sinnlichkeit, anderen Körpern und fremden Geschlechtern appellieren an die Sehnsüchte des Subjekts nach Befüllen dieser empfundenen Leere. Schon heute wird der Körper immer weniger als Substanz und immer mehr als Schnittstelle mit der Welt und ihren Maschinen verstanden, die sich neu designieren lassen. Die fortschreitende Computerisierung mediatisiert das Subjekt und ändert dadurch die Ebenen der alltäglichen Erfahrungswelt. Das ständige Wechseln zwischen symbolischer und imaginärer Identifikation ist wie ein dauerhafter Zustand des Oszillierens.

Die Unentschiedenheit ist das Kriterium des wahren Subjektstandorts. Entweder in dem realen Selbst oder den möglichen Implikationen, die durch die Apparatur bedingt sind. Žižek Slavoj bezeichnet dieses Gleiten von der einen zur anderen Identifikation oder zwischen den multiplen Selbsten als Prozess des Springens, dessen Voraussetzung eine Art leeres Band ist, welches auf die Leere des Subjekts selbst verweist.451 Der andauernde Zustand der Dezentrierung ist zugleich ein Indiz für die Suche nach neuen Inhalten, die in der VR und ihren multiplen Identitäten als Platzhalter existieren. Diese Platzhalter ersetzen das reale Selbst in der Welt des Cyberspace und reduzieren den Körper in der realen Welt auf eine Restexistenz.

Die Realität des virtuellen Raums bietet seinem Benutzer eine dauerhafte Ersatzexistenz an. Das Revolutionäre dieser weltweiten Vernetzung ist die integrierte Vorstellung eines neuen Lebens, einer so genannten “zweiten Natur“.

449 s. Slavoj, S.113

450 vgl. Welsch, S.166

451 s. Welsch, S.114 229

Dieser von der Natur inspirierte Organismus ist von dem natürlichen Organismus mit seinen sozialen Beziehungen und Institutionen kaum unterscheidbar. Die verschwimmenden Grenzen von naturalisierter Kultur (Markt und Gesellschaft als lebendige Organismen) und kulturisierter Natur (das Leben wird als Tableau selbst reproduzierender Informationen aufgefasst) erleichtern die Überschreitung und reduzieren die Schwellenreize für das Subjekt.452 Die Anpassungsleistung für das Individuum ist aufgrund der geringen Unterscheidbarkeit nicht erheblich, im Gegenteil, die auf Wohlbefinden und Sorglosigkeit ausgerichtete VR erschwert die Anpassung an die sozialen Gegebenheiten des natürlichen Organismus. Die Verwissenschaftlichung ermöglicht die Reproduktion der Natur. Durch die Spaltung in verwertbare Informationen wird die Unterscheidung von natürlichen, kulturellen und artifiziellen Prozessen zu einem selbst entwickelten Organismus verarbeitet. Die Untrennbarkeit vom realen Körper machen die Rückkehr in die „wahre Realität“ notwendig, wobei dieser konstituierte Körper der Selbsterfahrung (natürlicher Organismus) immer mehr mit dem Schrecken des Realen verbunden wird.453 Die Massenmedien werden zu bedeutsamen Identitätsgeneratoren einer modern strukturierten Gesellschaft. Ein Selbst lässt sich nach wie vor nur durch permanentes Oszillieren zwischen Fremd- und Selbstreferenz erzeugen. Die Neuen Medien und ihre sozialen Netzwerke werden zum Spiegel der Person. Die Identitätskonstruktionen der postmedialen Gesellschaft können in ihrer Stabilität für eine Person der lebenslangen Festschreibung bedeuten, für Andere eine Festlegung, die ständig offen ist für einen Identitätsumbau.

Die Konstruktion neuer Körperbilder und die Schaffung von Szenarien, die jene Veränderungen und inneren Konflikte sichtbar und erfahrbar machen, sollten zu den entscheidenden Aufgaben der Medienkunst gehören. Sich diesen Spannungen im ästhetischen Objekt anzunehmen und der Wahrnehmung komplexere Stimuli anzubieten, ist die Herausforderung der Kunst im 21.Jahrhundert. Im konkreten Einzelfall muss sich die spezifische ästhetische Erfahrung, von dem was andere Erfahrungstypen darbieten unterscheiden.

452 Welsch, S.141

453 s. Welsch, S.118 230

6 Resümee: BodyArt-X- : die Kunst der Widerstandsidentitäten

Um sich mit den ästhetischen Erscheinungsformen der BodyArt zu befassen, muss man sich mit dem Davor und Danach auseinandersetzen. Während sich die Achtziger noch als laut, plakativ und verspielt einordnen lassen, fällt die exakte Typisierung der Neunziger im kunstwissenschaftlichen Sinne schon erheblich schwieriger aus. Auf der einen Seite kann man von einem „seichten Auslaufen“, eine Phase der Konsolidierung, aber auch von einer wahrnehmbaren Revolte der Körperkunst im Übergang sprechen.454 Der Gedanke des Avantgardistischen bedeutet das Gewesene nicht zu wiederholen, sondern weiterzugehen. Es gilt die traditionellen gesellschaftlichen Zustände zu befragen, ihre Regeln und Entwürfe zu hinterfragen. Wolfgang Welsch beschreibt diesen Zustand der Überschreitung als „Zuschärfung in Richtung Irritation, zunächst im Sinn der Vieldeutigkeit und zuletzt im Sinn der Unfasslichkeit.“455 Die Strategien der Postmoderne orientieren sich an den Methoden des Entbergens. Das Phänomen Postmodernismus möchte bezüglich BodyArt mit den elektronischen und virtuellen Medien bisher nicht Gesehenes zeigen und entbergen. Die Grenzästhetik der Jahrtausendwende heißt aber auch: „Es gibt keine kollektive Norm, kein Selbst oder eine symbolische Ordnung mit universellem Anspruch [...] daraus folgt – die Stellung des modernen Subjekts wird unhaltbar.“456

Die heutige Kultur basiert wie schon die Postmoderne auf einer medialen Hyperrealität, die die Wirklichkeit deformiert, konsumiert und sich vor sie schiebt. In den Bewegungsabläufen der postmedialen Gesellschaft liegt der Schwerpunkt nicht im Darstellbaren oder Wiederdarstellbaren. Die Technowissenschaft gehorcht dem umgekehrten Prinzip: das Unendliche liegt in der Dialektik der Suche selbst.457 Die Generation der elektronischen Medien weiß um ihr schwaches Sein, das sich „im Entschwinden“ entfaltet.458 Während die Postmoderne noch den Zwiespalt von Natürlichkeit und Künstlichkeit und der ständigen Angst um das Verschwinden des

454 s. Puff, S.245

455 s. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 1988, S.324

456 vgl. Strunk, S.156

457 vgl., Lyotard, S.101

458 s. Puff, S.247 231

Subjekts in ihren Bildern thematisiert, wird der akzeptierte Zustand der Instabilität zum Ursprung neuer Selbstkonstruktionen. Das Augenmerk der neuen künstlerischen Bewegung richtet sich auf die Inszenierung von Einmaligkeit. In einem Wirrwarr des elektronischen Fortschritts gewährleistet die Einzigartigkeit der künstlerischen Inszenierung, die gewünschte Beachtung durch das Publikum. Das Relikt der Moderne ist die auratische Darstellung. Die Methodik der Verfremdung, der Irritation oder eine exemplarische Falschaussage im Werk, liefern den Hinweis auf eine höhere Wahrheit. Das absichtliche Paradoxon ist ein fester Bestandteil der nachmodernen Ästhetik. Die elektronischen Medien eröffnen der Kunst neue Handlungsfelder, in denen bisher unbekannte Allianzen zwischen Künstler, Werk und Betrachter geschlossen werden. Das klassische Kunstobjekt wird durch neue Akteure und Aktionen bereichert. Der Betrachter, Benutzer oder Anwender gewinnt die Illusion des uneingeschränkten „Überall-dabei-seins“. Der Begriff „Intermedia“ steht nicht nur für die Offenheit eines Kunstwerks, sondern impliziert zugleich die Entgrenzung der einst unterteilten klassischen Kunstgattungen. In Anbetracht dieser schnelllebigen Entwicklung birgt die Faszination für die unendlichen Technocodes auch die Gefahr der Nicht-Entzifferung, und letztlich des Konsumiertwerdens eines sich im Datenfluss auflösenden Subjekts. Der Rauschzustand der Virtualität wird nicht mehr hinterfragt, das Subjekt unterliegt der Scheinästhetik und deren Verführungsqualität. Die Folge ist eine Entäußerung und anschließende Entgrenzung des Subjekts, das nicht mehr in der Lage ist seine Situation zu reflektieren und zu handeln.

Die künstlerische Bewegung der BodyArt-X- lässt sich mit dem Begriff des „durchgehaltenen Optimismus“ charakterisieren. Wie schon die Moderne und Postmoderne bekennt sie sich die BodyArt-X- zur Aufklärungseinstellung. Trotz der Wahrnehmung von gefahrvollen Entwicklungen werden die Veränderungen jedoch auch als Chance aufgefasst. In der Kunst des Übergangs dominieren die Erlebnisse der Fassungslosigkeit und der Irritation. Die neue Körperkunst konfrontiert den Betrachter mit Wirklichkeitsansichten. Die Kunst wird gewissermaßen zu einem Parallel-Universum innerhalb des Gesellschaftlichen, denn erst die Abgrenzung ermöglicht die Selbsterfahrung als Immanenzerfahrung. Die Kunstwerke addieren nicht die ästhetischen Strukturen ihrer Vorläufer. Vielmehr werden Zwischenräume, Differenzen und Unterschiede benannt.

232

Auf diese Weise entstehen die Übergangssubjekte, die in Zeiten der ungesicherten Identität des Subjekts, als Stellvertreter des Widerständischen fungieren. Mit der Schaffung dieser Übergangs-oder Widerstandssubjekte operiert der Künstler zwischen den symbolischen Ordnungen, an den Schnittstellen, die sowohl Chancen als auch Gefahren bergen. Auf die mediale Expansion reagiert die künstlerische Generation der BodyArt-X- indem sie bekannte, bewährte Formen mit neuen Inhalten befüllt. Der Körper ist der Mittelpunkt ihrer Wiederbelebungsstrategie, er wird in eine andere „Wirtskultur“ übertragen. Ähnlich einer Organtransplantation wird der Körper an die gesellschaftlichen Begebenheiten angepasst, er reagiert mit der medialen Vielfalt und erhält durch die künstlerische Neuschöpfung auch neue Möglichkeiten der Wahrnehmung des Selbst und des Anderen.

Die moderne Umbruchsituation wird in den Neunzigern mit dem Übergang in das neue Jahrtausend noch gesteigert. Die mediale Expansion entwickelt in der künstlerischen Repräsentationsmethodik eine Formensprache der Beunruhigung, in dem alltägliche Abnormitäten und Verzerrungen virulent eingesetzt werden, um die Erkenntnis über den Identitätsverlust und die Ich-Entgrenzung zu transportieren. Die Werkzeuge des Übergangs in Form von Kommunikations- und Biotechnologie, stellen auch den Körper neu her. Denn wie Donna Haraway bemerkt, werden Körper nicht einfach geboren, sie werden gemacht.459 In der postmodernen Maschinen-Ästhetik wird die Fatalität des Multimedialen thematisiert. In der kulturellen Erscheinungsform der Technobewegung kommt die Integrationsfähigkeit des Medialen am deutlichsten zum Ausdruck. Mit dem Überbegriff des Techno werden eine ganze Generation und ihre Bereitschaft zur Verschmelzung mit der Maschine umschrieben. Die Verbindung von Elementen aus dem religiösen, meditativen und musikalischen Bereich mit den Erkenntnissen moderner naturwissenschaftlichen Forschung erzeugt ein Lebensgefühl, welches nicht auf Konfrontation, sondern eine gesteigerte Erlebnisintensität setzt. Werden in den Künsten und vor allem in der Körperkunst die Medien in ihrer disparaten Materialität kombiniert, zeigen sich neue Formen der Durchdringung und Befreiung. Denn mit der systematischen Integration der Neuen Medien bewahren sich die Künste, im spezifischen die BodyArt-X-, die gestalterische Freiheit und können sich von der Assimilation durch das einengende Medium entfernen.

459 vgl. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. 1995, S.170 233

Die Herausforderung für den Menschen des 21.Jahrhunderts im Umgang mit den informationsverarbeitenden Systemen ist die kritische Haltung gegenüber Neuerungen und deren stetige Einflussnahme. Es geht nicht um das Enträtseln von Geheimnissen, sondern um das Begreifen von selbstbestimmter Lebensführung und die Herausbildung von Widerstandsidentitäten. In der Ästhetik der sozialen Entfremdung wird deutlich, dass die von Menschen geschaffenen Instrumente zum Zweck der Beherrschung der Natur (Sicherung des Überlebens), inzwischen die menschliche (körperliche) Natur beherrschen.

Es liegt an der Kunst, ob sie selbstreferentiell und autonom bleibt, indem sie sich zu einem sich selbstbestimmenden, sich selbst hervorbringenden System formt, welches sich an inneren Kohärenzen und Widersprüchen orientiert. Gerade in der Kunstrichtung der BodyArt wird die körperliche Präsenz benutzt, um eine künstlerische Offenheit zu zelebrieren. Der Körper ist kollektiv und geschichtlich, also phylogenetisch und ontogenetisch. Um sich in der Umwelt zu orientieren und zu bestehen, werden Wahrnehmung und Handlung in einem Wechselspiel stets neu angepasst und bestimmen die individuelle Entwicklung. Die Vielfältigkeit der Wechselspiele äußern sich am eindringlichsten durch und mit dem Körper. Er ist sozusagen das Gefäß in dem sich Konflikte, Widersprüche und Übereinkünfte am deutlichsten zeigen. Die künstlerische Realität greift in ihren Synergieeffekten auf die Wirkung des Körpers und seines Abbilds zurück: Die Anwesenheit des Körpers allein erhöht den Aufmerksamkeitsgrad und wirft den Betrachter auf sich selbst zurück. Die künstlerische Darstellungsebene bleibt ein Reflektor, wenn sie sich äußeren Formzwängen entzieht und die Erkenntnisse der sozialen Realität in ihrer selbstbestimmten Formensprache dem Betrachter zugänglich macht. Sie trägt dann in der Vielfältigkeit ihrer Äußerungen und Anschauungen gewissermaßen zu einer Existenzsicherung bei. Die intensiv erlebte Kunsterfahrung begreift Petra Stelzer als „Stufe der Ekstase“. Damit umschreibt sie eine Steigerung in der erlebten Rezeptionsleistung, die sich durch die vollzogene Subjekt-Objekt-Identität im „mystischen Kunsterlebnis“ bemerkbar macht.460 Gerade in der Übertreibung und ihrer wirksamen Fassungslosigkeit zeigt sich die Radikalität der ästhetischen Perforation. Darunter ist die integrierte Grenzüberschreitung zu verstehen, da gerade die Befremdung des Ereignisses zu einer kurzeitigen Unterbrechung der

460 vgl. Stelzer, S.133 234 unbewussten Kommunikation führt. Der Betrachter verliert für einen Moment die Orientierung, in der konstruierten Wahrnehmung des Entsetzens manifestiert sich die Strategie der Rettung, ein systematischer Akt der Krisenbewältigung. Die ästhetische Wahrheit ist grenzüberschreitend wirksam. Sie markiert in der revolutionären künstlerischen Idee ihre Spekulationen über den Lebensentwurf, die von dem Rezipienten als grenzästhetisch wahrgenommen und erlebt werden.

Unter medienphilosophischen Gesichtspunkten verfällt die Kunst des Übergangs nicht der Euphorie gegenüber den kommunikativen Phänomenen des Poststrukturalismus. Die neuartige Kultur des Selbst oder die wahrnehmbare körperliche Präsenz in der Kunst, ist insofern immer Grenzästhetik, da sie aus der Verknüpfung von privaten Empfindungen und öffentlichen Diskursen immer etwas Neues, Drittes extrahiert.461 Auf diese Weise wird die Kunst zum Spielfeld mit grenzlosen Möglichkeiten. Das chaotische Experimentierfeld muss vom ästhetischen Menschen geordnet und begriffen werden. Das ist die Voraussetzung für die revolutionäre Kunstschöpfung, die die mediale Expansion nicht blind verehrt sondern hinterfragt. Der Selfstyle des Künstlers macht ihn in seinem ästhetischen Dasein zum intellektuellen Deserteur, der hin- und hergerissen ist zwischen der Hingabe an seine Idee (Einkörperung) und dem Verlangen nach Authentizität (Entkörperung). Der Zweck der Rebellion bzw. des Widerstands besteht darin „Subjektivität zu zünden und ein Maskenfest der Verweigerung zu veranstalten.“462 Ein geeignetes ästhetisches Vehikel stellt die Irritation dar. Der konstruiert Sinn- Bruch ist immer ein Instrument, welcher mit Modernität und der gesellschaftlichen Umwälzung verbunden ist. Im Sinn-Bruch wird der Zustand des lebensnotwendigen Gleichgewichts (Äquilibration) destabilisiert. Die Kunst verfolgt mit dieser Form der kritischen Gewalt am und durch den Körper (Einkörperung) das Verlangen Sinn zu machen und ihn zu hintertreiben. Auf diese Weise kann eine Abwehr kollektiver Identitätsmodelle angestoßen werden.

Um die Wirkungsweise der BodyArt-X- und ihre ästhetischen Prinzipien herauszustellen, bedient sich die vorliegende Arbeit den wissenschaftlichen Ansätzen der Erkenntnisgewinnung. Der Körper oder die Darstellung des Körperlichen sind in der Lage zu berühren, zu verletzen und soziales Handeln

461 vgl. Bianchi, Paolo: Die Kunst der Selbstdarstellung. Kunstforum International, Bd. 181. 2006, S.55

462 s. ebd., S.56f 235 auszulösen. So appelliert der Körper des Anderen in seiner radikalen und unbestreitbaren Wirklichkeit an ein Verspüren der Innenwelt des Anderen, durch die gemeinsame Wirklichkeit, die jeder Mensch nur bei sich selber unmittelbar kennt. Der Erkenntnisprozess wird durch das Leibliche verstärkt. Die spezifische Intensität der BodyArt-Ästhetik basiert auf der leiblichen Verbundenheit mit dem Anderen, die sich in der Verwundbarkeit durch den Anderen zeigt. Die Erkenntnisgewinnung des Subjekts setzt ein Gleichgewicht seiner kognitiven Systeme voraus. Im Vergleich mit dem wissenschaftlichen Ansatz des Epistemologen Jean Piaget sind die kognitiven Systeme, wie die Organismen gleichzeitig in einer Richtung offen (Austauschvorgänge mit der Umwelt) und in der anderen Richtung geschlossen. Dieser wechselseitige Zusammenhang zwischen der Differenzierung und der Integration führt nach Piaget zu qualitativ unterschiedlichen Gleichgewichts- zuständen. Die kognitiven Strukturen registrieren aufgrund des Differenzierungs- prozesses innere und äußere Ungleichgewichte mit dem Ziel der Gleichgewichts- verbesserung. Der Prozess des Erkennens ist nach Piaget eine aktive Transformation durch das Erkenntnissubjekt, nicht ein passives Registrieren von unmodifizierten Ereignissen.463 Die zeitgenössische Körperkunst kombiniert Bekanntes (Körper) mit dem Faktor des Befremdlichen (Objekt/Irritation). Das Fremdartige wird als Störfaktor (Aufmerksamkeit) aufgefasst, der die Interaktion zwischen Subjekt und Objekt in Gang setzt. Die Kunst konstruiert in den Gegensätzen des Gezeigten, nämlich in der positiven Anziehung der Körperdemonstration und in der teilweise radikalen, abstoßenden Körperbehandlung, zwei elektrische Ladungen mit entgegengesetzten Vorzeichen. Aus dieser Spannung bezieht die BodyArt ihre ästhetische Besonderheit. Ähnlich wie bei Piagets Erklärung zur Wechselwirkung der Elemente bei der kognitiven Äquilibration, bedingen Anziehung und Abstoßung eine gegenseitige Erzeugung, die zur Bewusstwerdung von Ungleichgewichten und zu deren Beseitigung führen. Bezogen auf die Komponenten der Wahrnehmungspsychologie versinnbildlicht die BodyArt-X- durch ihre Ästhetik der Ein- und Entkörperung, diese permanent ablaufenden Prozesse der Differenzierung und Integration. In Verbindung mit der Wahrnehmung und Entwicklung des Körpers im gegenwärtigen Weltgeschehen entwickelt sich die Aktualität der Kunstwerke. In den ästhetischen Prinzipien der Ein-

463 s. Weingarten, S.237 236 und Entkörperung, der sichtbaren Assimilation und Akkomodation, werden die Zustandsänderungen des Körpers anhand von Transformationen thematisiert.

Die visuellen Störfaktoren der BodyArt-X- werden vorsätzlich in den Subjektkonstruktionen eingesetzt, sie bilden den Ursprung der Regulierungen, deren Feedback zu Retroaktionen zwingen, die die Einstellungen des Denkens auf die Veränderung des Gezeigten verlagern. Die Schwierigkeit sich sowohl als erkennendes Subjekt, als auch als Erkenntnisobjekt zu thematisieren, überwindet die BodyArt-X- in einer typisierenden Ästhetik und deren symptomatischen Prinzipien. Die Elektronisierung und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Organismus verstärken das künstlerische Interesse am Organischen und die Wechselbeziehung zwischen Biologie und Psychologie. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Innen und Außen, der psychologischen Verarbeitung und der körperlichen Anpassung, sind maßgeblich an der neuartigen Ästhetik der Überprüfung beteiligt. Hieraus bildet sich eine Gegenbewegung zum „Sexappeal des Anorganischen.“(Perniola) Die Körperkunst der Post-Postmoderne reflektiert in denen für sie typischen Verwebungen von wissenschaftlichen, sozialen und psychologischen Erkenntnissen das stetige Anwachsen und die zunehmende Verflechtung der Wissensgebiete untereinander. Dabei geht es nicht um die kategorische Ablehnung des hybriden Anderen, sondern sich in ihre Entäußerungen einzuverleiben, um dann neben ihren Risiken und Gefahren, auch Vorteile und Neuheiten zu definieren- also eine ständige Revision des eigenen und der anderen Standpunkte anzustreben (Gleichgewicht/Äquilibration). Die Kunst selbst ist ein Organismus, der ebenso wie der Körper auf die radikalen Veränderungen der Umwelt reagiert. Die BodyArt-X- wird mit ihren eindringlichen Körper-Behandlungen zum Initiator von Instabilitäten. Mit den Komponenten der Wirklichkeit, Notwendigkeit und der zukünftigen Möglichkeit konzentriert sie sich zu einer künstlerischen „Ontologie des Lebens.“464 Diese intensiven Austauschbeziehungen bedeuten auch das Beschreiten neuer Wege, an Grenzen zu stoßen und damit das Neue aus der relativen Geschlossenheit ihrer bisherigen Struktur zu formen. Peter Weibel spricht in seiner „Ästhetik der Absenz“, die künstlerischen Werke an, die zu einem neuen Sehen auffordern, zu einem neuen Rezeptionsverhalten und zu einer

464 s. Liebsch, S.305 237 bewussten Wahrnehmung.465 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Rezeption und die anschließende Aktion oder Handlungsfreiheit, als ein Teilstück auf der Suche nach dem angestrebten Gleichgewichtszustand einer hybriden Gesellschaft bezeichnen. Die Entwicklung des Erkennens, die Jean Piaget durch seine Äquilibrationstheorie beschreibt, „manifestieren vielleicht nur ein Spektrum möglicher Antworten unter vielen anderen [...].466

In den verschiedenen künstlerischen Diskursen werden die ästhetischen Prinzipien am und durch das jeweilige Kunstwerk verdeutlicht. Durch die demonstrative Einkörperung eines Organismus (Kopie des Lebens) appelliert die Kunst an die Erhaltung des inneren Gleichgewichts. Das passive Ebenbild (Lebewesen) oder die Kopie des Betrachtenden wird somit zur elementaren Erfahrung des pseudoaktiven Subjekts. In der Zurschaustellung des Körperlichen in seiner Originalität (Körperteile) richtet sich das Kunstwerk an das gesellschaftliche Kollektiv und fordert das Prinzip der kollektiven Verantwortung heraus. Die optische Monumentalisierung von eingeschlossenen Lebewesen (Bsp. Hirsts Tigerhai) oder Körperteilen (Einkörperung) wirft den Betrachter auf die eigene Körperdimension zurück. Auf diese Weise werden Raum- und Körpererfahrung in ein neues Verhältnis gesetzt. Wobei die gezielte Offenlegung eines Körperfragments (Bsp. Theks meat pieces) einen deutlichen Hinweis auf den Verfall von sozialen Verbindungen darstellt. In dem der Körper- oder sein Fragment wie eine Ware ausgelegt wird (Vitrine), verweist die Kunst auf das instinktive Schutzbedürfnis und stellt durch den musealen Raum eine metaphorische Verbindung vom individuellen Leib zum kollektivem Gesellschaftskörper her. Mit den ästhetischen Prinzipien der Ein- und Entkörperung charakterisiert die BodyArt-X- eine generelle künstlerische Entwicklung: Der Einzelkörper wird zur Projektion des Gesellschaftskörpers. Mit der Verletzung der Haut (Bsp. Orlans Omniprésence) als äußere Körperhülle, und ihren austretenden Körperflüssigkeiten wird sinnbildlich auf den Sozialkörper einer Gesellschaft angespielt. Gerade das Absondern oder Ausscheiden ist eine Metapher für die Trennung von Wertvollem und Wertlosem. Es sind die Künste, die mit und durch den Körper, auf den Zustand der Konfusion verweisen, in dem sich die heutige Gesellschaft angesichts ihrer Destabilisierung und permanenter Werteverschiebung befindet.

465 s. Weibel, Ästhetik der Absenz, S.9

466 s. Liebsch, S.328 238

Der Zustand des Oszillierens charakterisiert die Auflösungsprozesse und Neuformierung, denen sich das Individuum im Alltag stellen muss. Es ist eine Art Überlebensstrategie mit der sich die Kunst auseinandersetzt. Die ästhetischen Auswüchse der BodyArt kommentieren den Weg zum neuen Selbstbegriff in der postmedialen Gesellschaft. In der Entwicklung des Organismus, unter dem Einfluss der Überreizung, gilt es für das handlungsfähige Individuum, die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt stärker herauszustellen und aufzubauen. Für die künstlerische Generation bedeutet dies auch eine Abwendung vom traditionellen Kunstbegriff, die jedoch nicht auf Verlust oder Verschwinden hindeuten, sondern eine permanente Stellungnahme erfordern. Denn nur im Rückblick und ohne den „erhobenen moralischen Zeigefinger“ lassen sich die Gefahren und Risiken der Medienrealität analysieren und als Chance begreifen.467 Im Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit der Kunst und ihre revolutionäre Gestaltungskraft bedeutet die Akzeptanz der Veränderung nicht die Auflösung und Entäußerung des Subjekts, sondern die Herausforderung für neue Wahrnehmungsformen innerhalb der Kunstgattungen. Es geht um den Stellenwert der Kunst als ständige Revision einer zunehmend hybriden Gesellschaft. Die Kunst ist in der Lage ein Gegenmittel, einen Widerstand zu schaffen, indem sie die Verflüchtigung nicht weiter vorantreibt und bis zur Endgültigkeit verfolgt. Das Bedürfnis nach Echtheit sollte die Entwicklung der flexiblen Anpassung hinterfragen und hintertreiben. Es geht nicht darum, dass alles beim Alten bleibt und die Vorteile der Neuheiten grundsätzlich verneint werden. Die Erkenntnis, dass immer etwas verschwindet ist allen Generationen bewusst und deshalb verschwindet auch etwas in jedem Bild, darin liegt der Ursprung der Verführung, aber das Verschwinden muss voller Leben bleiben. (Jean Baudrillard)

467 vgl. Puff, S.256 239

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Rachel Whiteread Katalog. Rachel Whiteread: Transient Spaces. Deutsche Guggenheim Berlin. 27.Oktober 2001- 13.Januar 2002. Hatje Cantz Verlag. Ostfildern-Ruit, 2001 art. Das Kunstmagazin. Nr.2 Februar 1999

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Abbildungen

Abb.1 Teresa Margolles: Aire (Luft), Zürich, März 2003, Installationsansicht

Mit der für die Zürcher Galerie Peter Kilchmann entwickelten Rauminstallation Aire zwingt die Künstlerin die Besucher einen kaum erträglichen physischen Kontakt mit den Namenlosen auf, die täglich in den Leichenschauhäusern von Mexico City anfallen. Margolles sammelte das Wasser, mit dem die Leichen dort gewaschen werden, um es nun, desinfiziert, im Galerieraum zu versprühen. Im Ausstellungsraum stehen zwei Aggregate, welche die Luft kühlen. Dies geschieht durch verdampfendes Wasser, mit dem die Leichen vor der Autopsie gereinigt worden sind.

Abb.2 Einreiben mit flüssigem Körperfett

Foto: Performance Mexico City

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Abb.3 Damien Hirst: Installation Mother and child, Divided , 1993

Abb.4 Mother and child, Divided, 1993, zwischen den Vitrinen

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Abb.5 Damien Hirst links mit seiner Installation, Mother and child, Divided, 1993

Abb.6 Aufbau der Vitrine für Installation: The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living, 1991

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Abb.7 Damien Hirst: The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living, 1991

Abb.8 Damien Hirst: A Thousand Years, 1990

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Abb.9 Paul Thek: Meat Piece aus der Serie Technological Reliquaries, Untitled, 1965

Abb.10 Paul Thek: Birthday Cake, aus der Werkgruppe Technological Reliquaries, 1967

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Abb.11 Paul Thek: Meat Piece with Warhol Brillo Box, aus der Werkgruppe Technological Reliquaries, 1965

Abb.12 Rachel Whiteread: Untitled, orangefarbenes Bad, Abguss, 1996

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Abb.13 Rachel Whiteread: Holocaust - Denkmal, Wien, 1995

Abb.14 Rachel Whiteread: House, London, 1993

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Abb.15 Stelarc: Stretched Skin/ Third Hand, Monorail Station, Ofuna (Japan), 1992

Abb.16 Stelarc: The Third Hand, Tokyo, Japan, 1992

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Abb.17 Writing with three hands, Tokyo, Japan

Abb.18 Stelarc: Amplified body, Maki Gallery, Tokyo, 1993

Abb.19 Performance Event for virtual body obscure, Quebec City, Kanada 259

Abb.20 Orlan: vor ihrer Installation Omniprésence, 1993 -94

Abb.21 Performance, chirurgischer Eingriff, Omniprésence, 1993

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Abb.22 Mariko Mori: Esoteric Cosmos/ Entropy of Love, 1996-97

Abb.23 Mariko Mori: Mirror of Water, 1996-97

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Abb.24 Mariko Mori: Wave –Ufo, 1999-2002

Abb.25 Mariko Mori: Installation Miko No Inori ,1996

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Abb.26 Tony Oursler: M M P I, Test Dummy, 1993

Abb.27 P.O.V., 1993 Private Collection/Oursler

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Abb.28 Tony Oursler, Installation, 1993

Abb.29 David Blaine: Above the Below, London 2003 Selbstausstellung als Hungerkünstler www.davidblaine.com/

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Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Dissertation selbständig und ohne unerlaubte Hilfe angefertigt und andere als die in der Dissertation angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften entnommen sind, habe ich als solche kenntlich gemacht. Kein Teil dieser Arbeit ist in einem anderen Promotions- oder Habilitationsverfahren verwendet worden.

Kassel, Mai, 2016

Angelika Froh M.A.

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