SWP-Studie

Ronja Kempin (Hg.) Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron Konsequenzen für die deutsch-französische Zusammenarbeit

Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

SWP-Studie 4 März 2021, Berlin

Kurzfassung

Frankreichs Präsident hat das Ziel ausgegeben, die deutsch-französischen Beziehungen zu revitalisieren und eine »neue ∎ Partnerschaft« zwischen Paris und Berlin zu begründen. In der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in Teilen der Europapolitik konnte dieser Anspruch jedoch selten eingelöst werden. Hauptgrund hierfür sind strukturelle Veränderungen in den internatio- nalen Beziehungen, auf die Frankreich und Deutschland unterschiedlich ∎ reagieren: Paris sucht neue Wege, seine verteidigungspolitische Hand- lungsfähigkeit zu erhalten und das strategische Vakuum zu füllen, das entstanden ist durch das nachlassende Interesse der USA an Europa und seiner Peripherie. Berlin setzt auf die Weiterentwicklung von Nato und EU als grundlegenden Organisationen deutscher Außenpolitik. Zudem erschweren nationale Alleingänge, Desinteresse und ein ungenü- gender Erfahrungsaustausch einen bilateralen Interessenausgleich. ∎ Eine neue Intensität der bilateralen Zusammenarbeit setzt erstens voraus, dass sich Paris und Berlin in ihren bestehenden außen- und sicherheits- ∎ politischen Kooperationsformaten einer Gesamtschau der internationalen Gemengelage stellen. Sie müssen ihre jeweilige Betroffenheit sowie ihre Interessen offen besprechen und aus ihnen konkrete Maßnahmen ableiten. Zweitens müssen sie sich darauf verständigen, dass nationale Alleingänge unterbleiben und ein Desinteresse an den außen-, sicherheits- und europa- ∎ politischen Druckpunkten des Partners nicht geduldet wird. Die Deutsch- Französische Parlamentarische Versammlung sollte die Exekutiven beider Länder dazu anhalten, den Élysée-Vertrag wie den Vertrag von Aachen zu erfüllen. Zu diesen Ergebnissen kommen die sechs Fallstudien zu Libyen, zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zur Wirtschafts- ∎ und Währungsunion, zu Russland, zur Nato und zur Türkei.

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Ronja Kempin (Hg.) Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron Konsequenzen für die deutsch-französische Zusammenarbeit

Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

SWP-Studie 4 März 2021, Berlin

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ISSN (Print) 1611-6372 ISSN (Online) 2747-5115 doi: 10.18449/2021S04

Inhalt

5 Problemstellung und Empfehlungen

7 Einleitung: Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron – Dissonanzen in der deutsch- französischen Zusammenarbeit Ronja Kempin

11 Französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Präsident Macron – pragmatisch, ambitioniert, disruptiv Claudia Major

16 Macron als Spoiler in Libyen Wolfram Lacher

21 Die GSVP – ein Instrument, kein Grundpfeiler französischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik Ronja Kempin

27 Eher Fortsetzung als Revolution: Fünf Dimensionen der Politik Macrons gegenüber der Eurozone Paweł Tokarski

32 Macrons Russlandpolitik: Bereits gescheitert? Susan Stewart

37 Ein engagierter, aber schwieriger Verbündeter: Frankreichs Nato-Politik Claudia Major

44 Frankreich und die Türkei – Entfremdung und strategische Rivalität Ronja Kempin

48 Fazit Ronja Kempin

53 Anhang 53 Abkürzungen 54 Die Autorinnen und Autoren

Problemstellung und Empfehlungen

Frankreichs Außen- und Sicherheits- politik unter Präsident Macron. Konsequenzen für die deutsch-fran- zösische Zusammenarbeit

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat sich zum Ziel gesetzt, die deutsch-französischen Bezie- hungen zu revitalisieren und eine »neue Partnerschaft« zwischen Paris und Berlin zu begründen. Über den Vertrag von Aachen haben sich beide Seiten 2019 ver- pflichtet, ihre Zusammenarbeit in der Außen-, Sicher- heits- und Europapolitik zu vertiefen. Vier Jahre nach Macrons Amtsantritt und zwei Jahre nach Abschluss des Aachener Vertrags muss konstatiert werden, dass dieser Anspruch in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in Teilen der Europapolitik kaum eingelöst werden konnte. Dafür verantwortlich gemacht wird diesseits wie jenseits des Rheins zuvorderst die Zurück- haltung der Bundesregierung: Zu oft habe diese die Vorschläge des französischen Präsidenten unbeant- wortet gelassen. Berlin wiederum beklagt eine Reihe außen-, sicherheits- und europapolitischer Alleingänge Macrons und einen mitunter disruptiven Politikstil. Die vorliegende Sammelstudie sieht die wichtigste Ursache dafür, dass sich die deutsch-französische Zusammenarbeit kaum fortentwickelt hat, hingegen in einer unterschiedlichen Interpretation und Gewich- tung struktureller Veränderungen in den internatio- nalen Beziehungen. Sie analysiert sechs Dossiers, in denen sich Deutschland während der Präsidentschaft Macrons irritiert gezeigt hat über die Politik seines Partners: Frankreichs Haltung in Libyen, die Neu- ausrichtung seiner Russlandpolitik, seine konfronta- tive Beziehung zur Türkei, seine Kritik an der Nord- atlantischen Vertragsgemeinschaft (Nato), die Infrage- stellung deutsch-französischer Vorschläge zur Weiter- entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Ver- teidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union (EU) sowie die unverhohlene Kritik an der deutschen Poli- tik in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen: Präsident Macron hat seit 2017 veränderte Grund- annahmen der französischen Sicherheits- und Vertei- digungspolitik durchgesetzt. Paris erkennt darin an, dass sich die USA zu einem Zeitpunkt weiter aus Europa zurückziehen, in dem die Handlungsfähigkeit Frankreichs begrenzt ist. Gestaltungsfähig bleibe

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5 Problemstellung und Empfehlungen

Frankreich allein in der und über die europäische dings deutlich, dass selbst ein sendungsbewusster Politik. Europa, womit Macron nicht notwendiger- Präsident in gewissen Themenfeldern Pfadabhängig- weise die EU meint, müsse in die Lage versetzt keiten unterworfen ist. Bei der Weiterentwicklung werden, selbstständig über das eigene Schicksal zu der WWU setzt das französische Wirtschaftsmodell entscheiden. Andernfalls werde es zur »Verhand- Macron enge Grenzen. Weil diese durch die globale lungsmasse« der Großmächte USA und . Corona-Pandemie verschärft werden, werden die Diese veränderte Sicht auf die internationalen Spannungen zwischen Berlin und Paris in Bezug auf Beziehungen und den eigenen Handlungsspielraum den Ausbau der WWU anhalten. hat den Präsidenten 2019 dazu geführt, Frankreichs Schließlich ist einer neuen deutsch-französischen Beziehungen zu Russland neu auszurichten. Die Nato Partnerschaft der Umstand abträglich, dass Frankreichs erklärte Macron politisch für »hirntot«, weil sie in Präsident wenig geneigt ist, Erfahrungen in seine Politik seinen Augen zu zentralen Themen der europäischen einfließen zu lassen, die Berlin in den letzten Jahren Sicherheit nicht sprechfähig sei. Da ein rasches und etwa im Umgang mit Russland oder der Türkei gemacht entschiedenes Handeln im Kreis der 27 EU-Mitglied- hat. Die Politik, die Frankreich 2019 gegenüber Russ- staaten nicht möglich ist, veranlasste Macron bereits land eingeschlagen hat, ähnelt derjenigen Deutschlands im September 2017, flexible, zielorientierte Formate vor 2014. Gleichzeitig trifft Macron immer wieder auf über den Ausbau der GSVP zu stellen. Insbesondere die eine deutsche Politik, die für Schlüsseldossiers der fran- starke Belastung seiner Streitkräfte zwingt Frankreich zösischen nur geringes Interesse aufbringt, Libyen zum in Partnerschaften, die operativ ausgerichtet sind. Beispiel. Berlin muss sich fragen, ob ein stärkeres Ein- Während Paris den strukturellen Veränderungen wirken auf Frankreich den 2019 ausgebrochenen Bür- in den internationalen Beziehungen einen hohen gerkrieg in Libyen verhindert oder eingedämmt hätte. Stellenwert einräumt und einem großen Anpassungs- Unter zwei Voraussetzungen kann eine neue Inten- druck unterliegt, zielt Berlin vorrangig darauf ab, sität der bilateralen Zusammenarbeit in der Außen-, Nato und EU als grundlegende Organisationen deut- Sicherheits- und Europapolitik erreicht werden: scher Außen- und Sicherheitspolitik weiterzuent- 1) Paris und Berlin sollten eine Gesamtschau der inter- wickeln. Ein deutsch-französischer Interessenausgleich nationalen Gemengelage vornehmen, und zwar lässt sich somit immer schwerer erreichen. sowohl bei den Zusammenkünften des Deutsch- In der Türkeipolitik zeigt sich, dass Emmanuel Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates Macron auf geopolitische Veränderungen reagiert, (DFVSR) als auch in den Gremien, die zur Umset- gleichzeitig aber bestrebt ist, die Größe und den Rang zung des Vertrags von Aachen geschaffen wurden. seines Landes wiederherzustellen. Durch den Rückzug Sie sollten ihre jeweilige Betroffenheit und ihre der USA aus Europa und dem Nahen und Mittleren Interessen offen zur Sprache bringen. Zur Vorberei- Osten sowie das Desinteresse der europäischen Staa- tung könnten beide Seiten die außen- und sicher- ten ist ein geostrategisches Vakuum entstanden. heitspolitischen Informationen der Single Intelli- Macron verweist darauf, dass Regionalmächte dieses gence Analysis Capacity (SIAC) der EU nutzen. Eine zu ihren Gunsten zu nutzen wüssten. Dementspre- gemeinsam erarbeitete Agenda sollte klar benennen, chend tritt Frankreich der türkischen Außenpolitik wie Frankreich und Deutschland zur Lösung von seit dem Sommer 2020 energisch entgegen. Im glei- Krisen und Konflikten beitragen wollen. Auf diese chen Atemzug verteidigt Paris jedoch gegen Ankara Weise könnte der DFVSR den Weg zu einem Euro- seinen eigenen Anspruch, im Nahen Osten und in päischen Sicherheitsrat ebnen. (Nord-)Afrika eine Vorrangstellung einzunehmen. 2) Es gilt, Mut zu zeigen und sich darüber zu ver- Wann immer Frankreichs Präsidenten ein ausge- ständigen, wie nationale Alleingänge oder das Des- prägtes Sendungsbewusstsein haben, geht dieses ein- interesse an den außen-, sicherheits- und europa- her mit nationalen Alleingängen in der Außen- und politischen Druckpunkten des Partners besser be- Europapolitik. Auch nationales Interesse setzt Frank- urteilt werden können. Die Deutsch-Französische reich dann überaus stark um. So wird etwa Frank- Parlamentarische Versammlung hat sich zur Auf- reichs Libyenpolitik unter Emmanuel Macron maß- gabe gemacht, über die Anwendung der Bestim- geblich von den Sonderbeziehungen des Landes zu mungen des Élysée-Vertrags wie des Vertrags von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) beein- Aachen zu wachen. Entsprechend könnte sie die flusst, mit denen Paris eine intensive Rüstungskoope- Exekutiven beider Länder öffentlich zur Vertrags- ration unterhält. Das Beispiel der WWU macht aller- erfüllung ermahnen.

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6 Einleitung: Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron

Ronja Kempin Einleitung: Frankreichs Außen- und Sicher- heitspolitik unter Präsident Macron – Dissonanzen in der deutsch-französischen Zusammenarbeit

Als Emmanuel Macron am 14. Mai 2017 in den Élysée- heitskonferenz mahnte er das Fehlen der bilateralen Palast eingezogen ist, schien eine neue Ära in den Zusammenarbeit an: »Wir brauchen im Herzen Euro- deutsch-französischen Beziehungen denkbar. Bereits pas mehr Gemeinsamkeiten. Ein Herz, das sehr viel im Präsidentschaftswahlkampf hatte Macron der Bun- integrierender arbeitet als heute.«3 Zu diesem Zeit- desregierung die Hand gereicht: Eine Erneuerung der punkt war auf beiden Seiten des Rheins klar, dass Europäischen Union (EU) sei allein auf der Grundlage Berlin und Paris es nicht vermocht hatten, eine »neue einer intensivierten Zusammenarbeit zwischen Paris Partnerschaft« zu begründen. Das Verschulden an der und Berlin möglich.1 Zwei Tage nach den Wahlen nur mäßig funktionierenden deutsch-französischen zum 19. Deutschen Bundestag schlug er in einer Grund- Kooperation schrieben in Deutschland Medien und satzrede an der Universität Sorbonne »Deutschland Politik fraktionsübergreifend Bundeskanzlerin Angela in erster Linie eine neue Partnerschaft« vor. In dieser Merkel und ihrer Regierung zu. Schon seit Herbst Europa-Rede betonte Macron: 2018 wird Kanzlerin Merkel dafür kritisiert, dass sie auf die in Macrons Europa-Rede enthaltenen Vor- »Wir werden uns nicht immer in allen Dingen schläge und Appelle nicht reagiert. Frankreichs Präsi- einig sein oder nicht immer sofort, aber wir werden dent gibt dieser Kritik seit Sommer 2019 ebenfalls über alles sprechen. Denjenigen, die sagen, es han- öffentlich Nahrung: etwa wenn er »klare Antworten« dele sich um eine unmögliche Aufgabe, antworte Deutschlands und Frankreichs auf die derzeitigen ich: Sie haben sich daran gewöhnt, zu resignieren, Probleme in Europa verlangt oder wenn er beklagt, ich nicht. Denjenigen, die sagen, es sei zu hart, das Kennzeichen der deutsch-französischen Bezie- antworte ich: Denken Sie an Robert Schuman, nur hungen sei »eine Geschichte des Wartens auf Ant- fünf Jahre nach einem Krieg, das Blut kaum ge- worten«.4 Dass sich das deutsch-französische Verhält- trocknet.«2 nis zurzeit eher schwierig gestaltet, lässt sich aus den Warnungen Macrons herauslesen, wonach das Bilaterale Zusammenarbeit in der Krise Scheitern der Beziehungen zwischen den beiden Ländern ein »historischer Fehler« wäre.5 Zuletzt warb Frankreichs Staatspräsident im Februar 2020 offensiv um Berlin. Auf der Münchener Sicher- 3 Cornelia Schiemenz, »Macron bei MSC [Munich Security 1 En marche!, »Présentation du programme – Discours Conference]: ›Ich bin nicht frustriert, ich bin vielleicht un- d’Emmanuel Macron«, Pavillon Gabriel, Paris, 2.3.2017, geduldig‹«, in: ZDF Nachrichten, 15.2.2020, (Zugriff am 7.12.2020). konferenz-100.html> (Zugriff am 18.5.2020). 2 Französische Botschaft in Berlin, »Initiative für Europa – 4 »›Ich bin ungeduldig‹. Macron will endlich Antworten Die Rede von Staatspräsident Macron im Wortlaut«, Univer- von Deutschen«, ntv, 15.2.2020, (Zugriff am 7.12.2020). im-Wortlaut> (Zugriff am 18.5.2020). 5 Schiemenz, »Macron bei MSC« [wie Fn. 3].

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7 Ronja Kempin

Zwar gibt es durchaus gemeinsame Erfolge, allen Libyen: Im Juli 2017 traf Präsident Macron den ab- voran die »Deutsch-französische Initiative zur wirt- trünnigen General Haftar und hat ihn damit inter- ∎ schaftlichen Erholung Europas nach der Corona- national hoffähig gemacht. Anstatt Haftar dazu zu Krise«,6 die Bemühungen um einen gemeinsamen bewegen, mit der international anerkannten Ein- Kurs in den Zukunftsthemen Klima, Umwelt, Digita- heitsregierung in Tripolis einen Kompromiss aus- lisierung7 oder den Abschluss des EU–China-Inves- zuarbeiten, hat die französische Linie ihn letztend- titionsabkommens – ihnen folgen aber allzu oft lich dazu ermutigt, im April 2019 Tripolis anzu- heftige Wortwechsel. Im November 2020 zum Bei- greifen und damit einen neuen Bürgerkrieg zu spiel widersprachen die deutsche Verteidigungs- beginnen. ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und der Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU französische Präsident einander mit deutlichen (GSVP): Im Juli 2017 haben Berlin und Paris einen ∎ Worten, als es um die Frage der Notwendigkeit einer Durchbruch bei der Etablierung der Ständigen Struk- »strategischen Autonomie« Europas ging.8 turierten Zusammenarbeit erzielt. Im September 2017 schien Präsident Macron von diesem Konsens abzurücken, als er vorschlug, eine Europäische Frankreichs Alleingänge Interventionsinitiative zu gründen. Seit November 2018 wird dieses Projekt außerhalb des EU-Rah- Zu den Spannungen zwischen Berlin und Paris bei- mens verfolgt. Der deutsch-französische Konflikt getragen haben indes nicht allein die ausbleibenden um die strategische Handlungsfähigkeit Europas deutschen Antworten. Vielmehr hat Frankreich unter ist im November 2020 neu entflammt. der Präsidentschaft Emmanuel Macrons eine Reihe Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) / Eurozone: außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen Ab dem Sommer 2019 verschärft Macron den Ton ∎ getroffen, die Berlin überrascht, mitunter sogar irri- gegenüber der deutschen Haltung in der Eurozone. tiert haben: Mal war Deutschland dem Vernehmen Wiederholt forderte er die Abkehr von den europäi- nach nicht informiert, mal konnte kein Kompromiss schen Finanzregeln. Die Schuldengrenze von 3 Pro- gefunden werden, weil Frankreichs Vorgehen der zent der nationalen Haushalte sei »eine Debatte deutschen Politik entgegenlief, ein anderes Mal schließ- aus einem anderen Jahrhundert«. Deutschlands Rolle lich scheint Paris bewusst einen disruptiven Weg in der Eurozone beschrieb er mit den Worten: »Sie gewählt zu haben. In chronologischer Reihenfolge [die Deutschen] sind die großen Gewinner der Euro- gilt dies für: zone und selbst ihrer Funktionsstörungen.« Der »deutsche Apparat« müsse erkennen, dass diese 9 6 Die Bundesregierung, »›Eine außergewöhnliche, ein- Situation »nicht haltbar« sei. malige Kraftanstrengung‹, Fragen und Antworten zur Russland: Im August 2019 rief Präsident Macron die deutsch-französischen Initiative«, 27.5.2020, (Zugriff am 7.12.2020) land neu nachzudenken. Die gegenwärtige Distanz 7 Claire Stam/Philipp Grüll, »Deutscher Botschafter in Paris: zu Moskau sei ein strategischer Fehler. In einem Wir erleben einen ›Moment Franco-Allemand‹«, Euractiv.de, veränderten internationalen Umfeld könne sich 7.12.2020, (Zugriff am 7.12.2020). 8 Die deutsche Verteidigungsministerin forderte in einem Nachbarn Russland als strategische Alternative 10 Zeitungsbeitrag: »Illusions of European strategic autonomy zu China offenstehen. must come to an end.« Frankreichs Präsident hielt dagegen: »I profoundly disagree, for instance, with the opinion piece 9 »Emmanuel Macron in His Own Words (English). The signed by the German Minister of Defence in Politico. I think French President’s Interview with The Economist«, in: that it is a historical misinterpretation.« Zur Analyse der The Economist, 7.11.2019, (Zugriff am 19.5.2020). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 30.11.2020 (Kurz 10 Élysée, »Discours du Président de la République gesagt), (Zugriff am 7.12.2020). elysee.fr/emmanuel-macron/2019/08/27/discours-du-presi

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8 Einleitung: Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron

Nato: Die Neuausrichtung der französischen Russ- zwischen der EU und der Türkei werde er seine landpolitik wog (und wiegt) umso schwerer, als Zustimmung verweigern.14 ∎ Emmanuel Macron im November 2019 die Nato für »hirntot« erklärte.11 Er kritisierte, dass die Nato- Mitglieder USA und Türkei in Syrien gehandelt Fragestellung und Aufbau der Studie hätten, ohne sich vorher mit ihren Partnern abge- sprochen zu haben, obgleich auch deren Interessen Wie kann die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik auf dem Spiel stünden. Nur Tage zuvor hatte Macron Frankreichs unter der Führung Präsident Macrons er- seine Nato-Partner schon einmal brüskiert: mit klärt werden? Warum unterscheidet sie sich in zent- einem Brief an den russischen Präsidenten Wladimir ralen Fragen deutlich von der deutschen Politik – ob- Putin. Darin offerierte er Putin, den russischen Vor- gleich beide Länder politisch so eng verbunden sind schlag eines Moratoriums für die Stationierung ato- wie kein anderes Staatenpaar in den internationalen marer Kurz- und Mittelstreckenraketen zu prüfen, Beziehungen?15 obwohl die Nato diesen als nicht glaubhaft einge- Die vorliegende Studie nimmt an, dass die Gründe stuft hatte. Hintergrund des Briefes war das Aus- hierfür darin liegen, dass Berlin und Paris strukturelle laufen des Vertrags über das Verbot landgestützter Veränderungen in den internationalen Beziehungen Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) im August 2019. unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. Ent- Russland müsse nun in Überlegungen zu einer sprechend lautet ihre Fragestellung: Welche strukturellen neuen europäischen Sicherheitsarchitektur einge- Veränderungen der internationalen Beziehungen nimmt bunden werden.12 Frankreich wahr und wie bewertet es diese? Türkei: Im Sommer 2020 hat Frankreich im öst- Um diese Frage zu beantworten, gehen die Fall- lichen Mittelmeer Partei ergriffen und führte ge- studien analytisch in drei Schritten vor: Zunächst stel- ∎ meinsame Militärmanöver mit Griechenland und len sie für die einzelnen Politikfelder die wichtigen Zypern durch. Von seinen EU-Partnern fordert Unterschiede zwischen Berlin und Paris heraus. Im Macron, »mit der Regierung von Präsident Erdoğan, Anschluss daran werden die strukturellen Verände- die sich heute inakzeptabel verhält, klar und ent- rungen in den Blick genommen. Die Autorinnen und schieden« umzugehen.13 Der avisierten Zollunion Autoren fragen, ob und in welchem Maße diese Ver- änderungen die Außen-, Sicherheits- und Europapoli- tik Macrons erklären können. Kontrafaktisch wird dent-de-la-republique-a-la-conference-des-ambassadeurs-1> geprüft, ob andere Motive als Erklärung für die Politik (Zugriff am 19.5.2020); Liana Fix, »Europas Chefunruhe- stifter«, in: ipg-journal [Internationale Politik und Gesell- 14 »La veut proposer de supprimer l’union doua- schaft], 30.1.2020, 9.11.2020, (Zugriff am 23.11.2020). NATO«, sagte Macron. Das Interview erschien am 7. Novem- 15 Präsident Macron hat 2017 zahlreiche Deutschland- ber 2019 unter der Überschrift »Emmanuel Macron in His kenner in sein erstes Kabinett berufen. Premierminister Own Words (English). The French President’s Interview with Édouard Philippe (2017–2020) hat 1988 sein Abitur am The Economist« [wie Fn. 9]. deutsch-französischen Gymnasium in Bonn abgelegt, das 12 Ende November 2019 betonte Emmanuel Macron nach sein Vater über mehrere Jahre leitete. Wirtschafts- und einem Treffen mit Nato-Generalsekretär : Finanzminister Bruno Le Maire war während der Präsident- »Wir waren jedoch der Auffassung, dass es [das russische schaft Nicolas Sarkozys 2008 bis 2009 Staatssekretär für Angebot eines Moratoriums] als Diskussionsgrundlage nicht Europa im Außenministerium und Beauftragter für die von der Hand gewiesen werden sollte.« Vgl. dazu Michaela deutsch-französische Zusammenarbeit; 2016/17 war er Wiegel, »Macron steht zu Brief an Russland«, in: FAZ.net, Deutschlandberater des konservativen Präsidentschafts- 28.11.2019, (Zugriff am 19.5.2020). diplomatischen Berater machte. Heute ist Étienne Frank- 13 »›La Turquie n’est plus un partenaire en Méditerranée reichs Botschafter in Washington. Étiennes Amtsvorgänger orientale‹, dit Macron«, , 10.9.2020, (Zugriff zum Generalsekretär des französischen Außenministeriums am 23.9.2020). befördert (2017–2019).

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9 Ronja Kempin

Frankreichs in Betracht kommen. Abschließend be- messen die Autorinnen und Autoren die Konsequen- zen, die sich aus ihren jeweiligen Analysen für die deutsch-französische Zusammenarbeit ergeben. Die Studie verzichtet bewusst darauf, die institu- tionelle Dimension der deutsch-französischen Bezie- hungen zu untersuchen. Sie zeichnet nicht nach, welches Gremium zu welchem Zeitpunkt Kenntnis von den politischen Intentionen des Partners hatte. Der Umstand, dass Berlin und Paris in den zurück- liegenden Jahren in wesentlichen Fragen der euro- päischen wie der internationalen Politik keinen Inter- essenausgleich erzielen konnten, weist aus Sicht der Autorinnen und Autoren vielmehr darauf hin, dass veränderte Strukturen im internationalen Um- feld zwischen Deutschland und Frankreich nicht ausreichend thematisiert wurden. Hierzu will die vorliegende Sammelstudie einen Anstoß liefern, indem sie eine umfassende Analyse und Bewertung der französischen Außen-, Sicherheits- und Europa- politik unter Präsident Macron bereitstellt.

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10 Französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Präsident Macron

Claudia Major Französische Sicherheits- und Verteidigungs- politik unter Präsident Macron – pragmatisch, ambitioniert, disruptiv

Frankreichs aktuelle Sicherheits- und Verteidigungs- alisierung von 20212 und in Beiträgen von Regierungs- politik ist von spezifischen Grundannahmen und vertretern. Macron hat seine Weltanschauung in Zielen geprägt, die sich auf allen in dieser Studie Interviews und Reden weiterentwickelt.3 So ergibt untersuchten Handlungsfeldern niederschlagen. Traditionell bildet die französische Sicherheits- 2 Ministère des Armées, Actualisation stratégique 2021, und Verteidigungspolitik mit Blick auf Inhalt und 10.2.2021, (Zugriff am nationalen Interessen, Kooperationsformaten und den 9.3.2021). Grundsätzen zum Einsatz militärischer Gewalt folgt 3 Siehe vor allem Französische Botschaft in Berlin, »Initia- Frankreich einem anderen Verständnis als die Bun- tive für Europa – Die Rede von Staatspräsident Macron im desrepublik. Zugleich vertritt Paris die eigene Sicht- Wortlaut«, Universität Sorbonne, Paris, 26.9.2017, (Zugriff am 5.11.2020); Présidence Präsident Macron haben sich diese Differenzen ver- de la République, »Discours du Président de la République à tieft. Die Folge waren Missverständnisse und Ver- la conférence des ambassadeurs«, Paris, 27.8.2019, (Zugriff am 5.11.2020); »Transcript: Emmanuel Macron päischen Verteidigung über die industrielle Koope- in His Own Words (French)«, in: The Economist, 7.11.2019, ration bis hin zu länderspezifischen Dossiers. Zwar (Zugriff am 5.11.2020); sammenarbeit notwendig ist. Die strukturellen Unter- »Die Macron-Doktrin: Ein Gespräch mit dem französischen schiede erschweren diese jedoch und bremsen den Staatspräsidenten«, in: Le Grand Continent (Paris), 16.11.2020, Fortschritt bei der Umsetzung gemeinsamer Ziele. (Zugriff am 5.11.2020); die Rede von Außenminister Jean-Yves Le Drian in Prag 2019: »Intervention de Jean-Yves Le Drian, Grundannahmen unter Macron ministre de l’Europe et des Affaires étrangères, au colloque ›Au-delà de 1989: Espoirs et désillusions après les révolu- tions‹«, Prag, 6.12.2019, (Zugriff am 5.11.2020); sowie in Bratislava 2020: vor Macrons Präsidentschaft eingesetzt, wurde seit- Ministère de l’Europe et des Affaires Étrangères, »›GLOBSEC dem aber vorangetrieben und schriftlich verankert, 2020 Bratislava Forum‹ – Rede von Jean-Yves Le Drian«, etwa in der Revue stratégique von 2017,1 deren Aktu- Bratislava, 8.10.2020, (Zu- 1 Ministère des Armées, Revue stratégique de défense et de griff am 5.11.2020); sowie Philippe Etienne, A View from the sécurité nationale 2017, Paris, 4.12.2017, (Zugriff am 5.11.2020).

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11 Claudia Major

sich ein aus französischer Perspektive schlüssiger An- überaus dringlich, entsprechend warnte Le Drian: satz, der allerdings in der Praxis nicht immer durch- »Wir stehen vor einer sehr klaren Alternative – ent- gehalten wird. Gleichzeitig fällt es einigen Partnern weder wir streifen die Zurückhaltung ab, mit der wir Frankreichs schwer (auch Deutschland), sich von lieb- zu lange gelebt haben, oder wir werden aus unserer gewonnenen Vorannahmen zur französischen Politik eigenen Geschichte hinweggefegt.«6 zu trennen. Dies führt zu Fehldeutungen und er- Die europäischen Partner jedoch wollen, so die schwert die Kooperation. französische Wahrnehmung, ihre eigene strategische Schwäche in einer zunehmend machtbasierten Welt Der Brexit und Trumps Wahlsieg 2016 nicht erkennen oder zögern, die Konsequenzen dar- waren für Paris keine Zufälle, aus zu ziehen. Für Frankreich lautet die Antwort: euro- sondern Folgen eines päische Souveränität. Gemeint ist damit ein überge- strukturellen Wandels. ordneter kohärenter Ansatz für ein Europa, das in poli- tischer, technologischer, wirtschaftlicher, digitaler Aus Pariser Sicht haben sich die europäischen sowie militärischer Perspektive offensiver für seine und globalen Rahmenbedingungen der Sicherheits- Ziele einsteht, seine Umgebung aktiv gestaltet und als und Verteidigungspolitik grundlegend verändert. Akteur selbstbewusster auftritt.7 Paris ist überzeugt, Die liberale Weltordnung, die nach Ende des Kalten »dass durch ein geeinteres und souveränes Europa Krieges dominiert hatte, geprägt durch multilaterale unsere Interessen in der Welt am besten verteidigt Institutionen, durch Allianzen und Freihandel, wird und unsere Werte besser gefördert werden können«.8 demnach zunehmend in Frage gestellt, selbst in den europäischen Demokratien.4 Ereignisse wie der Wahl- sieg Donald Trumps 2016 oder der Brexit sind aus Europäische Souveränität dieser Perspektive keine Ausnahmen, sondern Bei- als Schlüsselkonzept spiele und Folgen struktureller Wandlungsprozesse, auf die Frankreich und Europa reagieren müssen. Die Ideen von europäischer Autonomie und Souverä- Dabei gelten die eigenen (französischen) Handlungs- nität sind nicht neu; sie finden sich bereits in frühe- fähigkeiten als begrenzt, wenn es darum geht, eine ren französischen Grundlagendokumenten. Doch internationale Ordnung zu gestalten, die immer werden sie von Präsident Macron und Pariser Regie- stärker von chinesisch-amerikanischer Rivalität, von rungsvertretern, vor allem Außenminister Le Drian Systemkonflikten und einem veränderten US-Füh- und Verteidigungsministerin Florence Parly, demonst- rungsanspruch gekennzeichnet ist. Gestaltungsmög- rativer zum Ausdruck gebracht als bisher und stetig lichkeiten sieht Paris nur auf europäischer Ebene. weiter ausbuchstabiert.9 Laut Macron bedeutet Auto- Deshalb seien die Staaten des Kontinents gefordert, so nomie, »dass wir die für uns gültigen Regeln selbst Außenminister Jean-Yves Le Drian, sich »wieder auf festlegen«.10 Europäische Souveränität wäre dagegen unsere europäischen Ziele zurückzubesinnen und eine deutlich höhere Stufe der Handlungsfähigkeit. dabei den Narzissmus unserer kleinen Differenzen zu Sie würde eine »etablierte europäische politische überwinden«.5 Dieses Anliegen betrachtet Paris als Macht« voraussetzen – also erfordern, dass Europa tatsächlich ein eigenständiger Akteur wäre. Macron

File.ashx?objectId=1707> (Zugriff am 5.11.2020); Clément Beaune, »Covid-19: À bas la mondialisation, Vive l’Europe? 6 Ebd. Un monde de villes«, in: Politique Etrangère (online), 3 (2020), 7 Siehe zum Beispiel: »Emmanuel Macron in His Own S. 8–29, ; »Déclaration de Mme 8 Etienne, A View from the Élysée [wie Fn. 3] (»that our world Florence Parly, ministre des armées, sur la France et l'OTAN«, interests will be best defended and our values better pro- Paris, 18.10.2018, (Zugriff am 5.11.2020). Emmanuel Macron sur la strátegie de défense et de dissua- 4 »Emmanuel Macron in His Own Words« [wie Fn. 3]; sion devant les stagiaires de la 27ème promotion de l’École »Die Macron-Doktrin« [wie Fn. 3]. de guerre«, Paris, 7.2.2020, (Zugriff am 5.11.2020); »›GLOBSEC 2020 Bratislava Forum‹ – Rede von Jean-Yves »Emmanuel Macron in His Own Words« [wie Fn. 3]. Le Drian« [wie Fn. 3]. 10 »Die Macron-Doktrin« [wie Fn. 3].

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12 Französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Präsident Macron

hat im Herbst 2020 eingestanden, dass Europa davon gerade im Verteidigungsbereich ging es Frankreich noch weit entfernt und der Begriff der Souveränität bereits in der Vergangenheit mehr um Europa als daher »überzogen« sei.11 um die EU. Der Brexit verstärkt diese Tendenz. Dies Neu hingegen ist die Sorge, dass Europa vor dem wird etwa in der Revue stratégique deutlich, einer Art Hintergrund der sino-amerikanischen Rivalität zu- Weißbuch light, das Präsident Macron nach Amts- nehmend deklassiert und zur bloßen Verhandlungs- antritt erarbeiten ließ.14 Dort wird zwischen »europä- masse wird (»Europe is on the menu but not at the ischer Kooperation« und »EU-Kooperation« unter- table«). Zwar ist Frankreich beunruhigt angesichts der schieden. Es geht dabei nicht um eine Kritik an der Aussicht, die USA könnten ihr sicherheitspolitisches EU als solcher, sondern darum, den besten Rahmen Engagement in Europa verringern. Noch mehr aber für effektive Handlungsfähigkeit zu finden. Dabei fürchtet Paris, dass Europa zum Spielball widerstrei- helfen soll ein erweitertes Verständnis von Europa, tender Interessen werden könnte, ohne selbst seine das über die EU hinausgeht. Gerade für Deutsch- politischen Ziele verfolgen und die eigene Umgebung land ist diese Sichtweise eine Herausforderung. gestalten zu können. So mahnte Macron, es gehe dar- Eng damit verbunden ist ein pragmatischer und flexib- um, »die Modalitäten der europäischen Souveränität ler Ansatz mit Blick auf Institutionen, Formate, Part- ∎ und Autonomie zu definieren, um aus eigener Kraft ner und Einflussmöglichkeiten, bis hin zum Uni- Einfluss ausüben zu können, statt zum Vasallen lateralismus. Es gibt keine automatische Präferenz dieser oder jener Macht zu werden, ohne unsere Posi- für die EU, vielmehr werden Formate und Partner tion vertreten zu können«.12 gemäß dem zu lösenden Problem bestimmt.15 Das Europas Schicksal solle in Europa und von Euro- kann je nachdem die EU, eine Koalition der Willi- päern entschieden werden, lautet ein Leitmotiv. gen oder die Nato sein. Bestes Beispiel für diesen Aus französischer Perspektive sollte Europa beispiels- zielorientierten Ansatz ist die 2017 gegründete weise in den Verhandlungen über mögliche Folge- Europäische Interventionsinitiative, die bewusst formate nach Ende des INF-Vertrags zu nuklearen außerhalb der Institutionen angesiedelt wurde.16 Mittelstreckensystemen aktiver werden. Die Gesprä- Damit einher geht das Risiko, die EU zu schwächen, che sollten nicht den USA und Russland überlassen um die eigene und Europas Handlungsfähigkeit werden. Denn letztlich sei es Europa, das in Reich- zu stärken. weite dieser Atomraketen liegt. Frankreich glaubt anders als Deutschland nicht Bei den europäischen Partnern sieht Paris nur per se an den Nutzen von Institutionen, sondern geringes Interesse, den französischen Ideen über die will sie flexibel für jene Fälle nutzen, für die sie am rhetorische Ebene hinaus und im vorgeschlagenen besten aufgestellt sind.17 So kann die Europäische Tempo zu folgen. Daraus schließt Frankreich, gege- Kommission etwa ein Screening chinesischer Inves- benenfalls allein oder bewusst disruptiv handeln zu titionen übernehmen, aber kaum die Verteidigungs- müssen, um die anderen Europäer zum Handeln kooperation steuern. Aus französischer Sicht ist zu animieren.13 das E3-Format (Frankreich, Deutschland, Groß- Blickt man auf die aktuelle französische Sicher- britannien) im sicherheitspolitischen Bereich ein heits- und Verteidigungspolitik, so lassen sich eine

Reihe prägender Elemente erkennen: 14 Ministère des Armées, Revue stratégique [wie Fn. 1]. Relativierung der EU als normativer Priorität: Die Euro- 15 Ebd.; Christian Mölling/Claudia Major, Pragmatisch und päische Union bleibt ein zentrales Element, aber ∎ europäisch: Frankreich setzt neue Ziele in der Verteidigungspolitik, Berlin: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), 11 »Ich gebe zu, dass das ein etwas überzogener Begriff ist, Oktober 2017, (Zugriff am 5.11.2020). gäbe es auch eine vollständig etablierte europäische politi- 16 Maike Kahlert/Claudia Major, Frankreichs Europäische Inter- sche Macht. So weit sind wir noch nicht. […] Wenn wir echte ventionsinitiative (EI2): Fakten, Kritik und Perspektiven, Berlin: europäische Souveränität wollen, brauchen wir wohl euro- Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2019 (Forschungs- päische Regierungschefs, die vollständig vom europäischen gruppe Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Nr. 01), so »Die Macron-Doktrin« [wie Fn. 3]. (Zugriff am 5.11.2020). 12 »Die Macron-Doktrin« [wie Fn. 3]. 17 Siehe die Beiträge von Ronja Kempin zur GSVP, S. 21ff, 13 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zur GSVP, S. 21ff. und von Claudia Major zu Frankreichs Nato-Politik, S. 37ff.

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13 Claudia Major

wichtiges Instrument. Flexibler Minilateralismus und die Zusammenarbeit mit Partnern gestaltet kann als Leitmotiv gelten. Paris sieht darin ein sich in der Praxis oft schwierig.21 Je nach Themen- unterstützendes Element für Institutionen wie EU feld wird die Balance zwischen nationalem und und Nato, keine Konkurrenz dazu. Es wird als eine kooperativem Ansatz denn auch neu justiert. Möglichkeit verstanden, durch die Europa eigen- Fokus auf Praxis und Operation: Um eine strategische ständige Fähigkeiten entwickeln kann: für europä- Kultur Europas zu entwickeln, wurde in der Ver- ∎ ische Ziele, aber auch um Frankreich zu unterstüt- gangenheit vor allem über gemeinsame Strategie- zen, wenn es Aufgaben für Europa wahrnimmt, dokumente europäischer oder bilateraler Art dis- etwa bei der Terrorismusbekämpfung in Afrika.18 kutiert. Diesen Fokus verschiebt Frankreich nun: Diese Flexibilität schließt unilaterale Ansätze ein, Als Katalysator für europäische Verteidigung sollen die greifen sollen, wenn aus französischer Sicht die gemeinsame operative Erfahrungen dienen. Für europäischen Partner zu langsam oder gar nicht Paris erwachsen europäische Souveränität und stra- reagieren, Paris aber eine Reaktion als erforderlich tegische Kultur aus gemeinsamen Einsätzen, nicht ansieht.19 aus der Erarbeitung eines Weißbuchs oder dem Überwinden von Dichotomien: Im Sinne einer solchen Aufbau neuer Institutionen. Flexibilität will Frankreich tradierte Dichotomien ∎ und möglicherweise konstruierte Gegensätze über- winden, um seine Ziele besser verfolgen zu können. Strukturelle Unterschiede erschweren Statt sich in Debatten wie etwa »mit oder gegen die deutsch-französische Kooperation Russland« zu verfangen, betrachtet Paris solche Alternativen vielfach als obsolet. Frankreich kann Diese veränderten Grundannahmen irritieren die demnach die belarussischen Demokratiebestre- Bundesrepublik, da sie manchen der deutschen An- bungen unterstützen und sich trotzdem um einen nahmen entgegenstehen. Das betrifft etwa die Flexi- Dialog mit Moskau bemühen. Darin spiegelt sich bilität bei den Formaten und den operativen Fokus. Macrons Ansatz, traditionelle Trennlinien in der Hinzu kommen die Besonderheiten von Frankreichs französischen Parteipolitik hinter sich zu lassen. politischem System, die in Macrons Amtszeit stark Aufgrund geringer oder fehlender Absprachen hervortreten und die bilaterale Kooperation zusätz- irritiert ein solches Vorgehen jedoch regelmäßig lich erschweren. Es sind also nicht nur die Inhalte, die europäischen Partner. sondern auch die Prozesse französischer Politik, die Zögerliche Akzeptanz notwendiger Partnerschaften: Auch die Kooperation mit Partnern belasten. Die wich- wenn Frankreich beansprucht, notfalls allein zu tigsten bilateralen Unterschiede betreffen die strate- ∎ handeln, erkennt es doch an, dass die eigenen gische Kultur, die Rolle der Industrie und die admi- Kapazitäten zunehmend begrenzt sind, manche nistrative Tradition.22 Ziele der Kooperation bedürfen und damit auch Ein unter Macron markant auftretender Faktor ist Abhängigkeiten entstehen können.20 Dies betrifft die große Machtfülle, über die der Präsident gemäß Operationen und militärische Fähigkeitsentwick- französischer Verfassung bei der Gestaltung der lung ebenso wie Industriekooperation. Allerdings

bleibt es in Frankreich umstritten, Grenzen der 21 Siehe zum Beispiel: Claudia Major/Christian Mölling, nationalen Handlungsfähigkeit zu akzeptieren, »Europas Kampfflugzeug der Zukunft schmiert ab«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (online), 30.9.2020, (Zugriff am 5.11.2020). the Rocks (online), 2.11.2017, (Zugriff am Room of German-French Relations«, in: Berlin Policy Journal, 5.11.2020); Claudia Major/Christian Mölling, France Moves 9.1.2019, (Zugriff am 5.11.2020); Christian Mölling/ Dezember 2017, (Zugriff am 5.11.2020). Problem Landscape of Franco-German Defense Industrial Coopera- 19 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zu Frankreichs tion, Berlin: DGAP, 14.1.2020 (Analysis), 20 Ministère des Armées, Revue stratégique [wie Fn. 1]. (Zugriff am 5.11.2020).

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Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und anderen Europäer an Antworten fehlen lassen. Macron als Chef der Streitkräfte verfügt. Die Verfassungs- nimmt für sich in Anspruch, nötigenfalls auch disrup- vorgaben interpretiert Macron traditionell, im Sinne tiv vorzugehen, etwa mit der harschen Kritik an der einer klaren präsidentiellen »domaine réservé«. Den Nato, die er als »hirntot« qualifizierte.25 Dies entspricht Ministerien obliegt demnach nur, die Vorgaben des seinem Ansatz der »rupture«, des Bruchs mit traditio- Präsidenten umzusetzen.23 Macron vertritt französi- nellen Verhaltensweisen, wie er ihn erfolgreich im sche Interessen deutlicher und konfliktbereiter als Präsidentschaftswahlkampf 2017 propagiert hatte. seine Vorgänger, vor allem gegenüber Deutschland.24 Damit befremdet Macron jedoch europäische Part- Dabei passt sich das französische System den präsi- ner, inklusive Deutschland, zumal wenn ein solches dentiellen Vorgaben eher an, als dass es diese steuert. Handeln nicht oder nur verspätet abgestimmt wird Gegenüber dem Präsidenten mit seiner umfassenden und ohne ausreichende Umsetzungsvorschläge erfolgt, Gestaltungskompetenz gibt es weder ein systemisches zum Beispiel bei der Ankündigung seiner Russland- Gegengewicht noch eine Kontrollinstanz. Initiative.26 So verstärkt sich der gerade in Mittel- und Osteuropa bestehende Eindruck, dass Frankreich ohne Macron entscheidet schnell und entsprechendes Mandat für Europa, nicht aber mit Eu- weitgehend autonom – notfalls auch ropa spreche.27 Und so wächst auch die Sorge, franzö- im Widerspruch zu seinen Partnern. sische Ansätze könnten europäischen Positionen ent- gegenwirken. Das gilt etwa für Macrons wohlwollende Dies erschwert die Kooperation mit Partnern wie Antwort auf Putins Vorschlag eines INF-Moratoriums, der Bundesrepublik auf mehreren Ebenen. So ver- den die anderen Nato-Alliierten abgelehnt hatten.28 fügen etwa in Deutschland die einzelnen Ministerien Insgesamt entsteht so ein ambivalentes Bild vom über mehr Gestaltungsraum als ihre französischen Partnerland Frankreich. Einerseits hat es als eines Pendants. In keinem anderen europäischen Nato- von wenigen in Europa ein bemerkenswertes und oder EU-Land hat ein Staats- bzw. Regierungschef eine umfassendes Konzept für die Zukunft europäischer ähnliche Machtfülle wie der französische Präsident. Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor- Die deutsche Kanzlerin kann nicht in gleichem Maße gelegt. Andererseits ist Paris ein Akteur, der durch unilateral Entscheidungen treffen und umsetzen hohe Ansprüche, Alleingänge und als provokant emp- lassen. Dies bedeutet aber auch: Es reicht nicht, dass fundene Vorschläge Deutschland und andere euro- Macron die Kanzlerin von seinen Zielen überzeugt – päische Länder regelmäßig irritiert, teils überfordert vielmehr müssen in Deutschland auch andere poli- und gemeinsame Ansätze erschwert. tische Akteure gewonnen werden, vor allem das Par- lament, damit die Kooperation funktioniert. Die be- kannten Unterschiede zwischen dem präsidentiellen System in Frankreich und dem parlamentarischen 25 Siehe den Beitrag von Claudia Major zu Frankreichs in der Bundesrepublik, dem zentralistischen auf der Nato-Politik, S. 37ff. einen und dem föderalen auf der anderen Seite prallen 26 Siehe den Beitrag von Susan Stewart zu Macrons unter Macron besonders stark aufeinander. Er kann Russlandpolitik, S. 32ff. 27 Gustav Gressel/Kadri Liik/Jeremy Shapiro/Tara Varma, schnell und weitgehend autonom entscheiden – und Emmanuel Macron’s Very Big Idea on , European Council tut dies, wenn er es für geboten hält, auch im offenen on Foreign Relations, 25.9.2019 (ECFR Commentary), (Zugriff am 11.12.2020); Romain Le Quiniou, Hier zeigt sich ein weiteres Merkmal von Macrons Mission Unaccomplished: France’s Monsieur Macron Visits the Baltics, Präsidentschaft. In Paris herrscht angesichts der inter- London: Royal United Services Institute for Defence and nationalen Herausforderungen das Gefühl, dass zeit- Security Studies, 9.10.2020 (RUSI Commentary), (Zugriff am 11.12.2020). 28 Lorenz Hemicker/Michaela Wiegel, »Macron kommt 23 Siehe die Beiträge von Wolfram Lacher zu Macrons Russland bei Atomraketen entgegen«, in: Frankfurter Allge- Libyenpolitik, S. 16ff, und von Susan Stewart zu Macrons meine Zeitung (online), 27.11.2019, (Zugriff am Macrons gegenüber der Eurozone, S. 27ff. 11.12.2020).

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15 Wolfram Lacher

Wolfram Lacher Macron als Spoiler in Libyen

Emmanuel Macrons Libyenpolitik war bislang vor des Berliner Prozesses, das heißt der Eindämmung aus- allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet: zum einen ländischer Interventionen, die Schärfe zu nehmen.2 durch kurzlebige unilaterale Initiativen, welche die Frankreichs destabilisierende Politik und Deutsch- Arbeit der Vermittler aus den Vereinten Nationen lands Passivität ergänzten sich auf fatale Weise. (VN) erschwerten, zum anderen durch den Schulter- schluss mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) im später gescheiterten Versuch, den Milizen- Divergenzen führer Khalifa Haftar mit Gewalt an die Macht zu bringen. In einer Situation, in der die USA ihre Rolle Seitdem Ende 2015 unter VN-Vermittlung eine Ein- als Ordnungsmacht nicht wahrnahmen, sorgte Frank- heitsregierung gebildet wurde, weichen die deutsche reich dafür, dass Europa sich nicht energischer gegen und die französische Position gegenüber Libyen deut- die ausländische Unterstützung für Haftar stellte. lich voneinander ab. Deutschland unterstützte zu- Resultat dieser Politik war eine beispiellose Eskalation nächst die Einheitsregierung, verhielt sich aber neut- des Konflikts und das Eingreifen Russlands mit emi- ral, nachdem Haftar im April 2019 seine Offensive ratischer Unterstützung. Auf diese Entwicklung re- auf Tripolis begonnen hatte. agierte die Türkei und intervenierte in Libyen, um Frankreich dagegen leistete in Bengasi ab Anfang Haftar und den VAE entgegenzutreten.1 Als Bilanz 2016 militärische Unterstützung für Haftar, den größ- der bisherigen Libyenpolitik Macrons ist festzuhalten, ten Widersacher der Einheitsregierung. Die daraus dass die VAE, Russland und die Türkei ihre Interven- resultierenden Geländegewinne und das Signal, dass tionen massiv ausgeweitet haben, während Europa dieser trotz seiner Gegnerschaft zur Einheitsregierung seinen Einfluss in dem Konflikt fast völlig eingebüßt bevorzugter Partner Frankreichs war, halfen ihm, hat. Auch nach dem Abschluss eines Waffenstill- seine Autorität im Osten zu stärken. Auf diese Weise stands im Oktober 2020 und der Bildung einer Einheits- trug Frankreich wesentlich dazu bei, dass die Einheits- regierung im Februar 2021 dürften diese intervenie- regierung ihr wichtigstes Ziel verfehlte, nämlich das renden Mächte weiterhin das letzte Wort behalten. politisch gespaltene Land zu vereinen.3 Macron war Entsprechend schlecht sind die Aussichten auf eine 2017 der erste europäische Staatschef, der Haftar emp- nachhaltige Lösung des Konflikts. fing und ihn auf diese Weise hoffähig machte. Später In Berlin stieß die französische Libyenpolitik auf unterstützten französische Spezialkräfte die Expan- viel Kopfschütteln. Gleichwohl scheute Deutschland sion von dessen Milizen in Südlibyen, die dem Angriff die Auseinandersetzung mit Frankreich über Libyen, auf Tripolis unmittelbar vorherging und von Außen- da der Libyenkonflikt im deutsch-französischen Inter- minister Le Drian ausdrücklich gewürdigt wurde.4 essenausgleich aus Berliner Perspektive keinen hohen Zweifellos ermutigte das den Milizenführer zu seinem Stellenwert genießt. Auch auf europäischer Ebene Angriff auf Tripolis, über dessen Vorbereitungen die mussten Macron und sein Außenminister Jean-Yves französischen Geheimdienste aufgrund ihrer Koope- Le Drian nach anfänglichen Differenzen mit Italien nur wenig Überzeugungsarbeit leisten, um eine härtere Linie gegenüber Haftar und seinen ausländischen 2 Wolfram Lacher, Internationale Pläne, libysche Realitäten, Unterstützern zu verhindern. Die französische Diplo- Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2019 matie war erfolgreich darin, dem ursprünglichen Ziel (SWP-Aktuell 65/2019). 3 Nathalie Guibert, »La France mène des opérations secrètes en Libye«, in: Le Monde, 23.2.2016. 1 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zu Frankreichs 4 Isabelle Lasserre, »Paris cherche à rapprocher les frères Türkeipolitik, S. 44ff. ennemis libyens«, in: Le Figaro, 20.3.2019.

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ration mit Haftar bestens informiert gewesen sein ren, dass Berlin keine wirklich eigenständige Libyen- dürften. Dennoch behaupteten französische Diploma- politik verfolgt. Das von Deutschland immerzu betonte ten im Nachhinein, man habe ihm immer von einer VN-Waffenembargo wird weder von den Mitgliedern Offensive in Westlibyen abgeraten und sei von ihr des Sicherheitsrates noch von den intervenierenden überrumpelt worden.5 Staaten ernst genommen. Doch hat gerade auch der Nach Beginn der Offensive vereitelten französische französische Unilateralismus zum Scheitern der VN- Diplomaten eine Verurteilung Haftars durch die EU, Bemühungen beigetragen. Klar zutage trat das bei spielten die humanitären Folgen des Krieges herunter den beiden Pariser Gipfeltreffen zwischen Macron, und stellten die Gegner des Warlords als Terroristen Haftar und dem damaligen Ministerpräsidenten der und Kriminelle dar.6 Zu Hilfe kam Frankreich dabei Einheitsregierung, Faiez al-Serraj. In beiden Fällen das Handeln der USA. Amerikanische Diplomaten überraschte Macron sowohl die VN als auch seine und Militärs hatten Haftar eingeschärft, dass Tripolis europäischen Partner mit einem improvisierten Ver- eine »rote Linie« sei. Erst später wurde bekannt, dass mittlungsansatz. Macrons Alleingänge waren in den dieser unmittelbar vor Beginn des Angriffs grünes Jahren 2017 und 2018 der Hauptgrund für die fran- Licht vom nationalen Sicherheitsberater der USA, zösisch-italienischen Reibungen in der europäischen John Bolton, erhalten hatte.7 Libyenpolitik, da Italien sich übergangen fühlte.8 Neben der offensichtlichen Divergenz zwischen Drittens ist Macron wie schon seine Vorgänger be- Deutschland und Frankreich in ihren Positionen zu reit, militärisch in Libyen tätig zu werden, während Libyen fallen drei grundsätzliche Unterschiede auf. sich Deutschland in militärischer Zurückhaltung übt. Erstens wird die Bedeutung Libyens ungleich gewich- Noch im Quinquennat François Hollandes begann tet. In Paris ist Libyenpolitik seit Jahren Chefsache der damalige Verteidigungsminister Le Drian, Haftar und das Land genießt sowohl bei Präsident Macron mit Spezialkräften zu unterstützen. Unter Macron als auch bei Außenminister Le Drian hohe Aufmerk- leistete der französische Auslandsgeheimdienst Auf- samkeit. In Berlin dagegen stößt der Libyenkonflikt klärung für die Offensiven des Milizenführers, wobei auf geringes Interesse, das nur im Umfeld der Berliner Frankreich parallel dazu auch mit einzelnen Komman- Konferenz im Januar 2020 kurz aufflackerte und seit- deuren der Einheitsregierung kooperierte. Anfang dem wieder stark geschwunden ist. 2019 unterstützten französische Spezialkräfte die Ex- Zweitens verortet sich die deutsche Libyenpolitik pansion der Milizen Haftars in Südlibyen. Auch bei fest im Multilateralismus, während Macron in Libyen dem Angriff auf Tripolis deutete der Fund französi- hauptsächlich unilateral oder im Bündnis mit den scher Waffen im Juni 2019 darauf hin, dass fran- VAE und Ägypten agiert. Freilich mangelt es dem deut- zösische Kräfte zumindest zeitweise in Haftars Truppen schen Bekenntnis zum Multilateralismus in Libyen eingebunden waren.9 Für seinen Krieg war aber die an Überzeugungskraft, denn die deutsche Unter- politische Unterstützung seitens Frankreichs wesent- stützung für die Rolle der VN soll vor allem kaschie- lich wichtiger, da sie ihm den nötigen internationalen Handlungsspielraum verschaffte.

5 Isabelle Lasserre, »Jean-Yves Le Drian: ›La France est en Libye pour combattre le terrorisme‹«, in: Le Figaro, 2.5.2019; Interessen Ulf Laessing, »How Libya’s Haftar Blindsided World Powers with Advance on Tripoli«, Reuters, 10.4.2019. 6 Gespräche des Autors mit französischen Diplomaten, Um Macrons ebenso destruktive wie erfolglose Libyen- Berlin und Brüssel, April–Mai 2019; Gabriela Baczynska/ politik zu erklären, wird der französischen Regierung Francesco Guarascio, »France Blocks EU Call to Stop Haftar’s oft zugutegehalten, sie wolle den Terrorismus be- Offensive in Libya«, Reuters, 11.4.2019; Lasserre, »Jean-Yves kämpfen und Südlibyen stabilisieren, um die Bedro- Le Drian« [wie Fn. 5]; Frédéric Bobin/Marc Semo, »Libye: La hungen für verbündete Staaten wie Tschad und France critiquée pour son rôle ambigu dans la crise actuelle«, und für das dort operierende französische Militär zu in: Le Monde, 12.4.2019; Ulf Laessing/John Irish, »Libya Offensive Stalls, but Haftar Digs in Given Foreign Sympa- thies«, Reuters, 15.4.2019. 8 Frédéric Bobin/Marc Semo, »Libye: La France organise un 7 Gespräche des Autors mit amerikanischen Diplomaten, nouveau sommet de ›sortie de crise‹«, in: Le Monde, 28.5.2018. Tunis und Berlin, März 2019; David D. Kirkpatrick, »The 9 Eric Schmitt/Declan Walsh, »U. S. Missiles Found in Libyan White House Blessed a War in Libya, but Russia Won It«, Rebel Camp Were First Sold to France«, in: New York Times, in: New York Times, 14.4.2020. 9.7.2019.

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verringern.10 Doch dieses Erklärungsmuster überzeugt Entscheidend dafür, dass auch Macron Haftar weiter nicht. Stattdessen scheinen Kalküle zu überwiegen, unterstützte, obwohl der »Islamische Staat« (IS) bereits die mit der Stabilisierung Libyens wenig zu tun haben. 2017 sein gesamtes Territorium in Libyen verloren hatte, dürfte indes die enge Allianz Frankreichs mit Frankreichs enge Allianz mit den VAE den VAE und Ägypten gewesen sein. Diese hatte sich dürfte entscheidend dafür schon aus der intensiven Militärkooperation und der gewesen sein, dass Macron Haftar Existenz einer französischen Marinebasis in den VAE unterstützte. ergeben und wurde zwischen 2014 und 2017 durch lukrative Rüstungsgeschäfte Frankreichs mit beiden Sofern es um Terrorbekämpfung geht, handelt es Ländern zementiert.13 Auch für die emiratischen sich dabei um ein Motiv französischer Libyenpolitik, Losungen »religiöse Toleranz« und »Feindschaft gegen- das Le Drians Kooperation mit Haftar während der über dem politischen Islam« fanden sich in Élysée Präsidentschaft Hollandes geprägt hat und unter und Quai d’Orsay durchaus Anhänger, die freilich Macron vor allem als Pfadabhängigkeit nachwirkt. über Haftars Förderung salafistischer Strömungen Die verheerenden Terroranschläge von 2015 in Frank- und die Radikalisierung durch seine Kriege hinweg- reich führten dazu, dass Paris sich weitaus stärker sahen.14 Die französische Diplomatie arbeitete mit als zuvor auf Terrorbekämpfung im Ausland verlegte, den VAE in Libyen aufs engste zusammen – zu- vorzugsweise in Syrien, im Irak, in Mali und in Libyen. nächst bei dem Versuch, Haftar durch eine Verhand- Dabei schien zweitrangig, ob eine direkte Verbindung lungslösung zu ermächtigen, und ab April 2019 zwischen jihadistischen Gruppen vor Ort und der dabei, jeden westlichen Druck auf den Warlord und Bedrohung in Frankreich selbst bestand und ob das seine ausländischen Unterstützer zu unterbinden, so französische Vorgehen geeignet war, die Aktionen dass dieser seinen Krieg in Tripolis ungehindert fort- dieser Gruppen einzudämmen. Wichtig war in den führen konnte.15 Um Haftar zum Sieg zu verhelfen, Worten eines französischen Diplomaten vor allem, heuerten Frankreichs emiratische Verbündete sogar dass man mit der sichtbaren Unterstützung für ver- russische Söldner an, woraus eine ständige russische meintliche Terrorbekämpfer wie Haftar dafür sorgte, Präsenz in Libyen entstand.16 Nachdem die türkische rechtspopulistischen Kräften keine innenpolitische Intervention dieses Kalkül durchkreuzt hatte, pran- Angriffsfläche zu bieten.11 gerte Macron unermüdlich die Rolle der Türkei an, Tatsächlich konnte der französischen Regierung erwähnte die VAE aber mit keinem Wort.17 kaum verborgen bleiben, dass Haftar mit seinen bru- talen Methoden nicht nur Jihadisten, sondern eine 13 Ministère des Armées, Rapport au Parlement sur les expor- wesentlich größere Bandbreite von Gegnern bekämpfte, tations d’armement de la France 2019, Paris, Juni 2019; auf diese Weise den Nährboden für weitere Radikali- Eva Thiébaud, »Une entente indigne entre la France et les sierung schuf, die Terrorbekämpfung als Deckmantel Émirats arabes unis«, in: Orient XXI (online), 10.9.2020, für seine autokratischen Ambitionen nutzte und . Auftrieb gab. Auch nach dem Beginn des Krieges um 14 Gespräche des Autors mit europäischen Diplomaten, 2019–2020; siehe auch Arianna Poletti/Thomas Hamamdjian, Tripolis betonte Außenminister Le Drian weiter, in »France-Émirats: Les noces guerrières d’Emmanuel Macron et der Kooperation mit Haftar sei es einzig um Terror- MBZ [Mohammed Bin Zayed]«, in: Jeune Afrique, 18.8.2020; bekämpfung gegangen, um Frankreich zu schützen.12 Cinzia Bianco, »La France devrait élargir sa stratégie au Plausibel war diese offizielle Linie jedoch nie. Moyen-Orient«, in: La Croix, 15.10.2020. 15 Gespräche des Autors mit europäischen und US-Diplo- maten, Juni–Dezember 2019; Baczynska/Guarascio, »France 10 Stopping the War for Tripoli, Brüssel: International Crisis Blocks EU Call to Stop Haftar’s Offensive in Libya« [wie Group, 23.5.2019 (Briefing Nr. 69); Andrew Lebovich/ Fn. 6]; Laessing/Irish, »Libya Offensive Stalls, but Haftar Digs Tarek Megerisi, France’s Strongman Strategy in the Sahel, Euro- in Given Foreign Sympathies« [wie Fn. 6]. pean Council on Foreign Relations, 8.3.2019, . Mercenaries«, in: The Intercept (online), 2.12.2020, . Paris, Juli 2019. 17 »Libye: Macron accuse Erdogan de violation ›gravissime‹ 12 Lasserre, »Jean-Yves Le Drian« [wie Fn. 5]. des engagements de Berlin«, Reuters, 29.1.2020; »Emmanuel

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18 Macron als Spoiler in Libyen

Sollte es Macron und Le Drian um Stabilisierung regierung abverlangten Zugeständnisse lenkte, die gegangen sein, als sie Haftar unterstützten, hieße zur Vorbedingung eines Waffenstillstands wurden.19 dies, dass die französische Politik auf gravierenden Haftars ausländische Unterstützer sahen sich zu Fehleinschätzungen beruhte. Mit Haftars Expansion diesem Zeitpunkt nämlich militärisch im Vorteil und im Süden verbesserte sich die Sicherheitslage in der verspürten keine Eile, den Krieg zu beenden. Infolge- Region keineswegs. Vereinzelt eskalierten sogar Kon- dessen verfehlte die Berliner Libyen-Konferenz ihr flikte, die weiterhin ungelöst sind. Vor allem aber Ziel, ausländischer Einmischung Einhalt zu gebieten. war schon vor dem Krieg in Tripolis absehbar, dass Die Konsequenz war die massive Ausweitung türki- Haftars Versuch, gewaltsam die Macht zu überneh- scher, emiratischer und russischer Interventionen men, eine massive Destabilisierung zur Folge hätte.18 sowie ein dramatischer und wahrscheinlich bleiben- Zudem wäre auch ein Erfolg des alternden Milizen- der Einflussverlust Europas. Auch wenn europäische führers mit der Ungewissheit verbunden gewesen, ob Diplomaten sich bemühen, Optimismus hinsichtlich die von ihm geschaffene Machtstruktur seinen Tod des von den VN geleiteten Friedensprozesses zu ver- überdauern könnte. Auch das ist ein Indiz dafür, dass breiten: Dass es im Oktober 2020 zu einem Waffen- sich Macrons Libyenpolitik in erster Linie aus der stillstand und im Februar 2021 zur Bildung einer engen Allianz mit den VAE ergab, die von der Destabi- neuen Einheitsregierung kam, ist letztendlich auf das lisierung Libyens nicht betroffen waren. Dem euro- russisch-türkische Kräftegleichgewicht zurückzu- päischen Interesse, die Konflikte einzudämmen, ent- führen. Die VAE, die Türkei, Russland und Ägypten sprach diese Politik jedenfalls nicht. bewahren trotz dieser Fortschritte ihren Einfluss in Libyen. Auch nach der Bildung einer Einheitsregie- rung misstrauen sich die libyschen Konfliktparteien Konsequenzen weiterhin stark, so dass sie kaum auf den Abzug ihrer ausländischen Unterstützer hinarbeiten dürften. Ein erstes offensichtliches Opfer deutsch-französi- Und schließlich besteht eine direkte Verbindung scher Divergenzen war die Führungsrolle der VN in zwischen der französischen Parteinahme in Libyen und der Konfliktlösung. Während Deutschland sich weit- dem Eingreifen Frankreichs im östlichen Mittelmeer, gehend darauf beschränkte, die VN-Vermittler zu wo Macron die Spannungen zwischen der Türkei unterstützen, hebelte Macron deren Rolle mit seinen und Griechenland befeuerte.20 Die Türkei hatte den unilateralen Initiativen 2017 und 2018 aus. Das wurde Libyenkonflikt im November 2019 mit dem Streit in Berlin durchaus als störend wahrgenommen. Doch über die Seegrenzen im Mittelmeer verknüpft, indem es fehlte am hochrangigen Interesse an der Libyen- sie ein Seerechtsabkommen mit der Regierung in Problematik, das nötig gewesen wäre, um auf Macron Tripolis geschlossen hatte. Frankreich und die VAE einzuwirken. Haftars Angriff auf Tripolis, von Frank- nutzten diese Gelegenheit, um Griechenland und reich zumindest stillschweigend hingenommen, Zypern als neue Verbündete für Haftar zu gewinnen.21 machte schließlich sämtliche Bemühungen des VN- Die türkische Intervention, die den Krieg in Tripolis Sondergesandten Ghassan Salamé zunichte. Dieser beendete, löste wiederholte verbale Angriffe Macrons hatte von langer Hand eine »Nationale Konferenz« aus, in denen er die Türkei als Unruhestifter geißelte vorbereitet, die den Boden für eine Verhandlungs- lösung bereiten sollte und für Mitte April 2019 geplant 19 Gespräche des Autors mit europäischen und VN-Diplo- war – doch wegen Haftars Offensive nie stattfand. maten, August 2019–Januar 2020. Während des Berliner Prozesses im Herbst 2019 20 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zu Frankreichs führte Frankreich das Lager an, das den Blick von der Türkeipolitik, S. 44ff. Umsetzung des Waffenembargos auf die der Einheits- 21 Joint Declaration Adopted by the Ministers of Foreign Affairs of Cyprus, Egypt, France, Greece and the , Athen: Hellenic Ministry of Foreign Affairs, 11.5.2020, ; Paul Iddon, »UAE Dispatches Fighter Jets to 18 Wolfram Lacher, Libya’s Conflicts Enter a Dangerous New Support Its Allies against Turkey«, Forbes (online), 26.8.2020, Phase, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Februar .

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19 Wolfram Lacher

und die von ihr in Libyen stationierten syrischen in der Rüstungsindustrie fußt. Das Resultat war eine Söldner fälschlich als »Jihadisten« und »Terroristen« unilaterale Politik, die sich an die Interessen autori- bezeichnete.22 Seither konzentriert sich die franzö- tärer Regime im Nahen und Mittleren Osten anlehnte, sische Regierung darauf, die Verstöße der Türkei aber dem europäischen Interesse an einer Stabilisie- gegen das Waffenembargo anzuprangern, während rung der südlichen Nachbarschaft entgegenstand. In sie jene anderer Staaten weitgehend ignoriert. Diese Berlin irritierte diese Politik zwar, blieb aber weit- Handlungsweise trug offenbar auch zu dem Vorfall gehend ohne offenen Widerspruch. bei, der sich im Juni 2020 zwischen einem türkischen und einem französischen Kriegsschiff vor der Küste Libyens abspielte und seither die Beziehungen inner- halb der Nato belastet.23 Damit hat die französische Libyenpolitik ebenso wie die türkische für mehr Streit in der Nato gesorgt, was wiederum Russland in die Hände spielt.

Schlussfolgerungen

Die zwei prägenden Aspekte der französischen Libyen- politik in der Amtszeit Präsident Macrons verraten zum einen ein Stilmerkmal der Macron’schen Diplo- matie, zum anderen eine neue strukturelle Facette französischer Außenpolitik in der südlichen Nachbar- schaft. Häufiger als sein Vorgänger ist Macron auf internationaler Ebene mit impulsiven, unilateralen, aber oft erfolglosen Initiativen aufgefallen, nicht nur in Libyen.24 Die Unterstützung für Haftar dagegen ergab sich vor allem aus dem immer engeren franzö- sischen Bündnis mit den VAE, das auf gemeinsamen Interessen besonders im militärischen Bereich und

22 Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron, Schloss Meseberg, 29.6.2020; Elisabeth Tsurkov, »The Syrian Mercenaries Fighting Foreign Wars for Russia and Turkey«, in: The New York Review (online), 16.10.2020, ; »De la Libye au Haut-Karabakh: Macron et le mythe du mercenaire djihadiste syrien«, in: Syrie Factuel (online), 12.10.2020, . 23 Nicolas Gros-Verheyde, »Retour sur l’incident naval turco-français. Volonté de provoquer ou d’assurer le respect de la loi?«, Bruxelles 2 (Blog), 9.7.2020, . 24 Christophe Ayad, »Macron: Les limites d’une diplomatie à usage interne«, in: Le Monde, 10.11.2020; Bruno Tertrais, »The Making of Macron’s Worldview«, in: World Politics Review (online), 19.1.2021, .

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20 Die GSVP – ein Instrument, kein Grundpfeiler

Ronja Kempin Die GSVP – ein Instrument, kein Grund- pfeiler französischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Innerhalb der EU wie auch in ihrem geopolitischen bringen.3 Auch unter Präsident Emmanuel Macron Umfeld ist es während des letzten Jahrzehnts zu ein- hatte die bilaterale Zusammenarbeit im Rahmen schneidenden Veränderungen gekommen. Vor diesem dieses Formats zunächst gut begonnen. Am 13. Juli Hintergrund haben Mitgliedstaaten und Europäische 2017 vereinbarte der Deutsch-Französische Vertei- Kommission seit November 2016 diverse Initiativen digungs- und Sicherheitsrat (DFVSR)4 mit Macron und ergriffen, die darauf zielen, der EU in sicherheits- und Kanzlerin an der Spitze, der GSVP verteidigungspolitischen Fragen ein höheres Maß an weiteren Schwung zu verleihen. Beide Seiten kamen strategischer Autonomie zu verschaffen. So wurde überein, dass die EU »auch im Bereich der Sicherheit die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) und Verteidigung ein echter globaler Akteur« werden aktiviert. Mit der Koordinierten Jährlichen Überprü- solle. Befördern wollte man diesen Prozess durch fung der Verteidigung (CARD) wurde ein systema- Beschaffung ambitionierter militärischer Fähigkeiten tischer Austausch zwischen den Mitgliedstaaten zu sowie durch die PESCO. Wie Deutschland und Frank- ihren Verteidigungsplänen institutionalisiert. Der reich festhielten, biete Letztere den »EU-Mitglied- Europäische Verteidigungsfonds (EVF) will Kooperati- staaten den politischen Rahmen, um durch koordi- onen beim Erwerb militärischer (Kern-)Fähigkeiten nierte Initiativen und konkrete Vorhaben ihre Solida- finanziell unterstützen.1 Um der Gemeinsamen rität und Zusammenarbeit sowie ihre jeweiligen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) militärischen Instrumente und Verteidigungsfähig- eine einheitliche strategische Richtung zu geben, keiten zu verbessern; dies wird helfen, die Ziele erarbeiten Brüssel und die Mitgliedstaaten seit Som- der EU zu erfüllen«.5 mer 2020 einen »Strategischen Kompass«.2 Frankreich und Deutschland haben maßgeblichen Anteil an diesen Entwicklungen. Ihre verschiedenen strategischen Kulturen und ihr unterschiedliches 3 Beispiele sind das Konzept der EU-Battlegroups oder das Verhältnis zur Nato standen Paris und Berlin selten eines eigenständigen operativen Hauptquartiers. Die 1989 in Dienst gestellte Deutsch-Französische Brigade gilt als weg- im Weg, wenn es darum ging, die GSVP voranzu- weisend für die Streitkräfte-Integration in Europa; Airbus (ehemals EADS) nimmt diese Stellung im Bereich der Rüs- 1 Vgl. dazu Rosa Beckmann/Ronja Kempin, EU-Verteidigungs- tungskooperation ein. politik braucht Strategie. Eine politische Auseinandersetzung mit den 4 Der DFVSR wurde 1988 im Rahmen eines Zusatz- Reformzielen der GSVP wagen!, Berlin: Stiftung Wissenschaft protokolls zum Élysée-Vertrag gegründet. Der Rat wird von und Politik, August 2017 (SWP-Aktuell 60/2017), (Zugriff am 12.1.2021). minister beider Länder sowie der Generalinspekteur der 2 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Bundeswehr und der französische Generalstabschef an. Kleine Anfrage der Abgeordneten Armin-Paulus Hampel, Dr. Roland 5 Deutsch-Französischer Ministerrat/Deutsch-Französischer Hartwig, Petr Bystron, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Verteidigungs- und Sicherheitsrat, Schlussfolgerungen, Paris, AfD. Zum geplanten Strategischen Kompass der Europäischen Union, 13.7.2017, (Zugriff 17-07-13-abschlusserklaerung-d-f-ministerrat-data.pdf? am 12.1.2021). download=1> (Zugriff am 9.11.2020).

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21 Ronja Kempin

Nach den Bestimmungen von Artikel 46 des Lissa- Ohne gemeinsame strategische Kultur könne Europa bonner Vertrags steht die PESCO allen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Verteidigung nicht selbstständig offen. Strittig waren zunächst aber die Kriterien, die handlungsfähig werden. dafür zu erfüllen sind, denn der Vertragstext ist hier Die Konturen der Interventionsinitiative blieben vage formuliert. Daher erarbeitete der Deutsch-Fran- zunächst unscharf. Als sich herausstellte, dass die EI2 zösische Verteidigungs- und Sicherheitsrat im Juli außerhalb der EU-Strukturen angelegt sein sollte, 2017 einen entsprechenden Katalog bindender Ver- versuchte Berlin, das Projekt in dieser Form zu ver- pflichtungen; er wurde wenig später von den EU- hindern. Die Initiative untergrabe die GSVP und Mitgliedstaaten übernommen und gilt seither als müsse entsprechend in den EU-Rahmen überführt Grundlage für die Teilnahme an der PESCO.6 werden.8 Paris wiederum kritisierte, dass Deutschland eine inklusive PESCO anstrebte und dort möglichst alle EU-Mitgliedstaaten einbinden wollte. Die franzö- Inklusiv versus ambitioniert – sische Seite verwies immer wieder auf den Wortlaut der deutsch-französische Kompromiss des Vertrags von Lissabon. Danach steht die PESCO zerbricht jenen Mitgliedstaaten offen, »die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten Schnell jedoch sollte sich zeigen, dass das deutsch- erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchs- französische Einvernehmen auf tönernen Füßen ten Anforderungen untereinander weitergehende stand. Zwei Monate nach der Gipfelzusammenkunft Verpflichtungen eingegangen sind«. Am 11. Dezem- präsentierte Macron in seiner Europa-Rede an der ber 2017 setzte sich jedoch die offenere Interpretation Universität Sorbonne eine Europäische Interventions- der Bundesregierung durch. 25 der damals 28 EU- initiative (EI2). Ihr Ziel sei die Entwicklung einer Staaten erklärten zu dem Zeitpunkt ihre Teilnahme an gemeinsamen Strategiekultur, so der Präsident. Zwar der PESCO.9 Frankreich reagierte darauf, indem es gestand er zu, dass in der GSVP »Fortschritte von his- sich nur mäßig an dem Format beteiligte. Am 6. März torischem Ausmaß erzielt worden« seien. Doch zu- 2018 verabschiedete der Rat 17 PESCO-Projekte; bei gleich forderte er: »Wir müssen noch weiter gehen.«7 gerade einmal acht davon war Frankreich mit von der Partie.10

6 Die an der PESCO teilnehmenden Staaten – 25 der 27 Der Konflikt zwischen Berlin und Paris, mit wel- EU-Mitglieder – einigten sich auf 20 verbindliche Verpflich- chem Modell sich die europäische Verteidigungs- tungen. Dazu gehören etwa die regelmäßige Erhöhung ihrer politik am besten voranbringen lasse, konnte erst Verteidigungshaushalte und die mittelfristige Steigerung einige Monate später entschärft werden. Beim Treffen der Investitionsausgaben für Verteidigungsgüter auf 20 Pro- des Deutsch-Französischen Ministerrates auf Schloss zent. In die Forschung sollen 2 Prozent der Verteidigungs- Meseberg im Juni 2018 unterstrichen beide Seiten, budgets investiert werden. Um ihre Verteidigungsfähigkeiten »wie wichtig es ist, die Herausbildung einer gemein- dauerhaft weiterzuentwickeln, sollen die Mitgliedstaaten an Rüstungskooperationsprogrammen der Europäischen Ver- teidigungsagentur (EDA) teilnehmen. Verbessert werden soll 8 Sophia Besch/Jana Puglierin, »Alle Mann an Deck!«, in: die gemeinsame Nutzung bestehender Fähigkeiten; die Inter- Internationale Politik, März/April 2019, S. 46–51. operabilität der EU-Battlegroups soll erhöht werden. Die 9 »Beschluss (GASP) 2017/2315 des Rates vom 11. Dezember Mitgliedstaaten müssen in der Lage sein, innerhalb eines 2017 über die Begründung der Ständigen Strukturierten Monats militärische Einheiten samt Ausrüstung für bis Zusammenarbeit (PESCO) und über die Liste der daran teil- zu dreimonatige multinationale Einsätze zu stellen. In Natio- nehmenden Mitgliedstaaten«, in: Amtsblatt der Europäischen nalen Implementierungsplänen (NIP) sollen die PESCO-Mit- Union, (14.12.2017) L 331/77, der Umsetzung der 20 Verpflichtungen erzielen. Vgl. hierzu (Zugriff am 13.1.2021). Bundesministerium der Verteidigung, »PESCO«, (Zugriff am 22.3.2021). die Mitgliedstaaten 47 Projekte um. Frankreich beteiligt sich 7 Französische Botschaft, »Rede von Staatspräsident an 30 davon, 10 leitet es. Die Liste aller PESCO-Projekte Macron an der Sorbonne – Initiative für Europa. Paris, findet sich hier: European Council, Permanent Structured den 26. September 2017«, in: Frankreich-Info, 2017, S. 4f, Cooperation (PESCO)’s Projects – Overview, europe_integral_cle4e8d46.pdf> (Zugriff am 9.11.2020). (Zugriff am 3.12.2020).

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22 Die GSVP – ein Instrument, kein Grundpfeiler

samen strategischen Kultur durch die Europäische Deutschland einen gewissen Widerhall.13 Erst im Ok- Interventionsinitiative weiterzuentwickeln, die so eng tober 2020 kam es unter deutscher EU-Ratspräsident- wie möglich mit der Ständigen Strukturierten Zusam- schaft zu dem Kompromiss, dass für jedes PESCO-Pro- menarbeit verknüpft wird«.11 Sechs Tage später wurde jekt eigene Regeln der Zusammenarbeit formuliert die Absichtserklärung für die EI2 unterzeichnet.12 werden.14 Frankreich verstärkte daraufhin sein Engagement in der PESCO. Berlin reagierte sehr verhalten auf Macrons Appell, die Beistandsklausel des Lissabonner Reibungspunkte bei der Umsetzung Vertrags aufzuwerten. der GSVP-Reformagenda Bereits Ende Mai 2020 ließ sich der Konflikt zwi- Auch in den übrigen Schlüsseldossiers der GSVP ver- schen Frankreich und Deutschland um eine Reform folgten und verfolgen Deutschland und Frankreich von Artikel 42,7 des Lissabonner Vertrags zumindest meist unterschiedliche Ziele. Das betrifft etwa die vorläufig entschärfen. Dort ist für die Staaten der EU Umsetzung der Reformagenda für die GSVP, die 2016 eine Beistandsklausel festgeschrieben, die im Fall von den EU-Außenministern beschlossen wurde. Hier eines bewaffneten Angriffs greifen soll.15 Der deutsch- stellte sich Paris lange gegen eine Teilnahme von französische Dissens entstand, nachdem Präsident Drittstaaten an der PESCO sowie an Rüstungsprojek- Macron im August 2018 »Maßnahmen zur Stärkung ten, die vom Europäischen Verteidigungsfonds finan- der europäischen Solidarität in Sachen Sicherheit« ziell gefördert werden. Frankreich fürchtete insbeson- vorgeschlagen hatte. In einer Rede führte er aus: dere, dass die USA über eine Beteiligung an PESCO- und EVF-Vorhaben die Entwicklung der GSVP beein- »Dem Artikel 42, Absatz 7 des Vertrags über die flussen würden. Damit könnte sich Washington, so Europäische Union, auf den Frankreich sich nach die Sorge, dem französischen Bestreben entgegen- den Terroranschlägen 2015 zum ersten Mal berief, stellen, die rüstungspolitische Abhängigkeit der EU- müssen wir in der Tat mehr Substanz verleihen. Staaten von Amerika zu verringern. Berlin stand Frankreich ist bereit, in eine konkrete Debatte einer Beteiligung Großbritanniens wie der USA indes unter europäischen Staaten über die Natur der aufgeschlossen gegenüber. Die Kritik der Trump- gegenseitigen Solidaritäts- und Verteidigungsbezie- Administration, wonach PESCO und EVF protektio- hungen einzutreten, die unsere Verpflichtungen nistische Maßnahmen darstellten und überdies ent- vertragsgemäß mit sich bringen. Europa kann sprechende Nato-Strukturen duplizierten, fand in seine Sicherheit nicht mehr allein den Vereinigten Staaten überlassen. Es liegt heute an uns, unsere Verantwortung zu übernehmen und die Sicherheit, 11 Die Bundesregierung, »Erklärung von Meseberg. Das Versprechen Europas für Sicherheit und Wohlstand erneu- ern«, Pressemitteilung 214, 19.6.2018, (Zugriff am 10.11.2020). Center, 4.12.2020 (Policy Brief), S. 2,

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und damit die Souveränität Europas, zu garan- Zweierlei Vorstellung von der GSVP tieren.«16 Die Liste der deutsch-französischen Reibungspunkte Berlin reagierte ausgesprochen verhalten auf ließe sich beliebig verlängern. Zur Debatte steht etwa, Macrons Appell, die Beistandsklausel substantiell auf- ob der Fähigkeitsentwicklungsplan (Capability Devel- zuwerten. Auf deutscher Seite befürchtet man, die opment Plan, CDP) der Europäischen Verteidigungs- EU könnte so weiter gespalten werden. Insbesondere agentur für die Mitgliedstaaten bindend werden soll. die eng an die USA gebundenen Staaten Mittel- und Uneins ist man sich auch darüber, ob das EU-Krisen- Osteuropas schreckt die Aussicht, Washington durch management durch eigenes Eingreifen ziviler wie die Entwicklung einer separaten EU-Verteidigungs- militärischer Art oder durch Ertüchtigung von Dritt- politik weiter zu entfremden.17 Als Kompromiss staaten weiterentwickelt werden soll. Im Wesent- schlug die Bundesregierung vor, während der deut- lichen haben alle Konflikte zwischen Berlin und Paris schen EU-Ratspräsidentschaft 2020 einen Diskussions- denselben Ursprung: Die beiden Seiten messen der und Beratungsprozess mit allen Mitgliedstaaten ein- GSVP und ihrer Entwicklung eine unterschiedliche zuleiten und einen »Strategischen Kompass« zu er- Bedeutung bei. arbeiten. Berlin und Paris einigten sich schließlich Die Bundesrepublik investiert viel Kapital in multi- darauf, beide Prozesse – Reform von Artikel 42 und laterale Institutionen. Diese gelten ihr als Stützen Erarbeitung des Strategischen Kompasses – voran- der internationalen Ordnung und damit als unersetz- zutreiben.18 bar. Entsprechend zurückhaltend reagiert Berlin auf Dabei schwebt Paris auch weiterhin vor, die Bei- flexiblere, pragmatischere oder ad hoc agierende For- standsklausel derart auszugestalten, dass sie bei mate. Sie bergen nach deutscher Sicht die Gefahr, einem Cyber- oder einem konventionellen Angriff auf bestehende multilaterale Institutionen zu schwächen Staaten wie Finnland oder Schweden angewendet oder zu fragmentieren. Die GSVP sieht Berlin überdies werden kann, die der EU, aber nicht der Nato ange- als Zukunftsprojekt, das geeignet ist, den Zusammen- hören. Während der französischen Ratspräsident- halt der EU-Mitgliedstaaten zu stärken. Demnach ist schaft im Jahr 2022 will Paris daher eine politische wichtig, es möglichst »inklusiv« zu gestalten. »Ver- Erklärung unterzeichnen lassen, in der die EU-Staaten trauensbildende Zwischenschritte« sind für Berlin das festlegen, was sie tun würden, sollte Artikel 42,7 an- beste Mittel, um die EU in die Lage zu versetzen, sich gerufen werden. In dieser Frage sind also nach wie vor nach außen zu schützen.19 Nicht zuletzt weil die Bun- Spannungen zwischen Paris und Berlin zu erwarten. desregierung die GSVP primär als politisches Unter- nehmen versteht, bleiben konkrete Einsatz-Szenarien in der deutschen Debatte eher blass. Allenfalls vage fokussiert man sich auf das Krisenmanagement in der europäischen Nachbarschaft. 16 Französische Botschaft, »Rede von Staatspräsident Paris hingegen betrachtete die GSVP immer nur als Emmanuel Macron zum Auftakt der Konferenz der Botschaf- einen Handlungsrahmen seiner auf drei Säulen grün- ter und Botschafterinnen, Auszüge, Paris, den 27. August denden Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die 2018«, Berlin, 27.8.2018, S. 2, (Zugriff am 12.12.2020). internationalen Terrorismus auf dem afrikanischen 17 Sophia Besch, Defence without Direction, Brüssel: Centre for European Reform (CER), Ausgabe 129, Dezember 2019/ Kontinent, ebenso in Syrien und dem Irak. Seine Part- Januar 2020 (CER Bulletin), (Zugriff am 12.12.2020). stark in der kollektiven Verteidigung der Nato enga- 18 »›At the Heart of Our European Union‹, Defence Minis- gieren zu müssen. Die GSVP – zweite Säule und für ters Florence Parly, Annegret Kramp-Karrenbauer, Margarita Robles Fernández and Lorenzo Guerini Jointly Signed a Letter for the Attention of Their Counterparts from the Other 19 Ursula von der Leyen, »Die Armee der Europäer nimmt 23 Member States of the European Union as Well as the High bereits Gestalt an«, in: Handelsblatt, 10.1.2019, (Zugriff am 12.12.2020). ubz7h0kdvthOswsdVfDa-ap5> (Zugriff am 10.11.2020).

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24 Die GSVP – ein Instrument, kein Grundpfeiler

Frankreich mit der Achse Berlin–Paris verbunden – entwicklung der GSVP zu modifizieren, sah sich Paris diente dem Land dazu, sein Streben nach sicherheits- gezwungen, neue Verbündete und frisches Geld zu und verteidigungspolitischer Unabhängigkeit von finden, um seine militärischen Einsätze mit modernen den USA voranzutreiben, aber auch dazu, weitere Fähigkeiten fortführen zu können.22 Der Notwendig- Unterstützung für seine Einsätze in Afrika zu bekom- keit, neue Ansätze in der verteidigungspolitischen Ko- men. Die geringe Neigung der EU-Staaten, operativ operation zu erproben, entsprach Frankreich mit seiner tätig zu werden und in strategische Kernfähigkeiten im Oktober 2017 veröffentlichten Revue stratégique de zu investieren, kompensierte Frankreich schließlich défense et de sécurité nationale.23 Das Dokument weist durch eine enge Sicherheitsbeziehung mit Groß- minilateralen Formaten eine besondere Bedeutung zu. britannien – die dritte Säule. Die wehrtechnische Es bildete auch eine Reaktion auf die Wahl Donald Industrie der Insel trug dazu bei, die für Paris so Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 – die wichtige verteidigungstechnologische und -indust- vierte Zäsur binnen weniger Jahre. Der Wechsel im rielle Basis Europas zu erhalten.20 Weißen Haus bewirkte, dass sich die transatlanti- schen Beziehungen verschlechterten und Amerikas Sicherheitsgarantien nicht mehr verlässlich erschienen. Ein verändertes Umfeld – Europa müsse künftig in der Lage sein, sich selbst zu Frankreich unter Zugzwang verteidigen, so die Überzeugung, die sich vor diesem Hintergrund in Paris festigte. Entsprechend stellt die Vier politische bzw. geopolitische Einschnitte haben Revue stratégique klar, dass Frankreich alle GSVP-Ini- Frankreich in den zurückliegenden Jahren jedoch tiativen unterstützt, die die Fähigkeiten der Mitglied- veranlasst, seine Strategie nach und nach anzupassen. staaten stärken, militärisch zu intervenieren. Eine erste Zäsur bestand darin, dass Russland 2014 völkerrechtswidrig die Krim annektierte und sich Noch immer nimmt die GSVP nachfolgend durch Maßnahmen der Desinformation in Frankreich und Deutschland einen in innere Angelegenheiten von EU-Staaten einmischte. unterschiedlichen Stellenwert ein. Die Folge war, dass eine Mehrheit der europäischen Nato-Mitglieder die kollektive Verteidigung zu einem Dessen ungeachtet unterscheiden sich Berlin und Zeitpunkt über das internationale Krisenmanagement Paris nach wie vor im Umgang mit der GSVP. Dies stellte, als Frankreich Unterstützung in seinem Kampf betrifft nicht nur die Aufgaben, die dem Format je- gegen den internationalen Terrorismus benötigt hätte. weils zugeschrieben werden. Auch weiterhin nimmt Seit den Pariser Terroranschlägen von 2015 – zweiter die GSVP in beiden Ländern einen unterschiedlichen Einschnitt – ist dieser Kampf die Kernaufgabe der Stellenwert ein. Deutschland versucht mit viel politi- französischen Streitkräfte. Die entsprechenden Ein- schem Kapital, die GSVP in den bestehenden Struk- sätze im Nahen Osten, in der Sahelzone und im eige- turen graduell weiterzuentwickeln. Dagegen hält es nen Land fordern indes ihren Tribut – die Streit- Frankreich angesichts der amerikanischen Ausrich- kräfte sind überlastet. Kernfähigkeiten stehen immer tung auf den indopazifischen Raum für erforderlich, seltener zur Verfügung, da notwendige Investitionen die Verteidigungspolitik der EU schnell und um- zu deren Anschaffung oder Modernisierung den hohen fassend zu verändern, um damit über einen »Plan B« Kosten der Einsätze zum Opfer fallen. Das Brexit-Refe- gegenüber Nato und USA zu verfügen.24 rendum von 2016 – als dritte Erschütterung – belegte die Sonderbeziehung zu Großbritannien mit Unsicher- 22 Siehe den Beitrag von Claudia Major zur französischen 21 heit und vergrößerte Frankreichs Not. Während Ber- Sicherheits- und Verteidigungspolitik, S. 11ff. lin keinen Druck verspürte, seinen Ansatz zur Weiter- 23 République française, Revue stratégique de défense et de sécurité nationale. 2017, Paris, Oktober 2017, S. 62, (Zugriff am 12.11.2020). the United States, Mai 2018 (Policy Brief Nr. 022), (Zugriff am 11.11.2020). nomy: Two Constants at Play«, in: Dick Zandee/Bob Deen/ 21 Paul Taylor, Crunch Time. France and the Future of European Kimberley Kruijver/Adája Stoetman (Hg.), European Strategic Defence. Report, Brüssel: Friends of Europe, April 2017, Autonomy in Security and Defence. Now the Going Gets Tough, It’s (Zugriff am 13.11.2020). (Clingendael Report), Annex 2, S. 58–62,

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Kompromisszwang als Hindernis wie es der bisherigen GSVP entspricht.27 Zu erwarten ist ein bilateraler Kompromiss, der einmal mehr den Die Folge dieser deutsch-französischen Differenzen Eindruck verstärken dürfte, dass die EU in der Sicher- ist, dass immer wieder mühsam Kompromisse gefun- heits- und Verteidigungspolitik zu greifbaren Ergeb- den werden müssen und wegweisende politische nissen nicht in der Lage ist. Frankreich wird sich dann Initiativen ausbleiben. Auf den Fortgang der PESCO in seinen Absichten bestätigt sehen, die Verteidigungs- etwa nehmen Berlin und Paris kaum mehr gemein- zusammenarbeit außerhalb der EU zu vertiefen. sam Einfluss, seit sie die Auseinandersetzung um deren Ziel und Gestalt im Sommer 2018 formal be- endet haben. Dabei war schon wenige Monate später klar, dass die überwiegende Mehrheit der PESCO- Projekte keinen Beitrag dazu leistet, das 2016 von den Mitgliedstaaten definierte Ambitionsniveau der GSVP zu erfüllen. Am unteren Ende des Leistungsspekt- rums angesiedelt, bestehen die PESCO-Vorhaben hauptsächlich aus dem, was die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene zu entwickeln bereit waren. Die seit Jahren vorhandenen Lücken bei strategischen Kern- fähigkeiten wie Aufklärung oder Lufttransport schlie- ßen die Mitgliedstaaten in ihren PESCO-Projekten nicht.25 Auch die von Frankreich lancierte Euro- päische Interventionsinitiative bleibt bislang hinter den Erwartungen zurück.26 Und der nächste Konflikt zwischen Berlin und Paris zeichnet sich schon ab. Beide Seiten haben keine gemeinsame Vorstellung davon entwickelt, welcher Art, welcher Intensität und wie umfangreich Militär- einsätze sein sollen, die die EU-Mitgliedstaaten zu beschließen haben, damit das militärische Ambitions- niveau der GSVP erreicht wird. Während Frankreich bei der Erarbeitung des Strategischen Kompasses für ein Ambitionsniveau plädieren dürfte, das einer geopolitischen Macht zukommt, wird sich Deutsch- land wohl für ein weniger ehrgeiziges Ziel aussprechen,

clingendael.org/sites/default/files/2020-12/Report_European_ Strategic_Autonomy_December_2020.pdf> (Zugriff am 12.1.2021). 25 Alice Billon-Galland/Yvonni-Stefania Efstathiou, Are PESCO Projects Fit for Purpose?, European Leadership Network/ IISS, Februar 2019 (European Defence Policy Brief), (Zugriff am 12.12.2020). 26 Maike Kahlert/Claudia Major, Frankreichs Europäische Inter- ventionsinitiative (EI2): Fakten, Kritik und Perspektiven – Eine Zwischenbilanz, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2019 (Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Nr. 01), (Zugriff am 21.12.2020). Autonomy in Security and Defence [wie Fn. 24], S. 50.

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26 Fünf Dimensionen der Politik Macrons gegenüber der Eurozone

Paweł Tokarski Eher Fortsetzung als Revolution: Fünf Dimensionen der Politik Macrons gegenüber der Eurozone

Die Währungsintegration und die einheitliche Wäh- Seit jener Zeit forderten die französischen Regierun- rung, der Euro, sind für Frankreich von besonderem gen, die Währungspolitik in Europa enger zu koordi- politischem und wirtschaftlichem Interesse. In der nieren und eine gemeinsame Währung zu schaffen. Eurozone unterscheidet sich die französische Politik Sie taten dies aus praktischen Erwägungen heraus, maßgeblich von der deutschen. Paris und Berlin stre- nicht aus grundsätzlichen Überlegungen zur euro- ben verschiedene Grade der fiskalischen Integration päischen Integration: Erstens wirkten sich Wechsel- an und driften bei der Frage auseinander, ob stärkerer kursinstabilitäten negativ auf die Gemeinsame Agrar- wirtschaftlicher Interventionismus auf supranatio- politik der EU aus.1 Zweitens machten spekulative naler Ebene zulässig ist. Außerdem beurteilen sie die Angriffe auf die französische Währung diese anfällig Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) und der und volatil. Um den Wechselkurs zu stabilisieren, Geldpolitik unterschiedlich. Immer wieder löst auch war Frankreich gezwungen, die Zinsen hochzuhalten. das Thema Risikoteilung unter den Mitgliedstaaten Dies hatte jedoch negative Folgen für das Wirtschafts- des Euroraums Spannungen zwischen beiden Län- wachstum, die Staatsverschuldung und die Chancen, dern aus. Schließlich bleiben gewichtige Integrations- neue Arbeitsplätze zu generieren. Drittens sah Frank- impulse des deutsch-französischen Tandems aus, weil reich in der Währungsintegration ein Instrument, sich Paris und Berlin nicht darauf verständigen kön- mit dem es Einfluss auf das Wirken der Deutschen nen, ob die wirtschaftliche Integration im Rahmen Bundesbank nehmen konnte, die vor der Schaffung der EU-19 oder der EU-27 vorangetrieben werden soll. des Euros die Geldpolitik in Europa dominierte.2 In Die Politik des französischen Präsidenten Macron Paris wurde darüber hinaus aber auch erkannt, dass in Sachen Eurozone ist von Pragmatismus und Pfad- die Schaffung einer gemeinsamen Währung ein Mittel abhängigkeit geprägt. Sie orientiert sich an histori- sein konnte, um die wirtschaftliche und politische schen Erfahrungen mit der Währungsintegration, den Macht Deutschlands in Europa einzuhegen.3 spezifischen Herausforderungen des französischen Deutschland hingegen stand der Idee einer gemein- Wirtschaftsmodells, Macrons ständigem Bemühen, samen Währung misstrauisch gegenüber. Es verfolgte »leadership« zu zeigen, geldpolitischen Aspekten und das Ziel, das Modell der stabilen Deutschen Mark und den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. der unabhängigen Bundesbank in den institutionellen Aufbau der europäischen Währung zu überführen.

Frankreich, Deutschland und die histori- sche Dimension der Währungsintegration 1 Valerie Caton, France and the Politics of European Economic and Monetary Union, Basingstoke/New York: Palgrave Macmil- lan, 2015, S. 3–14. Präsident Macron steht mit seiner Haltung gegenüber 2 Christian Bordes/Eric Girardin, »The Achievements of the der Währungsintegration in einer weit zurückrei- ERM [Exchange Rate Mechanism] and the Preconditions for chenden Tradition der Politik seines Landes. Bereits Monetary Union: A French Perspective«, in: Ray Barrell (Hg.), Ende der 1960er Jahre hatte der französische Vize- Economic Convergence and Monetary Union in Europe, London: präsident der Europäischen Kommission, Raymond Sage, 1992, S. 98–120 (115–119). Barre, vorgeschlagen, eine Alternative zum vom 3 Michel R. Gueldry, France and . Toward Dollar dominierten Bretton-Woods-System aufzubauen. a Transnational Polity?, Westport, Conn.: Praeger, 2001, S. 124.

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27 Paweł Tokarski

Zudem bestand es auf einer ausreichenden Konver- Das enorme Engagement des Staates in der Wirt- genz der teilnehmenden Volkswirtschaften. schaft ist ebenfalls ein Problem. Mit einem Anteil von Diese ist indes bis heute nicht erreicht worden. 55,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) waren Infolge des unvollendeten Aufbaus der Wirtschafts- Frankreichs öffentliche Ausgaben im Jahr 2018 die und Währungsunion (WWU), des Fehlens ehrgeiziger prozentual höchsten unter den Ländern der Organisa- Strukturreformen auf nationaler Ebene und einer tion for Economic Co-operation and Development Serie externer Schocks nahmen die wirtschaftlichen (OECD).5 Der überdimensionierte öffentliche Sektor und sozialen Divergenzen zu. Diese erzeugen politi- des Landes ist einer der Hauptgründe für die chro- sche Spannungen innerhalb der Eurozone – auch nischen Haushaltsdefizite, für Konflikte mit der Euro- zwischen Paris und Berlin – und lassen die Möglich- päischen Kommission bezüglich der Ausgabenpläne keit einer nachhaltigen Stabilisierung der Währungs- und für Kritik aus Deutschland. Die französische Staats- union in noch weitere Ferne rücken. Ihre unterschied- verschuldung wird infolge der Pandemie wahrschein- lichen Prioritäten machen es Deutschland und Frank- lich von 98 Prozent im Jahr 2019 auf rund 120 Pro- reich schwer, sich über die weitere Richtung der Euro- zent des BIP im Jahr 2022 anwachsen.6 Hinzu kommt zone zu verständigen. Paris hat im Hinblick auf die die relativ höchste Verschuldung des privaten Sektors Bedrohungen der Inflation und den Einfluss supra- in der Eurozone (150 % des BIP im zweiten Quartal nationaler Institutionen auf die Wirtschaftspolitik 2020).7 Frankreichs Steuereinnahmen im Verhältnis andere Erfahrungen gemacht als Berlin und ein ande- zum BIP sind die zweithöchsten der OECD-Länder nach res Verhältnis zur Geldpolitik. Allerdings sind sich Dänemark und belaufen sich auf 45,4 Prozent des BIP beide bewusst, dass die monetäre Integration un- (2019). Dieser Wert liegt erheblich über dem Durch- umkehrbar ist. schnitt der OECD von 33,8 Prozent und ist auch deut- lich höher als der für Deutschland (38,8 %).8 Die fran- zösische Regierung hat somit wenig Raum für eine Herausforderungen des französischen weitere Besteuerung der Wirtschaft, überdies fehlt die Wirtschaftsmodells öffentliche Akzeptanz für weitere Steuererhöhungen. Seit seinem Amtsantritt im Mai 2017 hat Präsident Ein wichtiger Faktor zur Erklärung der deutsch-fran- Macron eine Vielzahl an Strukturreformen angestoßen zösischen politischen Differenzen in der Eurozone und durchgeführt – in weiten Teilen gegen den Wider- sind die unterschiedlichen Wirtschaftsmodelle beider stand der eigenen Bevölkerung. Gleichwohl ist es mit Länder. Das französische geht in fast allen Hinsichten keiner dieser Reformen gelungen, die Schwierigkeiten entschieden andere Wege als das deutsche, ganz des französischen Wirtschaftsmodells zu überwinden. gleich, ob es um die Rolle des Staates in der Wirtschaft Insbesondere im Bereich der öffentlichen Finanzen geht, um das ökonomische Denken, die Wirtschafts- ist der Mangel an substantiellen Ergebnissen offen- strukturen oder die Effizienz der Arbeitsmarktinstitu- sichtlich. Auch wenn die EZB die Kosten für den tionen.4 Das französische Wirtschaftsmodell ist seit Schuldendienst deutlich gesenkt hat, sind die Pers- mehreren Jahrzehnten mit zahlreichen Herausforde- pektiven für die zukünftige Entwicklung der Staats- rungen konfrontiert, als da sind eine schwache inter- verschuldung in Frankreich noch immer besorgnis- nationale Wettbewerbsfähigkeit, bürokratische Belas-

tungen, hohe Steuern, wachsende Staatsverschuldung 5 Organisation for Economic Co-operation and Develop- und strukturelle Arbeitslosigkeit. ment (OECD), General Government Spending, (Zugriff am 7.12.2020). 4 Markus K. Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre 6 European Commission, European Economic Forecast. Autumn Landau, The Euro and the Battle of Ideas, Princeton/Oxford: 2020, Luxemburg, November 2020 (Institutional Paper 136), Princeton University Press, 2016; Guillaume Cléaud et al., S. 97. Cruising at Different Speeds: Similarities and Divergences between the 7 Banque de France, Debt Ratios by Institutional Sectors – Inter- German and the French Economies, Luxemburg: Publications national Comparisons, 2020Q2, 19.11.2020, und Italien im Euroraum. Ursprünge, Merkmale und Folgen der (Zugriff am 14.2.2021). begrenzten Konvergenz, Berlin: Stiftung Wissenschaft und 8 OECD, Tax Revenue, (Zugriff am 7.12.2020).

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28 Fünf Dimensionen der Politik Macrons gegenüber der Eurozone

erregend.9 Diese Herausforderungen und die daraus gigkeit der EZB bei der Festlegung und Durchführung resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Prob- ihrer Geldpolitik einzuschränken.12 leme wirken sich mittlerweile negativ auf Frankreichs Macron nahm diese Elemente 2017 in seine Sor- politische Position in Europa und das Gleichgewicht bonne-Rede auf, in der er Pragmatismus verbindet in den Beziehungen zu Deutschland aus. Aufgrund mit dem Versuch, Deutschland dazu zu bringen, auf des begrenzten politischen Spielraums für einen wirk- die Forderungen aus Paris zu reagieren.13 Einerseits lichen Strukturwandel im Inneren knüpft Frankreich strich Macron die Bedeutung von Strukturreformen in an die Reform der Eurozone die Erwartung, seine Frankreich heraus und betonte die Verantwortung der Haushaltspolitik flexibler gestalten zu können, und Mitgliedstaaten für ihre Schulden, was den deutschen insgesamt die Hoffnung auf eine Weichenstellung Erwartungen entsprach; er verzichtete auch auf die hin zu mehr Wirtschaftsinterventionismus in der EU übliche Kritik an den deutschen Exportüberschüssen.14 und im Euroraum. Diese Erwartungen widersprechen Andererseits erwähnte er die »roten Linien«, vor denen der traditionellen Haltung Deutschlands, das Wert Deutschland regelmäßig warnte und die zum Schlag- auf die Verbindlichkeit von Fiskalregeln in der Wäh- wort für die mangelnde Bereitschaft Deutschlands rungsunion legt und die Notwendigkeit nationaler geworden waren, Risiken innerhalb des Währungs- Strukturreformen betont. gebiets zu teilen.15 Das Herausstellen der Strukturreformen im Innern war auch ein Versuch, die Glaubwürdigkeit der fran- Macron, Berlin und der Euro: zösischen Wirtschaftspolitik in den Augen Berlins Suche nach der Führungsrolle wiederherzustellen, und ein Argument, um es Deutsch- land zu erleichtern, Zugeständnisse im Hinblick auf In Macrons Vorschlägen zur Erneuerung der Euro- eine tiefere Integration der Eurozone zu machen.16 päischen Union spielt die Eurozone eine tragende Ein Jahr später einigten sich Präsident Macron und Rolle.10 Wie seine Vorgänger im Élysée-Palast strebt Bundeskanzlerin Merkel auf die deutsch-französische auch Präsident Macron eine engere fiskalische Integ- Erklärung von Meseberg, die der Reform der Eurozone ration und mehr Risikoteilung innerhalb der Euro- eine neue Dynamik verleihen sollte und für Macron zone an. Elementare Bausteine einer Reform der ein Etappenziel markiert in seinem Bestreben, nicht Eurozone, wie er sie in seinem Buch Révolution vor- nur das politische Ungleichgewicht zwischen Berlin stellt, seien die Schaffung eines gemeinsamen Stabi- und Paris zu verringern, sondern auch die Führungs- lisierungs- und Investitionshaushalts und die Ein- rolle Frankreichs im Tandem mit Deutschland zurück- setzung eines Finanzministers für den Euroraum.11 zugewinnen.17 Die Ideen spiegeln die in Frankreich seit langem propagierte Vorstellung von einem »gouvernement économique« wider. Dieses würde mit mehr wirt- schaftlichem Interventionismus auf EU-Ebene einher- 12 Clement Fontan/Sabine Saurugger, »Between a Rock and gehen, ohne dass die Mitgliedstaaten die Kontrolle a Hard Place: Preference Formation in France during the über die eigene Wirtschaftspolitik aufgeben müssten. Eurozone Crisis«, in: Political Studies Review, 18 (2020) 4, S. 507–524 (508); David J. Howarth, »Making and Breaking Es würde gleichzeitig auch bedeuten, die Unabhän- the Rules: French Policy on EU ›gouvernement économique‹«, in: Journal of European Public Policy, 14 (2007) 7, S. 1061–1078. 13 Ebd. 9 »Covid-19: La France a ›versé beaucoup de fonds publics‹, 14 Michaela Wiegel, Emmanuel Macron: Ein Visionär für mais ›il va falloir revenir aux réalités‹, alerte le président de Europa – eine Herausforderung für Deutschland, Berlin u. a.: la commission sur l’avenir des finances publiques«, france- Europa Verlag, 2018, S. 200. info, 5.12.2020, (Zugriff am 14.2.2021). (BPA), »Erklärung von Meseberg. Das Versprechen Europas 10 Siehe den Beitrag von Claudia Major zur französischen für Sicherheit und Wohlstand erneuern«, Pressemitteilung Sicherheits- und Verteidigungspolitik, S. 11ff. 214, 19.6.2018, (Zugriff am France, Paris: XO Éditions, 2016, S. 235–236. 4.12.2020).

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29 Paweł Tokarski

Frankreich und die EZB: die französische Vision heranzuführen. Lagarde hat Politik trifft Geldpolitik eine Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB angekündigt und initiiert. Im Zuge einer solchen Wie bereits erwähnt war der Wunsch, den eigenen Revision dürfte die Präsidentin die zukünftige Aus- Einfluss auf die Geldpolitik in Europa zu erhöhen richtung der EZB-Geldpolitik wesentlich beeinflussen. und den der Bundesbank zu reduzieren, ein maßgeb- licher Grund für Frankreichs Unterstützung des Währungsintegrationsprojekts. Bevor der Euro aus Covid-19: ein Stresstest für die Eurozone der Taufe gehoben wurde, wurde die Geldpolitik in und für das deutsch-französische Tandem Europa von der Bundesbank dominiert. Damals folg- ten die anderen Zentralbanken, inklusive der Banque Sowohl in Paris als auch in Berlin wurde schnell be- de France, den geldpolitischen Entscheidungen der griffen, dass die Covid-19-Pandemie nicht nur eine deutschen Zentralbank. Natürlich agierte die Bundes- große Bedrohung für einzelne Volkswirtschaften und bank zuallererst im Interesse der deutschen Wirt- die Eurozone ist, sondern vor allem eine enorme poli- schaft. Der französische Franc war chronisch schwach tische Herausforderung. Frankreich regte an, für und die französischen Politiker regelmäßig gezwun- die Eurozone neue Hilfsinstrumente zu entwickeln. gen, Deutschland um Neujustierungen innerhalb des Dazu brachte es eine informelle Koalition aus neun Europäischen Währungssystems zu bitten. Ländern, darunter Italien und Spanien, zusammen, Der Widerstand gegen die Unabhängigkeit der die sich für die gemeinsame Ausgabe von Schuld- Zentralbank ist somit tief in der französischen Politik verschreibungen innerhalb der EU-19 (Corona-Bonds) verwurzelt. Seit Beginn des wirtschaftlichen Ab- zur Bekämpfung der Auswirkungen der Pandemie schwungs im Jahr 2001 wurde die Geldpolitik der EZB einsetzte. Die Forderungen dieser Gruppe wurden von in Frankreich regelmäßig kritisiert.18 Es war eines der Christine Lagarde unterstützt.21 Zusätzlich zu den wichtigsten politischen Ziele der französischen Regie- enormen fiskalischen Anreizen, die die einzelnen rungen, einen starken Einfluss auf die Geldpolitik Mitgliedstaaten setzten, und das von der Eurogruppe der EZB zu haben und die Leitung der obersten Wäh- verabschiedete Hilfspaket schlugen Frankreich und rungsbehörde der EU mit einem französischen Kan- Deutschland am 18. Mai 2020 die Schaffung eines didaten zu besetzen, was zwischen 2003 und 2011 speziellen Finanzhilfeinstruments vor. In dem Be- mit Jean-Claude Trichet auch gelang.19 schluss dazu trug Frankreich den deutschen Beden- Seit Beginn der Eurokrise 2010 hat die EZB eine ken Rechnung und stimmte zu, dass man sich gleich- Schlüsselrolle bei der Stabilisierung des Euroraums zeitig weiterhin »zu solider Wirtschaftspolitik und gespielt, indem sie der wachsenden Staatsverschuldung einer ambitionierten Reformagenda« verpflichte.22 entgegengewirkt hat. Durch die Krise hat die EZB im Die im Anschluss an die deutsch-französische Über- institutionellen Gefüge der EU erheblich an Bedeu- einkunft getroffene Vereinbarung aller EU-Mitglied- tung gewonnen, erfährt aber auch eine stärkere Poli- staaten, eine größtenteils aus Zuschüssen bestehende tisierung.20 Die Berufung von Christine Lagarde zur Aufbau- und Resilienzfazilität einzurichten, die ein neuen EZB-Präsidentin 2019 war einer der größten Volumen von 672,5 Milliarden Euro haben soll, war europapolitischen Erfolge Macrons. In Anbetracht der zweifellos ein Erfolg für Macron, auch wenn das Inst- weitreichenden wirtschaftspolitischen Steuerungsfunk- rument innerhalb des EU-Haushalts verbleibt. Im tion der EZB kann die französische Direktorin Paris Gegensatz zu Deutschland zog es Frankreich vor, die helfen, das Projekt der Währungsintegration näher an weitere fiskalische Integration in einer kleineren Gruppe von Staaten, wie der EU-19, zu verfolgen. 18 Howarth, »Making and Breaking the Rules« [wie Fn. 12], S. 1073–1074. 21 Daniel Dombey/Guy Chazan/Jim Brunsden, »Nine Euro- 19 Es gab eine informelle, bis heute respektierte Vereinba- zone Countries Issue Call for ›Coronabonds‹«, in: Financial rung zwischen Frankreich, Deutschland und Italien, dass Times, 25.3.2020. diese Länder dauerhaft im EZB-Direktorium vertreten sein 22 BPA, »Deutsch-französische Initiative zur wirtschaft- sollten. lichen Erholung Europas nach der Coronakrise«, Presse- 20 Paweł Tokarski, Die Europäische Zentralbank als politischer mitteilung 173, 18.5.2020, (Zugriff am 22.2.2021).

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30 Fünf Dimensionen der Politik Macrons gegenüber der Eurozone

Der französische Arbeitsmarkt dender Bedeutung ist, eine größere Entschlossenheit wird auch im Wahljahr 2022 als seine Vorgänger. Damit will der Präsident die Posi- noch nicht wieder das tion der Augenhöhe Frankreichs in seinen Beziehun- Vorkrisenniveau erreichen. gen zu Deutschland und seinen politischen Einfluss in der EU wiederherstellen.27 Frankreichs Arbeitsmarkt ist von der Pandemie Die Pandemie hat eine neue Dynamik in die wirt- hart getroffen. Daran werden auch die Gelder der schaftliche Integration der EU gebracht und Paris und Aufbau- und Resilienzfazilität voraussichtlich erst Berlin zu einer effektiveren Zusammenarbeit in diesem einmal nicht viel ändern. Optimistische Prognosen Bereich gezwungen. Einerseits wurde ein noch nie halten für Frankreich im Jahr 2021 einen starken dagewesener finanzieller Unterstützungsmechanismus, Aufschwung des BIP-Wachstums (5,8 %) für möglich.23 die Aufbau- und Resilienzfazilität, unter dem Dach Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird herausfor- des EU-Haushalts geschaffen. Dass Deutschland diese dernd bleiben: Bis Ende 2020 wird mehr als jeder Idee unterstützt hat, markiert einen gewissen Para- fünfte Arbeitsmarktteilnehmer Engpässe beim Arbeits- digmenwechsel in seiner Politik. Andererseits werden angebot zu spüren bekommen.24 Auch im Wahljahr die ungleichen Auswirkungen der Gesundheitskrise 2022 wird die Lage auf dem Arbeitsmarkt wahrschein- und die unterschiedliche Geschwindigkeit der Erho- lich nicht wieder das Niveau von vor der Corona-Krise lung die wirtschaftlichen Divergenzen nicht nur inner- erreichen.25 Eine unterschiedliche Entwicklung zwi- halb der EU-19 vertiefen, sondern auch zwischen schen Frankreich und Deutschland wird es darüber Frankreich und Deutschland. hinaus bei der Staatsverschuldung geben. In Frank- Insbesondere der absehbare signifikante Anstieg reich wird diese in Relation zum BIP eine der höchs- der Staatsverschuldung dürfte einen großen Einfluss ten in der EU-19 sein und 2021 bei etwa 117,8 Pro- auf die Richtung der weiteren Integration innerhalb zent relativ zum BIP liegen. In Deutschland wird sie des Euroraums haben. Deshalb ist damit zu rechnen, sich auf 71,1 Prozent im Verhältnis zum BIP belaufen.26 dass Paris nach der Pandemie eine aktive Rolle in der erwarteten Debatte über eine mögliche weitere Risiko- teilung im Bereich der öffentlichen Finanzen und Ausblick: Paris und Berlin in der über Reformen der EU-Fiskalregeln spielen wird. Ob- Post-Covid-19-Eurozone wohl sich die Fiskalregeln der Eurozone immer weiter von der wirtschaftlichen Realität entfernen, wird Emmanuel Macrons Vision von einer Reform der Euro- Deutschland es wohl vorziehen, diese Debatte auf un- zone unterscheidet sich nicht wesentlich von den bestimmte Zeit zu verschieben. Angesichts der Wahlen traditionellen französischen Betrachtungs- und Heran- in Deutschland (2021) und Frankreich (2022) und der gehensweisen. Die wichtigsten deutsch-französischen unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten wird Differenzen bei diesem Thema werden daher bestehen es sehr schwer sein, in diesem Bereich Fortschritte zu bleiben. Macrons Rede an der Sorbonne konnte trotz erzielen. Vor dem Hintergrund der strukturellen der Versuche, sich als Reformer der Eurozone zu prä- Herausforderungen der französischen Wirtschaft und sentieren, kaum das Widerstreben Frankreichs ver- der Krise, die diese wegen der Covid-19-Pandemie hüllen, die Wirtschaftspolitik im Euroraum stärker durchmacht, ist es für Frankreich wichtig, die fiskali- durch supranationale Institutionen kontrollieren zu sche Unterstützung der Wirtschaft aufrechtzuerhal- lassen. Immerhin zeigt Emmanuel Macron im Hinblick ten. Daher wird es entscheidend sein, dass die EZB auf das wirtschaftliche Reformprogramm in Frank- ihre expansive Geldpolitik fortsetzt, damit die Kosten reich, das für die Stabilität der Eurozone von entschei- des öffentlichen Schuldendienstes in der Eurozone niedrig gehalten werden. Mittelfristig ist es sowohl 23 European Commission, European Economic Forecast. für Paris als auch für Berlin die politisch »billigste« Autumn 2020 [wie Fn. 6], S. 97. Option, wenn die EZB ihr umfangreiches Engagement 24 Institut national de la statistique et des études écono- zur Stabilisierung der Eurozone beibehält. miques (INSEE), Au quatrième trimestre 2020, le taux de chômage se replie à nouveau, à 8,0 %, (Zugriff am 5.3.2020). 25 European Commission, European Economic Forecast. Autumn 2020 [wie Fn. 6], S. 97. 26 Ebd., S. 87, 97. 27 Siehe die Einleitung von Ronja Kempin, S. 7ff.

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Susan Stewart Macrons Russlandpolitik: Bereits gescheitert?*

Emmanuel Macron hat mit seiner Aussage zum des Kalten Krieges.4 Er betonte, die Geschichte lehre »Hirntod« der Nato Schlagzeilen gemacht.1 Genauso uns, dass es notwendig sei, mit Russland im Gespräch wichtig im deutschen Kontext ist allerdings sein An- zu sein, um die europäische Sicherheit zu gewähr- satz in Bezug auf Russland: Der französische Präsi- leisten. Macrons Einladung an Wladimir Putin, ihn in dent hat im August 2019 angekündigt, mit Russland seiner Sommerresidenz in Brégançon just vor dem einen Dialog über europäische Sicherheit führen G7-Gipfel im August 2019 zu besuchen, demonstrierte zu wollen.2 Anschließend hat er bilaterale Schritte seine Entschlossenheit, mit dem russischen Präsiden- eingeleitet, um das Verhältnis zwischen Paris und ten in einen Dialog zu treten. Zudem wirkte sie als Moskau zu verbessern. Der sichtbarste war die Wieder- Signal, dass der französische Präsident eine mittelfris- einführung des 2+2-Formats, das heißt regelmäßiger tige Rückkehr Russlands ins G7- bzw. G8-Format be- Treffen zwischen den Außen- und Verteidigungs- grüßen würde und dass er bereit sei, Putins Botschaften ministern und -ministerinnen beider Staaten. In die- gegebenenfalls in die Gipfelgespräche einzuspeisen.5 sem Zusammenhang wurden 13 Arbeitsgruppen für Macrons Ansatz vis-à-vis Russland ist jedoch nicht engere Themen wie Libyen oder Cybersicherheit ins losgelöst von seiner Aussage zum »Hirntod« der Nato Leben gerufen, die ihre Arbeit im September 2020 zu sehen. Vielmehr ist er eingebettet in eine breitere aufgenommen haben. Sicht auf die internationale Lage, die Macron zu der Macron hat diesen seinen Ansatz in mehreren Schlussfolgerung geführt hat, eine Zusammenarbeit Formaten rhetorisch bekräftigt, auch explizit gegen mit Moskau sei unerlässlich. Sowohl in seinem Inter- die Meinung außenpolitischer Fachkreise.3 Zumindest view mit der Zeitschrift The Economist im November rhetorisch sekundiert wurde er hierin von Außen- 2019 als auch in seiner programmatischen Rede an die minister Jean-Yves Le Drian, der den neuen französi- französischen Botschafter und Botschafterinnen im schen Ansatz in einer Rede in Prag Ende 2019 in August 2019 führte er aus, warum es notwendig sei, Beziehung setzte mit der Politik der Nato während Russland von den Vorteilen einer intensiveren Koope- ration zu überzeugen: Eine solche Vorgehensweise würde die derzeitige Zusammenarbeit zwischen Russ- * Ich möchte Céline Marangé für ihre Kommentare zu land und China tendenziell schwächen. Darüber hin- einer früheren Fassung dieses Textes herzlich danken. 1 »Emmanuel Macron in His Own Words. The French Presi- dent's Interview with The Economist«, in: The Economist, 4 Ambassade de France à Vientiane, »Discours de M. Jean- 7.11.2019, (Zugriff am Espoirs et désillusions après les révolutions‹«, 6.12.2019, 21.2.2021). (Zugriff am 21.2.2021). Emmanuel Macron à la conférence des ambassadeurs et des Siehe dazu auch den Beitrag von Claudia Major zur französi- ambassadrices de 2019«, 27.8.2019, (Zugriff am kehr Russlands ins G8-Format erst nach einer Lösung des 21.2.2021). Konflikts in Bezug auf die erfolgen könne. Siehe 3 Ebd. In dieser Rede hat Macron explizit die Existenz eines »Macron juge ›pertinent‹ que la Russie puisse rejoindre le »tiefen Staates« (»un État profond«) zugegeben. Damit wies er G8... ›à terme‹«, Radio France Internationale (RFI), 22.8.2019, unter anderem auf die zahlreichen Diplomaten und Diploma- (Zugriff am 21.2.2021).

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32 Macrons Russlandpolitik: Bereits gescheitert?

aus würde der Erfolg dieses Ansatzes Europa ein Frankreich schlussfolgert, was stärkeres Gewicht auf der Weltbühne verleihen. So die »logischen« Interessen Russlands wäre es weniger abhängig von einem guten trans- seien. Deutschland orientiert sich atlantischen Verhältnis und von den Sicherheits- am russischen Verhalten. garantien der USA. Das vorgeschlagene und in Ansätzen bereits rea- Entscheidend ist allerdings folgende Tatsache: Die lisierte Vorhaben des französischen Präsidenten Vorgehensweise des französischen Präsidenten basiert bezüglich der Russischen Föderation enthält also auf seinen eigenen Schlussfolgerungen, was die »logi- rhetorische wie praktische Komponenten und bildet schen« Interessen der russischen Seite seien, statt auf einen Teil eines größeren Gefüges, das seine Sicht dem russischen Verhalten.6 In Deutschland sind Poli- auf die internationale Situation widerspiegelt. Im tiker und Politikerinnen in Schlüsselpositionen auf- Folgenden werden die Unterschiede zwischen Paris grund wiederholter enttäuschender Erfahrungen mit und Berlin hinsichtlich der Russlandpolitik darge- russischen Akteuren (im Zusammenhang mit der Krim- stellt, Erklärungen für das französische Vorgehen Annexion, dem Krieg im Donbas, dem »Fall Lisa«, der angeboten sowie die Konsequenzen der bisher ein- Vergiftung Alexej Nawalnyjs) zu dem Schluss gekom- geleiteten Schritte für das deutsch-französische men, dass die russische Logik schwer nachzuvollzie- Verhältnis erläutert. hen ist und man demnach Annahmen eher auf der Grundlage der russischen Handlungen treffen sollte. Das Ergebnis ist eine andere Mischung von Instru- Verschiebung der Rollen in der menten und Ansätzen als auf der französischen Seite. Russlandpolitik Die Russlandpolitik Deutschlands beinhaltet mit ihrem Festhalten am Projekt Nord Stream 2 freilich Aus deutscher Perspektive ist das Hauptproblem der auch kooperative und regimestützende Elemente. Russlandpolitik Emmanuel Macrons, dass sie als Frankreich hat im Gegensatz dazu den Verkauf von Alleingang empfunden wird. Der französische Präsi- zwei Hubschrauberträgern des Typs »Mistral« an Russ- dent hat den oben beschriebenen Ansatz auf den Weg land 2014 storniert, obwohl er bereits vertraglich gebracht, ohne Berlin bzw. andere Mitgliedstaaten geregelt war.7 Dies fand jedoch unter dem damaligen der Europäischen Union (EU) vorher zu konsultieren. Präsidenten François Hollande statt und ist mithin Das irritierte deutsche Entscheidungsträger und -träge- nicht Teil der Macron’schen Russlandpolitik. Die rinnen erheblich, zumal Berlin öfter die Führungs- Frage der Großprojekte mit Russland ist aber auch für rolle in der EU übernimmt, wenn es um Russland geht. Macron von Bedeutung; wiederholt hat er Vorbehalte Die Russlandpolitiken der beiden Länder unter- gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 geäußert. Es scheiden sich überdies inhaltlich. Selbst wenn der ist plausibel, dass die Haltung Deutschlands in dieser französische Ansatz gewisse Ähnlichkeiten zur frühe- Angelegenheit ihn unter anderem deshalb irritiert, ren deutschen Russlandpolitik aufweist und sicher- weil die kritische deutsche Einstellung gegenüber lich im Einklang steht mit den Ansichten etlicher Russland mit der Fortsetzung des Nord-Stream-2-Pro- politischer und wirtschaftlicher Akteure in Deutsch- jekts schwer vereinbar ist.8 land, liegt er dennoch quer zum Geist des gegen- wärtigen deutschen Umgangs mit Russland. Dieser 6 »Emmanuel Macron in His Own Words« [wie Fn. 1]. Auf zeichnet sich insbesondere durch klare Kritik an die Frage: »But you’re basing your analysis on logic, not on bestimmten russischen Handlungen aus sowie durch his [Putin’s] behaviour?«, antwortete Macron: »Yes, I am.« eine entschlossene Unterstützung der bestehenden 7 Sebastien Roblin, »How France Almost Sold Russia Two EU-Sanktionen gegen das Land. Frankreich stellt die Powerful Aircraft Carriers«, in: The National Interest, 1.9.2019, Sanktionen zwar nicht in Frage, aber die französische (Zugriff am zeit Macrons deutlich milder geworden. 21.2.2021). Beide Schiffe wurden im August 2015 an Ägyp- ten verkauft. 8 Markus Becker/Peter Müller, »Streit über Nord Stream 2: Was hinter Macrons Kurswechsel steckt«, in: Der Spiegel, 7.2.2019, ; »Nordstream – L’Europe ne

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Auch Macrons Sicht auf die globale Entwicklung transatlantischen Beziehungen, vor allem nach dem stößt in Berlin nicht durchweg auf Zustimmung. Sieg Joe Bidens bei den US-amerikanischen Präsident- Erstens wird die Idee in Deutschland als kontrovers schaftswahlen. angesehen, dass Akteure innerhalb der EU die russi- Interessant ist, dass der Russland-Ansatz Emmanuel sche Führung überzeugen könnten, ihr enges Ver- Macrons relativ nah an der Berliner Linie vor 2014 hältnis zu China zugunsten einer intensiven Koope- liegt. Das heißt, innerhalb der EU hat in Bezug auf ration mit der EU bzw. Europa aufzugeben. Zahl- Russland eine Verschiebung der Rollen stattgefunden. reiche Russland-Expertinnen und -Experten stellten Frankreich nimmt nun die frühere deutsche Rolle diese Behauptung in Frage, desgleichen fanden einige ein, während Deutschland den Russland-Kritikern im politische Akteure sie wenig überzeugend.9 Die An- Osten der EU etwas näher rückt, namentlich Polen gebote, die die EU Russland machen könnte, seien für und den baltischen Staaten. Darin zeigt sich, wie Russland nicht attraktiv genug, um es zu einer Herab- weit(reichend) sich die deutsche Linie in den letzten stufung seines Verhältnisses zu China zu bewegen. Jahren verändert hat. Dennoch bleibt Deutschland Allerdings argumentierten Mitglieder der EU-Dele- mit seinem Ansatz in der Mitte des EU-weiten Spekt- gation in Moskau ähnlich wie Macron.10 Berlin teilte rums, selbst nachdem sich die Beziehungen zu Russ- diese Meinung nur bedingt, unter anderem weil land wegen der Vergiftung des Oppositionspolitikers die Hebel fehlen, Russlands Außenpolitik in die ge- Alexej Nawalnyj erheblich verschlechtert haben.12 wünschte Richtung zu beeinflussen. Zweitens zielt der französische Ansatz offenbar auf eine stärkere Entkopplung Europas von den USA ab, Der französische Ansatz vis-à-vis Russ- die mit der deutschen Politik nicht im Einklang steht. land: Vor allem geopolitisch Die Logik hinter Macrons Vorschlägen scheint folgende zu sein: Die EU sollte versuchen, auf ein starkes Europa Die Russlandpolitik des französischen Präsidenten hinzuarbeiten, um mehr Autonomie gegenüber China ist lediglich ein Baustein in einem größeren Gefüge. sowie den USA zu erlangen.11 Dafür ist eine engere Laut der Weltsicht Emmanuel Macrons, wie er sie Verbindung zu Russland unabdingbar. Es ist klar, dass zum Beispiel in seinem Interview mit der Zeitschrift eine intensivere sicherheitspolitische Zusammen- The Economist im Herbst 2019 erläutert hat, ist es not- arbeit mit Russland mehr Distanz zwischen der EU wendig, Russland stärker in einen europäischen Dis- und den USA erzeugen wird – zumindest in der ab- kurs einzubinden und mit Moskau intensiver zu- sehbaren Zukunft. Diese Sicht- und Denkweise wider- sammenzuarbeiten. Dementsprechend muss man, spricht der in Berlin vorherrschenden Haltung zu den um dieses Ziel zu erreichen, das Interesse der russi- schen Führung an Kooperation von China auf Europa lenken. Andernfalls werden Russland und China devrait pas accroître sa dépendance au gaz russe – Macron« einen Block bilden und die EU wohl gezwungen sein, (Reuters), in: Les Échos, 28.8.2020, ; geopolitisch geprägte Sichtweise, die den französi- siehe auch Thomas Hanke, »›Sanktionen genügen nicht schen Präsidenten auf eine Zusammenarbeit mit mehr‹: Frankreich fordert Ende von Nord Stream 2«, in: Russland hinwirken lässt. Vielleicht ist seine Initia- Handelsblatt, 1.2.2021, nur schwer anfreunden können. (Zugriff jeweils am 21.2.2021). Diese Vorgehensweise erlaubt es Macron, sich als 9 Siehe z. B. Liana Fix, »Europas Chefunruhestifter«, in: ipg- Europäer zu präsentieren und bei Erfolg eine Führungs- journal [Internationale Politik und Gesellschaft], 30.1.2020, rolle in der europäischen Außenpolitik zu überneh- (Zugriff am 21.2.2021). tiger politischer und wirtschaftlicher Kreise innerhalb 10 Michael Peel, »EU Envoy Urges Bloc to Engage More with Frankreichs. Selbst wenn das französische außenpoli- Russia over 5G and Data«, in: Financial Times, 13.9.2019, (Zugriff am 21.2.2021). 12 Siehe hierzu Alexander Chernyshev et al., »Das Nawalny- 11 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zur GSVP, S. 21ff. Komplott«, in: Der Spiegel, 28.8.2020.

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34 Macrons Russlandpolitik: Bereits gescheitert?

tische Establishment in Bezug auf Russland gespalten Handlungen (2+2-Gespräch, Einladung Putins nach ist, unterstützt ein Teil davon Macrons Vorschläge, Brégançon) haben keine greifbaren Ergebnisse gezei- darunter eine Reihe von renommierten, teilweise eme- tigt. Zum anderen haben die letzten Entwicklungen ritierten Botschaftern und Ministern.13 Zu ihnen gehört in und in Bezug auf Russland den Ansatz Macrons Pierre Vimont, ein hochrangiger Diplomat und der- zumindest vorläufig gebremst. Nach der Vergiftung zeit Beauftragter des französischen Präsidenten für Alexej Nawalnyjs wurde das nächste geplante Ge- die Sicherheitsarchitektur und die Vertrauensbildung spräch im 2+2-Format verschoben, Macrons angedach- mit Russland. Außerdem sind einige einflussreiche ter Besuch in Moskau in Frage gestellt.16 Dies ist aller- französische Geschäftsleute aus dem Energie- und Rüs- dings nur eine temporäre Erscheinung und bedeutet tungssektor an einem guten Verhältnis zu Russland keine grundlegende Änderung des französischen interessiert, vorwiegend aus finanziellen Gründen.14 Ansatzes. Schließlich verspricht sich der französische Präsi- Als Macron seine Vorschläge ursprünglich erläuterte, dent positive Auswirkungen seines Russland-Ansatzes befürchteten Expertenkreise in Deutschland, dieses auf einige außenpolitische Herausforderungen, vor Zugehen auf Russland könnte sich negativ auf das Nor- allem im Nahen Osten und in Afrika. Da Russland mandie-Format17 auswirken. Dahinter stand die Über- eine Schlüsselrolle in Syrien spielt, könnte man, so legung, dass ein solches Rapprochement (oder auch die Macron’sche Logik, die russische Führung leichter nur das Potential dafür) sowohl das russische Kalkül überzeugen, bestimmte Handlungen zu unternehmen innerhalb des Formats beeinflussen könnte als auch bzw. zu unterlassen, wenn das bilaterale französisch- die bis dahin vorhandene einheitliche Haltung der russische ebenso wie das EU–Russland-Verhältnis deutschen und französischen Seite. Jedoch hat das Nor- insgesamt besser wären. Aber auch im Hinblick auf mandie-Gipfeltreffen im Dezember 2019 in Paris ge- Libyen und den Sahel hat sich Macron anscheinend zeigt, dass diese Befürchtung unbegründet war. Die positive Spillover-Effekte erhofft.15 In diesem Sinne Einigkeit der beiden EU-Mitglieder scheint aktuell sind die Beziehungen zu Russland relevant für nicht in Gefahr; dennoch könnten die Verhandlungen Schlüsselbereiche der französischen Außenpolitik im Normandie-Format beeinträchtigt werden, da sich südlich der EU. das Verhältnis zu Russland aufgrund des Nawalnyj- Falls weiter verschlechtert hat. Wie Deutschland versucht auch Frankreich mit Konsequenzen für das deutsch-franzö- den östlichen EU-Mitgliedstaaten einen Dialog über sische Verhältnis: Noch in Bewegung Russland zu führen. Die Litauen-Reise Emmanuel Macrons Ende September 2020 hat allerdings Signale Bislang haben die Differenzen in den beiden Ansät- in zwei Richtungen gesendet. Einerseits fand der fran- zen vis-à-vis Russland keine gravierenden Folgen für zösische Präsident harte Worte angesichts des Um- das deutsch-französische Verhältnis gehabt. Dafür gangs der russischen Führung mit dem Fall Nawalnyj gibt es mindestens zwei Gründe: Zum einen hat sich und hat sich mit der belarussischen Oppositionellen der französische Ansatz bisher eher auf der rhetori- Swetlana Tichanowskaja getroffen. Andererseits nahm schen Ebene manifestiert. Die wenigen konkreten das Treffen mit ihr vergleichsweise wenig Raum ein, betrachtet man die Reise als Ganzes, und Macrons

sonstige Rhetorik in Vilnius galt der These, dass der 13 Siehe z. B. Eugénie Bastié/Guillaume Perrault, »Hubert Védrine: ›Il est temps de revenir à une politique plus réaliste avec la Russie‹«, in: Le Figaro, 16.8.2019, ministérielle franco-russe« (Agence France-Presse, AFP), in: (Zugriff am 21.2.2021). Le Figaro, 8.9.2020, (Zugriff am 21.2.2020). Zum Zeitpunkt der 2.9.2020, (Zugriff 17 Das Normandie-Format besteht aus Frankreich, Deutsch- am 21.2.2021). land, der Ukraine und Russland und wurde im Juni 2014 15 Siehe den Beitrag von Wolfram Lacher zu Macrons geschaffen, um eine Lösung des Donbas-Konflikts auszu- Libyenpolitik, S. 16ff. arbeiten.

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Dialog mit Moskau fortgeführt werden müsse.18 Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass eine Ab- kehr von der bisherigen französischen Linie gegen- über Russland nicht vorgesehen ist. Zwar demonst- riert Macrons Besuch in Litauen seine Absicht, weiter- hin einen guten Kontakt mit den Regierungen in Ostmitteleuropa zu pflegen. Doch hat zum Beispiel seine Reise nach Warschau im Februar 2020 weder eine spürbare Verbesserung des französisch-polni- schen Verhältnisses bewirkt noch eine Annäherung der Positionen beider Länder, was Russland betrifft.

Nach dem Wahlsieg Bidens wird Berlin stärker als Paris auf die USA als Partner setzen. Das könnte die deutsch-französische Zusammenarbeit erschweren.

Da der französische Russland-Ansatz in einen brei- teren internationalen Kontext eingebettet ist, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und wie weit sich Deutschland und Frankreich in verwandten Berei- chen der Außenpolitik aufeinander zubewegen wer- den. Bedeutende Zeichen einer solchen Annäherung sieht man derzeit nicht. Nach dem Sieg Bidens bei den US-Wahlen könnten die Einschätzungen beider Länder auseinandergehen, welches Potential für das transatlantische Verhältnis dieses Wahlergebnis birgt. Deutschland wird wohl zumindest kurz- bis mittel- fristig wieder stärker auf die USA als Partner setzen – Frankreich wird hier voraussichtlich zurückhaltender sein. Eine solche Entwicklung könnte die deutsch- französische Zusammenarbeit zusätzlich erschweren, sowohl im EU-Rahmen als auch in Bezug auf Russ- land. Abschließend ist festzuhalten: Es ist unklar, wel- chen Weg die deutsche Außenpolitik nach den Bundes- tagswahlen im September 2021 einschlagen und was auf sie zukommen wird, auch und gerade im Hin- blick auf die Beziehungen zu Russland. Deswegen ist zurzeit offen, wie sich der deutsche und der franzö- sische Ansatz vis-à-vis Russland mittelfristig ent- wickeln und wie hoch die Chance ist, dass sie sich einander annähern werden.

18 Élysée, »Déplacement du Président Emmanuel Macron en République de Lituanie«, 29.9.2020, (Zugriff am 21.2.2021).

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Claudia Major Ein engagierter, aber schwieriger Verbündeter: Frankreichs Nato-Politik

In der Nato-Politik treten die Charakteristika von atlantischen Verteidigung.2 Laut dem Weißbuch zur Frankreichs aktuellem sicherheits- und verteidigungs- Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der politischen Kurs deutlich zutage: das Leitmotiv euro- Bundeswehr von 2016 ist der Sicherheit des Landes päischer Souveränität, disruptive Ansätze, hohe Erwar- am besten »mit einer starken Nato und einem hand- tungen und die Bereitschaft zu Alleingängen. Inhalt- lungsfähigen Europa« gedient. Daher gilt Bündnis- lich ist die Politik, die Paris heute dem Bündnis gegen- solidarität als »Teil deutscher Staatsräson«.3 Die Alli- über betreibt, mit wenigen Ausnahmen von tradi- anz ist demzufolge die entscheidende Bezugsgröße tionellen Positionen geprägt. für die deutsche Verteidigungspolitik, für Planung, Ausrüstung und Übungen. Angesichts der Schlüssel- rolle der USA im Bündnis sieht Deutschland die Nato Deutsch-französische Unterschiede als militärische Lebensversicherung schlechthin und politisch als zentrales Forum der transatlantischen Für Frankreich ist die Nato ein Format unter vielen, Zusammenarbeit. mit denen es seine verteidigungspolitischen Ziele Anders als Deutschland betrachtet Frankreich seine verfolgen kann.1 Die Beziehung zwischen Paris und bilaterale Verteidigungskooperation mit den USA als der Allianz ist seit vielen Jahrzehnten kompliziert, weitgehend unabhängig von der Nato. Generell sind was schon der Umstand zeigt, dass Frankreich die die transatlantischen Beziehungen aus Pariser Sicht integrierten militärischen Strukturen der Nato 1966 viel umfassender. Die Nato ist demnach nur ein Format verließ und erst 2009 wieder dorthin zurückkehrte. dafür, zwar ein wichtiges, dabei aber weder einzig- Das Land sieht die eigene Rolle in der Allianz unter artig noch privilegiert, und sie wird sogar als eher dem Leitmotiv »Amie, alliée, mais pas alignée« (Freund, schwerfällig und bürokratisch wahrgenommen. Eine Verbündeter, aber nicht eingereiht) und definiert konstruktive Zusammenarbeit mit Washington kann die Nato vor allem als militärisches Verteidigungs- für Paris daher auch außerhalb des Bündnisses statt- bündnis. Die von Paris bislang sehr orthodox verfoch- finden (Beispiele sind der Einsatz in der Sahelzone tene Unterscheidung zwischen der Nato als einer – und die Anti-IS-Koalition), während das französisch- geschätzten – militärischen Verteidigungsorganisation amerikanische Verhältnis im Rahmen der Nato eher und dem Bündnis als einem politischen Zusammen- angespannt ist. Im Gegensatz zu Deutschland und schluss findet sich nirgends sonst in Europa. Aus vielen mittel- und osteuropäischen Ländern sieht französischer Sicht ist die Nato ein Instrument, das Frankreich die Nato und die US-Zusagen zwar als nur dort eingesetzt werden soll, wo es einen Mehr- Schlüsselelement für Europas Sicherheit und Stabilität, wert bringt, nämlich bei der territorialen Vertei- aber nicht als ultimative Existenzgarantie. In Paris digung Europas und zur Sicherung von Interopera- bilität der Bündnispartner. 2 Claudia Major, Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung. Im Gegensatz dazu unterstreicht Deutschland Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive, beide Dimensionen – die politische und die mili- Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), November tärische. Es sieht die Nato als zentralen Pfeiler der 2019 (SWP-Studie 25/2019). transatlantischen Ordnung und wichtigste Struktur 3 Die Bundesregierung, Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur zur Organisation und Gewährleistung der euro- Zukunft der Bundeswehr, Berlin, Juni 2016, S. 8, 49, (Zugriff am 24.2.2021).

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betont man eher die eigene Unabhängigkeit, vor internationalen Ordnungsstrukturen. Doch motiviert allem weil die Republik über eigene Atomwaffen als sind die französischen Bedenken auch durch struktu- Garanten nationaler Souveränität verfügt und sich relle Tendenzen – wie die zunehmende Fokussie- daher weniger von US-Sicherheitszusagen abhängig rung der USA auf den Rivalen China – und durch fühlt. generelle Machtverschiebungen auf globaler Ebene. Auch in Frankreichs praktischer Verteidigungs- Die Ablösung Trumps durch Joe Biden dürfte an politik ist die Bedeutung der Nato begrenzt. Das zei- Frankreichs Herangehensweise also nichts ändern. gen seine jüngsten Auslandseinsätze, sowohl nach Paris wird seine bekannten Bedenken zur Rolle Wa- geographischer Lage (Afrika, Naher und Mittlerer shingtons nicht aufgeben und weiterhin den Aufbau Osten) wie nach institutionellem Rahmen (Koalition europäischer Verteidigung und Souveränität für not- der Willigen, EU, Kooperation mit lokalen Streitkräf- wendig erachten. Dies ist jedoch nicht als Misstrauen ten). In den letzten Jahren war die Zahl französischer gegenüber Washington zu werten. Für Frankreich Beteiligungen an Nato-Einsätzen rückläufig. Dies lag ist nachvollziehbar, dass sich die USA den aus ihrer zwar zum Teil daran, dass die Allianz ihre Operatio- Sicht größten Herausforderungen – wie China – wid- nen generell reduziert hat. Doch benötigte Paris die men und dass sie von Europa erwarten, in seinem eigenen Kräfte auch im Inneren – für die Anti-Terror- eigenen Umfeld sicherheitspolitisch handlungsfähig Operation »Sentinelle« seit 2015 – und für Operatio- zu werden. Die Herausforderung für die Europäer nen wie »Barkhane« in der Sahelzone oder »Cham- liegt aus Pariser Perspektive vielmehr darin, in koope- mal« in Syrien und dem Irak. Allerdings beteiligt sich rativer und konstruktiver Weise den amerikanischen Frankreich im Rahmen der kollektiven Verteidigung Fokuswechsel zu begleiten. substantiell an der Nato-Vornepräsenz (enhanced Zweitens konstatiert Frankreich eine Schwächung Forward Presence, eFP) im Baltikum. der Nato, die darauf zurückzuführen ist, dass Alliierte verstärkt Partikularinteressen verfolgen und bilaterale Konflikte in das Bündnis tragen. So blockiert etwa Ansätze zur Nato unter Macron: Ungarn die Beziehungen der Nato zur Ukraine. Die Militärisches Bündnis, aber auch Türkei war bzw. ist an verschiedenen Schauplätzen politische Allianz (Syrien, Libyen, Irak, Griechenland, Zypern, Bergkara- bach) engagiert, wo sie teils gegen Beschlüsse und Unter Präsident Macron ist eine Neuerung in der fran- Interessen der Nato handelt, etwa durch Verletzung zösischen Nato-Politik zu erkennen: Paris betont nun- des Waffenembargos für Libyen. Ankara blockiert mehr die politische Dimension der Allianz. Ansons- nicht nur die Beziehungen der Nato zur EU, sondern ten setzt Frankreich in seinem Kurs der Nato gegen- auch die bilateralen Partnerschaften der Allianz mit über weitgehend auf Kontinuität. Ägypten, Armenien, Jordanien, , Irak und Öster- reich. Für Paris zeigt sich daran, dass die Absprache Kontinuität in den Grundannahmen unter den Alliierten nicht funktioniert und die Nato ihrer Koordinationsfunktion nicht nachkommen Vier Gründe erklären die traditionelle französische kann. Aus französischer Sicht schadet das Verhalten Positionierung. Erstens zweifelt Paris daran, dass einzelner Nato-Mitglieder mittlerweile sogar direkt die Zusagen der Vereinigten Staaten für die europäi- den Interessen anderer Alliierter, auch denen Frank- sche Sicherheit langfristig verlässlich und belastbar reichs. So geht die Türkei gegen die kurdischen YPG- sind. Dies galt insbesondere für die Präsidentschaft Milizen vor, die von Frankreich und den USA aus- Donald Trumps, der entsprechende Sorgen bestätigte – gebildet und ausgerüstet wurden und mit denen man etwa mit dem unkoordinierten US-Abzug aus Syrien gemeinsam den »Islamischen Staat« (IS) bekämpfte. im Herbst 2019, rhetorischen Ausfällen gegen Europa Durch Ankaras Verhalten sieht sich Paris im Konflikt (»ein Feind«)4 und dem Ausstieg Washingtons aus mit dem IS geschwächt und seine innere Sicherheit bedroht, weil vor diesem Hintergrund das Risiko von Attentaten in Frankreich gestiegen ist. Unterminiert 4 »›I Think the European Union Is a Foe‹, Trump Says wird so auch die Glaubwürdigkeit der Nato als Vertei- ahead of Putin Meeting in Helsinki«, CBS Newsweek (online), digungsbündnis, in dem sich Alliierte für den Krisen- 15.7.2018, (Zugriff am 18.12.2020).

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Drittens kritisiert Paris, die Nato sei zu stark auf schafft, etwa solche an der Nato-Südflanke mit Blick Russland ausgerichtet, denn aus französischer Sicht auf Terrorismus. Aus französischer Perspektive stärken ist auch der Terrorismus eine zentrale Bedrohung sich europäische Verteidigung und Nato gegenseitig, für Europa.5 In Frankreich gilt 2015 als sicherheits- da die Nato und die transatlantischen Beziehungen politisches Schlüsseljahr – mit dem Attentat auf letztlich von besseren europäischen Fähigkeiten pro- die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar und der fitieren.7 Es geht also nicht darum, dass »die EU die Anschlagsserie in Paris am 13. November. Geringere Nato ersetzt, sondern dass wir die Nato ergänzen und Bedeutung als für Deutschland hat hingegen das Jahr einen größeren Beitrag zu seiner [d. h. Europas] eige- 2014, in dem Russland die Krim annektierte. Dabei nen Verteidigung leisten«, wie es der frühere Außen- sieht Frankreich in Russland durchaus eine Heraus- minister Hubert Védrine formulierte, der Frankreich forderung. Zwar basiert die französische Abschre- in dem 2020 organisierten Reflexionsprozess zur Zu- ckungsdoktrin auf Ambivalenz und benennt nicht kunft der Nato vertrat.8 Die zentrale politische Sicher- eindeutig Gegner. Aus den Positionierungen lässt sich heitsorganisation oder der Rahmen für europäische jedoch ableiten, dass sich Frankreichs nukleare Ab- Souveränität ist die Nato damit nicht. schreckung auch gegen Russland richtet. Paris geht es darum, dass die Nato existierende Bedrohungen in Überraschende Aufwertung der ausgewogener und umfassender Weise wahrnehmen politischen Rolle und einen einseitigen Blickwinkel vermeiden sollte. Viertens schließlich befürchtet Paris, der deutliche Allerdings zeichnet sich unter Präsident Macron bei Fokus einiger Alliierter (vor allem in Mittel- und Ost- aller Kontinuität auch eine Veränderung ab: Über- europa) auf Nato und USA könnte das französische raschend hat er die politische Rolle der Nato aufge- Bemühen unterminieren, die europäische Souveräni- wertet. Damit setzt er sich von der traditionell mini- tät zu stärken. Wenn zudem Europas steigende Ver- malistischen Vision seiner Vorgänger ab, die in dem teidigungsausgaben in Ausrüstung amerikanischer Bündnis eine militärische und keine politische Orga- Herkunft fließen anstatt in solche, die europäische nisation sahen. Firmen produzieren, wird aus französischer Sicht eine Im militärischen Bereich bemüht sich Frankreich Chance auf Eigenständigkeit des Kontinents vertan. um sichtbare Beiträge. Zwar haben nationale Ver- Paris unterstreicht aber ausdrücklich, die Nato pflichtungen weiterhin Priorität. Doch Paris beteiligt habe eine wesentliche Bedeutung als »Sockel« für sich, nach ursprünglichem Zögern, substantiell an kollektive Verteidigung in einer »instabilen, aus dem den Abschreckungsmaßnahmen der Nato gegenüber Gleichgewicht geratenen Welt«.6 Frankreich schätzt Russland, die die Alliierten infolge der Krim-Annexion die Allianz als ein Forum, in dem Interoperabilität beschlossen hatten. Dazu gehört die Teilnahme am unter Verbündeten gewährleistet wird (von der auch andere Formate und Einsätze profitieren) und das Aufmerksamkeit für sicherheitspolitische Probleme 7 Siehe ebd.; ebenso Rede von Außenminister Jean-Yves Le Drian in Bratislava im Oktober 2020: »There cannot be European defence without NATO, just as there cannot be a 5 Siehe auch Philippe Etienne, A View from the Élysée: France’s credible and sustainable NATO without lasting European Role in the World, London: Chatham House – The Royal defence commitments. [...] Everything we have done to Institute of International Affairs, September 2018, strengthen our ability to defend our defence and security (Zugriff am 18.12.2020). less so, of course, against the transatlantic relationship. It is 6 Siehe Rede von Verteidigungsministerin Florence Parly done for ourselves.« Ministère de l’Europe et des Affaires auf der NATO Resource Conference im Oktober 2018: »Alors, Étrangères, »›GLOBSEC 2020 Bratislava Forum‹ – Rede von face à ce monde instable, déséquilibré. Face à des menaces Jean-Yves Le Drian«, Bratislava, 8.10.2020, (Zugriff am 30.11.2020). défense collective est et demeure l’OTAN.« Vie publique, 8 Martina Meister, »›Wir müssen auch Joe Biden mit Sank- »Déclaration de Mme Florence Parly, ministre des armées, tionen drohen‹«, in: Welt (online), 15.11.2020, (Zugriff am 18.12.2020). html?__twitter_impression=true> (Zugriff am 18.12.2020).

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Baltic Air Policing und an der Nato-Vornepräsenz im partner, sondern auch die eigene Verwaltung. Die Baltikum; dafür stellt Frankreich 300 Soldaten, die Absicht war, auf seiner Meinung nach fundamentale im Rotationsverfahren in Estland und Litauen statio- Missstände in der Nato aufmerksam zu machen, die niert sind.9 Zugleich hält Paris hier Fähigkeiten wie sonst unter den Teppich gekehrt würden.12 die »Leclerc«-Kampfpanzer bereit, die zur territorialen Offiziell reagierten die Alliierten mit einhelliger Verteidigung in Europa geeignet sind, ansonsten aber Ablehnung; viele bekannten sich demonstrativ zur für die französische Sicherheitsplanung kaum benö- Nato und rügten den französischen Präsidenten tigt werden. Frankreich sieht darin ein europäisches scharf.13 Informell teilten jedoch fast alle Macrons Engagement und argumentiert zudem, dass seine Analyse. Beanstandet wurden vor allem Form und anderen Einsätze, etwa in der Sahelzone, seine militä- Timing der Stellungnahme. Die Grundsatzkritik aus rischen Fähigkeiten, seine Verteidigungsausgaben Paris kam kurz vor dem Jubiläumsgipfel zum 70-jäh- (die der 2-Prozent-Forderung der Nato entsprechen) rigen Bestehen der Nato im Dezember 2019. Viele sowie eigene Vorschläge wie die Europäische Inter- Staaten fürchteten, dass öffentliche Streitereien die ventionsinitiative auch zur Verteidigung Europas Feier sprengen und die Nato – und damit Europas beitragen und daher für die Lastenteilung der Nato Verteidigung – nachhaltig schädigen würden. anerkannt werden sollten.10 Bundesaußenminister Heiko Maas schlug darauf- hin vor, eine Expertenkommission zu gründen. Er Macrons Diagnose vom »Hirntod« griff damit auf eine Anregung zurück, die ursprüng- der Nato wurde offiziell missbilligt – lich aus Paris gekommen war, wegen Frankreichs informell aber teilten fast kritischer Haltung im Bündnis zunächst aber wenig alle Mitgliedstaaten die Analyse. Erfolgschancen hatte.14 Nun setzte sich die Idee durch. Das Gremium sollte Empfehlungen entwickeln, wie Bemerkenswerter ist indes die politische Aufwer- die Nato wieder zu einem Ort der politischen Debatte tung der Nato, die Macron gerade dadurch vermittelte, werden könne. Der Vorstoß rettete das Treffen der dass er das Bündnis in einem Interview mit dem Maga- Staats- und Regierungschefs im Dezember 2019 vor zin The Economist Ende 2019 harsch kritisierte.11 Zwar öffentlichem Streit, da heikle Themen in die Experten- erkannte er an, dass die Nato militärisch funktioniere, gruppe ausgelagert und die Spannungen so kanali- doch beanstandete er ihre politische Blockade durch siert werden konnten. In der Abschlusserklärung der die Türkei, die USA und die Uneinigkeit der Europäer. Zusammenkunft wurde der Nato-Generalsekretär Damit wich er von Frankreichs traditioneller Linie ab, beauftragt, Vorschläge für einen Reflexionsprozess die Nato vor allem als militärisches Bündnis zu ver- zu unterbreiten, wie sich die politische Dimension stehen. Macron formulierte seine Kritik in disruptiver der Allianz stärken ließe.15 Weise – indem er der Allianz den »Hirntod« beschei- nigte – und irritierte damit nicht nur die Bündnis- 12 Z. B. Rym Momtaz, »Inside Macron’s Diplomacy: Ten- sion, Turf Wars and Burnout«, Politico (online), 28.10.2020, 9 Ministère des Armées, »Actualités: Mission Lynx«, Paris, (Zugriff am 18.12.2020). tions/mission-lynx> (Zugriff am 18.12.2020). 13 Z. B. Heiko Maas, »Wir wollen und brauchen die Nato«, 10 Siehe Rede von Verteidigungsministerin Parly: »Mais je in: Der Spiegel (online), 10.11.2019, Elle agit dans le cadre de l’OTAN au titre des mesures d’assu- (Zugriff am 18.12.2020); Angelique Chrisafis, »Macron rance. Elle emploie, aussi, en dehors de l’OTAN, des milliers Critisised by US and over Nato ›Brain Death‹ de militaires, au quotidien, pour combattre le terrorisme à sa Claims«, in: , 7.11.2019, (Zugriff am armées, sur la France et l’OTAN« [wie Fn. 6]. 18.12.2020). 11 »Emmanuel Macron Warns Europe: NATO Is Becoming 14 »Heiko Maas will Expertenkommission zur Nato einset- Brain-dead«, in: The Economist (online), 7.11.2019, (Zugriff am kommission> (Zugriff am 18.12.2020). 24.2.2021). 15 »London Declaration. Issued by the Heads of State and

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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg initiierte anz an sich ein Türkei-Problem hat. Unterschiede daraufhin einen Prozess, dessen praktische Arbeit von gibt es lediglich in der Frage, wie damit umzugehen Thomas de Maizière und Wess Mitchell geleitet wurde. ist. Während einige warnen, das Bündnis könnte Als Ergebnis lag im Dezember 2020 ein Abschluss- die Türkei verlieren (darunter Spanien, Großbritan- bericht mit 130 Empfehlungen vor, den viele Alliierte nien und die Nato-Institutionen), setzen andere auf lobten.16 Letztlich ist der Prozess auch aus Sicht stark unauffälligen Druck (so die USA) oder eben auf einen transatlantisch orientierter Akteure wie Deutschland konfrontativen Ansatz (neben Frankreich auch Grie- ein Gewinn, zumal er nun in eine Revision des Strate- chenland). gischen Konzepts der Nato von 2010 münden wird, Die Spannungen im Verhältnis zwischen Paris und die viele Alliierte bislang vergeblich angemahnt Ankara haben mehrere Gründe, die auf bilateraler hatten. Ohne den Schock der Macron’schen Kritik wie internationaler Ebene angesiedelt sind.19 Bilateral wäre es dazu nicht gekommen. Frankreich ist mit sieht sich Frankreich gegenüber der Türkei als Ziel- dem Ergebnis weitgehend zufrieden und schreibt sich scheibe einer organisierten, staatlich gestützten Kam- die inhaltliche Ausrichtung als Erfolg zu. So betont pagne, die mit Desinformation, Instrumentalisierung der Bericht die Bedeutung von politischer Kohäsion muslimischer Minderheiten, persönlichen Beschimp- und Wertegemeinschaft, von nuklearer Abschreckung, fungen von Präsident Macron und dem Boykott fran- EU–Nato-Kooperation und Terrorismus als Bedro- zösischer Produkte arbeitet.20 Auf internationaler hung. In einer Erklärung lobte Macron das Papier kurz Ebene kritisiert Paris zahlreiche Aspekte der türkischen nach dessen Veröffentlichung. Zugleich mahnte er, Politik: das Vorgehen in Syrien; die illegale militäri- dass Nato- und EU-Entwicklungen – wie der 2020 sche Unterstützung für die international anerkannte unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft angestoßene Einheitsregierung in Libyen; das Seerechtsabkommen, Prozess des Strategischen Kompasses – aufeinander das Ankara mit Tripolis vereinbart hat; die Erdgas- abgestimmt werden müssten und der Weg der euro- erkundungen im östlichen Mittelmeer, die maritime päischen Souveränität weiter zu beschreiten sei.17 Hoheitsrechte Griechenlands und Zyperns verletzten; die Unterstützung Aserbaidschans gegen Armenien Das Türkei-Problem der Nato im Konflikt um Bergkarabach im Herbst 2020. Aus französischer Sicht handelt es sich hier um Macht- Im Fall der Türkei sieht sich Frankreich ebenso in der ansprüche und Rechtsverletzungen, die Europa zurück- Rolle eines Mahners, der es wagt, Probleme notfalls weisen sollte. Angesichts der türkischen Ambitionen auch disruptiv anzusprechen, damit Partner zum Han- im geopolitisch wichtigen Mittelmeergebiet, so Paris, deln motiviert werden.18 Während einige Alliierte lange Zeit rein bilaterale Schwierigkeiten zwischen Paris und Ankara ausmachen wollten, sind sich mittler- 19 Ariane Bonzon, »Pourquoi la Turquie et la France weile alle übrigen Nato-Mitglieder einig, dass die Alli- s’affrontent-elles en Méditerranée?«, in: Le Grand Continent (online), 19.10.2020, (Zugriff am 18.12.2020). Atlantic Council in London 3–4 December 2019«, Press 20 Susanne Güsten/Albrecht Meier, »Frankreich ruft nach Release, (4.12.2019) 115, (Zugriff am 18.12.2020). (online), 26.10.2020, (Zugriff am 30.11.2020); Maurice Szafran, assets/pdf/2020/12/pdf/201201-Reflection-Group-Final-Report- »Islamisme: Pourquoi Macron ne cédera pas face à Erdogan«, Uni.pdf> (Zugriff am 9.3.2021). Challenges (online), 25.10.2020, (Zugriff am 18.12.2020); Marie Jégo, Stoltenberg«, Paris, 2.12.2020, (Zugriff am 18.12.2020). 2020/10/26/entre-emmanuel-macron-et-recep-tayyip-erdogan- 18 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zu Frankreichs les-relations-n-ont-jamais-ete-aussi-delitees_6057354_ Türkeipolitik, S. 44ff. 3210.html> (Zugriff am 18.12.2020).

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müsse Europa seine Interessen selbstbewusster ver- Türkei – entweder nicht wahrnehmen oder nicht an- teidigen. gehen wollen oder aber andere Mittel als Paris bevor- Im Juni 2020 eskalierten die Spannungen zwischen zugen. Frankreich sieht sich daher veranlasst, gege- Paris und Ankara fast militärisch. Im Rahmen der benenfalls allein und in unterschiedlichen Formaten Nato-Operation »Sea Guardian« wollte die Besatzung zu agieren, um die europäischen Partner zum Handeln der französischen Fregatte »Le Courbet« den Frachter zu bewegen und europäische Ziele zu verteidigen. »Çirkin« wegen des Verdachts unerlaubter Waffen- lieferungen nach Libyen kontrollieren.21 Der Frachter wurde von türkischen Militärschiffen begleitet, die Folgen für das deutsch-französische eine Kontrolle verhinderten und die unter Nato- Verhältnis Flagge fahrende französische Fregatte mit ihrem Ziel- erfassungssystem ins Visier nahmen. Letztere drehte Form und Inhalt seiner Nato-Politik bewirken, dass schließlich bei. Frankreich einen schweren Stand bei den anderen Frankreich setzte daraufhin seine Beteiligung an Alliierten hat. Zwar stimmen die meisten von ihnen »Sea Guardian« aus und forderte, den Vorfall durch informell den französischen Kritikpunkten zu und das Bündnis untersuchen zu lassen. Im weiteren Ver- schätzen das militärische Engagement des Landes. lauf zeigte sich Paris irritiert über die geringe Bereit- Doch gibt es große Meinungsunterschiede, was den schaft der anderen Alliierten und der Nato-Militär- Umgang mit Russland, die Rolle der USA und die struktur, die Türkei zur Verantwortung zu ziehen. Zukunft europäischer Verteidigung angeht. Die mittel- Aus französischer Sicht geht es hier um ein grund- und osteuropäischen Nato-Mitglieder lehnen das Ziel legendes Türkei–Nato-Problem, das auch alle anderen europäischer Souveränität mehrheitlich ab, weil sie Mitglieder betrifft, und keineswegs um eine bilaterale darin eine Gefahr für die transatlantischen Beziehun- Angelegenheit zwischen Paris und Ankara. So ver- gen sehen.23 Und viele Nato-Staaten nehmen es als weist Frankreich darauf, dass es nicht der einzige Alli- kontraproduktiv wahr, in welcher Weise Frankreich ierte sei, der Ankaras Forderung ablehne, die kurdi- Stellung bezieht, wie es unpopuläre Standpunkte schen YPG-Milizen – einstige Verbündete im Kampf offen vertritt und teils unkoordiniert Initiativen lan- gegen den IS – als terroristisch einzustufen. Die ciert. Dies hat zu einer Verhärtung der Positionen mittel- und osteuropäischen Nato-Staaten wiederum geführt und Frankreich den Ruf des unbequemen kritisierten die türkische Blockade der aktualisierten Alliierten eingebracht. Verteidigungsplanungen für die Ostflanke. Und ein- Seine Vorschläge in der Nato leiden unter diesem hellig verurteilt man in der Allianz, dass Ankara Image, denn sie werden mitunter allein schon wegen russische Flugabwehrraketen beschafft und damit die ihrer Herkunft kritisch gesehen. Französische Ideen integrierte Luftverteidigung der Nato untergräbt.22 hätten bessere Aussichten, umgesetzt zu werden, wenn Zugleich verstärkt sich Frankreichs Eindruck, dass Paris vorab die Unterstützung anderer Bündnismit- andere Europäer drängende Herausforderungen der glieder dafür suchen würde. In letzter Zeit hat Frank- sicherheitspolitischen Entwicklung – sei es die ver- reich das auch versucht, vor allem mit Italien und änderte Rolle der USA oder die Machtambition der Spanien, doch wird sich die allgemeine Stimmung nur langfristig ändern lassen.

Das beschriebene Muster lässt sich auch bei vielen 21 »France-Turquie: ›Une réflexion est nécessaire sur ce anderen Dossiers beobachten, die das Bündnis oder qui est en train de se passer au sein de l’OTAN‹, prévient Florence Parly«, Public Senat, 18.6.2020, (Zugriff am mende Antwort auf den russischen Vorschlag von 18.12.2020); Thomas Gutschker/Michaela Wiegel, »Kurz vor Herbst 2019, nach dem Ende des INF-Vertrags ein Mora- dem Feuerbefehl«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (online), torium für atomare Mittelstreckenwaffen in Europa 3.7.2020, (Zugriff am 18.12.2020). 22 Günter Seufert, »Die Türkei provoziert ihre Nato-Part- 23 Z. B. Mariusz Błaszczak, »Europe’s Alliance with the ner«, in: Cicero (online), 22.10.2020, (Zugriff am 30.11.2020). alliance-foundation-security/> (Zugriff am 18.12.2020).

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auf Moskaus Offerte nicht reagieren wollten, unter- Situation weitgehend ausfallen. Aus französischer minierte Paris mit seinem Verhalten den Nato-Kon- Sicht haben Deutschland und Frankreich nach dem sens und hofierte Russland. Nach französischer Wahr- Brexit eine noch größere Verantwortung für Europa nehmung hingegen kommt man mit einer bloßen und insbesondere die EU. Damit gewinnt auch der Nichtreaktion in der Post-INF-Debatte nicht voran. Imperativ an Gewicht, die bekannten Konflikte im Europa müsse seine eigene Position formulieren, an- beiderseitigen Verhältnis zugunsten einer Weiter- statt sich auf Verhandlungen zwischen Moskau und entwicklung Europas zu überwinden. Die Anforde- Washington zu verlassen. Außerdem gilt in Paris der rungen an die bilateralen Beziehungen steigen also, Dialog mit der Nuklearmacht Russland als notwendig während die strukturellen und politischen Unter- für die europäische Sicherheit. schiede zwischen den beiden Staaten nicht abgenom- Das Muster zeigte sich auch im Zusammenhang men haben. mit dem Angebot, einen strategischen Dialog zur Vielmehr verstärkt sich in Frankreich der Eindruck, Rolle der französischen Nuklearwaffen für Europas dass sich die bilaterale Kooperation mit Deutschland Sicherheit zu führen, das Präsident Macron im Feb- schwierig gestaltet – von der Nato bis zum indust- ruar 2020 unterbreitete.24 Viele Bündnispartner re- riellen Bereich.26 Die deutsche Seite teilt zwar inhalt- agierten auf diese Einladung reserviert, weil sie damit lich viele der französischen Analysen, doch beanstan- die amerikanische Nuklearabschreckung für Europa det sie deren teils unilaterale Umsetzung und spricht in Frage gestellt sahen. Paris wiederum verstand seine ihnen eine geringere Dringlichkeit zu. Aus Pariser Offerte als Ausdruck von Engagement für die Sicher- Sicht funktioniert die deutsch-französische Zusammen- heit des Kontinents – betrachtet man es doch als arbeit oft nur leidlich. In sie zu investieren erscheint unerlässlich, gemeinsam über Europas zukünftige alternativlos, aber anstrengend und vielfach wenig Verteidigung und Souveränität nachzudenken. erfolgversprechend. Für Deutschland ist das selbstbewusste, teils dis- Für die Bundesrepublik ist Frankreich sicherlich ruptive, Alleingänge und Konflikte nicht scheuende ein unbequemer Partner, der hohe Anforderungen Auftreten Frankreichs schwierig. Auch wenn Berlin stellt. Gleichzeitig liegt es im deutschen Interesse, Prä- zahlreiche Pariser Einschätzungen teilt, etwa zur sident Macron – der auf die bilaterale Kooperation kritischen Rolle der Türkei, ist man irritiert über die setzt – zu stärken. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick Wahl der Mittel. Es ist jedoch davon auszugehen, auf die 2022 anstehende Präsidentschaftswahl, bei der dass die jetzigen Rahmenbedingungen fortbestehen wohl Marine Le Pen vom rechtsextremen Rassemble- werden, solange es nicht in einem der beiden Länder ment National gegen ihn antreten wird. Es kann nicht zu einem politischen Wechsel kommt.25 Eine Ände- um einen Blankoscheck für französische Forderungen rung des französischen Ansatzes würde eine Fehler- gehen. Wohl aber gilt es, hierzulande die eigenen analyse voraussetzen, die Paris allenfalls der Form Prioritäten klarer zu formulieren und ein Bewusstsein nach akzeptieren könnte, inhaltlich aber verwerfen dafür zu schaffen, dass die außenpolitischen Prob- würde. leme, die Paris mit der Bundesrepublik hat, in Frank- Gleichzeitig betonen Deutschland und Frankreich reich innenpolitische Folgen zeitigen – die auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und ihren Deutschland und Europa zurückwirken. Willen dazu. Für Paris bleibt die Bundesrepublik – über die Nato hinaus – ein Wunschpartner, aller- dings auch deshalb, weil Großbritannien und in gerin- gerem Maße Italien aufgrund ihrer innenpolitischen

24 Élysée, »Discours du Président Emmanuel Macron sur la strátegie de défense et de dissuasion devant les stagiaires de la 27ème promotion de l’École de guerre«, Paris, 7.2.2020, 26 Dominic Vogel, Future Combat Air System: Too Big To Fail, (Zugriff am 18.12.2020). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2020 25 Sollte es 2022 in Frankreich zu einem Machtwechsel (SWP-Aktuell 98/2020); Claudia Major/Christian Mölling, zugunsten des rechtsextremen Rassemblement National von »Europas Kampfflugzeug der Zukunft schmiert ab«, in: Marine Le Pen kommen, würden sich die Grundlagen der Frankfurter Allgemeine Zeitung (online), 30.9.2020, (Zugriff am 18.12.2020).

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Ronja Kempin Frankreich und die Türkei – Entfremdung und strategische Rivalität

Im Sommer 2020 sind die Unterschiede der deutschen den Völkermord an den Armeniern anerkannte und und französischen Türkeipolitik offen zutage getreten. wenig später immer mehr führende französische Nach der Unterzeichnung »inakzeptabler Vereinba- Politiker eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU rungen mit der libyschen Einheitsregierung, in denen ausschlossen.3 Seither hat Ankara sein Netzwerk an die legitimen Rechte Griechenlands negiert werden« Institutionen, Assoziationen und Medien in Frank- und den wiederum »inakzeptablen« Rohstoffexplora- reich massiv ausgeweitet. Die in Frankreich traditio- tionen türkischer Bohrschiffe vor der Küste Zyperns nell starken türkischen Vereinigungen säkularen Zu- kam Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am schnitts sind dort nahezu vollständig von Organisa- 10. September 2020 öffentlich zu dem Schluss, »dass tionen verdrängt worden, die in Schulen, Moscheen die Türkei kein Partner in dieser Region mehr« sei.1 und Vereinen die nationalistische und religiöse Agenda Entgegen der Forderung Frankreichs, einer als zuneh- der türkischen Regierungspartei AKP vertreten und mend aggressiv empfundenen türkischen Außen- vorantreiben. politik durch das Verhängen von Sanktionen und das Bereits im Februar 2020 hatte Präsident Macron Aufzeigen »roter Linien« Einhalt zu gebieten, setzte verlauten lassen, dass Frankreich der externen Beein- Berlin darauf, die Spannungen mit Ankara im Dialog flussung muslimischer Gläubiger auf seinem Hoheits- zu lösen.2 Im Gasstreit im östlichen Mittelmeer stellte gebiet Grenzen setzen werde.4 Am 2. Oktober 2020 sich Deutschland nicht eindeutig an die Seite Griechen- kündigte der Präsident an, dass die französische Regie- lands. rung ein Gesetz vorbereite, um gegen »Frankreichs Unter Präsident Emmanuel Macron spielen in Frank- Problem« vorzugehen: den »islamistischen Separatis- reichs Beziehungen zur Türkei zwei strukturelle Ver- mus«.5 Die »fünf Akte« des Gesetzesvorhabens be- änderungen der jüngeren Zeit eine gewichtige Rolle: die türkische Einflussnahme auf die muslimische 3 Vgl. dazu Assemblée Nationale, Onzième Législature, Diaspora in Frankreich und die neue Ordnung im östli- »Session Ordinaire de 2000–2001, janvier 2001, Proposition chen Mittelmeer. In dieser Region versucht Frankreich, de Loi relative à la reconnaissance du génocide arménien de sich gegenüber der Türkei Vorteile zu verschaffen. 1915«, Assemblée Nationale, Paris, 18.1.2001, ; »Pour ou contre l’adhésion de la Turquie à l’Union européenne«, in: Le Monde, Türkische Beeinflussung der Diaspora 8.11.2002, (Zugriff am 23.9.2020). Frankreichs Beziehungen zur Türkei sind belastet, seit 4 Élysée, Transcription du propos liminaire du Président de la die Nationalversammlung in Paris im Januar 2001 République lors du point-presse à Mulhouse, Mulhouse, 18.2.2020, 1 »La Turquie n’est plus un partenaire en Méditerranée (Zugriff am 29.9.2020). orientale, dit Macron«, Reuters, 10.9.2020, Macron ein »bewusstes, theoretisch untermauertes politisch- (Zugriff am 23.9.2020). religiöses Projekt, das durch wiederholte Abweichungen von 2 Auswärtiges Amt, »Rede von Außenminister Heiko Maas den Werten der Republik Gestalt annimmt, oft zur Heraus- anlässlich der Konferenz der Botschafterinnen und Botschaf- bildung einer Gegengesellschaft führt und sich in Schul- ter der Französischen Republik«, Paris, 31.8.2020, (Zugriff am 23.9.2020). Deckmantel für das Lehren von Prinzipien dienen, die nicht

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treffen auch die Türkei. Das »Gesetz zur Stärkung der insbesondere im Mittelmeer eine Vorrangstellung zu Werte der Republik« soll Frankreich die Kontrolle verschaffen. Hier entsteht nach dem Rückzug der über seine Schulen zurückbringen. Dazu wird das USA eine neue Ordnung. »Enseignement de langue et de culture d’origine étran- gère (Elco)« abgeschafft. 1977 hatte Frankreich mit Konflikt im östlichen Mittelmeer neun Staaten, darunter der Türkei, bilaterale Abkom- men geschlossen, die es diesen Ländern erlauben, Frankreich, das hat Präsident Macron im Sommer 2020 ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer nach Frankreich unterstrichen, versteht sich als Mittelmeermacht. zu entsenden, um Schülerinnen und Schüler in ihrer Mehr noch: Es reklamiert im Mittelmeer eine Vorreiter- Herkunftssprache und -kultur zu unterrichten. 80 000 rolle für sich. Es sei der einzige Anrainerstaat mit Kinder nehmen diese Angebote wahr; 14 000 von ihnen einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten solche in türkischer Sprache. Die staatliche Schul- Nationen (VN) und verfüge über die schlagkräftigsten aufsicht Frankreichs hat keine Kontrolle über die Unter- Streitkräfte im Mittelmeerraum. Seine »soft power« richtsinhalte. Nachdem die Bemühungen der franzö- in der Region speise sich aus den historischen Verbin- sischen Behörden, Einblick in das Elco zu erhalten dungen zu den politischen Eliten der Länder, die an und mehr Einfluss darauf zu nehmen, am Widerstand das Mittelmeer grenzen, sowie einem umfangreichen Ankaras gescheitert waren,6 wird dieses Arrangement Netzwerk diplomatischer, kultureller und schulischer nun ebenso beendet wie das System der »imams dé- Vertretungen. tachés«. Letzteres machte es möglich, dass Imame und In Frankreichs Sicherheits- und Verteidigungspoli- Prediger nach Frankreich kommen können, die in ihren tik nimmt das östliche Mittelmeer einen wichtigen Herkunftsländern ausgebildet und von deren Regie- Platz ein. Im Kampf gegen den internationalen Terro- rungen ernannt werden. Die Hälfte der 300 nach Frank- rismus greifen französische Kampfflugzeuge von Jor- reich abgeordneten Imame stammt aus der Türkei.7 danien aus Stellungen des »Islamischen Staates« (IS) Schließlich soll das »Gesetz zur Stärkung der Werte in Syrien und im Irak an. Die französische Regierung der Republik« einen Passus enthalten, der es Frank- unterstützt regionale Akteure, von denen sie glaubt, reich gestattet, die Finanzmittel zu kontrollieren, dass sie eine effektive Hilfe im Kampf gegen den isla- die muslimische Einrichtungen aus dem Ausland er- mistischen Terrorismus sind. In Syrien setzt sie auf halten.8 die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG). Die Türkei wiederum stuft die YPG als Terrororganisation ein und fügte ihr im Okto- Geopolitische Rivalität ber 2019 schwere Verluste zu, was Paris als »ernsthaf- ten Angriff auf [seine] Sicherheitsinteressen« wertete.9 Außenpolitisch versucht die Regierung Macrons, den Entscheidend für Frankreichs Auftreten im Mittel- Einfluss der Türkei zu begrenzen und Frankreich meerraum ist jedoch, dass in dessen östlicher Hälfte eine neue Ordnung im Entstehen ist. Der Rückzug der USA aus der Region eröffnet Paris die Möglichkeit, mit den Gesetzen der Republik übereinstimmen«, siehe dort nunmehr eigene Interessen zu verfolgen. Dabei Élysée, »Discours du Président de la République sur le thème sieht Frankreich in der Türkei seinen schärfsten Wider- de la lutte contre les séparatismes«, Les Mureaux, 2.10.2020, sacher. Ankara hat in den vergangenen Jahren massiv (Zugriff am vestiert. In ihrer Marinedoktrin »Blaue Heimat« er- 18.2.2021). hebt die Türkei den Anspruch, ihre maritimen Inter- 6 Darauf hatte Präsident Macron im Februar 2020 in seiner essen im Mittelmeer, in der Ägäis und im Schwarzen Rede in Mulhouse hingewiesen, siehe Élysée, Transcription du Meer zu schützen. Das östliche Mittelmeer bezeichnet propos liminaire du Président de la République [wie Fn. 4]. Ankara als »türkische See«.11 7 Piotr Smolar, »La France contre la Turquie, aux racines de l’affrontement«, in: Le Monde, 10.7.2020, (Zugriff am 29.9.2020). macht«, in: Le Monde Diplomatique, 9.5.2019, (Zugriff am 5.10.2020). thème de la lutte contre les séparatismes« [wie Fn. 5]. 11 Iyad Dakka, »Will either Macron or Erdogan Back down

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Frankreich arbeitet seinerseits darauf hin, Griechen- Eni hat der französische Energiekonzern Total Förder- land und Zypern an sich zu binden. Seit 2017 hat genehmigungen für Gasvorkommen in zypriotischen, die französische Marine eine Vielzahl gemeinsamer griechischen und libanesischen Küstengewässern er- Manöver mit den Seestreitkräften dieser beiden Staa- halten. Als Vollmitglied hat Paris seit März 2021 nun ten und mit anderen regionalen Partnern durchge- mehr Einfluss auf die Förderung, Vermarktung und führt. Mit Zypern hat Paris im April 2017 überdies ein den Transport des Gases. Das Gasforum verstärkt die Abkommen geschlossen, dem zufolge die Unterzeich- Lagerbildung im östlichen Mittelmeer: Der Türkei ner »die Zusammenarbeit zwischen den beiden Län- wird die Mitgliedschaft verwehrt.15 dern in den Bereichen Energie- und maritime Sicher- Frankreichs Einflussnahme in der Region zahlt sich heit, Frühwarnung und Krisenmanagement sowie im aus – zumindest in der Rüstungspolitik. Der griechi- Kampf gegen Terrorismus und Piraterie« intensivieren sche Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis gab im Sep- wollen.12 Im Mai 2019 hatten Paris und Nikosia be- tember 2020 bekannt, dass die griechische Luftwaffe reits vereinbart, dass französische Marineschiffe den 18 »Rafale«-Kampfflugzeuge von Frankreich kaufen zypriotischen Hafenstützpunkt Mari anlaufen und werde (6 neue und 12 gebrauchte).16 nutzen dürfen.13 Mit Athen traf die französische Regie- Frankreichs Bemühungen, die strategische Vorrang- rung im Januar 2020 eine Übereinkunft über gemein- stellung im (östlichen) Mittelmeer zu erringen, führt same See-, Luft- und Landoperationen.14 im Verhältnis mit Deutschland zu einer eklatanten Interessendifferenz: Während Paris die Türkei als stra- Frankreich versteht sich tegischen Rivalen betrachtet, sieht Berlin in Ankara als Mittelmeermacht. einen problematischen, aber unvermeidbaren Partner Die in diesem Raum neu entstehende und nicht zuletzt auch einen der wichtigsten Abneh- Ordnung möchte es mer deutscher Rüstungsgüter. zu seinem Vorteil gestalten. Wachsende Konkurrenz auf dem Darüber hinaus ist es Frankreich gelungen, Mit- afrikanischen Kontinent glied des »Gasforums Östliches Mittelmeer« zu wer- den. Im Januar 2020 hatte es um Aufnahme in diese Auch in Afrika beobachtet Paris die zunehmende junge regionale Organisation ersucht, der Ägypten, Einflussnahme der Türkei mit Sorge und Misstrauen. Israel, Griechenland, Zypern, Jordanien und die Paläs- Das gilt im Besonderen für Libyen, wo die französi- tinensische Autonomiebehörde angehören. Das Gas- sche Regierung lange General Haftar stützte.17 Sie forum hat sich zum Ziel gesetzt, den Energiebedarf hoffte, dass dessen Sieg über die international an- seiner Mitglieder zu decken, aber auch, das Gas der erkannte Einheitsregierung das Land stabilisieren Region zu wettbewerbsfähigen Preisen in die EU zu würde. Paris teilt die Vorbehalte Ägyptens und der exportieren. Gemeinsam mit der italienischen Firma Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die die Regie- rung in Tripolis unter starkem Einfluss der Muslim-

in the Eastern Mediterranean?«, in: World Politics Review, 9.9.2020, (Zugriff am 2.10.2020). Affairs, 10.7.2020, (Zugriff am 28.9.2020); tion en matière de défense«, France24.com, 6.8.2020, Dakka, »Will either Macron or Erdogan Back down?« [wie (Zugriff am 2.10.2020). französischen Hersteller Dassault Aviation 95 Kampfflugzeuge 13 Dakka, »Will either Macron or Erdogan Back down?« vom Typ »Mirage« gekauft, dem Vorgänger der »Rafale«, [wie Fn. 11]. vgl. entsprechend Piotr Smolar/Isabelle Chaperon, »La Grèce, 14 Marina Rafenberg, »Face aux tensions persistantes avec premier pays européen à acheter le Rafale«, in: Le Monde, la Turquie, la Grèce muscle sa défense militaire«, in: Le Monde, 13.9.2020, (Zugriff am 5.10.2020). athenes-muscle-sa-defense_6052433_3210.html> (Zugriff 17 Siehe den Beitrag von Wolfram Lacher zu Macrons am 5.10.2020). Libyenpolitik, S. 16ff.

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bruderschaft sehen. Frankreich wirft der Türkei vor, Gleichzeitig scheint Macron geneigt, mit Blick auf die Muslimbruderschaft als außenpolitisches Instru- die Präsidentschaftswahlen 2022 die Rhetorik und ment einzusetzen. Die offene militärische Intervention Methoden seines Amtsvorgängers Nikolas Sarkozy zu der Türkei zur Unterstützung der Einheitsregierung übernehmen. Um die rechtsextreme Partei Rassemble- hat im ersten Halbjahr den Verlauf des libyschen Bür- ment National (ehemals Front National) zu schwächen, gerkriegs umgekehrt. Mit Hilfe der Türkei ist es der hatte dieser ein hartes Vorgehen gegen den Islamis- Regierung in Tripolis gelungen, die von Frankreich, mus gepredigt. Sollte Macron diesen Weg weiter be- Ägypten, Russland und den VAE ausgestatteten Kräfte schreiten, bleibt wenig Raum für eine Entspannung der General Haftars aus dem Westen Libyens zu vertrei- Beziehungen zur Türkei. Dies hätte auch Auswirkun- ben. Die Türkei hat diese Machtverschiebung bereits gen auf Deutschland und die EU: Seit der türkische genutzt und in Libyen eine Luftwaffenpräsenz ein- Präsident Erdoğan im Herbst 2020 zum Boykott fran- gerichtet und mit der Regierung ein Wirtschafts- zösischer Produkte aufgerufen hat, droht Macron abkommen geschlossen. Darin wurden die Grund- damit, der avisierten Zollunion zwischen der EU und lagen für neue türkische Investitionen und eine Inten- der Türkei seine Zustimmung zu verweigern.20 sivierung des Handels gelegt. Ankara erhält darüber In der Außenpolitik ringen Frankreich und die hinaus die Erlaubnis, Bauprojekte durchzuführen, Türkei um die Hegemonie im Mittelmeer. Beide Sei- die während der Gaddafi-Ära vereinbart wurden.18 ten wollen den Abzug der USA zum eigenen Vorteil In Paris wird überdies registriert, dass die Türkei nutzen. Präsident Macron agiert hier in der Tradition mit Algerien im Januar 2020 eine strategische Partner- seiner Amtsvorgänger, wenn er für Frankreich eine schaft geschlossen hat. In Niger, aus dem Frankreich Vorrangstellung in der Region reklamiert. Um diese ein Drittel des Urans für seine Kernkraftwerke be- durchzusetzen und der Ausweitung des türkischen zieht, ist die Türkei in die Bergbauindustrie einge- Einflusses Einhalt zu gebieten, wird Frankreich künf- stiegen und bildet nigrische Soldaten aus.19 tig vermutlich noch enger mit Ägypten und den VAE zusammenarbeiten. Die französisch-türkische geopolitische Rivalität Schlussfolgerungen wird zudem weiter auf die Nato und in die EU aus- strahlen und das Binnenverhältnis beider Organisatio- Im Verlauf des Jahres 2020 verschlechterten sich nen empfindlich stören. Die Vielschichtigkeit des Frankreichs Beziehungen zur Türkei beständig. Die bilateralen Konflikts dürfte es den EU- und Nato-Part- wechselseitigen Beleidigungen der Präsidenten nern Frankreichs und der Türkei – allen voran Emmanuel Macron und Recep Tayyip Erdoğan nah- Deutschland – kaum möglich machen, einen Inter- men immer mehr an Schärfe zu. Frankreich reagiert essenausgleich herbeizuführen. Berlin muss sich also unter Präsident Macron auf zwei strukturelle Ver- auf einen schwierigen außen- und sicherheitspoliti- änderungen: Im Innern geht die Regierung in Paris schen Balanceakt einstellen. Dennoch sollte es nach gegen den Islamismus vor. Die von Macron angeord- vielen Jahren endlich den Dialog mit Frankreich zum neten Maßnahmen richten sich auch gegen die wach- Thema Türkei suchen. Ziel sollte es sein, jene Positio- sende Beeinflussung der muslimischen Bevölkerung nen zu stärken, bei denen es eine Übereinstimmung Frankreichs durch die Türkei. Mit seiner Ankündi- gibt, etwa die zur Einhaltung und Überwachung des gung eines »Gesetzes zur Stärkung der Werte der VN-Waffenembargos für Libyen. Republik« begeht er neue Wege: Keiner seiner Amts- vorgänger hat je für eine Minderheit ähnlich strenge Regeln festschreiben lassen.

18 Michaël Tanchum, »Turkey Advances in Africa against Franco-Emirati-Egyptian Entente«, The Turkey Analyst (online), 25.8.2020, (Zugriff am 9.11.2020, (Zugriff am 23.11.2020).

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Ronja Kempin Fazit

Deutschland und Frankreich ist es in den zurückliegen- Ähnlich positiv fällt der Befund für die Außen- den Jahren immer wieder gelungen, ihre bilaterale und Sicherheitspolitik sowie für Teile der Europa- Zusammenarbeit zu vertiefen und die Europäische politik indes nicht aus. Wie die vorliegende Studie Union zu stärken. Mit dem Vertrag von Aachen zeigt, konnte das Angebot des französischen Staats- kamen beide Seiten im Januar 2019 überein, »ihre chefs, eine »neue Partnerschaft« mit Deutschland bilateralen Beziehungen auf eine neue Stufe zu zu begründen, weder im Rahmen der Nato eingelöst heben«.1 In einer Videokonferenz erarbeiteten Staats- werden noch in den Beziehungen zu Russland und präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin der Türkei oder in Libyen. Auch die Verpflichtungen Angela Merkel am 18. Mai 2020 einen Vorschlag für gemäß Artikel 1 des Vertrags von Aachen sind bislang die wirtschaftliche Erholung Europas nach der Corona- nicht durchweg erfüllt worden. Demzufolge wollen Pandemie. Ein zentraler Baustein ihrer Initiative war sich beide Staaten »für eine wirksame und starke die Einrichtung eines Wiederaufbaufonds (Recovery Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« einset- Fund), den die Europäische Kommission am 27. Mai zen und die Wirtschafts- und Währungsunion »stärken in ihren Wiederaufbauplan aufgenommen hat und und vertiefen«.4 Die Hauptursache für diesen Befund dem die übrigen EU-Mitgliedstaaten am 21. Juli 2020 liegt darin, dass Deutschland und Frankreich auf struk- zugestimmt haben.2 Darüber hinaus hatten Deutsch- turelle Veränderungen in der internationalen Politik land und Frankreich Ende Dezember 2020 großen unterschiedlich reagiert haben. Anteil daran, dass sich die EU und China nach sieben Die Fallstudien haben dargelegt, dass Emmanuel Jahren Verhandlungen auf ein neues Investitions- Macron seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 2017 die abkommen geeinigt haben. Berlin und Paris hatten Grundannahmen der französischen Sicherheits- und sich abgesprochen, dass das EU–China-Abkommen Verteidigungspolitik geändert hat. Bereits 2013 hatte unter der deutschen Ratspräsidentschaft vereinbart das französische Verteidigungsweißbuch bestimmte und 2022 während der französischen Ratspräsident- Entwicklungen in den internationalen Beziehungen schaft ratifiziert werden soll.3 vorhergesagt: den Rückzug der USA aus Europa, das Erstarken Chinas, eine Zunahme regionaler Konflikte, die wachsende Bedeutung der künstlichen Intelligenz 1 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Fran- und die Frage der Dominanz im Cyberraum, schließ- zösischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit lich das Fortbestehen des internationalen Terrorismus, und Integration, Aachen, 22.1.2019, S. 2, (Zugriff am 10.1.2021). 2 Die Bundesregierung, »›Eine außergewöhnliche, einma- et de sécurité nationale erkennt an, dass diese Verände- lige Kraftanstrengung‹, Fragen und Antworten zur deutsch- rungen sehr viel schneller und umfassender einge- französischen Initiative«, 27.5.2020, (Zugriff am 10.1.2021); Peter Becker, Nach ausgemacht, dass die USA unter Präsident Donald dem EU-Gipfel: Historische Integrationsschritte unter Zeitdruck, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 23.7.2020 (Kurz gesagt), china-investment-deal-angela-merkel-pushes-finish-line- (Zugriff am 10.1.2021). despite-criticism/> (Zugriff am 10.1.2021). 3 Hans von der Burchard, »Merkel Pushes EU-China 4 Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Investment Deal over the Finish Line Despite Criticism«, Integration [wie Fn. 1], Artikel 1, S. 4.

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Trump ihren europäischen Partnern ihre Solidarität Beleg für den neuen Pariser Pragmatismus. Somit zu einem Zeitpunkt verweigert haben, in dem Frank- misst Paris den strukturellen Veränderungen in den reichs eigener Handlungsfähigkeit immer engere internationalen Beziehungen einen hohen Stellen- Grenzen gesetzt sind.5 Weil Frankreich künftig nur wert bei und sieht sich einem starken Anpassungs- in und mittels Europa international gestaltungsfähig druck ausgesetzt. Die deutsche Außen-, Sicherheits- bleibe, müsse Europa in die Lage versetzt werden, und Europapolitik hingegen hält weitestgehend am sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Andern- Status quo fest. Berlin zielt nach wie vor darauf ab, falls werde es zur »Verhandlungsmasse« der Groß- die Nato und die GSVP als grundlegende Organisatio- mächte USA und China. nen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik weiter- Diese Analyse der internationalen Beziehungen zuentwickeln. Ferner ist es bemüht, die Beziehungen und des eigenen Handlungsspielraums veranlasste zu den Großmächten USA und China sowie zu den den französischen Präsidenten 2019 dazu, die Bot- Regionalmächten Russland und Türkei zu strukturie- schafterinnen und Botschafter seines Landes aufzu- ren, und zwar über einen Interessenausgleich inner- rufen, über Frankreichs Verhältnis zu Russland neu halb der EU und der Nato. Vor diesem Hintergrund ist nachzudenken.6 Wenig später konstatierte er, die ein deutsch-französischer Interessenausgleich in der Nato sei »hirntot« – zu zentralen Themen der euro- Außen- und Sicherheitspolitik immer schwieriger päischen Sicherheit sei sie nicht sprechfähig; überdies zu finden. hindere sie die Alliierten USA und Türkei nicht dar- Mit diesem Ergebnis schließt die vorliegende Studie an, in Syrien eine Politik zu betreiben, die die Sicher- eine gewichtige Forschungslücke. Während die Motive heit ihrer Partner bedrohe.7 der Europapolitik Emmanuel Macrons bereits erforscht Dass Frankreich in der Sicherheits- und Verteidi- sind,8 fehlte eine entsprechende Analyse seiner Außen- gungspolitik stärker als zuvor auf Partner angewiesen sein würde, zeigte sich bereits in der Folge der Terror- anschläge von Paris 2015. Der Kampf gegen den inter- 8 Für die Europapolitik hat etwa Joachim Schild heraus- nationalen Terrorismus im eigenen Land sowie in gearbeitet, dass Emmanuel Macron auf die zunehmende EU- Skepsis im eigenen Land reagiert. Im ersten Durchgang Afrika und dem Nahen Osten hinterließ bei den fran- der Präsidentschaftswahlen 2017 gaben 40 Prozent der zösischen Streitkräften personell und finanziell gra- Wählerinnen und Wähler ihre Stimme Marine Le Pen und vierende Spuren. Die Revue stratégique de défense et de ihrem rechtsextremen Front National (seit 1. Juni 2018 sécurité nationale kam 2017 zu dem Ergebnis, Frank- Rassemblement National) oder dem Kandidaten der links- reich sollte in Zukunft pragmatischer und flexibler radikalen Bewegung La France Insoumise (»das nicht unter- agieren und ein Vorgehen in minilateralen Formaten worfene Frankreich«), Jean-Luc Mélenchon. Beide hatten zu seinem sicherheits- und verteidigungspolitischen angekündigt, Frankreich aus der EU herausführen zu Leitmotiv erklären. Schon unter Macrons Amtsvor- wollen. Emmanuel Macron teilt die Skepsis seiner Lands- gänger hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass leute, wonach die EU ihre wichtigsten Versprechen nicht die europäischen Partner mehrheitlich desinteressiert länger einlöse: für Frieden, Wohlstand und Freiheit einzu- auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforde- stehen. Ganz im Sinne der Französinnen und Franzosen rungen reagierten und es nicht als dringlich empfän- beschreibt Macron »die Union als ein in bürokratischen Routinen, komplexen Verfahren und übermäßig kleinteili- den, ihnen zu begegnen. gen Interventionen unter Missachtung des Subsidiaritäts- Unter Präsident Macron nun relativiert Frankreich prinzips erstarrtes Gebilde ohne Realitätsbezug und ohne die Bedeutung der Europäischen Union als Bezugs- politische Vision. Folgerichtig zieht sich durch sein Pro- rahmen seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik. gramm der Anspruch, ganz in der Tradition französischer Stattdessen setzt es zunehmend auf den Bezugsrahmen Europapolitik, die Union durch ein neues, wertebasiertes »Europa«, in dem und über den es seinen Einfluss in politisches Projekt jenseits eines reinen Markteuropas wieder- diesem Politikfeld geltend machen will. Dies ist ein zubeleben.« Im Unterschied zu Le Pen und Mélenchon wählt Macron indes nicht den souveränistischen Rückzug auf den Nationalstaat. Vielmehr setzt er auf die geteilte Souveränität 5 Siehe den Beitrag von Claudia Major zur französischen im Rahmen der EU. Bereits 2016 hatte Macron ausgeführt, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, S. 11ff. dass »souverän zu sein heiße, effektiv handeln zu können, 6 Siehe den Beitrag von Susan Stewart zu Macrons Russ- was auf nationalstaatlicher Ebene in zentralen Politikfeldern landpolitik, S. 32ff. nicht mehr möglich sei«. Vgl. dazu Joachim Schild, »Franzö- 7 Siehe den Beitrag von Claudia Major zu Frankreichs Nato- sische Europapolitik unter Emmanuel Macron. Ambitionen, Politik, S. 37ff. Strategien, Erfolgsbedingungen«, in: Integration, 40 (2017) 3,

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und Sicherheitspolitik. Darüber hinaus konnten in strategischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs der Studie sechs weitere Gründe identifiziert werden, wie in den politischen Systemen beider Länder eine die im Laufe der Präsidentschaft Macrons in entschei- maßgebliche Rolle spielen. Je ausgeprägter der An- denden Fragen der Außen-, Sicherheits- und Europa- spruch eines französischen Präsidenten ist, Einfluss politik immer wieder zu Irritationen zwischen Berlin auf die internationalen Beziehungen auszuüben und und Paris geführt haben. den Anspruch seines Landes auf Größe und Rang Der erste Grund ist schon thematisiert worden: einzulösen, desto weniger gelingt es Berlin und Paris, Paris verspürt, anders als Berlin, in vielen Politik- sich abzusprechen und einen bilateralen Interessen- bereichen eine besondere Dringlichkeit zu handeln. ausgleich zu befördern. Dass Emmanuel Macron da- Dieser Unterschied erklärt, warum sich das deutsch- nach strebt, Frankreichs internationales Ansehen und französische Verhältnis unter Macron selbst in den internationale Stellung zu verbessern, hat er mehr- Themenfeldern verschlechtert hat, in denen die kon- fach unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, zeptionellen Unterschiede zwischen beiden Partnern sowohl im Präsidentschaftswahlkampf als auch zu gemeinhin bekannt sind. Das gilt etwa mit Blick Beginn seiner Präsidentschaft. auf die Nato und die Frage der Ausgestaltung der Für die Europäische Union hat er bereits 2016 in transatlantischen Sicherheitsbeziehungen, aber seinem Buch Révolution,11 einer Blaupause seines Wahl- ebenso für die Wirtschafts- und Währungspolitik.9 programms, die »Neugründung« angemahnt. Als Vor- Seinem sicherheits- und verteidigungspolitischen bedingung für seine ehrgeizigen Reformpläne, die Anspruch, weltweit Krisen und Konflikte durch den im September 2017 in der »Initiative für Europa«12 Einsatz seiner militärischen Fähigkeiten zu beenden, gipfelten, hatte Macron ausgemacht, das deutsche Miss- kann Frankreich immer weniger gerecht werden, trauen gegen Frankreich abbauen zu müssen. Wenige da seine eigenen Fähigkeiten begrenzt sind. Folglich Tage nach seiner Wahl zum französischen Staats- ist Paris abhängig von Partnern, die sein Anliegen präsidenten bekundete er im Gespräch mit internatio- teilen und geneigt sind, einen gemeinsamen opera- nalen Journalisten, Frankreich könne nur »Antriebs- tiven Ansatz zu suchen. Bestrebungen, die zuvorderst motor« Europas sein, wenn es seine Wirtschaft und integrationspolitisch und inklusiv wirken sollen Gesellschaft voranbringe. Weil Frankreichs »Glaub- (z. B. die PESCO), werden diesem Kernanliegen nach- würdigkeit, unsere Effizienz, unsere Stärke« auf dem geordnet oder durch Formate ergänzt, die Frankreich Spiel stünden, werde er unabdingbare Reformen in nutzbringend erscheinen (z. B. die EI2).10 In der Wirt- Angriff nehmen, auf die nicht zuletzt Berlin lange schafts- und Währungsunion ist Frankreich eines der gewartet habe.13 am stärksten von der globalen Covid-19-Pandemie Mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungs- betroffenen Länder. Vor allem die massiv gestiegene politik seines Landes hat Macron im Februar 2017 in Arbeitslosigkeit lastet auf Präsident Macron. Der einem Interview mit einer Fachzeitschrift unterstri- deutsch-französische Vorschlag einer Aufbau- und chen, dass Frankreichs strategisches Umfeld komplex Resilienzfähigkeit verschafft ihm nicht die Atempause, und instabil sei, während seine Streitkräfte sich mit die nötig wäre, damit Wirtschaft und Arbeitsmarkt enormen Mängeln konfrontiert sähen. Er sagte: seines Landes noch vor den Präsidentschaftswahlen 2022 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. »Ob es nun um die Aufrechterhaltung der Einsatz- Entsprechend wird Macron in der Sicherheits- und bereitschaft, die Erneuerung der Ausrüstung oder Verteidigungspolitik sowie in der Wirtschafts- und die Ausbildung geht, es liegt in unserer Verant- Währungspolitik ein für Deutschland unbequemer wortung, schnell die Investitionen zu tätigen, die Partner bleiben. Gemeinsam werden bestenfalls tem- unsere Armeen in die Lage versetzen, sich zu be- poräre (Kompromiss-)Lösungen zu erzielen sein. Zweitens kommen nahezu alle Einzelbeiträge der 11 Macron, Révolution [wie Fn. 8], das Europa-Kapitel Studie zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede in den (S. 221ff) trägt den Titel »Refonder l’Europe«. 12 Französische Botschaft in Berlin, »Initiative für Euro- pa – Die Rede von Staatspräsident Macron im Wortlaut«, S. 177–192 (182), sowie Emmanuel Macron, Révolution. C’est Universität Sorbonne, Paris, 26.9.2017, (Zugriff am 18.5.2020). gegenüber der Eurozone, S. 27ff. 13 Christian Wernicke, »Der Anfang einer Renaissance«, 10 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zur GSVP, S. 21ff. in: Süddeutsche Zeitung, 22.6.2017, S. 2.

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haupten. Ich werde daher die Umsetzung des Ver- Vorgehen zur Last gelegt werden: Weder war in Berlin teidigungshaushalts genau beobachten und un- bekannt, dass er im Juli 2017 den libyschen General mittelbar nach den Wahlen eine strategische Über- Haftar empfangen und damit international hoffähig prüfung [revue stratégique] einleiten, die es ermög- machen würde, noch war die Bundesrepublik infor- licht, in sehr kurzer Zeit – nicht mehr als ein paar miert über die Neuausrichtung der französischen Monate – Prioritäten für neue Rüstungsprogramme, Russlandpolitik. Frankreichs neuer Kurs in Bezug auf die Instandhaltung von Ausrüstung und für Perso- Russland, den Macron im August 2019 eingeleitet hat, nalausgaben zu setzen.«14 speist sich aus nachvollziehbaren geostrategischen Überlegungen. Mit der Revue stratégique de défense et de sécurité natio- Die Neuausrichtung der französischen Russland- nale bekennt Macron sich zu einem starken Frank- politik weist jedoch auch darauf hin, dass – viertens – reich, das »Herr seines Schicksals« ist und »Antworten die deutsch-französischen Beziehungen daran kranken, auf die großen Krisen der Gegenwart geben, seine dass (insbesondere wenig erfolgreiche) Politikansätze Werte fördern und seine Interessen durchsetzen des Partnerlandes nicht kritisch reflektiert werden. [kann]«.15 Der Russland-Ansatz Macrons liegt sehr nah an dem, In dieser Studie konnte vor allem für die Türkei- den die deutsche Politik vor 2014 verfolgt hat. Dieser politik Frankreichs herausgearbeitet werden, wie sich gilt mittlerweile aber als weitgehend gescheitert, selbst das Streben seines Präsidenten nach Wiederherstel- wenn bislang kein vollständiger Ersatz ausgearbeitet lung von Größe und Rang seines Landes praktisch wurde. Mit der Türkeipolitik Frankreichs verhält es auswirkt.16 Weil sich die USA aus Europa und dem sich ähnlich: Seit Sommer 2020 hat sie eine Zuspit- Nahen und Mittleren Osten zurückziehen und sich zung erfahren, unter anderem wegen der türkischen europäische Staaten offenbar kaum für die Heraus- Versuche, die französische Innenpolitik zu beeinflus- forderungen dieser Region interessieren, hat sich ein sen. Der jüngste Entwurf des »Gesetzes zur Stärkung geostrategisches Vakuum gebildet. Dieses wisse die der Werte der Republik« lässt nicht erkennen – Regionalmacht Türkei zu ihrem Vorteil zu nutzen, ungeachtet der Unterschiede etwa in den Bildungs- ist Macron überzeugt. Also tritt er der türkischen systemen beider Länder –, dass die Erfahrungen Außenpolitik seit dem Sommer 2020 entschieden ent- reflektiert worden wären, die Deutschland mit Blick gegen. Allerdings verteidigt Paris gleichzeitig gegen auf die türkische Einflussnahme auf die hier lebende Ankara seine eigene Vorrangstellung im Nahen Osten Diaspora gesammelt hat. und in (Nord-)Afrika. Fünftens hat der bisweilen disruptive Politikansatz Drittens: Französische Präsidenten mit einem be- Emmanuel Macrons nicht dazu beigetragen, die bila- sonderen Sendungsbewusstsein neigen zu nationalen teralen Beziehungen auf eine uneingeschränkt ver- Alleingängen in der Außen- und Europapolitik sowie trauensvolle Grundlage zu stellen. Aus Sicht des fran- dazu, nationales Interesse mit Nachdruck umzuset- zösischen Präsidenten scheint dieser Politikstil indes zen – so auch Emmanuel Macron. Kritisierte Paris in angemessen. Er dient ihm vorrangig dazu, das Bewusst- den vergangenen Jahren Deutschland für seine eigen- sein seiner europäischen Partner – Deutschland vorne- mächtige Entscheidung, aus der Atomenergie auszu- weg – für europäische und internationale Heraus- steigen und am Projekt Nord Stream 2 festzuhalten, forderungen zu schärfen. kann nunmehr ebenso Präsident Macron unilaterales Sechstens ist einer Verbesserung des bilateralen Ver- hältnisses wenig zuträglich, dass sich Deutschland lange Zeit kaum für Libyen interessiert hat – ob- 14 Joseph Henrotin, »Présidentielle 2017 – Défense: Les gleich das libysche Dossier für den französischen Part- réponses d’Emmanuel Macron«, 17.4.2017, (Zugriff am 14.12.2020). hätte man eine Internationalisierung des Konflikts 15 »Préface du Président de la République«, in: Ministère möglicherweise verhindern können. Ende 2020 zum des Armées, Revue stratégique de défense et de sécurité nationale 2017, Paris, Oktober 2017, S. 5–7 (6), Versuch eines deutschen Patrouillenbootes, ein des (Zugriff am 1.3.2021). Waffenschmuggels nach Libyen verdächtiges türki- 16 Siehe den Beitrag von Ronja Kempin zu Frankreichs sches Schiff zu kontrollieren, wie sie es im Sommer Türkeipolitik, S. 44ff. 2020 gegenüber Frankreich getan hatte. Besonders

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schwerwiegend ist mangelndes Interesse des Partners, gleich zum Ziel haben; überdies kann sie konkrete wenn dadurch Dritte begünstigt werden: Frankreichs Schritte für eine gemeinsame Bewältigung von enge Rüstungskooperation mit den Vereinigten Arabi- Krisen und Konflikten benennen. In diesem Zu- schen Emiraten beeinflusst seine Türkei- wie seine schnitt könnte der DFVSR einen ersten Meilenstein Libyenpolitik in zunehmendem Maße. In Libyen etwa auf dem Weg zu einem Europäischen Sicherheits- vertritt Paris heute die Interessen der VAE stärker als rat markieren. Paris und Berlin befürworten dessen diejenigen der EU.17 Einrichtung. Daher sollten sie regelmäßig und früh- zeitig europäische Partner in ihre deutsch-franzö- Aus den oben dargestellten Ergebnissen leitet diese sische Agenda einbinden. Die Tätigkeit des DFVSR Studie zwei Empfehlungen für die künftige deutsch- könnte ergänzt werden durch regelmäßig statt- französische Zusammenarbeit in der Außen-, Sicher- findende themenspezifische Formate auf Arbeits- heits- und Europapolitik ab: ebene, die »lessons learned« und »best practices« 1) Deutschland und Frankreich gelingt es noch im- erstellen, beispielsweise für den Umgang mit Russ- mer zu selten, die internationale Politik und ihre land oder für das internationale Krisenmanagement. Konfliktfelder sowie die vorrangigen Interessen 2) Im Vertrag von Aachen haben Berlin und Paris im beider Länder in den einzelnen Dossiers umfassend Januar 2019 Folgendes beschlossen: »Beide Staaten zu betrachten. Infolge des Vertrags von Aachen vertiefen ihre Zusammenarbeit in Angelegenheiten haben Berlin und Paris viele neue Formate einge- der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren führt. Zu nennen sind etwa die Klausurtreffen der und inneren Sicherheit und der Entwicklung und Staatssekretäre und die der Europaabteilungen wirken zugleich auf eine Stärkung der Fähigkeit des französischen Außenministeriums und des Europas hin, eigenständig zu handeln.« Darüber hin- Auswärtigen Amtes. Dabei gilt gerade für die Staats- aus verpflichten sie sich dazu, »gemeinsame Stand- sekretärsrunden wie auch für die Treffen des punkte bei allen wichtigen Entscheidungen festzu- Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicher- legen, die ihre gemeinsamen Interessen berühren, heitsrates (DFVSR), dass deren Agenden stark an und, wann immer möglich, gemeinsam zu han- den persönlichen Interessen der Teilnehmenden deln«.18 Weder im Élysée-Vertrag von 1963 noch im ausgerichtet sind. Vertrag von Aachen gibt es Hinweise darauf, wie Um den bilateralen Austausch nicht auf Einzel- ein Verstoß gegen diese Verpflichtungen zu bewer- themen zu begrenzen, sollten Berlin und Paris in ten ist. diesen hochrangigen Runden die Informations- Solange Fehlverhalten nicht geahndet wird, werden produkte der Single Intelligence Analysis Capacity nationale Alleingänge in bedeutsamen Fragen der inter- (SIAC) der EU als Grundlage nehmen, wenn sie nationalen und europäischen Politik die deutsch-fran- sich mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen zösischen Beziehungen weiter schwächen; dieselbe befassen. Die SIAC ist Teil der Krisenmanagement- Auswirkung hat Desinteresse für außen-, sicherheits- strukturen des Europäischen Auswärtigen Dienstes und europapolitische Druckpunkte des Partners. Es (EAD). Sie wertet von den nationalen Nachrichten- wäre wegweisend, wenn die seit März 2019 bestehende diensten aufbereitetes Material aus und ergänzt es Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung um Erkenntnisse aus frei zugänglichen Quellen. aktiv werden und die Exekutiven beider Länder zur Diese Berichte zur internationalen Sicherheit behan- Vertragserfüllung anhalten würde – ist sie doch qua deln sowohl zivile als auch militärische Aspekte und Deutsch-Französischem Parlamentsabkommen dafür stehen den EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung. zuständig, über die Anwendung der Bestimmungen Eine solche Vorgehensweise böte eine Gesamtschau des Élysée-Vertrags und des Vertrags von Aachen zu der internationalen Gemengelage. Deutschland und wachen.19 Frankreich sollten ihre jeweilige Betroffenheit sowie die beiderseitigen Interessen besprechen und auf dieser Basis eine gemeinsame Agenda erarbeiten. 18 Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Diese kann die Formulierung gemeinsamer Positio- Integration [wie Fn. 1], Artikel 3, S. 5. nen ebenso wie einen bilateralen Interessenaus- 19 Deutscher Bundestag/Assemblée Nationale, Deutsch-Fran- zösisches Parlamentsabkommen, Paris, 25.3.2019, Artikel 6, S. 2, Libyenpolitik, S. 16ff. (Zugriff am 11.1.2021).

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Anhang

Abkürzungen

AFP Agence France-Presse SIAC Single Intelligence Analysis Capacity AKP Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und UAE United Arab Emirates Entwicklungspartei; Türkei) UE Union européenne BIP Bruttoinlandsprodukt VAE Vereinigte Arabische Emirate BPA Presse- und Informationsamt der Bundesregierung VN Vereinte Nationen CARD Coordinated Annual Review on Defence (Koordi- WWU Wirtschafts- und Währungsunion nierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung) YPG Yekîneyên Parastina Gel (kurdische Volks- CDP Capability Development Plan (EU-Fähigkeits- verteidigungseinheiten) entwicklungsplan) CER Centre for European Reform DFVSR Deutsch-Französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat DGAP Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (Berlin) EAD Europäischer Auswärtiger Dienst ECFR European Council on Foreign Relations EDA European Defence Agency (Europäische Verteidigungsagentur) eFP Enhanced Forward Presence (Nato-Vornepräsenz) EI2 Europäische Interventionsinitiative Elco Enseignement de langue et de culture d’origine étrangère ERM Exchange Rate Mechanism EU Europäische Union EVF Europäischer Verteidigungsfonds EZB Europäische Zentralbank G7 Gruppe der Sieben (die sieben führenden westlichen Industriestaaten) G8 Gruppe der Acht (die sieben führenden westlichen Industriestaaten + Russland) GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GSVP Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik IISS The International Institute for Strategic Studies (London) INF Intermediate-Range Nuclear Forces INSEE Institut national de la statistique et des études économiques IPG Internationale Politik und Gesellschaft IS »Islamischer Staat« MSC Munich Security Conference Nato Nordatlantische Vertragsgemeinschaft NIP Nationale Implementierungspläne OECD Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) OTAN Organisation du Traité de l’Atlantique Nord PESCO Permanent Structured Cooperation (Ständige Struk- turierte Zusammenarbeit) RFI Radio France Internationale RUSI Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (London)

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Literaturhinweise Die Autorinnen und Autoren

Markus Kaim / Ronja Kempin Dr. Ronja Kempin Strategische Autonomie Europas: Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa Das deutsch-französische Missverständnis Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Dr. Wolfram Lacher 30.11.2020 (Kurz gesagt) Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika Ronja Kempin / Dominik Rehbaum Emmanuel Macrons »neuer Weg«. Dr. Claudia Major Weichenstellungen für eine Wiederwahl 2022 Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2020 (SWP-Aktuell 67/2020) Dr. Susan Stewart Leiterin (a. i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Ronja Kempin / Paweł Tokarski Eurasien Macron, die Gelbwesten und die nationale Debatte. Spiel auf Zeit statt Weg aus der Legitimitätskrise Dr. Paweł Tokarski der Politik Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2019 (SWP-Aktuell 13/2019)

Wolfram Lacher Unser schwieriger Partner. Deutschlands und Frankreichs erfolgloses Engagement in Libyen und Mali Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Februar 2021 (SWP-Studie 3/2021)

Claudia Major Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung. Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2019 (SWP-Studie 25/2019)

Susan Stewart Eine robustere Russlandpolitik für die EU. Wie Koalitionen von Mitgliedstaaten dazu beitragen könnten Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2020 (SWP-Aktuell 96/2020)

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