Das Phantastische im Drama Heinrich von Kleists Eine ambivalente Sichtweise in der ambivalenten Zeit

Inaugural-Dissertation

zur

Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie

in der

Fakultät für Philologie

der

RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

vorgelegt

von

I-Tsun Wan

Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum

Referent: Prof. Dr. Benedikt Jeßing

Korreferent: Prof. Dr. Armin Schäfer

Tag der mündlichen Prüfung: 29. Mai 2017

Ich versichere an Eides statt, dass ich die eingereichte Dissertation selbstständig und oh- neunzulässige fremde Hilfe verfasst, andere als die in ihr angegebene Literatur nicht be- nutzt und dass ich alle ganz oder annähernd übernommenen Textstellen sowie verwendete Grafiken, Tabellen und Auswertungsprogramme kenntlich gemacht habe. Außerdem ver- sichere ich, dass die vorgelegte elektronische mit der schriftlichen Version der Dissertation übereinstimmt und die Abhandlung in dieser oder ähnlicher Form noch nicht anderweitig als Promotionsleistung vorgelegt und bewertet wurde.

1

INHALT

Nachwort, welches aus Absicht des Verfassers zu einem Vorwort gemacht worden ist...... 3 0. Einleitung ...... 5 Erster Teil: θεωρία ...... 11 I. Das Phantastische: Eine ambivalente Sichtweise ...... 11 II. Der historische Kontext: Eine ambivalente Zeit ...... 25 II.1. Die ohnmächtige Vernunft ...... 27 II.2. Der Tod und der »Geister-Komplex« der Aufklärung ...... 36 II.3. Die andere Vernunft ...... 43 III. Fazit: Das Phantastische als ästhetische Sichtweise ...... 53 Zweiter Teil: Ecce Homo ...... 61 IV. Kleist im Spannungsfeld – Ein Paradigma ...... 61 IV.1. Die erste Mauer: Konvention derer von Kleist ...... 63 IV.2. Die zweite Mauer: Ein brauchbarer (Ehe-)Mann ...... 70 IV.3. Die dritte Mauer: Selbstimage ...... 83 V. Fazit und Annäherung: Lieber eine Marionette im Theater zu sein ...... 103 Dritter Teil: Interpretation ...... 115 VI. Drama ...... 115 VI.1. Die Familie Schroffenstein ...... 115 VI.2. Robert Guiskard ...... 136 VI.3. Der zerbrochne Krug ...... 147 VI.4. Amphitryon ...... 169 VI.5. ...... 195 VI.6. Das Käthchen von Heilbronn ...... 227 VI.7. Die Hermannsschlacht ...... 245 VI.8. Prinz Friedrich von Homburg ...... 262 VII. Zusammenfassung ...... 283 Lebenslauf ...... 285 Siglenverzeichnis ...... 286 Bibliographie ...... 288 (1) Quellenangabe ...... 288 (2) Forschungsliteratur ...... 290

2

3

Nachwort,

welches aus Absicht des Verfassers zu einem Vorwort gemacht worden ist.

Kleist hat einst gefragt: »Was wissen Asien, und Afrika und Amerika von unsern Genien?«1 Was er damals nicht ahnen konnte, ist, dass sein Werk auch in Asien gelesen und geliebt wird – zumindest von mir, der in diesem Moment am Nachwort für seine Dissertation über den Dichter arbeitet, welches er hier aber zum Vorwort umfunktioniert hat, um seinen Leser nach der 300-seitigen Lektüre nicht noch mit seinem Geschwätz aufzuhalten resp. zu belästigen. Bei denjenigen, die dieses Nach- bzw. Vorwort nicht überblättern, bedankt sich der Verfasser ganz herzlich für ihr Wohlwollen. Er dankt nicht zuletzt all jenen Lesern, die sich von seinem exotischen Namen, auf dem Umschlag einer Dissertation im Fach Germanistik, nicht im Ge- ringsten gestört fühlen. Nichtsdestoweniger ist der Verfasser, also ich, denjenigen sehr dankbar, die die vorliegende Arbeit stets unterstützt und mich dazu ermutigt haben. Der Dank gilt vor allem meinen Dok- torvätern Herrn Prof. Dr. Gerhard Plumpe und Herrn Prof. Dr. Benedikt Jeßing. Beim Herrn Prof. Dr. Armin Schäfer bedanke ich mich für seine freundliche Kritik. Herrn Prof. Dr. Ralph Köhnen und Herrn PD Dr. Peter Goßens bin ich für Ihre Fragestellungen in der Disputation sehr dankbar. Dank schulde ich dem Deutschen Akademischen Austausch-Dienst (DAAD) für seine vieljährige finanzielle Unterstützung, ohne die ich in Deutschland überhaupt nicht auskommen kann. Ich danke auch Herrn Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh für seine großzügige Unter- stützung, die mich aus dem Notfall gerettet hat. Und allen, die mir die Daumen oder irgendei- nen Figer gedrückt haben, bin ich in jedem Fall zu Dank verpflicht.

Für alle Fehler, die sich gegebenfalls in der vorliegenden Arbeit vorfinden, bin ich allein ver- antwortlich.

Bochum, den 10. Oktober 2016or allem als ... der Entfaltung des jeweiligen Geschichte dient. Dementsprechend ... das Phantastische als ästhetische Sichtweise den An- spruch auf ... Die Frage ist, wer über solche ethos... verfügen kann und will? Was und wie ist in Hinsicht auf... im Kleist zu verstehen? ... Die vorliegende Disserta- tion... Der Verfasser, also der ich, der am Ende der Arbeit noch einen Blick auf den langen Weg zurückwerfe, möchte mich vor allem beim Herrn Prof. Dr. Gerhard Plumpe für seine Betreuung, Ermutigung, ... bedanken. Herrn Prof. Dr. Benedikt

1 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801, SWB II, S. 684. 4

5 Einleitung

0. Einleitung

Dem Werk von (1777-1811) ist eigen, dass die Protagonisten – in den Dramen wie auch in den Erzählungen – nicht in der Lage sind, das Geschehen, insbesondere das, was ihnen geschieht, richtig zu beurteilen, und dass sich aus diesem Umstand stets die fatalsten Konsequenzen ergeben, die im krassen Gegensatz stehen zu ihrem eigentlichen An- liegen, nämlich glücklich zu sein. Diesbezüglich fällt auf, dass die Kleist’schen Protagonisten, gleich ob sie sich antik oder modern ausnehmen, mehr oder weniger durch die Aufklärung (im weiteren Sinne) geprägt sind oder die Selbst-Aufklärung anstreben. So versuchen sie, selbst- ständig zu denken, zu handeln und zu sein und sich überhaupt aus der Konvention bzw. dem Gegebenen oder dem diese Konvention Gebenden zu emanzipieren, um sich einen eigenen Spielraum gegen die vorgeschriebene Orientierung zu verschaffen. Trotz ihres Anspruchs auf Autonomie bleiben sie dem Gegebenen oder dem Gebenden gegenüber paradoxerweise stets heteronom. Aber dies lässt sich weniger auf die Konvention zurückführen, sondern ergibt sich vielmehr aus ihrer eigenen Vernunft als Orientierungs- und Handlungsmaßstab. Es geht um eine selbstverschuldete Paradoxie der Vernünftigkeit: Um ihrer selbst willen erhebt die Ver- nunft überall den Anspruch auf ihre totalitäre Gültigkeit, selbst da, wo der Verstand versagt, aber sie vermag nicht immer der Sache beizukommen, geschweige denn gerecht zu werden. Falls die Vernunft durch unverständliche Umstände überfordert und herausgefordert wird, kön- nen die vernünftelden Protagonisten nicht ihre selbst gefasste Orientiertungen erhalten und drif- ten somit wiederum in Unschlüssigkeit, Unvernunft, wenn nicht gar in Wahnsinn ab. Akut wird dies, wenn die Protagonisten z. B. unvermittelt mit einem scheinbar übernatürli- chen Phänomen konfrontiert werden, was eben typisch für Kleist ist. Sein Werk ist reich an Begebenheiten wie Vergöttlichung oder Verteufelung, Auferstehung oder Geisterwanderung, Gottes Urteil oder Gottes Fügung. Dabei sind, was für Kleist ebenso typisch ist, all diese da- hingehenden Behauptungen nur scheinbar bzw. nur im gewissen Augenblick oder nur aus der gewissen Perspektive wirklich, denn die Phänomene nehmen sich per se dergestalt ambivalent aus, dass man sie weder anzunehmen noch abzulehnen vermag. Diese Ambivalenz ist laut Tzvetan Todorov eben das Wesen des »Phantastischen« (Dazu mehr im Kapitel I). Sie führt zudem nicht nur zum Boom der semiologischen Interpretation in der Kleistforschung am An- fang unseres Jahrhunderts, sondern auch unmittelbar zur problematischen, dekonstruktiven Weltinterpretation der Kleist’schen Figuren. Denn »Kleist bildet auch seine Figuren immer wieder darauf ab, ihre fiktive Welt lesen und deuten zu müssen. Die Unmöglichkeit dieser Lektüre ist die Unmöglichkeit, (eindeutige) Unterscheidung zu treffen und sie dabei zugleich doch treffen zu müssen.«1 Mit einem ambivalenten Phänomen konfrontiert, sehen sich die

1 Bianca Theisen: Bogenschluss. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg i. B. 1996, S. 34. 6 Einleitung

Kleist’schen Protagonisten gezwungen, das Unfassbare auf eine willkürliche oder gewalttätige Art zu erfassen und das Unbegreifliche zu begreifen, um darauf zu reagieren (oder überhaupt reagieren zu können) und sich somit aus einer unheimlichen Lage zu retten. Das heißt, man muss sich für eine Konzeption aus der unendlich-chaotischen Vielfältigkeit entscheiden, auch wenn man sich selbst bei der Entscheidung entzweien oder entsetzen muss. Dies scheint das Schicksal der Kleist’schen Figuren zu sein, denn, wenn man nach dem Wesen der Kleist’schen Welt fragt, »gibt [es] in der deutschen Literatur kein Werk, das seinem Wesen nach schärfer antithetisch strukturiert wäre«, wie Beda Allemann in einem kurzen Rückblick auf die Kleist- forschung konstatiert.2 Zu bemerken ist jedoch, dass es Kleist offensichtlich weniger um die schicksalsbestimmte Handlung geht als um den schicksalsbestimmenden Charakter. Die Dekonstruktion der fikti- ven Welt oder – um Kleist zu zitieren – »die gebrechliche Einrichtung der Welt« ist einerseits die Ursache für die fragile Verfassung der Figuren, andererseits aber zugleich das Ergebnis davon. Denn, wie Florian Klinger bemerkt, »Cases need to be decided. Whether legal case (Rechtsfall), chance (Zufall), accident (Unfall), or fall from grace (Sündenfall) – they all are disturb- ances of an existing order, ruptures in the status quo that demand a reaction, a follow-up, a decision.«3 So entsteht die Welt als Erscheinung, wie oben angedeutet, in der Tat aus der menschlichen Entscheidung. Man denke z. B. an die Erzählung Das Bettelweib von Locarno. Es hätte nicht gespukt, oder genauer: es würde das Werk nicht geben, wenn der Marchese sich nicht vorgenommen hätte, das Unerhörte »einer kaltblütigen Prüfung zu unterwerfen.«4 Es kommt eigentlich nicht auf den Wiedergänger des verstorbenen Bettelweibes an, sondern viel- mehr auf die Reaktion seiner Gegenspieler und deren Interpretation des Vorfalls, denen man Aufmerksamkeit schenken soll. Phantastisch ist also nicht der Vorfall an sich, sondern der Vorfall für sich bzw. für denjenigen, der ihn auslegt.5 Ein Werk darf erst dann als phantastisch bezeichnet werden, wenn das, was sich in ihm ereignet, dem »implizierten Leser« (s. Kapitel I) phantastisch erscheint. Hier geht es keineswegs um die phantastische Literatur, auch wenn deren Kategorien vielleicht bei Kleist Anwendung finden könnten, sondern um das Phantas- tische als poetologische Verfahrensweise, die im Werk Kleists verschiedene ambivalente Situa- tionen darstellt. Es sind die Kleist’schen Figuren, die in einer ambivalenten, deshalb verstan-

2 Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, aus dem Nachlaß hrsg. von Eckart Oehlenschläger, Bielefeld 2005, S. 18. 3 Florian Klinger: »Thatness in Kleist«, in: DVjs [4/2013], S. 616-636, hier: S. 619. 4 Das Bettelweib von Locarno, SWB II, S. 197. 5 Schon Winfried Freund hat Das Bettelweib von Locarno in die literarische Phantastik eingeordnet und kon- statiert: »Die verfremdende Darbietung ist nicht Selbstzweck, kein Medium einer Schauermär, die es beim Nervenkitzel bewenden läßt, sondern Veranschaulichung menschlichen Perversion.« W. Freund: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm, Stuttgart, Berlin u. Köln 1990, S. 30. Allerdings hielt er sich dabei immer an das Schuld-Strafe-Motiv bzw. an die moralische Lektür und sagte z. B. von »Exekution des Schuldigen im Zuge eines phantastischen Gerichts, das den Verurteilten in den Wahnsinn treibt« (Ebd., S. 33), oder »Opfer eines phantastischen Prozesses im Dienste höherer Gerechtigkeit« (Ebd.), was in der Forschung längst in Zweifel gezogen wurde. 7 Einleitung deswidrigen Situation – zumal es sich nicht selten um Sexualität handelt – fast nicht umhin- können, die Phantasie an die Stelle des Verstandes treten zu lassen, um sich in aller Verwirrung gleichwohl an etwas orientieren zu können. Aber sie, die denkenden Menschen, denken para- doxerweise nicht daran, dass aus der Phantasie allenfalls Quasi-Erkenntnisse zu gewinnen sind, die ebenso ambivalent sind wie die Phänomene. Überzeugt man sich dennoch davon, muss man am Ende die Zeche zahlen. In diesem Punkt ist Horst Lederers Ausgangspunkt zuzustim- men: »Phantastische Geschichten sind Geschichten, in denen der Wahnsinn lauert«,6 ohne zu- erst zu fragen, wer wem wahnsinnig erscheint. Die Tragödie der Kleist’schen Protagonisten (jedoch nicht die Protagonisten der Kleist’schen Tragödie, wenn es sie überhaupt gibt!) besteht also darin, dass sie – schuldlos schuldig – in ihren phantastischen, ambivalenten Quasi-Er- kenntnissen die realistische, eindeutige Wahrheit erkannt haben wollen, weil sie sich nicht mit der aus der vernünftigen Perspektive negativen Darstellung begnügen, geschweige denn ver- gnügen können und deshalb aus dem Negativen ein positives Resümee (als vermeintliche Wahrheit) ziehen und ihr Handeln dementsprechend ausrichten, was sich dann – nicht ohne bitteren Beigeschmack – als vergeblich erweist. Diese Vergeblichkeit gilt nicht nur für die Kleist’schen Protagonisten, sondern auch für den Leser, der im Kleist’schen Text vergeblich einen sicheren, autorisierten Standpunkt abzulesen versucht. Das scheint manchmal zu Irritation zu führen. Irritiert fühlte sich z. B. Ludwig Tieck als Herausgeber der hinterlassenen Schriften von Kleist. In Bezug auf kriti- sierte er 1821 die unhistorische Phantasie Kleists, die er für eine »Geflissentlichkeit oder Un- kenntnis« hielt:

Dieser Mangel an wahrer Lokalität hat noch die Folge, daß der Dichter, nachdem er uns durch Wahrheit und Natur so lange angezogen hat, von Seite 160 an uns noch auf 50 Seiten durch eine phantastische Traumwelt führt, die sich mit der vorigen, die wir durch ihn so genau haben kennen lernen, gar nicht vereinbaren will.7

Mit der »phantastischen Traumwelt« ist die Zigeunerin-Episode in der Erzählung gemeint, die zwar erst im letzten Viertel auftritt, sich aber in inhaltlicher Hinsicht von Anfang an auf die Entwicklung der Geschichte auswirkt. Was Tieck wohl wegen der zeitlichen Nähe nicht aufge- fallen ist, ist Kleists Besessenheit von der Paradoxie. Denys G. Dyer tituliert den Dichter, nach- dem er das Paradoxe bei Kleist auf der Ebene der fiktiven Welt, der Figuren und der Sprache herausgestellt hat, als

Meister der paradoxen Formulierung und virtuoser Handhabung des Konjunktivs, des ethischen Dativs und der indirekten Rede, wobei eine klare Aussage vermieden wird zugunsten der Paradoxie

6 Horst Lederer: Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose, Köln 1986, S. 16. 7 Ludwig Tieck: »Vorrede« in: Heinrich von Kleists hinterlassenen Schriften, hrsg. von ders., Berlin 1821, S. 60. 8 Einleitung

und der Vieldeutigkeit. Und wo die Sprache versagt, werden Ausrufe, wird die Interpunktion ver- wendet, um das Rätselhafte zu verbreiten und zu steigern. Besonders in den Erzählungen wird ein Polyperspektivismus eingesetzt, um die Vielfalt kontrastierender Gesichtspunkte zu betonen, und man geht sehr fehl, wenn man das bei der Interpretation nicht im Auge behält.8

Deshalb ist dem Leser bei Kleist die Wahrheit ebenso wenig zugänglich wie den Protagonisten. Und dies, insbesondere im Fall des Phantastischen – das Phantastische ist im Wesentlichen eben eine unversöhnliche Paradoxie –, bereitet einen Kitzel bzw. eine Provokation, die die kaltblütige Prüfung durch die Vernunft herausfordert, die dann von der internen Strategie des Textes selbst, wie etwa »unbefriedigenden Enden« oder »unzuverlässigen Erzählinstanzen«,9 der Ironie ausgesetzt werden muss. Ruth K. Angress hat unter anderem bemerkt: »Die drama- tische Spannung in seinen Dramen wie in seinen Erzählungen entspringt einem hartnäckigen Schweigen, das hinter dem Redefluß seiner einzigartigen Syntax steht.«10 Worauf man sich auch richtet, aus der Frage geht keine sinnvolle, d. h. konstruktive Antwort hervor. Gerade diese Haltlosigkeit, so Angress, bietet der Kleistforschung viel oder zu viel Spielraum für die Deutung. Man muss sich allerdings fragen, ob nur eine konstruktive Antwort eine sinnvolle Antwort ist, ob ein Unsinn nicht etwa auch einen Sinn hätte. »Kleists Personen sind Rätsel«, so diagnostiziert Max Kommerell und dementsprechend fordert er: »Wir müssen Gelerntes verlernen für ihn.«11 Zu ergänzen ist, dass das Gelernte sich nicht nur auf die dogmatische Lektüre, sondern vielmehr auf unsere alltäglichen Erkenntnisse bezieht – Erkenntnisse, die womöglich nur Quasi-Erkenntnisse sind. So, wie es auch immer verführerisch ist, die möglich- erweise dahinter verborgene Wahrheit aus dem schweigenden Text herauszukitzeln, sieht die vorliegende Arbeit es in Kleists Werk nicht auf das Ding an sich ab (sollte man auf das Ding an sich bei einem Dichter wie Kleist, der gerade vom nicht zu erkennenden Ding an sich in eine Lebenskrise versetzt wurde, insistieren?). Vielmehr beschäftigt sich diese Abhandlung mit dem Phantastischen als einem literarischen Phänomen und mit den Charakteren als Reaktionen auf dieses Phänomen, und zwar im Hinblick auf das ambivalente Wesen vom Phantastischen zum ersten und zum zweiten auf die Tatsache, dass Kleists Werk sich als »a sustained casuistry of the case« darstellt – »That is, a production that is not so much preoccupied with cases but rather with caseness itself.«12 Die Reaktion der Protagonisten zu fokussieren, heißt aber nicht, die Protagonisten zu psy- chologisieren und sie mithilfe einer psychologischen Theorie zu interpretieren, selbst wenn Kleist von Moritz’ empirischer Seelenkunde gehört hätte. Obwohl Georg Lukács auffiel, dass

8 Denys G. Dyer: »Kleist und Paradoxe«, in: KJb [1981/82], S. 210-219, hier: S. 213f. 9 Vgl. Claudia Brors: Anspruch und Abbruch. Unteruchungen zu Heinrich von Kleits Ästhetik des Rätselhaf- ten, Würzburg 2002. Zum unzuverlässigen Erzähler bei Kleist vgl. außerdem Wolfgang Kayser 10 Ruth K. Angress: »Kleists Abkehr von der Aufklärung«, in: KJb [1987], S. 98-114, hier: S. 113. 11 Max Kommerell: »Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist«, in: Interpretationen 2. Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. u. Hamburg 1965, S. 185-222. 12 F. Klinger (wie Anm. 3), S. 616. 9 Einleitung bei Kleist »die individuelle Psychologie der Menschen das Vermittlungsglied für die Wirksam- keit des fatalen Schicksals« ist,13 verwies er nicht auf die Psychologie, sondern stellte bloß Folgendes heraus: »Die geschichtlichen Ereignisse bilden für Kleist nur einen inhaltlich gleich- gültigen Hintergrund seines rein individuellen Schicksals.«14 Statt das literarische Werk als psy- chologische Fallstudie anzuwenden, soll man – zumindest in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit – im Ansatz transzendental verfahren, indem man nach etwas Menschlichem, allzu Menschlichem fragt. Man mag hier von einer literarischen Anthropologie sprechen, was wohl auch der ersten Intention Kleists nach der sogenannten Kant-Krise entspricht (vgl. dazu Ka- pitel IV). Allerdings ist, bevor man Kleists Biographie miteinbezieht, zuerst der historische Rahmen zu rekonstruieren. »Denn selbst Literarische Kunstwerke oder philosophische Literatur«, so hat Rolf Grimminger als Herausgeber der Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur konstatiert, »können ohne Kenntnis jener sozialen Wirklichkeit, die sie in ihren Sprachformen stets schon zu Sinnzusammenhängen verarbeitet haben, nur unzureichend oder gar falsch verstanden wer- den.«15 Seine Feststellung ist umso verständlicher, als das Phantastische als ein literarisches Phänomen im Werk Kleists nicht aus Nichts hervorgeht, sondern aus dem Menschen namens Kleist, der sowohl in seiner persönlichen Sozialisation, wie auch er immer sozialisiert worden sein mag, als auch auf dem dichterischen Werdegang unvermeidlich unter dem Einfluss von Zeit und Raum steht. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die Figuren, wie Adam und Walter im Lustspiel Der zerbrochne Krug, am StGB messen dürfte,16 oder dass man etwa im Hinblick auf die preußische Rekrutierung von Soldaten behaupten könnte: »Der ›Zerbrochne Krug‹ spielt also weder in den Niederlanden vom Ende des 17. Jahrhunderts noch im zeitlosen Reich der schönen Poesie, sondern in Preußen und zwar im Jahr 1805.«17 Was ich in erster Linie in den Fokus rücke, ist die Geistesgeschichte, insbesondere im Hinblick auf den Anspruch der Vernunft. Die totalitäre, aber unzulängliche und deshalb ohnmächtige Vernunft haben nicht zuletzt Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als Dialektik der Vernunft diskutiert. Schon zu der Zeit, als man von der Vernunft schwärmte, stellte Immanuel Kant die Unzulänglichkeit der Vernunft als Erkenntnisvermögen zur Debatte. Mit demselben Thema beschäftigte sich unter anderem Georg Wilhelm Hegel, Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und sogar Sig- mund Freud – um nur ein paar prominente Namen zu nennen. Der Grund für die Unerschöpf- lichkeit des Themas liegt wohl darin, dass die Kultur, auf die das Leben des Menschen in der Natur angewiesen ist, durchaus auf der mangelhaften Vernunft beruht und deshalb in gleichem

13 Georg Lukács: »Die Tragödie Heinrich von Kleists [1936]«, in: ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhun- derten, Neuwied u. Berlin 1964, S. 201-231, hier: S. 212. 14 Ebd., S. 214. 15 Rolf Grimminger: »Vorbemerkung«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680- 1789, hrsg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Lite- ratur, Bd. 3), S. 7-12, hier: S. 7. 16 Vgl. z. B. Hans-Peter Schneider: »Justizkritik im ›zerbrochnen Krug‹«, in: KJb [1988/89], S. 309-326. 17 Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. B. 1987, S. 121. 10 Einleitung

Maße »gebrechlich« ist. Was sich utopisch anhört, gehört immer noch zur Utopie, aber nicht zur Realität. Dafür hat die Französische Revolution bereits ein blutiges Beispiel geliefert. Und der Schatten der unbefriedigenden Aufklärung spukt bis heute. Die vorliegende Arbeit geht insgesamt der Frage nach, ob das Phantastische als poetologi- sche Verfahrensweise vor dem Hintergrund der epochalen Krise eine neue, dabei aufschluss- reiche Lesart des Werks von Kleist bieten kann. Der obigen Überlegung gemäß werden in der vorliegenden Dissertation, die das Phantastische thematisiert, zuerst das literarische Phänomen, der philosophische Diskurs und das historische Geschehen gemeinsam in einen Kontext ge- setzt. Dies liegt als theoretischer Teil der Interpretation des Werkes zugrunde. Als Vermittlung zwischen der Theorie und der Interpretation dient, wie gesagt, die Biographie Kleists. Kleist, ein Dichter um 1800, stand im Spannungsfeld zwischen der alten Ordnung und der neuen, als sich alles im Sauseschritt veränderte und die menschliche Vernunft sich somit verlor. Nicht zuletzt infolge seiner Kant-Krise, die seinen Zweifel an der Vernunft sozusagen autorisierte, geriet der Dichter in Verzweiflung, die sich verstärkte, als ihm alle Versuche misslangen, sich erneut zu orientieren. Auch der Wunsch, selbstständig zu sein, konnte wider seinen Willen nicht verwirklicht werden. Von daher lässt sich sein Werdegang als eine Miniatur des Zeitalters deuten. Es geht jedoch nicht um einen statischen Fallbericht, der zeigt, was ist. Denn mir ist es wichtiger, zu betrachten, wie er auf den »unbegriffenen Weltgeist« reagierte, und wie er mit der Welt als eine Erscheinung umgeht.18 Die Betrachtung sollte einen dynamischen Trieb freilegen, aus welchem sein Werk enstand, das zwar zeitbedingt, aber nicht zeitgemäß ist. Aufgrund des- sen lohnt es sich, seine schon unzählige Male rekonstruierte Biographie in Hinsicht auf seinen dichterischen Werdegang erneut in dieser Weise zu rekonstruieren. Dem schließt sich der Teil der Interpretation an. Die vorliegende Arbeit kreist um die zent- rale Frage der Literaturwissenschaft, was (auch ggf. im Sinne von warum) und wie es der Dich- ter – bewusst oder unbewusst – in seinem Werk zum Ausdruck bringt. Außerdem ist sie, wie gesagt, beseelt von der Überzeugung, dass das literarische Werk, da es menschengemacht ist, der Bedingung von Zeit und Raum nicht entkommen kann, und dass ein Werk deshalb her- vorragend ist, weil es sich trotz der Bedingtheit über die Bedingungen erhebt und aus einem höheren Standpunkt über dieselben – explizit oder implizit – reflektieren kann. Solch ein Werk stellt nicht nur die Diagnose und Prognose der menschlichen Kultur auf, sondern liefert mög- licherweise auch einen Beitrag zur Erlösung aus der aussichtslosen Dialektik des Menschlichen. Aus dem Grund bedarf jedes Werk einer eindringenden Interpretation, die die darin enthalte- nen Ideen vermittelt.

18 Im Brief an Karl Freiherrn von Stein zum Altenstein vom 4. August [1806] schrieb er: »Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist ein bloß unbegriffener! Lächeln wir nicht auch, wenn die Kinder weinen? Denken Sie nur, diese unendliche Fortdauer! Millionen von Zeitträumen, jedweder ein Leben, und für jedweden eine Erscheinung, wie diese Welt!« (SWB II, S. 766). 11 Das Phantastische

Erster Teil: θεωρία

Jetzt war es um das Bewusstsein, um die Sinne Eckberts geschehn; er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume, oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunder- barste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig.

– Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert1

I. Das Phantastische:

Eine ambivalente Sichtweise

Während das Wort »fantastique« im 19. Jahrhundert, zu der Zeit, als E. T. A. Hoffmanns Fan- tasiestücke ins Französische übersetzt und unter dem Titel Contes fantastiques publiziert wurden,2 in Frankreich schon einem Literaturgenre zuerkannt wurde,3 ist in Deutschland hauptsächlich erst nach Tzvetan Todorovs 1972 ins Deutsche übersetzter Einführung in die fantastische Literatur von dem Genre der phantastischen Literatur die Rede.4 Zwar konstatierte jemand 1830 in der französischen Literatur-Zeitschrift Le Globe in Form der »Correspondance« in Bezug auf den Zustand der deutschen Literatur anonym: »Il est vrai qu’il nous reste encore trois genres, le genre psychologique, le genre fantastique [!], et le genre historique«,5 allerdings hatte der Autor für das »genre fantastique« nur E. T. A. Hoffmann im Auge, für den sich seiner Meinung nach kein Nochfolger finden lasse: »[P]eut-être pas l’ériger en genre, puisque Hoffmann, qui l’a créé restera probablement sans successeur. Au moins c’est ça qu’ont jusque à présent prouvé tous ceux qui ont voulu l’imiter.«6

1 Ludwig Tieck: »Der blonde Eckbert«, in: ders.: Schriften, Bd. 6: Phantasus, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1985, S. 126-148, hier: S. 145. 2 Als Beispiel ist die Übersetzung von Loève-Veimar zu nennen, die in verschiedenen Zeitschriften (z. B. in Le Globe VII, Nr. 103 [26. 12. 1829]) veröffentlicht wurde. 3 Vgl. Reimer Jehmlich: »Phantastik – Science Fiction – Utopie. Begriffsgeschichte und Begiffsabgren- zung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darm- stadt 1980, S. 11-33, hier: S. 12ff. 4 Als der erste Band von Phaicon: Almanach der phantastischen Literatur 1974 erschien, erwähnte der Her- ausgeber Rein A. Zondergeld die damalige Forschungssituation: »Um so auffallender ist es, daß mit der the- oretischen Aufarbeitung dieses umstrittenen Gebiets noch kaum angefangen wurde, jedenfalls nicht in der Bundesrepublik.« R. A. Zondergeld: »Vorwort«, in: Phaicon I, S. 9-10, hier S. 9. Vgl. außerdem Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer: »Einleitung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 1-8, hier: S. 3. 5 »De l’État de la Littérature Allemagne«, in: Le Globe. VIII, Nr. 12 (10.02.1830), S. 89ff., hier: S. 90. 6 Ebd. 12 Das Phantastische

Wenn man nun eineinhalb Jahrhunderte später die phantastische Literatur diskutiert, stellt sich sogleich eine wesentliche Frage, die, obschon sie seit Beginn der Auseinandersetzung zur Debatte steht, bisher noch umstritten bleibt. Was ist überhaupt unter dem Phantastischen zu verstehen? Wie der Begriff »Contes fantastiques« zuerst in Anlehnung an Hoffmanns Fantasie- stücke in Callots Manier in Frankreich auftrat,7 jedoch nicht unbedingt die »Fantasie« signifizierte, so ist das Wort »fantastique« auch nicht umstandslos als Phantastik oder als das Phantastische zu decodieren, geschweige denn mit den entsprechenden Begriffen in anderen Sprachen, wie etwa fantastic, Фантастика8 oder 奇幻/幻奇, zu vergleichen. Zudem sind kulturelle Unter- schiede zu berücksichtigen, wie Reimer Jehmlich angemerkt hat: »Auch in erweiterter Bedeu- tung sind ›fantasy‹ und ›Phantastik‹ allenfalls sporadisch und vorzugsweise in abwertender Be- deutung verwendet worden.«9 Infolgedessen kann man bereits am Anfang feststellen, dass der Begriff »phantastische Literatur«, wenn man ihn mit ähnlichen Begriffen in anderen Sprachen gleichsetzt, unvermeidlich jeweils einer Umdeutung oder Umfärbung ausgesetzt wird, die auf einen inhaltlich sinnvollen Nenner zu bringen, um daraus den wesentlichen Inhalt einer allge- mein-literarischen Gattung abzuleiten, eine prekäre Aufgabe ist. Nicht weniger prekär ist der Versuch, das Phantastische zu definieren. Die meisten Defini- tionen gehen davon aus, dass es sich in der sogenannten »phantastischen Literatur« um etwas Übernatürliches handele.10 So lautet z. B. Roger Caillois’ viel zitierte, jedoch nicht selten kriti- sierte Definition: »Im Phantastischen aber offenbart sich das Übernatürliche wie ein Riß in dem universellen Zusammenhang.«11 Solche Definitionen müssen sich, abgesehen davon, in welchem Maße sie ob ihrer Allgemeinheit der Gattungsforschung überhaupt nützlich sein mö- gen, unweigerlich nur als problematisch erweisen, weil der hier zugrunde liegende Begriff, »das Übernatürliche«, ebenso ein sowohl historisch als auch kulturell differenzierter Quasi-Begriff ist, geradeso wie das Phantastische selbst. Es kann nämlich sein, dass es für das, was man in der Vergangenheit für übernatürlich hielt, heutzutage dank der Wissenschaft bzw. des Wissens- bestandes eine ganz natürliche Erklärung gibt (gemeint ist das Problem der »Historizitätsvari- able«,12 die bei der Diskussion über das Übernatürliche in Rechnung zu stellen ist), oder dass diejenigen Darstellungen, die im Abendland aus dem Rahmen des Naturgesetzes fallen sollen, im Osten darin bleiben wollen. Darüber hinaus würde man etliche Darstellungen, die offenbar

7 Vgl. Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, 2. Aufl., Berlin 2007, S. 19. 8 Obwohl Juli Kagarlizki in der Vorbemerkung zu seinem Essay Was ist Phantastik? die Phantastik ohne Umschweife auf »die phantastische Literatur« referenzierte. J. Kagarlizki: Was ist Phantastik? Ein Essay, dt. Übers. von Reinhard Fischer, Berlin 1977, S. 5. 9 R. Jehmlich (wie Anm. 3), S. 14. 10 Zur Definitionsgeschichte der phantastischen Literatur vgl. z. B. U. Durst, S. 29-69. 11 Roger Caillois: »Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, S. 44-83, hier: S.46. Zur Kritik an Caillois vgl. z. B.: Rein A. Zondergeld: »Wege nach Saïs Gedanken zur phantastischen Literatur«, in Phaicon I, S. 84-91; Hans Holländer: »Das Bild in der The- orie des Phantastischen«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, S. 52-78, hier: S. 58-65. 12 Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der frühen Moderne: (1890-1930); Definition; Denkge- schichtlicher Kontext; Strukturen, 2. Aufl., München 1998, S. 18. 13 Das Phantastische außerhalb unseres Naturgesetzes geschehen, eher als mythisch, märchenhaft, wunderbar, uto- pisch oder dergleichen bezeichnen denn als phantastisch. Ein markantes Beispiel dafür liefert das bekannte Pocahontas-Motiv. In der dramatischen Behandlung von Pocahontas’ Geschichte von Johann Wilhelm Rose wird z. B. artikuliert, dass Pocahontas den Kompass, den John Smith von London nach Virginia mitbringt, am Anfang für eine Zauberei hält: »Da ist gewiß Zauberey dabey. Hüte dich lieber Bruder! Laß es liegen!«13 Ein weiteres Beispiel ist, dass die Indianer, die in ihrer Kultur über keine Schrift verfügen, die Notizzettel, die Smith an seine Kollegen schreibt, als redende Brettchen deuten: »Sonderbar war es, und ewig werd’ ich es nicht vergessen: daß die Brettchen, die mir mitgab, reden konnten. Ich forderte nichts. Und sobald ich sie ihnen gab, zeigten sie mir alle die Wunder. Sie hielten sie gleichwohl nicht zum Ohre.«14 Aus der Perspektive der Indianer handelt es sich hierbei durchaus um übernatürliche Dinge. Würde aber der europäische Leser bzw. Zuschauer diese Passagen als phantastisch ansehen? Hans Holländer hat diesbezüglich eine aufschlussreiche Frage nach dem Wesen des Phan- tastischen aufgeworfen: »Sind die Geschichten ›phantastisch‹ oder beschreiben sie etwas Phan- tastisches?«15 Mit dieser Frage kritisiert er diejenigen, die übernatürliche Phänomene ohne Rücksicht auf das oben erwähnte Problem als Kriterium für das Phantastische hinnehmen. In diesem Punkt sei auf Andrej Zgorzelskis Theorie verwiesen. Anstatt zu erklären, was das Phan- tastische darstellt, macht er auf die Phantastik aufmerksam, nämlich darauf, wie das Phantasti- sche dargestellt wird:

Phantastik erscheint, wenn die inneren Gesetze der fiktiven Welt zerbrochen werden. Dieser Prozeß geht oft aus den bedeutsamen Reaktionen des Erzählers, des Protagonisten oder des Adressaten hervor, die Erstaunen oder Entsetzen gegenüber der neuen Form der fiktiven Welt empfinden. Phantastik sollte als Folge des Bruchs der inneren literarischen Gesetze und nicht der Gesetze der objektiven Realität, welche manchmal das Modell für die fiktive Realität literarischer Werke bilden, gesehen werden.16

Das Problem des unbestimmten Begriffspaares »natürlich/übernatürlich« umgeht Zgorzelski also dadurch, dass er den Begründungsgrund des Phantastischen auf die inneren Gesetze der fiktiven Welt beschränkt. Ob man vom Phantastischen sprechen könne, hänge demnach nicht mehr vom veränderbaren Subjekt ab, sei dies der Autor oder der Leser mit seinen aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Perspektiven, sondern vom nicht zu verändernden Text. Zgorzelski vertritt die Ansicht, dass der Bruch der fiktionsinternen Gesetze dann ent- stehe, wenn zwei Konventionen, die jeweils eine »schöpferische Methode des Schreibens«

13 Johann Wilhelm Rose: Pocahontas. Schauspiel mit Gesang in fünf Akten. [1784], hrsg. von Stephan Kraft, Hannover 2008, S. 17. 14 Ebd., S. 59. 15 H. Holländer (wie Anm. 11), S. 63. 16 Andrej Zgorzelski: »Zum Verständnis phantastischer Literatur«, in: Phaicon II, hrsg. von Rein A. Zonder- geld, Frankfurt a. M. 1975, S. 54-63, hier: S. 61. 14 Das Phantastische sind,17 einander widersprechen. Die Funktion des Phantastischen bestehe somit darin, zu einer gegebenen literarischen Konvention in diesem Rahmen den Widerspruch zu bilden.18 Auf- grund dessen versucht der Theoretiker das Phantastische als literaturgeschichtliches Phäno- men zu behandeln. Damit habe man ein objektives Kriterium für das Phantastische, ohne vom Übernatürlichen sprechen zu müssen.19 Zgorzelskis Theorie ist deshalb von Bedeutung, weil er das Übernatürliche als problemati- schen Begründungsgrund durch die Textstruktur ersetzt, aus der das Phantastische als literari- sches Phänomen hervorgeht. Aber gerade darin, dass er das Modell »natürlich vs. übernatür- lich« durch den Widerspruch von sich gegenüberstehenden Konventionen ersetzt, besteht die Schwäche seiner Theorie, weil der Begriff »Konvention« nicht unbedingt mit dem Phantasti- schen vereinbar ist, so dass der Widerspruch zwischen Konventionen keine Garantie für das Phantastische bieten kann. Auch er selbst hat am Ende konzessiv formuliert:

Obwohl es stimmt, daß Widerspruch zwischen den einander gegenüberstehenden Konventionen nicht unbedingt den Bruch der inneren Gesetze der fiktiven Welt herbeizuführen braucht, ist im allgemeinen die Folge eines solchen Bruchs, wenn er auftritt, das In-Erscheinung-Treten des Phan- tastischen.20

Umso mehr, als er die Konvention unmittelbar für die Genre-Konvention hält und paradox- erweise behauptet: »In der Vielfalt der literarischen Genres scheint es manche zu geben, die das Phantastische eher benutzen als andere.«21 Hier drängt sich die Frage auf, was denn dann das Phantastische sein könnte, wenn ein Genre schon über das Phantastische verfügt, ohne damit einem anderen widerzusprechen. Dies sorgt nicht minder für Verwirrung. Hiervor warnt Todorov schon zu Beginn seiner Abhandlung: »Wer Strukturen auf der Ebene der beobachtbaren Bilder sucht, schneidet sich eben damit von aller sicheren Erkenntnis ab.«22 Sowohl das Übernatürliche als auch der Widerspruch der Konventionen können dem- nach allenfalls ein beobachtbares Bild bzw. ein (Kenn-)Zeichen des Phantastischen darstellen, jedoch nicht als Kriterium dafür dienen, wie Todorov im Hinblick auf das Übernatürliche konstatiert: »Das Übernatürliche charakterisiert die Werke nicht genau genug; seine Reichweite ist viel zu groß.«23 Auf eine andere Weise geht der Autor mit dem Problem des Übernatürli- chen um: er richtet den Blick nicht auf das Dargestellte, sei es ein »Riß« oder ein »Bruch«,

17 Ebd., S. 54. 18 Ebd., S. 61. 19 Dieser Ansicht stimmen Dieter Penning und Uwe Durst zu. Vgl. Dieter Penning: »Die Ordnung der Un- ordnung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, S. 34-51, hier: S. 37ff.; U. Durst (wie Anm. 7), S. 92-103. Außerdem zog Durst aus der Verfahrensbedingtheit der Literatur den Schluss: »Literarische Bedingungen sind nicht anhand fiktionsexterner naturwissenschaftlicher Fakten zu untersuchen, denn die Literatur ist ein eigengesetzliches System.« Ebd., S.90. 20 A. Zgorzelski (wie Anm. 16), S. 58. 21 Ebd., S. 60. 22 Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, dt. Übers. von Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur, München 1972, S. 20. 23 Ebd., S. 34. 15 Das Phantastische sondern auf dessen suggerierende Wirkung. So konstatiert er ohne Umschweife: »Das Fantas- tische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.«24 Seiner Meinung nach hat das Übernatürliche keine maßgebende Bedeutung für das Phantastische und das, was sich als übernatürlich darstellt, brauche nicht so zu sein, sondern nur so zu scheinen. Was das Übernatürliche an sich bedeutet, scheint deshalb unwichtig. Über das Problem des Übernatürlichen lässt sich allerdings nicht so einfach hinwegtäuschen. Zwar tritt das Übernatürliche bei Todorov in den Hintergrund und wird nicht tiefgehend dis- kutiert, aber es ist ersichtlich, dass der Autor in seiner Theorie das Übernatürliche selbstver- ständlicherweise als das ansah, was den Naturgesetzen unserer Welt bzw. unseres Alltags wider- spricht. Eben dies unterhöhlt seine Theorie: Sollte die Unschlüssigkeit zwischen der natürli- chen und der übernatürlichen Interpretation in erster Linie durch die poetologische Verfah- rensweise hervorgerufen werden, dann sollte das Übernatürliche eher im Gegensatz zur alltäg- lichen Welt des Autors stehen als zu der des Lesers, der sich der Lektür möglicherweise 200 Jahre später widmet, mit einem inzwischen völlig veränderten Alltag. Umgekehrt ist es jedoch auch problematisch, dass man die Alltagswelt des Autors mit der fiktiven Welt des Werkes identifiziert. Hieraus erklärt sich, dass der Konflikt, durch den die Unschlüssigkeit bzw. das Phantastische hervorgerufen wird, nur innerhalb der fiktiven Welt auftreten darf, d. h. der Konflickt bewegt sich, wie Zgorzelski bemerkt hat, zwischen den inneren Gesetzen der fikti- ven Welt und dem, was diese Gesetze übertritt. Der Mensch, der sich unschlüssig fühlt, kann ein Protagonist sein, muss aber nicht. Laut Todorov ist damit in erster Linie der Leser gemeint. Allerdings sollte der Leser kein reales Subjekt sein, sonst liefe Todorovs Theorie wiederum aus Mangel am objektiven Kriterium auf dasselbe Problem hinaus. Unter dem Leser sei vielmehr »eine ›Funktion‹ des Lesers, die im Text impliziert ist«,25 zu verstehen. »Die Wahrnehmungen dieses implizierten Lesers«, so To- dorov, »sind dem Text mit der gleichen Präzision eingeschrieben, wie die Haltung der Perso- nen.«26 Anders gesagt, die Unschlüssigkeit des implizierten Lesers resultiert aus dem Text selbst. Und die allererste Bedingung, anhand deren Todorov das Phantastische definiert, lautet demnach folgendermaßen:

Zuerst einmal muß der Text den [implizierten] Leser zwingen, die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten, und ihn unschlüssig werden lassen angesichts der Frage, ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedür- fen.27

24 Ebd., S. 26. 25 Ebd., S. 31. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 33. Nach Todorov sei darüber hinaus wichtig, dass der Leser sowohl die allegorische Interpretation ebenso wie die poetische Interpretation zurückweist, weil die beiden Interpretationen das Phantastische auf- heben würden. Aber diese Bedingung wäre erst dann von Bedeutung, wenn es sich dabei um den realen Leser 16 Das Phantastische

Aus dieser Definition geht hervor, dass das Phantastische auftritt, wenn der Text zwar zur Deutung zwingt, sich aber weder durch die natürliche Interpretation noch durch die überna- türliche völlig durchleuchten lässt. Solch eine textuelle Zwanghaftigkeit wird ermöglicht durch eine poetologische Verfahrensweise, die sich, wie Todorov andeutet, im Aufbau der Struktur der »ambivalenten Sichtweise« bedient.28 Neben dem (implizierten) Leser kann die Unschlüssigkeit auch dem Erzähler zuteilwerden. Dies zeigt sich, indem er entweder explizit seine Unschlüssigkeit zum Ausdruck bringt – sei es in der Ich- oder Er-Erzählsituation – oder selbst implizit als unzuverlässiger Erzähler fungiert. Dies gehört zur Textstruktur und trägt wiederum zum Phantastischen bei. Außerdem kann, wie oben erwähnt, die ambivalente Sichtweise manchmal auch ganz explizit zur Anwendung kommen, nämlich, wenn der Protagonist sich selbst ebenso gezwungen sieht, die obskure Si- tuation zu interpretieren, und deswegen wie der implizierte Leser Unschlüssigkeit empfindet. In diesem Fall ist das Phantastische nach Todorov das Thema des Textes selbst:

Des weiteren kann diese Unschlüssigkeit dann gleichfalls von einer handelnden Person empfunden werden; so wird die Rolle des Lesers sozusagen einer handelnden Person anvertraut und zur glei- chen Zeit findet die Unschlüssigkeit ihre Darstellung, sie wird zu einem der Themen des Werks.29

Das Phantastische als solches lässt sich als explizit bezeichnen, während das implizite Phantas- tische zwischen den Zeilen zu lesen ist. Ein typisches Beispiel für das explizite Phantastische liefert E. T. A. Hoffmann mit seiner Erzählung Der Sandmann. Denn das tragische Schicksal des Protagonisten Nathanael kreist gänzlich um seine Unschlüssigkeit über die Identität von Coppola, Coppelius und dem Sandmann. Somit muss er zur Deutung greifen, um zu klären, ob die »Dreieinigkeit« zwischen ihnen in Wahrheit existiert oder es sich so verhält, wie die aufgeklärte, psychologische Interpretation Claras darzulegen versucht: »Es ist das Fantom un- seres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Ge- müt uns in die Hölle wirft, oder in den Himmel verzückt.«30 Nathanael kann sich jedoch nicht entscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Olympia-Episode ihn seiner Entscheidungs- kompetenz endgültig beraubt, so dass die zerrissene Stimmung ihn am Ende in den fatalen Abgrund stürzen lässt. Darüber hinaus stellt sich das Phantastische umso deutlicher dar, da

handelte. Da das Phantastische vom implizierten Leser bzw. vom Text abhängt, mag der Text, in dem das Phantastische vorkommt, an sich nicht poetisch sein. Ob das Phantastische zugleich eine Allegorie nahelegt und deshalb durch sie abgelöst wird, liegt auf einer anderen Interpretationsebene, nämlich da, wo man einem Text Interpretationen hinzufügt. 28 Da die ambivalente Sichtweise sich nicht unbedingt auf die Unschlüssigkeit zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen bezieht, meinte Todorov: »[D]as Fantastische ist ein besonderer Fall der allgemei- neren Kategorie der ›ambivalenten Sichtweise‹.« Ebd., S. 33. Allerdings weicht Todorovs Auffassung über den implizierten Leser am Ende gewissermaßen von der beim Ausgangspunkt ab, indem er die Textstruktur nicht mehr betont, sondern den implizierten Leser unmittelbar mit dem Protagonisten identifiziert. 29 Ebd. 30 E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Nachtstücke, Klein Zaches, Prin- zessin Brambilla; Werke 1816-1820, hrsg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 1985, S.11-49, hier: S. 23. 17 Das Phantastische der implizierte Leser ebenso nichts von der Wahrheit wissen kann, zumal der rätselhafte Cop- pelius den Absturz des Protagonisten kurz zuvor vorausgesagt hat.

Das Phantastische ≠ die phantastishe Literatur

In der obigen Überlegung hat ich möglichst nicht vom Begriff »phantastische Literatur« ge- sprochen, obwohl die meisten Theoretiker wie etwa Todorov, Wünsch und Durst sich insbe- sondere auf den Terminus fokussieren. Denn die »phantastische Literatur« zu diskutieren, im- pliziert die Notwendigkeit zu erörtern, was ihr zuzuordnen ist und was nicht. Und in diesem taxonomischen Verfahren besteht das größte Problem des Phantastischen. Als »der erste Versuch wirklich systematischer Natur«31 und als »die grundlegende Unter- suchung zur Phantastik«32 ist Todorovs Theorie des Phantastischen wiederholt einer kritischen Prüfung unterzogen worden. Von diesen Abhandlungen ist die harsche Kritik von Stanisław Lem aufgrund ihrer Heftigkeit wohl die bekannteste. Ich gehe zwar nicht auf seinen Text ein, aber es soll erwähnt werden, dass Lem insofern recht hat, wenn er von Folgendem ausgeht: »[...] in der Humanistik, insbesondere in der Literaturwissenschaft, gibt es nach wie vor keine Mittel zur Beweisführung von Verallgemeinerungen, die dem Falsifizierungstest unterworfen werden könnten.«33 Hiermit deutet Lem bereits das Problem der Theorie der phantastischen Literatur an. In der Tat, obwohl Todorov danach strebt, »die Regel auf[zu]decken, die in meh- reren Texten zugleich wirksam ist und uns erlaubt, ihnen die Bezeichnung ›fantastische Werke‹ beizulegen«,34 wird diese Regel paradoxerweise desto verschwommener, je mehr er sie zu prä- zisieren versucht. So kann der Theoretiker nach seiner Definition des Phantastischen nicht umhin zu gestehen: »Es [das Phantastische] scheint sich eher an der Grenze zwischen zwei Gattungen, nämlich zwischen dem Wunderbaren und dem Unheimlichen anzusiedeln, als daß es eine selbständige Gattung wäre.«35 Und als Begründung bemerkt er: »[D]er Effekt des Fan- tastischen wird wohl erreicht, aber nicht über die ganze Dauer der Lektüre«.36 Es scheint, als ob er gezwungen wäre, den Begriff »phantastische Literatur« zu relativieren, um »dem Fantas- tischen eine weit größere Zahl von Texten zuzuordnen.«37 Und daraus entstehen die beiden Begriffe, die zwei Pole der Unschlüssigkeit darstellen und sich jeweils mit dem Begriff des

31 M. Wünsch (wie Anm. 12), S. 10. 32 U. Durst (wie Anm. 7), S. 14. 33 Stanisław Lem: »Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen«, in: Phaicon I, hrsg. von Rein A. Zonder- geld, Frankurt a. M. 1974, S. 92-122, hier 92. 34 T. Todorov (wie Anm. 22), S. 7. 35 Ebd., S. 40. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 41. 18 Das Phantastische

Phantastischen überschneiden sollen.38 Aber demnach sei die phantastische Literatur im eigent- lichen Sinne keine Literatur des Phantastischen als Gattungsprädikat, vielmehr beziehe sie sich auf die Texte, in denen sich das Phantastische als Element findet. Man muss Todorov recht geben. Aber gerade der Versuch, die phantastische Literatur trotz- dem als Gattung zu behaupten und zu rechtfertigen, d. h. die Verschiedenheit der Strukturen, die unter ein und dieselbe Gattung subsumiert werden, zu ignorieren, sorgt für Verwirrung. Obgleich der Theoretiker das Phantastisch-Unheimliche sowie das Phantastisch-Wunderbare als Untergattung bestimmte, damit die strukturelle Heterogenität innerhalb der phantastischen Literatur als Obergattung irrelevant scheint, genauso wie die Familie Katzen (Felidae) die Un- terfamilien Felis und Panthera u. a. m. umfassen sollte, kann dieses taxonomische Verfahren nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die phantastische Literatur ein in sich wider- sprüchlicher Begriff ist. Ebenso fragwürdig ist, dass ein Werk seines Erachtens erst dann zu der einen oder zu der anderen Untergattung zählen kann, wenn das Phantastische in ihm sich erst am Ende zum Wunderbaren bzw. zum Unheimlichen verwandelt: »Diese Untergattungen umfassen die Werke, die über lange Zeit die Unschlüssigkeit des Fantastischen aufrechterhalten, schließlich aber im Wunderbaren oder im Unheimliche enden.«39 Es drängt sich also die Frage auf, warum ein Werk, in dem das Phantastische als Element kürzer als »gegen Ende« dauert oder nur teilweise vorkommt, nichts mit der phantastischen Literatur zu tun habe, wenn die oben erwähnten Untergattungen das Phantastische auch als Element zum Inhalt haben. Die Konfusion zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Todorov das Phantastische offensichtlich als Synonym der phantastischen Literatur verwendet. Dieses Problem, das die systematische Konzeption Todorovs unterläuft, ist laut Marianne Wünsch ein allgemeines Problem der The- orie der phantastischen Literatur. So bemerkt sie, es sei »immer wieder dieselbe Erfahrung, die die Theoretiker zwingt, trotz ihrer Absicht einer texttypologischen Fundierung ihres Gegen- standes diesen zugleich noch auf einer anderen Ebene, als ›Element‹, einführen zu müssen.«40 Deshalb (oder nichtsdestoweniger) versucht Wünsch den Begriff »phantastische Literatur« dadurch aufrechtzuerhalten, dass sie das Phantastische als »eine von Texttyp unabhängige Struktur« behandelt und die phantastische Literatur dementsprechend als »eine abgeleitete Größe« ansieht: »[S]ie bezeichnet [demgemäß] die Texte, in denen das Fantastische dominant ist.«41 Zwar wird dadurch die problematische Sinnverwandtheit zwischen dem Phantastischen und der phantastischen Literatur aufgehoben, aber Tatsache ist, dass die sogenannte phantasti- sche Literatur nur noch eine ausgehöhlte Form erhält, (wenn man sie nicht Formalität nennen

38 Wenn eine natürliche Erklärung zu finden ist, dann verwandelt sich das Phantastische ins Unheimliche. Hingegen wird das Phantastische für das Wunderbare erklärt, wenn ein neuer Realitätsbegriff akzeptiert wird. Vgl. ebd., S. 40 u. 55. Nach Todorov entstehe daraus jeweils ein Unterbegriff, nämlich das »Fantastisch- Unheimliche« und das »Fantastisch-Wunderbare«. Und in beiden Fällen dauere das Phantastische solange, bis es sich am Schluss ins Unheimliche bzw. Wunderbare verwandelt. Vgl. ebd., S. 45-54. 39 Ebd., S. 43. 40 M. Wünsch (wie Anm. 12), S. 13. 41 Ebd. 19 Das Phantastische will), deren Grundlage schon durch das unbestimmte Kriterium »Dominanz« – genauso wie das »Gegen-Ende-Dauern« bei Todorov – unterhöhlt ist. In der Tat stimmt Wünschs Versuch, das Phantastische als eine textuelle Struktur zu be- trachten, im Prinzip mit dem Begriff der Unschlüssigkeit des »implizierten Lesers« bei Todo- rov überein. Auch wenn man in Anlehnung an andere Theorien einen Riß, einen Bruch oder dergleichen erwähnt, weist man – wenn auch unbewusst – auch auf nichts anderes hin als auf eine textuelle Konfliktstruktur. Allerdings lässt sich das Phantastische nicht unmittelbar mit der Textstruktur identifizieren, weil die beiden nicht auf derselben Ebene liegen. Das Verhält- nis zwischen den beiden Begriffen entspricht dem zwischen der Unschlüssigkeit und dem im- plizierten Leser. Die Struktur ist nämlich jene, die der Unschlüssigkeit, in der sich das Phan- tastische verkörpert, zugrunde liegt. Und das Phantastische ist dementsprechend die Eigen- schaft dieser Struktur. Im Hinblick hierauf ist Hans Holländers Aussage sehr aufschlussreich, indem er das Phantastische für eine ästhetische Kategorie hält: »Das Phantastische hat keine Eigenschaft, es ist vielmehr selbst eine Eigenschaft. [...] Als Eigenschaft einer Sache kann das Phantastische eine ästhetische Kategorie sein, wie das Schöne, das Erhabene, das Häßliche.«42 Demgemäß verneint er am Schluss seiner Arbeit die Legitimation der phantastischen Literatur mit Nachdruck: »Die literarischen Gattungsbegriffe sind ungeeignet für eine Diskussion des Phantastischen. Es ist, was immer es sein mag, keine Gattung, weder eine literarishe noch eine kunsthistorische.«43 Ich schließe mich seiner Meinung an, weil es mir auch sinnvoller scheint, den Fokus auf das Phantastische als Element zu legen als auf »eine stets verschwimmende Gattung«.44 Denn die Bezeichnung »phantastische Literatur« ist immerhin ein Begriff, der die Tragweite der Literatur zuviel einschränkt, zumal das Phantastische eine gattungsunabhängige elementare Struktur ist, deren Qualität und Quantität sich in verschiedenen Werken verschie- denerlei darstellen können.

Das Phantastische – auch in Lyrik und Drama

Dabei ist noch anzumerken, dass in der Forschung eine Neigung herrscht, die Struktur des Phantastischen auf den Bereich der Epik zu beschränken. Um nur einige Beispiele und Be- gründungen zu nennen: Dieter Penning, der die Transgression bzw. das Durchbrechen des Unmöglich-Wirklichen hin zum Möglichen für die Grundlage des Phantastischen hält, konsta- tiert:

Diese Transgression kann nur narrativ entfaltet werden, ein Grund dafür, daß wir von erzählenden Gattungen reden und nicht auch von Drama oder Lyrik. Denn bei der Lyrik entfällt die für Phan- tastik so entscheidende Subjekt-Objekt-Differenz. Wirklichkeit erscheint ausschließlich als im Be-

42 H. Holländer (wie Anm. 11), S. 77. 43 H. Holländer (wie Anm. 11), S. 77. 44 T. Todorov (wie Anm. 22), S. 41. 20 Das Phantastische

wußtsein gespiegelt, also als ein subjektives Phänomen. Dem Drama dagegen ist vor allem ein ide- eller Nexus eigen; die realistische Darstellung, die wir als Voraussetzung für Phantastik herausgear- beitet haben, ist hier nur sekundär.45

In der Theorie der phantastischen Literatur von Uwe Durst werden Drama und Lyrik auch von vornherein ausgeschlossen:

Zwangsläufig bleibt meine Analyse auf die Betrachtung epischer Texte beschränkt. Die ungültige Rede der Lyrik, die das Wunderbare behauptet, ohne es zu meinen, ist nicht in der Lage, das Phan- tastische zu erzeugen. Ebenso fehlt es nahezu gänzlich an Beispielen für phantastische Dramen, ein Umstand, dessen Erklärung wohl in der Vermittlungsform der Gattung zu suchen ist.46

Und Marianne Wünsch benennt auch, obwohl ihrer Meinung nach die Struktur »als Element in verschiedene Texttypen und Medien integriert werden kann«,47 die Dominanz der Epik in der phantastischen Literatur: »Natürlich liegt auf der Hand, daß die Texte, über deren Zuge- hörigkeit zu fantastischer Literatur man sich einig ist oder sich streitet, tatsächlich Texte mit narrativer Struktur, und insbesondere eben Erzähltexte, sind.«48 Diese Neigung manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass die Beispiele für die sogenannte phantastische Literatur vorwie- gend aus Erzähltexten zitiert sind. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Narrativik sich nicht bloß auf das Erzählwerk beschränken lässt. Die äußeren Darbietungsformen »Lyrik«, »Epik« und »Dra- matik« müssen von den Eigenschaftsbegriffen »lyrisch«, »episch« und »dramatisch« unterschie- den werden, wie dies Wolfgang Kayser bereits unternommen und – wenn auch sehr bescheiden – betont hat: »Es scheint wichtig, zu betonen, daß es sich auf der Seite des Gegenständlichen, das die Grundhaltungen zu verkörpern scheint, wohl um ein von innen her Geformt-Sein, aber nicht um Formen im Sinne geschlossener Gefüge handelt.«49 Demzufolge handelt es sich beim Phantastischen, das sich als die Grundhaltung der Unschlüssigkeit verkörpert, auch um ein »von innen her Geformt-Sein«, eine narrative bzw. epische Struktur, die zwar weder eine lyri- sche noch eine dramatiche sein mag, doch sowohl in Epik als auch in Lyrik sowie in Drama zum Ausdruck kommen kann. Daher ist das Phantastische nicht nur in Epik, sondern auch in Lyrik und in Drama zu finden. Als Beispiel für das Phantastische in Lyrik ist Goethes Ballade Erlkönig zu nennen, die äu- ßerlich aus Vers, Strophe, Reim, Rhythmus usw., kurz: aus den Elementen, an denen Lyrik sich zu erkennen gibt, besteht. Der Inhalt aber wird erzählt, zumal diese Ballade mit einer erzähle- rischen Frage beginnt: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? / Es ist der Vater mit seinem

45 D. Penning (wie Anm. 19), S. 46f. 46 U. Durst (wie Anm. 7), S. 14. 47 M. Wünsch (wie Anm. 12), S. 13. 48 Ebd., S. 15. 49 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, 10. Aufl., Bern u. München 1964, S. 333. 21 Das Phantastische

Kind«.50 Die Unschlüssigkeit keimt im Dialog zwischen dem Vater und seinem Sohn über den angeblichen Erlkönig, sie wird aber zunächst durch die »natürliche« Erklärung des Vaters (»Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. – «51) unterdrückt. Im nächsten Augenblick neigt sich die Waagschale plötzlich in die andere Richtung, indem die Rede des Erlkönigs als nächste Strophe unmittelbar auf die natürliche Erklärung folgt. Nichtsdestoweniger wird diese wunderbare Rede gleichzeitig von den Anführungszeichen einigermaßen relativiert, indem sie im Unter- schied zum unvermittelten Dialog als vermitteltes Zitat kenngezeichnet ist. So drängt sich wie- derum die Vermutung auf, dass der Erlkönig in Wirklichkeit bloß in der Phantasie des Kindes vorkommt, sonst sollte seine Rede konsequenterweise gleichfalls direkt erzählt werden. Diese schwankende, ambivalente Sichtweise wiederholt sich auf dieselbe Weise noch zweimal und die Unschlüssigkeit steigert sich jedes Mal, bis sie am Ende plötzlich eine Wendung nimmt:

»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.« – Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! –52

In dieser Strophe stehen das Zitat (das Wunderbare) und der Ausruf (das Unheimliche) derart nebeneinander, dass die Unschlüssigkeit kulminiert. Zudem erfüllt der Erzähler, der in der letz- ten Strophe über den Tod des Kindes berichtet, zwei Funktionen: Einerseits suggeriert er, der Erlkönig habe die Schuld am Tod des Kindes; andererseits, indem er plötzlich im besiegelnden Präteritum erzählt: »In seinen Armen das Kind war [!] tot.«,53 blockiert er die Möglichkeit zur Erkundigung über die Wahrheit. Es bleibt dem (potenziellen) Leser also nichts anderes übrig, als zu interpretieren, ob das alles auf den Erlkönig zurückzuführen ist. Aufgrund dieser Struk- tur, solch eines poetologischen Arrangements, erhält die Ballade eine phantastische Eigen- schaft. Was das Phantastische im Drama betrifft, so hat Wünsch in ihrem anderen Aufsatz einige Beispiele für phantastische Strukturen im Drama und Film der frühen Moderne aufgeführt.54 Die Beispiele sind aber mit Vorsicht anzugehen, bevor man selbst die Werke gelesen bzw. in- terpretiert hat. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit möchte ich vorderhand darauf verweisen, dass es eine besondere Bewandtnis hat mit Kleists Drama. So wie in seinen Erzählungen geht Kleist in jedem Stück auch immer in medias res und baut die Struktur durch nachholende Berichterstattung und gleichzeitige Teichoskopie (Mauerschau) auf. Sowohl die novellistische

50 Johann Wolfgang Goethe: »Erlkönig«, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1: Gedichte 1756-1799, hers. von Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 303f. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 155. 53 Ebd. 54 Marianne Wünsch: »Phantastik in der Literatur der frühen Moderne«, in: Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890-1918, hrsg. von York-Gothart Mix, München 2000, (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 7), S. 175-191, hier: S. 177. 22 Das Phantastische

Dramaturgie als auch die diegetische Struktur sind in ausrechendem Maße episch, damit das Phantastische entsteht. Denn jeder Erzählung wohnt die Distanz zum Gegenstand inne; anders gesagt: Erst die Distanzierung ermöglicht die Gegenüberstellung und somit die Erzählung, die den Gegenstand zu restrukturieren versucht, zumal »Kleist das Drama erst an zweiter Stelle als Ort von Handlung versteht, weil er es außerdem als Raum auffaßt, wo, zum Beispiel durch Verhöre, allererst die Wahrheit der Rede befragt werden soll.«55 Die Distanzierung bedeutet aber zu- gleich die Differenzierung: Was allmählich (heraus-)erzählt wird, ist zuletzt nicht mehr iden- tisch mit dem ursprünglichen Gegenstand der Erzählung. Es bedarf sodann einer (neuen) In- terpretation. Sowohl der Leser bzw. der Zuschauer als auch die dramatis personae sind auf eine Interpretation angewiesen, um sich erneut zu orientieren. Dies lässt außerdem an Bertolt Brechts episches Theater denken. Laut Brecht sollte die »nichtaristotelische Dramatik« im Ge- gensatz zum traditionellen Theater zur Anwendung kommen, sie setzt nicht auf Einfühlen des Publikums in die handelnden Personen, sondern richtet sich auf dessen Reflexion und Kritik:

Die Bühne begann zu erzählen. Nicht mehr fehlte mit der vierten Wand zugleich der Erzähler [!]. Nicht nur der Hintergrund nahm Stellung zu den Vorgängen auf der Bühne, [...] auch die Schauspieler vollzogen die Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestell- ten Figur, ja, forderten deutlich zur Kritik auf.56

Kleists Drama ist sicher »nichtaristotelisch«, es funktioniert sogar besser im Druck als auf der Bühne. Sein Drama pflegt auch zu erzählen, was nicht selten sowohl den Zuschauer als auch die dramatis personae entsetzt. Dieses erzählende Verfahren des epischen Theaters schafft nicht nur einen großen Raum für die Kritik und Interpretation, sondern schafft somit auch die Voraussetzung für das Phantastische. (In Anlehnung an das epische Theater führt Carl Dahl- haus sogar den Begriff »epische Oper« in die Musikwissenschaft ein und stellt damit die soge- nannte zur Diskussion. In solcher Oper fielen nicht die Effeckte, die vor allem durch Musik hervorgerufen werden, ins Gewicht, sondern vielmehr der Inhalt bzw. die Fabel, die einerseits darzustellen, andererseits zu interpretieren ist.57 Man könnte demnach anneh- men, dass das Phantastische sich auch in der Oper finden lässt.) Man darf es also nicht ad absurdum führen, wenn ich schon hier behaupte, dass das Phantastische auch in seinem Dra- menwerk zu finden ist. Bezieht man die möglichen Kontexte in die Überlegung mit ein, fragt man danach, was Kleist und wie und wieso Kleist in seinem Werk zum Ausdruck bringt oder

55 Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, Mün- chen 2007, S. 215. 56 Bertolt Brecht: »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«, in: ders.: Werke, Berliner u. Frankfurter Ausgabe, Bd. 22, Tl. 1: Schriften 1, bearb. von Inge Gellert u. Werner Hecht, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, S.106-116, hier: S.108. 57 Carl Dahlhaus: »Zur Dramaturgie der Literaturoper«, in: ders. Vom Musikdrama zur Literaturoper. Auf- sätze zur neueren Operngeschichte, überarbeitete Neuausgabe, München 1989, S. 294-312. Zur epischen Oper vgl. außerdem ders.: Die Musik des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Carl Dahlhaus, fortgeführt von Hermann Danuser, Laaber 1996 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6), S. 246. 23 Das Phantastische bringen will, ist es nicht mehr überraschend, dass das Phantastische für sein gesamtes Werk konstitutiv ist.

24 Das Phantastische

25 Der historische Kontext

II. Der historische Kontext: Eine ambivalente Zeit

Zum Schluss seiner Theorie diskutiert Todorov die Funktion des Phantastischen und hebt hierbei die Kurzlebigkeit der phantastischen Literatur im 19. Jahrhundert hervor. Nebenbei bemerkt er: »[...] die fantastische Literatur ist nichts anderes als das schlechte Gewissen des positivistischen 19. Jahrhunderts.«1 Eine ähnliche Auffassung teilt Dieter Penning, der die phantastische Literatur als »Gegenbewegung zum philosophischen Positivismus« des 19. Jahr- hunderts versteht.2 Von einer anderen Perspektive ausgehend bezieht Winfried Freund das Phantastische ebenfalls auf das 19. Jahrhundert, das »Zeitalter der Revolution«: »Phantasti- sches Erleben ist eine andere, eine nachklassische Art des Sehens, eine Perspektivik als Folge des verblassenden ästhetischen Scheins. Es ist das plötzliche Innewerden einer Leere, eines Orientierungsverlusts im Zeitalter der Revolution.«3 Die oben genannten Beobachtungen deuten allesamt darauf hin, dass das Phantastische nicht zuletzt in seiner historischen Dimension erforscht sein will, und zwar in Bezug auf das 19. Jahrhundert, wo sowohl in der äußeren Institution wie auch in der inneren Mentalität eine große Veränderung stattfindet. »Das 19. Jahrhundert« an sich ist aber nichts mehr als eine Bezeichnung für den Zeitraum zwischen 1801 und 1900. Solch eine künstliche »Einheitszeit« lässt sich nicht mit einer Epoche in Übereinstimmung bringen. Das heißt aber nicht, dass das 19. Jahrhundert in Ansehung des Begriffs »Epoche« ebenso sinnlos wäre wie irgendeine Hek- tode in der uralten Jurazeit oder Kreidezeit, weil das 19. Jahrhundert angesichts seiner inneren Kohärenz des Öfteren für die Datierung verwandt worden ist. »Aber eine korrekte Datierung«, so bemerkt Reinhart Koselleck in seiner Studie zur Semantik geschichtlicher Zeiten, »ist nur Voraussetzung, noch keine Inhaltsbestimmung dessen, was ›geschichtliche Zeit‹ genannt wer- den mag.«4 Damit der epochale Begriff sich vom kalendarischen 19. Jahrhundert abhebt, wurde der Terminus »das langen 19. Jahrhundert« eingeführt. Hiermit geht man zurück bis zur Französischen Revolution – das Fanal für den Beginn einer neuen Zeit, die man, wenn man eine Reihe von Auswirkungen und Konsequenzen dieser Revolution am Ende des 18. Jahr- hunderts mit in Betracht zieht, bis ans Ende des Ersten Weltkrieges oder noch darüber hinaus ausdehnen könne.5

1 Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, dt. Übers. von Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur, München 1972, S. 150. 2 Dieter Penning: »Die Ordnung der Unordnung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, S. 34-51, S. 39. 3 Winfried Freund: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm, Stuttgart, Berlin u. Köln 1990, S. 7. 4 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1995, S. 9. 5 Vgl. z. B. Franz J. Bauer: Das »lange« 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche, 3. Aufl., Stuttgart 2010; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S 84-89. 26 Der historische Kontext

Mit der Französischen Revolution bricht nämlich eine neue Zeit an – oder genauer: eine Übergangsphase, die als »Weg in die Moderne« gilt.6 Solch ein Übergang prägt sich Koselleck nach schon im Begriff der Revolution selbst aus. Während der Begriff der Revolution zuvor entweder ihrem Präfix entsprechend für Rückkehr binnen eines Kreislaufes gehalten oder zum Bürgerkrieg degradiert worden sei,7 markiere die Französische Revolution eine neue Entwick- lung: »Die Revolution führt seitdem offensichtlich nicht mehr zurück in vorgegebene Zustände oder Möglichkeiten, sie führt seit 1789 in eine so unbekannte Zukunft, daß sie zu erkennen und zu meistern eine ständige Aufgabe der Politik geworden ist.«8 Diese Zukunft scheint umso unbekannter, als die Rovolution sich nicht nur auf den politischen Bereich beschränkt: »Daß alle politischen Unruhen soziale Momente enthalten, ist selbstverständlich. Daß aber das Ziel einer politischen Revolution die soziale Emanzipation aller Menschen, die Umwandlung der Gesellschaftsstruktur selber sei, das ist neu.«9 Es liegt nahe, dass es für die Zeitgenossen damals aus geringer Distanz schwierig war, Auf- schluss über die Folge dieser um sich greifenden Revolution und überhaupt über die unbe- kannte Zukunft zu gewinnen, wie es sich beispielsweise bei Konrad Engelbert Oelsner als Augenzeugen der Französischen Revolution zeigt, in seinen Berichten finden sich trotz einer Reihe treffender Urteile nicht wenige Fehlurteile.10 Eine Einschätzung war derart schwierig, dass die Zeitgenossen in dieser chaotischen Zeit – von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« über den Terror der Jakobiner und die Machtergreifung Bonapartes bis hin zur Restauration der Bourbonenmonarchie – nicht mehr in der Lage waren, einen beständigen Halt zu finden oder sich anhaltend an etwas zu orientieren. Bei solchen unsicheren Verhältnissen muss man unschlüssig werden, wie man sich verhalten soll. Folgerichtig wird dann ein neues Idol gefor- dert, das einen neuen Weg aufzeigen und am besten auch dorthin leiten kann, gleichgültig, um was für einen Weg es sich dabei handelt. Dies könnte wohl erklären, warum die Französische Revolution als »L’Ami du Peuple«, wie die Zeitung Jean-Paul Marats heißt, sich radikalisiert und alsbald dramatischerweise in die Gegenseite du Peuple umschlug, nicht zuletzt auch, warum diese Revolution in Deutschland eher »die revolutionsfeindliche Hysterie«11 als eine Resonanz schuf. Die französischen »Peuple«, die sich zum ersten Male an der Politik beteiligten, d. h. Entscheidungen treffen mussten, verfielen unvorhergesehen in Unschlüssigkeit und somit Un- sicherheit, in der einer gegebenen Bahn nachzufolgen leichter ist als Bahn zu brechen. Die deutsche Monarchie und die Privilegierten hingegen, die sich von der Unsicherheit bedroht

6 F. J. Bauer (wie Anm. 5), S. 96. 7 Vgl. R. Koselleck (wie Anm. 4), S. 67-76. 8 Ebd., S. 76. 9 Ebd., S. 79. 10 Vgl. Werner Greiling: »Oelsner in Paris oder ›Zeugnisse‹ eines Fremden über wichtige Revolutionsbege- benheiten«, in: Konrad Engelbert Oelsner: Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französi- schen Revolution, hrsg. von Werner Greiling, Frankfurt a. M. 1988, S. 7-28, hier: S. 20ff. 11 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 3. Aufl., München 1996, S. 357. 27 Der historische Kontext sahen, wussten sich präventiv vor der Unschlüssigkeit zu schützen.12 Daher sind die Revolu- tion und die Reaktion zwei Seiten einer talismanhaften Medaille, mit deren Hilfe man sich gegen den ambivalenten Zustand, den unverständlichen Zufall und die offene Zukunft gefeit macht, um auf jedem Fall am Ruder zu bleiben, sobald die alte, überlieferte und gewöhnliche Ordnung zu wanken beginnt.

II.1. Die ohnmächtige Vernunft

Zum dem, was die alte europäische Ordnung ins Wanken brachte, zählt ohne Zweifel die Auf- klärung als eine der entscheidenden Ursachen. Ohne die vorausgehende Aufklärung, die die herkömmlichen Überzeugungen unterhöhlt hatte, wäre die Französische Revolution undenk- bar gewesen. »Welche göttliche Eingebung lehrte denn diesen sogenannten Pöbel auf einmal so uneigennützig großmüthig, so ordentlich, so einsichtsvoll, so heldenmäßig handeln?«, so fragt sich Joachim Heinrich Campe als unmittelbarer Beobachter der Geschehnisse in Frank- reich. Er fährt fort: »Die Eingebung war vorhergegangen; die Vorsehung hatte sie, trotz den menschenfeindlichen Despoten, die sie zu verhindern suchten, zu bewirken gewußt; sie heißt – Cultur und Aufklärung.«13 Während Campe die revolutionäre Leistung der Aufklärung zu- schreibt, rühmt Friedrich von Gentz diese Revolution als Praxis derselben: »Sie [die Französi- sche Revolution] ist der erste praktische Triumph der Philosophie, das erste Beispiel einer Re- gierungsform, die auf Prinzipien und auf ein zusammenhängendes, konsequentes System ge- gründet wird.«14 So positiv die beiden sich damals zur Revolution in Verbindung mit der Auf- klärung äußerten, so dramatisch geriet bald darauf der Kurs dieser am Anfang hoch geschätz- ten Aktivitäten vollkommen ins Schlingern. Statt einer aufgeklärten Welt, in der Vernunft und Sittlichkeit herrschen sollten, brachte die Revolution im Namen der vermeintlichen Moral viel- mehr Gewalt hervor, wie es im Bericht Oelsners vom 18. September 1792 lautet:

Das sonderbare Gemische von Barbarei und Sittlichkeit, worauf man unaufhörlich in den Bege- benheiten der gegenwärtigen Revolutonen stößt, kann niemand unbemerkt geblieben sein. Eben das Volk, welches sich mit der leichtsinnigsten Grausamkeit an dem Personen- und Sacheigentum vergreift, bestraft mit kannibalischer Strenge den Dieb, der zu seinem Privatgebrauche zu entwen- den sucht [...].15

Die Datierung nenne ich, weil anzumerken ist, dass man am 10. November 1793 trotz der immer deutlicher gewordenen Unvernunft das Fest der Vernunft als »die neue Religion« in

12 Vgl. ebd., S. 353-362. 13 Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, Braunschweig 1790, S. 102. Zitiert ist der dritte Brief vom 10. August 1789. 14 Friedrich von Gentz: Briefe von und an Friedrich von Gentz, hrsg. von Friedrich Carl Wittichen, Bd. 1, München u. Berlin 1909, S. 178f. Das Zitat kommt aus dem Brief an Christian Garve vom 5. Dezember 1790. 15 K. E. Oelsner (wie Anm. 10), S. 198f. 28 Der historische Kontext

Notre-Dame in Paris veranstaltete: »Man hatte, so gut es ging, in zwei Tagen in dem engen Chor von Notre-Dame einen Tempel der Philosophie errichtet, der mit den Bildern der Weisen, der Väter der Revolution, ausgeschmückt war. Ein Berg trug diesen Tempel; auf einem Felsen brannte die Fackel der Wahrheit.«16 Aus dem Anspruch auf Säkularisierung geht paradoxer- weise eine neue Religion hervor; Vernunft und Unvernunft wachsen paradoxerweise zusam- men. Die Wahrheit ist, dass der Aufklärung auf Erden nicht zu helfen war. Dann stellt sich die Frage, was tatsächlich aufgeklärt wurde. Aufklärung bezeichnet wortwörtlich eine Aktion, die sich es darauf absieht, dem Menschen etwas Unklares oder Trübes aufzuschließen und dadurch zu (er-)klären. Sie bezieht sich näm- lich auf den Anspruch auf das Wissen und auf die Wahrheit, die seit je unantastbar und nicht selten tabuiert sind. In diesem Sinne führt Friedrich Schiller die Wirkungen der aufklärenden »guten Schaubühne« auf: »Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens ver- schwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.«17 Oder wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Anfang ihrer Dialektik der Aufklärung bemerken: »Das Programm der Aufklä- rung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.«18 Demnach sollten blinder Gehorsam und (Aber-)Glauben beseitigt werden; gefördert wird stattdessen die Vernunft, obwohl deren Konzeption sich über die gesamte Auf- klärung mehrmals verändert hat. Immerhin heißt es in Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«19 Solch einem Verständnis, das die Vernunft mit dem Verstand verkoppelt, was sich aber nicht von selbst versteht, folgen nicht nur die Säkularisierung und die Rationalisierung,20 sondern auch der Boom der Naturwissenschaften und Technik zwecks der Beherrschung der Natur, der in Folge zur industriellen Revolution führte. Und somit steht seitdem das Fortschrittsdenken im Vordergrund, nachdem die Konzeption vom Zeitkreis durch die vom Zeitpfeil als kausale Verkettung ersetzt wurde.21 Es scheint eine Einbahnstraße ohne Geschwindigkeitsbegrenzung zu geben, auf der die menschliche Vernunft mit voller Frei- heit die Menschheit zur Glückseligkeit und Vollkommenheit bringen könne und sollte – anstatt der Verheißung Gottes.

16 Jules Michelet: Geschichte der Französischen Revolution, hrsg. von Jochen Köhler, dt. Übers. von Richard Kühn, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1988, S. 372. 17 Friedrich Schiller: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 8: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992, S. 185-200, hier: S. 197. 18 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 12 Aufl., Frankfurt a. M. 2000, S. 9. 19 Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« in: ders.: Werke, Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Polotik und Pädagogik, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1964, S. 51-61, hier: S. 53. 20 Vgl. F. J. Bauer (wie Anm. 5), S.40-50. 21 Vgl. ebd., S.20-29; außerdem S. 39f. 29 Der historische Kontext

Tatsache ist jedoch: Im Gegensatz zu Kants zuversichtlicher Erklärung, Aufklärung sei »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«,22 zeigt sich uns heute aus größerer Distanz, dass auf diese Unmündigkeit eher Pubertät als Mündigkeit folgt. »Der Vernunft Recht«, der laut Friedrich Gottlieb Klopstocks Weissagung einst vor dem »Schwert- recht« herrschen würde,23 ist bisher offensichtlich diesem unterlegen, wie die Französische Revolution, die so genannte Praxis der Aufklärung, bereits aufgeklärt hat. Vor den mit der Revolution einhergehenden Wirren hat Kant bereits vor der Französischen Revolution in sei- ner Beantwortung gewarnt:

Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinn- süchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.24

Diese Meinung teilt auch Konrad Engelbert Oelsner. Er nennt sich zwar »Revolutions- freund«,25 bemerkt aber eine fast unüberwindbare Schwäche der Revolution, nämlich Drei Stu- fen der Aufklärung bei den Anhängern der Revolution, die als Prophet, Jünger und Volk zu begreifen sind:

Letzterer, einmal in Bewegung gesetzt, läßt sich leicht in jedes beliebige System fortreißen, er un- tersucht wenig, was die Sache leistet, und denkt einzig nur an das, was sie verspricht. Eine unerfüllte Hoffnung, eine Prüfung, eine Beraubung macht ihn wankelmütig, wirft ihn dem verwegenen Schar- latan an den Hals.26

Auffallend ist, dass die beiden – der eine vor der Revolution, der andere gerade mittendrin – ein und dieselbe Ursache hierfür erkennen, nämlich die Abhängigkeit von der überlieferten Gewohnheit. Während Kant konstatiert: »Wer sie [Satzungen und Formeln] auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.«27 So hält Oelsner die dritte Stufe für »die zahlreichste, nährt sich von den Abschnützeln und Brosamen der übrigen, sie lebt in einer Art gelinder Barbarei, Gewohnheit und Beispiel treiben sie herum wie ein blinder Gaul die Roll- maschine.«28 Sowohl die Prognose Kants als auch die Diagnose Oelsners decken zugleich ein grundlegendes Problem der Aufklärung auf: Das Ungewohnte ist nichts anderes als Angst, weil der Bereich jenseits des Grabens unbekannt ist.

22 I. Kant (wie Anm. 19), S. 53. 23 Friedrich Gottlieb Klopstock: »Weissagung«, in: ders.: Ausgewählte Werke, hrsg. von Karl August Schlei- den, 3. Aufl., München 1969, S. 122. 24 I. Kant (wie Anm. 19), S. 53. 25 K. E. Oelsner (wie Anm. 10), S. 29. 26 Ebd., S. 35. 27 I. Kant (wie Anm. 19), S. 54. 28 K. E. Oelsner (wie Anm. 10), S. 34. 30 Der historische Kontext

Zunächst sei ein kurzer Überblick über meine erläuterungsbedürftige These gestattet. Hier- für sei Folgendes zu bedenken: Diese menschliche, allzumenschliche Angst tritt dann auf, wenn man vor den eigenen Grenzen steht, oder vor allem, wenn man im Begriff ist, diese zu über- schreiten. Dies gilt auch für die Aufklärung. Wenn die Aufklärung den Menschen sowohl aus der sakralen wie aus der säkularen Herrschaft emanzipiert, bringt sie ihn nicht etwa in eine aufgeklärte Welt, wo er sich der Wahrheit hemmungslos nähern kann, sondern vielmehr in Verlegenheit, weil er, unvermittelt freigelassen, sich in der neuen Welt nicht zurechtfinden kann. Unter diesen Umständen kann der Mensch logischerweise nicht umhin, eine neue Herrschaft als Ersatz für die alte zu suchen. Hieraus entstehen, insbesondere im Bereich der Populärphi- losophie, neue eigene Religionen wie der oben erwähnte Kult der Vernunft oder verschiedene Konzeptionen der Kunstreligion als »Religionsersatzes«.29 Deshalb bewegt sich die Aufklä- rung, die den Zeitlauf aus dem Kreis, wenn auch nicht dem Teufelskreis, zu befreien und linear auf die glückselige Zukunft zu richten wähnte, immer noch in demselben Kreis. Gerade deswegen halten Horkheimer und Adorno die Aufklärung für eine Selbstzerstörung. Bei der Erforschung der Frage, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschli- chen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt,«30 stellen die beiden heraus, dass die Aufklärung in der Tat nach dem gleichen Prinzip handelt wie der Mythos, den sie ursprünglich mithilfe der Wissenschaft aufheben wollte: »Die Verdoppelung der Natur in Schein und Wesen, Wirkung und Kraft, die den Mythos sowohl wie die Wissenschaft erst mög- lich macht, stammt aus der Angst des Menschen, deren Ausdruck zur Erklärung wird.«31 Es ist nämlich nach wie vor dasselbe Prinzip, die Angst vor der unbegreiflichen Natur/(Um-)Welt mithilfe der Vernunft (jedoch mit unterschiedlichem Verständnis!) zu beseitigen. So konstatie- ren die beiden Kritiker: »Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst.«32 Oder: Der Mythos ist das Ergebnis der primitiven Aufklärung. Und die neue Erklärung bzw. Orientierung gilt, bis sie wiederum nicht mehr überzeugt, sich deshalb als problematisch herausstellt und durch eine noch neuere zu ersetzen ist. Hieraus entsteht die Dialektik der Aufklärung oder deren Metabolismus.

29 Bernd Auerochs: »Was ist eigentlich Kunstreligion?« in: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Kon- frontationen – Kontroversen – Konkurrenzen, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs u. Christian Soboth, Berlin u. New York 2011, S. 323-335, hier: S. 325. Er nimmt die Französische Revolution für einen hauptsächlichen Anlass für die Kunstreligion und bringt eine ähnliche These hervor: »Die Vorstellung eines radikalen Umbruchs scheint durch die sich überschlagenden Ereignisse in Frankreich so geläufig geworden zu sein, dass es zunehmend leicht fällt, die eigenen geistigen Bemühungen für etwas Umstürzendes zu halten oder, wo man soweit nicht gehen möchte, in ihnen doch zumindest die Vorbereitung eines unerhört Neuen zu erblicken, das sich im eigenen Denken und Dichten unverkennbar ankündigt.« Ebd., S. 327. 30 M. Horkheimer u. T. W. Adorno (wie Anm. 18), S. 1. 31 Ebd., S. 21. 32 Ebd., S. 22. Vgl. außerdem S. 27. 31 Der historische Kontext

Der Impuls einer solchen Aufklärung entspringt Willi Oelmüller nach historischen Prozes- sen, die die Lebens- und Handlungsbedingungen verändert haben, so dass man sich neu ori- entieren muss.33 Ihr Potential steckt in der Angst vor der Natur, in der zu leben dem Menschen mit seinem schwächeren Instinkt schwerfällt: Je bedrohlicher die Angst ist, desto dringender ist das Bedürfnis nach der Auf- bzw. Erklärung. Die Angst lässt sich erst dann beseitigen, wenn man durch die Verstand-Vernunft-Verbindung das Unbestimmte bestimmt, das Unfassbare erfasst, die Unordnung ordnet, das Unaussprächliche ausspricht, kurz: das Unerklärliche erklärt – wenn auch nur teilweise; dadurch wird das Unbegreifliche begreiflich und somit verfügbar wie das Unheimliche heimisch gemacht. Deshalb ist die bewohnbare Welt im Grunde genom- men die von der Vernunft bearbeitetes Natur namens Kultur, wie diese etymologisch (cultura) eben das Bearbeiten im doppelten Sinne des Kultivierens bedeutet und im Topos als Antithese der Natur gilt. Dies hat Friedrich Schlegel schon sehr deutlich gesehen: »Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus ver- ständlich würde. Und ist sie selbst diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?«34 Während man die primitive Aufklärung mithilfe des Mythos gegen die unverständliche und chaotische Natur durchsetzt, distanziert man sich zugleich von der beseitigten Angst, indem man sie durch eine andere Angst ersetzt, d. h. mit einem Tabu belegt. In diesem Verteidigungs- system zeigt sich bereits, dass die Vernunft wie eine Mauer fungiert, ein Damm oder eine Ab- leitung, denen die Funktion gemeinsam ist, Schutz gegen etwas Unfassbares zu bieten. Aber, wie das Verb »beseitigen« andeutet, ist das, was der Vernunft über den denkenden Kopf ge- wachsen ist, in der Tat nur auf die Seite geräumt worden. Die Vernunft kann es ablehnen, zurückweisen, unterdrücken oder ihm den Stuhl vor der Tür des Bewussten setzen, aber es wirkt dennoch von da aus – bedrohlich – jenseits der Vernunft – und wird sich rächen, wenn dieselbe versagt. Kein Wunder also, dass das Geheime und Esoterische in der Aufklärung eben infolge der Dichotomisierung vom privaten und öffentlichen Raum einen Aufschwung erlebte, die gesellschaftliche Ordnung bedrohte und sogar als »preadaptive advance« eine spätere gesell- schaftliche Entwicklung vorbereitete.35 Neben der sozialgeschichtlichen Deutung lässt sich das Phänomen anthropologisch als Dialektik zwischen dem natürlichen Innenraum (z. B. in Hinsicht auf die Mysterienkulte) und der kulturellen Ordnung (z. B. in Hinsicht auf die Staat- bürgerschaft) erläutern. Ein weiteres Beispiel für die Gewalt der Natur gegen die Kultur und zugleich eine Begründung dafür, weshalb man sich von der Natur distanziert, liefert Ludwig

33 Willi Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt a. M. 1979, S. IVf. 34 Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit«, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hrsg. von Hans Eichner, München, Paderborn u. Wien 1967, S. 363-372, hier: S. 370. 35 Vgl. dazu Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstel- lung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002, S. 9-45. 32 Der historische Kontext

Tieck geistreich durch eine Allegorie vom Verhältnis zwischen dem Park/Garten, der der In- begriff von Kultur ist, und der Natur, der gegenüber die Kultur sich selbst nicht mehr erhalten kann: »Daher scheint es mir auch geradezu unmöglich, in Bergen einen Park anzulegen, weil die Natur die unmittelbar hinein blickt, die Kunst-Effekte, die ihr hier verwandt sein sollen, vernichtet.«36 Nun fordert man in der neuzeitlichen Aufklärung, das Tabu als Aberglauben abzuschaffen, den Mythos zu entzaubern und die alte Mauer einzureißen, um die Freiheit zu erlangen, sich durch die eigene Vernunft zu entscheiden. Der Mensch will die Unmündigkeit abstreifen; das heißt aber, dass die eigene Vernunft dann unmittelbar mit der drohenden Angst konfrontiert wird, und zwar nackt und bloß, weil man den alten Menschen von sich selbst abgelegt hat. Wenn sich alles nicht mehr sich von selbst versteht, sondern zu verstehen ist, braucht die Ver- nunft Zeit, um sich erneut zu orientieren. Aber die veloziferische Zeit, die sich seit der Aufklä- rung immer wieder und immer schneller verändert, erlaubt dies nicht, weil es keine beständige Orientierung gibt. Darum kann die Vernunft nur noch mühesam funktionieren und die Angst gewinnt ein Übergewicht. Von außen her geht es um die Angst vor dem Umsturz der Kultur wieder in die Natur; von innen her lässt sich die Angst auch als Furcht vor des Unbewussten »Umsetzung oder Übersetzung in Bewußtes«37 ansehen, weil Instinkte und Begierden, die der Vernunft entgegenstehen und deshalb unterdrückt sein wollen, auch Teil der Natur sind. Die Vernunft wird von diesen beiden Seiten bedrängt. Kein Wunder also, dass die Aufklärung einen besonderen Akzent auf Moral und Tugend legt, damit die Vernunft nicht von der Triebnatur unterhöhlt wird und versagt. Daraus erklärt sich ferner der Anspruch auf Nützlichkeit bzw. Anpassung an die Ordnung. Solcher Anspruch muss jedoch im Verlauf seine Totalität einbü- ßen. Denn der Mensch hat Gefühle, die dem Anspruch der Vernunft widersprechen. Dies klingt zwar banal, ist aber unleugbar. Abgesehen davon, dass der Moraldiskurs in der Aufklä- rung geschlechterdifferenziert geführt ist, kann man hierbei die Aussage von Lessings Minna von Barnhelm heranziehen: »[W]enn alle Mädchens so sind, wie ich mich jetzt fühle, so sind wir – sonderbare Dinger. – Zärtlich und stolz, tugendhaft und eitel, wollüstig und fromm – Du wirst mich nicht verstehen. Ich verstehe mich wohl selbst nicht. – Die Freude macht dre- hend, wirblicht.«38 Gilt dies denn nicht auch für die Männer, die sich anmaßen, die Menschen

36 Ludwig Tieck: Schriften, Bd. 6: Phantasus, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1985, S. 109. 37 Sigmund Freud: »Das Unbewusste«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 2001, S. 119-173, hier: S. 125. Außerdem hat Freud in seinem Aufsaz Das Unheimliche über das Verhältnis zwischen Angst und der Verdrängung gesprochen: »[W]enn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen läßt, daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist.« S. Freud: »Das Unheimliche«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 4: Psychologische Schriften, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 241-274, hier: S. 263. 38 Gotthold Ephraim Lessing: »Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 6: Werke 1767-1769, hrsg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 9-110, hier: S. 42. Die Gedan- kenstriche zeichnen übrigens die Selbstreflexkion des denkenden Mädchens (oder besser: des Menschen) aus. 33 Der historische Kontext bei der Aufklärung anzuleiten? Lassen sich die »sonderlichen« Gefühle doch nicht für immer als weiblich brandmarken. Während sich die Aufklärung im 17. Jahrhundert ihres rationalisti- schen Prinzipiencharakters rühmt, »scheint dieser Absolutismus des Einheitsgedankens«, so Ernst Cassirer, »[b]eim Übergang zum achtzehnten Jahrhundert […] seine Kraft zu verlieren, scheint er zu vielfältigen Einschränkungen und Zugeständnissen genötigt zu werden.«39 Die Ära der ohnmächtigen Vernunft stimmt ferner mit dem Konzept der »Sattelzeit« über- ein, einer Umwälzungszeit zwischen der vormodernen Zeit und der Moderne, wo der Erfah- rungswandel laut Koselleck seit ca. 1750 beschleunigt stattgefunden habe, der spätestens 1770 im Bedeutungswandel von Terminologie registrierbar sei: »Plötzlich aufbrechende, schließlich anhaltende Veränderung machen den Erfahrungshorizont beweglich, auf den die ganze Ter- minologie, besonders ihre relevanten Begriffe, reaktiv oder provokativ bezogen werden.«40 Der Vergleich ist umso sinnvoller, als die gesamte Terminologie, das Kollektivum von Namen und Begriffen, als kollektive Konzeption über die Welt zu verstehen ist, nämlich als Art und Weise, wie man die Welt begreift, erfasst und damit behandelt41 oder – um mit Johann Gottfried Herders Wort zu sprechen – wie der Mensch als Vernunftwesen bzw. Besonnenheitswesen die natürliche Welt auffasst, gliedert, ordnet und dadurch als menschliche Weltordnung beherrsch- bar macht:

Je mehr er nun Erfahrungen sammlet, verschiedne Dinge und von verschiednen Seiten kennenlernt, desto reicher wird seine Sprache! Je öfter er diese Erfahrungen siehet und die Merkmale bei sich wiederholet, desto fester und geläufiger wird seine Sprache. Je mehr er unterscheidet und unterei- nander ordnet, desto ordentlicher wird seine Sprache!42

Im Wandel der Terminologie und insbesondere ihrer Begriffe spiegeln sich nämlich Versuche zur neuen Orientierung durch neue Merkmale und Begriffe. Aber Herder, aus dessen Sicht der Mensch »gleichsam nie der ganze Mensch, immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervoll- kommnung« sei, dürfte nun im Jahr 1770 noch nicht geahnt haben, dass die Kunst des Auffas- sens durchaus versagen kann, dass die ordnende Vernunft zwar der beängstigenden Unord- nung mächtig sein will, aber gerade ihretwegen ohnmächtig wird, so dass die Unordnung sich umgekehrt der Vernunft bemächtigt, was sich sowohl im Hinblick auf die heterogenen Ansätze der Moderne und ihr unvernünftiges Ende als auch durch die Sprachkrise nachweisen lässt. So stellt Hugo von Hofmannsthals Protagonist Lord Chandos eine Diagnose über sich selbst: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend

39 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, 2. Aufl., Tübingen 1932, S. 29. 40 Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stutt- gart 1972, S.XIII-XXVII, hier: XV. 41 Hierzu vgl. Otto Friedrich Bollnow: Sprache und Erziehung. Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1979, S. 115- 157. Deswegen betont der Autor: »Begriffe sind Mittel zur Orientierung in dieser Umwelt [...]« (Ebd., S. 130). 42 Johann Gottfried Herder: »Über den Ursprung der Sprache«, in: ders.: Werke, Bd. 2: Herder und die Anth- ropologie der Aufklärung, hrsg. von Wolfgang Pross, München u. Wien 1987, S. 251-357, hier: S. 325. 34 Der historische Kontext etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.«43 Die Ohnmacht der Vernunft sorgt also für ein bewegliches Einhalten, eine Schleifenfahrt, die, wie das Unendlichzeichen ( ∞ ), entweder zum Nichts, wie bei Chandos, oder zur Regression führt: »Je mehr die Denkmaschi- nerie das Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte.«44 In der obigen Skizze zeigt sich, dass die angeblich von der (nunmehr ohnmächtigen) Ver- nunft aufgeklärte Welt – trotz all der aufklärerischen Maßnahmen – nichts anderes als eine »gebrechliche Einrichtung«i ist, die leicht ins Wanken gerät. Zur Folge hat dies dreierlei: Zuerst ist die Revolution im größeren Sinne zu nennen, zu der auch der Radikalismus zählt. Nachdem man die alte Einrichtung bereits in Gedanken verneint hat, folgt das Handeln – über kurz oder lang – so gut wie unwiderstehlich. Die Revolution kann zwar die alte Ordnung um- stürzen, aber damit auch die ordnende Vernunft, weil sie erneut, angesichts der bewegten Ver- hältnisse jedoch vergeblich zu orientieren gezwungen wird. Daraus entsteht ein Vakuum der Vernunft, wobei man die Revolution der Revolution vorantreibt und sich radikalisiert, um sich mithilfe der kollektiven Gewalt45 vor der Unsicherheit zu schützen. Das Resultat sind »[t]ota- litäre gesellschaftlich-politische Systeme, die von den Menschen, die in ihnen leben, angeblich im Namen der Sicherung und Durchsetzung von Errungenschaften der Aufklärung Dogma- tismus, Intoleranz und Bekenntniszwang für ihre Legitimationsideologien verlangen«.46 Dies spiegelt sich nicht nur im radikalisierten Rationalismus unter Einfluss der Wolff’schen Philo- sophie und wiederum im Anspruch auf Erfahrung und Empfindung seit der Hochaufklärung wider,47 sondern auch in Friedrich Nicolais Kritik am jungen Christoph Martin Wieland, der einst der Christlichkeit nahestand: »[E]s wäre ein ewiges Spektakel, wann diese Frömmigkeits- lehrerin [Wielands Muse] noch wieder zu einer munteren Modeschönheit würde!«48 In anderer Gestalt manifestiert sich diese kollektive Gewalt auch in den deutschen Aufklärungsvereinen, die nicht jedem zugänglich sind, vor allem nicht dem »wirtschaftlich, moralisch und intellektuell als unsicher geltenden Kleinbürgertum«,49 aus Gründen des Schutzes vor den gefährlichen, unkontrollierbaren Elementen.

43 Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe, Bd. XXXI: Erfun- dene Gespräche und Briefe, hrsg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, S. 45-55, hier: S. 48. 44 M. Horkheimer u. T. W. Adorno (wie Anm. 18), S. 33. 45 Zur Kraft des Kollektivs im Prozess der Aufklärung vgl. M. Horkheimer u. T. W. Adorno (wie Anm. 18), S. 28f., 35 u. 43. 46 W. Oelmüller (wie Anm. 33), S. VIII. 47 Rolf Grimminger: »Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusam- menhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts«, in: Deutsche Aufklä- rung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 15-99, hier: S. 33-57. 48 Zit. nach Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen u. Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klas- sik, 1740-1789, München 1990 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Helmut de Boor u. Richard Newald, Bd. 6), S. 286. 49 H.-U. Wehler (wie Anm. 11), S. 328. 35 Der historische Kontext

Zum zweiten: Dort, wo das Leben mit den traditionellen gesellschaftlichen Institutionen eng verbunden und von ihnen abhängig ist, zeigt man Reaktion, weil es um die grundlegende Selbsterhaltung geht. Sollte die Tradition, an der sich das Leben orientiert, bestritten werden, würde man in Unschlüssigkeit und Unsicherheit fallen, weil man nicht weiß, wovon man wei- terhin leben sollte. Hierin liegt einer der Gründe, weshalb in Deutschland keine Revolution von unten als Folge der Französischen Revolution ausbricht, weshalb die Reformpolitik, die Revolution von oben, am Anfang eher als ein Schlagwort erscheint: Sowohl der Adel als auch der Bürger und der Bauer sind tief in der traditionellen Einrichtung verwurzelt.50 »Nicht zu- letzt wirkte sich die jahrhundertealte, religiös fundierte Untertanenmentalität als Barriere gegen offene Unbotmäßigkeit aus.«51 Umso mehr, als die Aufklärung sich noch auf das Identitäts- problem bezieht. Denn die Aufklärung gibt die Veranlassung zu Veränderungen in verschie- denen Bereichen, die wiederum den konventionellen Institutionen ihre Verbindlichkeit entzie- hen. Oelmüller bemerkt hierzu: »Riskant sind solche Veränderung, weil sie, wie wir heute durch hinreichend viele Beispiele wissen auch zur Aufkösung personaler und sozialer Identitäten und zur Auflösung von Institutionen und Traditionen führen können.«52 Da davon hauptsächlich die Menschen aus den unteren sozialen Schichten, die die Mehrheit der Bevölkerung bilden, betroffen sind,53 liegt es nahe, wie weit und breit das Identitätsproblem auswirken kann. Auf- grund der Angst vor solch einer Unsicherheit und Orientierungslosigkeit verbleibt man also lieber in seiner Welt. Und nach der Französischen Revolution, die gleichsam als Gegenbeispiel dient, klingt die Aufklärung allmählich aus. Zum dritten versinkt man in Resignation, weil man sich nicht aus der Unsicherheit retten kann, weil man sich in einem Dilemma befindet, weil man die der Orientierung vorausgehende Anpassung – sei es reaktionär, sei es revolutionär – nicht leisten kann. Während sich Ende des 19. Jahrhunderts die Dekadenz als Resignation gegenüber der unkontrollierbaren sozialen Ver- änderung darstellt54 und nach dem Wiener Kongress der Biedermeier mit »sein[em] Wahl- spruch: Weder kalt noch warm«,55 gegenüber der für ihn unantastbaren politischen Entwick- lung herrscht, ist solch ein Verzichten Ende des 18. Jahrhunderts gegenüber auch der Aufklä- rung nicht abhandengekommen, denn der aufklärerische Anspruch auf Vernunft erlaubt zu- gunsten ihrer Totalität keine dritte Alternative außer dem Dualismus: Entweder Vernunft als alles oder Unvernunft als nichts. Zu dem letzteren gehörten z. B. der die »Natur« artikulierende Sturm und Drang und das Genie als »Werk der Natur«.56 In ihnen sieht man eher die drohende

50 Vgl. ebd., S. 355-358, auch S. 329f. 51 Ebd., S. 358. 52 W. Oelmüller (wie Anm. 33), S. XVI. 53 Vgl. F. J. Bauer (wie Anm. 5), S. 62f. 54 Vgl. ebd., S. 57f. 55 Ludwig Pfau: »Herr Biedermeier. Mitglied der ›besitzenden und gebildeten Klasse‹«, in: ders.: Ausge- wählte Werke, hrsg. von Rainer Moritz, Tübingen u. Stuttgart 1993, S. 63f. 56 Vgl. Gerhard Sauder: »Geniekult im Sturm und Drang«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von ders., 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 327-340, hier: S. 328. 36 Der historische Kontext

Gefahr, die beseitigt werden müsse, als prometheische Menschenhelfer. »O meine Freunde!« so fragt der junge Werther, »warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert?«57 Darauf gibt er eine Ant- wort, die die Funktion der Vernunft plastisch darstellt: »Liebe Freunde, da wohnen die gelas- senen Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künf- tig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.«58 Solche Dämme revolutionär zu zersprengen, ge- lingt ihm aber nicht, vielmehr fällt er der sozialen Ordnung, der Moral zum Opfer: »Und was ist das, daß Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für diese Welt – und für diese Welt [!] Sünde, daß ich dich liebe, daß ich dich aus seinen Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut, und ich strafe mich dafür«.59 Er verzichtet, weil das Individuum im Widerspruch zum Kollektiv steht und gezwungen wird, sich ihm preiszugeben. Das Beispiel Werther, der laut seines Verfassers der Trost und Freund für den Gleichgesinnten sein sollte, zeigt sich darüber hinaus, warum das Sturm und Drang keine große Resonanz finden kann.60 Stellt man die drei oben genannten »re-agere« zusammen, ergibt sich daraus das Profil eines widersprüchlichen und somit ambivalenten Zeitalters, Widerspruch, weil die alte und die neue Ordnung, d. h. das Geordnete und das Ordnende, sich miteinander kreuzen, Ambivalenz, weil man des Widerspruches wegen die Orientierung verliert, in Unschlüssigkeit verfällt und dann an der Kreuzung innehält. Die von der Aufklärung gelobte Welt findet sich nur in der Utopie – nur an einem nicht zu erreichenden Nicht-Ort (Ou-Topos). Denn in der Realität sind die Angst und ihre Ursache immer präsent: Was die stärkere Natur fordert, kann man letztlich nicht verweigern.

II.2. Der Tod und der »Geister-Komplex« der Aufklärung

Laut Grimms Wörterbuch hat das Wort »heimlich« verschiedene Bedeutungen, von denen die meisten heutzutage eher »heimisch« heißen.61 Sowohl beim Heimlichen als auch beim Heimi- schen geht es im Wesentlichen doch um das Heim, sei es ein physisches oder ein psychisches. Das Wort signifiziert also einen materiellen bzw. geistigen Raum, in dem man sich sicher fühlt und sich geschützt vor Fremdem, Wildem, Unkontrollierbarem oder Gefährlichem sieht; es handelt sich ja um einen Raum, innerhalb dessen vier Wänden man sich selbst erlaubt, seinen Willen heimlich durchzusetzen, ohne dass andere als Außenseiter davon wissen. So bewandt ist

57 Johann Wolfgang Goethe: »Die Leiden des jungen Werther«, in: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 6: Romane und Novellen I, hrsg. von Erich Trunz, 14. Aufl., München 1996, S. 7-124, hier: S. 16. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 117. 60 Vgl. G. Sauder (wie Anm. 49), S. 332. 61 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB), 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854- 1961, Bd. 10, Sp. 874-879. 37 Der historische Kontext es mit der Vernunft, mit der der Mensch sich ummauert, um sich einen heimlichen Raum zu schaffen, und sich infolgedessen darin wähnt, dass er in diesem schönen Raum ruhig leben und sogar herrschen könne – Darin kann er z. B. die Herrschaft über die Natur ausüben. Dass er sich wähnt, meine ich, weil nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb dieser Mauern die Angst dennoch präsent und jederzeit bereit ist, seine vermeintliche Sicherheit als Wahnidee bloßzulegen. Wie im obigen Abschnitt bereits angedeutet, wird die Vernunft, die man besonders bean- sprucht, nicht nur außen mit der sich stets und heftig verändernden Zeit, sondern auch innen mit dem von ihr unterdrückten Trieb konfrontiert. So gilt die Angst vor dem Tod bzw. vor dem endgültigen Verschwinden des Selbst wohl als die größte und fatalste Bedrohung, weil ihr gegenüber alle Bemühungen um Lebenserhaltung vergeblich sind. (Vom Tod zu reden könnte deshalb schon ein Tabu sein.) Da der Tod eben zur Kette des Naturkreislaufs gehört, ist die Angst vor dem Tod und die vor der Natur doch eigentlich ein und dieselbe. Genauer gesagt: Da der Mensch – zumindest dessen körperlicher Teil – eben zur Natur gehört, ist er determi- niert, trotz all seiner Bemühungen um eine eigene Lebenserhaltung, der Natur bzw. dem Tod unterlegen zu sein. Zumal man dem Tod infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen, der noch nicht behandelnden Krankheiten oder der Hungersnot in diesem Zeitalter überall begeg- net. (Man denke z. B. an die Kriegskette, die bis in unser Jahrhundert ausdehnt!) Über diese tödliche Tatsache kann die Vernunft nicht länger als zeitweilig hinwegtäuschen. Sie versagt, sobald man an das Fait accompli bewusst denkt oder vielmehr sich dessen unbewusst erinnert. Daraus geht eine unheimliche Empfindung hervor, weil man sich dann nicht mehr zu Hause, nämlich unheimlich, fühlt. So legt Tieck dem »Ernst«, einer Figur in der Einleitung zu seinem Phantasus, in den Mund: »selbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so selt- same Ahndungen, so verwirrte Schatten durch unsre Phantasie jagen, daß wir ihr entfliehen und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten.«62 Mit den Gespenstern ist hier eigentlich die Angst vor der Natur gemeint, aber auch, wie die Gespenster signifizieren, die von der Natur suggerierte Angst vor dem Tod bzw. der endgültigen Auflösung in die natürli- chen Elemente. Durch die Angst wird die Vernunft derart unterhöhlt, dass die aufgeregte Phantasie ihre geistigen Mauern durchbricht und sich Luft verschafft. Infolgedessen entpuppt sich die heimliche Atmosphäre als unheimliche Wahrheit; an dem gespensterfreien Ort wird gespukt.63 Der verführte Mensch versucht, sich in das Getümmel der Welt zu flüchten, in der diesseitigen Welt bzw. im Diesseits der Vernunft bzw. in der Kultur nach Refugium zu suchen, demgemäß lautet Søren Kierkegaards geistreicher Aphorismus: »Ich sage von meinem Kum- mer, was der Engländer von seinem Hause sagt: mein Kummer is my castle. Viele Menschen

62 L. Tieck (wie Anm. 36), S. 112. 63 »heimlich ist auch der von gespensterhaftem freie ort.« DWB, Bd. 10, Sp. 874. 38 Der historische Kontext betrachten es als eine der Bequemlichkeiten des Lebens, Kummer zu haben.«64 Aber das castle der Vernunft ist, wie gesagt, zu gebrechlich, als dass man sich darin stets wohl befinden und sich der Wohlfahrt erfreuen könnte. Denn eine dunkle Ahnung verbleibt und liegt auf der Lauer; sie ist bereit, bei Gelegenheit die Tagesordnung und den hellen Tag und die klare Ord- nung in den Schatten zu stellen. Der Protagonist in Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten, Gerhard Warlich, nimmt wahr: »Die Tage dauern entschieden zu lang. Der Mensch erlebt in den zerdehnten Stunden zu viele unnütze Gespenstereien.«65 Bei ihm kommen diese Gespenstereien justa- ment aus seinem zugunsten der alltäglichen Ordnung kastrierten Selbst, das wie ein Gespenst vom Reich der Schatten aus Rache schwört. Als ein Mensch, der den Sirenengesang vom »Es« vernimmt und somit in eine Krisensituation gerät, kann er sich nicht mehr auf seine Leben- stecknik des »Sich-tot-Stellen[s]«66 bzw. auf sein Desinteresse vertrauen und konzipiert des- halb zuerst – resignierend – das Projekt »Halbtags leben«67 und gedenkt, wenn auch nicht dazu gedacht, dann – reaktionär – des Todes, »einer plötzlich hereinbrechenden Überempfindlich- keit«.68 Von Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Der Tod in Venedig über Walter Faber in Max Frischs Homo faber bis Gerhard Warlich; der eine tot, der andere krank und der letzte schließt sich in einer psychiatrischen Klinik ein: Diese Linie deutet an, dass sich der Mensch auch im 20./21. Jahrhundert, das auf das »lange« 19. Jahrhundert folgt, immer noch nicht mit der Gespensterei, unter der man hier im Allgemeinen das von der Vernunft Verdrängte verste- hen kann,69 versöhnt hat, und dass die Unversöhnlichkeit zwischen der modernen Kultur und der uralten Gespensterei so groß ist, dass sich die Versöhnung nur durch Chaos oder Tod oder tödliches Chaos oder chaotischen Tod und die Neugeburt des Menschen bzw. der Menschheit ermöglichen ließe. Da aber das Verfahren natürlich dem Prinzip der Lebens- und Ordnungser- haltung durchaus widerspricht, wählt der Mensch normalerweise lieber die Alternative, Linderung und Entschädigung, als die Dekadenz, die degenerierend und entartend eine Vernichtung vor- bereitet, jedoch keine mysteriöse Wieder-Genese aus Nichts garantieren kann. Auffällig ist: Die Gespenster spielen nicht nur die Rollen, die die Angst hervorrufen oder in manchen Fällen dieselben darstellen, sondern dienen auch als Kompensatoren zur Überwin- dung der Angst, indem man aufgrund des Geisterglaubens die Existenz nach dem Tod anneh- men kann, umso mehr, als dass man sich bei ihnen nach der Situation des Daseins jenseits des

64 Sören Kierkegaard: Entweder-Oder. Teil I und II, hrsg. von Hermann Diem u. Walter Rest, dt. übers. von Heinrich Fauteck, 6. Aufl., München 2000, S. 30. 65 Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten, 2. Aufl., München 2011, S. 62. 66 Ebd., S. 60. 67 Ebd., S. 58f. 68 Ebd., S. 95. 69 Ich vermeide also die Falle des Positivismus, der bei diesem Thema zu einer unendlichen negativen Dia- lektik führen würde. Ich konzentriere mich vielmehr auf die Reaktion des vernünftelnden und zugleich emp- findelnden Menschen, aus dessen Perspektive Gespenster ihre plastischen oder metaphorischen Gestalten er- halten. 39 Der historische Kontext

Todes erkundigen könne;70 beziehungsweise indem man aufgrund dessen sich selbst für den Ver- lust des halben Ichs, das infolge der vernünftigen Verdrängung so gut wie tot ist, entschädigen kann. Hieraus entsteht ein doppelter Komplex zwischen dem Menschen und Gespenstern: Trotz des Anspruchs auf Vernunft kommt der Mensch nicht ohne Geisterglauben aus; trotz der Angst unterhält sich der Mensch doch gern mit Gespenstern. Zu erkennen ist dieses dop- pelte Trotz am Spiritismus und Okkultismus um 1900, was Heinrich Hart 1890 in der unmit- telbaren Nähe als »heilsame Reaktion« auf Materialismus nannte71 – mit der Bemerkung, dass der Grund für solch eine Reaktion darin liege, dass »nie der Glaube an das Übersinnliche so tief erschüttert war wie heute, das ›Leben ohne Gott‹ noch nie so weit sich ausdehnte«, aber »alles Lebensglück, selbst wenn es endlos sich steigern könnte, einen Stachel [...] doch immer hat: den Tod«.72 Das gilt heutzutage, wo Naturwissenschaften den Namen der Wissenschaft nahezu usurpieren, wohl auch für den Geisterfilm. Dieser Komplex lässt sich, wie gesagt, als Konsequenz der sich scheinbar befriedigenden, an sich allerdings unbefriedigten Aufklärung betrachten. Denn die Aufklärung, wie Hegel in sei- ner Phänomenologie des Geistes präzisiert, hat zwar die geistige Aktivität des Menschen auf das Diesseits der sinnlichen Gewissheit beschränkt, aber »jenes Sehnen des trüben Geistes, der über den Verlust seiner geistigen Welt trauert, steht im Hinterhalte.«73 Mithilfe des Anspruchs auf Vernunft und des Ausspruchs davon hat die Aufklärung den Geist sozusagen kastriert, aber der kastrierte Geist lässt sich nur dann befriedigen und beruhigen, wenn er allein seinen übriggebliebenen Teil fixiert und daraufhin an und für sich die Wahrheit repräsentiert: »Auf die Einsicht der Nichtigkeit aller anderen Gestalten des Bewußtseins und somit alles Jenseits der sinnlichen Gewißheit gegründet, ist diese sinnliche Gewißheit nicht mehr Meinung, sondern sie ist vielmehr die absolute Wahrheit.«74 Jedoch ist die Sehnsucht nach Jenseits nie getilgt, sondern nur durch die normalerweise herrschende Vernunft verdrängt worden. Deshalb ist sie noch in der Lage, die Vernunft zu unterwandern. Sobald diese sich abschwächt, vindiziert der Geist seinen verlorenen Teil und übersteigt auf der Suche nach ihm über die Mauer. Hierbei lässt sich Tiecks Garten/Park-Allegorie in der Einleitung des Phantasus, in der die vernichtende Gewalt der Natur dargestellt wird, nochmals anführen: »Nach der Natur aber

70 Zur Definitionen von »Geist« und »Geistern« schreibt Diethard Sawicki: »Der Geisterglauben des 19. Jahrhunderts muß ganz überwiegend als ein Glaube an Erscheinungen der Geister verstorbener Menschen aufgefaßt werden. Bei den Praktiken, die im Zusammenhang mit diesem Glauben dokumentiert sind, handelt es sich im Sinne der Magietheorie um Nekromantie, also um Versuche, durch Beschwörungen oder Trance- zustände mit den Geistern der Toten in Verbindung zu treten, um von ihnen Weissagungen oder Erkenntnisse über das Jenseits zu erlangen.« Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn, München, Wien u. Zürich 2002, S. 18. 71 Heinrich Hart: »Am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts. Betrachtung über Entwickelung, Sonderung und Ziel moderner Weltanschauung«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3: Literarische Erinnerungen u. Aus- gewählte Aufsätze, hrsg. von Julius Hart, Berlin 1907, S. 159-199, hier: 168. 72 Ebd., S. 172. 73 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1998, S. 424. 74 Ebd., S. 414. Vgl. außerdem ebd., S. 424-431. 40 Der historische Kontext selbst sehnt sich gewiß jeder aus beiderlei Gärten vielmals hinaus und Niemand kann sie ent- behren.«75 Dieses komplexe Verhältnis zwischen Kultur und Natur kommt im gleichnamigen Gedicht noch plastischer, und zwar eben als Geister-Komplex, zum Ausdruck:

Sie ängstet sich und um so gerner Hört sie den andern reden ferner, Sie fürchtet sich vor dem Erschrecken, Läßt sich doch spielend davon necken, Sie lächelt, und vor Schauder weint Ihr Lachen, das in Tränen scheint, Sie freut sich und wird voraus bleich So spielt sie mit dem Geisterreich [...]76

Die Sehnsucht nach dem Jenseits (zur Überwindung der Todesangst, nämlich zur Sicherheit des Diesseits) lockt den Menschen aus der Mauer der Vernunft heraus, aber dort begegnet ihm eben das Beängstigende, gegen das die Vernunft sich ursprünglich hat richten wollen. In die- sem Fall wird der Mensch, dessen Phantasie hinausschweift, heimgesucht und fühlt sich un- heimlich berührt. Eben aus demselben Grund entsetzt sich das aufklärerische lyrische Ich77 vor dem Pan, dem Inbegriff des Sexualtriebes, wenn es ihm plötzlich gegenübersteht.78 Ohne die These zu psychologisieren, sei außerdem auf Sigmund Freuds Theorie über das Unheimliche verwiesen:

Es scheint, daß wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus der Primitiven entsprechende Phase durchgemacht haben, daß sie bei keinem von uns abgelaufen ist, ohne noch äußerungsfähige Reste [!] und Spuren zu hinterlassen, und daß alles, was uns heute als »unheimlich« erscheint, die Bedingung erfüllt, daß es an diese Reste animistischer Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt.79

Hierin handelt es sich meines Erachtens auch um die Kastration des Geistes, die beim (indivi- duellen) Mündigwerden vorkommen sollte. Dies verweist darauf, dass Freud seinen Blick ei- gentlich auf dieselbe Matrix konzentriert, mit der Hegel sich beschäftigt. Nicht zuletzt artiku- lieren die kritische Theorie der Frankfurter Schule: »Die Entzauberung der Welt ist die Aus- rottung des Animismus«,80 dies betrachten sie als Programm der Aufklärung. Der Vergleich zeigt, dass die individuelle Entwicklung die Miniatur der kollektiven Ideengeschichte ist. So- wohl das Mündigwerden eines Menschen als auch das der Menschheit bedeutet, sich per Ver- nunft zu ummauern und dadurch die Angst zu beseitigen oder, wie es bei Freud heißt, zu

75 L. Tieck (wie Anm. 36), S. 109. 76 A. a. O, S. 121. 77 Vgl. ebd., S. 117ff. 78 Vgl. ebd., S. 125. 79 S. Freud: Das Unheimliche (wie Anm. 37), S. 263. 80 M. Horkheimer u. T. W. Adorno (wie Anm. 18), S. 11. 41 Der historische Kontext verdrängen,81 damit alles in eigener Ordnung bzw. unter eigener Kontrolle und klar und gefahrlos ist und sein wird. Wie gesagt, die daraus entstehende scheinbare Sicherheit wird stets heraus- gefordert – vor allem von der Todesangst. So konstatiert Freud ziemlich zu Recht: »Im aller- höchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt.«82 Das gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Menschheit. Hieraus erklärt sich, warum die Theorie der Seelenwanderung durch alle Planeten des Sonnensystems in der auf- klärerischen Zeit viel Zuspruch finden konnte. Die Spekulation über die Situation nach dem Tod bietet also eine Alternative anstelle der christlichen Himmelsvorstellung.83 Ein anderes und drastisches Beispiel für den »Geister-Komplex« liefert Justus Christian Hennings mit seiner 1780 veröffentlichten Abhandlung Von Geistern und Geistersehern. Der auf- klärerische Gelehrte verfolgt folgenden Ansatz: »[A]lle Gespenstererscheinungen sind doch offenbar weiter nichts, als Früchte des Aberglaubens.«84 Hierüber versucht er, angeblich über- natürliche Phänomene durch natürliche Argumente wie etwa betrügerische Empfindungen, die er als »Mutter der Geistererscheinungen« betrachtet,85 zu erklären bzw. aufzuklären, damit man sich von der abergläubischen Gespensterfurcht befreien kann.86 Bemerkenswert ist, dass er sich trotz seiner skeptischen Einstellung selber unheimlich fühlte, als er eines Abends von einem (vermeintlich) unfassbaren Phänomen heimgesucht wurde.87 Der Vorfall zeigt, dass seine Phantasie in diesem Augenblick durch die Heimsuchung heftig angeregt wurde und sich der Kontrolle der Vernunft entzog, obwohl er am Ende den Zugwind als Ursache benennen konnte. Und dies beweist, dass die Vernunft zwar in der Lage ist, die Angst zu überwinden bzw. zu verdrängen, sie aber nicht zu tilgen vermag. Auffallend ist, dass der Autor weder die Existenz der Geister noch die Möglichkeit ihrer Erscheinung, sondern nur deren Wahrschein- lichkeit leugnet.88 Daher führt er eine Vielzahl an Beispielen aus der Bibel an, als das Funda- ment seiner Theorie, worüber er das Leben nach dem Tod rekonstruiert. Der Grund dafür mag am religiösen Tabu liegen, wie Diethard Sawicki in Hinsicht auf die Skepsis der Spätaufklärung aufzeigt: »Angriffe [gegen Geisterglauben und -furcht] erfolgten stets vom Standpunkt eines theistisch abgefederten Rationalismus und vermieden jede radikal absprechende Äußerung, die als pantheistisch, atheistisch oder materialistisch hätte ausgelegt werden können.«89 Diese Äu-

81 So behauptet Freud: »dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem See- lenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.« S. Freud: Das Unheimlich (wie Anm. 37), S. 264. 82 Ebd. 83 Vgl. z. B. D. Sawicki (wie Anm. 70), S. 43-51. 84 Zitiert aus Justus Christian Hennings Vorrede zu seinem Von Geistern und Geistersehern, Leipzig 1780. (Keine Seitenangabe) 85 Ebd. 86 Dazu vgl. D. Sawicki (wie Anm. 70), S.66. 87 Vgl. J. C. Hennings (wie Anm. 85), §10, S. 132-136. 88 Ein Überblick über Hennings’ Theorie vgl. D. Sawicki (wie Anm. 70), S. 68-71. 89 Vgl.Ebd., S. 67. 42 Der historische Kontext

ßerung impliziert doch eine Tatsache, nämlich, dass der Aufklärer auf diese Weise seinen Zu- fluchtsort findet, um nicht mit der endlichen Vernunft ins unendliche Leere zu greifen, und um sowohl sich selbst als auch sein Publikum, das sonst mit dem Autor zusammen ins Leere starren würde, in Ansehung des Todes zu befriedigen. Darüber hinaus beruft Hennings sich nicht so ohne Weiteres auf die christliche Auffassung. Er behauptet: »[…] so fürchte ich die Vorwürfe nicht, die man meiner Kühnheit machen dürfte, wenn ich den Lehrsätzen der göttlichen Offenbarung in dieser Materie, weiter nachdenke, und daher weiter keinen Führer, sondern nur die Vernunft und Begriffe zum Begleiter nehme.«90 Diese Konzeption ist ein typisches Verfahren der Aufklärung bei der unvermeindlichen Aus- einandersetzung mit der metaphysischen Frage: Während Hennings auf den Glauben zurück- greift und eine Topographie des Jenseits konzipiert, skizzieren andere Aufklärer ein neues Image des Jenseits, wie Diethard Sawicki zusammenfasst:

Darin taucht ein neuer Entwurf des Himmels als ein Geisterreich auf, dessen Ausgestaltung einem veredelten irdischen Leben glich. Die Vervollkommnung der einzelnen Seele und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit verstorbenen Angehörigen traten in den Mittelpunkt der neuen Jenseitsvor- stellung. Dieses neue Himmelreich war geprägt durch Fortschrittsoptimismus und das Ideal fami- liärer Intimität. Die Seelen der Erlösten erwartete eine endlose Zukunft als Verlängerung der irdi- schen Existenz. Durch den Gedanken einer individuellen Entwicklung der Seelen im Jenseits erhielt die Vorstellung vom Leben nach dem Tod einen dynamischen Aspekt.91

Demzufolge lasse sich die menschliche Existenz nicht vom Tod vernichten, weil die Seele un- vergänglich sei, und ihr irdisches Leben nach dem Tod fortbestehen werde. Dadurch wird nicht nur die Todesangst überwunden, sondern es würden auch die diesseitigen Bestrebungen ge- rechtfertigt, weil alle irdische Leistungen im Jenseits gültig bleiben würden. Indem man sich erlaubt, sich weiterhin an dem, was man besitzt oder überhaupt begreifen kann, weiterhin zu orientieren und festzuhalten, fühlt man sich sicher. Die aufgeklärten Menschen bemerken aber nicht, dass sie indessen abermals einen in Vernunft verpackten Aberglauben, den sie am Anfang angefochten haben, produzieren. Im Hinblick auf die kulturelle Kompensationsdynamik stellt der Philosoph Odo Marquard »de[n] Satz der Erhaltung der Konfusion« des Homo compensators auf: »Ein Minimum an Unordnung wird – gerade auch kulturell – stets wiederhergestellt. Wo sie durch Ordnung ge- stört wird, wird diese Störung als bald beseitigt«.92 Der Geister-Komplex ist im Wesentlichen auch eine der Kompensationen, die die Angst lindern, die Sehnsucht stillen und die Leiden-

90 J. C. Hennings (wie Anm. 84), §24 a), S. 288. 91 D. Sawicki (wie Anm. 70), S. 41. Nach Sawicki ist die Veränderung vom theozentrischen Entwurf des Jenseits zum anthropozentrischen auf den Wandel der christlichen Himmelsvorstellung zurückzuführen. Dazu Vgl. ebd., S. 41ff. 92 Odo Marquard: »Philosophie des Stattdessen. Einige Aspekte der Kompensationstheorie«, in: ders.: Phi- losophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 30-49, hier: S. 35. 43 Der historische Kontext schaft blenden, damit der Mensch dank der provisorischen Entlastung weiterhin in seiner Um- mauerung ruhig bleibt. Aber Kompensationen sind letztlich doch nur Kompensationen: »Sie lindern nur, sie heilen nicht.«93 Infolge dieser Endlichkeit führen sie zu »Negativitätsbedarf und Positivitätsverdrängung«.94 Diese negative Dialektik sieht Odo Marquard ganz sachlich als »für den Menschen angemessen«, »der eben kein absolutes, sondern ein endliches Wesen ist«,95 und so behauptet er: »Wer mehr will als Kompensationen, schürt im Endlichkeitsfelde der Menschen die Absolutheitsillusion, also den Größenwahn.«96 Allerdings ist das »Wer« gerade der Mensch, der sich – im Geiste des Positivismus – nicht mit der Negativität zufrieden geben will und kann.

II.3. Die andere Vernunft

Im Grunde entsteht der Geister-Komplex aus der Sehnsucht nach dem Jenseits, aus dem Ver- such der Vernunft zur Selbstbefriedigung, wobei es sich um Lebenserhaltung und damit quasi um einen Lebenstrieb handelt, demzufolge bemerkt Kant in seiner ersten Kritik sehr treffend:

Man kann also sicher sein, so spröde, oder geringschätzend auch diejenige tun, die eine Wissenschaft [d. h. Metaphysik] nicht nach ihrer Natur, sondern allein aus ihren zufäl- ligen Wirkungen zu beurteilen wissen, man werde jederzeit zu ihr wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zurückkehren, weil die Vernunft, da es hier wesentliche Zwecke betrifft, rastlos entweder auf gründliche Einsicht oder Zerstörung schon vorhandener guten Einsichten arbeiten muß.97

Und eben durch dieses polare »Entweder-Oder« der Vernunft wird der Menschen bzw. die Menschheit beim Flirten mit der Metaphysik in ein Dilemma versetzt: entweder zu glauben, was man seit der Aufklärung doch nicht will, oder zu zweifeln, was dann, weil es nottut, aber- mals einen Glauben hervorbringt, der dieses Mal zum Glauben zwingt. Gegen diese negative Dialektik richtet Kant seine kritische Philosophie. Anvisiert wird die eher nicht aufgeklärte als die aufklärende Vernunft, die über ihre Mauer hinaus wuchert und mithin Luftschlösser baut, in denen die angeblichen Aufklärer sich wohl und heimelig fühlen und nicht bemerken, dass sie eigentlich schon den Boden unter den Füßen verlieren. Demge- genüber sollte man laut Kant »transzendental«, nämlich nicht nur über den zu erkennenden

93 Ebd., S. 41. 94 Ebd., S. 37-40. 95 Ebd., S. 41. 96 Ebd. 97 Immanuel Kant: Werke, Bd 2: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1956, S. 708. 44 Der historische Kontext

Gegenstand, sondern vielmehr über die erkennende Vernunft philosophieren98 oder zumin- dest die Fragwürdigkeit ihrer Selbstverständlichkeit wahrnehmen. Dieser Anspruch auf Kritik wird nicht erst anhand der Kritik der reinen Vernunft gestellt, sondern ist bereits in seiner 1766 veröffentlichten Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik zum Aus- druck gekommen, obgleich die Kritik der Vernunft in dieser »vorkritischen« Schrift noch nicht artikuliert wird. Im ersten Teil der dreiteiligen Schrift nähert sich Kant Schritt für Schritt dem Begriff des »Geistes«, der Verbindung zwischen Körperwelt und Geisterwelt und der Geisterseherei, und zwar in verschiedener Hinsicht: semantisch, physikalisch, metaphysisch, biologisch, physiolo- gisch, psychologisch, dialektisch und nicht ohne Auseinandersetzung mit anderen Theorien. Durch solch eine ausführliche Erörterung, die für den Geisterglauben eher ungünstig verläuft, wird allerdings nicht darauf gezielt, denselben anzuzweifeln und damit abzuweisen. Vielmehr wird zutage gefördert, dass der Geisterglauben sich eigentlich weder beweisen noch ableugnen lässt, weil die Undenkbarkeit, die man gegen den Begriff des Geistes einwenden könnte, »nicht als eine erkannte Unmöglichkeit angesehen werden [kann], eben darum, weil das Gegenteil seiner Möglichkeit nach gleichfalls uneingesehen bleiben wird, ob zwar dessen Wirklichkeit in die Sinne fällt«99 Er fährt fort: »Man kann demnach die Möglichkeit immaterieller Wesen an- nehmen ohne Besorgnis widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunftgründe beweisen zu können.«100 Demnach werden sowohl der Hylozoismus als auch der Materialismus, und damit zwei Pole der Polarität, die im Wesentlichen die Dicho- tomie zwischen Glauben und Aufklärung ist, der Kritik ausgesetzt, weil die beiden Ansichten, die einander ausschließen, keine Wahrheit zutage bringen können. Zur Demonstration dieser zugrundeliegenden Auffassung konzipiert Kant zunächst »ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen«,101 und dann »ein Fragment der gemeinen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt auf- zuheben«.102 Mit scharfem Spott zeigt der Philosoph, dass die Möglichkeit der Geisterseherei, die jeweils von den beiden Perspektiven aus diskutiert wird, in der Tat weder bewiesen noch verworfen werden kann, weil das Urteil darüber der Vernunft schon über den Kopf gewachsen ist. Vielmehr erkennt er in jenem für die Vernunft dornigen »Weder-Noch« einen Ausweg für die ohnmächtige Vernunft. »Die Vergleichung beider Beobachtungen«, so Kant, »gibt zwar starke Parallaxen, aber sie ist auch das einzige Mittel, den optischen Betrug zu verhüten, und

98 So schreibt Kant in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft: »Ich nenn ealle Erkenntniß transscen- dental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriff würde Transscenden- tal-Philosophie heißen.« I. Kant (wie Anm. 98), S. 63. 99 I. Kant: »Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik«, in: ders: Werke, Bd 1: Vorkritische Schriften bis 1768, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1960, S. 921-989, hier: 929. 100 Ebd. 101 Ebd., S. 936. 102 Ebd., S. 952. 45 Der historische Kontext die Begriffe an die wahre [sic!] Stellen zu setzen, darin sie in Ansehung der Erkenntnisvermö- gen der menschlichen Natur stehen.«103 Mit den »wahren Stellen« ist also das ambivalente We- der-Noch gemeint, wobei man unwissend und unentschieden bleiben und sich damit beschei- den sollte – anstatt das ambivalente Entweder-Oder zu verfolgen. Sonst kann man mit der vehikelhaften Vernunft nur zwischen den beiden Polen pendeln, ohne dabei irgendwo Befrie- digung zu finden, weil jedes von ihnen »weder auf Erfahrung, noch auf Schlüssen, sondern auf einer Erdichtung beruhe, zu denen [sic!] eine von allen Hülfsmitteln entblößte Vernunft ihre Zuflucht nimmt.«104 Hiermit entwirft Kant bereits ein neues philosophisches »System«, wie er es nennt, und konstatiert, »daß diese Betrachtung, wenn sie von dem Leser gehörig genutzt wird, alle philosophische Einsicht von dergleichen Wesen vollende, und daß man da- von vielleicht künftighin noch allerlei meinen, niemals aber mehr wissen könne«.105 Dass man die Geisterseherei trotzdem entweder beweisen oder verwerfen und sich deshalb nicht mit der »weder-noch«-ambivalenten Sichtweise bescheiden will, führt Kant auch zurück auf den Lebenstrieb, den Trieb zur Lebenserhaltung, dessen Kehrseite die Todesangst ist. Und aufgrund dieser »Hoffnung der Zukunft«106 will die Geisterwelt weder als Ziel der Seele noch als Zuflucht der Vernunft abgelehnt werden:

[...] selbst die erste [sic!] Täuschungen von vermeinten Erscheinungen abgeschiedener Menschen sind vermutlich aus der schmeichelhaften Hoffnung entsprungen, daß man noch auf irgend eine Art nach dem Tode übrig sei, da denn bei nächtlichen Schatten oftmals der Wahn die Sinne betrog, und aus zweideutigen Gestalten Blendwerke schuf, die der vorhergehenden Meinung gemäß waren, woraus denn endlich die Philosophen Anlaß nahmen, die Vernunftidee von Geistern auszudenken und sie in Lehrverfassung zu bringen.107

Daher braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass Kant die Geisterseherei zum Thema seiner polemischen Schrift gegen die Metaphysik wählt und diese zu jener auf eine parallellau- fende Linie stellt. Denn aus dieser Parallele tritt die Ohnmacht der Vernunft, die sich gegen den Mythos wehrt, deutlich hervor, im Notfall greift sie, wie der Geister-Komplex zeigt, nichts- destoweniger auf denselben zurück, auch wenn etwas anderes auf ihrer Fahne geschrieben steht. Infolgedessen führt sich die Philosophie, die mithilfe der Vernunft von der Geisterwelt schwärmt, genauso ad absurdum wie der Geisterglaube, der sie mangels der Vernunft anhim- melt. Dem aufgeklärten Menschen, der mit dem Glauben nichts zu tun haben will, sich aber der Ohnmacht der vernünftelnden Philosophie über kurz oder lang bewusst wird, bleibt nichts

103 Ebd., S. 960f. 104 Ebd., S. 964. Mit der Erdichtung ist im Original Kants zwar eher die Möglichkeit der Verneinung gemeint, aber dies gilt auch für die der Bejahung, die Kant zum Beispiel als Phantasie oder »Luftschiff der Metaphy- sik« (S. 974) bezeichnet, wie er es des Weiteren in der Zusammenfassung der ganzen Schrift wiederholt arti- kuliert. Vgl. dazu S. 986ff. 105 Ebd., S. 963. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 962f. 46 Der historische Kontext anderes übrig, als unbefriedigt zwischen den beiden zu oszillieren. Diesbezüglich trifft Gerd Irrlitz’ Bemerkung durchaus zu: »Wir tun gelehrt, leben aber mitten im Spuk.«108 Um sich aus dem Dilemma zu befreien und Befriedigung zu finden, sollte man seiner Mei- nung nach die Metaphysik allenfalls für »eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft«109 halten, also die Grenzen der eigenen Vernunft genugsam kennen und so genüg- sam sein, dass man innerhalb der Grenzen bleibt. Das heißt aber nicht, dass das, was im Jenseits ist, verleugnet werden sollte, sondern nur, dass die Einsicht in dasselbe transzendental für un- möglich und entbehrlich erklärt wird, was der Philosoph als »weise Einfalt«110 bezeichnet. In diesem Punkt scheint Kant eine durch und durch aufklärerische Idee einzusetzen, dass die Selbstbefriedigung sich eher im Diesseits findet, durch die Moral, durch die praktische Vernunft, durch den Willen als Freiheit versus die Natur als Notwendigkeit wie beispielsweise den Tod oder den Sexus. Demgemäß behauptet er zum Schluss der Schrift mit Nachdruck: »So ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns über- hoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande ange- messen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führet.«111 Aber solch eine Befriedigung, die sich auf moralische Selbstzucht gründet, ist gebrechlich. Sie impliziert zum ersten eine Selbstkastration, deren Wundschmerz stets an den Verlust erinnert und somit die Pseudobefriedigung unterhöhlt. Zum zweiten bleibt sie immer vom Tode bedroht, weil die Substanz des Todes für die Vernunft schwer zu verstehen ist. Da er einst das Leben selbstver- ständlich vernichten muss, scheint das Leben zwecklos und deshalb sinnlos zu sein. Deshalb tut es not, statt der Kastration eine Alternative zu finden, die quasi wie Masturbation im Sinne der Selbstbefriedigung funktioniert: sich selbst in Hinsicht auf das begehrte Jenseits zu befriedigen, ohne auf eigene Gefahr die Grenzen zu überschreiten; subjektiv mit dem Jenseitigen zu tän- deln und zu flirten, ohne Anspruch auf die Objektivierung der Subjektivität zu erheben. Ge- sucht ist also ein Mittelglied zwischen der begehrten, aber unverständlichen Natur einerseits und der begehrenden, aber unzulänglichen Vernunft andererseits, damit die Vernunft subjektiv ausschweift und sich trotzdem mit dem Diesseits bescheidet. So sieht sich Kant auch gezwungen, über die Brücke zwischen der reinen und der prakti- schen Vernunft nachzudenken, und schreibt in dieser Intention die Kritik der Urteilskraft:

Eine Kritik der reinen Vernunft, d. i. unseres Vermögens nach Prinzipien a priori zu urteilen, würde unvollständig sein, wenn die der Urteilskraft, welche für sich als Erkenntnisvermögen darauf auch Anspruch macht, nicht als ein besonderer Teil derselben abgehandelt würde; obgleich ihre Prinzi- pien in einem System der reinen Philosophie keinen besonderen Teil zwischen der theoretischen

108 Gerd Irrlitz: Kant Handbuch. Leben und Werk, 2. Aufl., Stuttgart 2010, S. 115. 109 I. Kant (wie Anm. 100), S. 983. 110 Ebd., S. 984. 111 Ebd., S. 989. 47 Der historische Kontext

und praktischen ausmachen dürfen, sondern im Notfalle jedem von beiden gelegentlich ange- schlossen werden können.112

Die Verstand-Vernunft-Verbindung ist nicht der einzige Weg, der zur Erkennentnis führt. Die souveräne Vernunft wird sich nicht mehr vom gesetzmäßigen Verstand einschränken lassen, wenn sie über einen anderen Erkenntnisapparat verfügt, zumal die Ohnmacht der Vernunft der unfassbaren Natur gegenüber in der Tat die Ohnmacht des Verstandes ist, die dann zur Orientierungslosigkeit der Vernunft führt. »Verstand und Vernunft haben also«, so Kant in der Kritik der Urteilskraft, »zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag tun darf.«113 Er fährt fort, »daß der Natur- begriff [in Bezug auf den Verstand] zwar seine Gegenstände in der Anschauung, aber nicht als Dinge an sich selbst, sondern als bloße Erscheinungen, der Freiheitsbegriff [in Bezug auf die Vernunft] dagegen in seinem Objekte zwar ein Ding an sich selbst, aber nicht in der An- schauung vorstellig machen.«114 Als Vermittler zwischen den beiden Erkenntnisvermögen dient laut Kant die Urteilskraft, sie allein folgt der subjektiven Zweckmäßigkeit: »Ein solches Urteil ist ein ästhetisches Urteil über die Zweckmäßigkeit des Objekts, welches sich auf keinem vorhandenen Begriffe vom Gegenstande gründet, und keinen von ihm verschafft.«115 Hier lasse ich es dahingestellt bleiben, ob Kants Diskussion über die teleologische Urteils- kraft, die wiederum »durch Verstand und Vernunft (logisch, nach Begriffen)«116 über die an- geblich objektive Zweckmäßigkeit der Natur spekuliert, die Dialektik der Aufklärung bestätigt. Denn für den dieser Abhandlung zugrundeliegenden Gedankengang ist es bedeutsamer, dass die ästhetische Urteilskraft an die Stelle des Verstandes treten und sich mit der Vernunft ver- binden kann. Es geht hierbei also weder um die nicht zu erlangende Wahrheit noch um die zu erlangende Konzeption, sondern um das subjektive Gefühl der Lust oder Unlust, also um eine ästhetische Betrachtung. »Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.«117 Es bedarf keines Begriffs, denn es gründet sich nicht auf die Erkenntnis; es ist frei von Interesse, ordnet sich also keinem praktischen Gesetz unter. Demgemäß bietet das Geschmacksurteil als ästhetische Betrachtung eine Chance, einen sub- jektiv heimlichen Raum in der unheimlichen Atmosphäre zu schaffen, indem man bewusst durch die ästhetische Urteilskraft mit der Natur »spielt« und sich an der subjektiv eingebildeten Fass- barkeit der Natur erfreut, d. h. die Natur nicht in allem Ernst zu erkennen versucht, sondern sich mit ihrer formalen »Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen«,118 also mit einem

112 Immanuel Kant: »Kriktik der Urteilskraft«, in: ders.: Werke, Bd 5: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1957, S. 233-620, hier: Vorrede, S. 238. 113 Ebd., Einleitung II, S. 246. 114 Ebd., S. 247. 115 Ebd., Einleitung VII, S. 264. 116 Ebd., Einleitung VIII, S. 268. 117 Ebd., § 1, S. 279. 118 Ebd., Einleitung V. S. 257. vgl. außerdem, § 10-12, S. 298-302. 48 Der historische Kontext

Quasi-Verständnis, bescheidet, ungeachtet dessen, dass sie der Verstand für zufällig hält oder dass sie möglicherweise keinen Zweck erfüllt. Solch eine ambivalente Sichtweise muss mit dem logischen, begriffsorientierten Prinzip der Vernunft und deshalb mit dem Menschen als Ver- nunftwesen im Widerspruch stehen. Aber gerade mithilfe dieser Sichtweise vermag der Mensch, sich aus dem durch die Ohnmacht der Vernunft verursachten Dilemma zu befreien. »Nun haben wir das, was wir beobachten, nicht immer nötig durch Vernunft (seiner Möglich- keit nach) einzusehen.«119 Indem man sich durch die subjektive ästhetische Sichtweise befrie- digt (masturbiert) und sich einen »künstlichen« Verstand gönnt, lässt sich die Sehnsucht nach dem Jenseits, die die Vernunft nicht hat befriedigen können, derart stillen, dass man sich mit dem Diesseits bescheiden kann. Dementsprechend lässt sich auch die Todesangst, die die willkürliche Macht der Natur dar- stellt, überwinden – allerdings nicht dadurch, dass einem der Tod vermittels der ästhetischen Betrachtung durch Lust, »[d]as Bewußtsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu erhalten«,120 gefallen hätte, weil der Tod hingegen zu derjenigen Vorstellung gehört, »die den Zustand der Vorstellung zu ihrem eigenen Gegen- teile zu bestimmen (sie abzuhalten oder wegzuschaffen) den Grund enthält«,121 d. h. Unlust hervor- rufen kann. Da die Welt nach dem Tod durchaus übersinnlich und somit nicht zu erfassen ist, ist die Überwindung der Todesangst nicht durch das Gefühl des Schönen, »die Darstellung eines unbestimmten Verstandesbegriffs«,122 sondern durch das Gefühl des Erhabenen, »[die Darstellung] eines dergleichen Vernunftbegriffs«123 zustande zu bringen:

[S]o wie Einbildungskraft und Verstand in der Beurteilung des Schönen durch ihre Einheiligkeit, so bringen Einbildungskraft und Vernunft hier [in der Beurteilung des Erhabenen] durch ihren Wider- streit, subjektive Zweckmäßigkeit der Gemütskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine selb- ständige Vernunft haben.124

Es geht hier um negative Lust, nämlich darum, dass die Unlust zwar durch die ästhetische Betrachtung erweckt wird, aber sich wiederum durch die nicht von ihr beschränkten Ideen der Vernunft überwinden lässt. Somit scheint die betrachtete Natur nicht mehr bloß ein gewaltiger und auch gewalttätiger Mechanismus, gegen den der Mensch als Naturwesen keine Chance hat, sondern eine Kunst zu sein, hinter der sich höhere Ideen verstecken: »Sie [die Urteilskraft] erweitert also wirklich zwar nicht unsere Erkenntnis der Naturobjekte, aber doch unsern Be- griff von der Natur, nämlich als bloßem Mechanism, zu dem Begriff von eben derselben als Kunst«.125 Die Ideen wahrzunehmen, obwohl sie nicht zu erkennen, sondern nur zu denken

119 Ebd., § 10, S. 299. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd., § 23, S. 329. 123 Ebd. 124 Ebd., § 27, S. 346. 125 Ebd., § 23, S. 331. 49 Der historische Kontext sind, gefällt der Vernunft in Hinsicht auf ihren subjektiv zweckmäßigen Gebrauch und bringt sie trotz der Ohnmacht des Verstandes wieder in die Bahn. Das ist kein moralischer Imperativ nach innen, sondern eine geistige Emanzipation nach außen. Im Unterschied zur Moral, die auf der Selbstkastration von Sinnlichkeit beruht, setzt das Gefühl des Erhabenen voraus, dass man seine Einbildungskraft bewusst einsetzt. Diese Voraussetzung kommt auch einer moralischen Forderung gleich, jeodch nicht einem Gebot, vielmehr einem Anspruch auf Freiheit der Sichtweise. Denn »[d]as Wohlgefallen an dem Ge- genstande hängt von der Beziehung ab, in welcher [sic!] wir die Einbildungskraft setzen wollen [!]: nur daß sie für sich selbst das Gemüt in freier Beschäftigung unterhalte.«126 Erst unter die- ser Voraussetzung ist man in der Lage, sich mit der negativen Darstellung zu begnügen, indem man einerseits höhere Ideen anerkennt und andererseits die Unzulänglichkeit des eigenen Er- kenntnisvermögens dazu gesteht. Sonst würde entweder das Eingebildete von der Vernunft ab- gelehnt (Eigensinn) oder die subjektive Zweckmäßigkeit für Wahrheit gehalten werden (Wahn- sinn). Dazu formuliert Kant unmissverständlich:

Diese reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit, bringt dagegen keine Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen; eben darum, weil die Darstellung bei jener bloß negativ ist. Denn die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit schneidet aller positiven Darstellung gänzlich den Weg ab: das moralische Gesetz aber ist an sich selbst in uns hinreichend und ursprünglich bestimmend, so daß es nicht einmal erlaubt, uns nach einem Bestimmungsgrunde außer demselben umzusehen.127

Hierin besteht der wesentliche Unterschied zwischen der Befriedigung durch die ästhetische Betrachtung und Urteilskraft auf der einen Seite und der durch den Geister-Komplex auf der anderern Seite. Im ersten Fall kommt die bewusste Urteilskraft zur Anwendung, damit man sich mit der ästhetischen Betrachtung begnügt und dadurch befriedigt. Im anderen Fall über- lässt man sich hingegen unbewusst der Dialektik der ohnmächtigen Vernunft, indem man sich nicht mit der negativen Darstellung bescheidet, deshalb eine positive erdichtet, sich von ihr als Wahrheit überzeugt und dann darüber enttäuscht ist, so wie jene, mit denen Kant sich bereits in Träume eines Geistersehers auseinandergesetzt hat, deren Schwärmerei er hier in Kritik der Urteilskraft als »Krankheit« bezeichnet.128 Von einem höheren Standpunkt ausgehend dient die ästhetische Urteilskraft also nicht nur zur Selbsterhebung des Menschen, sondern auch zur Erlösung der Menschheit aus ihrer selbst verschuldeten »Pubertätsstörung«, die sich aus seiner unbefriedigten Aufklärung ergibt. Der Unterschied zwischen den zweierlei Befriedigungen ist zugleich der Unterschied zwischen der

126 Ebd., AA, S. 361. 127 Ebd., S. 366. 128 Ebd. 50 Der historische Kontext eigentlichen Aufklärung und der unbefriedigten Aufklärung. Dazu macht Kant eine bemer- kenswerte Bemerkung:

Man sieht bald, daß Aufklärung zwar in Thesi leicht, in Hypothesi aber eine schwere und langsam auszuführende Sache sei; weil mit seiner Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetz- gebend zu sein, zwar etwas ganz Leichtes für den Menschen ist, der nur seinem wesentlichen Zwecke angemessen sein will, und das, was über seinen Verstand ist, nicht zu wissen verlangt; aber, da die Bestrebung zum letzteren kaum zu verhüten ist, und es an andern, welche diese Wißbegierde befrie- digen zu können mit vieler Zuversicht versprechen, nie fehlen wird: so muß das bloß Negative (wel- ches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart (zumal der öffentlichen) zu erhalten, oder herzustellen, sehr schwer sein.129

Die ästhetische Betrachtung und Urteilskraft sollte der Kern der eigentlichen Aufklärung sein. Und dies hängt wiederum von der Kultur ab: »In der Tat wird ohne Entwicklung sittlicher Ideen das, was wir, durch Kultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß ab- schreckend vorkommen.«130 Kant setzt die Hoffnung allerdings nicht in die Kultur, sondern in die menschliche »Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen«.131 Dem- entsprechend bezieht sich die Kultur, in der man die Urteilskraft im Gebrauch hat, nicht auf die angeblich aufgeklärte Kultur, sondern auf eine eigentlich aufgeklärte Kultur mit einer neuen Moral, nämlich auf die Kultur des »Über-Menschen«. In diesem Kontext vom Übermenschen zu sprechen, ist keineswegs vermessen, denn der Übermensch ist bei Friedrich Nietzsche eben die Zielsetzung einer kulturelle Entwicklung, insofern der Mensch sich aus seinem Willen-zur-Macht durch die Überwindung von Wider- ständen über sich selbst erhebt, anstatt sich mit der bloß formalen Lebenserhaltung zu begnü- gen,132 sich innerhalb der Mauern zu verschließen und am Ende, wie die Maus in Kafkas Kleiner Fabel, wegen der aufeinander zueilenden Mauern in der Ausgangs- und Aussichtsloßigkeit seine Dekadenz zu finden. Nietzsche legt Zarathustra in den Mund: »Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.«133 Und dieser Überwindung liegt eben die ästhetischen Sichtweise – an- stelle der vernünftigen Denkungsart – zugrunde, »während der Wille zur Wahrheit, letztlich selbst eine Form des Willens zur Illusion, zu einer Kraft-Minderung des Lebens führt, hinter der er sich, zumal unter der Erfahrung, daß es eine Wahrheit-an-sich nicht gibt, als ein Wille zum Nichts entpuppt.«134 Es handelt sich hier um eine Um- und Neu-Interpretation durch die

129 Ebd., §40, S. 390. 130 Ebd., §29, S. 354. 131 Ebd. 132 Vgl. Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 2. Aufl., Berlin u. New York 1998, S. 82-95. 133 Friedrich Nietzsche: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. 6, Bd. 1: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen hrsg. von. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1968, S. 13. 134 G. Abel (wie Anm. 133), S. 77. 51 Der historische Kontext

ästhetische Sichtweise,135 so wie das Erhabene als Überwindung auf der ästhetischen Urteils- kraft beruht. Durch die Sichtweise als solche gewinnt die ohnmächtige Vernunft wieder die Macht. In dieser Hinsicht kann man auch Schiller Recht geben, wenn er zu Beginn seiner Reihe von Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen behauptet: »Ich werde von einem Gegen- stand sprechen, der mit dem besten Teil unserer Glückseligkeit in einer unmittelbaren und mit dem moralischen Adel der menschlichen Natur in keiner sehr entfernten Verbindung steht.«136 Denn es geht eben um das Menschliche, Allzumenschliche.

135 Zur »Interpretation als Fundamentalvorgang« bei Nietzsche vgl. G. Abel (wie Anm. 133), S. 133-184. 136 F. Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: ders.: Werke und Briefe, 12 Bde., Bd 8: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992, S. 556- 676, hier: S. 556. 52 Der historische Kontext

53 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

III. Fazit: Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

Damit der Mensch sich aus der aussichtslosen Dialektik befreien kann, sollte das Leben als Substanz eine auf das Ästhetische angelegte Kunst sein, was bewerkstelligt wird, indem das Leben als Verb eine Kunst ist, die ästhetische Sichtweise statt der rationalen, logischen Den- kungsweise auszuüben. Dabei gilt in erster Linie nicht die Frage, was die Kunst und was das Schöne ist, sondern vielmehr, wie eine transzendentale Kunst wie das Ästhetische möglich ist. Es geht also um die Ästhetik a priori, im Unterschied zur Ästhetik a posteriori, die »eine der Reaktionsweisen der Gesellschaft auf die Ausdifferenzierung eines neuen Systems ›Kunst‹ im 18. Jahrhundert« ist.1 Da das, womit sich die Ästhetik a priori beschäftigt, nicht empirisch ist und sich deshalb nicht in der Umwelt befindet, ist das Verhältnis zwischen der poetischen Ästhetik a priori und der philosophischen Ästhetik a posteriori kein Hintereinander wie das Verhältnis zwischen der poetischen Ästhetik (dem System »Kunst« zugehörig) und der philo- sophischen Ästhetik (dem System »Philosophie« zugehörig), nämlich Beobachter und dessen Beobachter, sondern ein Nebeneinander oder sogar ein Durcheinander, indem sie sich mit der gleichen Umwelt, d. h. aus dem gleichen Standpunkt, auseinandersetzen und dann das Ergeb- nis »in die Perspektive des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums ›Werk‹« stel- len.2 Deshalb besteht der system-spezifische Unterschied nur in der Ausdrucksform – um dies mit Kant zu sagen:

Sie [die Kritik des Geschmacks] ist Kunst, wenn sie dieses [das wechselseitige Verhältnis des Ver- standes und der Einbildungskraft zueinander in der gegebenen Vorstellung] nur an Beispielen zeigt; sie ist Wissenschaft, wenn sie die Möglichkeit einer solchen Beurteilung von der Natur dieser Ver- mögen, als Erkenntnisvermögen überhaupt, ableitet.3

Demgemäß ist der folgende Versuch, das literarische Phänomen mit dem philosophischen Dis- kurs nicht nur zu kontextualisieren, sondern auch zu vermischen, berechtigt, indem ich, nach- dem ich zuvor die gemeinsame Umwelt als Bezugspunkt zwischen dem im literarischen Werk dargestellten »Phantastischen« und der im philosophischen Werk diskutierten »ästhetischen Sichtweise« zum Ausdruck gebracht habe, nun ihrem gemeinsamen Prinzip a priori nachgehe – eine transzendentale Literaturwissenschaft, die den Namen »Literaturwissenschaft« deshalb noch verdienen kann, weil sie vor allem das literarische Werk als ihre Deduktion ansieht. Bei der ästhetischen Sichtweise steht im Vordergrund die Einbildungskraft, die der ästheti- schen Urteilskraft zugrunde liegt und die entscheidende subjektive Zweckmäßigkeit sowohl für den Verstand als auch für die Vernunft ermöglicht – und zwar gerade durch ihr freies Spiel.

1 Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 1: Von Kant bis Hegel, Darmstadt 1993, S. 23. 2 Ebd., S. 22. 3 Immanuel Kant: »Kriktik der Urteilskraft«, in: ders.: Werke, Bd 5: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1957, S. 233-620, hier: § 34, S. 380. 54 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

Während der Verstand von Begriff und Logik bestimmt und mithin nicht frei ist, scheint der gültige Bereich der Einbildungskraft unendlich weit. Und sie kann ihre unendliche Freiheit erst dann vollkommen ausübt, wenn der bestimmte und zugleich bestimmende Verstand als Er- kenntnisvermögen aussetzt oder überhaupt versagt – z. B. mit etwas scheinbar Unlogischem konfrontiert. Dies belegt, so Kant, »der englische Geschmack in Gärten, [oder] der Barockge- schmack an Möbeln«, welcher

die Freiheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annäherung zum Grotesken treibt, und in dieser Absonderung von allem Zwang der Regel eben den Fall setzt, wo der Geschmack in Entwürfen der Einbildungskraft seine größte Vollkommenheit zeigen kann.4

Aber sowohl Garten als auch Möbel sind zweifelsohne Menschenwerk, sind somit Teil der Kultur, die der Mensch mithilfe seiner Vernunft der Natur entgegensetzt, so wie Garten und Möbel eben dazu dienen. Demgemäß fällt es dem Verstand auch nicht schwer, mit ihnen, wie grotesk sie auch immer sein mögen, zurechtzukommen. Was den Verstand wirklich außer Kraft setzen und die freie Einbildung, »die eigentliche Phantasie«,5 aus ihm befreien kann, ist viel- mehr etwas Unverständliches, Unfassbares, Unbegreifliches und überhaupt Unlogisches, was zumeist aus der Natur kommt, »so wie etwa bei dem Anblick der veränderlichen Gestalten eines Kaminfeuers, oder eines rieselnden Baches, welche beide keine Schönheiten sind, aber doch für die Einbildungskraft einen Reiz bei sich führen, weil sie ihr freies Spiel unterhalten.«6 Mit dieser Bemerkung beschließt Kant mit Recht seine Analyse des Schönen, weil diese eigent- liche Phantasie in der darauf folgenden Analyse des Erhabenen eine entscheidende Rolle spielt. So wie Feuer und Bach in der Phantasie verhängnisvoll werden und damit Todesangst erre- gen könnten, kann (nur) solch eine Einbildung das Gefühl des Erhabenen veranlassen. Dies erklärt Kant mit dem »weite[n], durch Stürme empörte[n] Ozean«.7 Auf dieses Beispiel geht Schiller, der Kants Idee übernimmt und insbesondere Vom Erhabenen spricht, ein und stellt dahingehend pointiert heraus, dass das Erhabene zwar erst dann auftreten kann, wenn die Vorstellung des Gegenstandes mit dem Trieb – sowohl dem »Erkenntnistrieb«8 als auch dem »Trieb der Selbsterhaltung«9 – in Widerstreit gerät, aber dieser Widerstreit, wie z. B. im Fall

4 Ebd., AA, S. 326f. 5 Wirft man den Blick wieder auf Träumen eines Geistersehers, so zeigt sich, dass Kant die Phantasie (wenn auch eher negativ geschätzt) bereits im Sinne der ästhetischen Betrachtung erwähnt und konstatiert, dass die Vernunft als Gesamterkenntnisvermögen beim Umgang mit der Geisterwelt an ihre Grenze bzw. ans Ende ihrer Kraft gerät und, falls sie das Thema dennoch behandeln will, die Phantasie um Hilfe bitten muss. Allein muss sie die Ambivalenz akzeptieren, »weil dabei die geistige Empfindung notwendig so genau in das Hirn- gespenst der Einbildung verwebt wird, daß es unmöglich sein muß, in derselben das Wahre von den groben Blendwerken, die es umgeben, zu unterscheiden.« (S. 950). Man muss also darauf verzichten, die unerkenn- bare Wahrheit zu erkennen, und sich stattdessen an die Phantasie wenden, egal, ob man dazu willens oder gezwungen ist. 6 I. Kant (wie Anm. 3), AA, S. 328. 7 Ebd., § 23, S. 330. 8 Friedrich Schiller: »Vom Erhabenen«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 8: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992, S. 395. 9 Ebd., S. 396. 55 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise des Todes, nicht objektiv wirklich sein darf, sonst würde das Subjekt getötet werden und mithin käme es zu keiner ästhetischen Beurteilung:

So erhaben ein Meersturm, vom Ufer aus betrachtet, sein mag, so wenig mögen die, welche sich auf dem Schiff befinden, das von demselben zertrümmert wird, aufgelegt sein, dieses ästhetische Urteil darüber zu fällen. Wir haben es also bloß mit dem ersten Fall zu tun, wo das furchtbare Objekt uns zwar seine Macht sehen läßt, aber sie nicht gegen uns richtet, wo wir uns vor demselben sicher wissen. Wir versetzen uns alsdann bloß in der Einbildung in den Fall, wo diese Macht uns selbst treffen könnte und aller Widerstand vergeblich sein würde. [...] Und ohne diesen Anfang des wirklichen Leidens, ohne diesen ernstlichen Angriff auf unsre Existenz würden wir bloß mit dem Gegenstande spielen; und es muß Ernst sein, wenigstens in der Empfindung, wenn die Vernunft zur Idee ihrer Freiheit ihre Zuflucht nehmen soll.10

Eben dies ist das Spiel der Phantasie, aber dieses erhabene Spiel kann auch zur Spieltherapie dienen. Bemerkenswerterweise verweist Schiller darauf, dass die Phantasie, sofern ihr die Ver- nunft ein Recht einräumt, nicht nur eine subjektive Zufluchtsstätte, sondern auch subjektive Bedrohungen schaffen kann, weil sie autonom ist und einen Raum erhält, um darin frei zu spielen. Hierin erkennt er die Ursache für den Aberglauben, der vom unmündigen Menschen bzw. von der unmündigen Menschheit infolge der Angst vor der die Vernunft bedrohenden Natur – vor allem dem Außerordentlichen und dem Unbestimmten – hervorgebracht wird. »Diese Furcht vor allem, was außerordentlich ist, verliert sich nun zwar im Zustand der Kultur [!], aber nicht so ganz, daß in der ästhetischen Betrachtung der Natur, wo sich der Mensch dem Spiel der Phantasie freiwillig hingibt, nicht eine Spur davon übrig bleiben sollte.«11 Demnach ist die Phantasie also fähig, das, was im Prozess zur Mündigkeit verdrängt worden ist, wieder ins Bewusstsein heraufzubeschwören, damit sich der Mensch durch die ästhetische Sichtweise über das Furchtbare erhebt, anstatt es beim Versuch der Überwindung zu verdrängen, und sich dadurch aus dem Entweder-Oder der unbefriedigten Aufklärung freilässt. Im weiteren Verlauf erkennt Schiller dem Dichter die Rolle des Therapeuten zu: »Das wissen die Dichter sehr gut, und unterlassen daher nicht, das außerordentliche wenigstens als ein Ingrediens des Furchtbaren zu gebrauchen«,12 was »tauglich zum Erhabenen«13 ist. Dass dies dem Dichter zugetraut wird, bezieht sich nicht nur auf das Bewusstsein Schillers als Dichter. Denn bei Kant gilt der Dichter auch als Vorbild, indem er einerseits zeigen kann, wie man, z. B. durch seine kontemplative Anschauung des Ozeans,14 die Einbildungskraft und die ästhetische Urteilskraft miteinander zusammenhängend ausüben soll; andererseits kann der

10 Ebd., S. 404. Außerdem S. 398. 11 Ebd., S. 414f. 12 Ebd., S. 415. 13 Ebd. 14 I. Kant (wie Anm. 3), AA, S. 360. 56 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

Dichter die ästhetischen Ideen, die er durch seine ästhetische Urteilskraft bekommt, mitteilbar machen bzw. darstellen,15 damit dieselbe bei anderen erweckt und befördert wird, und in des- sen Folge, obwohl Kant dies nicht pointiert zum Ausdruck bringt, eine neue, oder besser: die eigentliche Aufklärung zustande kommt. So widmet Kant die Deduktion der reinen ästheti- schen Urteile der schönen Kunst, vor allem der Dichtkunst, und stellt heraus:

Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u. dgl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar im Gemälde vorgestellt werden; nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel er- weckt.16

Auch die ekelerregende Hässlichkeit lässt sich »indirekt vermittelst einer Auslegung der Ver- nunft« in der schönen Kunst darstellen.17 Demgemäß kann man mit Recht sagen, dass die Schaffung der Kunst die Selbstüberwindung und Selbsterhebung des Künstlers aufgrund des Gefühls des Erhabenen ist. Es ist wohl auch der oben genannte Trieb, der den Künstler dazu anhält, etwas zu erschaffen, damit er seine eigene Unlust, die seine Phantasie erregt, überwindet, zumal die subjektive Zweckmäßigkeit sich in hohem Grad auf die subjektive Allgemeingültig- keit und Mitteilbarkeit bezieht. So konstatiert Kant: »Also ist es nicht die Lust, sondern die Allgemeingültigkeit dieser Lust, die mit der bloßen Beurteilung eines Gegenstandes im Gemüte als verbunden wahrgenommen wird, welche a priori als allgemeine Regel für die Urteilskraft, für jedermann gültig, in einem Geschmacksurteile vorgestellt wird.«18 Die Malerin Charlotte Salomon z. B. »ist eins geworden mit der Kunstwelt, in der es ihr gelang, den Tod als Lebenserfahrung zu begreifen, zu akzepieren und zu überwinden. Dieser Selbstschutzmechanismus, den sie sich erarbeitete, war für sie ebenso die einzige Chance, dem Sprung aus dem Fester widerstehen zu können.«19 Ein anderes Beispiel dafür liefert der durch Krankheit an Gehörlosigkeit leidender Komponist Ludwig van Beethoven, der die Kunst nicht minder als Erlösung begreift, wie sein so genanntes Heiligenstädter Testament lautet:

[N]ahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße Aengstlichkeit, indem ich befürchte, in Gefahr gesetzt zu werden meine [sic!] Zustand merken zu laßen. [...] Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, und es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben. Nur sie, die

15 Vgl. z. B. ebd., AA, S. 367f. Außerdem meint er: »Schöne Kunst dagegen ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßg ist, und obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert.« Ebd., § 44, S. 404. 16 Ebd., § 48, S. 411. 17 Ebd., S. 412. 18 Ebd., § 37, S. 384. 19 Thomas Schinköth: »Zeit und Raum an der Grenze des Lebens: Zum Singspiel Leben? oder Theater? der Malerin Charlotte Salomon (1917-1943)«, in: Zeit und Raum in Musik und bildender Kunst, hrsg. von Tatjana Böhme u. Klaus Mehner, Köln, Weimar u. Wien 2000, S. 65-80, hier: S. 70ff. 57 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

Kunst, sie hielt mich zurück! Ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte.20

Nun, wenn man den Blick wieder auf die Dichtkunst richtet, ist es nicht schwer, ähnliche Beispiele zu finden. Um nur eines zu nennen: Franz Kafka legt ein Bekenntnis in einem Brief an Max Brod vom 5. Juli 1922 ab:

Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit der Deut- lichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hin- abgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwür- dige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses: in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses.21

Von den obigen Beispielen ausgehend lässt sich das künstlerische Schaffen als Ausübung der ästhetischen Urteilskraft verstehen, indem die Künstler 1) etwas Bedrohliches durch ihre Phan- tasie visionär sehen und dadurch ästhetische Ideen gewinnen,22 2) das etwas mithilfe ihrer äs- thetischen Urteilskraft einerseits dem Verstand angemessen (als Quasi-Erkenntnis der ästheti- schen Ideen) ins Werk setzen und andererseits durch dieses In-Form-Setzen – im Gegensatz zur Ohnmacht – subjektiv (auf die Vernunft bezogen) beherrschen und 3) aufgrund der Mit- teibarkeit des Werkes Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, um die subjektive Zweckmä- ßigkeit gewissermaßen zu legitimieren. Die schöne Kunst bezieht sich also nicht unbedingt auf das Schöne, sondern in manchem Fall auf das Erhabene, mit dem das Schaffen bezeichnet wird. Ob dieses Erhabene qualitativ potenziert werden sollte, oder ob man dabei am besten naiv bleiben sollte, ist eine andere Frage. Da die ästhetischen Ideen, die der Künstler in sein Werk einbringt, zwar dargestellt, aber nicht kopiert werden können, gilt das Werk für das Publikum als eine Natur, die wiederum dessen Phantasie beansprucht. Das Publikum steht nämlich im gleichen Verhältnis zum Werk wie das Werk zur Natur. Und das Prinzip ist ein und dasselbe:

Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigestellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Ge- brauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeich- net, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen

20 Ludwig van Beethoven: Briefe Beethovens, hrsg. von Ludwig Nohl, Stuttgart 1865, S. 38f. 21 Franz Kafka: Brief an Max Brod vom 05. Juli 1922, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7: Briefe 1902-1924, hrsg. von Max Brod, New York City 1958, S. 382-387, hier: S. 384. 22 Über die ästhetische Idee schreibt Kant: »Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: einerseits darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andererseits, und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen, kein Begriff völlig adäquat sein kann.« I. Kann (wie Anm. 3), § 49, S. 414. 58 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit einer Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist ver- bindet.23

Mit anderen Worten: Ein Werk mit Geist oder ein geistreiches Werk sollte das Publikum inter- pretieren lassen, so wie die Natur den Künstler interpretieren lässt. Während Kant den dich- terischen Interpreten der Natur als Genie bezeichnet, dürften der scharfsinnige Leser und der Forscher, die ihre Interpretation der dichterischen Natur zum Ausdruck bringen, vielleicht auch als (Halb-)Genies bezeichnet werden. Dies mag zu weit gehen. Aber insofern ist es sicher, als die Interpretation des Lesers im Wesentlichen ambivalent ist, weil der ästhetischen Idee als Anschauung »niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann« (inexponibel),24 so wie die Interpretation des Künstlers im Wesentlichen ambivalent ist, weil dem in der Vernunftidee enthaltenen übersinnlichen Begriff »niemals eine Anschauung angemessen gegeben kann« (in- demonstrabel).25 Hier, glaube ich, kann, ohne zu zögern, das Phantastische im literarischen Werk mit der Phantasie als ästhetischer Sichtweise kombiniert werden. Hieraus geht hervor, dass das Phan- tastische einen Zustand darstellt, bei dem der Verstand kollabiert (manchmal von Angst be- gleitet) und stattdessen die Phantasie in vollem Ausmaß das Spiel macht. Ein phantastischer Ge- genstand ist also etwas Unverständliches, Unbegreifliches und Unlogisches, für das sich kein ihm adäquater Begriff finden lässt und deshalb kann es nicht zur Erkenntnis werden, sondern bleibt stetes eine ambivalente Vorstellung, die den Menschen als Vernunftwesen entweder zu einer unheimlichen oder zu einer wunderbaren Erklärung herausfordert. Wenn sich der Mensch angesichts der Ambivalenz seiner Begrenztheit bewusst wird und zugleich bewusst über seine ästhetische Urteilskraft verfügen kann, vermag er sich mit der negativen Darstellung zu begnü- gen und sich entweder der Ambivalenz im Gefühl des Schönen zu erfreuen oder sie im Gefühl des Erhabenen zur Selbsterhebung anzuwenden, wie die nicht zur menschlich-vernünftigen Welt angehörende Fee Gloriana in Tiecks Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein erklärt:

[D]ieses Durchdringen, Verstehn der Natur und des Gemütes, dieses Lieben der Liebe ist mein Beruf, und darum bin ich die Fürstin dieses herrlichen Reiches. Ja, das ist es, was der blöde Sterb- liche so oft mit verdämmerten Sinnen die Poesie nennt, die Dichtung, die schaffende Kraft der Phantasie.26

Das angebliche »Verstehen« der Natur hat also nur im Reich der Poesie, in der ästhetischen Sichtweise, ihre Gültigkeit. Wenn der Mensch hingegen vor dem Bewusstsein der eigenen Be- grenzheit zurückschreckt und sich unbewusst entweder der wuchernden Phantasie oder der

23 Ebd., S. 417. 24 Ebd., AI, S. 447f. 25 Ebd. 26 Ludwig Tieck: »Das alte Buch und die Reise in’s Blaue hinein. Eine Märchen-Novelle«, in: ders.: Schriften, Bd. 11: Schriften 1834-1836, hrsg. von Uwe Schweikert, Frankfurt a. M. 1986, S. 733-854, hier: S. 822. 59 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise zensurhaften Vernunft überlässt, um sich mithilfe der Quasi-Ursache eine Quasi-Logik zu er- schaffen und sich daran zu orientieren; mit einem Wort: wenn er sich von der negativen Dar- stellung eine positive erzwingt, indem er z. B. dem Phantastischen (-) eine unheimliche (+) oder eine wunderbare Erklärung (+) unterlegt – so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in der Dialektik der Vernunft zu verlieren. Die Dynamik des Phantastischen liegt also nicht in dem Phantastischen, sondern in der Schwäche des Homo sapiens. Da es hier um ein literarisches Phänomen geht, stellt sich nun die Frage, wer vom Phantas- tischen angeregt werden kann. Der Dichter? Mag sein. Aber in dieser Hinsicht sollte eher seine Biographie als sein Werk zur Diskussion stehen. Diese Diskussion ist zwar aufschluss- und hilfreich, wenn man der Interpretation mehr Überzeugungskraft verleihen möchte, aber wenn die Rede auf »das Phantastische im Werk« kommt, dann rücken, wie im ersten Kapitel disku- tiert, vor allem der implizierte Leser und ggf. die Protagonisten ins Blickfeld. Es kommt also auf die Textstruktur an, auf das Arrangement des Dichters, der sein Spiel mit dem Verstand des Lesers treibt und diesen zugleich zum Phantasieren anregt. Ein Dichter mit einer solchen Zielsetzung gilt als Prophet, weil er in seiner Dichtung die Ohnmacht der Vernunft bloßstellt, die Folge davon »prophezeit« und die Erlösung daraus verkündigt. Ein Fragment von Fridrich Schlegel bringt es durchaus treffend zum Ausdruck: »Der dichtende Philosoph, der philoso- phierende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch sein, und hat auch Anlage, es zu werden.«27 Doch die Voraussetzung lautet: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Hierfür scheint das lange 19. Jahrhundert die idealen Verhältnisse geboten zu haben, da man angesichts des großen Chaos der Prophezeiung bedurfte. Den Dichter mag man in den drei Stufen der Aufklärung bei den Anhängern der Revolution durchaus als Propheten ansehen, also als denjenigen, der sich »transzendental« auf die Selbsterhebung der Menschheit richtet, doch fehlen ihm des Öfteren Jünger und Völker, die ihn rechtzeitig verstehen. Schlegel hat wahrscheinlich Recht, wenn er in seiner Schrift Über die Unverständlichkeit konstatiert: »Das Beste dürfte wohl auch hier sein, es immer ärger zu machen; wenn das Ärgernis die größte Höhe erreicht hat, so reißt es und verschwindet, und kann das Verstehen dann sogleich seinen An- fang nehmen.«28 Doch aller Anfang ist schwer, zumal für Heinrich von Kleist, der per se schon als »ein schwieriger Mensch« gilt.29

27 Friedrich Schlegel: »Athenäum Fragmente«, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Cha- rakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hrsg. von Hans Eichner, München, Paderborn u. Wien 1967, S. 165- 255, hier: [249], S. 207. 28 Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit«, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hrsg. von Hans Eichner, München, Paderborn u. Wien 1967, S. 363-372, hier: S. 367. 29 Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie, München 2011, S. 13. 60 Das Phantastische als ästhetische Sichtweise

61 Kleist im Spannungsfeld

Zweiter Teil: Ecce Homo

PER ASPERA AD ASTRA

IV. Kleist im Spannungsfeld – Ein Paradigma

»Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat und in seiner Familie.«1 Zu seinem Leidwesen hing Kleist in seinem ganzen Leben von seiner Heimat und seiner Familie ab, weil er den Preis für eine Loslösung – ganz realistisch gemeint – nicht aufbringen konnte. »Wilhelmine, warte zehn Jahre und Du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen«,2 so schrieb der angehende Dichter am 13. November 1800 zuversichtlich an seine Verlobte, doch elf Jahre später, am 21. November 1811, wurde sein Name nur im Zusammenhang mit dem für einen Skandal sorgenden Freitod am Wannsee genannt. Er war immerhin ein Mensch, strebte menschlich nach Anerkennung, sei es von der Familie, von der Heimat, von den Bürgern oder Königen (sowohl in Preußen als auch in Weimar), diese wurde ihm jedoch zeit seines Lebens bis auf wenige Ausnahmen nicht gegönnt. Zu Beginn seines Werdegangs teilte er zwar mit:

Immer mehr erwärmt und begünstigt mein Herz den Entschluß, den ich nun um keinen Preis der Könige mehr aufgeben möchte, und meine Vernunft bekräftigt, was mein Herz sagt, und krönt es mit der Wahrheit, daß es wenigstens weise und ratsam sei, in dieser wandelbaren Zeit [!] so wenig wie möglich an die Ordnung der Dinge zu knüpfen.3

Letztlich aber ist er von dieser wandelbaren Zeit geprägt, auch wenn er über die Ordnung der Dinge die Nase rümpfte und sich vielmehr um die Ordnung der Unordnung bemühte. Die Zeit, inklusive der Räumlichkeit, dominierte und der Weltgeist – sei es zu Pferde oder zu Fuß – droht, jede alte oder neue Orientierung willkürlich zu desavouieren. Angesichts ihrer Domi- nanz und Willkür konnte der einzelne Mensch, der gegen sie revolutionär ankämpfte, dennoch in ihr lebte und von ihr abhing, nicht anders als resignieren. So schrieb Kleist 1805: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.«4 Der Widerspruch zwischen dem eigenwilligen Kampf und der erzwungenen Resignation ließ ihn am Ende den radikalsten Schritt gehen, um sich endgültig die Unabhängigkeit von der Zeit, von der unter deren Herrschaft stehenden

1 Mt 13,57. 2 Brief an Wilhelmine von Zenge am 13. November 1800, SWB II, S. 589. 3 Brief an Christian Ernst Martini am 18. März 1799, SWB II, S. 485. 4 Brief an Otto August Rühle von Lilienstern [1805], SWB II, S. 761. 62 Kleist im Spannungsfeld

Heimat und Familie sowie von der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«5 endgültig zu ver- schaffen – auf Kosten des eigenen Lebens. Indessen erwachsen aus seinem Kampf die Werke, die einen Orakelspruch in sich tragen, der, wie es sich später durch die Interpretation erweist, die Ursache für Glück bzw. Unglück ist. So wie Kants kritische Philosophie als Orakelspruch bezeichnet6 und er persönlich als Theoretiker der Moderne angesehen wird,7 zeichnet sich Kleist, der im geistigen Gravitationsfeld Kants steht, auch durch seine Modernität aus: »Kleists Ideen«, so Günter Blamberger in seiner Kleist-Biographie, »haben Zukunft in der Moderne – von Nietzsche über Kafka bis Heiner Müller –, sie haben keine Gegenwart bei den Zeitgenos- sen im 19. Jahrhundert«.8 Im Folgenden versuche ich, das Leben Kleists in diesem Spannungsfeld zu rekonstrurieren, indem ich seine individuelle(n) Revolution(en) gegen die Zeitordnung und deren Folgen jeweils in Hinsicht auf sein Verhältnis zu Familie, Kultur und sich selbst darstelle. Daraus sollen sich Erkenntnisse für die Interpretation seines Werkes ergeben, nämlich ein phantastisches Lebens- bild (aber es bezieht sich auf kein übernatürliches Phänomen, es gibt nur einen dichterischen Geist in ihm). In diesem enttäuschen alle Überzeugungen, Behauptungen, Überlegungen, Be- gründungen und mithin der Glaube, Hoffnungen sowie die Liebesbeziehungen – ein Bild, das zwar dunkel oder sogar finster, orientierungslos und ohne Zuversicht, aber gerade deswegen ästhetisch genug ist, um das phantastische Werk hervorzubringen. Ein kämpferisches Motto, das der junge Kleist seiner Schwester Wilhelmine in einem Brief mitteilt, lässt sich vorwegneh- men: » Ich will hinein und muß hinein, und sollts auch in der Quere sein.«9 Dieser ikonische, aber kraftvolle Satz erinnert an einen ebenso obsessiven Satz im Tagebuch Klaus Manns: »Ich muß, muß, muß berühmt werden…«10 Während dieser danach strebte, aus dem Schatten seines berühmten Vaters herauszutreten und ob der Art der Umsetzung des Vorhabens als Skandalautor, »Skandalisierer und Skandalisierter«, gilt,11 steht ihm Kleist, der ebenso dem Schatten der berühmten Familie derer von Kleist zu entfliehen versuchte, in der Skandalösität und Skandalträchtigkeit in Nichts nach. Wohl deshalb fühlte er sich von Adam Müller, »dem Lehrer des Gegensatzes«12 angesprochen. Wohl deshalb konzipiert er den skan- dalösen Allerneueste[n] Erziehungsplan, in dem es heißt: »Aber das Kind ist kein Wachs, das sich, in eines Menschen Händen, zu einer beliebigen Gestalt kneten läßt: es lebt, es ist frei; es trägt

5 Zitiert aus Die Marquise von O..., SWB II, S. 143. 6 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 12 Aufl., Frankfurt a. M. 2000, S. 32. 7 Willi Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt a. M. 1979, S. 106. 8 Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a. M. 2011, S. 16. 9 SWB I, S. 43. 10 Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt a. M. 1952, S. 86. 11 Vgl. Birgit Schuhbeck: »„Ich muß, muß, muß berühmt werden!“ Klaus Manns Skandalmotivation zwi- schen Selbst-Exposition und Gemeinschaftsstiftung«, in: Skandalautoren, hrsg. von Andrea Bartl u. Martin Kraus, Würzburg 2014, S. 475-497. 12 Brief an Christoph Martin Wieland vom 17. Dezember 1807, SWB II, S. 799. 63 Kleist im Spannungsfeld ein unabhängiges und eigentümliches Vermögen der Entwicklung, und das Muster aller inner- lichen Gestaltung, in sich.«13 In der Konzeption, »eine sogenannte Lasterschule, oder vielmehr eine gegensätzische Schule, eine Schule der Tugend durch Laster, zu errichten«,14 kommt seine Re- bellion oder zumindest sein »Widerspruch« gegen »die uralte Erziehung, die uns die Väter, in ihrer Einfalt, überliefert haben«,15 deutlich zum Ausdruck. Nur: Die Umgebung draußen vor der Tür ist karg, aber die Landschaft hinter der Tür ist nicht unbedingt besser. Immer noch, hie und da, bleibt der obsessive Geist unbefriedigt. Aus dem Hin und Her ergibt sich eine Dialektik – und dies nicht ohne Leid.

IV.1. Die erste Mauer: Konvention derer von Kleist

In eine adlige Familie geboren, für die der Militärdienst selbstverständlich vorgegeben ist,16 war Heinrich von Kleist von vornherein determiniert, entweder ein standesgemäßes Leben hinter der Mauer (hauptsächlich der der Kaserne) zu führen oder für eines außerhalb derselben zu kämpfen. So wurde Kleist 1792, teils wegen der finanziellen Not nach dem Tod seines Vaters, mit 15 zum Armeedienst geschickt und bald darauf schon für den ersten Koalitions- krieg ins Rheinland verpflichtet. Blut und Eisen galt damals im preußischen Militärdienst als Prinzip und Gehorsam als selbstverständliche Disziplin. Allerdings gab es für Kleist zugleich noch andere Werte. Zu nennen ist hier vor allem die Musik. Nach der Überlieferung von Eduard von Bülow zeichnete sich Kleist besonders durch sein musikalisches Talent aus. »[Er] spielte in einer von Offiziers zusammengesetzten Musik- bande die Klarinette und zog sich, der Musik zuliebe, sogar einmal Arrest wegen einer Ver- nachlässigung im Dienste zu.«17 Kleists musikalische Aktivität ist nicht nur als Anekdote zu lesen. Dass er der Musik wegen arretiert wurde, zeigt deutlich eine Neigung, die dem militäri- schen Prinzip und der Disziplin entgegensteht. So findet sich in der Biographie Rühle von Liliensterns: »Einst kam das Quartett [Kleist, Rühle u. a.] auf die Idee, als reisende Musikanten, einen Ausflug in den Harz zu machen. Wie gedacht, so getan. Ohne einen Kreuzer mitgenom- men zu haben, wurde in Dörfern und Städten gespielt, und nur vom Ertrage der Kunst ge- lebt.«18 Während ihre Vorgesetzten die Tournee als »harmlosen Scherz« betrachteten,19 ist diese Episode meines Erachtens schon als Experiment des freien Lebensstils zu deuten, umso mehr, als der von Potsdam ca. 200 km entfernte Harz ihm ein Refugium außerhalb der Mauer, eine Natur außerhalb der Kultur, bot, wie das Gedicht, das wahrscheinlich vom Leutnant Kleist

13 Allerneuester Erziehungsplan, SWB II, S. 335. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Vgl. Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie, München 2007, S. 43f. 17 LS, Nr. 17. 18 LS, Nr. 18. 19 LS, Nr. 18a. 64 Kleist im Spannungsfeld

1798 im Besucherbuch einer Höhle im Harz geschrieben wurde, lautet: »Hier von der Welt geschieden, / Im Tempel der Natur / Hier find den wahren Frieden / Des Wandrers Seele nur. / Frey von der Sinne Ketten, / Von niedrer Ehrsucht frey, / Wollt ich zu dir mich retten / Du traute Siedeley.«20 Wie im weiteren Verlauf noch zu zeigen ist, ist die Natur für den jungen Kleist stets ein Ziel des Auswegs, ja der Ort des höheren Friedens, der sich nicht bei dem leicht zum Krieg oder überhaupt zum Konflikt aufzuhetzenden Menschen finden lasse.21 Auch mit der natürlichen Musik soll Kleist manche ästhetische Erfahrung gemacht haben:

So entsinne ich mich besonders einmal als Knabe vor 9 Jahren, [dass ich,] als ich gegen den Rhein und gegen den Abendwind zugleich hinaufging, und so die Wellen der Luft und des Wassers zu- gleich mich umtönten, ein schmelzendes Adagio gehört habe, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden Harmonie. Es war wie die Wirkung eines Orchesters, wie ein voll- ständiges Vaux-hall; ja, ich glaube sogar, daß alles was die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten, nichts Weicheres, Schöneres, Himmlischeres gewesen sei, als diese seltsame Träumerei.22

Und er bemerkte schon damals, dass sich die ästhetische Erfahrung als solche nicht durch den Verstand erfassen lässt: »Und dieses Konzert kann ich mir, ohne Kapelle, wiederholen so oft ich will – aber so bald ein Gedanke daran sich regt, gleich ist alles fort, wie weggezaubert durch das magische: disparois!, Melodie, Harmonie, Klang, kurz die ganze Sphärenmusik.«23 Diese Erinnerung, die gewissermaßen den Ansatz seiner künstlerischen Laufbahn darstellt, wurde jedoch von ihm beim aufklärerischen Streben nach Wissenschaft verdrängt, bis er sich wieder in einer verstandswidrigen Phase, nämlich in der Liebesbeziehung zu seiner Verlobten Wilhel- mine von Zenge, befand. Paradoxerweise – ganz im Sinne einer Dialektik – liegt der Grund für seine freiwillige Ent- lassung aus dem Militärdienst auch in einer verstandeswidrigen Situation. Wenn sich Kleists erste Liebe – Beziehung zu Luise von Linckersdorf, zu der er »des Abends so oft geschlichen war«,24 – auch als harmloser Scherz hätte hinnehmen lassen, soll ihn der Schmerz über das Ende der Beziehung nicht nur erschüttert, sondern vielmehr in die Lage versetzt haben, Abschied von der Uniform und grauen Norm zu nehmen:

Es [Kleists Verhältnis zu Luise] löste sich plötzlich, und der Schmerz darüber führte ihn wohl zum erstenmal tiefer in sein Inneres. Kleist vernachlässigte fortan sein Äußeres, zog sich von allen Menschen zurück und begann sich ernstlich mit den philosophischen Wissenschaften zu beschäftigen. [!] Dieses Studium zog ihm zwar den Unwillen seines Chefs, des Generals v. Rüchel, zu; als jedoch Kleist im Jahr 1798 seinen

20 LS, Nr. 20b. 21 Vgl. sein Gedicht Der höhere Frieden, SWB I, S. 9. 22 Brief an Wilhelmine von Zenge am 19. September 1800, SWB II, S. 569. 23 Ebd. 24 Brief an Wilhelmine von Zenge am 30. August 1800, SWB II, S. 535. 65 Kleist im Spannungsfeld

Abschied forderte, suchte ihn Rüchel, dem es schmeichelte, unter seinen Befehlen gebildete Offi- ziere zu haben, selbst beim Soldatenstande festzuhalten.25

Interessant ist die Frage, womit er sich zu dieser Zeit beschäftigte. Nach seiner Angabe war er in Potsdam, nachdem die Truppe vom Krieg zurückgekehrt war, schon »mehr Student als Sol- dat« und beschäftigte sich »ausschließlich mit Mathematik und Philosophie, – als den beiden Grundfesten alles Wissens« und lernte »als Nebenstudien die griechische und lateinische Spra- che«.26 Allerdings soll all dies eher Grundwissen geblieben sein. Das berserkerhafte Studium konnte auch nicht dauern. Fragt man danach, was ihn in dieser Phase wirklich beeinflusst und begeistert hat, dann führt die Antwort wohl auf Wieland zurück, dessen Sympathien Kleist be- reits mit 16, also während des Krieges, gelesen hat, und von dem er so viel gelernt habe, dass er den Autor als »Lehrer« bezeichnete,27 obwohl er ihm zu dieser Zeit noch nicht persönlich begegnet war. Das Werk seines »sympathetischen« Lehrers besteht aus 15 pietistisch-aufkläre- rischen28 moralischen Essays, die in Form der angeblichen, der Telepathie ähnlichen Sympa- thie verfasst werden. Von dem sympathisierenden Erzähler werden stets Tugend, Ordnung und Vernunft sowie Unschuld, Weisheit und geistige Schönheit gelobt; einen Vorwurf ziehen sich dagegen Trieb, Leidenschaft, Wollust, sinnlicher Genuss und sogar Empfindsamkeit, die in der Hochaufklärung gewissermaßen legitimiert wurde, zu. Auch wenn hier die christliche Heilsgeschichte als Endzweck gepredigt wird, ist der aufklärerische Ton unverkennbar. Immer- hin zeigt sich darin eine Himmelsvorstellung, die mehr oder weniger von der Aufklärung mit- geprägt ist: »Ein theozentrischer Entwurft, der Gott in den Mittelpunkt stellte, wurde zuneh- mend von einem am individuellen Geschick der abgeschiedenen Seelen interessierten anthro- pozentrischen Bild des Jenseits abgelöst«,29 zumal das Fortschrittsdenken und der Aufruf zur (moralischen) Bildung auch deutlich zum Ausdruck kommen. Es stellt sich nun die Frage, wie die Essays bei Kleist ihren Zugang fanden. Ein Blick auf das Leben des jungen Kleist zeigt, dass er wiederholt mit dem Tod konfrontiert war: Seine Eltern starben kurz hintereinander, seine Kameraden fielen im Krieg und sein Vetter Karl von Pannwitz erschoss sich auf dem Rückmarsch; nicht zuletzt war er selbst als Soldat ohne Zwei-

25 LS, Nr. 21. 26 Brief an Christian Ernst Martini am 18. März 1799, SWB II, S. 479. 27 Brief an Adolfine von Werdeck am 28. Juli 1801, SWB II, S. 673. 28 Diese Kombination scheint zwar dissonant, aber trotz des allgemeinen Säkularisationsprozesses war die Aufklärung gewissermaßen mit dem Pietismus alliiert, und umgekehrt auch, wie Gert Ueding aufzeigt: »Das generelle Anliegen schon der frühesten Aufklärung war es, die Zivilisation in der Welt zu befördern, bessere Lebensbedingungen und allgemeine Bildung durchzusetzen. Aufklärung und Pietismus gingen dabei am Ende des 17. Jahrhunderts eine häufig übersehene Allianz ein.« Gert Ueding: »Popularphilosophie«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 605-634, hier: 606. 29 Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn, München, Wien u. Zürich 2002, S. 42. 66 Kleist im Spannungsfeld fel auch oft lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt und musste seine Gegner »so unmora- lisch töten«.30 Angesichtsdessen ist es nachvollziehbar, dass Wielands Werk mit seinem deut- lichen Aufruf zur Zuversicht an die andere Welt so stark auf den jungen Kleist wirkte:

Und was ist dieses Leben als ein Stand der Prüfung und Vorbereitung, worin sich alls auf eine andre Welt beziehet, worin wir aussäen, um in einer noch unbekannten Zukunft zu ernten, worin das Wohl oder Elend unsrer ewigen Dauer von einer jeden Stunde abhängt? Hier muß entschieden seyn, was wir dort werden können! hier müssen wir uns gewöhnen himmlisch zu denken, um dort an den Geschäften und Freuden der Himmlischen Geschmack zu finden; [...].31

Und der Samen heiße Tugend: »Wisse, daß Tugend nichts anders ist, als ein tapfrer, unermü- deter, großmüthiger Streit, mit dem unedlern und sterblichen Theil unser selbst. Nur dem, der bis ans Ende aushält, nur dem Überwinder [!] wird die Krone zuerkannt.«32 Unabhängig davon, ob Kleists »überaus große Empfindlichkeit und Reizbarkeit«33 bei der Rezeption eine Rolle gespielt haben oder nicht, ist es Tatsache, dass er die Wielandschen Ideen für das Prinzip des Handelns annahm, wie er später im Brief an Wilhelmine von Zenge bekannte:

Ich hatte schon als Knabe (mich dünkt am Rhein durch eine Schrift von Wieland)34 mir den Ge- danken angeeignet, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre. Ich glaubte, daß wir einst nach dem Tode von der Stufe der Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem andern weiter fortschreiten würden, und daß wir den Schatz von Wahrheiten, den wir hier sammelten, auch dort einst brauchen könnten. Aus diesen Gedanken bildete sich so nach und nach eine eigne Religion, und das Bestreben, nie auf einen Augenblick hienieden still zu stehen, und immer unaufhörlich einem höhern Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip meiner Tätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig ist.35

Es fällt auf, dass Kleist dabei auf die Planetenwanderung verwies, von der jedoch bei Wieland keine Rede ist. Dies, so lässt sich vermuten, könnte die Idee von seinem ehemaligen Hauslehrer C. E. Martini vermittelt worden sein, oder Kleist könnte sie sich durch seine eigene Lektüre selbst angeeignet haben, zumal die Idee damals so populär war, dass auch Kant, Lessing und Herder Anteil an dem Diskurs genommen haben.36 Allerdings ist der Einfluss Wielands auf den jungen Kleist unwiderlegbar. Die Tugend, die Wieland auf seine Fahne geschrieben hatte,

30 Brief an Ulrike von Kleist a. 25. Februar 1795, SWB II, S. 471. 31 C. M. Wieland: »Sympathien«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 13.3, hrsg. von Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg 1984, S. 127-208, hier: S. 172. 32 Ebd, S. 163. 33 LS, Nr. 22. 34 Im Brief an Adolfine von Werdeck am 28. Juli 1801 führt Kleist in derselben Hinsicht den Titel der Sym- pathien auf, SWB II, 673. 35 Brief an Wilhelmine von Zenge am 22. März 1801, SWB II, S. 633. 36 Vgl. D. Sawicki (wie Anm. 29), S. 47ff. 67 Kleist im Spannungsfeld wurde auch von dem preußischen Portepee-Fähnrich als Fahne getragen, aber nicht in den Kampf einer Militärperson, sondern in den Kampf eines »denkende[n] Mensch[en]«.37 Sowohl im Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen! als auch im Brief an Martini begründete Kleist seinen Abschied vom Militär, indem er auf eine nahezu tautologische Weise die Tugend als Kern seiner Idee propagierte. Wenn es bei Wieland heißt: »Die Güter des Glücks sind unbeständig, die liebsten und würdigsten Gegenstände unsers Herzens können uns aus den Augen genommen werden, aber unsre Gedanken ersetzen uns alles. Die Seele ist da, wo sie denkt. Durch ihre Gedanken kann sie sich mitten im Leiden einen Himmel um sich her verschaffen«;38 so ging Kleist davon aus, dass das Glück sich »im Innern« gründen sollte,39 und zwar durch Tugend: »das Glück als Aufmunterung zur Tugend, die Tugend als Weg zum Glück«.40 »[M]ein Freund, die Tugend, und einzig allein nur die Tugend ist die Mutter des Glücks, und der Beste ist der Glücklichste.«41 Aber während er noch davon schwärmte, lehnte er doch offensichtlich Wie- lands seraphisch-pietistische Begründung der Tugend und des Glücks ab.42 Er hat sozusagen die Moral säkularisiert. Und daraus ergibt sich eher eine Schwärmerei als eine Wahrheit. So gestand er:

Sie hören mich so viel und so lebhaft von der Tugend sprechen, und doch weiß ich, daß Sie mit diesem Worte nur einen dunkeln Sinn verknüpfen; Lieber, es geht mir wie Ihnen, wenn ich gleich so viel davon rede. Es erscheint mir nur wie ein Hohes, Erhabenes, Unnennbares, für das ich ver- gebens ein Wort suche, um es durch die Sprache, vergebens eine Gestalt, um es durch ein Bild auszudrücken.43

Im Brief an Martini schreibt Kleist umso aufklärerischer: »Lieber! Ich schäme mich nicht zu gestehen, was Sie befürchten: daß ich nicht deutlich weiß, wovon ich rede, und tröste mich mit unseren Philistern, die unter eben diesen Umständen von Gott reden.«44 Hierin zeigt sich eine aufklärerische Unbefriedigtheit, in der Kleist einen Anlass zur Aufklärung, die seine eigene Reli- gion bilden sollte, sah:

37 Brief an Christian Ernst Martini am 18. März 1799, SWB II, S. 472. 38 C. M. Wieland (wie Anm. 31), S. 175. 39 Aufsatz, SWB II, S. 301. 40 Ebd., S. 303. 41 Ebd. 42 Als Quelle des Aufsatzes verweist Mark-Georg Dehrmann über Wieland hinaus auf die Schrift Betrachtung über die Bestimmung des Menschen vom Berliner Theologen Johann Joachim Spalding, die als »Basisidee der deutschen Aufklärung« gelte. Dabei diene Wieland als »einer der enthusiastischsten Leser« Spaldings als Bindeglied zwischen Kleist und Spalding. Mark-Georg Dehrmann: »Die problematische Bestimmung des Menschen. Kleists Auseinandersetzung mit einer Denkfigur der Aufklärung im Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, im Michael Kohlhaas und der Herrmannsschlacht«, in: DVjs [2/2007], S. 193-227. 43 Aufsatz, S. 304. 44 Brief an Christian Ernst Martini am 18. März 1799, SWB II, S. 475. 68 Kleist im Spannungsfeld

Mich tröstet indes die Rückerinnerung dessen, [...] wie nach und nach, seidem ich denke [!], und an meiner Bildung arbeite, auch das Bild der Tugend für mich an Gestalt und Bildung gewonnen hat; daher hoffe und glaube ich, daß so wie es sich in meiner Seele nach und nach mehr aufklärt [!], auch dieses Bild sich in immer deutlicheren Umrissen mir darstellen, und jemehr es an Wahrheit gewinnt, meine Kräfte stärken und meinen Willen begeistern wird.45

Was Kleist zur Aufklärung brauchte und gebrauchte, ist eine totalitäre Vernunft. Denn durch Sprache aus etwas Unnennbarem einen nennbaren Begriff hervorzubringen und damit das Etwas zu beherrschen, bezieht sich schon auf eine Funktion der Vernunft. Und der dadurch erhaltene Begriff, zumal es mit der »Wahrheit« zu tun hat, dient weiterhin als Prinzip der ver- nünftigen Handlung, die (geistige) Herrschaft über die ganze Welt auszuweiten. Es ist also weder zufällig noch Privatgespräch, dass Kleist die Weltreise zur Sprache brachte: »Dann, mein Freund, wird die Erde unser Vaterland, und alle Menschen unsre Landsleute sein. Wir werden uns stellen und wenden können wohin wir wollen, und immer glücklich sein.«46 Tugend und Glück und Vernunft und Freiheit gingen in diesem Elysium Hand in Hand. Gleichgültig, ob man wirklich vom Zuhause abreist oder nicht, ist der Weg zum Elysium auf jeden Fall eine Erkenntnis-Kette, deren jedes einzelne Glied in Ordnung und deshalb kalkulierbar ist und die unfassbare Natur durch den jeweiligen Beriff zu einer fassbaren Kausalität macht – »Ein schö- nes Kennzeichen eines solchen Menschen, der nach sichern Prinzipien handelt, ist Konse- quenz, Zusammenhang, und Einheit in seinem Betragen«.47 Dann würde die Vernunft domi- nieren und dieser Konjunktiv schmeichelt schon der höchsten Hoffnung des Vernünftigen:

Wie viele Freuden gewährt nicht schon allein die wahre und richtige Wertschätzung der Dinge. [...] Wir werden uns seltner irren, mein Freund, wir durchschauen dann die Geheimnisse der physischen wie der moralischen Welt, bis dahin, versteht sich, wo der ewige Schleier über sie waltet, und was wir bei dem Scharfblick unsres Geistes von der Natur erwarten, das leistet sie gewiß. Ja es ist im richtigen Sinne sogar möglich, das Schicksal selbst zu leiten, und wenn uns dann auch das große allgewaltige Rad einmal mit sich fortreißt, so verlieren wir doch nie das Gefühl unsrer selbst, nie das Bewußtsein unseres Wertes.48

Diese Religion führte unmittelbar dazu, dass Kleist zum einen seinen Abschied vom Militär einreichte, um sich »die goldne Unabhängigkeit, oder um nicht falsch verstanden zu werden, die goldne Abhängigkeit von der Herrschaft der Vernunft« zu verschaffen.49 Zum anderen

45 Aufsatz, SWB II, S. 304. Auch im Brief an Martini, SWB II, S. 475. 46 Aufsatz, SWB II, S. 310. 47 Brief an Ulrike von Kleist im Mai 1799, SWB II, S. 489. 48 Ebd. 49 Brief an Christian Ernst Martini am 18. März 1799, SWB II, S. 484. 69 Kleist im Spannungsfeld führte es dazu, dass er sich ganz und gar der Wissenschaft widmen wollte, und zwar »der hö- heren Theologie, [nämlich] der Mathematik, Philosophie und Physik«.50 Das ist ein deutlicher Ausdruck, dass sich der Mensch, der infolge der Aufklärung Anspruch auf seine eigene Auto- nomie erhebt, in der Tat nur einer anderen Heteronomie unterliegt. Und das ist eine Miniatur der Säkularisation und des wachsenden Interesses an der Naturwissenschaft, mit dem die Auf- klärung einhergeht. Dies ist jedoch nur der Anfang einer Dialektik. Während die »politische Klugheit«, die von vornherein in der Konzeption der Aufklärung stand, einmal durch den Wolffschen Rationalismus radikalisiert und wiederum durch die Hoch- aufklärung mit der Menschlichkeit reguliert,51 den jungen Kleist begeisterte, der dementspre- chend das individuelle Glück und das Selbstdenken als Kernidee seiner optimistischen Religion predigte, nahm diese »Klugheit« auf der anderen Seite eine geistige Kastration an dem Jungen vor. »[E]in natürlich heftiger Trieb im Innern«52 und »die wunderbar ungleichartigen Gestalten, die in unserm Innern wühlen und durcheinander treiben«,53 seien also zu tilgen, damit der junge Wanderer auf dem Weg des Glücks nicht aus dem Gleis gerät. Nicht zuletzt rät Kleist seinem Leser in seinem Aufsatz von der Lektüre von Romanen ab, deren »Überschwemmung« »auch Ihre Phantasie einst unter Wasser gesetzt hat, (verzeihn Sie mir diesen unedlen Aus- druck), aber vielleicht ist diese zu häufige Lektüre an der Empfindung des Menschenhasses schuld, die so ungleichartig und fremd neben Ihren andern Empfindungen steht.«54 Mit dieser Äußerung schließt sich Kleist einerseits der aufklärerischen Ansicht über den Roman an, die Kritik an der »empfindelden« Massenlektüre von Romanen übt;55 andererseits lässt sich hier Wielands in Sympathien dargelegte ästhetische Lehre wiedererkennen, auch wenn dessen Kritik eher gegen die Anakreontik richtet:

Höre, (wenn dich anders die Fantasie nicht schon so weit von der Weisheit abgeführt hat, daß dich Anakreon ein Weiser dünkt,) höre die Stimme eines Freundes, welcher frühzeitig den reizenden Gefahren entronnen ist, denen du zueilest. [...] Je weiter die Grenzen des Witzes werden, desto enger wird das Gebiet der Vernunft. Und die Vernunft muß doch in einem Geschöpfe herrschen, welches mehr als das schönste Thier ist. [...] Der Witz, wenn er nicht ein Aufwärter der Wahrheit ist, ist ein Teufel in einen Engel des Lichts verkleidet. Er raubt mit frevelnder Hand die keuschen Schönheiten der Natur, um die Thorheit damit auszuschmücken. – Wenn du so empfindlich für die

50 Dass Kleist an derselben Stelle »ein Kollegium über literarische Enzyklopädie« aufführte, bezieht sich auf die lateinischen Sprachkenntnisse und wird deshalb im vorliegenden Kontext außer Acht gelassen. Ebd., S. 483. 51 Vgl. Rolf Grimminger: »Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von ders., 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 15-99, hier: S. 33-57. 52 Aufsatz, SWB II, S. 308. 53 Ebd., S. 309. 54 Ebd., S. 313. 55 R. Grimminger (wie Anm. 51), S. 63. 70 Kleist im Spannungsfeld

Vergnügen der Einbildungskraft bist, Aedon, hat denn die wahre Unschuld, die Rechtschaffenheit, die Religion keine Grazien?56

Solch eine »aufklärerische Zensur« erlässt – wie eine Zensur – nicht bloß Lektüreverbot, son- dern auch Lektüreempfehlung. So empfiehlt Kleist seinem Adressaten die Geschichte als Lek- türe: »Sie ist die getreue Darstellung dessen, was sich zu allen Zeiten unter den Menschen zugetragen hat. Da hat keiner etwas hinzugesetzt, keiner etwas weggelassen, es finden sich keine phantastische Ideale, keine Dichtung, nichts als wahre trockne Geschichte.«57 Ungeach- tet dessen, dass der lehrende Kleist dadurch den Menschenhass korrigieren wollte, liegt seiner Empfehlung nach wie vor die aufklärerische Überzeugung zugrunde, dass die Entwicklung sowohl der kollektiven Geschichte als auch des individuellen Lebens sich in einer strikten Kau- salität befindet bzw. befinden sollte, damit Fortschritt und Vollendung durch bewusste kluge Handlungen erreichbar sind.

.

IV.2. Die zweite Mauer: Ein brauchbarer (Ehe-)Mann

Mit Erlaubnis des Königs war es Kleist gestattet, den Militärdienst zu quittieren und damit den Mauern der Kaserne zu entkommen. Trotzdem brachte ihm sein Lebensplan weder »Ruhe« noch »Sicherheit«, wie er es sich sowohl selbst wie auch seiner Schwester versprochen hatte.58 Nach dieser persönlichen Revolution befand er sich nicht etwa auf einem geraden Lebensweg, sondern in einer Re-Orientierungsphase, die zu überwinden für ihn nicht einfach war. Verur- sacht wurde dies zunächst vom Studium, dem er sich zwar aufs Strengste verschrieben hatte, dessen er aber schon bald überdrüssig wurde, wie Tiecks Überlieferung zeigt:

Dies [das Studium] verstimmte ihn oft, da er die Hemmung fühlte, und sein heftiger Geist nur gar zu gern alles übersprang, was ihn von irgendeinem Ziele zurückhielt. [...] so haderte er doch auch nicht selten mit sich selber, hielt sich für unbrauchbar und unfähig, und wollte immer mit Gewalt und in kurzer Zeit mit Trotz das erzwingen, was nur Geduld Ausdauer und Resignation auch dem ausgezeichneten Geiste gewähren können.59

Es ist verständlich, dass »ein nicht zu dämpfender Feuergeist«,60 wie Kleist einer war, weder dulden noch resignieren mag, um so weniger, als er zuvor den Nutzen eines Studiums über- mäßig schwärmerisch schilderte. Nicht zuletzt hielt ihn der König in der Kabinettsorder an,

56 C. M. Wieland (wie Anm. 31), S. 157. 57 Aufsatz, SWB II, S. 313. 58 Brief an Ulrike von Kleist [vom Mai 1799], SWB II, S. 490. 59 LS, Nr. 31. 60 So soll ihn sein ehemaliger Lehrer Martini bezeichnet haben. LS, Nr. 5a. 71 Kleist im Spannungsfeld

»Eure Kenntnisse zu erweitern, und Euch zu einem besonders brauchbaren Geschäftsmanne zu bilden.«61 Diese königliche Instruktion, ungeachtet dessen, ob sie Kleists aufklärerische, das selbstständige Denken verlangende Idee hätte zuwiderlaufen können, besagt doch immer- hin, dass Kleist nach wie vor von einer Mauer eingegrenzt war, und daraus auszubrechen ist schon deshalb schwieriger, weil solch eine ideologische, psychisch-moralische Mauer mit der Kultur überhaupt verbunden ist und für sie als verbindlich gilt. Möglich ist dies, indem man die Kultur verlässt – sei es geistig oder körperlich. So schrieb Kleist einst an der preußischen Grenze: »Wir fuhren über Treuenbritzen nach Wittenberg und fanden, als wir auf der sächsischen Grenze das Auge einigemal zurück auf unser Vaterland warfen, daß dieses sich immer besser ausnahm, je weiter wir uns davon entfernten.«62 Die Absicht des Dichters Kleist, sich in der Schweiz als Bauer niederzulassen, ist ein Beleg dafür: »Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchte, wird mich nicht irre führen. [...] Indessen, liebes Mädchen, weiß ich nur fast keinen andern Ausweg.«63 So schrieb er an Wilhelmine, die ihn, wie ich gleich im Folgen- den zeigen werde, unbewusst ins Exil trieb. Aber in dem Moment, da er noch an der Viadrina studierte, fiel ihm noch nicht ein, aus Preußen zu emigrieren. Unter Stress stehend, bedurfte Kleist eines Halts, an dem er sich orien- tieren konnte, um sich nicht zu verirren. Ähnlich wie diejenigen Aufklärer, die sich nach der Selbst-Emanzipation desto fester an die Vernunft hielten, um sich in Freiheit bzw. Selbstver- antwortung als autonome Instanz zu legitimieren, schrieb Kleist an seine Schwester: »Etwas muß dem Menschen heilig sein. Uns beide, denen es die Zeremonien der Religion und die Vorschriften des konventionellen Wohlstandes nicht sind, müssen um so mehr die Gesetze der Vernunft heilig sein.«64 Allerdings schien seine Vernunft sich mit sich selbst nicht begnügen zu können. Zwar hat er einerseits in Anlehnung an Schiller eine Hymne an die Sonne geschrieben – im Sinne einer Hyme an die »allerleuchtende« Vernunft, die sein Leben wie das des lyrischen Ich »leuchtet« bzw. aufklärte, indem sie dessen »Nebel« und »Nacht«-Seite vertreibt und ihm als »ewiger Herrscher« zur Orientierung »in der Lüfte Meer«, nämlich in der unfassbaren Ver- wirrung, dient.65 Zwar hat er sich mit Sokrates und Christus verglichen als eine Art Bahnbre- cher, um sich darüber zu trösten, dass er unverstanden war, und sich darüber zu ermutigen. Aber er konnte das Bedürfnis, verstanden zu werden, oder, um mit Kant zu sagen, das Bedürf- nis nach Verständnis für seine subjektive Zweckmäßigkeit des Studiums nicht unterdrücken, sonst wäre die Arbeit von der Vernunft für nicht wert gehalten und verworfen wurde: »wer weiß, was Sokrates und Christus getan haben würden, wenn sie voraus gewußt hätten, daß

61 Königl. Kabinettsorder an Kleist, SWB, II, S. 486. 62 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 30. August 1800, SWB II, S. 535f. 63 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. Oktober 1801, SWB II, S. 695f. 64 Ebd., S. 491. 65 Vgl. Hymne an die Sonne, SWB I, S. 43f. Es ist verwundlich, dass Walter Hettche in seiner Monographie über Kleists Lyrik die Hymne an die Sonne nur ganz oberflächlich auf die formale Anlehnung an Schiller hin diskutiert und damit Kleists Sonderstellung zwischen Sturm und Drang, Klassik und Frühromantik be- hauptet hat. W. Hettche: Heinrich von Kleists Lyrik, Frankfurt a. M., Bern u. New York 1986, S. 21ff. 72 Kleist im Spannungsfeld keiner unter ihren Völkern den Sinn ihres Todes verstehen würde.«66 Ein solches Bedürfnis ist kennzeichnend für den Projektmacher Kleist, der, um es diesmal mit Niklas Luhmann zu sagen, »im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung«, weil Kleist sich aus der Kaserne, nämlich »einem und nur einem Subsystem der Gesellschaft«, entlassen hatte und nun als »sozial ortlos« galt und deshalb »auf der Ebene seines Persönlichkeitssystems, und das heißt: in der Differenz zu seiner Umwelt und in der Art, wie er sie im Unterschied zu anderen handhabt, Bestätigung finden [musste]«. Kurz: Er hatte einen »Bedarf für eine noch verständliche, vertraute, heimische Nahwelt«: »Der Einzelne muß nicht nur in dem, was er selbst ist, er muß auch in dem, was er selbst sieht, Resonanz finden können.«67 So schrieb Kleist beispielsweise hinsichtlich seines geheimnisvollen Projektes im Jahre 1800: »Ich fühlte mich stark genug den hohen Zweck zu entwerfen, aber zu schwach um ihn allein auszuführen. Ich bedurfte [!] nicht sowohl der Unterstützung, als nur eines weisen Rates, um die zweckmä- ßigsten [!] Mittel nicht zu verfehlen.«68 Daraufhin fand er in Brokes »alles [dessen], was ich bedurfte«69 Hieraus erklärt sich auch seine lebenslange Abhängigkeit von Ulrike, die ihn nicht nur finanziell unterstützte, sondern für ihn auch als »die einzige [galt,] die mich hier ganz ver- steht«:70

Deine Kenntnis meiner Natur schützt sie um so mehr vor ihrer Ausartung; denn ich fürchte nicht allein mir selbst, ich fürchte nun auch Dir zu mißfallen. Dein Beispiel schützt mich vor alle Ein- flüsse der Torheit und des Lasters, Deine Achtung sichert mir die meinige zu.71

Auch seine homoerotisch eingefärbte Zuneigung zu Ernst von Pfuel, der ihn während der Guiskard-Krise fast die ganze Zeit über begleitete, sich um ihn kümmerte und der später, als Kleist schließlich die Beamtenlaufbahn antrat, darum gebeten wurde, ihn nach Anspach zu begleiten, lässt sich in demselben Sinne verstehen:

Man wird mich gewiß, und bald, und mit Gehalt anstellen, geh mit mir nach Anspach, und laß uns der süßen Freundschaft genießen. Laß mich mit allen diesen Kämpfen etwas erworben haben, das mir das Leben wenigstens erträglich macht. [...] Ich heirate niemals, sei Du die Frau mir, die Kinder, und die Enkel!72

Ohne den homoerotischen Anklang entschärfen zu wollen, lässt sich der Satz im oben zitierten Brief – »Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei Dir schlafen könne, Du lieber Junge«73 – doch ebenso jenseits des offenen Bekenntnisses auf

66 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. November 1799, SWB II, S. 495. 67 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982, S. 16ff. 68 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21 August 1800, SWB II, S. 528. 69 Ebd. 70 Brief an Ulrike von Kleist [vom Mai 1799], SWB II, S. 487. 71 Ebd. 72 Brief an Ernst von Pfuel vom 7. Januar 1805, SWB II, S. 750. 73 Ebd., SWB II, S. 749. 73 Kleist im Spannungsfeld die Wiederherstellung einer Ordnung hin verstehen, die Kleist einen Halt in seiner Krise und nach dem Auszug von Wieland geboten hat. Damit konnte er – wenn auch nur um drei Monate mehr – am Guiskard-Projekt weiterarbeiten.74 »Denn die Freundschaft ist wahr, und kühn, und unzweideutig. – «, wie er für Adolfine von Werdeck schrieb, der er zusammen mit seinem Freund in der Schweiz begegnete und mit denen er gemeinsam nach Mailand und Paris reiste, wo dann das Guiskard-Projekt – nach einem Streit mit Pfuel! – eingestellt wurde.75 Diese Ab- hängigkeit von PartnerInnen war selbst an seinem Lebensende noch so konstitutiv, dass er den längst in ihm gereiften Plan des Freitods erst mit Henriette Vogel umsetzen konnte:

Der Entschluß, der in ihrer Seele aufging, mit mir zu sterben, zog mich, ich kann Dir nicht sagen, mit welcher unaussprechlichen und unwiderstehlichen Gewalt, an ihre Brust; [...] Ein Strudel von nie empfundner Seligkeit hat mich ergriffen, und ich kann Dir nicht leugnen, daß mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt.76

Solch ein Bedürfnis entsprang weniger der Vernunft denn dem Gefühl und muss seine ju- gendliche Vernunft-Religion, die sich ziemlich einseitig nur auf Bildung und Wahrheit ausrich- tete, unterminiert haben. Während die ideengeschichtliche Aufklärung im Ablauf allmählich auf das Gefühl aufmerksam wurde und mit ihm, das ursprünglich jenseits der Konzeption der Vernunft lag, umzugehen versuchte,77 etabilierte sich das Gefühl auch allmählich in Kleists Konzeption des Glücks, der ursprünglich sein rationalistisches Konzept zugrunde liegen sollte. Denn allein vom Verstand kann der Mensch als Naturwesen nicht leben:

Bei dem ewigen Beweisen und Folgern verlernt das Herz fast zu fühlen; und doch wohnt das Glück nur im Herzen, nur im Gefühl, nicht im Kopfe, nicht im Verstande. Das Glück kann nicht, wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, es muß empfunden werden. Daher ist es wohl gut, es zuweilen durch den Genuß sinnlicher Freuden von neuem zu beleben; und man müßte wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören – oder ein herz- liches Wort mit einem Freunde reden, um auch den schönern, ich möchte sagen den menschliche- ren [!] Teil unseres Wesen [sic!] zu bilden.78

74 Zum Pfuel-Brief vom 7. Januar 1805 vgl. außerdem Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur litera- rischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 1994, S. 117-122; Britta Herrmann: »Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht: die Briefe Heinrich von Kleists und Männlichkeit um 1800«, in: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, hrsg. von Walter Erhart u. Britta Herrmann, Stuttgart u. Weimar 1997, S. 212-234; Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie, Berlin 2007, S. 224-233. Jüngst hat Thorsten Gabler einen brillanten Beitrag im weiteren Kontext geboten: »Verbriefte Brief- lehre. Kleists Beitrag zur Epistolographie des Freundschaftsbriefes«, in: KJb [2013], S. 31-57. 75 SWB I, S. 45. 76 Brief an Marie von Kleist [vom 21. November 1811],SWB II, S. 888. 77 Vgl. z. B. Ute Frevert: »Gefühle um 1800. Begriffe und Signaturen«, in: KJb [2008/09], S. 47-62. 78 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. November 1799, SWB II, S. 494. 74 Kleist im Spannungsfeld

Den Verstand und das Gefühl, die hier noch als widersprüchliche Dichotomie dargestellt wur- den, skizzierte Kleist peu à peu als Symbiose, die seiner praktischen Vernunft angemessener sei:

Das Enge der Gebirge scheint überhaupt auf das Gefühl zu wirken und man findet darin viele Gefühl- sphilosophen, Menschenfreunde, Freunde der Künste, besonders der Musik. Das Weite des platten Landes hingegen wirkt mehr auf den Verstand und hier findet man die Denker und Vielwisser. Ich möchte an einem Orte geboren sein, wo die Berge nicht zu eng, die Fläche nicht zu weit sind.79

Diese Sätze sind an Wilhelmine gerichtet und gerade sie war es, die die symbiotische Idee anstieß. Parallell dazu ist zu bemerken, dass Kleists Geschlechter- und Liebeskonzept, das ur- sprünglich unter dem Einfluss der Spätaufklärung binär polarisiert angelegt war, sich allmäh- lich auf Diffusion der Geschlechtergrenzen und Auflösung der Geschlechtscharaktere rich- tete.80 Sowohl die neue Konzeption des Glücks als auch das neue Geschlechterkonzept führte zu einer latenten Krise, die schon bei einer geringen Menge Zündstoff ausbrechen konnte. Obwohl Kleist »ein herzliches Wort«81 mit Ulrike austauschen und sein Herz sich deshalb bei ihr beruhigen konnte, war Ulrike doch nur seine Schwester, die nicht mehr leisten konnte, als das, was eine Schwester gewähren konnte. Hierüber war Kleist sich auch im Klaren: »Wärst Du ein Mann oder nicht meine Schwester, ich würde stolz sein, das Schicksal meines ganzen Lebens an das Deinige zu knüpfen.«82 Zum Glück (oder Unglück) erkannte er in Wilhelmine das Heiligtum seiner Vernunft-Religion. Daher liegt der Schwerpunkt des oben schon zitierten Briefes in der Tat weniger auf seiner Klage über die Einseitigkeit der Wissenschaft als auf seiner Bekanntschaft mit der Familie von Zenge, weil seine neu gewonnene Freundin ihn zu verstehen vermochte: »Die älteste Zenge, Minette, hat sogar einen feineren Sinn, der für schö- nere Eindrücke zuweilen empfänglich ist; wenigstens bin ich zufrieden, wenn sie mich zuweilen mit Interesse anhört, ob ich gleich nicht viel von ihr wieder erfahre.«83 Aus diesem Grund ist es also nicht verwunderlich, dass er sofort um ihre Hand anhielt und sich von diesem Moment an für ihre Bildung engagierte. Er war sogar der Meinung: »Denn das ist mein Bedürfnis; und wäre ein Mädchen auch noch so vollkommen, ist sie fertig, so ist es nichts für mich. Ich selbst muß es mir formen und ausbilden [...].«84 Hierbei kann man aus seinen Brautbriefen einen anderen Sinn herauslesen, wie Michael Mandelartz konstatierte: »In Wilhelmines Bildungsfort- schritten realisiert sich Kleists Moralität. In jedem ihrer gebildeten Briefe schaut er seine eigene Tugend an, schwarz auf weiß und objektiv.«85 Mit anderen Worten: Die Brautbriefe fördern

79 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 3. September 1800, SWB II, S. 541. 80 Vgl. dazu Britta Herrmann (wie Anm. 75). 81 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. November 1799, SWB II, S. 494. 82 Brief an Ulrike von Kleist [vom Mai 1799], SWB II, 488. 83 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. November 1799, SWB II, S. 496. 84 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 4. September 1800, SWB II, S. 549. 85 Michael Mandelartz: »Von der Tugendlehre zur Lasterschule. Die sogenannte ›Kantkrise‹ und Fichtes ›Wissenschaftslehre‹«, in: KJb [2006], S. 120-136, hier: S. 130. 75 Kleist im Spannungsfeld die subjektive Zweckmäßigkeit seiner eigenen Religion. Demnach ist es auch nicht von unge- fähr, dass Kleist ihrem Bruder einen dieser Briefe zeigte: »Kurz, ich konnte mir den Genuß nicht verweigern, den Brief, sobald ich ihn gelesen hatte, Carln zu überreichen, welches ich noch nie getan habe – «86

Im Umgang sowohl mit seiner Schwester Ulrike als auch mit seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge, die ihm damals beide – zumindest aus der Sicht Kleists – am nächsten standen, vergaß der Schulmeister seine Lehrpflicht nicht. »Ich denke,« so lautet sein Brief an Ulrike, »sie [eine dunkle Seite an Dir] würde Deinem Wesen die Krone aufsetzen, wenn sie im Lichte stünde, und darum wünsche ich, sie zu erhellen.«87 Sieben Jahre später muss er aus der Vorlesung von Gotthilf Heinrich Schubert, dem Verfasser von Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, neue Erkenntnisse über die »dunkle Seite« gewonnen haben. Aber nun galt ihm allein die Auf- klärung, d. h. die aufklärerische Forderung, dunklen Trieb und Leidenschaft theoretisch der hellen Vernunft und praktisch der klaren Moral unterzuordnen. Im Brief an Ulrike wiederholte er – deshalb zitiere ich auch wiederholt – das Kernmotiv:

Tausend Menschen höre ich reden und sehe ich handeln, und es fällt mir nicht ein, nach dem Wa- rum? zu fragen. Sie selbst wissen es nicht, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen. Sie bleiben für immer unmündig und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls. Sie fühlen sich wie von unsichtbaren Kräften geleitet und gezogen, sie folgen ihnen im Gefühl ihrer Schwäche wohin es sie auch führt, zum Glücke, das sie dann nur halb genießen, zum Unglücke, das sie dann doppelt fühlen. Eine solche sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. [...]88

Solch eine Meinung könnte wohl belegen, dass Kleist schon von früh ein Interesse an der menschlichen Psyche oder gar der Psychologie entwickelte. Dies ist allerdings nicht verwun- derlich, weil auch manche Aufklärer und Aufgeklärte ihr Augenmerk auf die Psychologie rich- teten, wie etwa Karl Philipp Moritz in seiner Ausicht zu einer Experimentalseelenlehre, die seinem ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde voranging, behauptete:

[D]as wäre noch der einzige Weg, wie das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter werden, und sich zu einem höhern Grade der Vollkommenheit emporschwingen könnte, so wie ein einzelner Mensch durch Erkenntnis seiner selbst vollkommner wird.89

86 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801, SWB II, S. 630. Hierzu ist Mandelartz derselben Meinung: »Der Freund Carl steht für die Öffentlichkeit, die Kleist noch über die Selbstanschauung im Brief hinaus seine Moralität und Wilhelmines Bildungsfortschritte von außen bestätigt.« (Ebd.) 87 Brief an Ulrike von Kleist [vom Mai 1799], SWB II, S 488. 88 Ebd. 89 Karl Philipp Moritz: »Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre«, in: ders.: Werke, hrsg. von Horst Günther, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1981, S. 90. 76 Kleist im Spannungsfeld

Es handelt sich hierbei um die Aufklärung, die die dunkle Seite der Seele als unkastrierbar erfahren hatte und umgekehrt versuchte, sie durch Einsicht aufzuhellen, ins Licht zu stellen und damit auch in diesem Bereich ihr »Enlightenment« durchzusetzen, was bekanntlich in Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre ausgesprochen wird: »Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären; warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen?«90 Wie bei Moritz, der »mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde« das Magazin herausgab, wird in Schillers »wahre[r] Geschichte« auch an den »Freund der Wahrheit« appelliert, die Ursache für (vor allem seltsames) Verhalten »in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele und in den ver- änderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten«, zu suchen.91 Sich als Menschenkenner rühmend,92 wollte der aufklärerische, und zwar für sein eigenes Leben revolutionierende Kleist – analog zu den französischen Jakobinern – seine Idee totalitär auf andere übertragen, um für seinen Anspruch Zuspruch, Zusprache, Gesetzmäßigkeit und Sicherheit zu gewinnen, oder genauer, zu erzwingen. So lautet sein Wunsch am neuen Jahre 1800 für Ulrike von Kleist:

Amphibion Du, das in zwei Elementen stets lebet, Schwanke nicht länger und wähle Dir endlich ein sichres Geschlecht. Schwimmen und fliegen geht nicht zugleich, draum verlasse das Wasser, Versuch es einmal in der Luft, schüttle die Schwingen und fleuch!93

Hierbei ist Klaus Müller-Salget zuzustimmen: »Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die Eigenart der Schwester Kleist deshalb so beunruhigte, weil er in ihr ein komplementäres Gegenbild zu seiner eigenen Veranlagung gesehen hat.«94 Nur sehe ich hierin weniger das Ge- schlechtsidentitätsproblem, als dass Kleist, mit seinem vernunfthaften Entweder-Oder-Cha- rakter, die Ambivalenz, die ihm die amphibische Lebensart seiner Schwester suggerierte, nicht ertragen konnte oder wollte, damit seine angeblich absolute Lebenskonzeption verschont blieb. Um hier nur ein Beispiel für solch eine Konzeption zu nennen: »Man sagte, ich sei zu alt, zu studieren. Darüber lächelte ich im Innern, weil ich mein Schicksal voraus sah, einst als Schüler zu sterben, und wenn ich auch als Greis in die Gruft führe.«95 Die Schulmeisterei nach außen

90 Friedrich Schiller: »Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 7: Historische Schriften und Erzählungen II, hrsg. von Otto Dann, Frankfurt a. M. 2002, S. 562-587, hier: S. 564. 91 Ebd. 92 Er schrieb am 31. Januar 1801 an seine Verlobte: »Vielleicht hat die Natur Dir jene Klarheit, zu Deinem Glücke versagt, jene traurige Klarheit, die mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund nennt. Sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst, in seiner ganzen armseligen Blöße, und der farbige Nebel verschwindet, und alle die gefällig geworfnen Schleier sinken und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – O glücklich bist Du, wenn Du das nicht verstehst.« (SWB II, S. 621) 93 SWB I, S. 44. 94 Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 39. 95 Brief an Christian Ernst Martini vom 18. März 1799, SWB II, S. 482. 77 Kleist im Spannungsfeld dient also zugleich zur Befestigung nach innen. »Ja wir werden unser Glück zum Teil in der Gründung des Glücks anderer finden, und andere bilden, wie wir bisher selbst gebildet worden sind.«96 Und dies gilt nicht nur für Kleist, sondern auch für die Aufklärung. Wie sein aufklärerischer Aufruf an Ulrike, ihre soziale Pflicht als Mutter zu erfüllen, hält Kleist seine Verlobte nicht zuletzt in dem für sie verfassten Aufsatz Über die Aufklärung des Weibes an, über ihre Bestimmung des irdischen Lebens statt des ewigen Lebens nachzudenken. Allerding lässt sich Kleist eher nicht für einen Chauvinisten halten, weil die Belehrung, die er in seinen Brautbriefen formulierte, »weniger skandalös als zeittypisch« ist, wie Günter Blamber- ger es im Vergleich mit zeitgenössischen Genre-Konzeptionen aufzeigt.97 Stattdessen ist zu befragen, warum sich die Weltordnung gerade seit der Aufklärung zu einer MENschlichen chauvinistischen Ordnung entwickelt hat, um so mehr, als der des Chauvinismus verdächtigte Kleist in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter (anhand der Vernunft) folgende rhe- torische Fragen an seine Schwester stellte: »Bist Du nicht ein freies Mädchen, so wie ich ein freier Mann? Welcher andern Herrschaft bist Du unterworfen, als allein der Herrschaft der Vernunft?«98 Freiheit und Pflicht, Vernunft und Gehorsam – dies scheint kein entgegenge- setztes Verhältnis zu sein, sondern ein alltägliches, wenn nicht gar banales Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, wobei die letztere seitdem immer mehr an Gewicht gewinnt, folglich ist es auch ein symbiotisches Verhältnis: die vernünftige Freiheit, die sich zur Pflichterfüllung ent- schließen sollte, wie Kant es in seiner Kritik der praktischen Vernunft darlegte. Was Kleist zu dieser Zeit noch nicht ahnte oder sich nicht eingestehen wollte, ist, dass die Begegnung mit Wilhelmine bei all seiner Ekstase nicht nur zu Veränderung seiner inneren Konzeption führte, sondern auch negative Auswirkungen auf seine äußeren Lebensbedingun- gen hatte. Ein Beispiel zeigt sich schon in der Diskrepanz zwischen seiner Theorie und der Praxis. Um seiner Freundin die Aufklärung näherzubringen, lieferte er ihr in Anlehnung an Kant eine Formel zum Denken:

Zuerst fragt mein Verstand: was willst Du? Das heißt, mein Verstand will den Sinn Deiner Frage begreifen. Dann fragt meine Urteilskraft: worauf kommt es an? das heißt, meine Urteilskraft will den Punkt der Streitigkeit auffinden. Zuletzt fragt meine Vernunft: worauf läuft das hinaus? das heißt, meine Vernunft will aus dem Vorangehenden das Resultat ziehen.99

Dass diese aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ausgeliehene Formel versagen könnte, erfuhr er später bekanntlich auf bittere Weise. Allerdings verlor diese Formel bei ihm in der

96 Aufsatz, SWB II, S. 310. 97 Günter Blamberger: »Kleists Brautbriefe«, in: KJb [2013], S. 72-83, hier: S. 77. Auch in seiner Kleist- Biographie, S. 95. Vgl. außerdem Katarzyna Jaśtal: »›Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe...‹ Zur Pä- dagogik in Kleists Brautbriefen«, in: Gesprächsspiele & Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Brief- kultur um 1800, hrsg. von Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal u. Paweł Zarychta, Köln, Weimar u. Wien 2013, S. 117-130, wobei die Autorin Kleists Braubriefe in Bezug auf Rousseaus Geschlechterkonzept, vor allem aus Emile oder die Erziehung, dessen Rezeptionen in Deutschland um 1800 und den medialen Kontext betrachtet. 98 Brief an Ulrike von Kleist [vom Mai 1799], SWB II, S. 491. 99 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 30. Mai 1800, SWB II. S. 506. 78 Kleist im Spannungsfeld

Tat bereits an Kraft, als er Wihelmine begegnete und sich an ihr orientierte, weil die Antworten auf diese in der Formel gestellten Fragen nicht miteinander übereinstimmen konnten. Hier liegt auch eine der Ursachen dafür, dass Kleist sich erneut orientieren musste. Was wollte Kleist? Er wollte zwar studieren, sich aber auch den »Herzensergießungen« hinge- ben. Da er sich »eines herzlichen Wortes« bei seiner neuen Freundin erfreute, gewann sein Gefühl in Wilhelmines Nähe wohl offensichtlich die Oberhand über die Vernunft. Dies gilt nicht nur für sein Versprechen am Anfang, Wilhelmine könne aus ihm machen was sie wolle, sondern auch für seine Aussicht auf ihrer beider Zukunft:

Was auch die Sitte der Stadt für Opfer begehrt, die Sitte der Liebe wird Dir gewiß immer heiliger sein, und so mag denn das Schicksal mich hinführen, wohin es will, hier in dieses versteckte Häus- chen oder dort in jenes prahlende Schloß, eines finde ich gewiß unter jedem Dache, Vertrauen und Liebe.100

Worauf kommt es an? Sicher nicht mehr auf das Studium. Es ist eben das, was er früher, da er sich ausdrücklich gegen »sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksals«101 sowie gegen »eine Puppe am Drahte des Schicksals«102 wandte, nicht aussprechen konnte. Es kommt nämlich auf eines der primitiven Bedürfnisse des Menschen an: die Sexualität (wenn man das Geschlechterverhältnis darauf reduzieren darf), die nicht selten der Vernunft wider- spricht. Kleist selbst hat Wilehlmine auch geschrieben:

Ich fühle, daß es mir notwendig ist, bald ein Weib zu haben. Dir selbst wird meine Ungeduld nicht entgangen sein – ich muß diese unruhigen Wünsche, die mich unaufhörlich wie Schuldner mahnen, zu befriedigen suchen. Sie stören mich in meinen Beschäftigungen – auch damit ich moralisch gut bleibe [!], ist es nötig – Sei aber ganz ruhig, ich bleibe es gewiß. Nur kämpfen möchte ich nicht gern. Man muß sich die Tugend so leicht machen als möglich. Wenn ich nur erst ein Weib habe, so werde ich meinem Ziele ganz ruhig und ganz sicher entgegen gehen – aber bis dahin – o werde bald, bald, mein Weib.103

Worauf läuft das hinaus? Die Verlobung war von den Eltern ihrerseits unter der Bedingung erlaubt, »so lange zu warten bis er ein Amt habe«,104 d. h. bis sich als brauchbaren Menschen erweist. Somit gab der Bräutigam sein Studium auf, um sich auf ein Amt vorzubereiten, was wiederum eine neue Orientierung bedeutete. Einst hat Kleist an seinen ehemaligen Lehrer Martini geschrieben: »Man kann für jeden Augenblick des Lebens nichts anderes tun, als was die Vernunft für ihren wahren Vorteil erkennt.«105 Da wir als Forscher ca. 200 Jahre später in sein Leben spähen, dürfen wir behaupten, dass seine Vernunft den angeblich wahren Vorteil

100 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. August 1800, SWB II, S. 517. 101 Brief an Ulrike von Kleist [vom Mai 1799], SWB II, S. 488. 102 Ebd., S. 490. 103 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 588. 104 LS, Nr. 38. 105 Brief an Christian Ernst Martini vom 18. März 1799, SWB II, S. 484. 79 Kleist im Spannungsfeld verkannte. Hätte er sich an seinen zuversichtlichen Satz erinnert und ihn mit seiner Tathand- lung verglichen, hätte er keine Kantische Philosophie nötig gehabt, um seine Vernunft-Religion zu entzaubern. Kleist war sich auch dessen bewusst, dass er sich erlaubte, die prüfende Ver- nunft zu widerrufen, wie er Wilhelmine indikativisch gestand:

Ich wäge die Wünsche meines Herzens gegen die Forderungen meiner Vernunft ab; aber die Scha- len der Waage schwanken unter den unbestimmten Gewichten. [...] Nein, nein, Wilhelmine, nicht die Rechte will ich studieren, nicht die schwankenden ungewissen, zweideutigen Rechte der Ver- nunft will ich studieren, an die Rechte meines Herzens will ich mich halten, und ausüben will ich sie, was auch alle Systeme der Philosophen dagegen einwenden mögen.106

Kleists Vernunft-Religion, die den christlichen Glauben ablehnte, war allerdings ein Glaube, der eher ästhetisch als rationalistisch ist, obwohl er sich anmaßte, ein denkender Mensch zu sein. Das Gefühl spielte nämlich in der Kleistischen Religion neben dem Verstand und der Vernunft auch eine Rolle. Und der heilige Gegenstand des Gefühls war die Liebe. Auch wenn man aus Mangel an ähnlichen Erfahrungen nicht davon überzeugt sein könnte, darf man Kleists Worte doch ernst nehmen:

So viele Erfahrungen hatten die Wahrheit in mir bestätigt, daß die Liebe immer unglaubliche Ver- änderungen in dem Menschen hervorbringt; [...] und hierbei blieb es, wenn die Liebe nicht von der höheren Art war; aber war sie es, so kam nun auch die große Revolution an die Seele; Wünsche, Hoffnungen, Aussichten, alles wechselte; [...] – Ich selbst hatte etwas Ähnliches an mir erfahren; und nun mußte ich mich wohl bei Dir fragen: Warum – warum – ?107

Demensprechend, wie kompromisslos und hartnäckig Kleist auch immer scheinen mochte, ist der Ton im oben erwähnten Aufsatz für Wilhelmine doch auffällig:

Du wirst gewiß Gründe für Deinen Glauben haben, so wie ich Gründe für den meinigen; und so fürchte ich nicht, daß diese kleine Religionszwistigkeit unsrer Liebe eben großen Abbruch tun wird. Wo nur die Vernunft herrschend ist, da vertragen sich auch die Meinungen leicht; und da die Reli- gionstoleranz schon eine Tugend ganzer Völker geworden ist, so wird es, denke ich, der Duldung nicht sehr schwer werden, in zwei liebenden Herzen zu herrschen.108

Dass er hier von der Toleranz und Duldung spricht, bedeutet eher eine demütige Bitte um ihre Anerkennung seiner aufklärerischen Vernunft-Religion als ein großzügiges Angebot, was sei- nem Verhalten gegenüber Wilhelmine entspricht, wie diese sich später erinnerte: »In diesem Brief fragte er was ich an ihm auszusetzen habe, und versicherte, ich könne aus ihm machen was ich wolle, ich möchte ihm nur sagen wie er meine Liebe gewinnen könne.«109 Dies war ein

106 Brief an Wilhelmine von Zenge [vom Anfang 1800], SWB II, S. 503f. 107 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 11. (und 12.) Januar 1801, SWB II, S. 611f. 108 Über die Aufklärung des Weibes, SWB II, S. 316. 109 LS, Nr. 38. 80 Kleist im Spannungsfeld nachvollziehbarer Kompromiss eines Freiers, es ist aber auch ein Kompromiss der Vernunft gegenüber Sexualität, die die Vernunft nicht selten ganz entwaffnet oder entwaffnen lässt – eine Selbst-Preisgabe, die den freien Freier wieder unfrei machte. Bei Kleist wurde das Verlöb- nis mit Wilhelmine »mit der Bedingung, so lange zu warten bis er ein Amt habe«, bewilligt.110 Das heißt, dass Kleist, der sich gerade erst aus der Mauer der Kaserne befreit hatte, wieder hinter eine andere Mauer zurückzog, hinter der er sich aber auch nicht einleben konnte, und aus der er letztlich wieder ausreißen musste und wollte. Es begann ein neues Jahrhundert, womit auch sein neuer Lebensplan einsetzte. Der Plan, der als Reaktion auf sein neues Verhältnis zu Wilhelmine anzusehen ist, führte ihn »reaktionär« wieder an den »Draht des Schicksals«, weil weder sein Gefühl noch seine Vernunft in der Lage war, die Autonomie im Widerspruch zwischen der gefühlvollen Liebe und der vernünftigen Pflicht zu erhalten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen und zu glauben, was wei- terhin Opfer verlangt. In solch einem orientierungslosen Zustand galt Wilhelmine für ihn quasi als die Wahrheit. Infolgedessen begab sich Kleist selbst hinter eine Mauer, die ihn für eine Weile einsperrte, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Sei es bewusst oder unbewusst, Kleist hat auf seiner Würzburger Reise, auf die er sich angeblich zur Erfüllung der Bedingung der Verlobung begab, seine Verlobte auch als ein ummauertes Heim bezeichnet: »Und wie würdest Du dann zürnen über den Nachlässigen, Ungetreuen, der die Geliebte vergaß, sobald er aus ihren Mauern war, unwissend, daß er in jeder Stadt, an jedem Orte an Dich dachte, ja, daß seine ganze Reise nichts war als ein langer Gedanke an Dich?«111 Man möchte nicht psycho- analytisch spekulieren, was beim Schreiben in ihm vorging. Denn es liegt auf der Hand, dass er von seiner Beziehung zu Wilhelmine, wie von einer geistigen Mauer, gefangen gehalten wurde. Und sein Logos lautet: »ich arbeite ja für Wilhelmine.«112 – Also nicht mehr für sich selbst. Allerdings wäre aus Heinrich von Kleist kein Dichter geworden, wenn er ein gehorsamer Mensch gewesen wäre. Vor der Abreise hatte er für Wilhelmine Schillers Wallenstein gekauft und meinte: »Alles, was Max Piccolomini sagt, möge, wenn es einige Ähnlichkeiten hat, für mich gelten, alles was Thekla sagt, soll, wenn es Ähnlichkeit hat, für Dich gelten.«113 Man erinnere sich daran, was die tragischen Protagonisten in Schillers Drama sagen. Der Max, der sich in- folge seiner freien Liebe zu Thekla gegen seinen Vater und mithin gegen die alte, patriarcha- lisch-hierarchische Ordnung stellt,114 erklärt sich zu einem erleuchteten bzw. denkenden Men- schen, der sich innerlich auch vom Militärdienst verabschiedet, geradeso wie Kleist selbst:

Sag mir, was ist der Arbeit Ziel und Preis, Der peinlichen, die mir die Jugend stahl,

110 Ebd. 111 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 19. (-23.) September 1800, SWB II, S. 570. 112 Brief an Wilhelmine von Zenge [vom Anfang 1800], SWB II, S. 505. 113 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. August 1800, SWB II, S. 518. 114 Vgl. Friedrich Schiller: »Wallenstein: Die Piccolomini«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 4: Wallenstein, hrsg. von Frithjof Stock, S. 55-150, hier: I/4, V. 451-549. 81 Kleist im Spannungsfeld

Das Herz mir öde ließ und unerquickt Den Geist, den keine Bildung noch geschmücket? Denn dieses Lagers lärmendes Gewühl, Der Pferde Wiehern, der Trompete Schmettern, Des Dienstes immer gleichgestellte Uhr, Die Waffenübung, das Kommandowort – Dem Herzen gibt es nichts, dem lechzenden. Die Seele fehlt dem nichtigen Geschäft – Es gibt ein andres Glück und andre Freuden.115

Es liegt also nahe, dass Kleist sich selbst in dieser Rolle wiederfand. Sein Verweis bezieht sich freilich nicht bloß auf die Ähnlichkeit des militärischen Hintergrundes, sondern vielmehr auf den gleichen Vorsatz, nämlich frei zu sein, um sich keinem fremden Willen zu unterwerfen; Autonomie zu haben, um nicht unter der Heteronomie zu leiden. So wie ihm der Militärdienst damals missfallen hatte, tat er sich nun mit der an die Verlobung geknüpfte Bedingung schwer, wie er es erst nach der Reise bei Wilhelmine pointiert bekannte: »Ich will kein Amt nehmen.« – und dann erklärte er es mit fast dergleichen Begründung wie die für sein Ausscheiden aus dem Militärdienst: »Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll tun was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersu- chen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann es nicht.«116 Aber vor der Reise, da er sich in der leidenschaft- lichen Anfangsphase seiner Liebe befand, wie es uns die Briefe der Würzburger Reise verraten, drückte er seinen Unwillen nur schlicht durch die Andeutung auf das Drama aus und setzte damit die Hoffnung auf Wilhelmine, dass sie sich ebenso gegen die familiäre Ordnung, d. h. nach dem Geliebten allein, richten würde, so wie Thekla:

Daß ich mir selbst gehöre, weiß ich nun. Den festen Willen hab ich kennen lernen, Den unbezwinglichen, in meiner Brust, Und an das Höchste kann ich alles setzen.117

Ob Wilhelmine selbst in der Lage war, seine Hoffnung zu erfüllen, wäre weiter zu diskutieren. Aber es ist sicher, dass ihre Lage in hohem Maße von ihrem Elternhaus abhing.118 Und das ist auch die Ursache für ihre Trennung von Kleist. Was Kleist betrifft, so befand er sich in einem Konflikt. Einerseits wollte er geliebt sein von derjenigen, die er für seine(n) Erlöser(in) hielt, andererseits lehnte er die »irdische« Bedingung

115 Ebd., I/4, V. 522-532. 116 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 584. 117 F. Schiller (wie Anm. 115), I/4, V. 1850-1853. 118 Vgl. LS 63a. 82 Kleist im Spannungsfeld ab, um derentwillen er seinen Lebensplan opfern musste. Er sagte: »Unaufhörliches Fortschrei- ten in meiner Bildung, Unabhängigkeit und häusliche Freuden, das ist es, was ich unerläßlich zu meinem Glücke bedarf.«119 Aber um des Glückes willen wurde er gezwungen, auf Bildung und Unabhängigkeit zu verzichten. Die Voraussetzungen für sein Glück standen nämlich mit- einander im Widerspruch. Das war umso schlimmer, da er stets daunter litt, dass man ihn als unbrauchbar erachtete.120 Daraus ergab sich ein chaotischer Zustand, in dem er orientierungs- los wurde: »O ich mag gar nicht daran denken, sonst verwünsche ich Stand, Geburt und die ganze elende Last von Vorurteilen – Aber ich hoffe.«121 Wie das Zitat zeigt, versagte seine Ver- nunft deshalb, weil sich aus diesem fantastischen Knäuel kein Faden entwirren ließ, mit dem er das Bild seines zukünftigen Glückes weben oder zumindest aus dem Labyrinth herausfinden konnte. Ihm blieb nur die Hoffnung – die Hoffnung: ein Glaube bzw. eine Resignation bzw. das Sichfügen ins Schicksal. Ein erneuter Blick auf Max sei hier angebracht, auf ihn, der ebenso unter einem solchen Komplex leidet:

Wo ist eine Stimme Der Wahrheit, der ich folgen darf? Uns alle Bewegt der Wunsch, die Leidenschaft. Dass jetzt Ein Engel mir vom Himmel niederstiege, Das Rechte mir, das unverfälschte, schöpfte Am reinen Lichtquell, mit der reinen Hand!122

Was ihm am Ende bleibt, ist auch nur die Resignation bzw. das Sich-Fügen in sein Schicksal. In diesem Punkt scheint der Unterschied zwischen dem realen und dem fiktionalen Helden aufgehoben zu sein. Denn auch in der literarischen Fiktion manifestiert sich das real Mensch- liche, wie Kant im (Ur-)Sinne der literarischen Anthropologie meinte, dass die Charaktere der literarischen Protagonisten »ihren Grundzügen nach aus der Beobachtung des wirklichen Tun und Lassens der Menschen [haben] genommen werden müssen.«123 So ergibt sich der Kom- plex, an dem unsere beiden Helden litten bzw. leiden, aus dem Widerspruch zwischen der

119 Brief an Ulrike von Kleist vom 25. November 1800, SWB II, S. 603. 120 Er schrieb z. B. in demselben Brief: »Am Hofe teilt man die Menschen ein, wie ehemals die Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich dehnen und strecken lassen, und in solche, die dies nicht tun – Die ersten, werden dann fleißig mit dem Hammer der Willkür geklopft, die andern aber, wie die Halbmetalle, als unbrauchbar verworfen.« (SWB II, S. 601). 121 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 29. (u. 30.) November 1800, SWB II, S. 607. In dem Brief an Wil- helmine vom 13. November 1800 schrieb er: »Wie viele Menschen genießen mit wenigem, vielleicht mit einem paar hundert Talern das Glück der Liebe – und wir sollten es entbehren, weil wir von Adel sein? Da dachte ich, weg mit allen Vorurteilen, weg mit dem Adel, weg mit dem Stande – gute Menschen wollen wir sein und uns mit der Freude begnügen, die die Natur uns schenkt.« (SWB II, S. 587). 122 F. Schiller (wie Anm. 115), III/21, V. 2295-2300. 123 Immanuel Kant: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: ders.: Werke, hrsg. von Wilhelm Wei- schedel, Darmstadt 1964, S. 395-690, hier: S. 401. 83 Kleist im Spannungsfeld individuellen unverbindlich-ästhetischen Idee auf der einen Seite und der kollektiven verbind- lich-vernünftigen Idee auf der anderen Seite. Was ist die Wahrheit? Es sind jedenfalls weder Wilhelmine noch Thekla.

Nach der individuellen Revolution geriet Kleist also in einen ambivalenten Zustand, in dem er sich erneut orientieren wollte und musste, wobei seine Vernunft versagte. Als Reaktion darauf nahm er sein eigenes Gefühl zu Hilfe, was aber den Konflikt weiterhin verschärfte und den Versuch, sich zu orientieren, zu einem vergeblichen machte. Dies führte zu Resignation. Wäh- rend Max in aller Verzweiflung freiwillig auf dem Feld bleibt, entschloss sich Kleist zum Aus- bruch aus der »traurigen Stadt« wie aus der Ummauerung: »Im Freien werde ich freier denken können. Hier in Berlin finde ich nichts, das mich auch nur auf einen Augenblick erfreuen könnte.«124 Diesmal hatte er weder Reiseplan noch Lebensplan.125 »Die ganze Idee der Reise war also eigentlich nichts, als ein großer Spaziergang.«126 Ja, ein Spaziergang eines Nomanden, der sich bewusst dem Zufall aussetzte, weil er sich im Heim bzw. in der heimischen Ordnung unheimlich fühlte. Was er im Moment aber nicht deutlich sagte oder zu sagen wagte, ist, dass in ihm ein neuer Plan längst in ihm herangereift war.

IV.3. Die dritte Mauer: Selbstimage

Spätestens auf seiner Würzburger Reise wurde sich Kleist, da er nämlich Gelegenheit hatte, Abstand zur Heimat bzw. zum Herd des komplizierten Lebens zu halten, oder weil er anfing, Tagebuch zu führen und damit sich mit sich selbst zu konfrontieren,127 oder weil er inzwischen einen umgeordneten Namen Klingstedt angenommen hatte und damit ein umgeordnetes Leben führte, darüber bewusst, dass sein Lebensplan in eine andere Richtung laufen sollte. Auch wenn auch er daraus keine romantische Formel »Ich = Ich« hervorgebracht hätte, so bemerkte er immerhin, dass sich sein Inneres mittlerweile verändert hatte: »Vor meiner Reise war das anders – jetzt hat sich die Sphäre für meinen Geist und für mein Herz ganz unendlich erweitert – das mußt Du mir glauben liebes Mädchen.«128 Nun, weil für die Wissenschaft der Glaube allein nicht ausreicht, stellt sich die Frage, wodurch seine Sphäre erweitert wurde? Zu reisen, insbesondere zu jener Zeit, bedeutet nicht nur aus der Mauer oder Kultur bzw. dem kultivierten Feld hinaus-, sondern auch in die (manchmal ganz wilde) Natur hineinzuge- hen. Es ist deshalb nicht besonders auffällig, dass die Natur in Kleists Reiseberichten stets im

124 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 28. März 1801, SWB II, S. 638. 125 Es ist sehr interessant, den Zustand mit seiner früheren Meinung zu vergleichen: »Ohne Reiseplan sich auf die Reise begeben, heißt erwarten, daß der Zufall uns an das Ziel führe, das wir selbst nicht kennen. Ohne Lebensplan leben, heißt vom Zufall erwarten, ob er uns so glücklich machen werde, wie wir es selbst nicht begreifen.« (SWB II, S. 490). 126 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801, SWB II, S. 640. 127 Vgl. Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. August 1800, SWB II, S. 527. 128 Brief an Ulrike von Kleist vom 25. November 1800, SWB II, 600. 84 Kleist im Spannungsfeld

Vordergrund steht, was sich zuerst schon mehr oder weniger im Brief vom Kriegszug nach Frankfurt am Main, und dann vor allem in den Briefen von der Würzburger und der Pariser Reise zeigt. So schrieb er: »[J]e näher ich nach Frankfurt kam, je schöner je romantischer wurde die Gegend.« Und dann: »Ich habe nie geglaubt daß es in der Natur so schöne Landschaften geben könne, als ich sie gemalt gesehen habe; jetzt aber habe ich grade das Gegenteil erfah- ren.«129 Mit diesen Sätzen beschreibt er also seine erste Erfahrung mit der Natur. Wenn auch die folgenden Briefe, die wir von dem jungen Erwachsenen haben, vor allem mit der Sitten- lehre o. Ä. angefüllt sind, ist nicht zu leugnen, dass Kleist von Natur aus eine Empfänglichkeit für die Natur besaß. Und eben diese Empfänglichkeit diente ihm zu dem Schlüssel, mit dem sich ihm eine neue Sphäre öffnete. So schrieb er, dessen Geist schon lange durch den Verstand und die sich daran orientierende Vernunft, Wissen und Pflicht, und durch die utilitaristischen Begegenheiten wie Militärdienst, Studium und Verlobung verwelkt war, auf der Reise nach Würzburg:

Einsamkeit in der offnen Natur, das ist der Prüfstein des Gewissens. In Gesellschaften, auf der Straßen, in dem Schauspiele mag es schweigen, denn da wirken die Gegenstände nur auf den Ver- stand und bei ihnen braucht man kein Herz. Aber wenn man die weite, edlere, erhabenere Schöp- fung vor sich sieht, – ja da braucht man ein Herz, da regt es sich unter der Brust und klopft an das Gewissen. Der erste Blick flog in die weite Natur, der zweite schlüpft heimlich in unser innerstes Bewußtsein. Finden wir uns selbst häßlich, uns allein in diesem Ideale von Schönheit, ja dann ist es vorbei mit der Ruhe, und weg ist Freude und Genuß. [...] Da ängstigt uns die Stille der Wälder, da schreckt uns das Geschwätz der Quelle, uns ist die Gegenwart Gottes zur Last, wir stürzen uns in das Gewühl der Menschen um uns selbst unter der Menge zu verlieren, und wünschen uns nie, nie wiederzufinden.130

Dieser Absatz lässt sich in zwei Teile unterteilen. Der erste Teil bezieht sich auf denjenigen, der frisch aus der ihm widrigen Kultur geschlüpft und in die Natur eingetreten ist und der deshalb, weil er sich nicht mehr mit den anderen und der Ordnung zu bemühen braucht, mit sich selbst konfrontiert ist und plötzlich die eigene Stimme, d. h. hier sein Gewissen, vernimmt. Im Vergleich zum Aufsatz über den Weg zum Glück ist das Gewissen hier nicht nur ein ver- mittelter bzw. vermittelnder und deshalb eher flosekelhafter Begriff der Tugendlehre wie dort,131 sondern vielmehr ein unvermitteltes Erlebnis Kleists. Da seine innere Stimme mit der Ordnung, an der er sich seither immer orientiert hatte, nicht in Konsonanz stand, war für ihn alles nicht mehr in Ordnung, nicht mehr selbstverständlich, deshalb hatte er ein schlechtes oder böses Gewissen, das die vermeintliche Ruhe, Freude und Genüsse mithin hinfällig macht. Es war sozusagen eine Offenbarung, die die Welt sich als Schein entpuppen ließ und somit

129 Brief an Auguste Helene von Massow vom 13. (-18.) März 1793, SWB II, S. 464. 130 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 4. September 1800, SWB II, S. 548. 131 »Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe. Kein Gold besticht ein empörtes Gewissen, [...].« Aufsatz, SWB II, S. 307. 85 Kleist im Spannungsfeld den Bürgermenschen, der immer innerhalb ihrer gelebt hatte, beängstigte. Da dadurch seine Lebenserhaltung gefährdet wurde, zeigte er, im zweiten Teil, eine ziemlich natürliche Reaktion: Flucht vor der Gefahr. So floh er vom Gefühl zum Gewühl zurück, vom ästhetischen Erlebnis zum inästhetischen bzw. anästhetischen Gelebnis, um seinen Geist, der zur Zeit auf die bürger- liche Karriere fixierte oder fixiert wurde, vor der Reflexion zu schonen. Es geht hierbei um ein ästhetisches Erlebnis. Man kann das Erlebnis auch als romantische Erkenntnis bezeichnet, ohne Kleist irgendwie als Romantiker zu signifizieren. Denn das Ro- mantische ist vom Grunde genommen ein Ausweichen vor der Ordnung des Alltages und gerade dieses Ausweichen gibt einen Anlass zum Selbstbewusstwerden und -sein. Dies hat eine Veränderung der Sichtweise zur Folge, wie Novalis, dessen Werk Kleist später in seine Zeit- schrift aufnahm, bemerkte: »Der erste Schritt wird Blick nach innen – absondernde Beschau- ung unsers Selbst – wer hier stehn bleibt gerät nur halb. Der zweite Schritt muß wirksamer Blick nach außen – selbsttätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt sein.«132 Nach Novalis gehört solch eine Beobachtungsweise zur Begabung des großen Darstellers wie Goethe einer war, dessen »merkwürdige Eigenheit« »in seinen Verknüpfungen kleiner, unbedeutender Vor- fälle mit wichtigern Begebenheiten« zu sehen ist.133 Der Name Goethe war Kleist nicht fremd. Aber ohne ihn zum Vorbild zu haben, übte Kleist auch dieselbe Beobachtungsweise, obwohl sein zweiter Schritt zuerst eher reaktionär als revolutionär war. Das Erlebnis in der offenen Natur lässt sich mit Recht als eine Erleuchtung erachten, zumal Kleist sich später erinnerte:

Mir leuchtet es immer mehr und mehr ein, daß die Bücher schlechte Sittenlehrer sind. Was wahr ist sagen sie uns wohl, auch wohl, was gut ist, aber es dringt in die Seele nicht ein. Einen Lehrer gibt es, der ist vortrefflich, wenn wir ihn verstehen; es ist die Natur.134

Was ihn beschäftigte, war eine neue Sichtweise, die wie bei Goethe die Verknüpfung zwischen jeder einzelnen Erscheinung und dem ganzen Sinn zugrunde hat. So meinte Kleist, »daß nichts in der ganzen Natur unbedeutend und gleichgültig und jede Erscheinung der Aufmerksamkeit eines denkenden Menschen würdig ist.«135 Um zu zeigen, dass die Sichtweise für ihn neu war, hebe ich hier zwei Beispiele hervor, die er selbst aufführte: 1) »[W]er der Sonne selbst den Rücken kehrt und in die trübe Wetterwolke schaut, dem wirft ihr schönres Bild der Regenbo- gen zu.«136 2) »[A]m Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist sehn wir in die Sterne.«137 Kleist war also nicht mehr derjenige, der Hymnen allein an die Sonne schrieb. Wozu aber führt das?

132 Novalis: Werke, hrsg. von Gerhard Schulz, München 1969, S.328. 133 Ebd., S. 329. 134 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. (und 18.) November 1800, SWB II, S. 592. 135 Ebd. 136 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. (u. 18.) November 1800, SWB II, S. 593. 137 Ebd. 86 Kleist im Spannungsfeld

Zuerst ist zu bemerken, dass die Erkenntnis oder die Erfahrung oder das Erlebnis Kleist nicht wenig inspirierte, sodass er, indem er die Natur darstellte, seine briefliche Naturdarstel- lung als Kunst bezeichnete: »Aber für diesen Brief, für dieses Kunststück einen 8 Seiten langen Brief mitten auf einer ununterbrochenen Extrapost-Reise zu schreiben, dafür, sage ich, mußt Du mir auch bei der Rückkehr entweder – einen Kuß geben, oder [...].«138 Dass man in den darauffolgenden Briefen, insbesondere in der Darstellung des Julius-Spitals sein episches De- büt sehen wollte,139 lässt sich wohl auch dadurch begründen. Aber von seiner Dichtung lässt sich noch nicht viel sprechen, weil sie in der Tat zum zweiten oder sogar dritten Schritt gehört. Dass Kleist hier seinen Brief bewusst als Kunststück bezeichnete, bezieht sich vielmehr auf ein neues Selbstimage, das aus dem ersten Schritt des Selbstbewusstseins abgeleitet wurde. Wie oben gezeigt, pflegte Kleist sein Selbstimage durch das Image eines anderen, wie etwa das von Max, darzustellen, so zeigt sich sein Selbstimage auch in dieser Würzburger Episode: ein ver- schlossener Kranker oder Gekränkter im »Innere[n] des Gebäudes«, das »sehr zweckmäßig eingerichtet sein« soll [!], wobei es sich seiner Schilderung nach um Vielwisserei, Selbstverspro- chenem und sexuelle Laster handelt, über die er selbst auch in den anderen Briefen andeu- tungsweise geklagt hat. Laut Ralf Konersmann ist die Darstellung des Mönches besonders bemerkenswert:

In einer Zelle saß, schwarz gekleidet, mit einem tiefsinnigen, höchst ernsten und düstern Blick, ein Mönch. Langsam schlug er die Augen auf uns, und es schien, als ob er unser Innerstes erwog. Dann fing er, mit einer schwachen, aber doch tönenden und das Herz zermalmenden Stimme an, uns vor der Freude zu warnen und an das ewige Leben und an das heilige Gebet uns zu erinnern. Wir antworteten nicht. Er sprach in großen Pausen. Zuweilen blickte er uns wehmütig an, als ob er uns doch für verloren hielte.140

Dass Kleist die den Verstand beanspruchende Sprache durch die zerbrochene Syntax »in gro- ßen Pausen« störte, aber gerade deshalb eine der Musik ähnliche Stimme und die tiefdunkle Seite der Seele berührenden Augen ersetzte, lässt in der Tat viel Raum für Interpretation. Es war also eine sprachlose Begegnung, eine seelische Konfrontation, zumal der Autor nicht ver- bal darauf antwortete oder antworten konnte. In diesem Augenblick scheint er sich in den Mönch hineinzuprojizieren, um sich selbst aus dessen Perspektive zu betrachten, und zwar derart, dass sich sein »verlorenes« Herz, durchdrungen und »zermalmt«, im Bewusstsein wie- derfand. Daraus ergibt sich eine Antwort ohne Worte, die dann jedoch im Brief wiederum durch Worte verschriftlicht und mithin als Begriff festgemacht wurde, eine Antwort, in der zu erkennen gegeben wird, dass der »unglückliche« Autor »seine Zuflucht« nur noch im Innern

138 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 4. September 1800, SWB II, S. 551. 139 Vgl. Ralf Konersmann: »Das Versprechen der Wörter. Kleists erste und letzte Dichtung«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 100-124. Dass die Briefe Kleists nicht auf die naive Weise als private Briefe zu lesen sind, wurde vor Kurzem noch viel diskutiert. Vgl dazu Kleist-Jahrbuch 2013. 140 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. (-18.) September 1800, SWB II, S. 560. 87 Kleist im Spannungsfeld fand. Diese Zuflucht sei aber nicht notwendig, wenn der Kranke von der Gesellschaft, Kultur, Welt (je nachdem, wie man sie nennen möchte), wie etwa von der eigenen Familie, angenom- men oder verstanden werden könnte:

Aber wenn man an den Nutzen denkt, den diese Anstalt bringt, wenn man fragt, ob mit so großen Aufopferungen auf einem minder in die Augen fallenden Wege nicht noch weit mehr auszurichten sein würde, so hört man auf, diese an sich treffliche Anstalt zu bewundern, und fängt an, zu wün- schen, daß das ganze Haus lieber gar nicht da sein möchte. [...] Besonders die Verrückten können in ihrer eignen Gesellschaft nie zu gesundem Verstande kommen. Dagegen würde dies gewiß bei vielen möglich sein, wenn mehrere vernünftige Leute, etwa die eigne Familie, unter der Leitung eines Arztes, sich bemühte den Unglücklichen zur Vernunft zurückzuführen.141

Die Frage ist, wer denn da krank und verrückt sei: Das Ich für die Welt? oder die Welt für das Ich? Beim Nachdenken über diese chiastischen Fragestellungen entzweit man sich mit sich selbst (und entsetzt sich nicht selten) und bringt hieraus einen neuen (Gegen-)Standpunkt her- vor, was man gern als Re-flexion bezeichnet. Übrigens hat sich nicht nur Kleist mit dieser Frage beschäftigt. Man denke z. B. an Hans Castorp im Zauberberg, der als »ein heilloser Zivilist«142 im Sanatorium bleibt. Bei Novalis heißt es: »Poesie ist die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt.«143 Auch wenn Kleist es nun noch nicht zur Erkenntnis kam, nimmt er doch immerhin Kontakt mit der ersten (laut Wackenroder) wunderbaren Sprache auf. Da Kleists Gesprächspartnerin auf der Reise nicht die Welt, auch nicht Wilhelmine war (sie schrieb ja ganz selten an ihn zurück, wie Kleist selbst zählte und erzählte), sondern die Natur, erhielt er von der Natur außerhalb der Mauern neue Aufschlüsse, indem »man gleichsam mit der Natur selbst spricht, und sie zwingt, auf unsre Fragen zu ant- worten.«144 Was man auch immer gegen den zu geistigen Ausdruck »Erleuchtung« als wichtiges Erlebnis im Leben einer als wissenschaftlichen Gegenstand behandelten Person einwenden möchte, Tatsache ist, dass Kleist von der neuen Sichtweise nicht wenig begeistert war und sie gewissermaßen als Gegenmittel gegen die irdische Belästigung ausübte: »Täglich widme ich, zur Erholung, ein Stündchen diesem Geschäfte, und denke niemals ohne Freude an den Au- genblick (in Würzburg) wo ich zum erstenmal auf den Gedanken kam, auf diese Art bei der großen Lehrmeisterin Natur in die Schule zu gehen.«145 Ein augenblicklicher (Um)Schlag, der das Leben zwar nicht wie ein Schlaganfall für immer beendigen kann, doch schon stark genug, um das bisherige zu verändern. Eine der Lehren, die Kleist daraus zog, lautet also:

141 Ebd., S. 562. 142 Thomas Mann: Der Zauberberg, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, S. 77. 143 Novalis: Werke, S. 380. 144 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 29. (und 30.) November 1800, SWB II, S. 604. 145 Ebd. 88 Kleist im Spannungsfeld

Wie mancher Mensch würde aufhören, über die Verderbtheit der Zeiten und der Sitten zu schelten, wenn ihm nur ein einzigesmal der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist? Wie oft stand nicht vielleicht ein solcher Mensch schon vor dem Spiegel, der ihm die lehrreiche Warnung zurief, wenn er sie verstanden hätte – ja wenn er sie verstanden hätte! – !146

Das doppelte Ausrufungszeichen am Ende verrät seine Begeisterung. Denn er hat hier wahr- scheinlich ein Mittel gefunden, »in dieser wandelbaren Zeit so wenig wie möglich an die Ord- nung der Dinge zu knüpfen«,147 indem er, anstatt die Wahrheiten der Welt zu sammeln, die Wahrheit seines Selbst durch die Reflexion des inneren Spiegels (erneut) kennenlernte und die eigene Bestimmung feststellte. Solch eine Feststellung kommt zum Beispiel – wie im vorletzten Kapitel ausgeführt – darin zum Ausdruck, dass er mit Wilhelmine von der Bestimmung redete, um so mehr, als er in seinem Freund Ludwig von Brockes einen Menschen sah, »der unaufhörlich mit der Natur im Streit ist, weil er, wie er sagt, seine ewige Bestimmung nicht herausfinden kann, und daher nichts für seine irdische tut.«148 Bekanntlich litt Kleist selbst ein paar Monate danach unter demselben Syptom, aber bei ihm wurzelte der Leiden nicht im Streit mit der Natur, sondern im Streit seiner Natur mit der Kultur anderer. Aber, um die Anamnese des Leidens des jungen Kleist zu verstehen, muss man zuerst wissen, was er inzwischen gemacht hat.

An seinem 23. Geburtstag hat Kleist im Brief an seine Verlobte vom »Hauptbrief«, »Hauptge- genstande« und »Hauptgedanken« gesprochen, die für ihn etwas Neues waren.149 Dabei be- merkte er: »In meiner Seele sieht es aus, wie in dem Schreibtische eines Philosophen, der ein neues System ersann, und einzelne Hauptgedanken auf zerstreute Papiere niederschrieb.«150 Hierin ist zuerst eine neue Orientierung zu erkennen. Zwar ist der angebliche Hauptbrief, in dem der Hauptgedanke stehen soll, verschollen, aber wenn der Hauptgedanke, wie Kleist sagte, »auch schon vorher auf einem einzelnen Blatte mitgeteilt«151 und demnach sehr wahrschein- lich im Aufsatz über die Aufklärung des Weibes, der als Beilage in den Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. (-18.) September 1800 eingeschlossen war, genannt wurde,152 so könnte man daraus ableiten, dass der Gedanke sich auf seine Bestimmung bezieht: »Ich will mich nicht um meine Bestimmung nach dem Tode kümmern, aus Furcht darüber meine Bestimmung für dieses Leben zu vernachlässigen. Ich fürchte nicht die Höllenstrafe der Zukunft, weil ich mein

146 Ebd., S. 605. 147 Brief an Christian Ernst Martini vom 18. (und 19.) März 1799, SWB II, S. 485. 148 Ebd., S. 566. 149 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. (und 11.) Oktober 1800, SWB II, S. 574f. 150 Ebd., S. 575. 151 Ebd. 152 Über den Aufsatz hat Kleist in demselben Brief erwähnt: »Zugleich sah ich, daß dieser Gegenstand zu reichhaltig war für einen Brief, und entschloß mich daher Dir einen eignen Aufsatz darüber zu liefern. Den Anfang davon macht der beifolgende dritte Bogen.« (SWB II, S. 565f.). Der dritte Bogen ist ein Doppelblatt (21,5 * 18,0 cm). Vgl. dazu BKA IV/1, S. 282. 89 Kleist im Spannungsfeld eignes Gewissen [!] fürchte«.153 Wenn auch diese Schlussfolgerung nicht nachvollzierbar wäre, kann man dem Gedanken trotzdem in einzelnen Briefen auf die Spur kommen. Bevor er nach Würzburg abreiste, bat Kleist seine Schwester, seine »Schrift, über die Kanti- sche Philosophie, welche Du besitzest, und auch die Kulturgeschichte, welche Auguste hat«, sofort an ihn zu schicken.154 Diese Bitte zeigt, dass er sich längst vorgenommen hatte, auf der Geschäftsreise auch an seiner wissenschaftlichen Schrift zu arbeiten. Während seines Aufent- halts in Würzburg gab er sich tatsächlich hin, zu »lesen und [zu] schreiben, wobei mir meine wissenschaftlichen Bücher, die ich aus Frankfurt mitnahm, nicht wenig zustatten kommen.«155 Auffällig ist dabei die Art und Weise, mit der er arbeitete. Früher hatte er veruscht, das Schwie- rige und »fast Unmögliche«, was sein Professor Karl Dietrich Hüllmann für ihn feststellte, »mit dem allermühsamsten Fleiß« möglich zu machen.156 Aber nun verfuhr er jetzt ganz autonom: »[A]n jeden Gegenstand, sei er auch noch so scheinbar geringfügig, lassen sich interessante Gedanken anknüpfen, und das ist eben das Talent der Dichter, welche ebensowenig wie wir in Arkadien leben, aber das Arkadische oder überhaupt Interessante auch an dem Gemeinsten, das uns umgibt, heraus finden können.«157 Diese Sichtweise bezieht sich offensichtlich auf die oben genannte Erkenntnis, dass »jede Erscheinung der Aufmerksamkeit eines denkenden Men- schen würdig ist.«158 Wenn auch er sich im Moment noch nicht für einen Dichter, wie etwa Goethe (nach dem Urteil Novalis’), gehalten hätte, war er sich doch dessen bewusst, dass er durch solch eine verknüpfende Sichtweise etwas Neues schaffen könnte. Es war also eine pro- metheische Autonomie,159 nach der er sich seit jeher gesehnt hatte. Unter diesem Aspekt ist auch seine Begeisterung verständlich. Nicht zuletzt verwies er sowohl auf seinen Professor Christian Ernst Wünsch, in dessen Kosmologischen Unterhaltungen man lernen könne, »die Natur selbst näher kennen zu lernen, und dann Stoff zu erhalten, um eigne Gedanken anzuknüp- fen«,160 als auch auf seines Freundes Brockes »unaufhörliches Bestreben«, »nämlich alles in sich immer in Einheit zu bringen und zu erhalten«.161 Solche Aufführungen zielten darauf ab, darauf hin- oder anzudeuten, dass er selbst auch über eine ähnliche Sichtweise verfügte bzw.

153 Über die Aufklärung des Weibes, SWB II, S. 318. 154 Brief an Ulrike von Kleist vom 14. August 1800, SWB II, S. 514. 155 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 19. (-23.) September 1800, SWB II, S. 572. 156 Vgl. Brief an Ulrike von Kleist vom 12. November 1799, SWB II, S. 494. 157 Ebd. 158 Brief an Wilhelmine von Zengen vom 16. (und 18.) November 1800, SWB II, S. 592. 159 Hier kann ich nicht umhin, an Goethes Gedicht zu denken, obwohl es nur eine persönliche Assoziation wäre. Sei aber die Autonomie von Goetheschem Prometheus ein Zeichen des Genies, könnte man doch kon- statieren, dass das Genie in Kleist nun, da er sich der neuen Sichtweise bewusst wurde, erwacht ist. Er hat immerhin nach einem Jahr gesagt: »Es mag wahr sein, daß ich so eine Art von verunglücktem Genie bin, wenn auch nicht in ihrem Sinne verunglückt, doch in dem meinen.« (SWB II, S. 693). Darüber hinaus, um nur ganz beiläufig zu sagen, steht kein Zweifel, dass Goethe schon früh in seiner Lektüreliste stand, da er, sei es explizit oder implizit, mehrmals von Goethe zitierte. 160 Ebd., S. 596. Zu möglichen Einflüssen Wünschs auf Kleist vgl. Ernst Kayka: Kleist und die Romantik. Ein Versuch, Berlin 1906, S. 15-42. Dem Professor an der Viadrina könnte man außerdem teilweise Kleists anthropologisches Interesse verdanken. Vgl. dazu Alexander Košenina: »Anthropologie [Artl.]«, in: KHb, S. 243-246. 161 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 31. Januar 1801, SWB II, S. 620. 90 Kleist im Spannungsfeld verfügen wollte. Wenn man Kleists Brautbriefe als »weitgehend solipsistische, ja monomanti- sche Selbstmanifestationen« ansehen möchte, so manifestiert es sich auch in solchen Auffüh- rungen, wobei es nicht nur um »Projektionen auf einen Idealpartner« geht, sondern vielmehr um Projektion auf sein Ideal-Ich.162 Und die Zielsetzung, zu der man durch die neue Sichtweise gelangen sollte, lautet:

Bei jedem solchen interessanten Gedanken müßtest Du also immer fragen, entweder: wohin deutet das, wenn man es auf den Menschen bezieht? oder: was hat das für eine Ähnlichkeit, wenn man es mit dem Menschen vergleicht? Denn der Mensch und die Kenntnis seines ganzen Wesens muß Dein höchstes Augenmerk sein, weil es einst Dein Geschäft sein wird, Menschen zu bilden.163

Hier geht es nicht nur um das Geschäft Wilhelmines, nämlich nicht nur ums pädagogische Ziel, sondern zugleich um sein eigenes Geschäft, oder genauer, wie er sagte, um »unser[en] Hauptge- genstand[ ]«:164 den Menschen! Was ihn beschäftigte, war eine Kulturgeschichte in Hinsicht auf die Anthropologie, zumal er hier »seines ganzen Wesens« erwähnte, was anthropologisch genug klingt. Demnach ist die angesprochene Sichtweise eine makroskopische Sichtweise, die die Struktur, die sich hinter Phänomenen verbirgt, durch »Wahrnehmung«165 und Reflexion zutage fördern können sollte, um eine Wahrheit über das Wesen des Menschen und somit dessen Kul- tur zu erkennen, um dann ein Weg zur Bildung des Menschen und dessen Fortschritt zu finden. Auch wenn er Wilhelmine gegenüber meinte: »Von Dir werde ich freilich nicht verlangen, daß Du durch Deine Beobachtungen die Wissenschaften mit Wahrheiten bereicherst«,166 ist darin impliziert, dass seine Beobachtungen sich auf Wahrheiten gerichtet hätten – typisch für Kleist, der den Männern qualitativ potenzierte Aufgaben zuzuweisen pflegte. Ulrich Gall hat in seinen Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des philosophischen Gehalts in Kleists Schriften konstatiert: »Kleists Ziel ist eine universelle Anthropologie, die ihm keine Spezialwissenschaft vermitteln kann.«167 (Und diese Konstatierung findet sich gerade im Ka- pitel »Kleists Freund Ludwig Brokes [sic!] und der Rousseauismus«.) Zwar hat er die makro- skopische Sichtweise nicht artikuliert und stattdessen die Antithese Wissen und Handeln bei Brockes als die der »Rousseauisten«168 betont, die Kleist sich angeeignet habe, um später selbst Ähnliches hervorzubringen: »Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen.«169 (Meiner Meinung nach spiegelt sich im Zitat von Brockes aber eher seine eigene Ansicht oder ein Beleg dafür wider als die Quelle oder der Einfluss. Übrigens findet sich eine

162 Die zitierte Diagnose findet sich in Hans-Jürgen Schrader: »Unsägliche Liebesbriefe«, in: KJb [1982/ 83], S. 86-96, hier: S. 90. 163 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. (und 18.) November 1800, SWB II, S. 596. 164 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. (und 11.) Oktober 1800, SWB II, S. 575. 165 Breif an Wilhelmine von Zenge vom 16. (und 18.) November 1800, SWB II, S. 592. 166 Ebd. 167 Ulrich Gall: Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des phi- losophischen Gehalts seiner Schriften, Bonn 1977, S. 79. 168 Ebd., S. 80. 169 Brief an Ulrike von Kleist vom 5. Februar 1801, SWB II, S. 629. 91 Kleist im Spannungsfeld

ähnliche Idee auch bei Goethe in seinem 1795/96 veröffentlichten Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, der einer der wichtigen Referenztexte für die frühen Briefe Kleists sei:170 »Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem.«171) Aber in diesem Punkt hat Gall mit Recht auf Kleists Abneigung gegen die Wissenschaft aufmerksam gemacht. So sagte Kleist:

Huth ist hier und hat mich in die gelehrte Welt eingeführt, worin ich mich aber so wenig wohl befinde, als in der ungelehrten. Diese Menschen sitzen sämtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubte seines sei das beste, und um den Baum bekümmern sie sich nicht.172

Wird hier nicht deutlich genug, dass Kleist Anspruch auf die makroskopische Sichtweise stellte, die nicht das einzelne Blatt, sondern den ganzen Baum sehen sollte? Demnach bekannte er: »Mir ist unmöglich, mich wie ein Maulwurf in ein Loch zu graben und alles andere zu vergessen. Mir ist keine Wissenschaft lieber als die andere, und wenn ich eine vorziehe, so ist es nur wie einem Vater immer derjenige von seinen Söhnen der liebste ist, den er eben bei sich sieht.«173 Wohl deshalb bezeichnete Kleist die Professoren, die er auf der Reise nach Paris besuchte, nicht als Wissenschaftler oder Gelehrte, sondern erhob sie zu »Lehrer[n] der Menschheit«174 und die einzelne Wissenschaft, nachdem er in Paris einige französische Gelehrte kontaktiert hatte, galt ihm als »zyklopische Einseitigkeit«.175 Dabei kam er zu folgendem Schluss: »Ich möchte so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns we- der besser, noch glücklicher.«176 Nichtsdestoweniger hat er wahrscheinlich einen anderen Zu- gang zur Wahrheit gefunden, die der Wissenschaft unzugänglich bleibt: »Ich habe den Lauf meiner Studien plötzlich unterbrochen, und werde das Versäumte hier nachholen, aber nicht mehr bloß um der Wahrheit willen, sondern für einen menschenfreundlicheren Zweck.«177

Kant-Krise?

Die Kant-Krise, wie kritisch sie nach der Angabe Kleists auch immer gewesen sein mag, sei allein von der Proportion her wohl nur eine Episode in seiner ganzen Krise, oder genauer, in seinem ganzen krisenvollen und krisenhaften Leben. Während man in der Forschung seit eh und je viel Wert darauf gelegt hat und legt, nach der Quelle der gemeinten Kantischen Philo- sophie zu fragen und dadurch den Schlüssel zur Interpretaion des Kleistischen Œuvres zu

170 Bernd Hamacher: »Goethe [Artk.]«, in: KHb, S. 214-219, hier: S. 215. 171 J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, HA VII, S. 496. 172 Ebd., S. 628. 173 Ebd., S. 629. 174 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Mai 1801, SWB II, S. 656. 175 Brief an Adolfine von Werdeck vom 28. (und 29.) Juli 1801, SWB II, S. 679. 176 Ebd. 177 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801, SWB II, S. 684. 92 Kleist im Spannungsfeld gewinnen,178 muss man wohl an eine Maxime denken: »Vermuten ist leicht, Beweisen schwer; nach den Quellen fragen prekär.« Ganz zu schweigen davon, zu fragen, ob Kleist die angebli- chen Quellen wirklich verstanden hat. Denn die Quellen könnten sich nicht bei irgendeinem befinden, sondern überhaupt in einem geistigen Meer, in das die einzelne intellektuelle Quelle eingemündet ist, und dem Kleist seine Perlen entnommen hat. Wie dem auch sei, Klaus Müller- Salget hat eine Tatsache herausgestellt: »Wahrscheinlich hätte Kleist den radikalen Folgerungen aus seiner Lektüre [von/über Kant] stärkeren Widerstand engegengesetzt, wenn nicht sein Glaube an die Wissenschaft ohnehin schon unterhöhlt gewesen wäre.«179 Dies wirft bei mir die Frage auf, wie die in der Forschung immer wieder als Wendepunkt seines Werdegangs – pro oder contra – zur Diskussion gestellte Kant-Krise für Kleists Sichtweisenwechsel aus- schlaggebend war. Zuerst etwas über Kant: Man erinnere sich daran, dass Kleist die Denkensformel für Wilhelmines Übung von Kants Anthropologie entlehnte. Zwar darf man nicht der Vorstellung verfallen, dass Kleists anthropo- logisches Interesse aus der Kant-Lektüre entstanden wäre, aber Kants Buch muss in Kleists Lektüreliste gestanden haben und von ihm nicht nur ab und zu zitiert, sondern auch an sein anthropologisches Interesse geknüpft worden sein. Ludwig Muth hat sogar konstatiert, dass Kleist in Kants Anthropologie Billigung für »sein aus der Begegnung mit Wieland gewonnenes Weltverständnis« gefunden habe.180 Zweifelsohne hat Kleist schon vor der Würzburger Reise eine »Schrift über die Kantische Philosophie« verfasst und die eigene Idee während der Reise weiterhin entwickelt, sodass er sich im Vizebrief von seinem Geburtstag, nämlich dem Brief nach dem Hauptbrief, mit einem Philosophen verglich, »der ein neues System ersann, und einzelne Hauptgedanken auf zerstreute Papiere niederschrieb.«181 Der Vergleich ist also nicht bloß ein Gleichnis, sondern sowohl eine Identität als auch eine Aussicht auf die Zukunft: »Da stünde mir nun für die Zukunft das ganze schriftstellerische Fach offen. Darin fühle ich, daß ich sehr gern arbeiten würde.«182 Man darf also die Kantische Philosophie nicht ohne Um- stände dem »Ideenmagazin«, das Kleist für seine schriftstellerische Tätigkeit anlegte, zuschrei- ben und danach fragen, ob er Kant richtig verstanden habe.183

178 Seinen experimentalen Interpretationen des Œuvres Kleists legt Bernhard Greiner z. B. Kritik der Ur- teilskraft, insbesondere deren zweiten Teil Kritik der teleologischen Urteilskraft, zugrunde. B. Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen: Experimente zum »Fall« der Kunst, Tübingen u. Basel 2000. Dabei meint er: »daß Kleist diese Versicherungen der Kritik der ästhetischen Urteilskraft hinsichtlich einer möglichen Verknüpfung der abgründig getrennten Welten nicht einfach übernimmt und in seinen Texten bestätigt, son- dern daß er vielmehr immer neue literarische Experimente veranstaltet, diese Versprechungen auf ihre Trag- fähigkeit ihn zu überprüfen.« (Ebd., S. 12). 179 K. Müller-Salget (wie Anm. 95), S. 56. 180 Ludwig Muth: Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954, S. 32. 181 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 19. (-23.) September 1800, SWB II, S. 575. 182 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 587. 183 Vgl. z. B. L. Muth (wie Anm. 181), S. 33f. 93 Kleist im Spannungsfeld

Wie soll aber dieses philosophische System inhaltlich aussehen? Wenn der von ihm im Vi- zebrief genannte Hauptgedanke die Entscheidung zum schriftstellerischen Fach ausdrückt, dann bezieht sich sein in demselben Schreiben angekündigtes Vorhaben, »die Gattin [zu] beschreiben, die mich jetzt glücklich machen kann«, und das (be-)schriebene Werk hoffentlich »in fünf Jah- ren« fertig zu stellen, weder auf den familiären Plan, Wilhelmine zur idealen Gattin heranzu- bilden, noch auf die biographische Spekulation, dass Kleist mit der Phimose-Operation in Würzburg endlich zum Geschlechtsakt befähigt worden sei,184 sondern vielmehr auf seinen ambitiösen Plan, die Menschen durch sein wissenschaftliches bzw. populärphilosophisches Werk zu bilden. Aus den Spuren des Vizebriefes lässt sich so nicht zuletzt die These der Phi- losophie re- bzw. prä-konstruieren, nämlich dass der Mensch durch die makroskopische Sicht- weise – wie oben schon erwähnt – von der Natur lernen und die daraus als Wahrheit wahrge- nommenen Erkenntnisse mit sich selbst verbinden und damit auf sich selbst reflektieren sollte, um sich, wie es Wilhelmine an ihren Kindern durchführen sollte, zum »Sprechen«, »Fühlen« und »Denken« sowie zur »Standhaftigkeit«, »Freimütigkeit«, »Bescheidenheit« und »Wißbe- gierde«, kurz und gut: zum »edlen Menschen« zu bilden und am Ende »Achtung für Dich selbst« zu gewinnen.185 In Hinsicht auf den hier rekonstruierten In- oder Gehalt der Kleist’schen Philosophie lassen sich seine Leitgedanken: »Wahrheit und Bildung« auch besser verstehen. Bildung bezieht sic1h also nicht nur auf die individuelle Vollkommenheit, nicht nur das eigene Aufsteigen von einer Stufe zur höheren Stufe, sondern ein Werk für die Menschheit schlecht- hin, wie Kleist eigentlich schon im Aufsatz angedeutet hat: »Ja, wir werden unser Glück zum Teil in der Gründung des Glücks anderer finden, und andere bilden, wie wir bisher selbst gebildet worden sind.«186 Das entspricht übrigens Kants Meinung, wenn er die Anthropologie als »gemeinnützige[ ] Wissenschaft« bezeichnete.187 Nun kann man behaupten, dass mit der »neueste[n] Philosophie«, die Kleist nach Frankreich, »wo man von ihr noch gar nichts weiß«, verpflanzen wollte,188 nicht die Kantische Philosophie gemeint war, sondern die anstehende Kleistische Philosophie, deren Namen explizit zu nennen er sich wahrscheinlich aus momentaner Bescheidenheit oder Schüchternheit nicht unterstand, zumal er noch nicht wusste, was Wihelmine davon halten würde. Aber warum Krise? Schalten wir dem Philosophieren die Analyse der äußeren Bedingungen um Kleist vor. Die Entscheidung zum schriftstellerischen Fach wurde nicht erst nach dem (erzwungenen) Probieren bei den Sitzungen der technischen Deputation, sondern schon während der Reise

184 Für die These stehen z. B. Hans-Jürgen Schrader: »›Denke du wärest in das Schiff meines Glücks gestie- gen.‹ Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut« in: KJb [1983], S. 122-179, hier: S. 135 ff.; Hans Dieter Zimmermann: Kleist, die Liebe und der Tod, Frankfurt a. M. 1989, S. 105-108. 185 Vgl. Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. (und 11.) 1800, SWB II, S. 577. Wilhelmine war also allen- falls eine Ur-Probandin seiner neuen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht! 186 Aufsatz, SWB II, S. 310. 187 I. Kant (wie Anm. 124), S. 402. 188 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 587f. 94 Kleist im Spannungsfeld getroffen. Deshalb sagte er nach der Rückkehr: »[J]etzt erst öffnet sich mir etwas, das mich aus der Zukunft anlächelt, wie Erdenglück. [...] Die Toren! Ich war gestern in Potsdam, und alle Leute glaubten, ich wäre darum so seelenheiter, weil ich angestellt würde – o die Toren!«189 Ihm schien also, als ob er seine Bestimmung, von der er stets schwärmte, nun endlich im schriftstellerischen Fach erkannt hätte, und eben deswegen wollte er kein Amt nehmen: »wie würde ich bitterlich weinen, meine Bestimmung so unwiederbringlich verfehlt zu haben«.190 Diese neu entdeckte Bestimmung muss ihm wie ein Zeichen der Neugeburt erschienen sein, sodass er dem Vizebrief, den man nun eigentlich als Hauptbrief nehmen könnte, nachträglich eine Zeichnung des Würzburger Mauertors beifügte und darunter schrieb:

d.30t Xbr 1800 am vorletzten Tage im alten Jahrhundert.191

Er dürfte sich dessen bewusst gewesen sein, dass für ihn eine neue Epoche anbrach, obwohl solch eine Wahrnehmung zum Teil dem Zeitbewusstsein zugeschrieben werden soll, so wie Wilhelmine im Januar 1801 an ihn schrieb, dass »jetzt ein Gefühl die Seele bewegte, als ob eine neue Epoche für [sie] anheben würde.«192 Reform und Revolution, die er auf Wilhelmines Gefühl bezog, dürfte auch von ihm wahrgenommen worden sein. Aber gerade diese (nochma- lige) Revolution führte erneut zur Orientierung, die, wie immer, weniger Hoffnung als Chaos zur Folge hatte. So schrieb Kleist wohl auch im letzten Monat des alten Jahrhunderts an seine Schwester:

In meinem Kopf sieht es aus, wie in einem Lotteriebeutel, wo neben einem großen Lose 1000 Nieten liegen. Da ist es wohl zu verzeihen, wenn man ungewiß mit der Hand unter den Zetteln herumwühlt. Es hilft zwar zu nichts, aber es entfernt doch den furchbaren Augenblick, der ein ganzes Lebensgeschick unwiderruflich entscheidet.193

Die unwiderrufliche Ent-Scheidung: entweder Amt oder sein »früheres, höheres Ziel«.194 Man braucht nicht sofort an die klischeehafte Maxime »Wahrheit und Bildung« zu denken. Auf- grund der obigen Diskussion würde ich sagen, dass er am Ende desselben Briefes doch schon die Antwort gegeben hat: »N. S. Kannst Du mir nicht Nachricht geben, wo sich wohl jetzt meine Kulturgeschichte befindet?«195 Es ist nicht schwer zu sehen, dass Kleists Entweder-alles-oder-nichts-Charakter auch bei seiner Entscheidung funktional mitspielte: »Ich bin sehr fest entschlossen, den ganzen Adel

189 Brief an Ulrike von Kleist vom 27. Oktober 1800, SWB II, S. 582. 190 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 586. 191 Ebd., S. 598. Zum Original: BKA IV/1, S. 396. 192 Zit also nach Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge vom 11. (und 12.) Januar 1801, SWB II, S. 611. 193 Brief an Ulrike von Kleist vom [Dezember 1800], SWB II, S. 608. 194 Ebd. 195 Ebd. 95 Kleist im Spannungsfeld von mir abzuwerfen.«196 Dieser Entschluss bedeutet aber zugleich, dass er sich am besten da- rauf vorbereitet hätte, auf alle Beziehungen und alle Unterstützungen zu verzichten und so- dann wie ein Seiltänzer auf das Ziel loszugehen. Ohne Vitamine B (komplex) wird der Körper gebrechlich und auf dem Seil zu gehen ist gefährlich. Darüber war Kleist sich auch im Klaren. So schrieb er:

Drei Schritte weit sieht man, weiter nicht, und nichts als die Stufen, die erstiegen werden müssen, und kaum ist ein Stein überschritten, gleich ist ein andrer da, und jeder Fehltritt schmerzt doppelt, und die ganze Mühseligkeit wird gleichsam wiedergekaut – – aber man muß an die Aussicht denken, wenn man den Gipfel erstiegen hat.197

Rechnet er dennoch auf/mit Wilhelmines »Verzeihnung [s]eines Fehltritts«,198 riskiert er eine Enttäuschung. Enttäuschen wird somit der Schein, als ob Wilhelmine seine heilige Erlöserin wäre. Es war in der Tat auch so. Zu bemerken ist, dass sein Trübsinn gerade damit begann, dass er keine Zusage von Wilhelmine für seinen neuen Plan erhielt. Was er sodann getan hat, würde viele Aufschlüsse über die nachkommende (sogenannte) Kant-Krise geben:

[...] aber Du schreibst mir, daß auch Dich die Zukunft beunruhigt, ja daß Dich diese Unruhe sogar krank macht – o da ward ich ganz traurig, da konnte ich es in dem engen Zimmer nicht mehr aushalten, da zog ich mich an, und lief, ob es gleich regnete, im Halbdunkel des Abends, durch die kotigen Straßen dieser Stadt, mich zu zerstreuen und mein Schicksal zu vergessen.199

Wenn auch es nur ein Zu-Fall, d. h. zufälliger Ausfall, war; auch wenn sein Ton bald darauf wilhelminebedingt wieder optimistisch wurde, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich gegenüber seiner Braut bereits nach der ersten Absage in seinem Inneren ein Unwille gerührt: »Ja, liebe Wilhelmine, wenn jemals die Erinnerung an Dich in mir immer kälter und kälter werden sollte, so bin ich in meinem heiligsten Innern überzeugt, daß es einzig Deine Schuld sein würde, nie die meinige.«200 Hier geht es also nicht bloß um die Meinung, dass sie sich weiterbilden und dadurch seine Gegenliebe anfachen sollte, sondern vielmehr um die Mah- nung, dass er sich über sie geärgert und dadurch seine Liebe verkühlt haben wollte. Es ist folgerecht verständlich, dass er ihr von der Uneigennützigkeit Brockes’ erzählte: »O Wilhel- mine! Gibt es etwas, das Dich mit so hohen Erwartungen in Deine neue Epoche einführen kann, als diese herrlichen Vorsätze [zur Uneigennützigkeit]? Ich freue mich darauf, daß ich Dich nicht wiederkennen werde, wenn ich Dich wiedersehe.«201 Leider war Wilhelmine immer noch die- selbe Wihelmine, mit der die Bedingung, ein Amt zu nehmen, verbunden war. Wenn er das Amt unbedingt ablehnen wollte, musste er sich zugleich von ihr verabschieden. – Das ist also

196 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 589. 197 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. (und 11.) Oktober, SWB II, S. 580. 198 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 590. 199 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. November 1800, SWB II, S. 598. 200 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 11. (und 12.) Januar 1801, SWB II, S. 610. 201 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 31. Januar 1801, SWB II, S. 625. 96 Kleist im Spannungsfeld die erste, äußere Veranlassung der Krise Kleists, die nicht unbedingt mit Kant in Verbindung zu bringen ist. So ist in der Forschung von der »inszenierte[n] Scheinkrise« gesprochen worden, wie Jochen Schmidt z. B. behauptet: »Die schon gefallene Entscheidung erhält [dadurch] nach- träglich eine philosophische Scheinlegitimation.«202 Thomas Wichmann sieht unter anderem in der Krise »vielleicht weniger eine solche denn eine literarisch verdichtete Dramatisierung Kleists«.203 Bis hierher muss es scheinen, als hätte die sogenannte Kant-Krise in Kleists Krise wohl keine wesentliche Rolle gespielt. Während Schmidt die Scheinkrise sofort als Legitimation für die Entscheidung zum Dichtertum ansieht,204 was hinsichtlich von Kleists Wahrnehmung der oben erwähnten prometheischen Autonomie und nicht zuletzt seines Selbstverlgeiches mit Shakespeare205 auch nicht ganz zu leugnen ist, muss man daran denken, dass das schriftstelle- rische Fach nicht allein das Dichtertum signifiziert, sondern, wie Kleists Lebenslauf zeigt, überhaupt denjenigen, der für seinen Leser (im größeren Sinn) schreibt. Wenn sich Wielands Sympathien wirklich in Kleists Herz eingeprägt haben, so dürfte er seine Meinung zur Schrift- stellerei im Kopf bewahren:

Ehemals schreiben nur erleuchtete Geister, die ihr Hauptgeschäft daraus gemacht hatten, zu erfor- schen, was wahr und gut, edel und schön sey. Sie theilten der Welt ihre Erfahrungen mit, oder die Betrachtungen, die sie selbst über diejenigen Dinge angestellt, welche den stärksten Eindruck auf ihre Seelen gemacht hatten. Jetzt schreibt man um sich gedruckt zu sehen, oder weil es Mode ist, oder weil einem die Finger jucken, oder weil man sonst nichts zu tun weiß. Ja die meisten treibt der Hunger, oder eine schändliche Gewinnsucht; und weil sie nichts nützliches gelernt haben, so sind sie Schriftsteller.206

Was Wieland über den echten Schriftsteller geschrieben hat, ist nicht schwer in Kleists Briefen wiederzuerkennen: wahr und gut, edel und schön, Erfahrung und Betrachtung. (Eigentlich sind die »modischen« Motivationen auch zu erkennen.) Das heißt, dass Kleist im Moment, da er vom schriftstellerischen Fach sprach, eher eine Kleistische (Populär-)Philosophie als Dichtung vor Augen hatte, zumal er philosophierte, geradeso wie Kant. Die Philosophie kann also wirk- lich ein Bezugspunkt zwischen den beiden großen Namen sein, wie z. B. Ludwig Muths Resu- mee aus der Vorgeschichte der Kant-Krise lautet:

[D]ie teleologische Naturbetrachtung hat Kleists Ideal von Wahrheit und Wissenshaft bestimmt.

202 Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, 2. Aufl., Darmstadt 2009, S. 13ff. 203 Thomas Wichmann: Heinrich von Kleist, Stuttgart 1988, S. 36. 204 J. Schmidt (wie Anm. 203), S. 15. 205 »Ich bin sehr fest entschlossen, den ganzen Adel von mir abzuwerfen. Viele Männer haben geringfügig angefangen und königlich ihre Laufbahn beschlossen. Shakespeare war ein Pferdejunge und jetzt ist er die Bewunderung der Nachtwelt.« Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800, SWB II, S. 589. 206 Christoph Martin Wieland: »Sympathien«, in: ders.: Sämmtliche Werke XIII, hrsg. von Hamburger Stif- tung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg 1984, S. 127-208, hier: S. 199f. 97 Kleist im Spannungsfeld

[...] Der Zusammenhang [zwischen Wahrheit und Bildung] löst sich auf durch die Erschütterung des Wahrheitsideals, das wir von der teleologischen Naturbetrachtung her bestimmt sahen. Dem- nach muß Kants Kritik in irgendeiner Weise an dem teleologischen Moment der Wissenschaftsauf- fassung angesetzt und von diesem Zentralpunkt aus den ganzen Zusammenhang von Wahrheit- Bildung-Vollkommenheit erschüttert haben.207

Wie gesagt, dies kann sein, muss es aber nicht. Die Forschung hat immerhin ein paar promi- nente Namen aufgezählt: wie etwa Kant mit seiner Kritik der Urteilskraft,208 Fichte mit seiner Die Bestimmung des Menschen,209 Karl Leonhard Reinhold mit seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens,210 Charles de Villers mit seinem Buch über Philosophie de Kant ou principes fondamentaux de la philosophie transcendentale211 und so weiter und so fort. Einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Deutungsansätze der vergangenen 200 Jahre »Kantkrisen«-Forschung bietet Kristina Finks Abhandlung.212 Um unbefriedigende Spekulationen zu vermeiden, möchte ich mich trotzdem an Kleist selbst halten und seine Aussage ernst nehmen:

Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Ge- genstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.213

Egal, ob das Grün-Glas-Gleichnis aus Maximilian Klingers Kettenträger stammt oder nicht, (denn Kleist hat ja auch gesagt, »die Rede war von Dingen, die meine Seele längst schon selbst bearbeitet hatte.«214), es geht mir in diesem Augengleichnis vielmehr um die Antithese zwischen Schein und Sein, und somit nicht um ein »Entweder-Oder«, was man mithilfe der Verstand- Vernunft-Verbindung über lang oder kurz willkürlich entscheiden kann, sondern um ein »We- der-Noch«, das zuerst den Verstand lähmt und mithin die Vernunft zur Ohnmacht führt. Kleists Aussage bezieht sich also auf seine frühere Ansicht, dass die Wahrheit nicht nur da sein

207 L. Muth (wie Anm. 181), S. 51. Damit behauptet er, dass gerade deswegen Kants Kritik der Urteilskraft, bei der es sich auch um Teleologie der Naturerscheinung handele, bei Kleist Zugang gefunden habe. 208 Vgl. ebd., S. 52-78; außerdem B. Greiner (wie Anm. 179). 209 Vgl. Ernst Cassirer: »Heinrich von Kleist und die kantische Philosophie«, in: ders.: Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist, 2. Aufl., Darmstadt 1971, S. 157-202; Eine neuere, die Cassirers These ergänzende Untersuchung bietet Michael Mandelartz (wie Anm. 86). 210 Vgl. U. Gall (wie Anm. 168), S. 108-135. 211 Vgl. Uffe Hansen: »Grenze der Erkenntnis und unmittelbare Schau. Heinrich von Kleists Kant-Krise und Charles de Villers«, in: DVjs [3/2005], S. 433-471. 212 Kristina Fink: Die sogenannte »Kantkrise« Heinrich von Kleists. Ein altes Problem aus neuer Sicht, Würzburg 2012, S. 40-74. 213 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801, SWB II, S. 634. 214 Ebd., S. 635. 98 Kleist im Spannungsfeld müsse, sondern auch erkannt werden könnte – eine scheinbare Wahrheit wäre nicht akzeptier- bar. Da aber diese Ansicht von einer angeblich neuen Perspektive verneint wurde, behauptete Kleist: »[s]eit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt.«215 Denn: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.«216 In der Forschung kreisen die Aussagen immer um die Kausalität zwischen dem Gleichnis und dem fatalen Ergebnis. Aber bevor man beide Aspekte miteinander kausal verbindet, möchte ich zuerst die Stichwörter in Kleists Aussage hervorheben, nämlich: Glas, Schein und Unentscheidbarkeit. Man erinnere sich an Kleists Spiegel-Gleichnis, das er ein paar Monate zuvor schon im Brief an Wilhelmine erwähnt hatte: »Wie mancher Mensch würde aufhören, über die Verderbtheit der Zeiten und der Sitten zu schelten, wenn ihm nur ein einzigesmal der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist?«217 Hierin finden sich dieselben Stichwörter, wenn auch als Synonyme: Spiegel (Glas), Schein (spiegeln), Unentscheidbarkeit (vielleicht). Oder man kann auch folgen- dermaßen parodieren:

Wenn alle Menschen statt der Augen schiefe und schmutzige Spiegel hätte, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch gespiegelt erblicken, sind schief und schmutzig – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Ver- stande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns vielleicht nur so scheint.

Während Kleist mit aller wissenschaftlichen Arbeit, die vor allem den Verstand beansprucht, aufhörte, muss das Ich in der Parodie ebenso mit seinem Weltwissen aufhören. Diese Parodie stellt dar, dass ihm die Idee nicht erst, wie Kleist angab, »vor kurzem« vorgekommen ist, son- dern dass sie längst zu seiner Philosophie gehörte. Die Idee, die hinter dem Augengleichnis steht, leitet sich also überhaupt aus dem Spiegelgleichnis, oder genauer: aus seiner Idee von der subjektiven, makroskopischen Sichtweise, die eine andere Form der Vernunft, nämlich die Ur- teilskraft-Vernunft-Kombination, ins Spiel bringt, indem die subjektive, ästhetische Zweckmä- ßigkeit an die Stelle der versagenden Verständlichkeit tritt. Demgemäß signifiziert das »be- rühmte System«,218 das angeblich die Ursache für die Krise wäre, vielleicht weniger die Kanti- sche Philosophie als das eigene, eigenhändig ersonnene System Kleists. Der Name Kant diente

215 Ebd 216 Ebd. 217 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 29. (und 30.) November 1800, SWB II, S. 605. Auf das Spiel-Gleich- nis hat Thomas Wichmann auch hingewiesen. Aber von ihm ist der Brief an Ulrike von Kleist vom 5. Februar 1801 gemeint, in dem das Gleichnis Anwendung findet, und zwar, so seine These, in Verbindung mit der Gesellschaftskritik. Vgl. hierzu T. Wichmann (wie Anm. 204), S 32f. 218 »Liebe Wilhelmine, ich ehre Dein Herz, und Deine Bemühung, mich zu beruhigen, und die Kühnheit, mit welcher Du Dich einer eignen Meinung nicht schämst, wenn sie auch einem berühmten System widersprä- che.« Brief an Wilhelmine von Zenge vom 28. März 1801, SWB II, S. 638. 99 Kleist im Spannungsfeld ihm also, wenn auch nicht »zur Berufung auf eine anerkannte Autorität«,219 doch zur Begrün- dung seiner folgenden Handlung: »Liebe Wilhelmine, laß mich reisen.«220 Es ist ja zu bemerken, dass Kleist sich schon zur Reise entschlossen hatte, als er die so genannte Kant-Krise aufs Tapet brachte. Und Wilhelmine hätte etwas gegen ihn einwenden können, aber nicht gegen den überall anerkannten Kant. Man darf die Reise Kleists aber nicht als eine Flucht degradieren. Es war vielmehr eine Orientierungsreise: »Denn ich kehre um, sobald ich weiß, was ich tun soll. Sei ruhig. Es muß etwas Gutes aus diesem innern Kampfe hervorgehn.«221 Er musste mit sich selbst kämpfen – nicht wegen der Kantischen Philosophie, sondern einerseits aus dem Ekel vor seiner Gesellschaft, andererseits infolge der eigenen Gedankenentwicklung. Er stand vor der Reife seiner Philoso- phie, aber es fehlte ihm noch ein Schritt: vom »Entweder-Oder« (Verstand) übers »Weder- Noch« (Krise) zum »Sowohl-Als-auch« (Ästhetik). Er verstand also noch nicht, wie man die Mauer des Verstandes überwinden kann, wie er Wilhelmine erklärte: »Aber der Irrtum liegt nicht im Herzen, er liegt im Verstande und nur der Verstand kann ihn heben.«222 (Von daher darf man die Kritik der Urteilskraft eigentlich nicht mehr als die Ursache für die Krise nennen.) Es war sein eigener Kampf: »ich bin durch mich selbst in einen Irrtum gefallen, ich kann mich auch nur durch mich selbst wieder heben.«223 Er bedarf einer neuen Orientierung und das beste Mittel zur Re-Orientierung ist, sich dorthin zu begeben, wo es an aller Orientierung fehlt: »Im Freien werde ich freier denken können.«224 Er wollte zuerst herunterfahren, um dann erneut an- zuschalten: »Die ganze Idee der Reise war also eigentlich nichts, als ein großer Spaziergang«225 – ein »Spaziergang« im Leerraum, eine Leerfahrt, damit die Mauer sich abtragen lässt und ein neuer Horizont sich eröffnet, denn es ist nichts mehr zu verteidigen bzw. zu erhalten. Während Kleist seine Seele vor der Reise als »Wolken im Ungewitter« bezeichte,226 so kam ihm auf der Reise »der reine blaue italische Himmel, der über die ganze Gegend schwebte – «, in den Blick.227 Verglich er sich selbst hier mit Goethe, seinem Abgott,228 der die hektische Weimarer Umgebung verließ und auf der Reise nach Italien seine Neugeburt erlebte? Mehr oder weniger. Festzustellen ist, dass Kleist auf der Reise eine neue Orientierung fand, die zur Dichtung führte. Der Anfang der Orientierung zeigt sich darin, dass er »beschloss, auch für diesen Tag noch zu schweigen«,229 also nichts und sogar nicht sein Selbst zu begreifen, wie er meinte: »Meine heitersten Augenblicke sind solche, wo ich mich selbst vergesse«;230 »Ich habe

219 J. Schmidt (wie Anm. 203), S. 13. 220 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801, SWB II, S. 635. 221 Ebd., S. 636. 222 Brief An Wilhelmine von Zenge vom 28. März 1801, SWB II, S. 638. 223 Ebd. 224 Ebd. 225 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801, SWB II, S. 641. 226 Ebd., S. 642. 227 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 4. Mai 1801, SWB II, S. 647. 228 Vgl. LS, Nr. 67a. 229 Ebd., S. 648. 230 Ebd. 100 Kleist im Spannungsfeld selbst mein eignes Tagebuch vernachlässigt, weil mich vor allem Schreiben ekelt.«231 Die Äu- ßerung, »doch wollte ich eigentlich nichts, als allem Wissen entfliehen«,232 bezieht sich nämlich nicht nur auf die Wissenschaften, sondern auf das Wissen schlechterdings, wie sein Zitat lautet: »Ich komme, ich weiß nicht, von wo? Ich bin, ich weiß nicht, was? Ich fahre, ich weiß nicht, wohin? Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.«233 Durch sein Nichts-Wissen-Wollen setzte Kleist sich in ein Vakuum – mit Absicht, sich selbst quasi zu historisieren, um sich selbst aus einem neuen Blickwinkel mit einem gewissen »Verfremdungseffekt« zu erforschen und hier- durch eine neue Identität zu gewinnen, so wie er es auch von Wilhelmine verlangte:

Lies doch meine Briefe von dieser Zeit an noch einmal durch und frage Carln recht über mich aus – Mir ist diese Periode in meinem Leben und dieses gewaltsame Fortziehen der Verhältnisse zu einer Handlung, mit deren Gedanken man sich bloß zu spielen erlaubt hatte, äußerst merkwürdig.234

Auf der Reise ist Kleist selbst auch vielmals zur merkwürdigen Selbst-Entdeckung gelangt, indem er außerhalb aller Umstände ganz offenherzig für seine Vergangenheit sein konnte und durfte, um so mehr, als er nun imstande war, zu gestehen, dass seine Beziehung mit Wilhelmine ihm in der Tat zur Last wurde. »Kleist hat ein solches Ausloten seiner selbst in späteren Briefen bis ins Obsessive weiterentwickelt.«235 Denn er brauchte es, um das alte Leben zu archivieren, damit er ihm entgegensteht und ein neues Selbst entwickelt. Was resultierte aus diesem Ausloten? Darauf lässt sich durch einen Vergleich zwischen den beiden Reisenden, nämlich Goethe und Kleist, antworten. Als Goethe in Rom ankam, schrieb er:

Nur da ich jedermann mit Leib und Seele in Norden gefesselt, alle Anmutung nach diesen Gegen- den verschwunden sah, konnte ich mich entschließen einen langen einsamen Weg zu machen, und den Mittelpunkt zu suchen, nach dem mich ein unwiderstehliches Bedürfnis hinzog. Ja die letzten Jahre wurde es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte. [...] Die Begierde dieses Land zu sehen, war überreif; da sie befriedigt ist, werden mir Freunde und Vaterland erst wieder recht aus dem Grunde lieb, und die Rückkehr wünschenswert, ja um desto wünschenswerter, da ich mit Sicherheit empfinde, daß ich so viele Schätze nicht zu eignem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen.236

231 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Mai 1801, SWB II, S. 650. 232 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801, SWB II, S. 643. 233 Brief an Heinrich Zschokke vom 1. Februar 1802, SSWB II, S. 717. 234 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 14. April 1801, SWB II, S. 646. 235 G. Schulz (wie Anm. 16), S. 63. 236 Johann Wolfgang Goethe: »Italienische Reise«, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Ge- spräche, Bd. 15/1: Italienische Reise Teil 1, hrsg. von Christoph Michel u. Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a. M. 1993, S. 134. 101 Kleist im Spannungsfeld

Während Goethe sich von Italien geheilt sah und wieder die Balance fand, suchte Kleist keinen Mittelpunkt, damit er etwa nach solch einer Heilung hätte zu den alten Verhältnissen zurück- kehren können und wollen. Er lehnte es ab, geheilt zu werden:

Ja, was ich sagen wollte, ich bin nun einmal so verliebt in den Gedanken, ein Feld zu bauen, daß es wohl wird geschehen müssen: Betrachte mein Herz wie einen Kranken, diesen Wunsch wie eine kleine Lüsterheit, die man, wenn sie unschädlich ist, immerhin gewähren kann. – Und im Ernste, wenn ich mein letztes Jahr überdenke, wenn ich erwäge, wie ich so seltsam erbittert gewesen bin gegen mich und alles, was mich umgab, so glaube ich fast, daß ich wirklich krank bin.237

Er wollte es selbst zu bunt treiben, um den Weg zur Rückkehr zu blockieren, wie er in der Schweiz, seinem selbstgesuchten »neue[n] Vaterland«,238 schrieb: »Mein liebes Ulrikchen, zu- rückkehren zu Euch ist, so unaussprechlich ich Euch auch liebe, doch unmöglich, unmöglich. Ich will lieber das Äußerste ertragen – Laß mich. Erinnre mich nicht mehr daran.«239 Das ist eine bewusste Resignation, eine Selbst-»Verbannung«,240 damit man aus dem chronischen Kampf mit der (Um-)Welt endlich heraustreten kann, um auf einem neuen Feld eine neue Fahne zu schwingen. So schrieb Kleist: »Sie [die üblichen Verhältnisse im Heimatland] be- schränken mich nicht mehr, so wenig wie das Ufer einen anschwellenden Strom.«241 Hierin ist nicht notwendigerweise der Einfluss vom Goetheschen Werther zu erkennen, obwohl man einst Kleists Paris-Briefe als wertherianische Korrespondenz angesehen hat.242 Denn Kleist brauchte keinen Werther, um sich selbst »eine Art von verunglücktem Genie«243 zu nennen, das nun nach einem Ort ohne Dämme und Ableitung suchte, wo es an beiden Ufern keine kultivierten Beete der gelassenen Herren gab, um seine Begabung freizulassen, wie sein aus- schlaggebendes Bekenntnis am neuen Geburtstag lautet:

Eine Reihe von Jahren, in welchen ich über die Welt im großen frei denken konnte, hat mich dem, was die Menschen Welt nennen [!], sehr unähnlich gemacht. Manches, was die Menschen ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es mir nicht. Ich trage eine innere Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern, und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhält- nis der Welt zu passen.244

237 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. Januar 1802, SWB II, S. 713. 238 Brief an Ulrike von Kleist vom 16. Dezember 1801, SWB II, S. 708. 239 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. Januar 1802, SWB II, S. 712. 240 Brief an Ulrike von Kleist vom 1. Mai 1802, SWB II, 723. 241 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. Januar 1802, SWB II, S. 712. 242 Vgl. dazu z. B. Ingrig Oesterle: »Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 97-116. Hans-Jürgen Schrader hat außerdem von der Imitation des Werther-Briefs vom 10. Mai gesprochen. H.-J. Schrader (wie Anm. 185), S. 91. 243 Brief an Wilhelmine von Zenge von 10. Oktorber, SWB II, S. 693. 244 Ebd., S. 692. 102 Kleist im Spannungsfeld

Hier hat er in die Regel der sogenannten Welt als kollektive Willkür eingesehen. Zugleich hatte er auch eine Erleuchtung: »Aber nur in der Welt wenig zu sein, ist schmerzhaft, außer ihr nicht«.245 Während die italienische Reise Goethe in eine neue Phase des Lebens führte, die man in der Geschichtsschreibung als Klassik bezeichnet, trat Kleist durch die Reise auch in eine neue Phase, die ihm jedoch dunkel vorkam: »Es war eine finstre Nacht als ich in das neue Vaterland trat. [...] Denn Nahes und Fernes, alles war so dunkel. Mir wars, wie ein Eintritt in ein anderes Leben.«246 Ja, es war ein Tod, der Tod in der Schweiz, der Tod des alten Kleist, damit der Dichter Kleist, ohne Rücksicht auf die Welt, hervorkam und seine eigene Welt errich- tete.

245 Brief an Ulrike von Kleist vom 12. Januar 1802, SWB II, S. 712. 246 Brief an Ulrike von Kleist vom 16. Dezember 1801, SWB II, S. 708. 103 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

V. Fazit und Annäherung: Lieber eine Marionette im Theater zu sein

Kleists Leben möchte ich nur bis hierher verfolgen. So aufschlussreich und wichtig die Briefe aus Paris sind, so gleichgültig sind sie in unserem Kontext, weil die Paris-Episode allenfalls – für Kleist wie auch für uns – ein Beweis dafür ist, was er zuvor in Berlin schon längst erkannt hatte. So wiederholte er bezeichnenderweise in seinem ersten Paris-Brief dieselben Sätze, die er in der preußischen Hauptstadt schon zum Ausdruck gebracht hatte: »Denn in den Haupt- städten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein.« »Schauspieler sind sie,« fuhr er hier fort, »die einander wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten.«1 Die Wiederholung bringt eine wiederholte Enttäuschung zum Ausdruck und erst recht, dass Paris für ihn nur ein Pflicht-Ziel war.2 Trotzdem sind einige Aspekte, die sich auf seinen Aufenthalt in Paris beziehen, bemerkenswert: 1) Kleists Orientierungsreise gelangte just in Paris zur Kulmination, nämlich zum inneren kompletten Chaos, wie Blamberger herausgestellt hat:

Von Paris an herrschen bei Kleist komplementäre Verhältnisse bzw. die Gleichzeitigkeit des Un- gleichzeitigen: Sein Bewusstsein bleibt gespalten zwischen Sehnsucht und Erfahrung. Nebeneinan- der existieren der aufklärerische Optimismus, die bürgerliche Moralphilosophie seiner Jugend und der skeptische Moralismus alteuropäischer, aristokratischer Tradition, der angesichts der Pariser Beobachtungen auch in nachrevolutionären Zeiten aktuell ist.3

Daraus ergibt sich, dass ihm die Sicherheit aller dichotomischen Unterscheidungen abhanden gekommen ist.4 2) Infolge des Chaos zog Kleist alle sich behauptende Ordnungen in Zweifel:

Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön? Die armen lechzenden Herzen! Schö- nes und Großes möchten sie tun, aber niemand bedarf ihrer, alles geschieht jetzt ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden.5

Diese Kritik der menschlichen Ordnung bzw. Zivilisation beeinflusste nicht nur seine bisherige Laufbahn, sondern prägte auch sein beginnendes Dichten und seine journalistische Tätigkeit. Um nur ein Beispiel vorwegzunehmen: In seiner Erzählung über Wassermänner und Sirenen versucht man vergeblich, einen gefangenen Wassermann bzw. eine Sirene durch Kleidung,

1 Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801, SWB II, S. 662. 2 Vgl. Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801 und LS, Nr. 54a. 3 Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a. M. 2011, S. 153. 4 Ebd. 5 Brief an Adolfine von Werdeck [November 1801], SWB II, S. 700 104 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

Nahrung, Sprache, ganz zu schweigen von einem Handwerk, zu zivilisieren bzw. in die Ord- nung einzupassen, weil diese natürlichen »Mensch[en]« immer am »stärksten Trieb zum Was- ser« hängen.6 Dabei ist zu bemerken, dass es mit der weiblichen Sirene noch schwieriger ist als mit dem Wassermann, denn »[s]prechen lernte sie nicht, ihre Töne glichen dem Ächzen eines Sterbenen«7 und deshalb fügt sie sich mit ihren uncodierbaren Stimmen nicht in das menschliche System.8 Auch die wissenschaftliche Arbeit (»Entdecker«, anatomische Untersu- chung und »physikalisches Lexikon«) weiß nichts von ihrem Wesen, sondern nur ihren physi- schen Merkmalen, geradeso wie die »zyklopische Einseitigkeit, die Kleist den Pariser Wissen- schaftlern vorwurf.9 Zum dritten, und zugleich am wichtigsten, sah Kleist sich selbst bei aller Unsicherheit in Paris bereits als Dichter, wie er an seine neue Freundin schrieb: »Blättern Sie in Ihrem Stamm- buch nach – und wenn Sie ein Wort finden, das warm ist, wie ein Herz, und einen Namen, der hold klingt, wie ein Dichternamen.«10 Oder wie es nach dem oben erwähnten Bekenntnis wei- ter heißt:

Aber Bücherschreiben für Geld – o nichts davon. Ich habe mir, da ich unter den Menschen in dieser Stadt so wenig für mein Bedürfnis finde, in einsamer Stunde (denn ich gehe wenig aus) ein Ideal ausgearbeitet; aber ich begreife nicht, wie ein Dichter das Kind seiner Liebe einem so rohen Haufen, wie die Menschen sind, übergeben kann. Bastarde nennen sie es. Dich wollte ich wohl in das Ge- wölbe führen, wo ich mein Kind, wie eine vestalische Priesterin das ihrige, heimlich aufbewahre bei dem Schein der Lampe.11

In seinem Vorhaben, das er als sein Kind bezeichnet, mit dem er wahrscheinlich schon längst schwanger gegangen war, ging er nach dem Bruch mit Wilhelmine völlig auf: »kurz, ich habe keinen andern Wunsch als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine große Tat.«12 Diese drei Dinge beziehen sich dreieinheitlich nur auf ein und dasselbe: sein dichterisches Werk, was für ihn die letzte Hoffnung bedeutete, um seinem Leben einen neuen Sinn zu geben und als Neugeborener aus der anderen Welt hervorzugehen: »ich arbeite für die Rückkehr zu Euch«;13 »ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verban- nung – Du verstehst mich.«14 »Aus Dankbarkeit widmete Kleist der Dichtkunst das Leben, das sie ihm gerettet hatte«:15 Dieser Satz bezieht sich nicht nur auf Ewald Kleist, sondern auch

6 Wassermänner und Sirenen, SWB II, S. 287f. 7 Ebd. 8 Die Geschlechterdifferenz zwischen Wassermänner[n] und Sirenen hat Andreas Kraß subtil analysiert und darin eine »Überformung mit kulturellen Geschlechterrollen« gesehen: A. Kraß: Meerjungfrauen. Geschich- ten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt a. M. 2010, über Kleist: S. 85-93. 9 Brief an Adolfine von Werdeck vom 28. (und 29.) Juli 1801, SWB II, S. 679. 10 Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801, SWB II, S. 660. 11 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. Oktorber 1801S. 694. 12 Brief an Ulrike von Kleist vom 1. Mai 1802, SWB II, S. 723. 13 Brief an Ulrike von Kleist vom 1. Mai 1802, SWB II, S. 724. 14 Ebd., S. 725. 15 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 3. Juni 1801, SWB II, S. 657. 105 Lieber eine Marionette im Theater zu sein auf Heinrich selbst. Übrigens: Gerade deshalb geriet er nochmals in eine Krise, als ihm sein Guiscard-Projekt, ein Versuch, »zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herabzu- ringen,«16 missglückte.

Nun ist eine letzte Frage in Bezug auf sein Leben zu beantworten: Inwieweit hat sein Über- winden der Mauern bzw. sein Werdegang zum Dichter mit dem Phantastischen zu tun? Wie gesagt, Kleist erlebte eine neue Verwandlung, und zwar derart, dass er eine andere Art Men- schen und eine andere Möglichkeit zu leben kennengelernt und sich angeeignet hat, also das Leben derjenigen, die jenseits der Vernunft, der utilitaristischen Gesellschaft und der aufge- klärten Kultur leben, wie er z. B. über Künstler sagte: »o wie oft habe ich diese glücklichen Menschen beneidet, welche kein Zweifel um das Wahre, das sich nirgends findet, bekümmert, die nur in dem Schönen leben, das sich doch zuweilen, wenn auch nur als Ideal, ihnen zeigt.«17 Für ihn war das Glück nun nicht mehr mit Bildung und Wahrheit verbunden, sondern es be- ruht auf einer subjektiven Zweckmäßigkeit im Sinne des Glaubens. Dies galt selbstverständlich auch für Gläubige: »Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt – Ich hatte eine unbeschreibliche Sehn- sucht mich neben ihn niederzuwerfen, und zu weinen«.18 Wie immer, führte Kleist Beispiele auf, um sich verständlich auszudrücken. Es ist nicht verwunderlich, dass seine schriftstelleri- sche Arbeit vom »kalten Verstande«19 letztlich auf eine dichterische Arbeit vom warmen Her- zen hinauslief, die er nun für sein neues Lebensziel hielt und an die er sich hielt. Die Absage an den kalten Verstand ging bei Kleist offensichtlich mit dem Beginn der Dichtung Hand in Hand. Da er den Mangel des Verstandes durchschaute, stellte Kleist denselben stets infrage. Wäh- rend er das Wissen am Anfang der Orientierungsreise nur reaktionär verweigerte, resignierte er letztendlich, indem er zu der Erkenntnis gelangte, dass das Wissen für sich keine Wahrheit an sich hervorbringen kann, weil man nur davon weiß, was man wissen kann und will – mehr nicht. Bei seiner Resignation geht es aber nicht um eine totale Negation aller Affirmation, sondern um eine transzentendale, die die Negation und die Affirmation über ihre Wider- sprüchlichkeit hinaus wie in statu nascendi, nämlich vor der Unterscheidung, versetzt und dadurch die behauptete Erkenntnis anzweifelt. Seine bekannte Fragestelltung lautet:

Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? A b s o l u t böse? Tausend- fältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Mil- lionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort –?20

16 Brief an Ulrike von Kleist vom 5. Oktober 1803, SWB II, S. 735. 17 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Mai 1801, SWB II, S. 651. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801, SWB II, S. 683. 106 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

Solch existentialistische Fragen ohne Antwort kamen bei ihm auf, als er selbst eines Unfalls wegen einst dem Tode ganz nahe war:

Dieses rätselhafte Ding [das Leben], das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigentum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Habe, die nichts wert ist, wenn sie uns etwas wert ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständliches Buch, sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwun- gen es zu lieben? Wir müssen vor der Vernichtung beben, die doch nicht so qualvoll sein kann, als oft das Dasein, und indessen mancher das traurige Geschenk des Lebens beweint, muß er durch Essen und Trinken ernähren und die Flamme vor dem Erlöschen hüten, die ihn weder erleuchtet, noch erwärmt.21

Ob er bei diesem durch den »breiten, mächtigen Strom[ ]«22 verursachten Unfall oder bei dem anderen, verursacht durch scheuende Pferde,23 an Schiller gedacht hatte, der ausgerechnet den »reißenden Strom« und das »wilde Pferd« als Beispiel für die Gewalt der Natur und das dem- entsprechende Gefühl des Erhabenen in seinem Diskurs über das Erhabene aufführte, kann beim besten Willen nicht nachgewiesen werden. Allerdings hat Kleist selbst erlebt und erkannt, dass im Leben weder Affirmation (+) noch Negation (–) gilt, sondern eine chaotische, unbe- rechbare Ambivalenz (±), die man allenfalls als so ungefähr beschreiben kann, und das, was so ungefähr scheint, scheint auch nur von ungefähr »so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nach dem es sich in das Un- endliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt« – So heißt es in Kleists Text Über das Marionettentheater.24 Die Polaritäten, die bei Kleist bekanntlich überall zu sehen sind, beschrei- ben also »nichts anderes als einen Unterschied, in dem die Unterschiedenen untrennbar verbunden sind«.25 Es gilt keine positive Erkenntnis, nämlich entweder Affirmation oder Negation, sondern nur eine negative (cognitio negativa), die zeigt, dass keine Unterscheidung und mithin keine posi- tive Erkenntnis sub specie aeternitatis gilt. Dies hört sich tautologisch an. Aber gerade dieser »tò- autó-lógos« ohne Signifikaten sorgt dafür, dass der Mensch einen Logos (er-)findet, um eine Orientierung für das Handeln zu erlangen: Man zieht eine positive Erkenntnis willkürlich aus der negativen, obwohl es keinen Bezugspunkt gibt. Denn der Mensch, der denkt und nach

21 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Juli 1801, SWB II, S. 670. 22 Ebd. 23 Vgl. Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801, SWB II, S. 666f. Dabei hat Kleist auch eine Reihe von Fragen gestellt: »Und an einem Eselsgeschrei hin ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, – wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen?« 24 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 345. 25 Günter Blamberger: »Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der euro- päischen Moralistik«, in: KJb [1999], S. 25-40, hier: S. 28. 107 Lieber eine Marionette im Theater zu sein seiner Maxime »Cogito, ergo sum« handelt, will einerseits mithilfe seiner »keilförmigen« Ver- nunft26 über das Leben bzw. das Schicksal walten, d. h. die zukünftige Ent-Wicklung aus der gegenwärtigen Ambivalenz kalkulieren. Doch dies führt stets zu einer Überforderung, weil ein Keil nicht imstande ist, ein Knäuel zu spalten. Andererseits ist der Mensch – dem Naturgesetz gemäß – nicht in der Lage, das Leben einfach wegzuwerfen, deshalb kann er nur darunter leiden, umso schlimmer, als eine angeblich gute Entscheidung sich nicht selten fatal auswirkt, so wie bei Kleist, der in seinem Leben immer wieder desillusioniert war. Der Mensch kann das Moment des Unendlichen nicht ertragen und verharrt immer auf der einen oder der anderen Seite. Oder er changiert zwischen den beiden Seiten, kann aber nicht dazwischen schweben bleiben. Eben hierin besteht die Tragödie des Menschen. Es ist irritie- rend; auch irre wird mancher darüber. Wie kann der Mensch trotzdem Grazie, eine Beweglichkeit, »die Seele (vis motrix)«,27 als Gegenmittel gegen das Gesetz der Welt – Schwere, Fessel und Last – bewahren, wenn er weder Idiot noch Allwissender ist?28 Da der Mensch, der entweder das oder das wissen will, kein »Gliedermann«, der weder das noch das weiß, noch »Gott«, der sowohl das als auch das weiß, ist, so heißt es im Marionettentheater, »müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen«.29 Aber dies, gleich ob das zweite Verspeisen der Frucht das erste widerrufen30 oder transzendieren31 würde, bedeutet zugleich, dass es für den Menschen unmöglich ist, das Leiden zu vermeiden; sonst würde der Mensch nicht mehr Mensch sein und würde »das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt«32 geschlossen werden. Es sei denn, man bleibt, wenn man sich mit der ästhetischen Welt begnügt, interesselos und indifferent, indem man darin mit der eigenen Tragödie spielt, so wie »sich der Maschinist [das reale Ich] in den Schwerpunkt der Marionette [des ästhetischen Ich] versetzt, d. h. mit andern

26 Das Bild der keilförmigen Vernunft leihe ich mir von der gleichnamigen Dissertation Urs Strässles, der das Bild aus Penthesilea entnahm. U. Strässle: Heinrich von Kleist. Die keilförmige Vernunft, Würzburg 2002, S. 12f. 27 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 341. 28 Hier braucht man nicht unmittelbar an Schiller mit seinem Aufsatz Über Anmut und Würde zu denken, zumal in der Forschung der Name Schillers immer nur genannt wurde, um Kleists produktive Auseinander- setzung mit ihm zu zeigen. Vgl. z.B. Helmut J. Schneider: »Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹ und der Diskurs der klassischen Ästhetik«, in: KJb [1998], S. 153-175; Ulrich Johannes Beil: »›Kenosis‹ der Idealistischen Ästhetik. Kleists ›Über das Marionettenthea- ter‹ als Schiller-réécriture«, in: KJb [2006], S. 75-99. 29 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 345. 30 So hat z. B. Bernhard Greiner konstatiert: »Wir müssen wieder, d. h., wir müssen noch einmal essen, und dieses zweite Essen muß eines sein, das das erste Essen aufhebt.« B. Greiner: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist, Berlin 1994, S. 156. 31 So hat z. B. Andrea Gnam konstatiert: »[D]as ›zweite Essen vom Baum der Erkenntnis‹ wäre dann ein Wissen um die Mechanismen des gesellschaftlichen Normierungsprozesses. Ästhetisch gesprochen [...] hieße dies das Durchmessen der Entfernung vom Urbild [...] zum gegenwärtigen Moment der gesellschaftlichen Ausrichtung des Körpers.« A. Gnam: »Die Rede über den Körper. Zum Körperdiskurs in Kleists Texten ›Die Marquise von O...‹ und ›Über das Marionettentheater‹«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 170-176, hier: S. 172. 32 Ebd. 108 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

Worten, tanzt.«33 Erst in solch einem Spiel ist man in der Lage, sich der lästigen Schwerkraft auszusetzen und sie zugleich zu ignorieren,34 ohne dabei nach dem Wie zu fragen, also ohne alle Mechanismen zu erkennen. Erst dann kann man seine Autonomie im Duell mit der Welt- weisheit wie mit dem »Meister«35 gewinnen. (Und ein tanzender Meister ist übrigens dem aka- demischen Virtuosen überlegen, wie es die Duell-Geschichte im Text Über das Marionettentheater darlegt.) Der Bär in derselben Duell-Geschichte, der zwar vom Menschen im »Holzstall« auf dem Hof auferzogen und »an einem Pfahl«36 gefesselt war, sich somit in der menschlichen Ordnung befand, konnte dennoch alle Stöße und Finten seiner meisterhaften Gegner durchschauen, weil er weder auf die Strategie des Gewinnens einging, noch über das Ergebnis – Ehre oder Schande; Leben oder Tod – nachdachte, was sich überdies in seiner Passivität manifestiert. Der Schlüssel ist: »egal«, der Bär gewann das Duell, indem ihm sowohl die Ordnung als auch das Ergebnis, schlimmstenfalls der Tod, auf der Stufe der Vernunft – wenn er sie überhaupt besaß – egal war. Hierzu nochmals Kleist:

Ach, es ist nichts ekelhafter, als diese Furcht vor dem Tode. Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht und freudig wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch tot ist er schon, denn seine höchste Lebens- kraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt.37

Es geht hier um ein Paradox, aber so wenig absurd wie das bekannte im Marionettentheater: »Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«.38 Denn es wird kein Anspruch auf Bereitschaft fürs Opfern erhoben, sondern auf die spielerische Grazie, eine progressive Resignation, kraft derer der Mensch sich über die Welt und deren Ordnung erhebt und damit sein Leiden – wenn auch nur momentan – »verspielt«.39

33 Ebd., S. 340. 34 Man denke an Adam Müllers Idee der Schönheit: »Das ganze Geheimnis der Poesie liegt demnach in der Verbindung mehrerer streitenden Bewegungen zu einer ruhigen. – Ich kehre wieder zu dem Bilde des Tanzes zurück, das mich verfolgt: was ist der Tanz anders als die Verbindung mehrerer streitenden Bewegungen zu einer ruhigen.« A. Müller: »Von der Idee der Schönheit«, in: ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften in zwei Bänden., hrsg. von Walter Schroeder u. Werner Siebert, Neuwied u. Berlin 1967, Bd. 2, S. 9-149, hier: S. 46. 35 Ebd., S. 344. 36 Ebd. 37 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Juli 1801, SWB II, S. 670. 38 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 345. 39 Rüdiger Görner hat, wenn auch ziemlich teleologisch, die Grazie in Anlehnung an Schiller als Produkt des Spieltriebs angesehen, der zwischen Stofftrieb und Formtrieb vermittelt und – diesmal in Anlehnung an Adam Müller – also als Übergang zwischen Gegensatzpaar wie Objekt und Subjekt oder Realismus und Idealismus dient. Deshalb kann sich das Erhabene auch aus der Grazie als ästhetische Bemächtigungsversuch der Gewalt ergeben. R. Görner: Gewalt und Grazie. Heinrich von Kleists Poetik der Gegensätzlichkeit, Heidelberg 2011, S. 39-56. / Was das Verspielen des Leidens betrifft, so hat Gerhard Oberlin in der Kleistschen Grazie, wenn 109 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

Es bietet sich an, hier an den Schlusssatz der Fabel Die Hunde und der Vogel zu denken: »Witz, wenn du dich in die Luft erhebst: wie stehen sie Weisen und blicken dir nach!«40 Der Vogel in der Fabel wurde offensichtlich auch dazu »gehegt«, sich der weltlichen Ordnung bzw. der Kul- tur anzupassen. Dies zeigt sich darin, dass er vergaß, dass er fliegen konnte. Möglicherweise wusste er hiervon auch nichts und betrachtete seine Flügel nur als Schmuck, so wie manche Männer die weibliche Brust.41 Der Vogel war also gefordert, gemäß der Ordnung auf der Erde, nämlich der Gravitation, zu handeln. Mit anderen Worten: Von der Ordnung kastriert, war er seiner Identität als Vogel verlustig gegangen, sodass er den Ordnungsgebern fast zum Opfer gefallen wäre: »Der Vogel, verlegen, weil er sich nicht in seinem Element befand, wich hüpfend bald hier, bald dorthin aus«.42 Erst als er »zu hitzig gedrängt«43 wurde, »regte er«, wohl auch ein bisschen zerstreut und eine Haltung der Resignation zeigend, »die Flügel und schwang sich in die Luft.«44 An die Stelle der unbeholfenen Besonnenheit trat also seine unerwartete »na- türliche[ ] Grazie«,45 die ihn über die zu »Schlauköpfen« geschulten Hühnerhunde, die totalitär »alles griffen, was sich auf der Erde blicken ließ«,46 erhob. Nicht zuletzt entspricht das In-der- Luft-Schweben perfekt der Beweglichkeit mit Grazie. Hier findet sich die Erklärung, warum im Text Über das Marionettentheater von der natürlichen Grazie die Rede ist. Es geht weniger um den Instikt als um den Zustand vor der Kultur bzw. Kultivierung bzw. Bildung. Demnach sei ein Unglücklicher, der ein Bein verlor, auch imstande, »mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die jedes denkende Gemüt [!] in Erstaunen setzen«,47 zu tanzen, weil ihm die Prothese egal ist und ihn deshalb in der progressiven Resignation spie- lend tanzen lässt, ohne dass er sich auf die Tanzregel besinnt. – Umso mehr, als durch die vom »englischen Künstler«48 hergestellte Prothese, die genauso natürlich funktionieren soll wie der englischer Garten, der kastrierte Körperteil gut ersetzt wird. Wie oben schon angedeutet, geht die Grazie als »eine ungebrochene, unentstellte Verfassung der Existenz«,49 nicht einfach aus dem Ausschalten der denkenden Vernunft hervor, was der Mensch als Vernunftwesen nicht leisten kann. Vielmehr handelt es sich um eine Zer-Streuung auch seine psychoanalytische Lesart über Über das Marionettentheater nicht so nachvollzierbar ist, zumin- dest auch eine »Bindung durch Kunst« im Sinne der Überwindung der »Bindungskrise« von Kleist selbst gesehen. G. Oberlin: »Gott und Gliedermann. Das ›unendliche Objekt‹ in Heinrich von Kleists Erzählung ›Über das Marionettentheater‹ (1810)«, in: KJb [2007], S. 273-288. 40 Fabeln, SWB II, S. 325. 41 Um ein diskursgeschichtliches Beispiel zu liefern: Goethe soll in Bezug auf Kleists Penthesilea gesagt haben: »Die Tragödie grenzt in einigen Stellen völlig an das Hochkomische, z. B. wo die Amazone mit einer Brust auf dem Theater erscheint und das Publikum versichert, daß alle ihre Gefühle sich in die zweite, noch übriggebliebene Hälfte geflüchtet hätte«. (LS, Nr. 281.). 42 Ebd., S. 324. 43 Ebd., S. 325. 44 Ebd. 45 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 343. 46 Fabeln, SWB II, S. 324. 47 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 341. 48 Ebd. 49 Kurt Wölfel: »Über das Marionettentheater«, in: Kleists Erzählungen, hrsg. von Walter Hinderer, Suttgart 1998, S. 17-39, hier: S. 35. 110 Lieber eine Marionette im Theater zu sein der Vernunft, damit man sich von der totalitären Vernunft und somit von allen gegebenen Erkenntnissen und Begriffen transitorisch befreit und infolgedessen auf einen anderen Stand- punkt eingehen kann, wie eine Erleuchtung dem Ich-Erzähler, der zuerst den Begründungen seines Geprächpartners Herrn C... agonal gegenübergestanden hatte, am Ende, indem er »ein wenig zerstreut« war, entschlüpfte.50 Gerade dies ist die Funktion der Bärengeschichte. Herr C... führte diese »an eine Münch- hauseniade« erinnernde,51 phantastische Geschichte52 nicht ein, um dem Ich-Erzähler seine These zu erklären, sondern um dessen bereits ins Wanken geratene Vernunft weiterhin zu rei- zen, bis sein Kontrahent die Geschichte, anstatt sie zu verstehen, einfach glaubte: »Glauben Sie diese Geschichte? / Vollkommen! rief ich, mit freudigem Beifall; jedwedem Fremden, so wahrscheinlich ist sie: um wie viel mehr Ihnen!«53 Die Bärengeschichte hat die Konzeption des Ich-Erzählers also dergestalt umcodiert, dass eine Kommunikation zwischen den beiden differenten Sichtweisen ermöglicht wird, dass ein neuer Begriff aus den Trümmern der Vernunft entsteht: »Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C..., so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen.«54 Man kann sagen, dass diese Kommunikation in einem graziösen Zustand geschah, der es dem Ich-Erzähler erlaubte, ein freies Gedankenspiel anzu- stellen, ohne über die (problematische) Logik der Formulierung von Herrn C... zu reflektieren; auch dieser wurde stets von jenem herausgefordert, sodass er changierte, ohne auf die Gedan- kenfolge Rücksicht zu nehmen, bloß um nicht vom Gegener an der Nase herumgeführt zu werden, bis seine Bärengeschichte den Punkt traf. Durch dieses Spiel bzw. diesen Tanz wird der gesamte Text geprägt:

Die Diskutanten versuchen einander zu überzeugen, aber weniger durch strenge Gedankenfolge ihrer Argumentation als durch rhetorische Mittel, was ebenso für den Bezug des Textes zu seinem Leser gilt: geschickt plazierte Einwürfe, Irritationen des Gegenübers, Ersetzen von Argumenten durch Erzählungen, zu denen dann fragwürdige Verifikationen angeführt werden.55

Dabei ist auffällig, dass die beiden Kontrahenten nicht einmal »nein« gesagt haben. Sonst könnte das graziöse Spiel nicht fortgeführt werden wie »das freie Spiel« des Jünglings, der in

50 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 345. 51 Beda Allemann: »Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ›Über das Marionettentheater‹«, in: KJb [1981/82], S. 50-65, hier: S. 58. 52 Das Phantastische der Geschichte besteht nicht nur darin, dass Herr C. sagte: »Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah« (Über das Marionettentheater, SWB II, S. 344), vielmehr hat man auch in der Forschung »versucht, diese rätselhafte Fähigkeit des Bären herzuleiten; aber empirische Erklärungen bleiben problematisch.« B. Greiner (wie Anm. 30), S. 156. 53 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 345 54 Ebd. 55 B. Greiner (wie Anm. 30), S. 151. 111 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

»ein eisernes Netz« ging, nachdem seine Entdeckung geprüft, belacht und phantastisiert wor- den war: »Ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister.«56 Da ihm die ambivalente Sicht- weise – sei es oder nicht – nicht akzeptierbar war und die subjektive Zweckmäßigkeit aus der Eitelkeit nicht genügen konnte, versuchte er das Spiegelbild zu verwirklichen, wurde sein un- schuldiges Spiel zur absichtlichen Nachahmung, und zwar zur Nachahmung einer unbewegli- chen Statue, die seine Beweglichkeit einschränkte, umso mehr, als er seitdem anfing, »tagelang vor dem Spiegel zu stehen.«57 Dies gilt auch für Daphne, die das Liebes(lauf)spiel Phoebus’ zu ernst nimmt und nach dem eigenen Willen zum Lorbeerbaum metamorphosiert wird. »[D]ie Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte«.58 Dies gilt ebenso für Paris, der (sich) infolge des Wettspiels der Göttinnen entscheiden muss und nach dem ernsten Kalkül »der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schre- cken, es zu sehen) im Ellenbogen.«59 Sowohl das Brechen als auch das Überreichen signifizie- ren das Ende einer Bewegung. Danach wird die Seele als vis motrix verschwinden. Und aus dem Spiel wird bitterer Ernst werden. Adam Müller, den ich in der obigen Anmerkung erwähnt habe, hat seine Kritik des Begriffes gegen »herzlose Aufklärer«60 durch das Bild vom graziösen Tanz brilliant formuliert. Seiner Meinung nach wolle der Geist der Sprache weder die absolute Festsetzung der Worte noch die absolute Beweglichkeit der Worte, sondern, was er zur Poesie meinte: »Wenn sich das Wort auf eben die graziöse Weise von seinem Begriff zu trennen und mit ihm wieder zu vereinigen versteht, dann kann man sagen, die Sprache wurde mit Anmut und Schönheit gesprochen«,61 weil der wiedergewonnene Begriff den ursprünglichen bereits durch den Tanz transzendiert. »Das ganze Geheimnis der Poesie liegt demnach in der Verbindung mehrerer streitenden Be- wegungen zu einer ruhigen.«62 Denn eben »mitten im Gewühl der allerentgegengesetztesten Naturen« lässt sich die Idee der Poesie nichtsdestoweniger erheben,63 insbesondere wenn die Idee eine kritische ist, die sich gegen irgendeinen »-zentrismus« richtet. Kleists Worte über das Marionettentheater verkörpern solch einen Tanz, indem er die Grazie bzw. den graziösen Tanz nicht nur zum Inhalt des Textes, sondern auch zu dessen Form nehmen. Eine solche Form bietet Paul de Man, dessen Interpretation des Aufsatzies Über das Marionettentheater inzwischen fast zur Standardliteratur geworden ist, eine angemessene Gelegenheit für seine dekonstruktive

56 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 343. 57 Ebd., S. 344. 58 Ebd., S. 342. 59 Ebd. 60 A. Müller (wie Anm. 34), S. 44. 61 Ebd., S. 39. 62 Ebd., S. 46. 63 Ebd. 112 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

»rhetorisch bewußte[ ] Lektüre«,64 die die Referenz der Sprache infrage stellen soll: »Sie refe- riert immer, aber nie auf den richtigen Referenten.«65 So konstatierte er: »Kleist versetzt seinen eigenen Text en abŷme in jener Figur des Über-Lesers oder Über-Autors, die unbesiegbar wird durch ihre Fähigkeit, die Finte von dem, was auf Deutsch so treffend Ernstfall heißt, zu unter- scheiden«,66 um umgekehrt »den Leser durch einen beständigen Wechsel von Finten und wirk- lichen Schlägen in die Irre zu führen: um seine Kontrolle sicherzustellen, bedarf der Autor der Verwirrung des Lesers.«67 So setze sich die ästhetische Erziehung gewaltsam durch einen sol- chen »Totentanz«68 mit dem Leser durch. Günter Blamberger hat in dem durch die Kant-Krise getauften Kleist »ein[en] skeptische[n] Moralist[en]« gesehen, »der sich nicht mehr dafür interessiert, wie unter Menschen gehandelt werden soll, sondern wie unter Menschen gehandelt wird.«69 In der Tat gibt es für Kleist wohl kein anderes Sollen als das Nichts-Sollen. Denn was soll das alles, wenn die Moral keine Ga- rantin für Gutes sein kann? Diese Frage zeugt von Skepsis, doch Kleists Werk ist nicht nihilis- tisch-skeptisch, sondern vielmehr produktiv-kritisch, nur der Sinn liegt transzendental jenseits des Inhalts. Dass er ursprünglich den ersten Band seiner Erzählungen als Moralische Erzählungen betiteln wollte,70 verrät das Telos. Er wollte nicht im Rahmen der gegebenen Moral Fallge- schichten darstellen, sondern durch Fall-Geschichten eine Moralisierung des Moralisierten wie eine Aufklärung des Aufgeklärten erreichen – Mit den Fallgeschichten deshalb, weil er nur dann das Verständnis des Lesers gewinnen könnte, wie es in seiner Fabel ohne Moral heißt:

[W]enn ich dich nur hätte, wie du zuerst, das unerzogene Kind der Natur, aus den Wäldern kamst! Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mich gut dünkte; und dir und mir sollte dabei wohl sein. Aber da haben sie dir Künste gelehrt, Künste, von welchen ich, nackt [!], wie ich vor dir stehe, nichts weiß; und ich müßte zu dir in die Reitbahn hinein (wovor mich doch Gott bewahre) wenn wir uns verständigen wollten.71

Und in dieser wiederaufklärenden Moral geht es um ein zweites Verspeisen der verbotenen Frucht, das die sogenannten Erkenntnisse und die darauf folgenden Künste, gewonnen aus dem ersten Verspeisen, infrage stellt, sodass einerseits der als wahr genommene, aber gebrech- liche Gebrauch anderer als ambivalent-problematisch wahrgenommen wird und andererseits, weil nichts gilt, eine eigene graziöse Autonomie gefordert und gefördert wird – so lange, bis diese Autonomie als Heteronomie der anderen und mithin wieder als die eigene gelten soll.

64 Paul de Man: Allegorien des Lesens, dt. Übers. von Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 46. 65 Ebd., S. 227. 66 Ebd., S. 224. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 230. 69 G. Blamberger (wie Anm. 25), S. 25. 70 Brief an Georg Andreas Reimer [vom Mai 1810], SWB II, S. 835. 71 Fabeln, SWB II, S. 325. 113 Lieber eine Marionette im Theater zu sein

Wie der Ich-Erzähler im Marionetten-Text die eitle Selbst-Verklärung seines Genossen phan- tastisch erklärte, ist das Phantastische seiner Eigenschaft nach völlig geeignet dafür, den Anlass für solch ein Spiel, solch einen Tanz, zu geben, indem die Phantasie fliegt und alle gewissen Böden streift, ohne sich von irgendeiner als Wahrheit geltenden Regel festhalten zu lassen. So wie Kleists Text günstig ist für die rhetorisch bewusste Lektüre, nämlich »wenn es unmöglich ist, mit Hilfe grammatischer oder anderer sprachlicher Hinweise zu entscheiden, welche der beiden Bedeutungen (die miteinander inkompatibel sein können) den Vorrang hat«,72 so soll der Text strukturell ebenso günstig sein für das Phantastische. Man kann die Grazie weiterhin für eine ambivalente Sichtweise halten, vermittels derer man, wie am Anfang der Arbeit disku- tiert wird, mit einem phantastischen Phänomen so umgehen kann, dass man nicht unter dem Zweifel der Vernunft leidet. In diesem Moment ist der Mensch sowohl Idiot als auch Gott, indem er sowohl nichts als auch alles weiß – im Zustand der sogenannten »Unschuld«, »und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen.«73 Man weiß nicht, »[o]b es [das Paradies] vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«,74 aber es ist gewiss, dass der Mensch, sobald er wieder auf dem Boden landet und mit dem Tanz (im Sinne der Kunst) aufhört, den Drähten der weltlichen Ordnung wie der Gravitation wieder gehorchen und über deren Überwindung vergebens grübeln muss – so lächerlich wie der Nachahmer des Dornausziehers, dessen Erhabenheit nicht im unbeweglichen Stehen, sondern im beweglichen Ausziehen liegt. Oder, sagen wir noch einmal, man sähe sich bereits im Para- dies, wenn man z. B. abends [!] im Marionettentheater auf dem freien Markt, das »den Pöbel durch kleine dramatische Burlesken, mit Gesang und Tanz durchwebt, belustigte«,75 im Ba- desaal, wo man nackt ist und sich mit Wasser reinigt, oder auf der Reise nach Russland, insbe- sondere im dazwischen gelegenen Livland, kurz: wo man sich außerhalb der gegebenen Ord- nung (Hochkultur, Kleidung, Heimat) befindet, durch seine ambivalente Sichtweise die Welt »von hinten« erkennen könnte. Aber das Theater muss ein Ende nehmen, das Bad kann nicht zu lange dauern und auf der Reise wird man letztlich zum Ziel gelangen, somit lässt sich das Paradies nicht besitzen, sondern nur genießen. »Das klang ja wohl recht finster?«,76 so fragte auch Kleist selbst. Ja, leider ist es so finster, wie das Ende seines Lebens exemplarisch zeigt. Wenn Kleist eine pessimistische kulturelle Anthropologie konzipierte, nämlich, dass die menschliche Ordnung bereits infolge des »in der Not gesetzten Anfang[s]« zum Kollabieren bestimmt und »vergiftet« ist,77 so schrieb er doch

72 de Man (wie Anm. 64), S. 40. 73 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 343. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 339. 76 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Juli 1801, SWB II, 671. 77 Gerhard Neumann: »Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kul- tureller Anthropologie«, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg i. B. 1994, S. 13-29. 114 Lieber eine Marionette im Theater zu sein zugleich ein Rezept vom »Antidoton« aus, wenn auch dieses nur zur Linderung dient. Bekannt- lich hat sich der Dichter von der Welt für immer abschieden, nachdem er das Schicksal des Menschen in seinem Werk ausgespielt hatte. »Denn nicht wir wissen,« wie er im Über die allmäh- liche Verfertigung der Gedanken beim Reden meinte, »es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.«78 Da er eines solchen graziösen Zustands beim Reden – »Die Sprache ist als- dann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse«79 – am Ende beraubt war, wusste er nichts mehr oder doch nur noch eines: »die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.«80

78 Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, SWB II, S. 323. 79 Ebd., S. 322. 80 Brief an Ulrike von Kleist [vom 21. November 1811], SWB II, S. 887. 115 Die Familie Schroffenstein

Dritter Teil: Interpretation

Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen. Friedrich Schlegel – Lyceums-Fragmente, Nr. 20.

VI. Drama

VI.1. Die Familie Schroffenstein Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Dass Kleist für seinen Erstling die Familie sowohl als Thema als auch als Titel wählte, ist ganz naheliegend. So wie Kleist sich von der Familie, sei es seine eigene oder die seiner Verlobten, eingemauert sah, so sind auch die Mitglieder der Familie Schroffenstein eng in die familiäre(n) Ordnung(en) gebunden. Jede Familie, oder genauer, jede Kernfamilie (Haus Rossitz und Haus Warwand) verkörpert eine Ordnung, die Gewalt, sei es wohlgemeint oder nicht, an ihren Angehörigen ausübt: die Angehörigen befinden sich im Sitz bzw. zwischen den Wänden einge- zwängt. Indem er zuerst die Auskleideszene des letzten Aktes konzipierte und die gesamte Tragödie »allmähnlich um diese Szene [...] herum« aufbaute,1 begann Kleist, der als ein Exilant aus dem Bannkreis seiner Familie und dem des Landesvaters2 geflohen war, sich mit seinen Traumata zu konfrontieren.3 Das heißt, das Spiel ist von vornherein dazu deteminiert, in Trauer zu enden, und die nachträgliche Motivierung der Schlussszene markiert somit den

1 LS, Nr. 70. 2 So schrieb Kleist am 25. November 1800 an seine Schwester: »Als ich diesmal in Potsdam war, waren zwar die Prinzen, besonders der jüngere, sehr freundlich gegen mich, aber der König war es nicht – und wenn er meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weit weniger. Denn mir möchte es nicht schwer werden, einen anderen König zu finden, ihm aber, sich andere Untertanen aufzusuchen.« (SWB II, S. 601). 3 Heinrich Zschokke, Kleists Freund in der Schweiz, hat einst von demselben berichtet: »Im seinen Wesen schien mir, selbst während der fröhlichsten Stimmungen seines Gemüts, ein heimliches inneres Leiden zu wohnen. [...] Ich nahm den leisen Zug von Schwermut für ein Nachweh in der Erinnerung an trübe Vergangenheiten, bald auch für Wirkung jenes Seelenleidens, welches junge Männer von Bildung in solchem Lebensalter oft zu ergreifen pflegt, woran ich selber gelitten hatte – Zweifeln und Verzweifeln an den höchsten Geistesgütern.« (LS, Nr. 73). Dass sich diese trübe Vergangenheit nicht wenig auf die Familie bezieht, stellt Eva-Maria Anker-Mader, die sich mit der Kleists Familienmodelle beschäftigte, am Ende ihrer Arbeit heraus: »Für Kleists ambivalente Haltung gegenüber den maßgeblichen Familienmodellen, wie sie durch die zeit- genössische Philosophie, Jurisprudenz und Literatur vertreten werden, ist sicherlich seine aristokratische Herkunft und die vom preußischen Militär geprägte Familientradition mitverantwortlich.« E.-M. Anker- Mader: Kleists Familienmodelle. Im Spannungsfeld zwischen Krise und Persistenz, München 1992, S. 111. 116 Die Familie Schroffenstein

Gedankenweg, über den geforscht werden soll. Was könnte zu diesem sowohl familiären als auch Liebestrauerspiel führen? Die Antwort liegt wohl in dem viel zitierten Satz: »’s ist abgetan, mein Püppchen. / Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.«4 Die den Satz äußernde Ursula, die Kleist in Randnoti- zen zu einer früheren Fassung des Stückes – Die Familie Ghonorez – als »eine Hexe [...], die wirklich das Schicksal gelenkt hätte« und die er deshalb als »Schicksalsleiterin« entwarf, 5 erlaubt zu suggerieren, dass in der Familie Schroffenstein wohl das Schicksal zur Debatte stünde, indem die Hexe mit den Protagonisten wirklich wie mit Püppchen »zum Totlachen« spiele.6 Es scheint, als ob ein unsichtbarer Geist hinter all dem Geschehen wirke. So sagt Sylvester:

Es ist ein trüber Tag Mit Wind und Regen, viel Bewegung draußen. – Es zieht ein unsichtbarer Geist, gewaltig, Nach einer Richtung alles fort, den Staub, Die Wolken, und die Wellen. –7

Wäre dies schon das Thema des Dramas, dann hätte man einen Zugriffspunkt zum Diskurs über das Phantastische, indem der implizierte Leser oder die dramatis personae darüber nach- dächten, ob die Begebenheiten »wirklich« unter der Leitung der Fortuna stehen oder bloß ein Spiel des Zufalls sind. Ohne die beiden Faktoren voneinander zu unterscheiden, war Gerhard Fricke der Ansicht: »[T]atsächlich ist das Schicksal hier ganz zum Zufall geworden, der vom Anfang bis zum Ende die einzige, unverändert und gleichmäßig herrschende, alles bewegende Wirklichkeit ist«.8 Allein diese Interpretation hat, ohne dass dies der Verfasser wusste, die unbegreifliche Fortuna oder den »Gott des Schicksals«9 bereits gebannt. Darüber hinaus hat Jochen Schmidt ein Faktum gegen eine derartige »Dämonisierung der Wirklichkeit zum Schicksal« eingewandt: »Nicht ein blind waltendes Schicksal, sondern ein gesellschaftlicher, nach seinem Lehrer Rousseau der gesellschaftliche Mißstand in Gestalt des Erbvertrags be- stimmt das Geschehen. [...] Alle Vorfälle und Zufälle haben an sich nichts zu bedeuten.«10 Auch wenn Sylvester fragt: »Wer kann das Unbegreifliche begreifen?«,11 oder wenn Rupert bemerkt: »So führ ein Gott, / So führ ein Teufel sie mir in die Schlingen, / Gleichviel! Sie ha- ben mich zu einem Mörder / Gebrandmarkt boshaft, im voraus. – Wohlan, / So sollen sie

4 Die Familie Schroffenstein, V. 2704f. 5 Die Familie Ghonorez, SWB I, S. 833. 6 Die Familie Schroffenstein, V. 2717f. 7 Ebd., V. 2019-2023. 8 Gerhard Fricke: Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Stuien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters, Berlin 1929, S. 55. 9 Die Familie Schroffenstein, V. 1249. 10 Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poeischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S. 27ff. 11 Die Familie Schroffenstein, V. 642. 117 Die Familie Schroffenstein denn recht gehabt auch haben«,12 ist das, was die Protagonisten analysieren, doch nicht das Schicksal, sondern es sind die (Re-)Aktionen der anderen. »Wenn sie auch oft genug Opfer des lächerlichsten Zufalls, der Tücke der objektiven Fakten werden, so tragen sie doch aktiv zu den schwerwiegenden Täuschungen und Mißverständnissen bei.«13 Das Drama hat umso weniger mit dem Schicksal zu tun, weil Ursula in der späteren Fassung nicht als Schicksalsleiterin, sondern vielmehr zusammen mit dem wahnsinnigen Johann und dem blinden Sylvius als Ironie der Aufklärung konzipiert wurde. »Das Teuflische des Geschehens, das Schicksalsmotiv, der Glücksverlust und die Vertreibung des Schuldlosen von der Schwelle des Glückes ins Elend, d. h. der unverschuldete Verlust des Paradieses, gehören zur ursprünglichen Konzeption«14 und gehören nur dorthin, zumal manche Stellen davon schon vorher im Manuskript der Familie Ghonorez gestrichen wurden. Außerdem soll der aufklärerische Wieland dem Autor angeraten haben,15 Alonzos/Sylvesters Analyse des Schicksals – »Das Schicksal ist ein Taschenspieler – Sturm der Leidenschaft, Raub des Irrtums, Himmel hat uns zum Narren«16 – wegzulassen. Wenn man trotzdem vom »hexenhaften Zufall« 17 sprechen wollte, dann gehört dieses phantastische Phänomen allenfalls zur Vorgeschichte und spielt im Drama, zumindest in der späteren Fassung, fast keine Rolle mehr. Da Kleist Ursula in der späteren Fassung derart entzauberte, darf man sie eigentlich als unschuldig freisprechen und ihr die »Gnade« gönnen.18 Es ist Ursula, die in der früheren Fassung spontan auftritt und auf keinen Fall um die Gnade gebeten hat, die aber nun in der späteren Fassung passtiv aufgeführt wurde und fünfmal demütig um die Gnade bittet. Demnach ist das Personalpronomen im Schlusssatz Johanns weniger auf die »alte Hexe« als auf den Dichter oder apostrophierend auf das Drama an sich gerichtet: »Du spielst gut aus der Tasche, / Ich bin zufrieden mit dem Kunststück. Geh.«19 Und das Phantastische, so dies hier überhaupt zu finden ist, wirkt sich wohl nur auf die Forschung, die im Schatten der Familie Ghonorez steht, aus, woraus sich eine Ambivalenz ergeben hat: »Man hat behauptet, es aber auch immer wieder geleugnet, daß es sich bei der ›Familie Schroffenstein‹ um ein Schicksals-drama handelt.«20 Nun, weil ich mich mit der Familie Schroffenstein (statt derer Ghonorez) beschäftige, stellt sich die Frage, wo in der Tragödie dieser schwäbischen Familie das Phantastische steckt. Mit schar- fem Blick hat Doris Claudia Borelbach herausgearbeitet, dass sich die Dramenfiguren, vor

12 Ebd., V. 2246-2250. 13 Elmar Hoffmeister: Täuschung und Wirklichkeit bei Heinrich von Kleist, Bonn 1968, S. 14. 14 Gerhard Kluge: »Der Wandel der dramatischen Konzeption von der ›Familie Ghonorez‹ zur ›Familie Schroffenstein‹«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 52- 72, hier: S. 59. 15 LS, Nr. 88. 16 Die Randnotiz zum V. 656. Die Familie Ghonorez, SWB I, S. 833. 17 Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, aus dem Nachlaß hrsg. von Eckart Oehlenschläger, Bielefeld 2005, S. 55. 18 Die Familie Schroffenstein, V. 2691-2699. 19 Ebd., V. 2724f. 20 Peter Michelsen: »Die Betrogenen des Rechtgefühls. Zu Kleists ›Die Familie Schroffenstein‹«, in: KJb [1992], S. 64-80, hier: S. 76f. 118 Die Familie Schroffenstein allem Sylvester, in Fassungslosigkeit vor den komplexen Geschehnissen auf eine metaphysi- sche Macht zu berufen scheinen, wenn Sylvester am Ende des Dramas ausruft: »Gott der Ge- rechtigkeit! / Sprich deutlich mit dem Menschen, daß ers weiß / Auch, was er soll!«21 Damit wird gezeigt, dass man sich, um das Unbegreifliche zu begreifen, gern an ein höheres Gesetz wendet, wenn die Vernunft an ihre Grenze gestoßen ist: »Die Spannweite reicht hier von (fälschlich angenommenem) individuellem Verschulden über den Eindruck, einer elementaren Naturgewalt ausgeliefert zu sein, bis hin zur Berufung auf die göttliche Autorität.«22 Dies könnte dem Phantastischen schon viel Raum geben. Nicht zuletzt bezieht Borelbach das auf den epochalen Hintergrun: »Vor dem Hintergrund beginnender Säkularisierung erscheint Gott in Kleists Drama weit weniger als Fixpunkt der Orientierung denn als Formel, dem unbegriffe- nen Entsetzen Ausdruck zu verleihen.«23 So brillant ihre Deutung ist, so voreilig scheint es mir, dieses Deutungsmuster auf Die Familie Schroffenstein zu übertragen, weil sich das Phantas- tische, das sich aus dem potenzierten Deutungsversuch ergibt, nicht in demselben Raum ent- wickelt. (Es ist am Ende des Dramas!) Mir geht es dagegen vielmehr um die gegenseitige Ver- klärung von Ottokar und Johann auf der einen und Agnes auf der anderen. Die beiden Häuser der Familie Schroffenstein befinden sich »an zwei Seegestaden«, 24 machen sich wie zwei Pole »in spiegelbildlicher Symmetrie«25 aus, die überdies um eines Erb- vertrages willen, »Kraft dessen nach dem gänzlichen Aussterben / Dies einen Stamms, der gänzliche Besitztum / Desselben an den andern fallen sollte«,26 in Feindschaft stehen. Die totalitäre Ordnung des Erbvertrages führt »[s]eit alten Zeiten«27 zur totalitären Entzweiung einer Familie und lässt in den beiden Häusern jeweils eine totalitäre Ordnung entstehen, die die Bewohner wie eine Mauer vor dem angeblich feindlichen Gegenüber schützt. Diese Ord- nungen gelten einerseits so fundamental, dass sie bereits eine religiöse Dimension annehmen, andererseits so agonal, dass jegliche Chance zur Versöhnung ausgeschlossen ist: »Es [das Drama] ist durchwaltet von biblischen Bezügen und entfaltet in ihnen ein komplexes und para- doxes Wechselspiel zwischen Altem und Neuem Testament. Die Figuren stehen in seinem Zwie- licht.«28 Wie unüberbrückbar die Kluft zwischen den beiden Häusern ist, zeigt sich überdies offenbar in Sylvesters Worten bezüglich eines Segels auf dem See: »Sehr beschäftigt mich / Dort jener Segel – siehst du ihn? Es schwankt / Gefährlich, übel ist sein Stand, er kann / Das Ufer nicht erreichen. – «29

21 Die Familie Schroffenstein, V. 2608-2611. 22 Doris Claudia Borelbach: Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen, Würzburg 1998, S. 15-52, vor allem S. 35. Zur Familie Schroffenstein, S. 15-52. 23 Ebd., S. 34. 24 Die Familie Schroffenstein, V. 563. 25 Hinrich C. Seeba: »Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists ‚Familie Schroffenstein’«, in: DVjs [1/1970], S. 64-100, hier: S. 74. 26 Die Familie Schroffenstein, V. 180ff. 27 Ebd., V. 177. 28 Ingeborg Harm: »›Wie fliegender Sommer‹ Eine Untersuchung der ›Höhlenszene‹ in Heinrich von Kleists Familie Schroffenstein«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1984], S. 270-314, hier: S. 276. 29 Die Familie Schroffenstein, V. 2024-2027. 119 Die Familie Schroffenstein

Wie die Ordnung von oben nach unten gewaltsam durchgesetzt wird, wird im Drama von Anfang an deutlich, nämlich beim Racheschwur des Hauses Rossitz:

RUPERT. Ich schwöre Rache! Rache! Auf die Hostie, Dem Haus Sylvesters, Grafen Schroffenstein. Die Reihe ist an dir, mein Sohn.

OTTOKAR. Mein Herz Trägt wie mit Schwingen deinen Fluch zu Gott. Ich schwöre Rache, so wie du.

RUPERT. Den Namen, Mein Sohn, den Namen nenne.

OTTOKAR. Rache schwör ich, Sylvestern Schroffenstein!

RUPERT. Nein irre nicht. Ein Fluch, wie unsrer, kömmt vor Gottes Ohr Und jedes Wort bewaffnet er mit Blitzen. Drum wäge sie gewissenhaft. – Sprich nicht Sylvester, sprich sein ganzes Haus, so hast Dus sichrer.30

Diese familiäre, durch Sprache transportierte und zugleich fixierte Gewalt übt Rupert in glei- cher Weise an seiner Gemahlin Eustache aus, obgleich diese um Rücksicht auf ihr Geschlecht bittet.31 Es kommt dabei zum Ausdruck, wie solch eine menschliche Ordnung bzw. Familien- kultur die Natur verdrängt: »Ich weiß, Eustache, Männer sind die Rächer – Ihr seid die Klage- weiber der Natur. / Doch nichts mehr von Natur.«32 Wie widernatürlich die Ordnung ist, zeigt auf der anderen Seite sowohl Sylvesters unerbittlicher Befehl zur Zerstörung der noch unreifen Feldfrüchte (Rüben) an den Gärtner – ohne Rücksicht auf dessen Kompetenz33 – als auch sein trostloses Verbot an seine Gemahlin zum Verschweigen der Sache.34 Nicht zuletzt wird Agnes, die von der Natur her ganz natürlich ist, stets widernatürlich gezügelt, und zwar vom »Pater«, dem geistlichen Vater:

Ich weiß es wohl, daß mich der Pater schilt, Doch glaub ich, er versteht es nicht. Denn sieh, Wie ich muß lachen, eh ich will, wenn einer Sich lächerlich bezeigt, so muß ich weinen,

30 Ebd., V. 23-34. 31 Ebd., V. 35-39. 32 Ebd., V. 40ff. 33 Ebd., V. 485-502. 34 Ebd., V. 524-548. 120 Die Familie Schroffenstein

Wenn einer stirbt.35

»Ich wills erst lernen, Vater.«36 In diesem Satz drückt sich die patriarchalische Gewalt im Gewand der (religiösen) Kultivierung lapidar aus. Es geht also weder um Gut oder Böse noch um Recht oder Falsch, sondern um eine simple Verfahrensweise, mit der sich eine Institution erhält, zumal es sich ja um ihre Existenzsicherung – (Über-)Leben – handelt. Als Kinder der Häuser sind die beiden Protagonisten der Liebestragödie in der Familien- tragödie, Ottokar und Agnes, während ihrer Sozialisation unvermeidlich an die jeweilige fami- liäre Ordnung gefesselt, die weiterhin ihre Sichtweise und mithin ihre Verfahrensweise be- stimmt und folglich ihre Identität, Erkenntnisse, Orientierung und Aktionen beeinflusst. Ob- gleich sich Ottokar beim Racheschwur zögerlich verhält, identifiziert er zweifellos den Feind der Familie: »Es gab uns Gott das seltne Glück, daß wir / Der Feinde Schar leichtfaßlich, un- zweideutig, Wie eine runde Zahl erkennen. Warwand, / In diesem Worte liegts, wie Gift in ei- ner Büchse«.37 Es ist aber keine göttliche, sondern erbliche Gabe, die auf den »Sündenfall«,38 der mit dem Erbvertrag einherkommt, zurückzuführen ist, welcher die beiden Häuser sich er- kennen und voneinander unterscheiden ließ, sogar so, »als könnte sie mit der Spiegelbindung an das andere Ich auch die Orientierung in der Welt verlieren.«39 Diese Erkenntnis ist ebenso in Agnes und ihrem verstorbenen Bruder Philipp verwurzelt:

AGNES. Diese Reuter, Sprach er [Philipp], sind wir, und dieses Fußvolk ist Aus Rossitz.

SYLVIUS. Nein. Du sagst nicht recht. Das Fußvolk War nicht aus Rossitz, sondern war der Feind.

AGNES. Ganz recht, so mein ich es, der Feind aus Rossitz.

SYLVIUS. Ei nicht doch, Agnes, nicht doch. Denn wer sagt dir, Daß die aus Rossitz unsre Feinde sind?

AGNES. Was weiß ich. Alle sagens.40

Durch das »Kriegsspielzeug, an dem schon die Kinder das Freund-Feind-Schema ihrer Eltern spielend lernen«,41 unterweist man die Nachkommenschaft von Kindesbeinen an darin, sich an der familiären Ordnungen zu orientieren. Dessen ungeachtet ist die »Schwellensituation« der jüngeren Protagonisten sehr bemerkens- wert, wie es Bernhard Greiner zuerst an den Persönlichkeiten ausmachte:

35 Ebd., V. 394-398. 36 Ebd., V. 417. 37 Ebd., V. 127ff. 38 Ebd., V. 186. 39 H. C. Seeba (wie Anm. 26), S. 73. 40 Die Familie Schroffenstein, V. 445-452. 41 H. C. Seeba (wie Anm. 26), S. 84. 121 Die Familie Schroffenstein

Ottokar hat unlängst das Schwert empfangen, d.h. er ist eben erst in die soziale Wirklichkeit der Erwachsenen aufgenommen worden, Agnes soll in den nächsten Tagen konfirmiert, d. h. für hei- ratsfähig erklärt werden. So sind die beide noch nicht in die Erwachsenenwelt integriert, was auch eine psychologische Wahrscheinlichkeit dafür schafft, daß sie zu deren Denksystem Distanz gewin- nen.42

Dass man in der Pubertät rebellisch ist, versteht sich von selbst. Das erklärt, warum Agnes Morpheus’ Arme zu suchen und Ottokar Spaziergänge in eben der »Gegend im Gebirge« zu machen pflegt,43 »einer Gegend außerhalb der Welt und außerhalb menschlicher Konventio- nen, ja, fast kann man sagen: außerhalb des Menschlichen überhaupt.«44 Denn der Ort außer- halb der Mauer dient als Zuflucht, wo man sich von der kulturellen Belastung wie von der »un- natürliche[n] Stadt«45 erholen darf. (Man denke nochmals sowohl an Kleists Biographie als auch an seine Darstellung der Pariser Unterhaltung.46) Als die beiden sich daselbst einfanden, musste sich ihr Leben erneut orientieren. Denn zum ersten wird die natürliche Liebesbühne nicht nur durch eine ambivalente Ortsangabe markiert, wie Laurie Johnson angesichts des un- bestimmten Artikels der »Gegend« angedeutet hat: »the very place in which the most poten- tially plausible alternative to the blood-feud world of the fathers is created, has unclear boun- daries (it is „eine Gegend im Gebirge“)«.47 Vielmehr schien alles in diesem Tal – außer dem natürlichen »Flordach« und »der Wiege« – unbestimmt zu sein: »Es sang der Wasserfall ein Lied, wie Federn / Umwehten dich die Lüfte, eine Göttin / Schien dein zu pflegen.«48 Wasser, Musik, Federn, Lüfte, Göttin: all diese sind schwebend unfassbar, vor allem nicht durch das »kranke Aug«,49 sie unterlaufen deshalb die Vernunft. Zum zweiten symbolisiert das Tal einen Zwischenort, denn er liegt nicht nur zwischen zwei Bergen, sondern zugleich zwischen zwei Systemen; somit gilt hier weder die eine noch die andere Ordnung oder sowohl die eine als auch die andere. Gerade in diesem Niemandsland, in dem nirgendeine Ordnung Anspruch auf

42 Bernhard Greiner Kleists Dramen und Erzählungen: Experimente zum »Fall« der Kunst, Tübingen u. Ba- sel, S. 58. 43 Die Familie Schroffenstein, Regieanweisung vor V. 684. 44 P. Michelsen (wie Anm. 21), S. 73. 45 Brief an Luise von Zenge vom 16. August 1801, SWB II, S. 689. 46 So stellte Kleist in demselben Brief dar: »Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die – Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im Hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubnis, einen Tag in patriarchalischer Simplizität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt – dann kehrt man wieder um.« (SWB II, S. 689f.). 47 Laurie Johnson: »Psychic, Corporeal, and Temporal Displacements in Die Familie Schroffenstein«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 121-133, hier: S. 127. 48 Die Familie Schroffenstein, V. 1259ff. 49 Sylvester: »Das Mißtraun ist die schwarze Sucht der Seele, / Und alles, auch das Schuldlos-Reine, zieht / Fürs kranke Aug die Tracht der Hölle an. / Das Nichtsbedeutende, Gemeine, ganz / Alltägliche, spitzfündig, wie zerstreute / Zwirnfäden, wirds zu einem Bild geknüpft, / Das uns mit gräßlichen Gestalten schreckt.« (Ebd., V. 515-521). 122 Die Familie Schroffenstein ihre totalitäre Geltung erheben darf, bietet sich eine Chance darauf, dass eine neue Ordnung – wie ein neues Weltall – aus dem Ur- oder Wieder-Knall entsteht. So meint Ottokar später: » – Ja könnte man sie [die Väter] nur zusammenführen! / Denn einzeln denkt nur jeder seinen einen / Gedanken, käm der andere hinzu, / Gleich gäbs den dritten, der uns fehlt.«50 Nicht zuletzt handelt es sich hier im Tal um eine erotische Begegnung, bei der die Funken der Liebe die Vernunft niederbrennen, sodass sich an der Mauer der bisherigen Konventionen ein Bruch findet und eine neue, inter-kulturelle Orientierung vollzogen wird. So meint Ottokar: »Da erwachtest du, / Und blicktest wie mein neugebornes Glück mich an.«51 Ottokars rhetorische Frage an Johann: »Glaubst du Tor, / Die Sonne scheine dir allein?«,52 gilt ausgerechnet für ihn selbst, weil sich zwischen Johann und Agnes eine vergleichbare Be- gebenheit zugetragen hatte, und zwar in einem stärkeren Maße. Als Johann mit Agnes zusam- mentraf, befand er sich in einer Notlage: Sein Pferd, »Von Hörnerklang, und Peitschenschall, und Hund- / Geklaff verwildert«,53 geriet außer Kontrolle und galoppierte mit ihm fast in den Styx – »Hinab in einen Strom«54 – gebracht. Es war eine Situation, in der ihm die Vernunft durch des Feldes Wimmel, wildes Pferd, wirre Musik und Wirbel-Wasser verwirrt wurde und somit versagte. Je mehr Johanns praktische Vernunft ihn anmahnte, die Zügel »gewaltig«55 zu ziehen, desto unbändiger verhielt sich das Pferd und führte den »natürliche[n] Sohn«56 wieder in die Natur zurück, und zwar ins Wasser – das Ende und zugleich der Anfang des Lebens, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinandergreifen. Kurz: Johann stand vor dem Tod, verlor seine Vernunft und Orientierung, als er Agnes, »ein nackend Mädchen«,57 sah. Wenn schon für die Begegnung zwischen Ottokar und Agnes das erotische Element zur Sprache kam, so liegt es hier beim Abenteuer Johanns nahe, dass er durchaus vor Begierde brannte. Zudem steht er weder im Wirkungskreis noch unter dem Schutzschirm der Rossitzer Ordnung – er will es auch nicht. Er beteiligt sich nicht an der Totenmesse, zumindest nicht in erster Linie,58 denn er sieht sich auf der Burg wie »ein[en] Christ[en], / Umringt von Wilden«,59 und leidet unter der eigenen inferioren Identität als Bankert. Ihm dürfte das Leben schon völlig verdorben sein. Als Agnes ihm das Leben gerettet, ja fast ein neues Leben geschenkt hat, war es ihm nicht anders als erwünscht, sodass er die Begegnung mit ihr als den Augenblick bezeichnet, »wo segensreich, heilbringend, / Ein Gott ins Leben mich, ins ewge führte.«60

50 Ebd., V. 1423-1426. 51 Ebd., V. 1261f. 52 Ebd., V. 310f. 53 Ebd., V. 271. 54 Ebd., V. 283. 55 Ebd., V. 275. 56 So wird Johann im Szenar des Dramas bezeichnet. (Ebd., SWB I, S. 50). 57 Ebd., V. 288. 58 Dass er daran teilgenommen hat, wird erst später von Jeronimus bekräftigt: »Wie alle Diener Ruperts, so auch er.« (Ebd., V. 1133). Eben in dieser Mitteilung kommt zum Ausdruck, dass Johanns Stellenwert in der Familie nicht besser als die der Diener ist. 59 Ebd., V. 343-346. 60 Ebd., V. 258-262. 123 Die Familie Schroffenstein

Was Agnes ihrerseits betrifft, so erfuhr sie auch etwas Neues bei der Begegnung. Ihre Ge- wohnheit, im Tal zu baden und zu schlummern, verrät auf eine symbolhafte Weise etwas über ihr Inneres: Sie will sich aus der Ordnung lösen, will die Kleidung, die andere für sie bestimmen und die ihr schönes Wesen wie eine »fremde Hülle«61 verdecken, ablegen und will sich vom Wasser sowohl rein spülen lassen als auch mit der Natur eins werden. (Hierbei darf man an Novalis’ Heinrich von Ofterdingen denken, der sich in seiner Phantasie, als er die blaue Blume zum ersten Mal sah, entkleidete und sich in der Absicht badete, um sich mit der Natur wieder- zuvereinigen.)62 Unter solchen Umständen begegnet sie Ottokar, wird von ihm getauft und nimmt dadurch ein neues Leben an – das Leben der Liebe, wie Ottokar sagt: »Dein Innres ists mir schon, die neugebornen / Gedanken kann ich wie dein Gott erraten.«63 Nun, indem die jeweilige Ordnung durch die Auswirkung der Erosion reziprok ins Leben eines jeglichen eingebrochen ist, beginnt sie Anspruch auf die totalitäre Geltung zu erheben und somit Reaktionen abzulösen. So bemühen sich die Protagonisten darum, die unerwartete Erscheinung zu begreifen. Bezeichnenderweise fragen sie nach seinen Namen, um einen Be- griff und somit eine Konzeption zu bekommen, damit sie sich daran einerseits orientieren, andererseits die potenzielle Gefahr, die Kleist geschickt durch die familiäre Feindschaft kon- kretisiert, abwenden können. So lautet Ottokars Imperativ: »Dein Zeichen nur, die freundliche Erfindung / Mit einer Silbe das Unendliche / zu fassen, nur den Namen sage mir«.64 Natürlich hat sich auch Johann danach erkundigt. Da der Wunsch zuerst nicht erfüllt wird bzw. die Auskunft nicht von Agnes selbst autorisiert wird, berufen sich die Halbbrüder auf die Phan- tasie, die den unbegreiflichen Gegenstand, anstatt aufzuklären, verklärt und dadurch über die schwammige Erkenntnis hinwegzutäuschen versucht: »Es sollen / Geheimnisse der Engel Menschen nicht / Ergründen.«65 In Agnes sieht Ottokar »Maria«66 und Johann eine »Göt- tin«.67 In diesen Verklärungen spiegelt sich jeweils zugleich die Sehnsucht nach einer neuen Ordnung wider: Ottokar, der gleichsam im Alten Testament lebt, sehnt sich nach der Mutter Gottes, die die Erlösung und das darauf folgende Neue Testament in die Welt bringt, oder: wenn man in ihm Christus sehen möchte,68 könnte man auch zu sagen wagen, er bzw. sein Geist wäre auf der Suche nach der Möglichkeit zur Neugeburt, um als Heiland die vorgegebene Welt vom Hass zu erlösen; Johann, der sich Frömmigkeit anmaßt, verliebt sich in eine für ihn

61 Ebd., V. 2485. Wie die Kleidung die fremde Ordnung, die einem übergestülpt wird, referiert, bringt Ottokar hierbei des Weiteren zum Ausdruck, als er Agnes das Überkleid auszuziehen versucht: »Ein Gehülfe der Natur / Stell ich sie wieder her. Denn wozu noch / Das Unergründliche geheimnisvoll / Verschleiern? Alles Schöne, liebe Agnes, / Braucht keinen andern Schleier, als den eignen, / Denn der ist freilich selbst die Schönheit.« (Ebd., V. 2486-2491). 62 Novalis: »Heinrich von Ofterdingen«, in: ders.: Werke, hrsg. von Gerhard Schulz, München 1969, S. 129- 277, hier: S. 132. 63 Die Familie Schroffenstein, V. 756f. 64 Ebd., V. 758ff. 65 Ebd., V. 316ff. 66 Ebd., V. 1267f. 67 Ebd., V. 289. 68 Vgl. z. B. I. Harms (wie Anm. 29) 124 Die Familie Schroffenstein heidnische Göttin, wenn auch nicht in »Aphrodite Anadyomene«,69 so doch in eine Undine. Dass solch eine Sehnsucht in Verbindung steht mit der Sexualität, zeigt sich allein schon darin, dass für die Begegnungen ein Pferd als Symbol der Potenz signifikant ist: Agnes bezeichnet ihren geliebten Ottokar als einen »junge[n] Rosse« bezeichnet, den »die Eifersucht, / Der Liebe Jugendstachel, hätte, selbst / Sich stumpfend, […] hinaus gejagt ins Feld«,70 und Johann wird von einem außer Kontrolle geratenen Pferd unter dem Leib entführt bzw. zu ihr geführt. Für die beiden ist Agnes nichts anderes als Agens des Triebs. Da solch eine Sehnsucht ein Tabu bricht, sei es gesetzlich, moralisch oder religiös begründet, dient die Verklärung auch dazu, sowohl vor anderen als auch vor sich selbst zu spielen. In dem Spiel besteht eine ästhetische Idylle, für die die Moral und das Interesse von keiner Bedeutung sind. Das Spiel wird gar zu einer eigenen Religion, die aber nur so lange Bestand hat, bis das Heiligtum durch einen irdischen Eigen- namen wieder in die irdische Ordnung eingefügt, säkularisiert und mithin desillusioniert wird. Auch Agnes will sich ihrerseits nicht mit den Namen – sei es der eigene, sei es der Ottokars – abgeben, um auf dem »Lieblingsweg«71 nicht gestört zu werden, obwohl sie die Sorge nicht verbergen kann:

OTTOKAR. Und kehrst nicht wieder?

AGNES. Niemals, Wenn du nicht gleich mir deinen Namen sagst.72

Auffällig und doch leicht zu übersehen ist, dass sie seinen Namen offensichtlich schon gewusst und zwar unmittelbar vorher gerufen hat: »Ich kann nicht reden, Ottokar. – «73 Mit dieser Täuschung, die sich später auch bei der Marquise von O... findet, spielt Agnes also vor sich selbst und vor den anderen. (Johann ist in dieser Szene gerade dabei.) In ihr ist Ottokar lieber ein namenloser Geist, ein Niemand, in den sie sich verlieben darf, ohne Angst vor seiner Iden- tität haben zu müssen, wie es in ihrem Monolog am Anfang von II, 1 lautet: »Statt dessen ist kein andrer Nebenbuhler / Jetzt grade um mich, als sein Geist. Und der / Singt mir sein Lied zur Zither vor, wofür / Ich diesen Kranz ihm winde.«74 Während die Verklärungen den Halb- brüdern jeweils eine Idylle schafft, bietet Agnes’ Verklärung einen ästhetischen Raum, frei von Moral und Interesse, für ihre sexuelle Phantasie:

Sein Antlitz Gleicht einem milden Morgenungewitter, Sein Aug dem Wetterleuchten auf den Höhn,

69 So hat Beda Allemann es mit der Begründung behauptet: »Kleists Neigung, sich von Darstellungen aus der bildenden Kunst anregen zu lassen, ist bekannt.« B. Allemann (wie Anm. 18), S. 70. 70 Die Familie Schroffenstein, V. 705-708. 71 Ebd., V. 1097. 72 Ebd., V. 784f. 73 Ebd., V. 772. 74 Ebd., V. 710-713. 125 Die Familie Schroffenstein

Sein Haar den Wolken, welche Blitze bergen, Sein Nahen ist ein Wehen aus der Ferne, Sein Reden wie ein Strömen von den Bergen [¡] Und sein Umarmen – Aber still! Was wollt Ich schon? [!] Ja, dieser Jüngling, wollt ich sagen, Ist heimlich nun herangeschlichen, plötzlich, Unangekündigt, wie die Sommersonne, Will sie ein nächtlich Liebesfest belauschen.75

Darüber hinaus verrät das Erröten, das sich bei Agnes während der Diskussion über »Einseg- nung« zeigt,76 ihre intime Phantasie. Und sowohl das Erröten als auch die Verklärung bedeuten gleichermaßen, dass Ottokar als Person sowohl auf ein Geheimnis als auch auf ein Tabu refe- riert. Das Tabu darf man erst durch Ritual berühren, nämlich das Ritual der Vergötterung bzw. Entkörperung, die die irdischen Momente transitorisch annulliert und den Anbeter vor der irdischen Strafe schützt, so wie »female, and particularly Agnes’s, self-alienation expresses itself not as an active attempt to change the course of events but as a confusion about one’s own identity and mistrust of others.«77 (Dies lässt sich auch in einer konkreten Idylle finden, die Kleist 1808 unter dem Titel Der Schrecken im Bade in Phöbus publizierte: Die Protagonistin Johan- na schlüpft nicht nur in Männerkleider, d. h. in eine moralisch erlaubte Identität, sondern ver- sucht ihre lesbische sexuelle Phantasie in ein mythologisches Bild zu verwandeln, um sich ihr Belauschen zu legitimieren: »Gewiß! Diana, die mir unterm Spiegel, / Der Keuschheit Göttin, prangt, im goldnen Rahm: / Die Hunde liegen lechzend ihr zur Seite«.78) Auch Ottokar ver- weist in V/1 auf die Tabuqualität der Sexualität, die erst durch das Ritual der Eheschließung gebilligt wird: »Leise öffne ich / Die Türe, schließe leise sie, als wär / Es mir verboten. Denn es schauert stets / Der Mensch, wo man als Kind es ihm gelehrt.«79 Aber nun in II/1, wo Agnes’ »Gefühl, jetzt eine Sünde«,80 noch nicht durch das rituelle Wort geheiligt ist, dient die Höhle, vor und in welcher ihr platonisches »nächtlich Liebesfest« stattfindet, als intimer Raum, in dem sie den Kranz »[f]ür sein Bedürfnis, oder seine Laune«81 windet. Der Kranz ist also ein

75 Ebd., V. 693-703. 76 Die Familie Schroffenstein, V. 436. Dagegen war Ditmar Skrotzki der Ansicht, »daß das Verständnis der seelischen Bewegung des Mädchens sich nicht primär daran [am erotischen Bereich] orientieren darf, sondern umfassender von der Bereitschaft der Herangewachsenen, sich den Aufgaben der Welt zu stellen, ausgehen muß, einer Bereitschaft also, die nicht etwa vom Erwachen der Sexualität abhängt, sondern die sich in der Hingabe an einen Mann lediglich konkretisiert.« D. Skrotzki: Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists, Marburg 1971, S. 42. Zu fragen ist jedoch, was die irdische Aufgabe des weiblichen Geschlechts aus Kleists Sicht anderes sei als Sex, der mit dem Mutterwerden unentbehrlich (damals immerhin) verbunden ist? 77 L. Johnson (wie Anm. 48), S. 125. 78 Der Schrecken im Bade, SWB I, S. 16. 79 Die Familie Schroffenstein, V. 2463-2466. 80 Ebd., V. 2441f 81 Ebd., V. 691. 126 Die Familie Schroffenstein

Symbol der Sexualität nicht nur in seiner Funktion als Brautkranz, auch nicht nur auf das sexuelle Begehren des Bräutigams bezogen, sondern deutet vielmehr ihre eigene Sexualität an. Denn die Blumen, vor allem die Rosen, die Agnes »aus den Dornen«82 pflückte, dienen, abgesehen von ihrer Funktion als Geschlechtsorgan der Pflanze, als Symbol der Erotik. Dass Agnes beim Pflücken der Blumen blutet, symbolisiert ihre völlige Hingabe an den (fiktionalen) Bräutigam – Defloration. Darauf folgt das Winden der Blumen – gleichsam die Kopulation der Blumen. So meint Agnes dann bezeichnenderweise: »Nun, / Der Kranz ist ein vollendet Weib. Da, nimm / Ihn hin. Sprich: er gefällt mir; so ist er / Bezahlt.«83 Es lässt sich zwischen drei Dimensionen des Phantastischen in der Familie Schroffenstein differenzieren. Die erste Dimension bezieht sich auf die Protagonisten selbst, weil sie nicht wissen, wie sie mit dem Gegenstand umgehen sollen und sich deshalb auf die Phantasie berufen, ohne die Identität des Phantasierten feststellen zu können. Indem Kleist den Dialog zwischen Ottokar und Johann dramaturgisch dem Auftritt Agnes’ vorwegnimmt, mystifiziert er ihre Identität und setzt damit eine zweite Dimension des Phantastischen ein. Der implizierte Leser weiß weder, wer diejenige ist, über die die Halbbrüder diskutieren, noch, ob sie eine Göttin wie Venus oder ein Mädchen wie Elisabeth ist. Gleiches findet sich auch am Anfang von II,1, wo Agnes den Monolog führt; auch hier weiß man nicht, wer mit dem Geist gemeint ist, zumal Ottokar gerade neben ihr steht. Man darf weiterhin sagen, dass sich die dritte Dimension des Phantastischen wieder auf die Protagonisten als Leser auswirken soll: Ottokar und Johann spielen sich gegeneinander etwas mit den phantastischen Signifikanten vor und versuchen zugleich, den Signifikaten des anderen auszulesen; Agnes spielt mit Ottokar, um »seine Eifersucht, / Der Liebe Jugendstachel«84 zu stimulieren. Eben diese Stimulation führt uns wieder ins Drama und zeigt, dass die jeweilige Verklärung eigentlich auf einem instabilen, phantastischen Bild beruht, und dass die idyllischen Bilder dazu tendieren, sich zu verzerren, weil die Vernunft sich nicht mit der ambivalenten Auskunft zufrieden geben kann. Während das Unbegreifliche die Vernunft unterminiert und das Phan- tastische herauslockt, regrediert die Vernunft auch stets das Phantastische. So »erscheint die Antizipation eher als aleatorisches denn als vereinheitlichendes Prinzip«.85 Und solch ein Prin- zip ist für die Protagonisten umso fataler, als ihre Antizipationen auf »ein phantasiertes Verfü- gen über letztlich nicht Verfügbares«86 zielen. Deshalb müssen die Protagonisten letztlich enttäuscht werden, wenn sie kraft ihrer Gottheit fest glauben, was der junge Kleist einst ge- glaubt hat: »die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unaus- löschlich in unsrer Seele erweckt hat, wird die Hoffnung nicht betrügen, durch welche sie

82 Ebd., V. 718. 83 Ebd., V. 723-726. 84 Ebd., V. 75. 85 Anthony Stephens: »Antizipation als Strukturprinzip im Werk Kleists«, in: Jahrbuch der deutschen Schil- lergesellschaft [1998], S. 195-213, hier: S. 205. 86 Ulrich Fülleborn: »Die Geburt der Tragödie aus dem Scheitern aller Berechnungen. Die frühen Briefe Heinrich von Kleists und ›Die Familie Schroffenstein‹«, in KJb [1999], S. 225-247, hier: S. 225. 127 Die Familie Schroffenstein unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet.«87 So kann Ottokar der Gläubige z. B. schon von vornherein nicht umhin, sich um seine Ahnung, die seine Religion umstürzen wür- de, zu sorgen:

JOHANN. [...] Denn niemand, bei Gefahr des Lebens, Darf außer dir des Gottes Namen wissen, Der mich entzückt. –

OTTOKAR. O Gott! – Doch meine Ahndung?

JOHANN. Sie ist es.

OTTOKAR erschrocken. Wer?

JOHANN. Du hasts geahndet.

OTTOKAR. Was Hab ich geahndet? Sagt ich denn ein Wort? Kann ein Vermuten denn nicht trügen? Mienen Sind schlechte Rätsel, die auf vieles passen, Und übereilt hast du die Auflösung. Nicht wahr, das Mädchen, dessen Schleier hier, Ist Agnes nicht, nicht Agnes Schroffenstein?88

Dass er dann die Worte Jeronimus’ »zerstreut«89 überhört und »hinaus ins Freie«90 muss, bringt seine Erschütterung und das Bedürfnis, sich erneut zu orientieren, zum Ausdruck – erschüttert nicht nur, weil er ihr soeben den Tod geschworen hat, sondern vielmehr, weil die erwünschte neue Ordnung desavouiert wird und sogar verwünscht werden soll – »Engelslästrung«91 im wörtlichen Sinne. Ganz logischerweise begibt er sich zu Agnes, um auf seine Gottheit zu rekurrieren. Hier ist die innere Bedrohung des Phantastischen. Es gibt auch die äußere Bedrohung. Ein markantes Beispiel liefert erneut Ottokar, der, wie ein Ross, das »zuletzt / Doch heimkehrt zu dem Stall, der ihn ernährt«,92 denn »Es zieht des Lebens Forderung den Leser [des Gottespruchs] / Zuweilen ab, denn das Gemeine will / Ein Opfer auch«.93 Es ist Essen und Trinken, was den Menschen mit der irdischen Welt verbindet. So euphorisch Ottokar Agnes wie ein schönes Buch lese, dessen Geist, »der in / Der Götter- sprache ihm die Welt erklärt«, so kann er doch nicht allein davon leben – eine Subversion des Bibelsverses, »dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN geht.«94 So ist die idyllische Welt, sei es die Höhle oder die Seele Agnes’,

87 Aufsatz, SWB II, S. 301. 88 Die Familie Schroffenstein, V. 349-358. 89 Ebd., Nebentext vor V. 375. 90 Ebd., V. 384. 91 Ebd., V. 334. 92 Ebd., V. 708. 93 Ebd., V. 1273ff. 94 Dtn. 8:3. 128 Die Familie Schroffenstein in der Tat nur eine Enklave seiner Rossitzer Ordnung, die zwar außerhalb des Hauptterri- toriums liegt, aber dennoch unter derselben steht. Folglich ist die Idylle nur eine Pseudo-Idylle, in der man sich nur »hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt«,95 be- wegt. Folglich verhält man sich nur so lange graziös, bis das Phantastische durch die Realität ersetzt wird. Folglich dauert das Glück, wenn es in der phantastischen Atmosphäre einst exis- tiert hat, nur so lange, bis man seine abseits des Weges liegende Kapelle wieder verlässt. Die Begegnung hat das Leben der Protagonisten jeweils revolutioniert, indem sie eine neue Ordnung in ihnen geschaffen hat. Mit der Revolution geht aber die Verwirrung einher, wie ich oben gezeigt habe. In solch einer ambivalenten Situation, im Zwietracht zwischen der eigenen Religion und der Ordnung anderer, im Widerspruch des sakralen und des säkularen Bedürfnis- ses, verhalten sich die Protagonisten jeweils anders. Sobald er um die Identität Agnes’ weiß, unternimmt Ottokar eine Revolution, um seine Liebe (Achtung: nicht die Agnes’!) und damit seine eigene Ordnung, die nun säkularisiert und nahezu dekonstruiert worden ist, zu retten. So verlangt er zuerst von Agnes absolutes Vertrau- en: »Ich weiß es [Agnes’ Namen], fürchte nichts! Denn deinem Engel / Kannst du dich sichrer nicht vertraun, als mir.«96 Indem er versucht, sich die einst als solche gedeutete Mutter Gottes durch Transsubstitution kraft des Vertrauens einzuverleiben, ist er im Begriff, eine neue, stabile Basis zu kreieren, auf der er ohne Beistand der Gottheit auskommen kann, eine Festung also, von der aus sein Feldzug die Umgebung allmählich erobert, seiner Ordnung unterworfen und ummauert, wie man dem Meer durch Dammbau Territorium abtrotzen kann. Er braucht den Geist Agnes’, um die Ordnung, die sie ihm geschenkt hat, nach der Säkularisierung weiterhin gelten zu lassen. Das bedeutet aber, dass er in erster Linie Agnes erobern muss. So sagt er ihr zum Beispiel beim ersten Treffen im Drama: »Um Gotteswillen, nein, du irrst dich.«97 Mit diesem Nein beginnt er, ihr die graziöse Bewegung und die Autonomie zu rauben, um über sie zu verfügen. Es muss ihm scheinen, als könnte es gelingen, als er Agnes sagen hört: »Ich tue alles, wie dus willst.«98 Dann versucht er weiterhin, sie ganz der Warwander Ordnung zu ent- reißen:

OTTOKAR. Willst dus?

AGNES. Was meinst du?

OTTOKAR. Mit mir leben? Fest an mir halten? Dem Gespenst des Mißtrauns, Das wieder vor mir treten könnte, kühn Entgegenschreiten? Unabänderlich, Und wäre der Verdacht auch noch so groß,

95 Brief an Luise von Zenge vom 16. August 1801, SWB II, S. 690. 96 Die Familie Schroffenstein, V. 736f. 97 Ebd., V. 780. 98 Ebd., V. 1310. 129 Die Familie Schroffenstein

Dem Vater nicht, der Mutter nicht so traun, Als mir?99

Er zielt es hier also darauf ab, Agnes gegen die anderen Ordnungen in der Form des Miss- trauens wie gegen ein »Gespenst« gefeit zu machen – gleichsam ist dies eine Aufklärung der Frau, der Versuch, Agnes (aus seiner Perspektiv) zur Mündigkeit zu verhelfen. Während sie am Anfang sein Idol war, soll er nun als Inbegriff einer vernünftigen Konzeption umgekehrt ihr Idol sein. Indem Agnes darauf antwortet, sie sei »[d]anz [s]eine, in der grenzenlosesten / Bedeutung«,100 scheint es, als hätte sein Wunsch sich erfüllt, so dass er meint: »Wohl, das steht nun fest und gilt / Für eine Ewigkeit.«101 Aber dieser neue Bund hat kaum für einen Augen- blick Bestand, weil er an seine Vernunft, sie hingegen an etwas anderes glaubt:

AGNES. [...] Denn etwas gibts, das über alle Wähnen, Und Wissen hoch erhaben – das Gefühl Ist es der Seelengüte andrer.

OTTOKAR. Höchstens Gilt das für dich. Denn nicht wirst du verlangen, Daß ich mit deinen Augen sehen soll.

AGNES. Und umgekehrt.102

Diese Differenz des Glaubens führt zu differenzierten Sichtweisen und Orientierungen: »Ei, das ist doch seltsam. Soll / Ich nun mit deinen Augen sehn?«103 Zumal jeder noch für den ei- genen Vater bzw. die eigene Ordnung steht. Das »Stillschweigen«,104 das die Auseinanderset- zung begleitet, entblößt die einseitige Willkür der neuen Ordnung und dekonstruiert die angeblich grenzenloseste Angehörigikeit, zumal Agnes’ Aussagen deutlich vernünftiger sind als die Ottokars. Um das Auseinanderdriftende wieder ineinander zu verdrehen, setzt Ottokar der rational aufgelegten Diskussion willkürlich ein Ende: »Nun wohl, ’s ist abgetan. Wir glauben uns.«105 Wer aber glaubt wem, damit es abgetan ist? Seine Vernunft wird nun wieder zur Reli- gion: Er glaubt an sich selbst, glaubt an die Kraft der Aufklärung, als er sich davon überzeugt, dass er den Tod seines Bruders aufklären kann, und er glaubt, dass allein seine Kraft genügt. Nachdem er von Barnabe die Auskunft zu dem Tod »gleich einer heilgen Offenbarung«106 erhalten hat, agiert er als Heiland, oder zumindest als Auserwälter, um die ganze Familie, die

99 Ebd., V. 1339-1345. 100 Ebd., V. 1347f. 101 Ebd., V. 1348f. 102 Ebd., V. 1356-1361. 103 Ebd., V. 1391f. 104 Ebd., S. 101. 105 Ebd., V. 1419. 106 Ebd., V. 2203. 130 Die Familie Schroffenstein beiden Häuser zusammen also, aus der Rivalität zu führen – ein »Exodus« der Familie Schrof- fenstein aus ihrer Feindschaft. Seine heilige Identität dürfte sich bewähren, nachdem er – nach dem Gebet an die Mutter Gottes – aus dem Turm gesprungen und wie durch ein Wunder unverletzt geblieben war. Die Familie ist ein schroffer Stein: Es gibt keinen Ausweg, es sei denn, dass man von da aus springt. Durch diesen wunderbaren Sprung möchte er einen neuen Ur-Sprung schaffen, aus dem eine selige Ordnung entstehen sollte. Aber es ist schon der Höhenpunkt seiner Aktion – worauf Untergang folgt. Denn all seine Berechnungen und Arrangements gehen durch Zufälle fehl und führen sogar paradoxerweise zur Katastrophe; all seine Sentenzen stehen in keinerlei Ver- hältnis zum Tatbestand.107 Auch sein Liebesglück, das ihm seine Religion ursprünglich verheißen hat, ist von vornherein dazu bestimmt, ein Spiel im Spiel zu sein, es gilt also nirgendwo als in der Phantasie, wo erst »[d]ie Väter und die Mütter noch beisammen« sein können,108 wo erst die Sexualität, »Gleich einem frühling-angeschwellten Strom / Die Regung ohne Maß und Ordnung«, entwallen darf.109 Die Bestimmtheit, die durch die sich nähernde Gefahr und durch Barnabes Warnung weiterhin vergegenwärtigt wird, lässt überhaupt keine Grazie zu. Die väter- lichen Ordnungen dringen am Ende in die Höhle und dringen jeweils mit dem Schwert in die Brusthöhle des eigenen Kindes ein. Mit dem Wort: »Ich fördre dein Gespenst zu deinem Vater«110 wird die neue Ordnung der neuen Familie nebst der Unordnung der sexuellen Potenz performativ in die alte Ordnung zurückgefördert. Mit der Zusage Agnes’: »Du wirst es leh- ren«,111 erobert Ottokar zwar ihre Seele und auch ihren Körper, aber es ist ironischerweise zu spät. Ottokars Revolution stellt eine Dialektik der Aufklärung dar. Indem er seine Ordnung durchzusetzen versucht, wird er selbst zu einem neuen Mythos, um den alten Mythos des ver- tragsbedingten Sündenfalls zu desavouieren. Und sein Mythos wird wiederum von einem ande- ren abgelöst, egal wessen, weil seine Ordnung weder omnipotent noch omniszient ist. Agnes soll an ihn glauben, wie er sagt, aber Agnes wird durch ihn sterben, was er nicht ahnen und verhindern kann. »Es ist – / Gelungen. – Flieh!«,112 so meint er. Jedoch ist nichts gelungen und nicht einer kann fliehen. Wenn die Dialektik laut Peter Szondi als Kriterium für die Bestimmungen des Tragischen, aber möglicherweise auch für die des Komischen, der Ironie und des Humors gelten darf,113 dann ist dies bei der Dialektik Ottokars gerade das Zweite der Fall, er unterläuft das Trauerspiel. Denn aus seinem heroischen Opfer ergibt sich keine neue Welt: die Versöhnung der beiden Väter bleibt oberflächlich, indem Sylvester die Hand »mit

107 Vgl. Peter Bernath: Die Sentenz im Drama von Kleist, Büchner und Brecht. Wesensbestimmung und Funktionswandel, Bonn 1976, 36ff. 108 Die Familie Schroffenstein, V. 2451 109 Ebd., V. 2482f. 110 Ebd., V. 2513. 111 Ebd., V. 2433. 112 Ebd., V. 2557f. 113 Peter Szondi: »Versuch über das Tragische«, in: ders.: Schriften I, hrsg. von Wolfgang Fietkau, Frankfurt a. M. 1978, S. 149-160, vor allem S. 207ff. 131 Die Familie Schroffenstein abgewandtem Gesicht« reicht.114 »[S]o hat die Vernichtung entweder ein Belangloses zum Gegen- stand, das als solches sich der Tragik entzieht und der Komik darbietet, oder die Tragik ist bereits überwunden im Humor, überspielt in der Ironie, überhöht im Glauben.«115 Wenn Jo- hann nach der scheinbaren Versöhnung sagt: »Bringt Wein her! Lustig! Wein! Das ist ein Spaß zum / Totlachen!«,116 so richtet sich dieser Satz weniger auf »ein läppisches Spiel des Zufalls, für das das lächerliche Zeichen des einen abgeschnittenen Fingers steht,«117 sondern vielmehr auf die Belanglosigkeit des vermeintlich belangvollen Todes, der bloß ein Versehen war: »Papa hat es nicht gern getan, Papa / Wird es nicht mehr tun. Seid nicht böse.«118 Das Phantastische führt durch die Revolution zur Katastrophe, weil die rationale Berechnung nicht über die unberechbare Welt in der wandelbaren Zeit verfügen und deshalb keine sichere Ordnung hervorbringen kann. Anders als Ottokar bleibt Agnes der neuen Ordnung gegenüber eher reaktionär. Dies mani- festiert sich am evidentesten darin, dass sie den Halbbrüdern untersagt, sich nach ihrem Na- men zu erkundigen. Damit versucht sie sich den Rückweg nach Hause, zur Warwander Ord- nung, zu sichern, anstatt sich durch das Verbot einen automonen Spielraum zu verschaffen. So ist sie stets geneigt, nach Hause zurückzukehren, sobald die Situation für sie unheimlich oder unkontrollierbar wird. Dies findet sich in II/1, als sie vom Mord hört und zugleich Johann erblickt: »Leb wohl«;119 in III/1, als Ottokar sich zur Aufklärung entscheidet: »Nun bin ich wieder ernst, / Nun geh ich«;120 am Anfang von V/1, als die Lage ihr unbegreiflich wird: »Ach, nun ists doch umsonst. Ich will nur lieber / Heimkehren. Komm. Begleite mich«;121 im Liebes- spiel, als Ottokars Verhalten seltsam wird: »Ich möchte lieber gehn«.122 Dieses reaktionäre Ver- halten trägt nur zur Erhaltung der Ordnung bei. So fällt es ihr nicht schwer, auf die Feststellung der Identität Ottokars und die damit einergehende Bedrohung zu reagieren, indem sie zur Mutter zurückkehrt und sich bei ihr verbirgt:

AGNES verbirgt ihr Haupt an die Brust ihrer Mutter. Ach, Mutter. –

GERTRUDE. O um Gotteswillen, Agnes, Sei doch auf deiner Hut. – Er kann dich mit Dem Apfel, den er dir vom Baume pflückt, Vergiften.123

114 Ebd., Regieanweisung vor V. 2717. 115 P. Szondi (wie Anm. 115), S. 209. 116 Die Familie Schroffenstein, V. 2717f. 117 U. Fülleborn (wie Anm. 87), S. 244. 118 Die Familie Schroffenstein, V. 2710f. 119 Ebd., V. 780. 120 Ebd., V. 1502f. 121 Ebd., V. 2385f. 122 Ebd., V. 2498. 123 Ebd., V. 1110-1113. 132 Die Familie Schroffenstein

Dadurch, dass sie sich hierbei sprach- und gesichtslos verhält, werden ihre komplexen Affekte vereinfacht, die nicht nur nicht dargestellt werden, sondern sich auch nicht darstellen lassen.124 Ihre Mutter ihrerseits bietet ihr sofort einen Schutzschirm. Der Apfel, den sie beschwört, ist ein Symbol der fremden Sichtweise und mithin der fremden Ordnung, die möglicherweise derart vergiftet ist, dass sich ihre Tochter für eine Ewigkeit von dem Haus Warwand verab- schieden würde. Statt des Apfels ist aber ein anderes Mittel vergiftet: das Wasser, das ihr Ottokar in III/1 aus der Quelle schöpft. Es ist also nicht bloß eine Phantasie, wenn Agnes sagt: »Er bringe Wasser, bringe / Mir Gift«.125 Zwar ist das Wasser physikalisch harmlos, doch es funktioniert in der psychischen Dimension nicht weniger schädigend, indem sie »[g]leich einem nackten Fürsten«126 das vermeintlich vergiftete Wasser akzeptiert und zu sich nimmt – nackt deshalb, um ein anderes Kleid, wie V/1 lautet, überzustreifen. Ist sie dadurch zu einer Avan- gardistin geworden? Nein, sie ist nach wie vor reaktionär; ihre scheinbare Autonomie beruht eigentlich auf ihrer Heteronomie. So wagt sie es, die sie jetzt unter der Ottokarischer Ordnung steht, nicht ins Elternhaus, sondern zur Höhle zurückzukehren, als sie sich mit der »Schre- ckensnacht«127 konfrontiert sieht: »Jetzt / Durch dieses Heer von Geistern geh ich nicht / Zu Hause. Wenn die Höhle leer ist, wie / Du sagst – «128 Diese Reaktion vereitelt nicht nur Otto- kars Heilandsplan, sondern führt zur eigenen Vernichtung. Diese reaktionäre Reaktion ver- nichtet die Beweglichkeit des Phantastischen und führt somit die Katastrophe herbei, weil es sodann keine sichere Zuflucht mehr gibt, die sie vor Untergang schützen kann. Nun, zum Schluss zu Johann, er sei wohl als ein »zweites Ich«, von Ottokar losgelöst, kon- zipiert worden,129 agiert aber keinesfalls als »das eindeutig inferiore Ich«, es sei denn, wenn man, wie Goethe, einen bestimmten Begriff vom Gesunden und Kranken vorwegnehmen möchte. Nachdem seine Ordnung zusammengebrochen ist, handelt Johann weder revolutionär noch reaktionär, sondern resignierend. Als Ottokar, der ihm gegenüber ursprünglich den Beichtvater gespielt hat, sich nun als sein Nebenbuhler entdeckt, beginnt sein von dem heiligen Bruder Verdrängter »gleich / Den Geistern ohne Rast und Ruhe, die / Kein Sarg, kein Riegel, kein Gewölbe bändigt«,130 wieder zu toben. Es spukt in ihm und macht, durch Hass und Liebe angefacht, seine Vernunft versagen. Freilich will Johann sich weder rächen, wie Ottokar vernünftigerweise zu wissen meint,131 noch sich zurückziehen, wie er dies selbst darstellt: »Denn in die Brust schneid ich mir eine Wunde, / Die reiz ich stets mit Nadeln, halte stets /

124 Hierin erkennt Claudia Benthien sowohl Scham als auch Trauer. Sie ist der Meinung: »Kleist greift diese Problematik der Undarstellbarkeit extremer, widersprüchlicher Affekte auf, indem er die Protagonisten der ›Familie Schroffenstein‹ ihr Gesicht verhüllen oder abwenden läßt.« C. Benthien: »Gesichtsverlust und Ge- waltsamkeit. Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ›Familie Schroffenstein‹«, in: KJb [1999], S. 128-143, hier: S. 137-141. 125 Die Familie Schroffenstein, V. 1298f. 126 Ebd., V. 1297. 127 Ebd., V. 2548. 128 Ebd., V. 2551-2554. 129 So behauptet Beda Allemann. B. Allemann (wie Anm. 18), S. 74f. 130 Die Familie Schroffenstein, V. 338f. 131 »Ich weiß [!], du selbst, du wirst mich morgen rächen.« (Ebd., V. 842). 133 Die Familie Schroffenstein

Sie offen, daß es mir recht sinnlich bleibe.«132 Was er will, ist eine Art Resignation, die ein Selbstverzicht und dadurch paradoxerweise eine Selbsterhaltung bedeutet. Dies betrifft zuerst seine Beziehung zu Agnes. So sagt er ihr einerseits: »Ich vergöttre dich!«,133 andererseits: »Mir bist du tot, und einer Leiche gleich, / Mit kaltem Schauer drück ich dich ans Herz.«134 Er resigniert, indem er auf sein irdisches Glück verzichtet; freilich behält er sich eben dadurch das Privileg vor, nämlich das überirdische Glück mit Agnes’ Geist zu genießen, dessen Existenz durch das Ritual der Vergötterung seiner subjektiven Zweckmäßigkeit schon genügt und keines objektiven Beweises bedarf. Es ergeht ihm ähnlich bei seinem Versuch zum Suizid durch die- jenigen, die einst Gegenstand seines Glaubens waren und deshalb das Recht haben sollen, ihn zu verurteilen. So fordert er Ottokar heraus: »Zieh, / Du Memme! Nicht nach deinem Tod, nach meinem, / Nach meinem nur gelüstets mir«;135 so fordert er Agnes heraus: »Nimm diesen Dolch, Geliebte – Denn mit Wollust, / Wie deinem Kusse sich die Lippe reicht, / Reich ich die Brust dem Stoß von deiner Hand.«136 Freilich zollt er nicht bloß der Ordnung Tribut, son- dern behält sich eben dadurch die Autonomie vor, indem er nicht bloß auf das Leben ver- zichtet, sondern den Tod von den anderen verlangen kann. Es ist eine Paradoxie zwischen Tod und Freiheit, die Ottokar auch sentenziös herausstellt.: »Das Leben ist viel wert, wenn mans verachtet.«137 Im Gegensatz zu Ottokar bringt Johann seine Autonomie nicht zur Anwendung und bricht die Dialektik ab. Denn »sobald wir unsre Kenntnisse anwenden, uns zu sichern und zu schüt- zen,« so Kleist, »gleich ist der erste Schritt zu dem Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan.«138 Während Ottokar sich seine luxuriöse Hochzeit vornimmt und den teuersten Preis bezahlt, schwebt Johann in seiner ästhetischen Welt, ohne die Wahrheit zu suchen oder sich erneut zu orientieren: »Er phantasiert sehr heftig, spricht / Das Wahre und das Falsche durcheinander. – «139 Umso paradoxer ist es, dass er »nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.«140 Eben unter solch einem Zustand ist Johann kein inferiores, sondern ein Super-Ich: Indem sein »ungehobelt Zeug, / Wild durcheinander«, und sein »Wahnwitz«141 ihn aus der Kausalität herausziehen, wenn auch nicht sogar darüber sich erheben lassen, ist Johann befähigt, zwischen den »Seegestaden«142 zu schweben, und zugleich mit der makro- skopischen Sichtweise die komplexe Verwirrung der Familie transzendental zu kritisieren. Es gilt, was Antonio in Die Familie Ghonorez sagt: »Nun, / Du magst das Irren schelten, wie du

132 Ebd., V. 844ff. 133 Ebd., V. 1033. 134 Ebd., V. 1040f. 135 Ebd., V. 856ff. 136 Ebd., V. 1054ff. 137 Ebd., V. 2368. 138 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801, SWB II, S. 682. 139 Die Familie Schroffenstein, V. 1655f. 140 Joh. 3:16. 141 Die Familie Schroffenstein, V. 1122ff. 142 Ebd., V. 563. 134 Die Familie Schroffenstein willst, / So ists doch oft der einzge Weg zur Wahrheit.«143 Dieser Satz findet sich zwar nicht in der Familie Schroffenstein, aber er verkörpert sich in Johann, der in der Phan-tasie irrt:

EUSTACHE. – Ja, dieser Haß, der die zwei Stämme trennt, Stets grundlos schien er mir, und stets bemüht War ich, die Männer auszusöhnen – doch Ein neues Mißtraun trennte stets sie wieder Auf Jahre, wenn so kaum ich sie vereinigt. – Nun, weiter hat Johann doch nichts bekannt.

JERONIMUS. Auch dieses Wort selbst sprach er nur im Fieber – Doch wie gesagt, es wär genung.144

Johann ist der welt- bzw. textimmanenten Kausalität entronnen. Als Betrachter, der sich außer- halb der Weltordnung bewegt, ist er in der Lage, das ganze familiäre Drama zu deuten (aber nicht mittels der textimmanenten Interpretation). Dies verleiht ihm eine Beweglichkeit, die seine Dynamik bis ans Ende des Dramas ausdehnt. Angesichts des verlorenen Paradieses ver- sucht er, weder zu revolutionieren noch reaktionär zurückzukehren, vielmehr geht es kraft sei- ner progressiven Resignation vorwärts:

SYLVIUS. Wohin führst du mich, Knabe?

JOHANN. Ins Elend, Alter, denn ich bin die Torheit. Sei nur getrost! Es ist der rechte Weg.

SYLVIUS. Weh! Weh! Im Wald die Blindheit, und ihr Hüter Der Wahnsinn! Führe heim mich, Knabe, heim!

JOHANN. Ins Glück? Es geht nicht, Alter. ’s ist inwendig Verriegelt. Komm. Wir müssen vorwärts.145

Und weil er sich über das Drama erhebt, kann er das Spiel rezensieren und die an der Trauer schuldige Unlesbarkeit der Gegebenheit überwinden, unter der die anderen Protagonisten leiden: »Ich bin zufrieden mit dem Kunststück.«146 Der Tor ist paradoxerweise ein Tor, durch das man aus dem Wirrwarr zur Erlösung findet. Als Jeronimus ausruft: »Aus diesem Wirrwarr finde sich ein Pfaffe! / Ich kann es nicht«,147 respondiert er eigentlich – unbewusst – auf seine vorausgegangene Vermutung: »Von wem ich doch / Den meisten Aufschluß hoffe, ist Jo- hann.«148 Das Phantastische wird durch die progressive Resignation zur Erlösung, indem sich die ambivalente Sichtweise über die gegebene Kausalität erhebt.

143 Die Familie Ghonorez, V. 1182ff. 144 Die Familie Schroffenstein, V. 1647-1654. 145 Ebd., V. 2625-2631. 146 Ebd., V. 2725. 147 Ebd., V. 1212f. 148 Ebd., V. 1204f. 135 Die Familie Schroffenstein

Wenn man der Ansicht Glauben schenken darf, dass Kleist der Urheber der mathmatischen Regeln der Dramatik sei (Abb. 1),149 so kann man behaupten, dass die Entwicklung einer jeden Figur von der Wechselbeziehung zwischen Schicksal und Charakter abhängt: »Das Schicksal muß den Helden erheben, ihn von seinen Zwecken entfernen; er selbst nähert sich wieder denselben durch seine eigene Kraft«.150 Abgesehen davon, dass der Held nach der dialektischen Regel, die vor allem von der Tragödie spricht, »endlich in dem Punkte c [Höhepunkt der Katastrophe] von dem Schicksal zermalmt wird«,151 ist für mich von Interesse, dass der Charakter der Protagonis- ten mit der Macht des Schicksals auf derselben Abb. 1 Die angeblich Kleistschen Regeln der Dramatik Achse steht, das heißt, dass der Charakter der Menschen gewissermaßen das eigene Schicksal bestimmt. Und die drei »re-agere« der Protagonisten in der Familie Schroffenstein, nämlich revolutionär, reaktionär und resignativ, lassen erkennen, dass der Punkt c nicht immer nur die Zermalmung der Figuren bedeutet, sondern auch die Zermalmung der Ordnung sein kann, die, wie »Allerszermalmer Kant« einst getan hat, einer transzendentalen Sichtweise Tür und Tor öffnet. Das Phantastische fungiert in der Familie Schroffenstein als Katalysator zu solch einer Zer- malmung, indem die Ambivalenz und das Transzendentale den gegebenen Zustand annulliert und somit einen status nascendi schafft, in dem alles möglich und zugleich unmöglich ist. Aber man treibt dieselbe Geschichte weiter, sobald man sich für irgendeine Möglichkeit, sei es eine revolutionäre und eine reaktionäre, entscheidet und dann Anspruch auf ihre Totalität erhebt, um sie zu etablieren. So befindet man sich nur in derselben Dialektik, die nach wie vor keinen Ausweg hat, weil man nach wie vor unbefriedigt bleibt. Erst derjenige, der sich resignativ mit der Ambivalenz begnügt – gleichglültig, ob er sich positiv mit dem Sowohl-Als-Auch zufrie- dengibt oder negativ mit dem Weder-Noch abfindet – ist in der Lage, aus der (schicksalhaften) Geschichte herauszuspringen, gerade weil er außerlage ist, sich an diese oder jene Ordnung an- zuschließen. Diese Idee, die sich bereits in Kleists Erstling findet, ist konstruktiv für seine ge- samten Dramen und Erzählungen.

149 LS, Nr. 77aa. Über die Plausibilität der Angabe hat Hilda M. Brown diskutiert. Vgl. H. M. Brown: »Kleists Theorie der Tragödie – im Licht neuer Funde«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 117-132. 150 LS, Nr. 77aa. 151 Ebd. 136 Robert Guiskard

VI.2. Robert Guiskard Herzog der Normänner

Das Guiskard-Fragment beginnt mit einem Ausnahmezustand: Der Sturm von Guiskard auf Konstantinopel steht bevor, die Pest wütet, der Rückweg ist vom Meer versperrt und der La- gerplatz der Krieger wird von der wuchtigen Stadtmauer erdrückt. In diesem Quartier, einge- zwängt zwischen Meer und Mauer, geht die Todesangst um, sie wird nicht nur von der bevor- stehenden Schlacht genährt, sondern vor allem von der Pest, die bereits viele Leben gefordert hat. Nicht umsonst sind die Zypressen als Symbol des Todes Bestandteil des Bühnenbildes,1 ein Sinnbild der Bedrohnung sowohl für die dramatis personae als auch für die Zuschauer. Das Kriegsvolk, dessen Bestimmung der Sturm auf die Befestigung ist, ist hier in seiner Bewe- gungsfreiheit beschnitten, somit wird die Belagerung in ihr Gegenteil verkehrt: Die Belagerer werden selbst zu Belagerten. Es ist eine Situation, die Ulrich Fülleborn in Anlehnung an Kafka als »stehenden Sturmlauf« bezeichnet.2 Das erste Ziel ist hier das eigene Überleben. Darum wünscht sich ein jeder einen Marschbefehl, gleich in welche Richtung, sei es nun nach vorne oder zurück. Zur Ambivalenz der Szene tragen, wenn auch implizit, überdies die Zeit-Ort-Faktoren bei. Dies ist schon im Aufsatz von Karl Wilhelm Ferdinand von Funck über Robert Guiscard: Herzog von Apulien und Calabrien, der 1797 anonym in Schillers Die Horen erschien und Kleist als Quelle dienen soll,3 angedeutet:

In den stürmischen Perioden der Anarchie und der Gährung, welche nach der Wiederherstellung des Abendländischen Throns auf den Verfall der ersten herrschenden Kaiserfamilien folgten, könnte es einem kühnen Abentheurer nicht an Gelegenheit fehlen, sich durch glänzende Thaten in der Geschichte zu verewigen.4

Geschildert wird eine Zeit, in der die alte Ordnung zusammengebrochen und eine neue Ord- nung noch in der Schwebe ist, »und so lange noch keine bestimmte bürgerliche Ordnung die Plätze im Staate vertheilte, blieb es jedem Einzelnen überlassen, sich den seinigen nach dem

1 In Penthesilea symbolisieren die Zypressen auch den Tod:

PENTHESILEA. [...] Wohlan, wir kämpfen, siegen mit einander, Wir beide oder keine, und die Losung Ist: Rosen für die Scheitel unsrer Helden, Oder Zypressen für die unsrigen. (Penthesilea, V. 879).

2 Ulrich Fülleborn: »Dem Scheitern von Kleists ›Robert Guiskard‹ nachgefragt«, in: KJb [2003], S. 263-281, hier: S. 271. 3 Zur Quellenforschung zu Kleists Robert Guiskard vgl. Richard Samuel: »Heinrich von Kleists ›Robert Guiskard‹ und seine Wiederbelebung 1807/8«, in: KJb [1981/82], S. 315-348, vor allem S. 328-337. 4 »Robert Cuiscard. Herzog von Apulien und Calabrien«, in: Die Horen. [1797/1], S. 1-59, hier: S. 1. 137 Robert Guiskard

Maaß seiner Fähigkeiten oder seiner Begierden zu suchen.«5 Eine Re-Orientierungsphase in- nerhalb der Dialektik der Geschichte also, wie die »Wiederherstellung« und der Wieder-»Ver- fall« andeuten, in der ein Halt erst noch zu errichten sein wird. Zwar ist hiermit nicht gemeint, dass Kleist den dargestellten Hintergrund unmittelbar in sein Drama einflocht, jedoch hat er ihn unweigerlich mitzitiert, indem er den Aufsatz als Quelle umsetzte und daraus die Figuren und die Handlung hervorbrachte. Zweifelsohne zeigt sich der Ort im Drama als ambivalent: »Errettungslos / In diesem meerumgebnen Griechenland! – «6 Hierbei ist die fiktionale Orts- angabe nicht mit der realen Geographie gleichzusetzen! Angegeben ist also ein Ort, wo es ringsum keinen Ein- oder Ausgang, keine bestimmte Richtung, keine verwertbare Information gibt. Nicht einmal der inselhafte Ort, auf den es das Kriegsvolk verschlagen hat, kann einen Halt inmitten des Meeres bieten, weil das Volk, »in unruhiger Bewegung«,7 selbst zum geworden ist, wie im Drama mehrmals angedeutet: »Ein Volk, in so viel Häuptern rings versammelt, / Bleibt einem Meere gleich, wenn es auch ruht, / Und immer rauschet seiner Wellen Schlag.«8 Das Volk wird zum Meer, zumal die form- und institutionsstiftende Sturktur der Pest zum Opfer gefallen ist: »Vom Freund den Freund hinweg, die Braut vom Bräutgam, / Vom eignen Kind hinweg die Mutter schreckend!«9 Auch die Liebe, auf der das Verhältnis von Guiskard zu dem Volk basiert, wie sowohl im Drama erwähnt10 als auch im Aufsatz Funcks dargestellt,11 versagt unter diesen Umständen. Das Band ist gerissen: »Ja, in des Sinns entsetzlicher Verwir- rung, Die ihn [den Hingestreckten] zuletzt befällt, sieht man ihn scheußlich / Die Zähne gegen Gott und Menschen fletschen, / Dem Freund, dem Bruder, Vater, Mutter, Kindern, / Der Braut selbst, die ihm naht, entgegenwütend.«12 Es ist ein Meer, in dem alle sinnstiftende Un- terscheidungen verschwimmen. Hierbei handelt es sich nicht um die »Vergesellschaftung von Natur«,13 sondern um die Umkehrung, also um die Naturalisierung von Gesellschaft – aller- dings im gleichen Sinne: Anstatt der schönen Natur gibt es nur Vernichtung, Verwirrung und Verzweiflung.

5 Ebd. 6 Robert Guiskard, V. 334f. 7 Ebd., Regieanweisung vor V. 1. 8 Ebd., V. 104ff. 9 Ebd., V. 20f. 10 »Ist das, ihr ewgen Mächte dort, die Liebe, / Die eurer Lippe stets entströmt [...]?« (Ebd., V. 72f.). 11 »Alle Normannen, die sich zu ihm gestellt hatten, und auch eine Anzahl Calabreser, aus denen er sich ein tapfres Fußvolk zu bilden anfieng, hiengen mit unbegränzter Liebe [!] und einem Zutrauen an ihm, das sie an nichts, was Er unternahm, verzweifeln ließ.« (Die Horen. [1797/1], S. 8). 12 Robert Guiskard, V. 511-515. 13 Dirk Grathoff: »„Wenn die Geister der Äschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten“ Antike und Moderne im Werk Heinrich von Kleists«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 21-33, hier: S. 27ff. 138 Robert Guiskard

So ist diesem Menschenmeer alle Unruhe inhärent. Der Angabe Kleists gemäß – »Ich nehme Unterricht in der Deklamation bei einem gewissen Kerndörffer. Ich lerne meine eigne Tragödie bei ihm deklamieren«14 – ist die These von Michael Kohlhäufl durchaus nachvollzierbar:

Der Chor [das Volk] basiert nämlich lautlich überwiegend auf Diphthongen und Umlauten. Scho- cher [Kerndörffers Lehrer] und Kerndörffer halten für solche Lautphänomene die Bezeichnung »Zwischentöne« bzw. »Doppellaute« bereit, was bei Kerndörffer mit dem Attribut zu behebender Unreinheit und Dissonanz, im Sinne einer Verschmelzung zu einem Laut, versehen ist. [...] Wie die Diphthonge in sich zur Einheit streben, so drängt auch der Chor auf Entscheidung und Aufhebung der dramatischen Spannung.15

Das unruhige Menschenmeer ist stets zu irgendeiner Entscheidnung geneigt. Die Wiederher- stellung der Ordnung ist nicht nur erwünscht, sondern überhaupt notwendig, weil der Mensch ein Wesen ist, dessen Vernunft ohne irgendeinen Halt nicht auskommen kann. So strebt das Volk auf den allein einzigen sicheren Ort auf der Bühne hin, der sich über dem natürlichen Meer und dem menschlichen Meer erhebt: der Hügel, auf dem das Zelt Guiskards steht:

EIN ANDERER. Das heult, Gepeitscht vom Sturm der Angst, und schäumt und gischt, Dem offnen Weltmeer gleich.

EIN DRITTER. Schaff Ordnung hier! Sie wogen noch das Zelt des Guiskard um.16

Das offene Weltmeer aber, dessen Rauschen, Gischten und Schäumen so ausdruckslos sind wie »ein Signal ohne Semantik«,17 ist nicht in der Lage, der höchsten vernünftigen Instanz, Guiskard dem »Schlaukopf«,18 Informationen in verständlicher Weise zu übermitteln, »Den angstempört die ganze Heereswog / Umsonst umschäumt!«19 Um »einen Donnerkeil / Auf ihn hernieder [zu schicken], daß ein Pfad sich uns / Eröffne, der aus diesen Schrecknissen / Des greulerfüllten Lagerplatzes führt!«20 – muss man auf die keilförmige praktische Vernunft rekurrieren. So organisiert sich das Volk und erschafft sich wieder eine Ordnung, indem es einen Ausschuss von zwölf Männern bildet und einen Greis zum Sprecher erwählt, dieser

14 Brief an Ulrike von Kleist vom 13. (u. 14.) März 1803, SWB II, S. 730. 15 Michael Kohlhäufl: »Die Rede – Ein dunkler Gesang? Kleists ›Robert Guiskard‹ und die Deklamation- theorie um 1800«, in: KJb [1996], S. 142-168, hier: S. 165f. 16 Robert Guiskard, V. 37-40. 17 Torsten Hahn: »›Du Retter in der Not‹ Akklamation in ›Robert Guiskard. Herzog der Normänner‹«, in: KJb [2011], S. 49-65, hier: S. 55. 18 Robert Guiskard, Kleists Anmerkung zu V. 248. 19 Ebd., V. 5f. 20 Ebd., V. 6-9. 139 Robert Guiskard

vermittelt, »[g]leich einem erznen Sprachrohr«,21 das, »[w]as seine Pflicht sei, in die Ohren ihm –!«22 Auf diese Weise entsteht eine neue Institution, und zwar eine patriarchalisch-hierarchi- sche: »Fort hier mit dem, was unnütz ist! Was solls / Mit Weibern mir und Kindern hier? Den Ausschuß / Die zwölf bewehrten Männer brauchts, sonst nichts.«23 Dies ist der erste Schritt der Revolution, die die unmündigen »Kinder« gegen den »Vater« antreibt,24 »eine Jünglingstat«,25 so Robert aus seiner Perspektive des Herrschers. Um sich ab- zusichern und nicht zuletzt auch um die aktuelle, ambivalente Situation zu erfassen, bedient das Volk sich eines phantastischen Bildes, aber nicht eines ästhetischen, sondern eines auf den Zweck hin ausgerichteten, also eines teleologischen; die Pest wird zum apokalyptischen Teufel: »Mit weit ausgreifenden Entsetzensschritten / Geht sie durch die erschrocknen Scharen hin, / Und haucht von den geschwollnen Lippen ihnen / Des Busens Giftqualm in das Ange- sichte!«26 Demgegenüber maßt das Volk sich an, selbst Gottes Schar zu sein: »Euch führt ein Cherub an, von Gottes Rechten«.27 Das göttliche bzw. teuflische Bild ist insofern phantastisch, als es nicht bloß rhetorisch fungiert, sondern – von dem Volk – geglaubt werden will, damit sich dieses gegen die böse Pest gewappnet fühlt. Es ist deshalb phantastisch, weil dieses Bild weder desillusioniert werden darf, sonst würde das Volk wieder in fassungslose Panik verfallen, noch bewiesen werden kann. Es beruht auf des Volkes »Rechtsgefühl (Gefühl des Rechts)« wie auch auf dem »Rechtgefühl (Gefühl der Gerechtigkeit)«.28 Sich recht zu geben bedeutet allerdings nicht der Sache gerecht zu werden, zumal das Gefühl bei Kleist des Öfteren oder zumindest ohne körperliche Anwesenheit des Begehrten betrügerisch ist.29 Doch die Stür- menden und Drängenden haben keine andere Wahl, , weil weder der rechtgebende Gott noch der begehrte Guiskard vor Ort sind, sondern nur die Angst vor der Pest, von der sie bestürmt und bedrängt werden, und der gegenüber der Verstand ohnmächtig ist, zumal die Pest sie nicht einfach mit ihrer Übermächt bedroht, sondern auch kein Ende abzusehen ist. Dass Gefühl und Glauben jetzt die Stelle der sinngebenden Instanz einnehmen und als Habitusprogramm

21 Ebd., V. 52. 22 Ebd., V. 53. 23 Ebd., V. 41ff. 24 Ebd., V. 62. Zur Beziehung zwischen dem Volk als Kind und Guiskard als Vater vgl. außerdem Iris Denne- ler: »Legitimation und Charisma. Zu ›Robert Guiskard‹«, in: Kleists Drama. Neue Interpretation, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 73-92, v. a. S. 77ff. 25 Robert Guiskard, V. 178. 26 Ebd., V. 14-17. 27 Ebd., V. 3. 28 Den Unterschied zwischen den beiden Begriffen hat Claudia Benthien in Bezug auf Die Familie Schrof- fenstein diskutiert: C. Benthien: »Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit. Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ›Familie Schroffenstein‹«, in: KJb [1999], S. 128-143, hier S. 130. Hingegen hat Steffen Martus das »Rechtgefühl« in Michael Kohlhaas und das auf die Göttinger Sieben zurückgehende »Rechtsge- fühl« ohne Unterscheidung zur Diskussion gestellt: S. Martus: »Die Brüder Grimm und die Literaturpolitik Heinrich von Kleists«, in: KJb [2011], S. 134-154, hier: S. 152ff. 29 Vgl. Christian Moser: Verfehlte Gefühle. Wissen – Begehren – Darstellen bei Kleist und Rousseau, Würz- burg 1993, S. 6-17. 140 Robert Guiskard

gelten, zeigt sich darüber hinaus in der Ablehnung der Anweisung Helenas, Guiskards Tochter, und somit des »ernste[n] Kriegsgesetz[es]« und der »Kriegersitt«:30 »Erhabne Guiskardstochter, du vergibst uns! Wenn dieser Ausschuß hier, vom Volk begleitet, / Ein wenig überlaut dem Zelt genaht, / So straft es mein Gefühl: doch dies erwäge, / Wir glaubten Guiskard nicht im Schlummer mehr.«31 Sollte diese Interpretation, die die Anweisung unterläuft, ein »Sturmzei- chen« des Aufstandes sein,32 dann ist sie zugleich ein Zeichen dafür, dass der Stand des Volkes mitsamt seinem Volkesstand ambivalente Züge angenommen hat. Denn das Gefühl ist zwei- deutig. Die Zweideutigkeit des Gefühls und deren Deutung werden in den acht Versten des vierten Auftritts, wo Die Vorigen ohne Helena, nämlich die Unmündigen ohne Leitung, auf der Bühne verbleiben, in einer Quadratur des Kreises thematisiert:

DER GREIS. Seltsam!

DER ERSTE KRIEGER. Jetzt hört sie seinen Tritt im Zelte, Und eben lag er noch im festen Schlaf.

DER ZWEITE. Es schien, sie wünschte unsrer los zu sein.

DER DRITTE. Beim Himmel, ja; das sag ich auch. Sie ging Um diesen Wunsch herum, mit Worten wedelnd: Mir fiel das Sprichwort ein vom heißen Brei.

DER GREIS. – Und sonst schien es, sie wünschte, daß wir nahten.33

Die Sicherheit des Gefühls wird zudem dadurch untergraben, dass statt des Erscheinens von Guiskard das Gerücht von seiner Erkrankung und das Binnendrama zwischen den beiden Prinzen aufeinander folgende als eine Art retardierendes Moment fungieren. Retardiert wird aber eher die Erwartung des Volkes als die des Publikums, was die Ambivalenz des Gefühls kulminieren lässt. In einem ersten Schritt wird das Gerücht von einem eher akustischen als visuellen Zeugen unter die Leute getragen:

Da ich die Wache heut, um Mitternacht, Am Eingang hier des Guiskardszeltes halte, Fängts plötzlich jammervoll zu stöhnen drin, Zu ächzen an, als haucht’ ein kranker Löwe Die Seele von sich. Drauf sogleich beginnt Ein ängstlich heftig Treiben, [...]34

30 Robert Guiskard, V. 67ff. 31 Ebd., V. 87-90. 32 Vgl. T. Hahn (wie Anm. 17), S. 56. 33 Ebd., V. 124-130. 34 Ebd., V. 142-147. 141 Robert Guiskard

Das Volk kann nur wie der Zeuge von außen mittelbar interpretieren, was innerhalb des Zeltes vor sich gegangen sein könnte. Diese unheimliche, ent-setzliche Position erschüttert in nicht ge- ringem Maße die nach einem Grund verlangende Vernunft und treibt die Verwirrung auf die Spitze, umso mehr, als dann das Volk unerwartet mit einer anderen heiklen Situation konfron- tiert wird, als sei es an einem Scheideweg: Es muss einen der beiden Prinzen, Robert oder Abälard, als neuen Herrscher auswählen, ohne wirklich Kenntnis über Guiskards Befinden zu haben, und es scheint, als ob die Wahl ein Beleg für die unheilbare Krankheit des Heerführers wäre. Die Wahl ist nicht nur eine Entscheidung zwischen Charisma (Abälard) und Legitimation (Robert), sondern auch eine Entscheidung zwischen der sich innerhalb der Ordnung befin- denden Gunst Gottes und dem außerordentlichen Zufall, nimmt man Roberts Rede wörtlich: »Entscheiden sollt ihr zwischen mir und ihm, / Und übertreten ein Gebot von zwein. / Und keinen Laut mehr feig setz ich hinzu: / Des Herrschers Sohn, durch Gottes Gunst, bin ich, / Ein Prinz der, von dem Zufall großgezogen«.35 Jenseits der politischen Diskussion über das Erbgesetz, das durch Guiskards Usurpation bereits kompliziert wurde, lässt sich die Wahl auch folgendermaßen deuten: Robert steht für seinen Vater, also die geläufige Ordnung, die das Volk von der italienischen Heimat aus bis hierher bestimmt; Abälard vertritt hingegen die Ver- gangenheit (als Ottos Sohn) oder die Zukunft (als demoktratisch gewählter Repräsentant). Zwar beruft sich Abälard, der angesichts des aktuellen Umstandes gleichfalls revolutionieren will, auf die Freiheit, aber das Volk wagt es nicht, bei seiner romantischer Grundhaltung die Hoffnung auf Vergangenheit bzw. Zukunft zu setzen, oder weil die Schar Gottes sich Gottes Gunst nähern soll: Die patriarchalische Institution lässt für dieses Mal ihr Weib – »Denn seine Freiheit ist des Normanns Weib«36 – schweigen und konzentriert sich auf die Gegenwart: »Und weil dein Feldherrnwort erlaubend bloß, / Gebietend seins, so gibst du uns wohl zu, / Daß wir dem dringenderen hier gehorchen.«37 In diesem Augenblick wird die revolutionäre Schar reaktionär: »Du bist der Guiskardssohn, das ist genug!«38 Hier ist vom Meer des Volkes keine Rede mehr. Mit dieser Entscheidung wird das Signifikat »Gott« unterschwellig umcodiert. Im Sinn hat das Volk nun weniger Gott den Gerechten als Guiskard – »Des Volkes Abgott«.39 Dies be- zeichnet nicht etwa eine Blasphemie, sondern eine Restauration der normannischen Ordnung. Denn laut Funck besteht Guiskards Heer im Wesentlichen aus Partisanen: »ohne Geld, ohne Macht, in einer feindlichen Gegend sich selbst überlassen, hatte Robert kein anderes Mittel,

35 Ebd., V. 269-273. 36 Ebd., V. 236. 37 Ebd., V. 309ff. 38 Ebd., V. 313. 39 Ebd., V. 296. 142 Robert Guiskard

seine Anhänger zu erhalten, als Beute und Plünderung.«40 Außerhalb der konventionellen Ordnung müssen sie eine eigene schaffen, um sich Schutz für ihr Leben zu erhalten. Mit dem Untertitel des Dramas, nämlich Herzog der Normänner, wird die Aufmerksamkeit auf eben jene Normannen gelenkt. Man erinnere sich ihrer wikingischen Vorfahren: Es ist verständlich, dass sich das Volk auf dem Meer als einem gesetz- und orientierungslosen Raum an einem Heer- führer, seinen Kapitän z. B., orientieren muss und daraus eine eigene Ordnung erschafft, die nur eine Art Völkerrecht (ius intra gentes) darstellt, jedoch kein ius civile.41 So schlägt Abälards Verrat in der Absicht, Guiskards Macht zu schwächen, genau in dem Augenblick um, als er unversehens die Erhabenheit Guiskards darstellt:

Doch das [die angebliche Erkrankung] hindert nicht, Daß er nicht stets nach jener Kaiserzinne, Die dort erglänzt, wie ein gekrümmter Tiger, Aus seinem offnen Zelt hinüberschaut. Man sieht ihn still, die Karte in der Hand, Entschlüss’ im Busen wälzen, ungeheure, Als ob er heut das Leben erst beträte.42

Die Karte, das Ziel und Entschlüsse im Busen – damit dient Guiskard dem Volk gleichsam als Lebensplan. Er ist die Inkarnation der Vernunft des Volkes. Sein Zelt ist der Ort, »Wo sich der kühne Schlachtgedank ersinnt«;43 seine Lebenskraft ist der Garant für das Glück des Volkes, sei es ein irdisches oder ein überirdisches: »O führt’ er lang uns noch, der teure Held, / In Kampf und Sieg und Tod!«44 Wenn man der These der Deklamation weiterhin Glauben schenken will, dass die Verbindung der Vokale »u« und »i« im Namen Guiskards die Vereini- gung oder Konfrontation extremer Empfindung und damit eine begehrte Einheit symboli- siert,45 so verkörpert Guiskard – aus der Sicht des Volkes – einen festen Halt im ambivalenten Meer, das sich überdies schon im Widerspruch zwischen dem jammernden Volk und den ju- belnden Kriegern manifestiert. Auch Abälard, der sich inzwischen unter das Volk gemischt hat, wird nach dem Ruf Guiskards wieder in die alte Ordnung integriert. Kurz: Die Erscheinung Guiskards bringt alle offenen Interpretationen zum Schweigen, stellt die Ordnung wieder her

40 Die Horen. [1797/1], S. 7. 41 Vgl. Michael Kempe: »Teufelswerk der Tiefsee. Piraterie und die Repräsentation des Meeres als Raum im Recht«, in: Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, hrsg. von Hannah Baader u. Gerhard Wolf, Zürich 2010, S. 379-413. 42 Robert Guiskard, V. 359-365. 43 Ebd., V. 71. 44 Ebd., V. 379f. 45 Vgl. M. Kohlhäufl (1996), S. 165f. 143 Robert Guiskard

und macht das Unmögliche zum phantastisch Möglichen, wie Abälards erschrockene Reaktion zeigt: »Erscheint? Unmöglich ists!«46 Wie in Familie Schroffenstein, wo die Protagonisten ihre phantastischen Bilder zuerst durch eine Erzählung hervorbringen, versteht Kleist auch hier durch die Technik der Teichoskopie das phantastische Bild zu einem höheren Grad zu verdichten, indem die Einbildungskraft in diesem Augenblick aufs Äußerste angeregt wird:

DER GREIS. O du geliebter Knabe, siehst du ihn? Sprich [!], siehst du ihn?

DER KNABE. Wohl, Vater, seh ich ihn! Frei in des Zeltes Mitte seh ich ihn! Der hohen Brust legt er den Panzer um! Dem breiten Schulternpaar das Gnadenkettlein! Dem weitgewölbten Haupt drückt er, mit Kraft, Den mächtig-wankend-hohen Helmbusch auf! Jetzt seht, o seht doch her! – Da ist er selbst!

Während die Vernunft das Innere des Zelts nicht als Ding an sich zu sehen vermag, scheint die Einbildungskraft mittels der Sprache die Wahrheit zu erfassen, und zwar mittels der Spra- che eines Knaben, somit einer unschuldigen und mithin ästhetischen Sprache. Hieraus geht offenbar eine andere angebliche Wahrheit hervor, die der angeblichen »Wahrheit«,47 artikuliert mit einer absichtlichen, politisch-guten Sprache Abälards, gegenübersteht. Mit dem Erscheinen Guiskards ist also eine Transformation des Phantastischen verbunden, und zwar nicht nur, weil sein Erscheinen die angebliche Wahrheit aus den Angeln hebt. Indem der »von Himmelshöhen«48 niedersteigende Abgott Guiskard an die Stelle des heraufbeschwo- renen Gottes tritt, bedarf es des Antagonismus zwischen Gott und Teufel nicht mehr, sondern desjenigen zwischen Abgott und Teufel. Guiskards scheinbare Immunität gegenüber der Pest glaubt man ihm gern, zumal der Herzog sich darauf versteht, auf seine Autorität zu verweisen:

Seit wann denn gilt mein Guiskardswort nicht mehr? Kein Leichtsinn ists, wenn ich Berührung nicht Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr, Wenns ungestraft geschieht. Es hat damit Sein eigenes Bewenden – kurz, zum Schluß:

46 Robert Guiskard, V. 389. 47 Ebd., V. 392. 48 Ebd., V. 409. 144 Robert Guiskard

Furcht meinetwegen spart! –49

In diesem Moment ist er nicht nur der Doppelgänger von König Ödipus, sondern auch der des Heerführers Wallenstein, was Kleist durch Pastiche von den beiden Dramen andeutete.50 So wie Ödipus sich als letzte Wahrheit ausgibt51 und Wallenstein fest an die Astrologie glaubt, so versteht auch Guiskard sich auf die Weissagung zu berufen, die in der als Quelle dienende Alexiade erwähnt und von Kleist implizit genutzt wird: »Schon vor langer Zeit war ihm geweis- saget worden, daß er sich bis Athen alles unterwürfig machen und dann in Jerusalem verschei- den würde.«52 So erdreistet sich Guiskard zu behaupten: »Im Lager hier kriegt ihr mich nicht ins Grab: / In Stambul halt ich still, und eher nicht!«53 Damit dies nicht zu sehr in Spekulation ausartet, begnüge ich mich damit, anzudeuten, dass der Doppelpunkt die nachfolgende Aus- sage deutlich als Illusion kennzeichnet und das phantastische Bild der göttliche Immunität dadurch scheinbar metaphysisch autorisiert würde. Guiskard ist in phantastischer Deutung die Wahrheit an sich. Aber – die (bittere) Wahrheit kommt normalerweise erst nach dem aber – wie sowohl Ödipus als auch Wallenstein letztendlich von sich selbst und das Volk von ihnen enttäuscht werden, so ergeht es auch Guiskard und seinem Volk. »In dem entscheidenden Moment, da schon – – «54 Das phantastische Bild darf nicht aufgelöst werden. Nach diesem Satz des Volksvertreters wird Guiskards Erkrankung symptomatisch sichtbar und stürzt alle Anwesende in eine unheimliche Krise. In diesem Augenblick entlarvt sich das Phantastische also als unheimliche Illusion. Umso mehr, als die durch die Epiphanie Guiskards verdrängte Angst vor dem Tod nun wieder regre- diert und sich umso stärker rächt. Die Verwirrung wird als Ronde in zwei schnell wechselnden Versen dargestellt:

DIE HERZOGIN leise. Willst du –?

ROBERT. Begehrst du –?

49 Ebd., V. 476-481. 50 Wallenstein: »Lehre du / Mich meine Leute kennen. Sechzehnmal / Bin ich zu Feld’ gezogen mit dem Alten, / – Zudem – ich hab’ sein Horoskop gestellt, / Wir sind geborgen unter gleichen Sternen – / Und kurz – geheimnisvoll: / Es hat damit sein eigenes Bewenden. / Wenn du mir also gut sagst für die andern – « Die Piccolomini, V. 885-891. 51 ÖDIPUS. Nun denn, von neuem werd ich, abermals, das Dunkel lichten. Denn recht hat Phoibos, recht hast du Zugunsten des Verstorbnen diese Sorge aufgewandt: Drum werdet ihr, wie billig, auch mich als Kampfgefährten sehn, der diesem Land Genugtuung verschaffen wird wie auch dem Gott [!]. (V. 132-136). 52 Zitat nach R. Samuel (wie Anm. 3), S. 330. Vgl. außerdem Friedrich Braig: Heinrich von Kleist, München 1925, S. 127ff. 53 Ebd., V. 447f. 54 Ebd., V. 486. 145 Robert Guiskard

ABÄLARD. Fehlt dir –?

DIE HERZOGIN. Gott im Himmel!

ABÄLARD. Was ist?

ROBERT. Was hast du?

DIE HERZOGIN. Guiskard! Sprich ein Wort!55

Zweifelsohne ist das, was Guiskard begehrt, Gott im Himmel. Allerdings ist seine Verbindung zu diesem in diesem Moment abgebrochen, weil sich die Göttlichkeit, die der Heerführer sich selbst und seinem Volk versprochen hat, angesichts des Anfalles in Nichts auflöst und somit auch sein »Guiskardswort« keine Gültigkeit mehr hat. In der allgemeinen Verwirrung schiebt ihm seine Tochter eine Heerpauke hin, damit er sich setzen kann. Somit kann er auch nicht länger als die geheimnisvolle Vernunft im Zelt fungieren und auch nicht länger den »hohe[n] Herzog«56 auf dem Hügelthron repräsentieren. Vielmehr ist er zu einem ganz normalen Menschen degradiert, dessen Takt auf dem Feld von der Pauke bestimmt wird – bar jeder Autonomie und Grazie. Bernhard Greiner hat wiederholt die Grazie als Gunst zwischen Geben und Nehmen ge- deutet.57 Dies ist zwar fragwürdig, aber in dieser Szene verliert der Herzog neben seiner Au- tonomie tatsächlich auch die Gunst seines Volkes. Es bedarf hierzu weder seiner Infizierung mit der Pest noch des Dilemmas zwischen Charisma oder Legitimation – im Fall des Erben und im Fall des »Punkt[es]«,58 wie es die Forschung gern aus den vorliegenden zehn Auftritten ableitet und dann gelegentlich der Pest zuschreibt.59 Es bedarf auch keiner tragischen Ent- scheidnung und der damit verbundenen Selbstverneinung. Tatsächlich ist Guiskard in diesem Moment als Souverän bereits gestorben.60 (In diesem Sinne lässt sich das Werk Robert Guiskard

55 Ebd., V. 487f. 56 Ebd., V. 424. 57 Vgl. Bernhard Greiner: »”Die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen”: Die unausführ- bare Tragödie Robert Guiskard«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 135-149; Außerdem auch seine Aufsätze über Marionettentheater. 58 Robert Guiskard, V. 372. Kleists Anmerkung lautet: »Dieser Punkt war (wie sich in der Folge ausgewiesen haben würde) die Forderung der Verräter in Konstantinopel: daß nicht die, von dem Alexius Komnenes ver- triebene, Kaiserin von Griechenland, im Namen ihrer Kinder, sondern Guiskard selbst, die Krone ergreifen solle.« 59 Lawrence Ryan z. B. hat konstatiert: »[D]ie Pest erscheint als Spiegelung einer inneren Brüchigkeit, einer Selbstaufhebungstendenz, die der menschlichen Größe, ja dem menschlichen Dasein überhaupt innewohnt – aber eben nur als künstlerische Veranschaulichung dieser Daseinsstruktur, nicht als Ausdruck von deren An- gewiesensein auf eine umfassende Ordnung. Mit anderen Worten: die Pest ist keine Schicksalsmacht mehr, sondern künstlerisches Symbol, das einen schon menschlich-geschichtlich faßbaren Daseinszusammenhang verallgemeinernd überhöht.« L. Ryan: »Kleists „Entdeckung im Gebiete der Kunst“: ›Robert Guiskard‹ und die Folgen« [1969], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966-1978, hrsg. von Walter Müller- Seidel, Darmstadt 1981, S. 77-103, hier: S. 87. 60 Aus einer ähnlichen Perspektive heraus hat Torsten Hahn ihn als einen lebenden Toten bezeichnet. T. Hahn: »Auferstehungslos. Absolute Ausnahme und Apokalypse in Kleists ›Robert Guiskard, Herzog der Normän- ner‹«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 21-41, hier: S. 25. 146 Robert Guiskard

wohl als vollendet verstehen, »in dem der Held auf der Bühne an der Pest stirbt.«61) Nachdem auch die Herzogin gefallen ist, ist die Dekonstruktion der Führungskraft vollzogen. Das Ver- hältnis zwischen Herr und Volk, zwischen Autonomie und Heteronomie, wird derart umge- kehrt, dass der Greis, der Wortführer des Volkes,62 bezeichnenderweise »gedankenvoll«,63 sich traut, den ehemaligen Abgott mit dem Imprativ anzureden:

Und weil du denn die kurzen Worte liebst: O führ uns fort aus diesem Jammertal! Du Retter in der Not, der du so manchem Schon halfst, versage deinem ganzen Heere Den einzgen Trank nicht, der ihm Heilung bringt, Versag uns nicht Italiens Himmelslüfte, Führ uns zurück, zurück, ins Vaterland!64

Diese Worte sind jedoch nur zum Teil an Guiskard gerichtet. In den Worten »Jammertal« und »Du Retter in der Not« klingt unüberhörbar ein Gebet an den apostrophierten Gott, der statt des jetzt versagenden Abgottes wieder angerufen wird, an. Jetzt hofft das Volk umgekehrt auf die Vergangenheit wie auf eine Zukunft, in jedem Fall auf eine andere Ordnung als die aktuelle, auf das zur Goethezeit verheißungsvolle Italien, auf ein Vaterland, sei es das alte oder ein neues, das das Volk von seinem Los der fliegenden Normänner befreit. Sollte das noch gelin- gen? Gerade weil das Volk nun weder revolutionär noch reaktionär handelt, sondern nur re- signierend betet, ohne eine Antizipation zu setzen, findet das Drama hier sein ästhetisches Ende, damit diese Normannen in Gegensatz zu den historischen ihren grausamen Untergang nicht erleben.

61 LS, 77a. 62 GUISKARD. Du fühst, Armin, das Wort für diese Schar? GREIS. Ich führs, mein Feldherr! (Robert Guiskard, V. 414f.). 63 Ebd., Regieanweisung nach V. 492. 64 Ebd., V. 518-524. 147 Der zerbrochne Krug

VI.3. Der zerbrochne Krug Ein Lustspiel

Jenseits des gattungsgeschichtlichen Problems, das wohl auf die nicht gedruckte Vorrede Kleists mit Hinweis auf die Tragödie König Ödipus zurückzuführen ist,1 geht das Lustspiel Der zerbrochne Krug vom Lust-Spiel des Richters Adam aus2 – jedoch nicht von der nächtlichen Szene, sondern davon, dass die Spuren seines Abenteuers in der Gerichtsstube vom Schreiber Licht in ein zweifelhaftes Licht gezogen werden und somit seine richterliche Autorität auf dem Spiel steht, womit das Abenteuer für ihn ein teurer Abend wird. Während Adam den Blick auf den unbildlichen, d. h. physischen Fall beschränken bzw. lenken will, nimmt ihn Licht in ein heimliches Verhör und spielt bildlich auf den moralischen Sünden-Fall an:

LICHT. Ihr stammt von einem lockern Ältervater, Der so beim Anbeginn der Dinge fiel, Und wegen seines Falls berühmt geworden; Ihr seid doch nicht –?

ADAM. Nun?

LICHT. Gleichfalls –?

ADAM. Ob ich –? Ich glaube –! Hier bin ich hingefallen, sag ich Euch.

LICHT. Unbildlich hingeschlagen?

ADAM. Ja, unbildlich. Es mag ein schlechtes Bild gewesen sein.3

Einen gleichen Fall teilt er genauer besehen nicht mit dem alten Adam; nichtsdestoweniger lässt sich sein Vorspielen, wie die Handlung zeigt, tatsächlich als ein »Bild« erkennen, wenn auch kein schlechtes. Die oben zitierten Verse sind bereits ein Beispiel für das Kleist’sche An- einander-Vorbeireden, das sich im Verlauf des Dramas gleichsam unendlich potenziert – um mit Adam zu sagen: »Es geht bunt alles überecke mir.«4 Indem man auf die rhetorische Weise

1 Zum Vergleich zwischen König Ödipus und Der zerbrochne Krug vgl. z. B. Wolfgang Schadewaldt: »Der „zerbrochene Krug“ von Heinrich von Kleist und Sophokles’ „König Ödipus“« [1960], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 317-325; Ulrich Fülleborn: »Nach Kleists gescheiterter Tragödie das Gelingen der Kömödien«, in: KJb [2004], S. 88-105. Beiden Texten ist die These gemeinsam, dass das Lustspiel jederzeit in die Tragödie umschlagen möchte und deshalb eine Art Tragikomödie sei. 2 Damit ist auch gemeint, dass meine Interpretation nicht vom Gattungsbegriff des Lustspiels ausgeht, weil – zum ersten – die Forschung bereits viel davon gesprochen und nach der Disposition des Komischen in diesem Stück gefragt hat. Zum zweiten hat Kleist einst an Goethe geschrieben, dass der zerbrochne Krug nicht so sehr für die Bühne geschrieben ist. (Brief an Goethe vom 24. Januar 1808, SWB II, S. 805f.) Das heißt, unter dem Lustspiel verstand er eher etwas anderes als Komödie. 3 Der zerbrochne Krug, V. 9-15. 4 Ebd., V. 266. 148 Der zerbrochne Krug die Einheit zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat dekonstruiert und somit die Refe- renz des Zeichens von einem Bezeichneten auf ein anderes Bezeichnetes richtet, wird das Ur- bild immer entzweit und dadurch zu kaleidoskopischen Bildern dekonstruiert. Anstatt das Ur- bild von der Fessel des Zeichens zu befreien und einen Zugang zur Wahrheit zu eröffnen, wird man bei Kleist in eine andere Richtung geführt und von der Wahrheit (hier: Adam als Ein- und Verbrecher) entfernt. Es ist schon verwunderlich, dass Paul de Man mit seiner rhetorischen Lektüre nicht auf das Drama aufmerksam geworden ist. Das ganze Drama besteht sozusagen aus unzähligen Bildern, die intersubjektiv aus der Dialogführung entstehen. Es ist zwar nicht so radikal »vom ersten bis zum letzten Wort als Rechtfertigung der vermeintlich ›uneigentli- chen‹ metaphorischen Sprache zu lesen«,5 wie Monika Schmitz-Emans behauptet hat, aber Tatsache ist immerhin, dass die Bilder sich mehr oder weniger auf das eigentliche Urbild be- ziehen. So sagt der Gerichtsrat Walter zu Adam: »In Eurem Kopf liegt Wissenschaft und Irr- tum / Geknetet, innig, wie ein Teig, zusammen; / Mit jedem Schnitte gebt Ihr mir von bei- dem.«6 Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er zerbricht. Und jetzt, nachdem der Krug bzw. das fassbare Zeichen zerbrochen ist, wird das Wasser bzw. der Inhalt zu einem Wort-Meer, das keine Grenze zwischen Schein und Sein kennt, sodass man nicht in der Lage ist, sich für die richtige Referenz zu entscheiden. Dies bringt Frau Marthe mit ihren geistvollen Worten bild- lich-unbildlich zum Ausdruck:

VEIT. Sei Sie nur ruhig, Frau Marth! Es wird sich alles hier entscheiden.

FRAU MARTHE. O ja, Entscheiden. Seht doch. Den Klugschwätzer. Den Krug mir, den zerbrochenen, entscheiden. Wer wird mir den geschiednen Krug entscheiden? Hier wird entschieden werden, daß geschieden Der Krug mir bleiben soll. Für so’n Schiedsurteil Geb ich noch die geschiednen Scherben nicht.7

Auf einer anderen Ebene ist das Urbild des Stückes, wie die Vorrede zu dem Lustspiel lautet, ein Kupferstich, den der Dramatiker in der Schweiz gesehen und der ihm als Anstoß zu seinem Drama genommen habe. Im Jahr 1802 hat Kleist während seines Aufenthalts in der Schweiz gemeinsam mit Ludwig Wieland und Heinrich Zschokke den Kupferstich La cruche cassée von

5 Monika Schmitz-Emans: »Das Verschwinden der Bilder als geschichtsphilosophisches Gleichnis. ›Der zer- brochne Krug‹ im Licht der Beziehungen zwischen Bild und Text«, in: KJb [2002], S. 42-69, hier: S. 50. 6 Der zerbrochne Krug, V. 1060ff. 7 Ebd., V. 415-422. Übrigens: Die »Entscheidung«, Frau Marthe als intellektuell beschränkt zu diagnostizie- ren, ist in diesem Rahmen nicht nur unzulässig, sondern sogar verwunderlich. Eine derartige Diagnose findet sich z. B. in Ilse Graham: »Der zerbrochene Krug – Titelheld von Kleists Komödie« [1955], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 274-295. 149 Der zerbrochne Krug

Le Veau betrachtet und eine literarische Bearbeitung davon konzipiert.8 Auffällig ist, dass der Dramatiker meint, »[d]as Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meis- ter.«9 Bei Gernot Müller findet sich schon ein Plädoyer für den angeblichen Irrtum, indem er auf die unbestimmte Wendung in der Vorrede – »wahrscheinlich«, »keine nähere Auskunft«, »wer weiß«, »vielleicht« etc. – hinwies und demnach die Vorrede als »Indiz der nacherfindenden Freiheit gegenüber der gemalten Vorlag« ansah.10 Zwar lässt sich solch eine Mutmaßungsgeste auch auf die interpretierende Betrachtung des Bildes zurückzuführen, aber die Auktorialität der Vorrede wird dadurch, dass Kleist die Vorrede als Memoire verfasst, wodurch es in gewis- ser Weise ein fiktiver Text ist, weiterhin unterminiert. Man ziehe gerne erneut Walters Wort heran: In der Vorrede liegen Wissenschaft und Irrtum geknetet, innig, wie ein Teig, zusammen. Kurz, die Einrichtung der Welt (des Schöpfers) ist schon vor der Schöpfung (der vorgestellten Welt) gebrechlich – aber nur dann zerbrechlich, wenn man, um die Welt zu begreifen, im Be- griff ist, den Teig voneinander zu unterscheiden, nämlich, wenn man aus dem naiven, unschul- dig-unwissenden Paradies-Zustand heraustritt. Es ist keineswegs zufällig, dass Adam Adam heißt, aber es handelt sich nicht so selbstverständlich um den Sündenfall, sondern um den »Adamsfall«11 – in jedem Sinne des Wortes Fall. Da die vorgestellte Welt des Zerbrochnen Krugs so ambivalent ist, wird der Krug zu einem Substrat, in dem, wie später gezeigt werden wird, das Phantastische über kurz oder lang keimen wird. Die Ambivalenz lässt sich außerdem darauf zurückführen, dass im Vordergrund des Stü- ckes keine sich entwickelnde Handlung steht. Insofern hat Goethe recht, wenn er die Struktur dieses Lustspiels als »stationäre[ ] Proceßform« bezeichnete.12 Es geht hierbei wieder einmal um einen heiklen Zustand: der Prozess soll vorangehen, aber der Richter, der für den Prozess zuständig ist, will ihn stationär aufhalten, woraus ein orientierungsloses Spannungsfeld entsteht, indem der Prozess bzw. die Handlung nicht vorangehen will. Goehte, der die Regie des Lust- spiels das Stück für das Weimarer Theater übernahm, wünschte deshalb »eine Handlung vor unsern Augen und Sinnen sich entfalten« – nonstop – zu sehen, statt dieses »wieder dem un- sichtbaren Theater« angehörigen Dramas.13 Dergleichen wünscht sich der Bauersohn Rup- recht, der die latente Handlung zum Vorschein zu bringen versucht, indem er den Titelhelden, nämlich den Krug, auf Eves Hymne referiert: »’s ist der zerbrochne Krug nicht, der sie [Frau Marthe] wurmt, / Die Hochzeit ist es, die ein Loch bekommen, / Und mit Gewalt hier denkt

8 Vgl. LS, Nr. 68. 9 SWB I, S. 176. 10 Gernot Müller: »Man müsste auf dem Gemälde selbst stehen« Kleist und die bildende Kunst, Tübingen u. Basel 1995, S. 124f. Er hat seine These aber sodann relativiert, indem er Rücksicht auf Louis Philibert Debu- court, dessen Le juge de village als Original des Kupferstiches von Le Veau gilt, nahm und seinen von der Pariser Akademie als »le genre des flamands« bezeichneten Geist mit einbezog. 11 Der zerbrochne Krug, V. 62. 12 LS, Nr. 185. 13 Ebd. 150 Der zerbrochne Krug sie sie zu flicken.«14 So naiv ist Kleist allerdings nicht. Er lässt die Wahrheit weiterhin in Un- sichtbarkeit bleiben, um seine Poetologie zu verwirklichen. Denn eine gebrechliche Einrich- tung der Welt, die gewiss nicht die schönste ist, wird die Phantasie hervorlocken, wenn der Verstand ihr nicht gerecht sein kann. Es hat allerdings mit dem Adam seine besondere Bewandtnis. Anstatt die Weltwirklichkeit mit dem Verstand oder der Phantasie zu verstehen, ist es umgekehrt sein Bestreben, den Ver- stand (zuerst Lichts) zu behindern, damit dieser die Wahrheit nicht ans Licht bringen kann. In diesem Fall greift Adam die Phantasie auf und spinnt sein Märchen improvisatorisch, um z. B. Lichts Blick von seinen Wunden abzulenken (seine Virtuosität nötigt mich zu einem längeren Zitat):

LICHT. Ja, ja! So gehts im Feuer des Gefechts.

ADAM. Gefecht! Was! – Mit dem verfluchten Ziegenbock, Am Ofen focht ich, wenn Ihr wollt. Jetzt weiß ichs. [!] Da ich das Gleichgewicht verlier, und gleichsam Ertrunken in den Lüften um mich greife, Fass ich die Hosen, die ich gestern abend Durch näßt an das Gestell des Ofens hing. Nun fass ich sie, versteht Ihr, denke mich, Ich Tor, daran zu halten, und nun reißt Der Bund; Bund jetzt und Hos und ich, wir stürzen, Und häuptlings mit dem Stirnblatt schmettr’ ich auf Den Ofen hin, just wo ein Ziegenbock Die Nase an der Ecke vorgestreckt.

LICHT lacht. Gut, gut.

ADAM. Verdammt!

LICHT. Der erste Adamsfall, Den Ihr aus einem Bett hinaus getan.15

Diese Stelle stellt sich als eine musikalische, nämlich wie Musik wirkende Improvisation dar. Hierin manifestiert sich Kleists Verständnis von Musik, nämlich, dass die Musik »als die Wurzel, oder vielmehr, um mich schulgerecht auszudrücken, als die algebraische Formel aller übrigen [Künste]« diene. »[S]o habe ich«, fährt er fort, »von meiner frühesten Jugend an, alls Allgemeine, was ich über die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen.«16 Adam hat ein Wort als x (z. B. Gefecht) von seinem Widersacher aufgegriffen, aus dem er dann eine Rhapsodie f(x) kom- poniert – mit der Kadenz »Ich Tor, ... / Der Bund; Bund jetzt und Hos und ich, wir stürzen«. Zu bemerken sind auch die folgenden Verse: »Jetzt, in dem Augenblick, da ich dem Bett /

14 Der zerbrochne Kurg, V. 440ff. 15 Ebd., V. 49-63. 16 Brief an Marie von Kleist [vom Sommer 1811], SWB II, S. 875. 151 Der zerbrochne Krug

Entsteig. Ich hatte noch das Morgenlied / Im Mund, da stolpr’ ich in den Morgen schon, / Und eh ich noch den Lauf des Tags beginne, / Renkt unser Herrgott mir den Fuß schon aus.«17 Anstatt, dass er das Morgenlied gesungen hat, singt er erst in diesem Augenblick sein Adamlied, und zwar ebenso improvisatorisch: Während die Struktur der zwei ersten Verse durch eine »Pause« aufgespalten ist: »[…] das Morgenlied / Im Mund, […]«, worin also der improvisato- rische Versuch manifest wird, formen sich die letzten jeweils als ganzer Vers und als etabilierte Idee. Man könnte das musikalische, zumindest kompositorische Talent samt dem Ziegenbock und seinem Pferdefuß mit Pan assoziieren.18 Wichtig ist jedenfalls, dass sein musikalischer Vortrag darauf abzielt, über die demolierte Ordnung hinwegzutäuschen, die er als Richter rich- ten sollte. Er versucht, eine neue Ordnung aufzubauen, die als Nullpunkt gilt, von dem aus die alte, jetzt befleckte Ordnung sich wie die andorranische Mauer weißeln und seine entzweite Identität wieder in eins bringen lässt,19 damit man weiter vorwärsschreitet, egal in welche Rich- tung:

ADAM. Klumpfuß! Ein Fuß ist, wie der andere, ein Klumpen.

LICHT. Erlaubt! Da tut Ihr Eurem rechten Unrecht. Der rechte kann sich dieser – Wucht nicht rühmen, Und wagt sich eh’r aufs Schlüpfrige.

ADAM. Ach, was! Wo sich der eine hinwagt, folgt der andre.20

Dies ist Adams Revolution – mit der Zielsetzung: über die Gewalt der von sich selbst autori- sierten Phantasie, die eine Wirklichkeit schaffen und abstempeln sollte, aus dem strauchelnden Zustand herauszutreten. Aber es muss ihm schon in statu nascendi misslingen, weil die sub- jektive Zweckmäßigkeit, auf der sein visionäres Bild beruhen muss, stets von Lichts skepti- schem Blick hintertrieben wird, so dass Adam das Medium (die Wunden am Kopf und die verlorene Perücke z. B.) immer wieder umcodieren muss, um eine Konmunikation und somit

17 Der zerbrochne Krug, V 18-21. 18 Im Hinblick auf den Ziegenbock hat Ewald Rösch in Adam auch die »Fauns-Natur« gesehen. E. Rösch: »Bett und Richerstuhl. Gattungsgeschichtliche Überlegungen zu Kleists Lustspiel ‚Der zerbrochene Krug‘«, in: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder, hrsg. von Ernst- Joachim Schmidt, Berlin 1974, S. 434-475, hier: S. 446; David. E. Wellbery hat hierbei auch »Satyr und Satan« gesehen. D. E. Wellbery: »Der zerbrochne Krug. Das Spiel der Geschlechterdifferenz«, in: Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 11-32, hier: S. 14. 19 So hat D. E. Wellbery hervorgestellt: »Die Spaltung, die das Subjekt auch in seinem innersten Wesen, in seinem Verhältnis zu sich selbst, von sich trennt, ist die zentrale Figur des Dramas. [...] Die Struktur des Bösen, die das Drama inszeniert, ist die Zweiheit, eine unheimliche Verdopplung und Repetition.« D. E. Wellbery (wie Anm. 18), S. 15. 20 Der zerbrochne Krug, V. 25-30. 152 Der zerbrochne Krug eine Wirklichkeit für sich zu ermöglichen – vergeblich. Wer in Adams Worten ein System zu sehen behauptet,21 läuft also Gefahr, Adams einziger Jünger zu sein. Während Adam die alte Ordnung durch Phantasie zu usurpieren versucht, bricht eine Macht aus der ursprünglichen Welt ein, die ihn wie ein Gespenst heimsucht: »Macht Euch bereit auf unerwarteten / Besuch aus Utrecht.«22 Der Gerichtsrat Walter aus Ut-Recht in Revisionsberei- sung: Dieser Titel durfte ihn an die alte Ordnung wie auch an seine alte Rolle als Richter erin- nern. Zwar meint Walter: »sehn soll ich bloß, nicht strafen«,23 aber durch solch einen Doppel- Blick, Re-Vision, wird der Vision des einen ein Spiegel von der des anderen vorgehalten, damit die Vision nicht herumschweifelt. Dieser Re-Vision gegenüber vermag Adams phantasievolles Bild nicht mehr standzuhalten. Dies wird auch da versinnbildlicht, wo Adam die Darstellung der Wunden durch ein phantastisches Bild »Teufel« leise in die Leere zu führen sucht und Licht ihm deshalb einen Spiegel bringt und sagt: »Hier! Überzeugt Euch selbst!«24 Es ist nicht zufäl- lig, dass der Revisor Walter im zehnten Auftritt nochmals nach seinen Wunden und der verlo- renen Perücke fragt, wobei der Code erneut geändert wird, und zwar im Dunkeln, weil Licht gerade nicht dabei ist, und das vorherige Bild, dass die Katze heute morgen in die Perücke gejungt hätte, durch ein neues Bild, dass die Flamme der Kerze gestern abend die Perücke angeht, abgelöst wird. Aus der Perspektive des Lesers bzw. Zuschauers außerhalb der Bühnenwelt bringt solch eine Dissonanz zweifellos die Lüge Adams zutage; aus der Perspektive von Adam soll jedes Bild hingegen eine Möglichkeit für eine binnentheatralische Kommunikation bieten. In seiner Ausage gibt es also Ansätze, die sich innerhalb einer diskontinuierlichen Bühnenwelt szenisch voneinander unterscheiden könnte: Erstes Bild, Zweites Bild, Drittes Bild… usw. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass Adam als die einzig kontinuierliche Figur, (er ist von der Vorge- schichte bis zur vorletzten Szene immer anwesend, außer dem sechsten Auftritt, wo er sich den Kopf einpudert), innerlich an Diskontinuität, Selbstentzweiung und Dissonanz leidet – aber keineswegs wegen des schlechten Gewissens, sondern aus der Angst vor Strafe, die, suggeriert von Lichts Erzählung, sogar lebensgefährlich sei:

LICHT. Wenn Ihrs wissen wollt. Denn in der Frühe heut sucht man den Richter, Dem man in seinem Haus Arrest gegeben, Und findet hinten in der Scheuer ihn Am Sparren hoch des Daches aufgehangen.

ADAM. Was sagt Ihr?

LICHT. Hülf inzwischen kommt herbei,

21 Hansgerd Delbrück hat z. B. konstatiert, »Adams ›System‹« und seine Analogie mit Hobbes’ Philosophie zu durchschauen. H. Delbrück: Kleists Weg zur Komödie. Untersuchungen zur Stellung des ›Zerbrochnen Krugs‹ in einer Typologie des Lustspiels, Tübingen 1974, S. 72-75. 22 Der zerbrochne Krug, V. 67. 23 Ebd., V. 302. 24 Ebd., V. 37f. 153 Der zerbrochne Krug

Man löst ihn ab, man reibt ihn, und begießt ihn, Ins nackte Leben bringt man ihn zurück.

ADAM. So? Bringt man ihn?

LICHT. Doch jetzo wird versiegelt, In seinem Haus, vereidet und verschlossen, Es ist, als wär er eine Leiche schon, Und auch sein Richteramt ist schon beerbt.25

Wie wenig auch immer der Tod im Lustspiel ernstgenommen werden mag, es ist die Angst, mit der man sich nach der Überwindung der Mauer auseinandersetzen muss. Nicht zuletzt heißt es am Ende: »als flöh er [Adam] Rad und Galgen«.26 Adams Dilemma besteht darin, dass er einerseits als Naturmensch immer davonfliehen will: »Ich ließe mich entschuldgen. [...] Und jeder Schrek purgiert mich von Natur. / Ich wäre krank,«27 sich andererseits als Richter aber der Kontrolle nicht entziehen darf – Adam befindet sich im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur. Um dem zu entgehen, ein nacktes Leben, so gut wie Tod, führen zu müssen, schreckt Adam endlich vor der Revolution zurück und wird reaktionär: Er beruft sich zuerst auf die Allianz: »Jetzt gilts Freundschaft«,28 setzt dann die Aktenstöße in der Registratur zurecht: »Denn die, / Die liegen wie der Turm zu Babylon«29 und zieht sich den Ornat wieder an: »Die Bäffchen! Mantel! Kragen!«,30 um seinen natürlichen Körper gegen den institutionellen Körper auszutauschen.31 Dabei ist zu bemerken, dass solch eine Re-Institutionalisierung eine Art Kastration bedeutet, indem sie ihn seiner sprachlichen Potenz beraubt, wie Licht anordnet: »Nehmt den Rock.«32 Es ist Adams Reaktion – mit der Zielsetzung: die Angst in der Mauer der Ordnung zu überwinden, so wie sein Trauma dadurch überwunden werden soll: »Die läppsche Furcht! Gebt Ihr nur vorschriftsmäßig, / Wenn der Gerichtsrat gegenwärtig ist, / Recht den Parteien auf dem Richterstuhle, / Damit der Traum vom ausgehunzten Richter / Auf andre Art nicht in Erfüllung geht.«33 Die Frage ist, ob all das hilft, denn die mit Furch erfüllte Quelle, Adamsfall, lauert immer noch auf ihn. Nicht zuletzt sind Adams Schlafkammer und Gerichtsstube, wie Ewald Rösch betont, identisch: »Sie [Bett und Richterstuhl] halten das merkwürdige Zugleich von Privatheit

25 Ebd., V. 107-118. 26 Ebd., V. 1955. 27 Ebd., V. 183-187. 28 Ebd., V. 128. 29 Ebd., V. 162. 30 Ebd., V. 174. 31 Hierzu ist Ethel Matala de Mazza, die die Repräsentationen des Rechts in Kleidung, Krug und Münze zur Debatte gebracht hat, der gleichen Meinung. E. M. De Mazza: »Recht für bare Münze. Institution und Geset- zeskraft in Kleists ›Zerbrochnem Krug‹«, in: KJb [2001], S. 160-177, hier: S. 167. 32 Der zerbrochne Krug, V. 172. 33 Ebd., V. 280-284. 154 Der zerbrochne Krug und Öffentlichkeit bewußt, wodurch ständig die persönlichsten Angelegenheiten und die all- gemeinsten Belange aneinander Anstoß nehmen.«34 Dieses Spannungsfeld zwischen Privatem und Öffentlichem markiert Adams inneren Widerspruch, der für ihn wahrscheinlich kein Prob- lem, für die Institution hingegen äußerst problematisch ist. In Anwesenheit des Revisors ist es nicht mehr harmlos, dass Adam nicht versteht, »warum ein Richter, / Wenn er nicht auf dem Richtstuhl sitzt, / Soll gravitätisch, wie ein Eisbär, sein.«35 Denn während der Verhandlung wird seine eisbärenhaft gravierende Reputation stets vom reflektierenden Adam (Homo) sapi- ens untergraben, wie etwa: »Ich bin ein Schelm, wenns nicht der Lebrecht war.«36 Die Institu- tionalisierung bleibt also unbefriedigend, so wie die Perücke von A bis O fehlt:

ADAM. [...] Ich muß kahlköpfig den Gerichtstag halten.

WALTER. Kahlköpfig!

ADAM. Ja, beim ewgen Gott! So sehr Ich ohne der Perücke Beistand um Mein Richteransehn auch verlegen bin.37

Verlegen ist nicht nur Adam; verlegen ist vielmehr die ganze Institution, wenn es in Huisum überhaupt eine solche gibt. Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, ebenso wenig der Turm zu Babel. Im Gegensatz zu Utrecht und dessen aufgeklärten Rechtsprinzipien ist das Dorf Huisum eine Heterotopie, in der man sich eher der voraufklärerischen Prinzipien »[s]eit Kaiser Karl dem fünften«38 ge- mäß verhält:

Die Welt, sagt unser Sprichwort, wird stets klüger, Und alles liest, ich weiß, den Puffendorf; Doch Huisum ist ein kleiner Teil der Welt, Auf den nicht mehr, nicht minder, als sein Teil nur Kann von der allgemeinen Klugheit kommen.39 und:

Wir haben hier, mit Euerer Erlaubnis, Statuten, eigentümliche, in Huisum, Nicht aufgeschriebene, muß ich gestehn, doch durch

34 E. Rösch (wie Anm. 18), S. 466. 35 Der zerbrochne Krug, V. 156ff. 36 Ebd., V. 1205. 37 Ebd., V. 376-379. 38 Ebd., V. 309. 39 Ebd., V. 311-315. 155 Der zerbrochne Krug

Bewährte Tradition uns überliefert.40

Und in dieser dörflichen Welt agiert Adam gleichsam als König, wie er selbst sagt: »Zu seiner Zeit, Ihr wißts, schwieg auch der große / Demosthenes. Folgt hierin seinem Muster. / Und bin ich König nicht von Mazedonien, / Kann ich auf meine Art doch dankbar sein.«41 Ja, er ist ein König, zwar »nicht von Mazedonien«, aber der König von Huisum. Und das um so mehr, wie Ernst Ribbat bemerkt: »Er ist faktisch souverän, obgleich er an Institutionen gebun- den sein sollte. Ein wichtiger, ja der wesentliche Grund dafür ist präzis bezeichnet: Die Dorf- bewohner sind Analphabeten, sie können nicht oder nur wenig lesen und schreiben, sind da- rum hilflos ausgeliefert der herrschenden Klasse der Gebildeten«.42 Deshalb konnte er seine verbalen Luftschlösser beliebig auf- und abbauen – nichts ist aufgeschrieben, es gibt nämlich keine Vor-Schrift; deshalb konnte er willkürlich »Recht so jetzt, jetzo so erteilen«,43 erst recht denn, »Auf Ehr! Ich habe nicht studiert«;44 deshalb konnte er eine schwarze Kasse im Namen der »Rhein-Inundations-Kollektenkasse«45 führen. Sogar die Registratur dient ihm als privater Keller oder dergleichen, wo nicht nur »Kuhkäse, Schinken, Butter, Würste, Flaschen« verwahrt sind,46 sondern die »Pupillenakten« auch als »Einschlag« der »Braunschweiger Wurst« miss- braucht werden.47 Noch einmal: Hier in Huisum herrscht der König Adam der Ödi-Fuß, »Ge- vatter Adam«, 48 der seine Pupillen – vor allem das »Herzens-Evchen«, 49 »Ein twatsches Kind«,50 und »Ruprecht, jetzt, mein Sohn«51 – wie die Delikatesse beliebig kostet (man denke an die symbolische Kongruenz zwischen Essen und Geschlechtsakt),52 ohne dass er sich um sie zu kümmern weiß: »Ich bin ein Narr in solchen Dingen, seht, / Und meine Hühner nenn ich meine Kinder.«53 David E. Wellbery erinnerte sich sogar an den Anspruch des lokalen Herrschers auf die erste Nacht und zog als Beispiel Mozarts Hochzeit des Figaro heran.54 Dar- über hinaus, wenn man in dem Stück »Gottes Strafgericht« erkennt, wie z. B. Gernot Müller

40 Ebd., V. 626-629. 41 Ebd., V. 142-145.11 42 Ernst Ribbat: »Babylon in Huisum oder der Schein des Scheins. Sprach- und Rechtsprobleme in Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 133-148, hier: S. 143. 43 Der zerbrochne Krug, V. 635. 44 Ebd., V. 1122. 45 Ebd., V. 348. 46 Ebd., V. 194. 47 Ebd., V. 215-218. 48 Ebd., V. 1. 49 Ebd., V. 815. 50 Ebd., V. 1238. 51 Ebd., V. 938. Dabei ist zu bemerken, dass Adam ihn erst dann seinen Sohn nennt, nachdem dieser Lebrecht als Täter genannt und damit den Richter vom Verdacht befreit hat. 52 Vgl. Klaus E. Müller: Kleine Geschichte des Essens und Trinkens. Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine, München 2009, S. 131-139. 53 Der zerbrochne Krug, V. 562f. 54 D. E. Wellbery (wie Anm. 18), S. 28. 156 Der zerbrochne Krug beiläufig bemerkt hat,55 oder wie Adam Göttlichkeit seinem Richtstuhl zuschreibt,56 dann gilt Adam zweifellos als der Herr der (dörflichen) Welt, diesbezüglich verrät er sich selbst in der Verwirrung auch ein bisschen: »Was mir –? Bei Gott! Soll ich als Christ –?«57 Nicht zuletzt wird im Dialog zwischen Eve und der mit der transzendentalen Sichtweise versehenen Frau Marthe aber unüberhörbar auf Jesus angespielt:

FRAU MARTHE. Wer wars?

EVE. O Jesus!

FRAU MARTHE. Maulaffe der! Der niederträchtige! O Jesus! Als ob sie eine Hure wäre. Wars der Herr Jesus?58

Auf jeden Fall sind dies diejenigen blasphemischen Verse, die laut Helmut Sembdner die Figur Friedebert in Friedrich de la Motte-Fouqués Gespräch über die Dichtergabe Heinrich v. Kleist »sehr ernst, beinahe strenge« gestrichen wünscht.59 Adams Souveränität gilt allerdings nur so lange, bis das Volk aufgeklärt wird. Das weiß Adam auch: »So’n Volk, / Im Finstern leiden sies, und wenn es Tag wird, / So leugnen sies vor ihrem Richter ab.«60 Als nun Walter die Flamme der Aufklärung in das dunkle Königsdorf bringt, wird die Adam’sche Ordnung zum zweiten Male herausgefordert. Während Adam gegen Licht revolu- tioniert, beruft er sich Walter gegenüber stets reaktionär auf althergebrachte Traditionen. Die beiden Fronten, an denen jeweils gegenläufige Mittel eingesetzt werden, führen weiterhin zu Adams Dissonanz. Man muss Goethe völlig Recht geben, wenn er konstatiert: »Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialecti- sche hin«.61 Denn die Dissonanz, in der jede Opposition unbefriedigt bleibt und Anspruch auf Totalität erhebt, führt leicht zur Dialektik, sobald die gefährliche Balance erneut herausge- fordert wird; dann wird das statische Bild, das Adam erhalten will, durch die prozessuale Ge- schichte wieder aufgehoben werden. »Geschichte qua Prozeß beruht auf der Vertreibung aus dem Paradies der Geschichtslosigkeit«.62 »Die ganze Sippschaft«63 ist eben die neue und zu- gleich archaische Macht, die in der Mitte des Stückes auftritt. Insofern setzt eine Art Peripetie ein, als diese Macht Adam mit dem traumatischen Urbild, über das er mithilfe der Abbilder hinwegzutäuschen versucht, konfrontiert, die dritte Front eröffnet und ihn seiner beweglichen Autonomie beraubt. Der Prozess will fortfahren; Walter schickt sich an, »[i]n meinem Büchlein

55 G. Müller (wie Anm. 10), S. 131. 56 »Denk, daß du hier vor Gottes Richtstuhl bist«. Der zerbrochne Krug, V. 1100. 57 Ebd., V. 861. 58 Ebd., V. 1130-1134. 59 NR, Nr. 261a. Sembdners Kommentar: SWB I, S. 928. 60 Der zerbrochne Krug, V. 1240ff. 61 LS, Nr. 185. 62 M. Schmitz-Emans (wie Anm. 5), S. 61. 63 Der zerbrochne Krug, V. 499. 157 Der zerbrochne Krug etwas mir zu merken«;64 Licht »brech ein eignes Blatt mir, / Begierig, was darauf zu stehen kommt.«65 Indem alle geneigt sind, den Fall festzustellen, bleibt Adam kein paradiesischer Spielraum übrig, es sei denn, wenn er sich mit dem »nackten Leben« begnügen könnte. Da er auf seinen Richtstuhl jedoch nicht verzichten kann, wie er am Anfang schon gesagt hat,66 und er es deshalb nicht bloß auf die subjektive Zweckmäßigkeit, sondern auf die objektive absieht, ist er von vornherein dazu verdammt, in die selbstverschuldete Sackgasse zu geraten, wie Peter Michelsen trotz seines Plädoyers für die ästhetische Qualität von Adams Lügen betont:

‚Verkehrt‘ an seinen Reden ist im Grunde nicht so sehr das Abweichen von den wirklichen Sach- verhalten als vielmehr das Moment an Zweckgebundenheit, das ihnen anhaftet, dasjenige also, das sie noch mit dem Endlich-Wirklichen verbindet. Nicht völlig zweckfrei sind seine Erfindungen.67

Sobald die Lügen, »Geschwätz, gehauen nicht und nicht gestochen«,68 jedoch auf die objektive Zweckmäßigkeit abzielen, steht ihnen das Prädikat »ästhetisch« nicht mehr zu; sodann gelten nur die Kategorien »angenehm/unangenehm« oder »gut/schlecht«. Dementsprechend fordert Adam von Eve, sich zugunsten seiner Lügen politisch-gut zu verhalten: »Hör du, bei Gott, sei klug, ich rat es dir.«69 Umso mehr, als er sie von der praktischen Vernunft verlangt: »Du bist vernünftig. [...] Sagst du, daß es der Lebrecht war: nun gut; / Und sagst du, daß es Ruprecht war: auch gut!«70 »Schafft hier mir Ordnung!« 71 Das ist nicht nur Walters Befehl, sondern auch Adams Wunsch, gemeint ist eine Ordnung, über die er als Souverän verfügen und entscheiden darf. Aber die Ordnung, die Adam während der Verhandlung zu schaffen versucht, ist längst ungül- tig oder zumindest zerbrochen worden – diejenige also, die der Krug vertritt. Dies ist auf zwei Ebenen zu verstehen. Zum ersten würde Adam sich selbst freisprechen können, wenn der Fall nur »Ein Krug. Ein bloßer Krug« sei.72 So will er es sofort durch ein »gewaltsames Verfahren«73 schriftlich feststellen lassen, damit eine Vorschrift daraus entsteht, an der man sich dann ori- entieren sollte: »Setzt einen Krug, / Und schreibt dabei: dem Amte wohlbekannt.«74 Das heißt: Wenn man ihn am Ende auch als »krugzertrümmerndes Gesindel«75 stellt, müsste er allenfalls

64 Ebd., V. 403. 65 Ebd., V. 1094f. 66 Er sagt zu Licht also: »Ihr wollt auch gern, ich weiß, Dorfrichter werden, / Und Ihr verdients, bei Gott, so gut wie einer. / Doch heut ist noch nicht die Gelegenheit, / Heut laßt Ihr noch den Kelch vorübergehn.« (Ebd., V. 130-133). 67 Peter Michelsen: »Die Lügen Adams und Evas Fall. Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug«, in: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, hrsg. von Herbert Anton, Bernhard Gajek u. Peter Pfaff, Heidel- berg 1977, S. 268-304, hier: S. 300. 68 Der zerbrochne Krug, V. 1119. 69 Ebd., V. 527. 70 Ebd., V. 1103-1107. 71 Ebd., V. 1905. 72 Ebd., V. 596. 73 Ebd., V. 611. 74 Ebd. 75 Ebd., V. 414. 158 Der zerbrochne Krug der Vorschrift gemäß den Krug ersetzen und Entschädigung leisten – im Sinne dessen, was Veit auch meint. Aber die »[p]edantische Bedenklichkeit« der Frau Marthe steht ihm im Weg, indem sie den Vorfall auf den Fall Eves bezieht:

FRAU MARTHE. Du sprichst, wie dus verstehst. Willst du etwa Die Fiedel tragen, Evchen, in der Kirche Am nächsten Sonntag reuig Buße tun? Dein guter Name lag in diesem Topfe, Und vor der Welt mit ihm ward er zerstoßen, Wenn auch vor Gott nicht, und vor mir und dir.76

Diese Referenz zwingt ihn, den Verdacht auf die anderen abzuwälzen, dabei ist es gleich, ob Ruprecht oder Lebrecht. Aber gerade der Name Rup-Recht oder Leb-Recht erinnert ihn stets an die Spannung zwischen Ruf und Recht bzw. die Spannung zwischen Leben und Recht und schafft bei ihm unterschwellig eher Verwirrung als Ordnung. Denn er, der er sowohl Mensch als auch Richter ist, kann sich nur für eins entscheiden: Entweder Ruf/Leben oder Recht, und jede Entweder-Oder-Entscheidung wird zur Entzweiung seiner Identität führen – ein typisches Kleist’sches Dilemma. Noch schlimmer: Da seine Entscheidung, den Verdacht auf Ruprecht zu lenken, diesen zum Opfer macht (in dem Fall würde Ruprecht zusammen mit dem Ruf auch das Recht verlieren), sieht Eve sich gezwungen, eine Entscheidung zu fällen, die sie aus ihrem Dilemma zwischen dem eigenen Ruf und dem Leben des Bräutigams führt, nämlich sich selbst als Opfer darzubringen und damit den Verdacht wieder gegen Adam zu lenken: »Ei, was! Der Richter dort! Wert, selbst vor dem / Gericht, ein armer Sünder, dazustehn – / – Er, der wohl besser weiß, wer es gewesen!«77 Die erste Ordnungskonzeption ist also eine selbst- zerstörerische. Zum zweiten betrifft es die Ordnung, auf die er sich Walter gegenüber beruft. Denn die seit Karl V. implementierte Ordnung gilt nicht mehr in den nun selbstständigen Niederlanden. Auch das Bild auf dem Krug, das die letzte Ordnung von Karl V. in Bezug auf die Niederlande, nämlich die Übergabe der Niederländischen Provinzen an seinen Sohn Philipp II, wie es das Bild auf dem Prunkpokal in Schillers Wallenstein längst fixiert,78 ist von Adam selbst zerbro- chen worden: »Der Krüge schönster ist entzwei geschlagen. / [...] jetzo nichts«.79 Denke man

76 Ebd., V. 487-492. 77 Ebd., V. 1212ff. 78 Gemeint ist die Szene in Die Piccolomini (IV, 5), wo der Kellermeister den erzwungenen böhmischen Majestätsbrief auf dem erbeuteten Pokal wiedergibt. Dirk Grathoff war der Meinung, dass Kleist vielleicht durch die Beschreibung eines Prunkpokals in Schillers Piccolomini zum Krug-Motiv angeregt worden sei. D. Grathoff: »Der Fall des Krugs. Zum geschichtlichen Gehalt von Kleists Lustspiel«, in: KJb [1981/82], S. 290- 313, v. a. S. 293-299. 79 Der zerbrochne Krug, V. 647f. 159 Der zerbrochne Krug an die wunderbare »Unsterblichkeit« des Kruges, »der am Ende all dieser im Strom der Ge- schichte versinkenden Menschen und Ereignisse allein bestehenbleibt und wie neu, glänzend, dasteht«,80 so kann man behaupten, dass der Richter das Heiligtum seiner bewährten Religion selbst zugrunde gerichtet hat. Während er versucht, mit Eve Kain und Abel zu zeugen, stürzt er ohne sein Wissen die alte, gut gepflegte, waagerechte Ordnung, nämlich den Krug, »den zum Scheuern ich [Eve] / Bei mir aufs Wandgesimse hingestellt«,81 endgültig um und sollte darauf- hin als Zeuge seines eigenen Verfalls vor Gericht geladen werden. Die alte Ordnung besteht nun nur noch in Adams Kopf sowie in der Erzählung von Frau Marthe und vermag nicht mehr als objektive Zweckmäßigkeit zu dienen, umso weniger, als die Erzählung vom Richter selbst als belanglos interpretiert wird und in Vergessenheit zu geraten droht: »Frau Marth! Erlaßt uns das zerscherbte Paktum, / Wenn es zur Sache nicht gehört.«82 Der alte Mythos, der »von Herodes’ Zeit her«83 über die spanische Regierung bis zur letzten Nacht – sogar wunderlicher- weise vom toten Zachäus »mit eignem Mund erzählt«84 – überliefert wurde, ist nun gestrichen worden. Von nun an gehört auch Adam zur aufklärerischen Partei und richtet selbst die zweite Ordnungskonzeption zugrunde. Da aber noch keine neue Ordnung als Kompensation besteht, herrscht in der Gerichtsstube nur mehr Verwirrung denn je. Selbst die Philosophie, die Adam zu Hilfe nimmt, kann die Verwirrung nicht entwirren:

ADAM. Mein Seel! Wenn ich, da das Gesetz im Stich mich läßt, Philosophie zu Hülfe nehmen soll, So wars – der Leberecht –

WALTER. Wer?

ADAM. Oder Ruprecht –

WALTER. Wer?

ADAM. Oder Lebrecht, der den Krug zerschlug.

WALTER. Wer also wars? Der Lebrecht oder Ruprecht? Ihr greift, ich seh, mit Eurem Urteil ein, Wie eine Hand in einen Sack voll Erbsen.

ADAM. Erlaubt!

WALTER. Schweigt, schweigt, ich bitt Euch.85

Dabei ist sehr interessant, dass sich Adam, was in der Forschung nach meiner Kenntnis bisher nicht bemerkt wurde, auf einen Philosophen namens Leberecht (also nicht Lebrecht) beruft, nur nicht recht erinnern kann, wie der Philosoph eigentlich heiß. Könnte damit der Kantianer

80 P. Michelsen (wie Anm. 67), S. 302. 81 Der zerbrochne Krug, Variant V. 2211f. 82 Ebd., V. 675f. 83 Ebd., V. 485. 84 Ebd., V. 699. 85 Ebd., V. 1081-1088. 160 Der zerbrochne Krug

Friedrich Victor Leberecht Plessing gemeint sein, der dem Studium der Rechte den Rücken kehrte, in holländische Kriegsdienste trat, von Wieland beeinflusst war, Johann Wilhelm Lud- wig Gleim kennenlernte, Goethe um Hilfe bat und mit diesem eine Freundschlaft pflegte und dann Anfang 1806, während Kleist in Königsberg an dem Lustspiel arbeitete, starb?86 So sehr die Biographie Plessings Kleist aufgrund der Parallelen zu seiner eigenen und in Bezug auf den Zerbrochnen Krug interessiert haben muss, lasse ich diese eher spekulative Frage dahingestellt, zumal sich Adam des Namens sowieso nicht erinnern kann. Ich halte in der obigen Formulierung Kain und Abel vor Augen, nicht, um etwa anzudeuten, dass Eve schon in den »[z]wei abgemessene[n] Minuten«87 ihre körperliche Unschuld verloren hätte. Gewissermaßen jedoch spuken die Geister der Brüder schon an dieser Stelle – aus dem Willen Adams. »Zwei Fälle gibts, Mein Seel, nicht mehr, und wenns nicht biegt, so brichts.«88 Da die oben genannten Ordnungskonzeptionen nicht funktionieren, sich also die anderen im Gehorsam nicht als Autorität biegen lassen, greift Adam nun zu einer anderen Waffe, die er schon zu Beginn Licht gegenüber anwandte: Verwirrung, um die Belagerung gegen ihn zu brechen. Infolgedessen beginnt Frau Marthe gegen Eve, Veit gegen Ruprecht und Ruprecht wiederum gegen Eve Verhör zu halten. Adams Wille funktioniert wie die Pest in Robert Guis- kard, die das Band zwischen den Menschen vergiftet: »Ja, in des Sinns entsetztlicher Verwirrung, / Die ihn zuletzt befällt, sieht man ihn scheußlich / Die Zähne gegen Gott und Menschen fletschen, / Dem Freund, dem Bruder, Vater, Mutter, Kindern, / Der Braut selbst, die ihm naht, entgegenwütend.«89 Diese Vorgehensweise scheint erfolgreich, denn letztlich bleibt auch Walter verwirrt zurück. Wer dem Sehsinn vertraut, dem weiß Adam »eine Handvoll grobge- körnten Sandes« in die Augen zu werfen;90 wer dem Tastsinn vertraut, dem weiß Adam einen unfassbaren Geist (des abwesenden Leberecht) in die Hände zu geben; wer dem Gedanken glaubt, dem weiß Adam Alkohol einzuschenken, um sein Beurteilungsvermögen zu vernebeln:

WALTER verwirrt. [!] – Schenkt ein, Herr Richter Adam, seid so gut. Schenkt gleich mir ein. Wir wollen eins noch trinken.

ADAM. Zu Eurem Dienst. Ihr macht mich glücklich. Hier.

Er schenkt ein.

WALTER. Auf Eurer Wohlergehn! – Der Richter Adam, Er wird früh oder spät schon kommen.91

86 Zur Biographie Plessings vgl. Eduard Jacobs: »Plessing, Friedrich«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 26, München 1888, S. 277-281. 87 Der zerbrochne Krug, Variant V. 2207. 88 Ebd., V. 553ff. 89 Robert Guiskard, V. 511-515. 90 Der zerbrochne Krug, V. 1003, auch V. 1553. 91 Ebd., V. 1595 161 Der zerbrochne Krug

David E. Wellbery sieht in Adam hinsichtlich seiner Kunst der Prahlerei den Shakespeare’schen Falstaff. Diese Assoziation lässt sich durch Kleists Miszelle untermauern:

Falstaff bemerkt, in der Schenke von Eastcheap, daß er nicht bloß selbst witzig, sondern auch schuld sei, daß andere Leute (auf seine Kosten) witzig wären. Mancher Gimpel, den ich hier nicht nennen mag, stellt diesen Satz auf den Kopf. Denn er ist nicht bloß selbst albern, sondern auch schuld daran, daß andere Leute (seinem Gesicht und seinen Reden gegenüber) albern werden.92

Es ist Walter, der ursprünglich wohl damit gerechnet hatte, die Wahrheit von Adam unter dem Stimulierungseffekt herauszulocken, aber unwillkürlich dahinein gerät, – der kulturellen Kon- vention nach – mit ihm eins zu trinken.93 Solange die Leute sich in Adams Gerichtsstube be- finden, wo sie befangen sind und alle Aussagen protokolliert werden sollen, gibt es für sie keinen Ausweg aus der Verwirrung. Selbst die Zeitangabe im jeweiligen Zeugnis, die ursprünglich der präzisen Rekonstruktion des Vorfalles dienen soll, trägt in dieser verkehrten Gerichtsstube, wie Oskar Seidlin bemerkt hat, nur zur Verwirrung bei:

The strikes of the clock ring in our ears, but they hardly measure time. Are we to believe that the shuffling in the garden between Adam and Eve until he managed to sneak into her room went on for a little less than a full hour (according to Mother Marthe’s watch), or for at least an hour and a quarter (according to Ruprecht’s watch), or for considerably longer than that (according to Aunt Briggy’s watch), not to mention the implication we would have to draw from the maids’ timing of Adam’s return home?94

Gerade das Nicht-Zu-Entscheiden-Sein bietet Adam eine günstige Gelegenheit, weil es letzt- lich er ist, der über den Prozess herrscht. Seine Autonomie bürgt dafür, dass die Wahrheit an sich, die gegen ihn spricht, in der Verwirrung verborgen bleibt, und dass die Wahrheiten für sich, die jeweils Anspruch erheben, einander widersprechen, wie Frau Marthe ironisch bemerkt: »Was ich der Red [Ruprechts] entgegene? / Daß sie, Herr Richter, wie der Marder einbricht, / Und Wahrheit wie ein gakelnd Huhn erwürgt. / Was Recht liebt, sollte zu den Keulen greifen, / Um dieses Ungetüm der Nacht zu tilgen.«95 Recht gilt nicht mehr als objektives Spektrum, sondern als ein parteiisches Subjekt, das »liebt«, nämlich sich beliebig verhält. Solange Adam auf dem Richterstuhl sitzt und das Verhör führt, d. h. über seine Autonomie verfügen kann, bleibt er in einer sicheren Lage, indem er seinen Satz – den ich bewusst über- spitzt nenne – Allegro con grazia und zugleich Allegro molto vivace komponiert und »aufs Schlüpf- rige«96 im Sinne des Schlurfschrittes tanzt. Kein Corpus Delicti wird seinen Corpus Christi zur

92 Miszellen, SWB II, S. 346. 93 Zu solchem Gemeinschaftsmahl vgl. K. E. Müller (2005), S. 105-120. 94 Oskar Seidlin: »What the bell tolls in Kleist’s Der zerbrochne Krug«, in: DVjs [1977/1], S. 78-97, hier: S. 83. 95 Der zerbrochne Krug, V. 1047-1051. 96 Ebd., V. 29. 162 Der zerbrochne Krug

Heteronomie des Rechts umschlägt. »Solange die Jungfer schweigt,« so meint Adam, »begreif ich nicht, / Mit welchem Recht ihr mich beschuldiget. / Hier auf dem Richterstuhl von Huisum sitz ich, / Und lege die Perücke auf den Tisch«.97 So lange müssen all seine Pupillen wie sein »Perlhuhn« am »Pips«, krankhaften Belag auf der Zunge [!], leiden, und seiner Anord- nung zufolge die bittere »Pille« herunterschlucken98 und Eve, die zu Adam in einem Verhältnis der »Komplizenschaft«99 steht, muss diese Pille »ordentlich, / Wie sichs gehört«, drehen.100 Sicher, so lange besteht Adams Welt. Adams Weltanschauung lautet: »Eins ist der Herr. Zwei ist das finstre Chaos. / Drei ist die Welt.«101 Dieser »Pythagoräer-Regel«102 entspricht Adams (Rechts)-Verfahren: Gegen die cha- otische Gegenüberstellung, die eine Bedrohung seiner alleinigen Herrschaft darstellt, geht er vehement vor, indem er virtuos alle Triaden ausspielt: Walter-Adam-Licht, Ruprecht-Adam- Leberecht, Ruprecht-Adam-Eve, Ruprecht-Adam-Frau Marthe usw., dabei agiert er dank sei- ner beruflichen bzw. rechtlichen Autonomie immer im rechten Winkel. Indem er das Eine, näm- lich Gott den Herrn, als Herr der Welt usurpiert, formt er durch seinen Eingriff alle Verhält- nisse als geregelt durch den pythagoreischen Satz: c² = a² + b², somit entsteht das streitstif- tende »two as the sinister split in which only breakage exists«.103 Oder, wenn ich ein bisschen spekulativ formulieren darf: C(ondition) ist die Wurzel aus der Zahl A(dam)2 plus B(etrug)2. Gerade deswegen ist die weltliche Kondition gebrechlich. Umso schlimmer: ist dies, stellt man die Erwägung Seidlins zur Debatte: »The number two, chiffre of the dark disruption, is indeed Adam’s chiffre, the chiffre of the creature that “fell“ and brock in two«,104 dann wird die welt- liche Kondition genauso irrational wie die irrationale Zahl √2, die übrigens am ehesten auch aus dem Satz des Pythagoras abgeleitet worden sei und zur Grundlagenkrise geführt habe. Wenn man sich mit dem obigen Zahlenspiel eher nicht abfinden kann, leisten Kleists Be- trachtungen über den Weltlauf Hilfestellung, um aus dessen Perspektive den Adamslauf zu betrach- ten:

Diese Völker [Griechen und Römer] machten mit der heroischen Epoche, welches ohne Zweifel die höchste ist, die erschwungen werden kann, den Anfang; als sie in keiner menschlichen und bürger- lichen Tugend mehr Helden hatten, dichteten sie welche; als sie keine mehr dichten konnten, erfan- den sie dafür die Regeln; als sie sich in den Regeln verwirrten, abstrahierten sie die Weltweisheit selbst; und als sie damit fertig waren, wurden sie schlecht.105

97 Ebd., V. 1853-1856. 98 Ebd., V. 558ff. 99 P. Michelsen (wie Anm. 67), S. 285. 100 Der zerbrochne Krug, V. 1611f. 101 Ebd., V. 1532f. 102 Ebd., V. 1530. 103 O. Seidlin (wie Anm. 94), S. 90. 104 Ebd. 105 Betrachtungen über den Weltlauf, SWB II, S. 327. 163 Der zerbrochne Krug

Der Adamslauf ist somit wie folgt: Er maßt sich zuerst an, ein Held zu sein: »Ich sitz im Namen der Justiz, Frau Marthe,«106 wo seine Autorität ohne Zweifel die höchste ist; da er aus der ethischen Perspektive jedoch kein Held sein kann, dichtet er einen negativen namens Lebrecht zu recht: »Gut. / Das ist ein Nam. Es wird sich alles finden. / Habt Ihrs bemerkt im Protokoll, Herr Schreiber?«107 Sobald er nicht mehr dichten kann, erfindet er eine Regel: »Die Jungfer weiß, wo unsre Zäume hängen. / Wenn sie den Eid hier vor Gericht will schwören, / So fällt der Mutter Klage weg: / Dagegen ist nichts weiter einzuwenden.«108 Weil es statt der Regel nur Verwirrung gibt, greift Adam am Ende auf die Weltweisheit zurück, also die oben erwähnte Erpressung: »Dreh du mir deine Pille ordentlich, / Wie sichs gehört, so sprech ich heute abend / Auf ein Gericht Karauschen bei euch ein. / Dem Luder muß sie ganz jetzt durch die Gurgel, / Ist sie zu groß, so mags den Tod dran fressen.«109 Jetzt ist Adam und somit die Welt schlecht, weil er nicht mehr ein rechter, sondern ein spitzer bzw. stumpfer Winkel ist und somit das welt- liche Axiom schiefliegt. Die Folge ist für ihn fatal, denn es gibt in dem Stück keine Pille danach, nur eine heiße Spur. Bei aller Verwirrung tritt Frau Brigitte als die letzte Zeugin auf, wie ein Deus ex Machina, bringt sie die Perücke und beschwört dabei ein phantastisches Bild herauf:

FRAU BRIGITTE. Da ich vom Vorwerk nun zurückekehre, Zur Zeit der Mitternacht etwa, und just, Im Lindengang, bei Marthens Garten bin, Huscht euch ein Kerl bei mir vorbei, kahlköpfig, Mit einem Pferdefuß, und hinter ihm Erstinkts wie Dampf von Pech und Haar und Schwefel. Ich sprech ein Gottseibeiuns aus, und drehe Entsetzensvoll mich um, und seh, mein Seel, Die Glatz, ihr Herren, im Verschwinden noch, Wie faules Holz, den Lindengang durchleuchten.110

Dieses Bild ist für sie und Adam durchaus nicht phantastisch. Für jene geht es um ein wun- derbares Phänomen; für diesen ist es bloß etwas Unheimliches, aber insofern unheimlich, als er nicht ahnen konnte, dass es noch eine Zeugin gibt, die erst jetzt seinen Lauf durchkreuzt. Für die anderen jedoch ist das angeblich übernatürliche Phänomen nicht wenig provokativ, zumal Licht auch »gewissermaßen« davon zeugt.111 Diese Geistergeschichte bietet Adam die letzte Chance, das für ihn im Hinblick auf die Perücke fast ausweglose Verhör abzubrechen

106 Der zerbrochne Krug, V. 578. 107 Ebd., V. 934ff. 108 Ebd., V. 1275-1278. 109 Ebd., V. 1611-1615. 110 Ebd., V. 1682-1691. 111 Ebd., V. 1702. 164 Der zerbrochne Krug und sich von jeglichem Verdacht zu befreien. Dabei versteht er es, den aufklärerischen Geister- Komplex auszunutzen:

ADAM. Mein Seel, ihr Herrn, die Sache scheint mir ernsthaft. Man hat viel beißend abgefaßte Schriften, Die, daß ein Gott sei, nicht gestehen wollen; Jedoch den Teufel hat, soviel ich weiß, Kein Atheist noch bündig wegbewiesen. Der Fall, der vorliegt, scheint besonderer Erörtrung wert. Ich trage darauf dan, Bevor wir ein Konklusum fassen, Im Haag bei der Synode anzufragen Ob das Gericht befugt sei, anzunehmen, Daß Beelzebub den Krug zerbrochen hat.112

Bemerkenswert ist, dass diese Strategie zunächst so erfolgreich ist, dass ihm der Aufklärer Wal- ter zustimmt und die anderen nichts dagegen einzuwenden haben. Und sie wäre auch erfolg- reich geblieben, wenn Licht nicht eine Erleuchtung hätte, so wie Adam am Anfang bedeu- tungsvoll antizipiert hat: »Ein Schwank ists etwa, der zur Nacht geboren, / Des Tags vorwitz- gen Lichtstrahl scheut«.113 Aber wie gesagt, wie Walter auch bemerkt: »Was Euch schützt, / Ist einzig nur die Ehre des Gerichts«:114 Solange Adam auf dem Richterstuhl sitzt und ihn keine entscheidende Aussage davon herunterziehen kann, gilt er als Ordnungshüter und ist somit in der Lage, mit der Ordnung zu spielen. So wagt er sogar der allgemeinen Wahrneh- mungsordnung zu widersprechen, indem er seinen Klumpfuß zeigt und fragt: »Bin ich der Teufel? Ist das ein Pferdefuß«115 – Niemand darf nein sagen. So wagt er, nachdem ihm Licht die verlorene Perücke wie eine Krone aufgesetzt hat, trotzdem die Sentenz zu fällen: »Die Sache jetzt konstiert, / Und Ruprecht dort, der Racker, ist der Täter.«116 Während für den Leser bzw. den Zuschauer spätestens durch seinen Fluch: »Verflucht mein Unterleib«117 das Bild entzaubert ist und er den Teufel mit Adam identifizieren kann, bestimmt dieser, der Ord- nungshüter, das phantastische Bild weiterhin als ein phantastisches, schützt es vor der materi- ellen Feststellung (wie etwa durch die Perücke) und lässt den wahren Sachverhalt hinter dem Phantastischen offen und für die Absicht »zur Sache«118 unzulänglich, indem er, wenn auch nicht »[u]nd Menschenfuß und Pferdefuß von hier, / Und Menchenfuß und Pferdefuß, und

112 Ebd., V. 1742-1752 113 Ebd., V. 154f. 114 Ebd., V. 1840f. 115 Ebd., V. 1820. 116 Ebd., V. 1874f. 117 Ebd., V. 1774. 118 Ebd., V. 705. 165 Der zerbrochne Krug

Menschenfuß und Pferdefuß, / Quer durch den Garten, bis in alle Welt«,119 in das Unendliche, doch in die Hölle hindeutet, wo das menschliche Wissen ebenso wenig erreichen kann: »Wir wissen hierzuland nur unvollkommen, / Was in der Hölle Mod ist, Frau Brigitte!«120 Nichtsdestoweniger bleibt Adams Identität so ambivalent wie das Phantastische. Es geht um die Ambivalenz zwischen Richter und Täter, zwischen Mensch und »Sau«121 oder »Kat- ze«,122 nicht zuletzt zwischen »Christus« und »Dionysos«, was sich, wie Gerhart Pickerodt vor- gestellt hat,123 im Bildkonstrukt der Perücke »im Kreuzgeflecht des Weinstocks« zeigt.124 In der Spur des Adamslaufs – »[v]om Lindengange, ja, / Aufs Schulzenfeld, den Karpfenteich entlang, / Den Steg, quer übern Gottesacker dann, / Hier, sag ich, her, zum Herrn Dorfrichter Adam«125 – kommt auch die Ambivalenz zum Ausdruck:

Von den Liebes-, Lebens- und Fruchtbarkeitsstätten geht der Weg über den euphemistisch-christ- lich »Gottesacker« benannten Totenort ins Gerichtshaus, dem damit Züge der Unterwelt zuge- schrieben sind, während umgekehrt das Haus, in dem Eve wohnt, mit Lindengang und Weinspalier eine dionysische Stätte der Liebes- und Lebenslust repräsentiert.126

Wie verkehrt die Gesichtsstube auch immer sein mag, die Verwirrung kann hier nicht harmlos bleiben. Es gilt zu entscheiden. Es gilt nur das Entweder-Oder. Es will die eine oder die andere Partei zugrunde gerichtet werden. Es sei denn, dass die Vernehmung bzw. die Geschichte ge- brochen wird. So hat Eve schon am Anfang gesagt: »O liebste Mutter, folgt mir, ich beschwör Euch, / Laßt diesem Unglückszimmer uns entfliehen!«127 Auch Adam selbst hat am Anfang gesagt: »Gevatter, hört, mein Seel, ich halts nicht aus. / Die Wund am Schienbein macht mir Übelkeiten; / Führt Ihr die Sach, ich will zu Bette gehn.«128 Erst außerhalb der Institution darf die vernunftwidrige Verwirrung für harmlos oder sogar für schön gehalten werden, darf der Geschlechtsakt im privaten Bett wie in der Natur beliebig genossen werden, aber innerhalb deren, in der die Sexualität tabuisiert wird, nicht: »ehrlich soll der Begehrende sein, aber wehe ihm, wenn er ehrlich oder dumm genug ist, sich erwischen zu lassen«.129 Da nun die Ambiva- lenz so stark ist und die Spannung den extremsten Grad erreicht, bedarf es nur eines Wortes wie »nein«, um Adams teuflische Grazie zu vereiteln. Und dieses Wort kommt endlich von Eve,

119 Ebd., V. 1725ff. 120 Ebd., V. 1833f. 121 Ebd., V. 1724. 122 Ebd., V. 1770. 123 Gerhart Pickerodt: »›Bin ich der Teufel? Ist das ein Pferdefuss?‹ Beantwortung der Frage, warum Kleists Dorfrichter Adam den linken Fuß zeigt«, in: KJb [2004], S. 107-122, hier: S. 114. 124 Der zerbrochne Krug, V. 1627. 125 Ebd., V. 1779-1782. 126 G. Pickerodt (wie Anm. 123), S. 118. 127 Der zerbrochne Krug, V. 501f. 128 Ebd., V. 513ff. 129 Peter Horn: »Das erschrockene Gelächter über die Entlarvung einer korrupten Obrigkeit. Kleists zwie- spältige Komödie „Der zerbrochne Krug“, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 149-162, hier: S. 156. 166 Der zerbrochne Krug nachdem Adam sein Urteil forciert hat: »Seid Ihr auch Richter?«130 Diese Verneinung, die gleichsam als Gegenurteil funktioniert, verurteilt Adam zum Schweigen und kurz darauf zu seinem Sturz: »Geh, schmeiß ihn von dem Tribunal herunter.«131 Adam bleibt nichts anderes übrig als die Flucht, und zwar in die Fichte, so wie er es zuvor schon geträumt hat: »Drauf wurde beide wir [der Richter Ich und der Angeklagte Ich] zu eins, und flohn, / Und mußten in den Fichten übernachten.« 132 Dass er am Ende wirklich »den Fichtengrund herunter- trabt«,133 ist unvermeidbar, denn nur noch in den Fichten bzw. in der Fichte’schen Philosophie kann er das sein, was er sein möchte, ohne dass er durch »Rat« und »Revision« entlarvt werden muss; nur noch darin gilt der Satz: »A ist A«. Übernachten in Fichten ist besser als Umnach- tetwerden vom Richten. Ist dann selbstverständlich ein Happy End zu erwarten? Man denke an das, was Kleist in Bezug auf den Zerbrochnen Krug an Fouqué schrieb: »Es kann auch, aber nur für einen sehr kritischen Freund, für eine Tinte meines Wesens gelten; es ist nach dem Tenier gearbeitet, und würde nichts wert sein, käme es nicht von einem, der in der Regel lieber dem göttlichen Raphael nachstrebt.«134 In Kleists Wesen, oder zumindest für eine Tinte davon, gibt es kein glückliches Ende (und die Tinte sieht sowieso dunkel aus). Das Pfingstfest übers Jahr, wenn die Hochzeit Ruprechts und Eves, »wenn ihr wollt«,135 stattfinden soll und somit das friedliche Tenier’sche Genre wiederhergestellt und sogar die Folgen Babylons aufgehoben werden könn- ten,136 findet sich nicht nur nicht in der Welt der Bühne, sondern deutet an, dass der Geist Adams, wie oben schon erwähnt, übers Jahr wiederkehren wird (Walter lässt ihn ja zurückho- len.) Umso fataler, als Licht nur als zeitweilige Vertretung, »bis auf weitere Verfügung«,137 das Amt verwalten soll und Walter »als Hochzeitsgast«138 zurückkehren wird – Der zerbrochne Krug wird aufgeführt werden, zumal Frau Marthe im letzten Auftritt noch »zur Sache« fragt: »Soll hier dem Kruge nicht sein Recht geschehn?«139 Dafür steht nicht zuletzt Ruprechts Erinne- rung ein: »Vor sieben Jahren soll was Ähnliches / Im Land geschehen sein – «140 Während die Ronde im Marionettentheater, die eine Gruppe von vier Bauern nach einem raschen Takt tanzte, »von Teniers nicht hübscher [hätte] gemalt werden können«,141 wirkt die Ronde der Gruppe von vier Bauern – Frau Marthe, Eve, Veit und Ruprecht – um den Krug nur immer verwirrender nach einem immer rascheren Takt. Es ist eine Ronde à la Teufel, die den Tänzer über das Ende hinaus in einem Teufelskreis wie in einem Kalenderkreis gefanden hält.

130 Der zerbrochne Krug, V. 1889. 131 Ebd., V. 1899. 132 Ebd., V. 275f. 133 Ebd., Variant, V. 2412. 134 Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 25. April 1811, SWB II, S. 862. 135 Der zerbrochne Krug, V. 1953. 136 E. Ribbat (wie Anm. 42), S. 148. 137 Der zerbrochne Krug, Variant, V. 2418f. 138 Ebd., Variant V. 2393. 139 Ebd., V. 1971. 140 Ebd., V. 2329. 141 Über das Marionettentheater, SWB II, S. 339. 167 Der zerbrochne Krug

Dementsprechend sind Walters Münzen natürlich falsch, zumal auf denen trotz der nieder- ländischen Unabhängigkeit von Spanien noch »das Antlitz hier des Spanierkönigs«142 steht. Die falschen Münzen entlarven Walters falsche Garantie:

RUPRECHT. Pfui! ’s ist nicht wahr! Es ist kein wahres Wort!

WALTER. Was ist nicht wahr?143

Und die Münzen müssen falsch sein, um zu zeigen, dass Eve eine falsche Wahrheit erkannt hat und durch einen Kuss, man denke an die Funktion des Kusses im Alten Testament, auf einen falschen Vertrag eingegangen ist. Aber daran trägt Eve nicht allein die Schuld.

WALTER. Meinst du, daß dich der König wird betrügen?

EVE. O lieber, guter, edler Herr, verzeiht mir. – O der verwünschte Richter!

RUPRECHT. Ei, der Schurke!

WALTER. So glaubst du jetzt, daß ich dir Wahrheit gab?

EVE. Ob Ihr mir Wahrheit gabt? O scharfgeprägte, Und Gottes leuchtend Antlitz drauf. O Jesus! Daß ich nicht solche Münze mehr erkenne!

WALTER. Hör, jetzt gab ich dir einen Kuß. Darf ich?

RUPRECHT. Und einen tüchtigen. So. Das ist brav.144

Zu bemerken ist also, dass Eve in dem Moment nicht rational handeln kann. Sie ist noch durch den Bann des Schocks beeinflusst und dadurch ein wenig zerstreut. So redet sie stets knapp an der Rede des Gerichtsrats vorbei, ohne unmittelbar Ja oder Nein zu sagen. Zwar bringt ihr die Zerstreutheit eine phantastische Offenbarung, in der sich »Gottes leuchtend Antlitz« zeigt, ohne dass man wissen könnte, ob der gemeinte Gott sich auf das Gottesgnadentum oder auf die metaphysische Epiphanie bezieht; aber dieses den spanischen König transzendierende Er- kennen führt nicht zur Erleuchtung über die Wahrheit, sondern unterwirft Eve wiederum der (Ver-)Führung der männlichen Figuren, weil es ihr nach wie vor allein um das Leben Ruprechts zu tun ist, was sie auf den Bräutigam einerseits und die Institution andererseits angewiesen macht. Auch der Kuss, der während des »so« im Munde Ruprechts vollzogen wird, wird von diesem beurteilt und erhält erst dadurch seinen Wert. Eve fehlt bis zum Ende die Autonomie, wie gesagt, sie bleibt doch immer in derselben Ronde. Auch wenn Eve und Ruprecht am Ende resignativ verfahren, gelangen sie dadurch noch nicht zur Erlösung, weil ihre Resignation sich

142 Der zerbrochne Krug, V. 2370. 143 Ebd., V. 2365. 144 Ebd., V. 2371-2379. 168 Der zerbrochne Krug nicht auf das Jenseits der Institution, sondern überhaupt auf diese richtet,145 genauer: auf Walters Hand:

EVE. Das wollt Ihr tun?

WALTER. Das werd ich gleich besorgen.

EVE. O guter Herr! O wie beglückt ihr uns.146

Und es ist eben dieselbe Hand, die Adam aus dem Exil zurückholt, zumal die Pflicht Walters ja »die ist, uns, was wahr ist, zu verbergen.«147 Die Leute befinden sich also nach wie vor in derselben Dialektik. Und die Geschichte wird fortgesetzt. Kann aber die bare Münze den verlorenen Kredit wettmachen? Auch der anderen Hand mit Geld, »an invisible hand« in der Theorie des anderen Adams, nämlich der Adam Smith’schen Theorie, die Kleist während seines Aufenthaltes in Königsberg bei Christian Jakob Kraus, ei- nem Anhänger von Adam Smith, kennengelernt hat, ist Ruprechts Fall geschuldet. So wie sich der Terminus bei Smith gerade im vierten Kapitel des Wealth of Nations über/für eine freie Einfuhr ausländischer Waren findet, ist die Möglichkeit nach wie vor nicht auszuschließen, dass Ruprecht »[z]um Heil der Haager Krämer«148 nach Batavia geschickt wird, »[u]m Pfeffer und Muskaten einzuhandeln.«149 Ist Ruprecht dann noch mit 20, 100 oder wie viel Gulden auch immer freizukaufen? »Wohl uns, daß wir was Heilges, jeglicher, / Wir freien Niederländer, in der Brust, / Des Streites wert bewahren: so gebe jeder denn / Die Brust auch her, es zu ver- teidigen.«150 Nur bewahren die Krämer in der Brust nicht Ruprecht, nicht »Das junge Volk, das blühnde«,151 sondern »[v]ollwichtig, neugeprägte Gulden«,152 und zwar weit mehr als Eve sich jemals vorstellen kann.

145 Eves Resignation hat Dirk Grathoff im ähnlichen Sinne bemerkt. D. Grathoff (1981/82), S. 308; Von der Ruprechts ist bei Norbert Miller die Rede. S. 234. N. Miller: »„Du hast mir deines Angesichtes Züge be- währt...“ Der Zerbrochne Krug und die Probe auf den Augenblick«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 215-239, hier: S. 234. 146 Der zerbrochne Krug, V. 2389f. 147 Ebd., V. 2066. 148 Ebd., Variant V. 2061. 149 Ebd., Variant V. 2089. 150 Ebd., Variant V. 1986-1989. 151 Ebd., Variant V. 2082. 152 Ebd., Variant V. 2369. 169 Amphitryon

VI.4. Amphitryon Ein Lustspiel nach Molière

Man erinnere sich daran, dass Kleist sich als einen Vertreter in der Literaturgeschichte betrach- tete: »Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend im voraus, vor seinem Geiste. Denn in der Reihe der menschlichen Erfindungen ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein Glied und es wächst irgendwo ein Stein schon für den, der sie einst ausspricht.« 1 Was er hier angesichts seines gescheiterten Guiskard-Projekts schreibt, wurde, da er wieder zum Feder griff und den Entschluss fasste: »So lange das [Leben] dauert, werd ich jetzt Trauerspiele und Lustspiele machen«,2 zu seinem Bewusstsein, dass er, der er zeitlich »nach Molière« auf die Amphitryon-Geschichte einging, Vorrang vor diesem habe, zu- mal es um die Bearbeitung eines Mythus geht, die »dialogisch« verfährt, wie Hans Robert Jauß sagte, »als geschichtlich von Werk zu Werk fortschreitende Aneignung der Antwort auf eine große, Mensch und Welt im ganzen betreffende Frage, wobei die Antwort mit jeder Neufor- mulierung der Frage einen noch anderen Sinn erlangen kann.«3 Deshalb ist der Untertitel des Dramas sowohl intertextuell als auch epochal-progressiv zu verstehen. Die Forschungsliteratur zu Kleists Amphitryon ist reich an komparatistischer Forschung. Während man stets einen Vergleich zwischen Plautus, Molière und Kleist, oder zumindest zwi- schen den letzteren beiden, bemüht hat und bemüht,4 gehe ich davon aus, dass es sich bei einem Lustspiel, wie bei Der zerbrochne Krug, nicht nur um ein Lustspiel als Gattung, sondern auch um ein Kleist’sches Lust-Spiel im wörtlichen Sinne handelt, welches ein Herrscher – hier »Der Götter ewger, und der Menschen, Vater« Jupiter,5 wie dort »Gevatter Adam«,6 um seiner Lust willen aufführt und seine Pupillen (Mündel) ins Spiel bringt. Und wie sich Lust nicht selten chaotisch auswirkt, so dominiert im Spiel, in dem die alltägliche Ordnung außer Kraft gesetzt ist, Verwirrung. »Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist ein bloß unbegriffener!«7 Diese Sentenz ist gleichermaßen auf die reale Welt wie auf die fiktive Welt Kleists zu übertragen.

1 Brief an Ulricke von Kleist vom 5. Oktober 1803, SWB II, S. 736. 2 Brief an Otto August Rühle von Lilienstern vom 31. [August 1806], SWB II, S. 769. 3 Hans Robert Jauß: »Von Plautus bis Kleist: ›Amphitryon‹ im dialogischen Prozeß der Arbeit am Mythos«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 114-143, hier: S. 114. 4 Vgl. außer dem Beitrag Jauß’ vor allem Peter Szondi: »Amphitryon, Kleists ›Lustspiel nach Molière‹«, in: Ders. Schriften II, hrsg. von Jean Bollack u. a., Frankfurt a. M. 1978, S. 155-169; Wolfgang Wittkowski: Heinrich von Kleists „Amphitryon“ Materialien zur Rezeption und Interpretation, Berlin u. New York 1978; Uvo Hölscher: »Gott und Gatte. Zum Hintergrund der ›Amphitryon‹-Komödie«, in: KJb [1991], S. 109-123; Karlheinz Stierle: »Amphitryon. Die Komödie des Absoluten«, in: Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 33-74; Stephan Kraft: »Die Nöte Jupiters. Zum Verhältnis von Komödie und Souveränität bei Plautus, Molière und vor allem Kleist«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüre zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 208-225. 5 Amphitryon, V. 1394. 6 Der zerbrochne Krug, V. 1. 7 Brief an Karl Freiherrn von Stein zum Altenstein vom 4. August [1806], SWB II, S. 766. 170 Amphitryon

Die allererste Verwirrung in Amphitryon, die das Lustspiel über Jupiter resp. das Lust-Spiel Jupiters voraussetzt, ist die infolge seines Befehls verlängerte Nacht, also eine Aufhebung der grundsätzlichen Naturordnung, die den menschlichen All-Tag ganz und gar bestimmt. Dies hat eine Verzerrung der Welt zur Folge, (weil der Schwerpunkt der Zeit einseitig in die Nacht verlagert wurde,) zudem ist die Orientierung außer Kraft gesetzt, umso mehr, als es sich nicht um einen verlängerten Tag, sondern eben um eine verlängerte Nacht handelt. Das Auge ver- sagt in der Finsternis als unmittelbarster kognitiver Sinn. Stattdessen verstärkt sich die Sensi- bilität des Ohres und, sobald es etwas wahrnimmt, leistet dies der Phantasie Vorschub. So setzt das Drama mit der Frage des verwirrten Sosias’ ein:

Heda! Wer schleicht da? Holla! – Wenn der Tag Anbräche, wär mirs lieb; die Nacht ist – Was? Gut Freund, ihr Herrn! Wir gehen eine Straße – Ihr habt den ehrlichsten Gesell’n getroffen, Bei meiner Treu, auf den die Sonne scheint – Vielmehr der Mond jetzt, wollt ich sagen – Spitzbuben sinds entweder, feige Schufte, Die nicht das Herz, mich anzugreifen, haben: Oder der Wind hat durch das Laub gerasselt. Jedweder Schall hier heult in dem Gebirge. – 8

Geliefert wird hier ein paradigmatisches Beispiel für den Lösungsversuch für ein akustisches, d. h. formloses, und somit ambivalentes Phänomen: Entweder-Oder. In der kohlrabenschwar- zen »Mitternacht«,9 die nicht selten als Rahmen einer Geistergeschichte dient, beginnt Sosias’ Phantasie umherzuschweifeln und bietet somit dem Phantastischen einen Spielraum. Zwar denkt er als Vernunftwesen hier noch nicht an etwas Übernatürliches, (wenn mit den »Spitz- buben« nicht schon Naturgeister, wie Sosias später sagt, »koboldartig[e]«10 Wesen gemeint wä- ren), doch tritt in dieser Situation die Todesangst deutlich zu Tage: »Vorsichtig! Langsam! – Aber wenn ich jetzt / Nicht bald mit meinem Hut an Theben stoße, so will ich in den finstern Orkus fahren.«11 Hierbei handelt es sich um einen Ausnahmezustand, somit zwar an sich um ein übernatürliches Phänomen, jedoch ohne dass die menschlichen Protagonisten darum wüss- ten. In der Exposition dient diese Situation als ein besonders reaktionsfähiger status nascendi, in dem also dasjenige jederzeit auszubrechen droht, was sich dann, je nachdem, wie man damit umgeht, als das Unheimliche, das Wunderliche oder das Phantastische darstellen wird. So ist die Nacht erst dann ungewöhnlich, als sie Sosias, der das Stück exponiert, als ungewöhnlich wahrnimmt und dies an das Publikum so weitergibt.

8 Amphitryon, V. 1-10. 9 Ebd., V. 18. 10 Ebd., V. 702. 11 Ebd., V. 11ff. 171 Amphitryon

Da Sosias aber keine übernatürlichen Dinge bemerkt, kommt ihm die Nacht allenfalls un- heimlich vor. Bezeichnenderweise sieht er sich selber als über den Zustand erhaben, als er das Heim, »unser Haus!«,12 erblickt: »Triumph, du bist nunmehr am Ziel, Sosias, / Und allen Fein- den soll vergeben sein.«13 Aus diesem halb-heimlichen Zustand, (denn ist er allein!), zieht So- sias Nutzen, um seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, teils wegen seiner Aufgabe, von dem, was er in Wirklichkeit nicht weiß, als tatsächlich geschehen zu berichten, teils wegen seines Begehrens nach Ruhm und dem Liebesakt mit Alkmene, wie Volker Nölles die Theaterprobe Sosias’ deutet.14 Nölles Bemerkung, »Sosias’ Rollenspiel befördere die reale Verdoppelung sei- ner selbst und programmiere den von Merkur in Szene gesetzten Identitätsentzug mit«,15 ist insofern zuzustimmen, als die Phantasie als die Quelle des Lust-Spiels gilt, in dem der Wider- spruch zwischen Grenzziehung und Grenzübertretung ignoriert werden darf. Wie Goethes Faust selbst aus seinem menschlichen Begehren nach Wissen und sexueller Befriedigung, die sich erst später auf Gretchen richtet, Mephistopheles in der Nacht [!] heraufbeschwört und meint: »Ich bin’s, bin Faust, bin deines gleichen!«,16 so kann man sagen, dass Sosias selbst, aber eher unterschwellig, aus seinem menschlichen Begehren heraus Merkur heraufbeschwört und erfährt: »Dies Ich war früher angelangt, als ich, / Und ich war hier, in diesem Fall, mein Seel, / Noch eh ich angekommen war.«17 Noch mehr: Wie der HERR im Prolog im Himmel »so menschlich«18 zu Mephistopheles (Fausts Alter Ego) spricht: »Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, / Er liebt sich bald die unbedingte Ruh; / Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt, und muß als Teufel, schaffen«.19 So weiß Merkur (hier als Sosias’ »Teufels-Ich«20) in I/5 sein Missfallen gegen Charis hervorzubringen (»Wenn mich der Teufel plagte, zu scharwenzeln«)21 und nicht zuletzt in III/2 den willkürlichen Amphitryon – auch als »Teufel«22 – zu überlisten. Kleists Lustspiel ist also keine wunderbare Metamorphose, sondern ein menschliches, allezu menschliches Stück, zumal die Götter ihrem Wesen nach

12 Ebd., V. 29. 13 Ebd., V. 30f. 14 Volker Nölle: »Verspielte Identität. Eine expositorische ›Theaterprobe‹ in Kleists Lustspiel ›Amphit- ryon‹«, in: KJb [1993], S. 160-180, S. 171. 15 Ebd. In diesem Punkt ist Hilda Meldrum Brown ähnlicher Ansicht: »It [...] opens the door for Merkur to step in and occupy one of the two personae into which he has already split himself«. H. M. Brown: Heinrich von Kleist. The Ambiguity of Art and The Necessity of Form, Oxford u. New York 1998, S. 274. Dieselbe These wird auch von Gerhard Kurz geteilt: »Der Auftritt der Götter in Gestalt von Menschen erscheint so als eine Realisierung oder Personifizierung, jedenfalls als eine Fortsetzung der Rollen, die die irdischen Akteure vorher schon spielen.« G. Kurz: »„alter Vater Jupiter“. Zu Kleists Drama Amphitryon«, in: Gewagte Experi- mente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 169-185, hier: S. 177. 16 Johann Wolfgang Goethe: »Faust. Eine Tragödie«, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Ge- spräche, Bd. 7/1: Faust: Texte, hrsg. von Albrecht Schöne, Frankfurt a. M. 1994, S. 9-464, hier: V. 500. 17 Amphitryon, V. 666. 18 J. W. Goethe (wie Anm. 16), V. 353. 19 Ebd., V. 340-343. 20 Amphitryon, V. 742. 21 Ebd., V. 552. 22 Ebd., V. 1723. 172 Amphitryon nicht nur Inkarnationen der Natur, sondern auch die der Menschlichkeit sind. Oder anders ausgedrückt: Der Eingriff der Götter ist eigentlich der Einbruch der Natur, der der menschli- che Trieb zugehörig ist, der Eingriff in die Kultur, zu der sowohl die Hierarchie (Amphitryon vs. Sosias) als auch die Ehe (Charis vs. Sosias) gehören. Bezeichnenderweise findet die erste Szene genau da ihr Ende, wo Sosias’ reflexive Vernunft in ihrer Funktion als Zensor seiner wunderbaren Erzählung Einhalt gebietet: »Und als verwe- gen jetzt dem Hauptkorps er sich nahte, / Stürzt dies – halt! Mit dem Hauptkorps ists nicht richtig.«23 Dieses Innehalten bringt die Welt jedoch nicht wieder in Ordnung, sondern führt eine andere, überirdische Ordnung ein. Hierin ist eine Dynamik zu bemerken: Die Tat kommt aus der Idee und »l’idée vient en parlant.«24 Selbst im Traum ist Sosias wohl nicht eingefallen, dass seinem Gepräch eine performative Kraft innewohnt. Zwar kann er die Erzählung unter- brechen, aber nicht verhindern, dass die Welt, die er erst durch seine Exposition auf der Bühne heraufbeschwört, gerade durch seine Erzählung außer Kontrolle gerät. Anders gesagt: Er hat eine Welt erschaffen – verbal, wie es der Schöpfer getan hat, doch sie rebelliert gegen ihn. So nimmt Sosias sofort etwas wahr, was außerhalb seines Phantasielandes liegt: »Ich höre ein Ge- räusch dort, wie mir deucht.«25 Was sich hier noch als Akustisches, Unbestimmtes, Illusionäres nähert, wird durch sein Gespräch weiterhin vergegenständlicht. Er nimmt nämlich über sein Schwatzen die Außerordentlichkeit der Nacht wahr und bringt die Bedenklichkeit zum Aus- druck: »Entweder hat in Trunkenheit des Siegs / Mein Herr den Abend für den Morgen ange- sehn, / Oder der lockre Phöbus schlummert noch, / Weil er zu tief ins Fläschchen gestern guckte.«26 Diese phantastische Entweder-Oder-Interpretation, die die menschliche Ordnung auf der einen Seite und die göttliche Ordnung auf der anderen Seite durch eine Konjunktion verbindet und die beiden sozusagen in einer phantastischen Vorstellung zusammenfügt, hebt die Grenze zwischen den beiden Welten auf. Darüber entsteht eine phantastische Zwischenwelt, und zwar ein Rauschzustand (»Trunkenheit« und »Fläschchen«), in dem alle Regeln aufgehoben werden. Erst Sosias’ performative Interpretation ermöglicht es Merkur, wie die Regieanmer- kung andeutet, vor Sosias zu erscheinen:

MERKUR. Mit welcher Unehrbietigkeit der Schuft Dort von den Göttern spricht. Geduld ein wenig; Hier dieser Arm bald wird Respekt ihm lehren.

SOSIAS erblickt den Merkur. Ach bei den Göttern der Nacht! Ich bin verloren. Da schleicht ein Strauchdieb um das Haus, den ich

23 Ebd., V. 96f. 24 Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, SWB II, S. 319. 25 Amphitryon, V. 98. 26 Ebd., V. 115-118. 173 Amphitryon

Früh oder spät am Galgen sehen werde. – Dreist muß ich tun, und keck und zuversichtlich.27

In dem Satz, »Ich bin verloren«, kommt die Antizipation zum Ausdruck, dass seine Identität als »Ich« bei der Begegnung bzw. Heimsuchung verloren gehen wird. Aber Kleists Stück lässt sich nicht so einfach mit der Bemerkung besiegeln: »Die Erkenntnisproblematik beherrscht das Werk und verwandelt die Sprache überall. [...] Hauptgegenstand der Erkenntnis freilich ist im Amphitryon die Identität.«28 Aufmerksamkeit verdienen vielmehr die verschiendenen Reak- tionen auf die Identitätsproblematik. Sosias’ ursprüngliche Identität ist das weder weiter zu erklärende noch weiter erklärbare »Ich«,29 ein factum brutum, »des Ein- und Ein’gen Züge«,30 wie es später im Dialog zwischen Jupiter und Alkmene zur Debatte steht. Auch wenn Merkur versucht, ihn im Verhör in die soziale Ordnung einzuordnen, zu begreifen und damit über ihn zu verfügen, bleibt sein Wesen unversehrt:

MERKUR. Halt! mit so leichter Zech entkommst du nicht. Von welchem Stand bist du?

SOSIAS. Vom welchem Stande? Von einem auf zwei Füßen, wie Ihr seht.

MERKUR. Ob Herr du bist, ob Diener, will ich wissen?

SOSIAS. Nachdem Ihr so mich, oder so betrachtet, Bin ich ein Herr, bin ich ein Dienersmann.31

Hiermit liefert Sosias ein Gegenbeispiel für die Behauptung, dass bei Kleist »die Frage der Identität nicht mehr an der Instanz des Selbstbewußtseins, sondern an der Instanz des Du, d. h. an jener Gewißheit seiner Selbst entscheiden muß, die das Subjekt allein in der Beziehung zu einem anderen Subjekt finden kann.«32 Demgegenüber tappt Merkur wie ein Gattungsfor- scher in eine Falle, indem er den Gegenstand aus der (werdenden) gattungstheoretischen Per- spektive wahrnimmt, also in eine beliebige Subgattung – »Ob Herr du bist, ob Diener« – ein- zuordnen und zu definieren versucht, jedoch ohne seine omnisziente Lesefähigkeit, sondern vielmehr, indem er den menschlichen Perspektivismus – »so [...], oder so betrachtet« – teilt. Weil das so ist, kann Merkur Sosias’ Namen und Attribute erst »Auf das unmenschlichste«33

27 Ebd., V. 119-125. 28 P. Szondi (wie Anm. 4), S. 161f. 29 Amphitryon, V. 148. 30 Ebd., V. 1258. 31 Ebd., V. 151-156. 32 H. R. Jauß (wie Anm. 3), S. 131. Dabei ist zu bemerken, dass Jauß seine Aufmerksamkeit allein Alkmene und Amphitryon schenkte. Bianca Theisen vermerkt in ihrer Interpretation: »In Amphitryon, Drama der Ich- Spaltung durch Verdopplung, ist es wesentlich die Grenze zwischen Außen und Innen, die den leeren Raum des Selbst allererst durch das bestimmt, was an Resonanz von anderen und also ›von außen‹ in ihm wider- hallt.« B. Theisen: Bogenschluss. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg i. B. 1996, S. 91. 33 Amphitryon, V. 292. 174 Amphitryon durch Gewalt zur Kenntnis bringen und darüber verfügen: »Ach! / Ich bin jetzt, was du willst. Befehl, was ich / Soll sein, dein Stock macht dich zum Herren meines Lebens.«34 Hat Merkur aber dadurch triumphiert? Zweifelsohne wird Sosias schwer heimgesucht, und zwar gerade zwischen dem vernunftstif- tenden Heim und der vernunftdämmernden Nacht, zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. In solch einer hochambivalenten Schwellensituation fragt er sich: »Träum ich etwa? Hab ich zur Morgenstärkung / Heute mehr, als ich gewöhnlich pfleg, genossen? / Bin ich mich meiner völlig nicht bewußt?«35 Daraus zieht er den Schluss: »Das alles, fühl ich, leider, ist zu wahr nur«.36 Trotzdem ergänzt diese Wahrheit für ihn, den Hanswurst, nichts Fatales. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass er eine komische Figur ist, was Kleist bei seiner Abkehr vom hergebrachten Gattungsbegriff dennoch zu berücksichtigen verstand, aber vor allem auf seine Reaktion auf die übernatürliche Heimsuchung, indem er mit dem Spiel der Götter spielen kann. Dies manifestiert sich am deutlichsten darin, dass er in II/3 Merkurs Verhalten gegenüber seiner Frau unwillkürlich lobt:

CHARIS. [...] Und da ich jetzt mich niederbeuge, liebend, Zu einem Kusse, wendest du, Halunke, Der Wand dich zu, ich soll dich schlafen lassen.

SOSIAS. Brav, alter, ehrlicher Sosias!

CHARIS. Was? Ich glaube gar du lobst dich noch? Du lobst dich?

SOSIAS. Mein Seel, du mußt es mir zugute halten. Ich hatte Meerrettich gegessen, Charis, Und hatte recht, den Atem abzuwenden.37

Angesichts seines angespannten Verhältnisses zu Charis kann dies nicht als Lob der Redlichkeit Merkurs verstanden werden, wenn doch, dann muss man zumindest dabei bedenken, dass So- sias resigniert. Die spielerische Resignation ermöglicht es ihm, sich mit der neuen Identität abzufinden, auch wenn sie so ambivalent ist, wie es Merkur bestimmt: »Wenn ich nicht mehr Sosias werde sein, / Sei dus, es ist mir recht, ich willge drein.«38 Denn es geht Sosias nicht um den Namen, sondern um die Materialien: »Nun so sage mir, / Wie kommt der unerhörte Ein- fall dir, / Mir meinen Namen schamlos wegzugaunern? / Wär es mein Mantel, wärs mein Abendessen; / Jedoch ein Nam! Kannst du dich darin kleiden? Ihn essen? trinken? oder ihn versetzen?«39 Eben weil er nicht auf den Namen besteht, wird er nicht durch den Namen

34 Ebd., V. 238ff. 35 Ebd., V. 280ff. 36 Ebd., V. 295. 37 Ebd., V. 1076-1083. 38 Ebd., V. 377f. 39 Ebd., V. 262-266. 175 Amphitryon determiniert und bleibt autonom. Er »bringt sich in Sicherheit, indem er den Wert seiner Per- son nicht höher schätzt, als er zum Leben braucht.«40So stimmt er an der späteren Stelle Jupiter zu:

JUPITER. [...] Wer so besorgt um seinen Namen ist, Wird schlechte Gründe haben, ihn zu führen.

SOSIAS. Das sag ich auch. [...]41

Umso mehr: Mit dem Verzicht auf den Namen und somit die Bestimmung einhergehend wird Sosias’ Wunsch unterschwellig erfüllt: Er wird frei, hat Autonomie, kann sich graziös, wie Geist, spielerisch zwischen allen Schichten bewegen – er befindet sich nun an der Stelle, die Jupiter vorher eingenommen hat. Zwar »[d]er eine / Macht mich zum Hund, der andre mich zum Gott«,42 doch er fällt nicht in das Dilemma des Entweder-Hund-Oder-Gott, weil er sowohl Hund als auch Gott und zugleich weder Hund noch Gott sein kann; ihm ist es also gleichgültig, ob man ihn so oder so betrachtet, weil er per se er ist. So wagt er Amphitryon, der gewisser- maßen keine Macht mehr über ihn hat, zu fragen: »Soll ich nach meiner Überzeugung reden, / Ein ehrlicher Kerl, versteht mich, oder so, / Wie es bei Hofe üblich, mit Euch sprechen? / Sag ich Euch dreist die Wahrheit, oder soll ich / Mich wie ein wohlgezogner Mensch betra- gen?«43 Dementsprechend wagt der emanzipierte Sosias beliebig für den einen der Amphitry- onen zu sprechen, nur, weil bei diesem gegessen und getrunken werden wird: »Der ist der wirk- liche Amphitryon, / Bei dem zu Mittag jetzt gegessen wird.«44 Ihm darf man nicht Opportu- nismus vorwerfen, denn sein Verhalten ist eben der Beweis für seine Autonomie. Auch wenn er zugibt, »daß ich / Mich wieder ab ins Lager trollen mußte, / Weil ich ein unvernünftger Schlingel war«,45 ist ihm die angebliche Unvernunft nicht vorzuwerfen, denn gerade, weil er sich der Heimsuchung gegenüber unvernünftig verhält, findet er sich mit ihr ab und somit kann er »aus diesem Labyrinth«46 unversehrt hinausgelangen: »Ins Tollhaus weis ich den, der sagen kann, / Daß er von dieser Sache was begreift. / Es ist gehauen nicht und nicht gestochen, / Ein Vorfall, koboldartig, wie ein Märchen, / Und dennoch ist es, wie das Sonnenlicht.«47 Mit diesem Märchen umzugehen ist der Vernunft weniger angemessen als der Phantasie. Will man Aufklärung in die märchenhafte, aus der Perspektive des realen Lesers verkehrte Welt

40 Nobert Oellers: »›Kann auch so tief ein Mensch erniedrigt werden?‹ Warum ›Amphitryon‹? Warum ›ein Lustspiel‹?«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 72- 83, hier: S. 75. 41 Amphitryon, V. 1854ff. 42 Ebd., V. 1660f. 43 Ebd., V. 623-627. 44 Ebd., V. 1919f. 45 Ebd., V. 684ff. 46 Ebd., V. 348. 47 Ebd., V. 699-703. 176 Amphitryon einführen, dann sollte man auf die Phantasie zurückgreifen, anstatt sich von der Vernunft lei- ten zu lassen, und die Phantasie gezielt übertreiben, um das Märchen vor der Rationalisierung zu bewahren (wie man umgekehrt die reale Welt durch die vernunftorientierte Aufklärung vom Aberglauben bewahren wollte.) Dass Charis in Sosias »Den fernhintreffenden Apollon«48 zu erkennen wähnt, impliziert eigentlich schon den Anspruch auf die Aufklärung der Aufklärung, die in der verkehrten Welt gilt. Erst bis zur zweiten Begegnung zwischen Sosias und Merkur, als Sosias’ Phantasie über seine ambivalente Identität – »Ein mütterlicher Schoß hat uns / Ge- boren, eine Hütte uns beschirmt, / In einem Bette haben wir geschlafen, / Ein Kleid ward brü- derlich, ein Los uns beiden, / So laß uns auch aus einer Schüssel essen«49 – von Merkur als »ein Spiegel vor mir«50 negiert wird, geht seine schwebende Autonomie zugrunde und er wird sich endlich dessen bewusst, dass er »entsosiatisiert« worden ist.51 Ist er aber damit seinem Gegner erlegen? Nicht nur für die dramatis personae, sondern auch für die dramatis dei ist die Bühnenwelt ein Ausnahmezustand, wie Merkur betont: »Jetzt muß ich eilen und die Nacht erinnern, / Daß uns [!] der Weltkreis nicht aus aller Ordnung kommt.«52 Selbst die Götter, die wesentlich schon die vergötterten Menschlichkeiten sind, werden in diesem Spiel allmählich in die irdische Ord- nung einzementiert, wodurch sie ihre Omniszienz einbüßen. Gerade wo der göttliche allwis- sende Überblick fehlt, entsteht der Perspektivismus aus den Deutungen der verzerrten, un- durchschaubaren Welt. In der Begegnung zwischen Sosias und Merkur ist nicht nur die menschliche Figur verloren gegangen, sondern er verliert auch seine göttliche Überlegenheit, indem er von seinem Gegenspieler aus dem ursprünglichen Standpunkt provoziert wird und behauptet:

Denn ich bin, sag ich dir, Sosias, Sein Diener, Sohn des Davus, wackern Schäfers Aus dieser Gegend, Bruder Harpagons, Der in der Fremde starb, Gemahl der Charis, Die mich mit ihren Launen wütend macht; Sosias, der im Türmchen saß, und dem man Noch kürzlich funfzig auf den Hintern zählte, Weil er zu weit die Redlichkeit getrieben.53

48 Ebd., V. 1659. 49 Ebd., V. 1993-1997. 50 Ebd., V. 712. 51 Ebd., V. 2158. 52 Ebd., V. 517f. 53 Ebd., V. 310-317. 177 Amphitryon

Anstatt dass er Sosias vom Baum der Erkenntnis essen lässt, wie er es vergeblich versucht, isst er selbst unversehens von dessen Früchten, indem er sich Sosias nennt.54 Mit der Aneignung von Sosias’ Namen unterwirft er sich der fremden Bestimmung. Er ist nicht mehr der geflü- gelte Merkur, sondern von nun an »Sosias, der im Türmchen saß«, also nicht mehr beweglich, vielmehr wird er festgesetzt, bestimmt und ist dann in Sosias befangen, was für den Gott so fatal ist, dass er am Ende des Stückes sagen muss: »Daß ich sein häßliches Gesicht zu tragen, / Nun müde bin, daß ichs mir mit Ambrosia jetzt / Von den olympschen Wangen waschen werde; Daß er besingenswürdge Schläg empfangen, / Und daß ich mehr und minder nicht, als Hermes, / Der Fußgeflügelte der Götter bin!«55 Erst diese wesentliche Unterscheidung erlaubt es ihm, endlich als Gott der ihm außerordentlichen Welt den Rücken zu kehren und wieder Teil der göttlichen Ordnung zu werden. Wie gesagt, infolge des göttlichen Eingriffes, der verlängerten Nacht, und durch Sosias’ Deutung des Geschehnisses wird die Bühnenwelt ins Phantastische verkehrt, zwar nicht für den Leser bzw. Zuschauer, doch ganz und gar für die dramatis personae, die die Welt als ein Buch lesen wollen, aber nichts erlesen können, und die Welt als ein Spiel schauen, aber nichts ersehen. Wie kann man aber durch Hermeneutik die Wahrheit erfahren, wenn Hermes (Merkur) selbst auf dem Spiel steht und nicht mehr als ein vermittelnder Bote, sondern als blockierende Wache fungiert? In seinem Monolog, der eine ganze Szene füllt, bemerkt Merkur: »Wenn mir der Schuft mit seinem Zeterschrei, / Als ob man ihn zum Braten spießen wollte, / Nur nicht die Liebenden geweckt!«56 Denn, wenn man aus dem Rausch erwacht, muss man sich mit den Tatsachen konfrontiert sehen, und zwar mit den rätselhaften Tatsachen, die sich nur interpre- tieren lassen, aber nicht bewahrheiten. Als Amphitryon aus dem Krieg als souveräner Feldherr zurückkehrt und aus dem Sieges- rausch erwacht, stößt er sofort auf die rätselhafte Welt, und zwar wiederum durch Sosias’ Er- zählung und wiederum vor dem heimischen Herd. Darauf reagiert er mit dem rationalen Vor- wurf und weist die Schilderung ohne Umschweife als Märchen zurück: »Mir solche Märchen schamlos aufzubürden! / Erzählungen, wie unsre Ammen sie / Den Kindern abends in die Ohren lullen. – / Meinst du, ich werde dir die Possen glauben?«57 Dies entspricht der Verfah- rensweise seines Pedanten bei Euripides, die sich aus dem »Geist der griechischen Aufklärung, des 5. Jahrhunderts« ergibt.58 So rational er ist, so wenig ist der Thebanerkönig gegen das

54 Die Anspielung auf den Baum der Erkenntnis hat Gerhard Kurz so gedeutet: »Mit Insistenz wird im Drama alles das, was geschieht, auf die Perspektive subjektiver Wahrnehmung und Geltung bezogen. [...] Im Drama wird für die Erfahrung der Macht von Geltungen auch das Wort „Vorfall“ (V.755) oder „Fall (V. 1275) ge- braucht, mit dem Anklang an den Sündenfall. Es läge in der Ablösung einer Welt, in der Gott das Sein eines jeden Dings bestimmt und einem jeden seinen Namen gibt (vgl. 1. Mose 1), durch eine anthropozentrische Welt, in der für die Subjekte nur noch Geltungen gelten.« G. Kurz (wie Anm. 15), S. 179f. 55 Amphitryon, V. 2352-2357. 56 Ebd., V. 404ff. 57 Ebd., V. 607-610. 58 U. Hölscher (wie Anm. 4), S. 112. 178 Amphitryon

Unglaubliche gefeit; oder gerade, weil er so rational ist, verheddert er sich selbst im Unheimli- che: »Ich muß dies Teufelsrätsel mir entwirren, / Und nicht den Fuß ehr setz ich dort ins Haus.«59 Gleiches findet sich später, als er von Alkmene die unfassbare Erzählung hört und zu einem Verhör ansetzt: »Laß mich. / Es drängt nicht. Wie gesagt, es ist mein Wunsch, / Eh ich das Haus betrete, den Bericht / Von dieser Ankunft gestern – anzuhören.«60 Da seine Vernunft ihn vom Gehorsam gegenüber der heimatlichen Ordnung, die ihm jetzt als Fremdling nicht mehr vertraut ist, abhält, hält er mit seiner aufklärerischen Verfahrensweise entgegen und versucht, die Sache aufzuklären – zu diagnostizieren, zu entzaubern und zu psychologisieren: »Woher entspringt dies Irrgeschwätz? Der Wischwasch? / Ists Träumerei? Ist es Betrunkenheit? / Gehirnverrückung? Oder solls ein Scherz sein?«61 Er fragt überdies nach der Moral bzw. dem Sollen: »Doch sage mir auf dein Gewissen jetzt, / Ob das, was du für wahr mir geben willst, / Wahrscheinlich auch nur auf den Schatten ist. / Kann mans begreifen? reimen? Kann mans fassen?«62 Daraufhin antwortet Sosias auf seine Frage – »Wie soll ich das verstehn?«63 – nur knapp und klar: »Wie Ihrs verstehn sollt? / Mein Seel! Da fragt Ihr mich zu viel.«64 Auch seiner Frau Charis gegenüber, die gewissermaßen vernünftig ist,65 insistiert er auf seiner resig- nativen Haltung: »Ich möchte fast den Vorwitz bleiben lassen, / Zuletzt ists doch so lang wie breit, / Wenn mans nur mit dem Licht nicht untersucht. – «66 Hiermit wird offenbar, dass der Verstand einem phantastischen Geschehen gegenüber nur spekulieren, aber keineswegs den Punkt treffen kann. Und zwar führt die Vernunft, weil sie Anspruch auf Totalität erhebt, das ihr Widrige gewalttätig ad absurdum:

AMPHITRYON. Schweig. Was ermüd ich mein Gehirn? Ich bin Verrückt selbst, solchen Wischwasch anzuhören. Unnützes, marklos-albernes Gewäsch, In dem kein Menschensinn ist, und Verstand. Folg mir.67

Dies kommentiert Sosias ironischerweise quasi als Erzähler:

SOSIAS für sich.

59 Amphitryon, V. 616. 60 Ebd., V. 926-929. 61 Ebd., V. 669ff. 62 Ebd., V. 694-697. 63 Ebd., V. 650. 64 Ebd., V. 650f. 65 Sie antwortet z. B. auf Alkmenes emphatische phantastische Erzählung nur kurz und knapp: »Einbildung, Fürstin, das Gesicht der Liebe.« (Ebd., V. 1201). Nicht zuletzt sagt ihr Sosias: »Du wirst in diesem Stück vernünftig sein.« (Ebd., V. 1103). 66 Ebd., V. 1019ff. Auch wenn er seine Frau auf die Probe stellt, und zwar absichtlich: »wissen muß ichs!« (Ebd., V. 1022), wird sein Verhör bald darauf, wie ich oben gesagt habe, zum Hörgenuss der Merkur’schen Schwankerzählung. 67 Ebd., V. 762-766. 179 Amphitryon

So ists. Weil es aus meinem Munde kommt, Ists albern Zeug, nicht wert, daß man es höre. Doch hätte sich ein Großer selbst zerwalkt, So würde man Mirakel schrein.68

Da der eingeweihte Leser/Zuschauer weiß, dass die Wahrheit Sosias Recht geben wird, zerlegt er als Hanswurst nicht nur die Ernsthaftigkeit, sondern auch die ohnmächtige Vernunft in Hinsicht auf die Wahrheitsfindung. Hier offenbart sich eine Leitthese Kleists, nämlich, dass die Wahrheit für die Vernunft unzugänglich ist. Diese Leitthese wäre wohl auch ein Anlass für Kleist zu diesem Drama – neben dem Bemühen um »das künftige Lustspiel der Deutschen«,69 vermutlich in Zusammenarbeit mit Johannes Falk. Und kraft der Subversion des Lachens wird die Bloßstellung umso aggressiver. Amphitryons Vernunft droht dramatisch zu zerstieben, als seine innere Mauer vor der Leere des Kästchens, das unwahrscheinlich-wahrhaftig mit einem unversehrten Siegel gesichert ist, ihren Sinn verliert. Gegenüber diesem wunderbaren Geschehen stürzt der vernünftige Souverän in die Fassungslosigkeit und beruft sich unwillkürlich auf eine höhere, metaphysische Instanz: »O ihr allmächtgen Götter, die die Welt / Regieren! Was habt ihr über mich verhängt?«70 Alk- mene bezeichnet seinen Zustand dementsprechend als »Entgeisterung«.71 Denn sein rationa- ler Geist ist von nun an zunichte, orientierungslos und macht dem Wunderbaren, das seiner Meinung nach bloß zum Märchen gehöre, Platz – »Man kann dem Diadem nicht widerspre- chen«:72

Ich habe sonst von Wundern schon gehört, Von unnatürlichen Erscheinung, die sich Aus einer andern Welt hieher verlieren; Doch heute knüpft der Faden sich von jenseits An meine Ehre und erdrosselt sie.73

Diese Reflexion, die von Kleist selbst erfunden ist, verrät seine Akzentuierung in seiner My- thos-Bearbeitung: Seine Intention ist es darzustellen, wie man sich gegenüber einem phantas- tischen Phänomen als solchem verhalten würde. Amphitryon ergibt sich nicht, das kann er auch nicht. So wie er sich sonst als König und Feldherr souverän verhält, will er jetzt aktiv gegen den »nichtswürdigsten der Lotterbuben«,74 den Usurpator seines Throns, sowie für seine Liebe kämpfen, um Ehre und Selbstbewusstsein (im Gegensatz zur Orientierungs- und

68 Ebd., V. 766-769. 69 Helmut Sembdner: »Kleist und Falk. Zur Entstehungsgeschichte von Kleists ›Amphitryon‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1969], S. 361-396, hier: 371. 70 Amphitryon, V. 899f. 71 Ebd., V. 906. 72 Ebd., V. 917. 73 Ebd., V. 907-911. 74 Ebd., V. 974. 180 Amphitryon

Fassungslosigkeit) zu retten. So rafft er sich nach kurzweiligem Zusammenbruch wieder auf und kündigt an: »Fortan in Wut und Rache will ich schwelgen.«75 Denn nur kraft der aufge- regten Affekte kann er die Weiterexistenz seines Selbst fühlend erhalten. Den Verstand, der gegenüber dem nicht erfassbaren Geschehen versagt, tauscht er jetzt gegen das Gefühl in der Hoffnung, dadurch alles zu restituieren: »Schweig, ich will nichts wissen. / Du bleibst, und harrst auf diesem Platze mein.«76 Amphitryons reaktionäre Verfahrensweise bringt ihm jedoch keine neuen Erkenntnisse, vielmehr führt sie ihn in die Irre der ausweglosen Dialektik. Im Monolog brütet der Thebaner- könig erneut über das Geschehen, um es wiederum zu entzaubern, allerdings richtet er den Fokus nun nicht mehr auf die fatale Zauber-Box, sondern auf die seltsame Erzählung seiner Ehefrau:

Daß man ein Kleinod aus versiegeltem Behältnis wegstiehlt ohne Siegellösung, Seis; Taschenspieler können uns von fern Hinweg, was wir in Händen halten, gaunern. Doch daß man einem Mann Gestalt und Art Entwendet, und bei seiner Frau für voll bezahlt, Das ist ein leidges Höllenstück des Satans.77

Hier möchte ich nicht auf die Mischung zwischen Antike und Christentum hinweisen, wie kleistisch es sonst auch sein mag und tatsächlich in Amphitryon überall zu finden ist. Spricht Amphitryon als antike Figur von Satan, verweist er das Geschehen nicht in den metaphysischen, aber für die Antike realen Bereich, sondern wiederum ins Märchen, in die Fiktion, und ratio- nalisiert damit das Unfassbare. Sonst würde er von Thanatos sprechen oder »beim Hades!« sagen, wie Odysseus in Penthesilea,78 oder er würde, wie Merkur, nicht »zum Henker«, sondern »beim Styx!«79 schimpfen. Dies bringt Amphitryon dazu, über die Möglichkeit und Logik der Erzählung Alkmenes nachzudenken:

In Zimmern, die vom Kerzenlicht erhellt, Hat man bis heut mit fünf gesunden Sinnen In seinen Freunden nicht geirret; Augen, Aus ihren Höhlen auf den Tisch gelegt, Von Leib getrennte Glieder, Ohren, Finger, Gepackt in Schachteln, hätten hingereicht, Um einen Gatten zu erkennen. Jetzo wird man

75 Ebd., V. 977. 76 Ebd., V. 1004f. 77 Ebd., V. 1674-1680. 78 Penthesilea, V. 50. 79 Z. B.: Amphitryon, V. 101. 181 Amphitryon

Die Ehemänner brennen, Glocken ihnen, Gleich Hämmeln um die Hälse hängen müssen. Zu argen Trug ist sie so fähig just, Wie ihre Turteltaub; eh will ich an Die Redlichkeit dem Strick entlaufner Schelme, Als an die Tücke dieses Weibes glauben.80

Aus dieser analytischen Aufklärung zieht er den Schluss: » – Verrückt ist sie [Alkmene], und morgen, wenn der Tag graut, / Werd ich gewiß nach Ärzten schicken müssen. / – Fänd nur Gelegenheit sich, anzuknüpfen.« 81 Laut Michael Neumann unternimmt Amphitryon hier »ein[en] geradezu cartesianische[n] Rückgang zur letzten Gewißheit. Schritt für Schritt werden die einzelnen, täuschbaren Sinne weggenommen, bis das Letzte bleibt, das nicht mehr ge- täuscht werden kann: das Herz, jener innerste Kern des menschlichen Wesens.«82 Amphitryon philosophiert und vernünftelt, wobei er sich keineswegs auf seine Liebe für und sein Vertrauen zu Alkmene als letzte Gewissheit beruft, sondern auf seine konventionellen Erkenntnisse, die sich einerseits in seiner Fremdbeschreibung Alkmenes, andererseits in der Tendenz, Ärzte her- anzuziehen, manifestieren. Indem er sich der Erkenntnis des Sachverhalts gesichert wähnt: »Verrückt ist sie. Gewiss werde ich etwas dagegen errichten müssen«, versichert er sich seiner Ver- nunft, seiner Verfahrensweise und somit seiner Selbstgewissheit. Wie wenig zuverlässig die ärzt- liche Diagnose und die behauptete Erkenntnis bei Kleist sind, die eher zu einem Verkennen führen, weiß wohl der eingeweihte Leser, nicht jedoch Amphitryon. Je mehr er sich gegen die für ihn verkehrte Welt stellt, desto mehr scheint ihm die Welt entfremdet und vice versa, so dass er sich letztendlich fragt: »Hat ganz Theben heut / Tollwurz gefressen, den Verstand verloren?«83 Im Gegensatz zu Sosias, der sich durch seine resignative Haltung aus dem Laby- rinth gerettet hat, sieht Amphitryon keinen Ausweg: »O Himmel! Jede Stunde, jeder Schritt / Führt tiefer mich ins Labyrinth hinein.«84 Daran hat er aber selbst Schuld, indem er überlegt: »Welch ein Entschluß ist jetzo zu ergreifen?«85 Denn wer in der unfassbaren Welt mithilfe des Verstandes an die Dinge herangeht, ist nicht mehr überlegen; wer »[s]ein Lebensglück« trotz- dem darauf setzt, »[s]ich aufzuklären«, muss mit einem verkehrten Ergebnis rechnen, »wie de[m] Tod.«86

80 Ebd., V. 1681-1693. 81 Ebd., V. 1694ff. 82 Als Beispiel führt Neumann in der Tat den Dialog Alkmenes mit Charis an (V. 1161-1167), dessen Pendant, wie später gezeigt wird, Amphitryons Monolog ist. Michael Neumann: »Genius malignus Jupiter oder Alk- menes Descartes-Krise«, in: KJb [1994], S. 141-155, hier: S. 147. 83 Amphitryon, V. 1712f. 84 Ebd., V. 1824f. 85 Ebd., V. 1783. 86 Ebd., V. 1834ff. 182 Amphitryon

Als er wieder an die Tür seines Hauses »klopft«,87 seinem Ausgangsort, und im Begriff ist zurückzukehren, was eher einem Einbruch gleichkommt, ist er, wenn ich bewusst zugespitzt sagen darf, als Amphitryon gestorben. Weder, weil es »[z]wei Amphitryonen« gibt,88 noch, weil er passiv »entamphitryonisiert«89 wird, sondern weil er sich selbst entamphitryonisiert, um sich von dem anderen zu unterscheiden:

Wenn ihr jetzt zwischen mir und ihm, wie zwischen Zwei Wassertropfen, euch entscheiden müßt, Der eine süß und rein und echt und silbern, Gift, Trug, und List, und Mord, und Tod der andre: Alsdann erinnert euch, daß ich Amphitryon, Ihr Bürger Thebens, bin, Der dieses Helmes Feder eingeknickt.90

Ohne die Feder auf dem Helmbusch als Signum seiner Autorität bzw. Identität gilt er nicht mehr als Thebaner Feldherr bzw. König. Er hat sich selbst im gewissen Sinne getötet – trotz der Warnung seines Volkes: »Oh! Oh! Was machst du? laß die Feder ganz, / So lang du blühend uns vor Augen stehst.«91 Umso fataler, als er sein Volk dazu bringt, sich bloß auf das sinnlich Erkennbare zu konzentrieren und die Menschen über ein einziges Medium, den Spiegel, in gemeinschaftlicher Anschauung zusammenführen will:

Drum sammelt eure Sinne jetzt, und wärt Ihr tausendäugig auch, ein Argus jeder, Geschickt, zur Zeit der Mitternacht, ein Heimchen Aus seiner Spur im Sande zu erkennen, So reißet, laßt die Müh euch nicht verdrießen, Jetzt eure Augen auf, wie Maulwürfe, Wenn sie zur Mittagszeit die Sonne suchen; All diese Blicke werft in einen Spiegel, Und kehrt den ganzen vollen Strahl auf mich, Von Kopf zu Fuß ihn auf und nieder führend, Und sagt mir an, und sprecht, und steht mir Rede: Wer bin ich?92

Durch den einen einzigen Spiegel wird auch Argus zur zyklopischen Einseitigkeit genötigt. Genau deshalb ist das ganze Volk, dem Kommandeur gehorchend, außer Stande, das Innere

87 Ebd., Regieanweisung nach V. 1836. 88 Ebd., V. 1840. 89 Ebd., V. 2159. 90 Ebd., V. 2119-2125. 91 Ebd., V. 2126f. 92 Ebd., V. 2100-2111. 183 Amphitryon

Amphitryons wahrzunehmen und zu erkennen, und verliert sich im Bann des leeren, aber den- noch trügerischen Zeichens. So fragt das Volk, als es sich mit dem anderen Amphitryon kon- frontiert sieht: »Kann sich ein menschlich Auge hier entscheiden?«93 Es hätte es sehr wohl können, insofern die Angetraute Alkmene und der Helmbusch als Zeichen für den Jupiter- Amphitryon gesprochen hätten, dies wird aber durch Amphitryons Handeln torpediert. Indem dieser die Feder einknickt, knickt er seine letzte Chance ein, als Amphitryon erkennbar bzw. identifizierbar zu sein, wie Alkmene sagt: »Geh! Deine schnöde List ist dir geglückt, / Und meiner Seele Frieden eingeknickt.«94 Auch die Gewalt, die auszuüben er als Feldherr das Recht hatte, hilft ihm nun nicht mehr weiter, vielmehr diskreditiert sie ihn als Feigling: »Nichts von des Schwerts feigherziger Entscheidung.«95 Obwohl Amphitryon behauptet, »Bei Sinnen fühl ich mich, weiß, was ich tue«,96 täuscht ihn sowohl die Empfindung wie auch das Gehirn. An dieser Stelle sei nochmals bewusst zugespitzt darauf hingewiesen, auch später nochmals dar- gelegt, dass Amphitryon den eigenen Tempel zerstört und dadurch seine Frau, die allein in der Lage ist, der Wahrheit eine Stimme zu geben,97 als Heiligtum des Amphitryontums verliert. Das Ergebnis: Amphitryon wird ohnmächtig, »fällt dem Sosias in die Arme«,98 und dieser sagt: »Mein Seel! Er wird schlecht hören. Er ist tot.«99 Er verliert alles gegenüber seinem allmächti- gen Nebenbuhler und muss schließlich zugeben: »dein ist alles, was ich habe.«100 Er verliert sein eheliches Recht: »Doch laß sie ruhn, wenn sie dir bleiben soll! – «,101 sein herrschaftliches Recht: »Fürwahr! Solch ein Triumph – / [...] So vieler Ruhm – / Du [Jupiter] siehst durchdrun- gen uns – «,102 und sein väterliches Recht: Statt der Zwillinge im ursprünglichen Mythos sind ihm nur Herkules geboren, also ohne Iphikles von Amphitryon. Es ist für ihn nur umso schlim- mer, als die Geburt nicht in das Geschehen auf der Bühne eingebunden ist, sondern in die unendliche Zukunft projiziert wird. Wenn Herkules nicht auf die Welt kommt, schlägt sein »liebster Wunsch«103 fehl; wenn er kommt, muss ihn der Halbgott stets an die Schande erin-

93 Ebd., V. 2185. 94 Ebd., V. 2261f. 95 Ebd., V. 1899. 96 Ebd., V. 2129. 97 Ebd., V. 2230. Durch eine gleiche Syntax wie in Robert Guiskard wird artikuliert, dass Alkmene eine heilige Kompetenz hat wie Robert Guiskard:

ERSTER FELDHERR. Sprecht! ZWEITER FELDHERR. Redet! DRITTER FELDHERR. Sagt uns! – ZWEITER FELDHERR. Fürstin, sprecht ein Wort! – (Ebd., V. 2228)

Der Unterschied liegt darin: Während Guiskard per se das Guiskardtum vertritt, dient Alkmene zur Erhaltung des Amphitryontum. 98 Ebd., Regieanweisung nach V. 2187: »Vernichtung!« 99 Ebd., V. 2189. 100 Ebd., V. 2314. 101 Ebd., V. 2348. 102 Ebd., V. 2361f. 103 Ebd., V. 2328. 184 Amphitryon nern und determiniert mithin seine traurige Zukunft. Es gibt so oder so keine positive Verhei- ßung. Nicht zuletzt gilt sein Name nicht mehr als selbstverständlich und alleineinzig, sondern wird ihm von der Autorität nur großherzig gegönnt:

JUPITER. Wohlan! Du bist Amphitryon.

AMPHITRYON. Ich bins! – Und wer bist du, furchtbarer Geist?

JUPITER. Amphitryon. Ich glaubte, daß du wüßtest.

AMPHITRYON. Amphitryon! Das faßt kein Sterblicher. Sei uns verständlich.104

Amphitryon verliert damit seine Funktion als Zeichen. Stattdessen muss man sich an Jupiter orientieren: »[S]einer göttlichen / Zufriedenheit soll dir ein Zeichen werden.«105 So hat auch Goethe bemerkt: »Der wahre Amphitryon muß es sich gefallen lassen, daß ihm Zeus diese Ehre angetan hat.«106 Der reaktionäre Plan ist am Ende als misslungen besiegelt; Amphitryon wird vom Souverän zum Untertanen, um nicht zu sagen: vom Gott zum Abgott. Statt die Welt wieder in die ihm vertraute Ordnung zu versetzen, muss er sich selbst am Ende der göttlichen Ordnung unterwerfen und einen hohen Preis bezahlen. Im Hinblick darauf ist das gleichna- mige Stück nicht der Komödie zuzuordnen; es sei denn, der Titel lautete Sosias. Amphitryons Widersacher Jupiter revolutioniert, indem er bestrebt ist, Amphitryons Ord- nung umzustürzen. Seine ersten Worte im Drama richten sich bereits gegen den Thebanerkö- nig: »Laß, meine teuerste Alkmene, dort / Die Fackeln sich entfernen.«107 (Man erinnere sich an Amphytrions Bemerkung: »In Zimmern, die vom Kerzenlicht erhellt, / Hat man bis heut mit fünf gesunden Sinnen / in seinen Freunden nicht geirret.«108) In seiner weiteren Worten weist er das geläufige Gesetz zurück: »Du weißt, daß ein Gesetz der Ehe ist, / Und eine Pflicht, und daß, wer Liebe nicht erwirbt, / Noch Liebe vor dem Richter fordern kann. / Sieh dies Gesetz, es stört mein schönstes Glück.«109 Jupiters Absicht ist klar, Verwirrung bei Alkmene zu stiften, sei er Descartes’ genius malignus110 oder nicht. Denn nur durch Verwirrung kann er die Mauer der (praktischen) Vernunft in Alkmene einreißen und sich in sie einschleichen – sowohl im moralischen als auch im körperlich-erotischen Sinne. Es genügt ihm nicht, bloß als Amphitryon die Lust durch den Geschlechtsakt zu befriedigen, sonst wäre er allenfalls ein Untertan der Thebäischen Ordnung, der menschlichen Zivilisation: »[S]prich, / Ob den Ge- mahl du heut, dem du verlobt bist, / Ob den Geliebten du empfangen hast?«111

104 Ebd., V. 2291-2295. 105 Ebd., V. 2317f. 106 LS, Nr. 182a. 107 Amphitryon, Ebd., V. 410. 108 Ebd., V. 1681ff. 109 Ebd., V. 446-449. 110 Vgl. M. Neumann (wie Anm. 82). 111 Amphitryon, V. 455ff. 185 Amphitryon

Darum ist Jupiter kastriert: Nicht er selbst, sondern er als »Gott der Zeugungsnacht«,112 der nur nach dem Ritual der Eheschließung erscheinen darf. Im weiteren Sinne ist Jupiter die Natur, wie er sich im Spiegel des Pantheismus bezeichnet:

Ist er dir wohl vorhanden? Nimmst du die Welt, sein großes Werk, wohl wahr? Siehst du ihn in der Abendröte Schimmer, Wenn sie durch schweigende Gebüsche fällt? Hörst du ihn beim Gesäusel der Gewässer, Und bei dem Schlag der üppgen Nachtigall? Verkündet nicht umsonst der Berg ihn dir Getürmt gen Himmel, nicht umsonst ihn dir Der felszerstiebten Katarakten Fall?113

Röte, Wasser, Musik, Nacht und üppiger Liebesgesang, auch der Berg in der Form eines Penis: Die Natur ist der Trieb allgegenwärtig, denn ihr erstes Prinzip ist Zeugung. Dass Jupiter die Lust nicht weniger verkörpert als Pan, zeigt sich außerdem darin, dass er zuvor schon mit »Kallisto«, »Europa«, »Leda«,114 und gemäß dem Mythos zahlreichen anderen Frauen Diosku- ren gezeugt hat. Als Vertreter der Natur will Jupiter nicht erst durch das irdische Gesetz legiti- miert werden: »Wie kann dich ein Gesetz der Welt nur quälen, / Das weit entfernt, beschrän- kend hier zu sein, / Vielmehr den kühnsten Wünschen, die sich regen / Jedwede Schranke glücklich niederreißt?«115 Er stellt sich dem entgegen. Solch eine moralische Regel ist ihm über- natürlich, ja übergöttlich. Nach seinem Willen sollen überhaupt alle Schranken aufgehoben werden. Die Natur als solche, die inzwischen kastriert bzw. verdrängt wurde, regrediert jetzt als Heim- suchung: »Er kam, wenn er dir niederstieg, / Dir nur, um dich zu zwingen ihn zu denken, / Um sich an dir, Vergessenen, zu rächen.«116 Denn Alkmenes Abgötterei ist nichts Geringes als Kul- tivierung: Sie gedenkt allein an den, der durch ein kulturelles Ritual mit ihr verbunden ist; sie, indem sie die unendliche Natur durch eine endliche Form ablöst, depotenziert die Zeugungskraft in eine der Kultur gemäße Form. »Entsetzlich!«, so muss Alkmene zwei Male hintereinander antworten,117 weil die Jupiter-Natur ihre innere (Stein)-Mauer ent-setzt, wie ein Eros-Katarakt den moralischen Felsen durch Erosion abträgt und in kleine Teile zerstieben lässt. »Du unter-

112 Arthur Henkel: »Erwägungen zur Szene II, 5 in Kleists ›Amphitryon‹« [1974], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966-1978, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981, S. 200-222, hier: S. 220f. Vgl. außerdem ders.: »Zur Frage nach dem Sinn von Kleists ›Amphitryon‹«, in: KJb [1981/ 82], S. 278-285. 113 Amphitryon, V. 1420-1428. 114 Ebd., V. 1352f. 115 Ebd., V. 461-464. 116 Ebd., V. 1464ff. 117 Ebd., V. 1434 u. V. 1467. 186 Amphitryon nimmst, Kurzsichtge, ihn zu meistern, / Ihn,« so fragt Jupiter ironischerweise, »der der Men- schen Herzen kennt?«118 Er kennt es, dass sie die Lust als »Schreck am Rocken [...] durch- zuckt«.119 Er will, dass sie sich, wenn sie die Lust überkommt, sich selbst überlässt und eine Stunde lang masturbiert:

So oft du seinen Namenszug erblickst, Dem Diadem verzeichnet, wirst du seiner Erscheinung auf das Innigste gedenken; Dich der Begebenheit auf jeden Zug erinnern; Erinnern, wie vor dem Unsterblichen Der Schreck am Rocken dich durchzuckt; wie du Das Kleinod von ihm eingetauscht; wer dir Beim Gürten hülfreich war, und was Beim Ortolan geschehn. Und stört dein Gatte dich, So bittest du ihn freundlich, daß er dich Auf eine Stunde selbst dir überlasse.120

Indem die Natur die kulturelle Macht außen vor lässt, trägt sie vor der klischeehaften Konkur- renz den Sieg davon und ist gegen den Widersacher immun – zumindest innerhalb dieser einen Stunde. Sodann entspricht Alkmene »[s]o urgemäß, dem göttlichen Gedanken, / In Form und Maß, und Sait und Klang, / Wie’s meiner Hand Äonen nicht entschlüpfte!«121 Allerdings vermag Jupiter seine naturrechtliche Revolution nicht umzusetzen, weil er selbst im Traum nicht gewahr wird, dass die Moral als kulturelle Macht so mächtig ist, dass sich der Mensch der Natur entgegen verhalten kann, wie etwa in einem Selbstmord, der das natürliche Prinzip der Selbsterhaltung durchaus widerlegt. Alkmenes Worte, »Verleugnest ihn [den Stein als Beweis ihrer Unschuld], so sei der Tod mein Los / Und ewge Nacht begrabe meine Schmach«,122 bringen Jupiter aus der Fassung, so dass er sich zuerst regulieren muss, um sich dann dagegen auszurichten: »Was willst du? Fasse dich.«123 Indem er auf die Bitte eingeht, geht er in die Kultur ein und darf nicht mehr der Gott des Hen kai Pan sein noch der Gott von dem, »was da war, was ist und was sein wird«,124 sondern einer, der in diesem Augenblick in diesem Zimmer festgesetzt ist, eben ein »[v]erlorener Mensch!«125 Jupiters Metamorphose in einen Menschen bindet ihn nicht nur an die menschliche Gestalt, sondern auch an das mensch- liche Wesen. So kann er nicht mehr über Alkmene als Kreatur verfügen, sondern muss sie als

118 Ebd., V. 1372f. 119 Ebd., V. 1480. 120 Ebd., V. 1475-1485. 121 Ebd., V. 1571ff. 122 Ebd., V. 1243f. 123 Ebd., V. 1247. 124 Ebd., V. 2300. 125 Ebd., V. 1348. 187 Amphitryon

»[s]einer Seelen Weib« auffassen.126 Deshalb wagt es Jupite, noch während er auf das Namens- wunder des weggezauberten Diadems stolz ist,127 schließlich nicht mehr, sich mit dem J zu signifizieren, seit Alkmene mit Suizid droht. Statt sich weiter auf die Polarität und Agonalität (hier: A oder J) zu berufen, die »die politische Welt in einem revolutionären Umbruch« bestim- men,128 sieht er es nunmehr darauf ab, die Referenz auf sich selbst ambivalent zu halten, um Alkmene aus dem Schuldgefühl zu erretten. Bezeichnenderweise bedient er sich keiner Eigen- namen mehr, sei es Amphitryon oder Jupiter, sondern referiert allein durch ein Personalpro- nomen auf sich selbst, um dem Schock infolge der Namensverschiebung entgegenzuarbeiten:

JUPITER. [...] Auch selbst den Glückliche, den du emphängst Entläßt dich schuldlos noch und rein, und alles, Was sich dir nahet, ist Amphitryon.

ALKMENE. O mein Gemahl! Kannst du mir gütig sagen, Warst dus, warst du es nicht? O sprich! Du warsts!

JUPITER. Ich wars. Seis wer es wolle. Sei – sei ruhig, Was du gesehn, gefühlt, gedacht, empfunden, War ich: wer wäre außer mir, Geliebte?129

Durch diese ambivalente Verfahrensweise wird nicht nur der Signifikant »Amphitryon« ausge- höhlt, der also nicht mehr auf seine soziale Bestimmung, den Gemahl, referiert, sondern auch das Signifikat »Ich« wird untergraben, das nun es ist, »seis wer es wolle.« Auch wenn Jupiter weiter zu definieren scheint (Sei – [es Amphitryon, dann...]), wird sein Vorhaben deutlich von Alkmenes Affekt unterbrochen (sei ruhig) und es drängt ihn, das ambivalente Spiel weiterzu- führen. Das Spiel aber ist nicht verheißungsvoll, denn es geht um eine Notmaßnahme. Ihm fehlt also die graziöse Autonomie, zumal währenddessen seine Behauptung von Alkmene wie- derholt verneint wird: »Ich will nichts hören, leben will ich nicht, / Wenn nicht mein Busen mehr unsträflich ist.«130 Wehe ihm, der jetzt auf die Bedingung eingeht und notgedrungen den Dritten miteinbezieht, um die Welt zu behalten. »Eins ist der Herr. Zwei ist das finstre Chaos. / Drei ist die Welt.«131 – was der Richter Adam im zerbrochnen Krug sagt, gilt auch hier in Jupiters Spiel, dessen Ein- richtung nicht weniger gebrechlich ist als die des Adam’schen Spiels:

Er war

126 Ebd., V. 1318. 127 Ebd., V. 1385-1389. 128 Peter Philipp Riedl: »Eine bessere Ordnung der Dinge? Die Psychologie revolutionärer Gewalt im Werk Heinrich von Kleists«, in: Heinrich von Kleist. Konstruktive und destruktive Funktion von Gewalt, hrsg. von Ricarda Schmidt, Seán Allan u. Steven Howe, S. 97-116, hier: S. 101. 129 Amphitryon, V. 1261-1268. 130 Ebd., V. 1279. 131 Ebd., V. 1532f. 188 Amphitryon

Der Hintergangene, mein Abgott! Ihn Hat seine böse Kunst, nicht dich getäuscht, Nicht dein unfehlbares Gefühl! Wenn er In seinem Arm dich wähnte, lagst du an Amphitryons geliebter Brust, wenn er Von Küssen träumte, drücktest du die Lippe Auf des Amphitryon geliebten Mund.132

Im Gegensatz zum »Du«, das hier ins Zentrum gerückt und sichergestellt wird, ist die jeweilige Referenz des »Er« und »Ich« sehr ambivalent. Auf den ersten Blick (des Lesers) referiert das »Er« auf Jupiter und das »Ich« auf Amphitryon, aber, wenn umgekehrt das Ich, nämlich der göttliche Amphitryon, das Er, nämlich den menschlichen Amphitryon, als Abgott bezeichnet, ist es in der Tat so: Der Mensch bezeichnet den Gott als Abgott. Je mehr er auf der Differenz insistiert, desto mehr gewinnt die Referenz an Vagheit. Das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen wird also durch die Sprache pervertiert, aber nicht umgekehrt, sondern die differie- rende Grenze wird auf Ewigkeit verwischt

JUPITER. Er, Jupiter, sag ich.133

Während er am Anfang darauf besteht, »Ich möchte dir, mein süßes Licht, / Dies Wesen eigner Art erschienen sein«,134 wird nun dieses auf Ich bezogene Wesen durch sein destruktives ver- bales Spiel destruiert. Jupiters Unglück ist schon da determiniert, als er »deine Schwelle [...] betreten hat«,135 d. h. sich aus der autonomen Ich-Stelle in eine heterome Du-Aura begibt. Insofern lässt sich Ulrich Fülleborns Bemerkung zustimmen: »Der Gott mußte, um sich die Bedingungen für ein irdisch- menschliches Glück zu verschaffen, vom Olymp herabsteigen, wie der Dorfrichter Adam zu Eve hinaufgestiegen ist.«136 Er wollte heimsuchen, doch in diesem fremden Heim hat seine göttliche Ordnung keine Gültigkeit, weil im Frauen-Zimmer allein das Frauenzimmer herrscht. Aus sei- nem Spiel wird bitterer Ernst, denn in dieser Du-Welt gibt es keinen Ich-Jupiter mehr, weil, wie erstmals Szondi beobachtet hat, »bei Alkmenens drei Entscheidungen – im ersten, im zwei- ten und im dritten Akt – ihr Bewusstsein jedesmal ein anderes ist und daß es auch in Wirklich- keit nicht nur Amphitryon und Jupiter gibt, sondern auch, ja allen voran, den Jupiter-Amphit- ryon.«137 Auch die mythische Epiphanie am Ende, wodurch sich der herumschweifende Jupi- ter wieder als Ich-Jupiter mit seinem Attribut, »der große Donnerer«,138 zu erkennen gibt, ist

132 Ebd., V. 1287-1294. 133 Ebd., V. 1338. 134 Ebd., V. 474f. 135 Ebd., V. 1269. 136 Ulrich Fülleborn: »›Amphitryon‹ Kleists tragikomisches Spiel vom unverfügbaren ›Erdenglück‹«, in: KJb [2005], S. 185-215, hier: S. 197. 137 P. Szondi (wie Anm. 4), S. 167. 138 Amphitryon, V., 2313. 189 Amphitryon dies nicht »[d]ie Lösung, die das Stück schließlich anbietet.«139 Denn eben der Rekurs auf seine ursprüngliche Identität markiert das Fiasko seiner Revolution, die er schon während der Aus- einandersetzung mit Alkmene als »Wahn, der mich hieher gelockt«,140 bezeichnet hat. Er muss zurückkehren und dem ursprünglichen Thebanerkönig gegenüber zugeben: »Willst du in seiner Schuld den Lohn dir finden, / Wohlan, so grüß ich freundlich dich, und scheide. / Es wird dein Ruhm fortan, wie meine Welt, / In den Gestirnen seine Grenze haben.«141 Bezeichnen- derweise ist er dann nicht mehr Jupiter, der sich bereits mit Amphitryon, wie »[z]wei Wasser- tropfen«,142 vermischte, sondern »Zeus«,143 der nun als alter ego den Jupiter der Ausschweifung bezichtigt. Diese Entschuldigung bzw. Selbstbeschuldigung degradiert seine Revolution zu ei- ner Farce. Und Alkmene? Für sie ist Jupiters Spiel nichts weiter als phantastisch. Sie weiß gar nicht, ob derjenige, der in II/5 vor ihr steht und spricht, der unheimliche Amphitryon oder der wunder- liche Jupiter ist. Umso mehr, als die Szene, in der Jupiter sie heimsucht, auch phantastisch gestaltet ist: »Der Abend dämmerte, / Ich saß in meiner Klaus und spann, und träumte [!] / Bei dem Geräusch der Spindel mich ins Feld, / Mich unter Krieger, Waffen hin, als ich / Ein Jauchzen an der fernen Pforte hörte.«144 Sie befand sich also gleichsam in einem somnambulen Zustand und weiß nun nicht, ob sie von Amphitryon bloß geträumt oder ihn wirklich empfan- gen hat. Trotzdem bleibt die Protagonistin, wie später gezeigt werden wird, am Ende unver- sehrt – dank ihrer ambivalenten Sichtweise, die sich immer auf sie selbst und allein auf die subjektive Zweckmäßigkeit bezieht, wie ihr Dialog mit Jupiter anfangs bereits zeigt:

ALKMENE. Amphitryon! Du scherzest. Wenn das Volk hier Auf den Amphitryon dich schmähen hörte, Es müßte doch diech einen andern wähnen, Ich weiß nicht wen? Nicht, daß es mir entschlüpft In dieser heitern Nacht, wie, vor dem Gatten, Oft der Geliebte aus sich zeichnen kann; Doch da die Götter eines und das andre In dir mir einigten, verzeih ich diesem Von Herzen gern, was der vielleicht verbrach.145

139 Dies haben Helmut Bachmaier und Thomas Horst konstatiert. H. Bachmaier u. T. Horst: »Die mythische Gestalt des Selbstbewusstseins. Zu Kleists ›Amphitryon‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1978], S. 404-441, hier: S. 408. 140 Amphitryon, V. 1512. 141 Ebd., V. 2323-2326. 142 Ebd., V. 2120. 143 Ebd., V. 2316. 144 Ebd., V. 930-934. 145 Ebd., V. 484-492. 190 Amphitryon

Die Kompetenz zur ambivalenten Sichtweise, die vom Herzen ausgeht, hilft ihr dabei, vom äußerlichen Phänomen unabhängig zu sein und den Schwerpunkt in sich selbst zu setzen:

ALKMENE. So willst du fort? Nicht diese kurze Nacht bei mir, Geliebter, Die mit zehntausend Schwingen fleucht, vollenden?

JUPITER. Schien diese Nacht dir kürzer als die andern?

ALKMENE. Ach!146

Ihr ist keineswegs Unvernünftigkeit oder Gefühlsduselei vorzuwerfen. Denn, um einmal den Mythos zu zitieren, sie gehört zusammen mit Tyro und Mykene zu den »Achaierfrauen«, deren »schöne Arbeit und tüchtiges Denken und Listen« nur hinter Penelopeia rangieren sollen.147 Ihre Vernunft wird überdies von Kleist dadurch artikuliert, dass sie in II/2 ihrem vernünftigen Mann gegenüber immer eine Antithese in derselben Syntax gegen seine rational argumentierte These einwendet und dabei seine Vernunft verhöhnt. Hier nur ein Beispiel, damit das Zitat nicht ausschweift:

AMPHITRYON. Hat mich etwa ein Traum bei dir verkündet, Alkmene? Hast du mich vielleicht im Schlaf Empfangen, daß du wähnst, du habest mir Die Forderung der Liebe schon entrichtet?

ALKMENE. Hat dir ein böser Dämon das Gedächtnis Geraubt, Amphitryon? hat dir vielleicht Ein Gott den heitern Sinn verwirrt, daß du Die keusche Liebe deiner Gattin, höhnend, Von allem Sittlichen entkleiden willst?148

Ihre Vernunft wird erst dann unterlaufen, als sie bemerkt, dass auf dem Diadem, »[d]as einzig, unschätzbare, teure Pfand, / Das ganz untrüglich mir zum Zeugnis dient,«149 nicht ein A für Amphitryon, wie sie behauptet und auf das sie sich berufen hat, sondern »ein andres fremdes Anfangszeichen«150 J steht, das auf Gott weiß wen referiert. Wie im Part der Reflexion Am- phitryons ist diese Wandlung auch Kleists Erfindung und mit derselben Zielsetzung versehen – zur Darstellung der Reaktion Alkmenes darauf. Diese Wandlung von A zu J, vom geschlos- senen Zeichen-Inhalt-Verhältnis zum offenen, so vieldeutigen wie leeren Zeichen ohne Inhalt,

146 Ebd., V. 503-507. 147 Der Vergleich geht auf einem Freier Penelopeias namens Antinoos in Homers Odyssee zurück. Homer: Die Odyssee, dt. Übers. von Wolfgang Schadewaldt, 3. Aufl., Reinbeck bei Hamburg 2012, S. 26. 148 Amphitryon, V. 835-843. 149 Ebd., V. 1142f. 150 Ebd., V. 1118. 191 Amphitryon sei es auf das Wunder oder auf ihre »Leseschwäche«151 zurückzuführen ist, versetzt die Pro- tagonistin in eine Krise wie Kleist selbst mit der Kant-Krise: Sie weiß nicht, »ob ihr Auge [ihr] die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört«, »ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.«152 So fragt sie: »Wenn ich zwei solche Namen, liebste Charis, / Nicht unter- scheiden kann, sprich, können sie / Zwei Führern, ist es möglich, eigen sein, / Die leichter nicht zu unterscheiden wären?«153 Infolgedessen unternimmt sie eine cartesianische Analyse,154 um letzte Gewissheit zu finden:

Ist diese Hand mein? Diese Brust hier mein? Gehört das Bild mir, das der Spiegel strahlt? Er wäre fremder mir, als ich! Nimm mir Das Aug, so hör ich ihn; das Ohr, ich fühl ihn; Mir das Gefühl hinweg, ich atm’ ihn noch; Nimm Aug und Ohr, Gefühl mir und Geruch, Mir alle Sinn und gönne mir das Herz: So läßt du mir die Glocke, die ich brauche, Aus einer Welt noch find ich ihn heraus.155

Dass sich auf diese Analyse, wie oben gesagt, die Amphitryons beziehen, ist ein weiterer Be- weis für ihre vernünftige Charakteristik. Der Vernunft aber fällt sie nicht zum Opfer, denn sie insistiert nicht auf der objektiven Zweckmäßigkeit, sondern kann sich mit der subjektiven ab- finden. Dies manifestiert sich in der Vermutung, die gerade auf die vernünftige Analyse folgt:

Du müßtest denn die Regung mir mißdeuten, Daß ich ihn schöner niemals fand, als heut. Ich hätte für sein Bild ihn halten können, Für sein Gemälde, sieh, von Künstlershand, Dem Leben treu, ins Göttliche verzeichnet. Er stand, ich weiß nicht, vor mir, wie im Traum, Und ein unsägliches Gefühl ergriff Mich meines Glücks, wie ich es nie empfunden, Als er mir strahlend, wie in Glorie, gestern Der hohe Sieger von Pharissa nahte.156

151 So konstatierte Urs Strässle: Heinrich von Kleist. Die keilförmige Vernunft, Würzburg 2002, S. 227. 152 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801, SWB II, S. 634. 153 Ebd., V. 1181-1184. 154 M. Neumann (wie Anm. 82). 155 Amphitryon, V. 1159-1167. 156 Ebd., V. 1187-1196. 192 Amphitryon

Für sie gilt also das, was Kleist selbst einst, nachdem er »wieder zurück zum Leben« gefunden hatte, meinte: »Die Wahrheit ist, daß ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste.«157 Daraus zieht Alkmene für sich selbst den Schluss: »Er wars, Amphitryon, der Göt- tersohn!« 158 Gleich, ob er es tatsächlich war oder auch nicht. Mithilfe dieser subjektiven Schlussfolgerung kämpft sie sodann gegen alle Einwände Charis’, Jupiters und Amphitryons an. Es ist Alkmene, die sich kraft ihrer ästhetischen Sichtweise dem phantastischen Phänomen entgegenstellt. Ihr besiegelnder Kuss – »Nun ja. Sie küßt ihn.«159 – schützt sie davor, von Jupiter in die kopfzerbrechende, knäuelhafte Dialektik verstrickt zu werden. Denn Jupiter ist »Das Licht, der Äther, und das Flüssige«160 und damit nicht zu fassen. Der Versuch, das Unfassbare zu fassen, führt nur in die Fassungslosigkeit. Stattdessen entschließt sich Alkmene zur Resig- nation, um sich den Schwerpunkt bzw. die Seelenkraft zu erhalten:

ALKMENE. Wie glücklich bin ich! Und o wie gern, wie gern noch bin ich glücklich! Wie gern will ich den Schmerz empfunden haben, Den Jupiter mir zugefügt, Bleibt mir nur alles freundlich wie es war.161

Gegenüber ihrer graziösen Sichtweise, die den Schwerpunkt in sich setzt und mithin nach allem kurzem Schweifen der Phantasie immer zu sich selbst zurückfinden kann, bleiben Jupiters Ver- suche oder Versuchungen, die er im Konditionalis hypothetisiert, vergeblich: »Jedoch nachher vergeß ich Jupiter.«162 Diese Verfahrensweise gilt ein für alle Mal, Karlheinz Stierle bezeichnet Alkmene demzufolge treffend als »Grazie der Traumwandlerin«, »die nicht erwachen will und alle List aufbietet, dem Erwachen zu entgehen.«163 Sie befindet sich in einem ambivalenten Zustand, so wie sie in der vorherigen Nacht Jupiter auch »wie im Traum«164 empfing, wo also keine objektive Unterscheidung gilt, wo der Mensch sich nicht von seinem Bild unterscheidet oder zu unterscheiden braucht, sondern vielmehr »ins Göttliche verzeichnet«165 werden kann. Der wesentliche Punkt hierbei ist, dass Alkmene sich mit dieser Ambivalenz begnügen kann. So erhält sie sich die Autonomie:

ALKMENE. Läßt man die Wahl mir –

JUPITER. Läßt man dir –?

ALKMENE. Die Wahl, so bliebe meine Ehrfurcht ihm,

157 Brief an Otto August Rühle von Lilienstern vom 31. [August 1806], SWB II, S. 769. 158 Amphitryon, V. 1197. 159 Ebd., V. 1410. 160 Ebd., V. 2299. 161 Ebd., V. 1410-1414. 162 Ebd., V. 1489. 163 K. Stierle (wie Anm. 4), S. 57. 164 Amphitryon, V. 1192. 165 Ebd., V. 1189. 193 Amphitryon

Und meine Liebe dir, Amphitryon.

JUPITER. Wenn ich nun dieser Gott dir wär –?

ALKMENE. Wenn du – Wie ist mir denn? Wenn du mir dieser Gott wärst – – Ich weiß nicht, soll ich vor dir niederfallen, Soll ich es nicht? Bist dus mir? Bist dus mir?

JUPITER. Entscheide du. Amphitryon bin ich.

ALKMENE. Amphitryon –

JUPITER. Amphitryon, dir ja.166

Es besteht kein Zweifel, sie weiß es nicht. Denn in diesem Fall, nämlich falls die Vernunft versagt, braucht man nichts zu wissen oder am besten ist gar, nichts zu wissen. Für sie steht nicht zur Debatte, ob ihr Gegenüber Jupiter oder Amphitryon ist; für sie steht das Entweder- Oder nicht zur Debatte, denn erst sowohl J als auch A bilden ein JA oder Ja und Amen.167 Und sowohl J als auch A, von denen jedes ein Bruch ist, müssen auf einen gemeinsamen Nenner namens Amphitryon gebracht werden, damit ihr Leben einen positiven JA-Sinn hat: Bejahung des Lebens. Dementsprechend bedient sich Alkmene der Phantasie, um der gezielten Vernei- nung Jupiters entgegenzutreten, und spielt das Jupiter-Spiel virtuos, indem sie sich eine Wahr- heit zurechtknetet, ohne dabei, weil es ja (bloß) ein Spiel ist, am Zweifel zu leiden:

Wenn du, der Gott, mich hier umschlungen hieltest Und jetzo sich Amphitryon mir zeigte, Ja – dann so traurig würd ich sein, und wünschen, Daß er der Gott wir wäre, und daß du Amphitryon mir bliebst, wie du es bist.168

Gerade hierdurch ist Alkmene nicht heteronom unter Jupiter, nicht »vom Schicksal nun be- stimmt«,169 sondern trägt den Sieg von dem obsessiven Verhör des Gegenübers, was Kleist nicht zuletzt andeutungsweise dem gewissermaßen hintergangenen Gott in den Mund legt: »Es wird sich alles dir zum Siege lösen.«170 So ist Alkmene, im Gegensatz zur Überlieferung, in der Lage, am Ende des Dramas aufzutreten und der Wahrheit ihre Stimme zu geben, d. h. ihre zurechtgezimmerte Wahrheit als Wahrheit auszugeben. Obwohl es da kein Spiel mehr ist, sondern das Leben, entscheidet sie sich, nach einigem Zögern, von der Kontinuität der Iden- tität abgesehen, dessen ungeachtet ganz und gar der subjektiven Zweckmäßigkeit gemäß für

166 Ebd., V. 1537-1545. 167 Vielleicht ist erst durch eine solche Sichtweise Goethes Maxime über Kunst realisierbar: »Suchet in euch, so werdet ihr alles finden, und erfreuet euch, wenn da draußen, wie ihr es immer heißen möget, eine Natur liegt, die Ja und Amen zu allem sagt, was ihr in euch gefunden habt.« J. W. Goethe: »Sprüche in Miszellen«, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 13: Sprüche in Prosa, S. 389 (6.29.17) 168 Amphitryon, V. 1564-1568. 169 Ebd., V. 1528. 170 Ebd., V. 1575. 194 Amphitryon

Jupiter und begnügt sich damit, weil die Aufklärung, die nach der Objektivität strebt, zu nichts anderem führen würde als wiederum zur Verwirrung: »Laß ewig in dem Irrtum mich, soll mir / Dein Licht die Seele ewig nicht umnachten.«171 Auch wenn Jupiter sich letztlich als der Gott entlarvt, fällt sie nicht vor ihm auf die Knie, sondern in Ohnmacht, um im Unbewusstsein Zuflucht zu finden, wie sie vor der Ohnmacht ruft: »Schützt mich, ihr Himmlischen!«172 Sie will nach wie vor nichts wissen. Durch die Ohnmacht bleibt ihr der Signifikant Amphitryon immer noch auf das ambivalente JA referierend. Sie sagt »Ach!«,173 weil Amphitryon wähnt, dass ihr »Amphitryon!«, was vor mehr als zehn Versen gerufen wurde, sich allein auf ihn selbst bezöge, und darauf »Alkmene!« in der sichergestellten Beziehung zu ihr antwortet; so wie sie zuvor auch einmal »Ach!« gesagt hat, weil Jupiter wähnt, dass sie die Nacht objektiv zu kurz fände. Das Alkmene’sche Ach signalisiert ihre Sprachlosigkeit. Es ist allerdings eine positive Sprachlosigkeit, die die Wörter ihrer Männer ins Leere führt und somit die sich konkurrieren- den männlichen Ordnungen, die jeweils durch Ausgrenzung der anderen totalitär über sie ver- fügen wollen, pariert.

171 Ebd., V. 2305f. 172 Ebd., V. 2312. 173 Ebd., V. 2362. 195 Penthesilea

VI.5. Penthesilea Ein Trauerspiel

Auch dieses Stück geht von einer Belagerung aus, und zwar, wie es in der homerischen Vorlage heißt, von einer zehnjährigen – auf dem »Schlachtfeld bei Troja«.1 Es geht also um ein lang anhaltendes Spannungsfeld zwischen Danaern (Griechen) und Dardanern (Trojanern), zwi- schen zwei fest gerüsteten, einander ausgrenzenden binären Bürgern und Lagern, die überdies von dem Fluss Skamandros klar voneinander getrennt sind.2 Es ist ein Schlachtfeld, auf dem zwei Ordnungen für ihre Totalität gegeneinander kämpfen, wobei die Vernunft dominiert, da- mit die kriegerischen Strategien, Berechnungen und Anordnungen funktionieren, was Kleist anfangs mit dem Auftritt des Boten verdeutlicht: »Mich sendet Agamemnon her, und fragt dich, / Ob Klugheit nicht, bei so gewandelten / Verhältnissen, den Rückzug dir gebietete. / Uns gelt es Iliums Mauern einzustürzen, / Nicht einer freien Fürstin Heereszug, / Nach einem uns gleichgültgen Ziel, zu stören.«3 Klugheit, objektive Zweckmäßigkeit und Vorsicht vor der freien, nicht zu berechnenden Veränderung zeichnen die Vernunft der Griechen aus. Das grie- chische (oder auch das trojanische) Volk ist nicht zuletzt die Inkarnation der Vernunft – nicht nur, weil die griechische Kultur und Wissenschaft verhältnismäßig hoch entwickelt ist und sozusagen an der Spitze steht, sondern auch weil ihr Stadtstaatensystem bzw. ihre Mauern an sich schon ein Produkt der Vernunft sind, in denen sich die Vernunftwesen vor den unver- nünftigen Wesen – Natur, Barbaren, Tieren, Ungeheuern usw. – schützen können, und von denen aus, vielleicht um die Überlegenheit der Vernunft gegen der Unvernunft zu zeigen oder zu bekräftigen, die Helden wie Jäger zu einem Eroberungszug aufbrechen, wessen sich die Griechen z. B. im so genannten »attische Tatenkatalog« rühmen. 4 Auch der Trojanische Kriegszug ist im Wesentlichen ein Versuch, die Erotik (Helena) mit Gewalt wieder in die Fes- seln der Ordnung (Agamemnon) zu bannen. Deswegen ist der Held der ersten Szene nicht Achill und auch nicht Penthesilea, sondern Odysseus, der »erfindungsreiche[ ] Larissäer«,5 der darüber hinaus dafür bekannt ist, dass er nach einer langen Serie an Abenteuern die Ordnung zu Hause wiederherstellen wird. Mit dieser vernünftigen, reaktionären Figur, oder besser: mit deren Mund, will Kleist aber nicht die Macht oder Gewalt der Vernunft darstellen, sondern im Gegenteil deren Ohnmacht zum Ausdruck bringen. So bemerkt Walter Müller-Seidel: »Mit Odysseues in erhöhtem Maße wird die ›Kultur‹ dieses griechischen Staates dargestellt. [...] Es ist eine öde gewordene Kultur,

1 Penthesilea, SWB II, S. 322. 2 »Am Ufer des Skamandros hören wir, / Deiphobus auch, der Priamide, sei / Aus Ilium mit einer Schar gezogen, / Die Königin, die ihm mit Hülfe naht, / Nach Freundesart zu grüßen. [...]« (V. 22-26.) Vgl. außer- dem Juliane Vogel: »Windung und Bahn. Landschaftsdramaturgie in Kleists Penthesilea«, DVjs [4/ 2013], S. 600-615, hier: S. 610. 3 Penthesilea, V. 194-199. 4 Angelika Geyer: »Penthesileas Schwestern. Amazonomachie als Thema antiker Kunst«, in: KJb [1991], S. 124-154, hier: S. 146. 5 Penthesilea, V. 232. 196 Penthesilea wie man erkennt, ein im Schema erstarrtes Denken.«6 Odysseus’ erstes Wort: »Schlecht«,7 ist bezeichnend für sein vernünftiges Denken und dessen binäres Oppositions-Muster. Die Situ- ation sei deshalb schlecht, weil er nicht wisse, wie man mit dem Erscheinen der Amazonen im Kampfgeschehen umgehen soll, weil der Krieg zwischen Griechen und Amazonen keine denk- bare Motivation hat, und vor allem weil Penthesilea weder mit Trojanern noch mit Griechen im Bündnis steht, also entgegen der Annahme von Odysseus: »Sie muß [!] zu einer der Partein sich schlagen; / Und uns die Freundin müssen wir sie glauben, / Da sie sich Teukrischen die Feindin zeigt.«8 Die Logik heißt: Weil es politisch nicht gut sei, sei es schlecht. Die Amazo- nenkönigin gilt deshalb als etwas Ambivalentes und Unfassbares, was man entweder auf dem offenen, chaotischen Schlachtfeld hinter (sich) lassen oder in einem abgesteckten Raum erfassen muss. So lautet die griechische Strategie: »Wir werden mit verstelltem Rückzug sie / In das Skamandrostal zu locken suchen, / Wo Agamemnon aus dem Hinterhalt / In einer Haupt- schlacht sie empfangen wird.«9 Allerdings lässt sich Penthesilea nicht wie der ruhige, klare Skamandros in einem Tal ein- grenzen. Für die Amazonen, ein Nomadenvolk, das »in den skyth’schen Wäldern aufgestan- den«10 ist, gilt eine Logik, die der griechischen entgegensteht. In der Figur ihrer Königin, wie Juliane Vogel jüngst anhand Le Chevaliers Reise nach Troas oder Gemählde der Ebene von Troja in ihrem gegenwärtigen Zustande (1800) hingewiesen hat, manifestiert sich der zweite Fluss auf der Ebene von Troja, nämlich der wilde Simois: »Der Simois zerstört die binäre Organisation des Schlachtgeländes und errichtet eine Chaoszone, die erst an dem ruhigen und ›blumenreichen‹ Ufer des Skamandros ihre Grenze findet.«11 So zerstört der Auftritt der Amazonen, »[m]it eines Waldstroms wütendem Erguß«,12 nicht nur die Konfrontation zwischen Griechen und Trojanern, sondern vermengt sie sogar miteinander: »Der Trojer wirft, gedrängt von Amazo- nen, / Sich hinter eines Griechen Schild, der Grieche / Befreit ihn von der Jungfrau, die ihn drängte, / Und Griech’ und Trojer müssen jetzt sich fast, / Dem Raub der Helena zu Trotz, vereinen, / Um dem gemeinen Feinde zu begegnen.«13 Die amazonische Kraft ist die elemen- tare Kraft; ihre Aggression ist die Regression der Natur auf die Kultur, wie die Kleis’sche ambivalente Apostrophe andeutet: »Element! / Was wollen diese Amazonen uns?«14 Für die griechischen Köpfe ist die natürliche Penthesilea deshalb umso gefährlicher, weil sie so unlesbar und somit so unbegreiflich ist, dass der griechische Verstand total versagt: »Gedankenvoll, auf

6 Walter Müller-Seidel: »›Penthesilea‹ im Kontext der deutschen Klassik«, in: Kleists Dramen. Neue Inter- pretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 144-171, hier: S. 146. 7 Penthesilea, V. 3. 8 Ebd., V. 50-55. 9 Ebd., V. 524-527. 10 Ebd., V. 17. 11 J. Vogel (wie Anm. 2), S. 610. 12 Penthesilea, V. 120. 13 Ebd., V. 35-38. 14 Ebd., V. 12f. Man erinnere sich außerdem an Agnes’ Anrede an Ottokar: »Wo bist du? – Ein Schwert – im Busen – Heiland! / Heiland der Welt! Mein Ottokar!« (Die Familie Schroffenstein, V. 2556f.). oder an Alk- menes Anrede an Amphitryon: »O Gott! Amphitryon!« (Amphitryon, V. 777). 197 Penthesilea einen Augenblick, / Sieht sie in unsre Schar, von Ausdruck leer, / Als ob in Stein gehaun wir vor ihr stünden; / Hier diese flache Hand, versichr’ ich dich, / Ist ausdrucksvoller als ihr An- gesicht«.15 Aus der Interpretation Odysseus’ gehen keine andere Attribute hervor als »verwirrt und stolz und wild zugleich«,16 weil: »Was er im Weltkreis noch, so lang er lebt, / Mit seinem blauen Auge nicht gesehn, / Das kann er in Gedanken auch nicht fassen.«17 Unter solchen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Griechen Penthesilea für ein phantastisches Wesen (diesmal im umgangsprachlichen Sinne) halten. Sie befindet sich zuerst außerhalb des griechischen Wissensgebietes, was Kleist mithilfe der konditionalen Konjunktion »soviel« her- vorstellt:

So viel ich weiß, gibt es in der Natur Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes. Was Glut des Feuers löscht, löst Wasser siedend Zu Dampf nicht auf und umgekehrt. Doch hier Zeigt ein ergrimmter Feind von beiden sich, Bei dessen Eintritt nicht das Feuer weiß, Obs mit dem Wasser rieseln soll, das Wasser, Obs mit dem Feuer himmelan soll lecken.18

Hinzu kommt das griechische Amazonenbild, wie Angelika Geyer bemerkt hat: »Als ein Un- geheuer und Fabelwesen vergleichbares Monstrum fand das Bild dieser Kriegerinnen mit jenen zusammen Eingang in die frühe griechische Bildwelt.«19 Diese Tatsache wird offensichtlich von Kleist ins Stück eingeschrieben. So wird Penthesilea gleich zu Beginn als »Kentaurin«20 und »rätselhafte Sphinx«21 bezeichnet. Es geht in solch mensch-tierischen Bildern einerseits, so Gabriele Brandstetter, um »Bilder, die zu Allegorien ihrer Unlesbarkeit werden«, und »eine [darauffolgende] Verwirrung der Gattungs-Grenzen«,22 die der logozentrischen Sichtweise wi- derspricht. In dem Maße, wie die amphibische Existenz seiner Schwester dem jungen, vom Rationalismus begeisterten Kleist missfallen hat, gefährdet die phantastische Existenz der Amazonenkönigin die menschliche Konzeption der Griechen:

ANTILOCHUS. Und niemand kann, was sie uns will, ergründen?

DIOMEDES. Kein Mensch, das eben ists: wohin wir spähend

15 Ebd., V. 63-67. 16 Ebd., V. 99. 17 Ebd., V. 2464ff. 18 Ebd., V. 125-132. 19 A. Geyer (wie Anm. 4), S. 153. 20 Penthesilea, V. 118. 21 Ebd., V. 207. 22 Gabriele Brandstetter: »Inszenierte Katharsis in Kleists Penthesilea«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 225-248, hier: S. 230. 198 Penthesilea

Auch des Gedankens Senkblei fallen lassen.23

Die Bemerkung »Ganz wunderbar!«24 bezieht sich also nicht nur auf ihr unbegreifliches Ver- halten, sondern vielmehr auf ihr nahezu wunderliches Wesen. Andererseits manifestiert sich in diesen Bildern ein Komplex zwischen Anziehung und Ablehnung, zwischen Eros und Tha- natos, zwischen »einem sechzehnjährgen Mädchen plötzlich, / Das von olympschen Spielen wiederkehrt,«25 und der »rasende[n] Megär«, wie später auch sagt: »Dies wunderbare Weib, / Halb Furie, halb Grazie, sie liebt mich – «26 Der Komplex zwischen Eros und Thana- tos stellt sich nicht zuletzt in der folgenden teichoskopischen Aussage eines Griechen dar, in der der weibliche Unterleib und das aggressive Raubtier nicht nur evokativ miteinander ver- schmelzen, sondern sogar zu einem tötenden Pfeil werden:

Seht! Wie sie mit den Schenkeln Des Tigers Leib inbrünstiglich umarmt! Wie sie, bis auf die Mähn herabgebeugt, Hinweg die Luft trinkt lechzend, die sie hemmt! Sie fliegt, wie von der Senne abgeschossen: Numidsche Pfeile sind nicht hurtiger!27

Durch die Kleist’sche Teichoskopie wird die Perspektivität einer sichtbaren Szene und die da- mit einhergehende Evokation geschaffen.28 Im Hinblick auf das phantastische Wesen Penthe- silea gerät der griechische Verstand in eine prekäre Situation: Die Griechen fühlen sich einer- seits von diesem amazonischen Wasser bedroht, andererseits bedürfen sie des Wassers zum Leben: »Dank! Meine Zunge lechzt.«29 Genauso verhält es sich mit dem Eros: Die Männer fühlen sich einerseits von der Sexualität bedroht, andererseits bedürfen sie der Fleischeslust zum Leben: »Die ungezügelte Sexualität der Amazonenkönigin richtet sich zudem nicht nur gegen den (impotenten) Mann, sondern auch gegen seine rationale, den Trieb disziplinierende Weltordnung«.30 Da sich die Griechen mit ihrer binären Sichtweise des phantastischen Wesens nicht bemächtigen können, zumal es sich hierbei um einen Kampf auf Leben und Tod handelt, darf Penthesilea in ihrem Image nur entweder zum Tier absteigen, also zur Beute des Jägers werden, oder zur Göttin wie Diana aufsteigen, vor der der Jäger fliehen soll. Auf jeden Fall muss man Penthesilea (irgend-)einen Begriff zuschreiben, um sich orientieren zu können. Auf

23 Penthesilea,V. 156f. 24 Ebd., V. 193. 25 Ebd., V. 86f. 26 Ebd., V. 2456f. 27 Ebd., V. 395-400. 28 Zur Kleist’sche Teichoskopie, also im Gegensatz zur herkömmlichen Mauerschau, vgl. Volker Klotz: »Aug um Zunge – Zunge um Aug. Kleists extremes Theater«, in: KJb [1985], S. 128-142, vor allem S. 138-142. 29 Penthesilea, V. 139. 30 Stephan K. Schindler: »Die blutende Brust der Amazone: bedrohliche weibliche Sexualität in Kleists Penthesilea«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 191-202, hier: S. 201. 199 Penthesilea jeden Fall muss der Riss, den der amazonische »Wassersturz«31 in die Mauer der griechischen Vernunft gerissen hat, wieder geschlossen werden: »Laßt uns vereint, ihr Könige, noch einmal / Vernunft keilförmig, mit Gelassenheit, / Auf seine rasende Entschließung setzen. Du wirst, erfindungsreicher Larissäer, / Den Riß schon, den er beut, zu finden wissen. / [...] weil der Sinn ihm fehlt«.32 Vielleicht kommt Kleist darum genau an der Stelle in medias res, wo Anti- Loch auftritt: »Schlecht, Antiloch.«33 Im Gegensatz zum reaktionären Odysseus und sich den an der keilförmigen praktischen Vernunft orientierenden Griechen verfährt Achilles anders: »er weicht, so schwört er, eher / Von dieser Amazone Ferse nicht, / Bis er bei ihren seidnen Haaren sie / Von dem gefleckten Tigerpferd gerissen.«34 Im Auge des vernünftigen Odysseus scheint Achilles deshalb unver- nünftig und sogar dissoziativ:

Denn wie die Dogg entkoppelt, mit Geheuel In das Geweih des Hirsches fällt: der Jäger, Erfüllt von Sorge, lockt und ruft sie ab; Jedoch verbissen in des Prachttiers Nacken, Tantz sie durch Berge neben ihm, und Ströme, Fern in des Waldes Nacht hinein: so er, Der Rasende, seit in der Forst des Krieges Dies Wild sich von so seltner Art, ihm zeigte.35

Während der Jäger den denkenden Menschen in Achilles bezeichnet, der sich sorgt, weil ihm die unberechenbaren Verhältnisse bedrohlich vorkommt, steht die Dogg hingegen für seine tierische Nachtseite, die entkoppelt nicht nur außer Kontrolle ist, sondern auch sorglos in die dunkle Nacht und zugleich in die Natur tanzt bzw. emanzipiert zurückkehrt. Nicht ungefähr sich bedient Kleist der Dogg mit dem femininen Artikel statt des Hundes mit dem maskulinen, um die Auflösung der Identität abzubilden. So konstatiert auch Joachim Pfeiffer: »Die binäre Konstruktion der Geschlechter wird aufgelöst in einem Verwirrspiel, in dem alle essentialisti- schen Konzepte fragwürdig erscheinen.«36 Und der Katalysator seiner Dissoziation ist Penthe- silea, die als das wilde »Prachttier« seine wilde Seite herauslockt. Es geht – auf dem ersten Blick – natürlich um die geschlechtliche Anziehungskraft, der gegenüber die Vernunft nicht selten versagt. Findet man sich aber damit ab, bleibt man nur auf der Stufe des common sense. Denn die Libido ist nicht die Ur-Sache dafür, dass Achilles

31 Penthesilea, V. 249. 32 Ebd., V. 229-236. 33 Ebd., V. 3. 34 Ebd., V. 222-225. 35 Ebd., V. 213-220. 36 Joachim Pfeiffer: »die Konstruktion der Geschlechter in Kleists Penthesilea«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 186-198, hier: S. 194. 200 Penthesilea den kollektiven, »unseren Helenenstreit«, so unmündig wie »ein Kinderspiel«37 im Stich lässt und sich allein auf Penthesilea und den für das Kollektiv verwünschten,38 doch für ihn als Individuum erwünschten Amazonenkrieg fixiert. Immerhin sagt Achilles: »Im Leben keiner Schönen war ich spröd; / Seit mir der Bart gekeimt, ihr lieben Freunde, / Ihr wißts, zu Willen jeder war ich gern«.39 Was Penthesilea betrifft, so brauche er »[d]as Plätzchen unter Büschen«, um »[s]ie ungestört, ganz wie ihr Herz es wünscht, / Auf Küssen heiß von Erz im Arm zu nehmen.«40 Es bedarf nämlich eines verborgenen intimen Raumes, in dem man dem indivi- duellen Gefühl Luft verschafft, ohne Rücksicht auf äußerliche Konventionen nehmen zu müs- sen, so wie Kleist einst die Laube bei Wilhelmine gelobt hat: »Es ist mir lieb, daß hinter Deinem Hause die Laube eng und dunkel ist. Da lernt man fühlen, was man in den Hörsälen nur zu oft verlernt.«41 Ohne dass Achilles sich dessen bewusst ist, befindet sich ein solcher Ort eigentlich nirgendwo sonst als an seinem eigenen Körper. Laut der griechischen Mythologie ist er von seiner Mutter Thetis in den Unterweltsfluss Styx eingetaucht worden und deshalb so göttlich unverwundbar wie mit einer erzenen Rüstung. Die Ferse aber, an welcher seine Mutter festhielt, bleibt menschlich verwundbar. Der Mythos wird von Kleist ins Stück eingeschrieben. Während die körperliche Rüstung gegen äußerliche Ge- walt unverwundbar und gegen das innere Gefühl unempfänglich ist – so unemphänglich, dass Achilles keine andere Sprache als die der Gewalt beherrscht: »Ich schwörs, und [ich will] Per- gamos nicht wiedersehen, / Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht, / Und sie, die Stirn be- kränzt mit Todeswunden, / Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen«42 –, unterläuft ihm die empfindliche Ferse und macht ihn unterschwellig empfindsam. Als er nun »dieser Amazone Ferse« begegnet, und zwar auf dem chaotischen Schlachtfeld, wo die Vernunft be- reits überfordert wird und infolgedessen »Vergebens jetzt, in der er Meister ist, Des Isthmus ganze vielgeübte [Wagekampf-]Kunst« ist,43 erinnert er sich unvermeidlich an seine eigene Achillesferse, an seine Menschlichkeit, an seinen Verlust (des gewissermaßen kastrierten Kör- perteils)44 und sehnt sich nach Integration: »Kämpft ihr, wie die Verschnittnen, wenn ihr wollt; / Mich einen Mann fühl ich, und diesen Weibern, / Wenn keiner sonst im Heere, will ich

37 So sagt Odysseus. Penthesilea, V. 2507. 38 So sagt wieder Odysseus: »Verwünscht sei dieser Amazonenkrieg!« (Ebd., V. 625). 39 Ebd., V. 599ff. 40 Ebd., V. 604ff. 41 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 3. September 1800, SWB II, S. 541. 42 Penthesilea, V. 612-615. 43 Ebd., V. 265f. 44 Angesichts des Kontextes meiner Dissertation wird die Kastration hier nicht beliebig genannt, sondern im Sinne eines verdrängten, vergessenen oder verworfenen Teils, der die scheinbar dagegen gefeite Vernunft gefährden kann. Von der anderen Richtung her hat Marianne Schuller auch von der Kastration Achilles’ ge- sprochen, ohne aber auf die Ferse hinzuweisen: »In dem Maße wie Achill sich das Begehren des Anern, das weibliche Begehren aneignet, konstituiert er sich als ganzer Mann: als einer, der nicht kastriert, nicht ver- schnitten ist. Ihm mangelt nichts.« M. Schuller: »Den ›Übersichtigkeiten‹ das Wort geredet / Oder: ›Verrückte Rede‹? Zu Kleists Penthesilea«, in: Theorie – Geschlecht – Fiktion, hrsg. von Nathalie Amstutz u. Martina Kuoni, Basel u. Frankfurt a. M. 1994, S. 61-73, hier: 69. 201 Penthesilea stehn!«45 Daraufhin verzichtet er auf seine halbgöttlich-heroische Identität und legt die Rüs- tung als Symbol seiner Göttlichkeit ab, um zu einem normalen, jedoch gänzlichen Menschen zu werden: »Doch er, der unbegriffne Doloper – / Ein Gott hat, in der erzgekeilten Brust, / Das Herz in Liebe plötzlich ihm geschmelzt – [...] Und [er] wirft das Schwert hinweg, das Schild hinweg, / Die Rüstung reißt er von der Brust sich nieder.«46 Die Liebe ist allerdings nicht so harmlos wie Achilles annimmt. Dieses selbstbefremdende Gefühl, vor dem die scheinbar dagegen gefeite Vernunft erschrickt, verwandelt seine Ordnung auf einen Schlag zur Unordnung und versetzt ihn in Verwirrung, was Kleist durch seinen Kampfwagen darstellt: »Das Roßgeschwader wendet, das erschrockne, / Die Häupter rück- wärts in die Geißelhiebe, / Und im verworrenen Geschirre fallend, / Zum Chaos, Pferd’ und Wagen, eingestürzt, / Liegt unser Göttersohn, mit seinem Fuhrwerk, / Wie in der Schlinge eingefangen da.«47 Es ist die Regression bzw. Rück-Bewegung seines potenten Triebes, der seit langem – »ganz vielgeübt[ ]« – durch Geißelhiebe im Zaum gehalten wird, und die Regression zerstört das ganze Werk, bei dem auch »des Fahrzeugs rüstger Lenker«48 Automedon, ein Auto-Medon (Selbst-Herrscher), wenig helfen kann (nicht umsonst fragt Odysseus in Bezug auf Achilles Kampf mit Penthesilea: »Nun? Und Automedon?«49). Gerade, weil Achilles ver- loren ist, wie Antilochus es explizit ausdrückt,50 gerade weil er außerstande ist, seine autonome Ordnung zu bewahren, ist er in der Lage, sich der neuen Ordnung hinzugeben:

ACHILLES. Laßt, laßt! Mit euren Augen trefft ihr sicherer. Bei den Olympischen, ich scherze nicht, Ich fühle mich im Innersten getroffen, Und ein Entwaffneter, in jedem Sinne, Leg ich zu euren kleinen Füßen mich.51

Bei Kleist dient die Liebe immer wieder als Katalysator der Revolution, mit deren Hilfe man die alte Ordnung unterwirft und damit eine neue, eigene Ordnung aufrichtet. So ist es auch bei Achilles. Er versteht sich wenig mit den Griechen: Nicht mit den »Narren«,52 welche ihm den Arm verbinden (virtuose Erfindung Kleists!), nicht mit »dem Sittenrichter«, »dem grämlichen / Odyß«,53 auch nicht mit dem griechischen Oberhaupt Agamemnon (man erinnere sich an sei- nen Streit mit Agamemnon in der Ilias, der auch in Kleists Stück implizit zitiert wird). Die Liebe zu Penthesilea kann ihm also nicht nur die Identität als integrierten Menschen einbringen,

45 Penthesilea, V. 587ff. 46 Ebd., V. 1153-1159. 47 Ebd., V. 267-272. 48 Ebd., V. 274. 49 Ebd., V. 332. 50 Ebd., V. 351. 51 Ebd., V. 1413-1418. 52 Ebd., V. 503. 53 Ebd., V. 2449f. 202 Penthesilea sondern ihn vielmehr vom Joch oder Gespann der alten Ordnung befreien. So will er, im Hin- blick auf Penthesilea, keine Rücksicht mehr auf das griechische Vernunftgesetz nehmen:

ACHILLES den Ätolier zurückstoßend. Der weicht ein Schatten Vom Platz, der mir die Königin berührt! – Mein ist sie! Fort! Was habt ihr hier zu suchen –

DIOMEDES. So! Dein! Ei sieh, bei Zeus’, des Donnrers, Locken, Aus welchen Gründen auch? Mit welchem Rechte?

ACHILLES. Aus einem Grund, der rechts, und einer links. – Gib.54

Denn die Amazonenkönigin Penthesilea ist für ihn mehr als nur eine neue Ordnung, sie ist die Mutter einer neuen Ordnung, wie er zu ihr sagt: »Du sollst den Gott der Erde mir gebären! / Prometheus soll von seinem Sitz erstehn, / Und dem Geschlecht der Welt verkündigen: / Hier war ein Mensch, so hab ich ihn gewollt!«55 Unter diesem Motto steht all sein Handeln im Drama: Das Motto seiner eigenen Revolution. Ich sage nun bewusst zugespitzt, Penthesilea gilt nicht nur als die Mutter der neuen Ordnung, sondern als eine heilige Mutter, die Patrona der Revolution von Achilles. Man denke an Kleists Sentenz, die er in Bezug auf seine persönliche Revolution zum Ausdruck gebracht hat: »Etwas muß dem Menschen heilig sein.«56 In dem Maße, wie man in der Französischen Revolution einen Kult für die Vernunft als Göttin betrieb, wird Penthesilea von dem revolutionären Achil- les vergöttert: »O du, die eine Glanzerscheinung mir, / Als hätte sich das Ätherreich eröffnet, / Herabsteigst, Unbegreifliche, wer bist du?«57 Erstens begreift er sich als einen Ausersehenen, der in einer metaphysischen Weise die Offenbarung bekommen darf, die seine Revolution le- gitimiert: »Was mir die Göttliche begehrt, das weiß ich; / Brautwerber schickt sie mir, gefiederte, Genug in Lüften zu, die ihre Wünsche / Mit Todgeflüster in das Ohr mir raunen.«58 Gerhard Kaiser zufolge manifestiert sich in der Figur Penthesilea bei Kleist nicht nur die Sinnbildlichkeit von Dionysos, Diana und Hekate, sondern auch die Sinnbildlichkeit von Jesus Christus,59 und so hält Achilles sich hier eben für Gottes Braut, die sich auf die neutestamentliche mystische Hochzeit freut, was übrigens auch zur Geschlechtsverwirrung beiträgt. Er sehnt sich, wie er es auch im Verweis auf Prometheus zum Ausdruck bringt, nach einer neuen Welt, einer neuen Ordnung und einer neuen Menschheit, die aus seiner Verbindung mit Penthesilea erwünschen. Somit wird die Revolution mit der neuen Religion verbunden. Doch damit ist Penthesileas

54 Ebd., V. 1460-1466. 55 Ebd., V. 2230-2233. 56 Brief an Ulrike von Kleist vom [Mai 1799], SWB II, S. 491. 57 Penthesilea, V. 1809ff. 58 Ebd., V. 595-599. 59 Gerhard Kaiser: »Mythos und Person in Kleists „Penthesilea“«, in: ders.: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977, S. 209-239, hier: S. 227-238. 203 Penthesilea

Identität für Achilles äußerst ambivalent, und zwar viel ambivalenter als die Identität Jesu Christi: göttlich vs. menschlich, männlich vs. weiblich, christlich vs. heidnisch, autonom vs. heteronom, Amor vs. Agon. Sie ist, wie Achilles apostrophiert: »Du wunderbares Weib«.60 Angesichts ihrer ambivalenten Identität ist die wunderbare Penthesilea so gut wie phantas- tisch: Sobald man versucht, sie in ein Konzept zu fassen und damit über sie zu verfügen, gerät man unweigerlich in Verwirrung, Fassungs- und Orientierungsloßigkeit. Deshalb ist Achilles’ Liebe zu Penthesilea nur in einem ambivalenten Spiel (in der 14. und 15. Szene) genussvoll und realisierbar, nämlich da, als ihm der Kampf und der Triumph gleichgültig sind. Erst in diesem Spiel kann er sich graziös und galant hingeben und sagen: »In jedem schönren Sinn, erhabne Königin! / Gewillt mein ganzes Leben fürderhin, / In deiner Blicke Fesseln zu verflattern.«61 Nicht zuletzt findet das Spiel quasi in einer Idylle statt, »Wie an den Pforten einer schönren Welt,«62 wo es keinen Krieg mehr gibt, sondern nur »Die Hymne«63 als Gott (Hymenaios), Gesang (die Hymne oder der Hymen) und Geschlechtsverkehr (Hymen) herrschen. Aber das Spiel ist allenfalls ein Spiel, ein transitorisches. »Ein Waffengeräusch in der Ferne«64 kündigt das Ende der Liebesszene und das Einsetzen der Realität an:

Zwar durch die Macht der Liebe bin ich dein, Und ewig diese Banden trag ich fort; Doch durch der Waffen Glück gehörst du mir; Bist mir zu Füßen, Treffliche, gesunken, Als wir im Kampf uns trafen, nicht ich dir.65

In Wahrheit kann Achilles jedoch nicht resignieren; in Wahrheit geht es ihm nicht um die Liebe, die das Ich und das Du vereinigt, sondern umgekehrt um die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Du und mithin um die Hierarchisierung: wer gehört wem. Es geht ihm nicht um die individuelle Beziehung: ich liebe dich; sondern allenfalls um das kollektive, in der Bibel oder im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten oder anderswo vorgeschriebene Muster: »Wie Männer Weiber lieben«.66 Da Achilles Anspruch auf Autonomie erhebt, kann und will er der Amazonenkönigin, wie heilig sie ihm auch immer sei, nicht nach Themiscyra folgen, sondern sie vielmehr in seine Heimat Phtia bringen, wo er der Souverän ist: »Doch nicht nach The- miscyra folg ich dir, / Vielmehr du, nach der blühenden Phtia, mir: / Denn dort, wenn meines Volkes Krieg beschlossen, / Führ ich dich jauchzend hin, und setze dich, / Ich Seliger, auf

60 Penthesilea, V. 1877. 61 Ebd., V. 1611ff. 62 Ebd., V. 1553. 63 Ebd., V. 1733. 64 Ebd., Nebentext zwischen V. 2223. 65 Ebd., V. 2244-2248. 66 Ebd., V. 1521. 204 Penthesilea meiner Väter Thron.«67 Die heilige Penthesilea dient ihm also nur zur Legitimation seiner Re- volution, nicht aber zum neuen Lebensmodus; er ist zwar ein Gläubiger, der anbetet, aber kein Apostel, der folgt. Schon Worte des jungen Kleist bieten Aufschluss für Achilles’ Beziehung zu Penthesilea: »Der Mann ist nicht bloß der Mann seiner Frau, er ist auch ein Bürger des Staates; die Frau hingegen ist nichts, als die Frau ihres Mannes; der Mann hat nicht bloß Ver- pflichtungen gegen seine Frau, er hat auch Verpflichtungen gegen sein Vaterland«.68 Bezeich- nenderweise verspricht Achilles der Amazonenkönigin, »dir solchen Tempel [Dianas] bei mir« aufzubauen; »So mußt du mir vergeben, Teuerste«.69 Indem er gibt und sie »vergeben« und annehmen muss, ist er im Begriff, sich einerseits als Herrn, der gibt, zu erweisen, andererseits »das Namenlos’« an ihr sowohl wie an ihrer Amazonenkultur, die sich auf Diana beruft, zu vollstrecken. Es ist der antagonistische Charakter des Gebens,70 der Penthesilea und ihre Kultur auf »solch eine« (Namenlosen) reduziert. Sonst ist es »jene[r] Tempel«, »Der aus den fernen Eichenwipfeln ragt«,71 nämlich die männliche Macht übersteigt. Dadurch aber macht Achilles seine eigene Revolution und Religion paradoxerweise namen- los. Während er in der Liebesszene schwört: »Mein Schwan singt noch im Tod: Penthesilea«,72 während also sein zu erdrosselnder phallischer Hals immer nach Penthesileas »Hymen« begehrt: »Keusch und das Herz voll Sehnsucht doch, in Unschuld, / Und mit der Lust doch, sie darum zu bringen«73 (in diesem Sinne sind Schwan und Schwanz nicht voneinander zu unterscheiden), lässt die Vernunft nur zu, dass er überlegt, wie er die Amazonenkönigin zu seiner namenlosen Königin macht. Was er denkt, ist die Totalität seiner Ordnung, die er mit seiner Königin schaf- fen würde; er denkt aber nicht daran, dass er die Göttin zwar anbeten, aber nicht besitzen darf. Somit gerät Achilles in ein Dilemma: Er will einerseits sich ihr, andererseits sie sich unterwerfen. Infolge dieses Widerspruches sind die beiden Fälle unmöglich, schon gar die mystische Hoch- zeit. So wie die Schenkel seiner Pferde im Kampf mit Penthesilea sich verwickelten, gerät er jetzt selbst in ein von »des Gedankens Senkblei«74 hergestelltes Netz, das ihn um Grazie, Au- tonomie, Beweglichkeit und zuletzt auch um die Beute bringt. Der Einbruch des amazonischen Heeres in den idyllischen Ort und der erneute Auftritt Odysseus’, jeweils als reaktionäre Macht, besiegeln das Ende seiner Revolution:

DIE AMAZONEN sich zwischen Penthesilea und Achilles eindrängend. Befreit die Königin!

ACHILLES. Bei dieser Rechten, sag ich!

67 Ebd., V. 2234-2238. 68 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 30. Mai 1800, SWB II, S. 507. 69 Penthesilea, V. 2291f. 70 Vgl. Michael Wetzel: »Geben und Vergeben. Vorüberlegungen zu einer Neudeutung der Ambivalenzen bei Kleist«, in: KJb [2000], S. 89-103. 71 Penthesilea, V. 2282f. 72 Ebd., V. 1829. 73 Ebd., V. 1522f. 74 Ebd., V. 158. 205 Penthesilea

Er will die Königin mit sich fortziehen.

PENTHESILEA ihn nach sich ziehend. Du folgst mir nicht? Folgst nicht?

Die Amazonen spannen ihre Bogen.

ODYSSEUS. Fort! Rasender! Hier ist der Ort nicht mehr, zu trotzen. – Folgt!

Er reißt den Achill hinweg. Alle ab.75

Hätte Achilles sich von da an von der Amazonenkönigin abgewandt, würde sein schönes Spiel wohl nicht mit dem Trauerspiel enden. Er wendet sich jedoch nicht ab, sondern treibt er die Revolution sogar noch voran, fasst einen neuen Plan, und zwar einen extremen, um seine Göttin wiederzugewinnen: »Er will sich bloß ihr zum Gefangnen geben.«76 Somit ist er selbst gleichzeitig in einer ausweglosen Dialektik gefangen und zieht das Verhängnis an, womit er das Ziel der emanzipatorischen Revolution – »Frei bin ich dann, / Wie ich aus ihrem eigenen Munde weiß, / Wie Wild auf Heiden wieder«77 – völlig verfehlt. Es missglückt ihm, weil der Ort zum ambivalenten Spiel schon verschwunden ist. Er beruft sich auf solch einen Ort au- ßerhalb der menschlichen Welt bzw. auf die Utopie (Nicht-Ort): »[Bei] [d]er ganzen Oberwelt und Unterwelt, / Und jedem dritten Ort«;78 er sehnt sich nach einem Ort, wo Wasser und Sexualität als elementare, verbindende Macht die vernünftige, unterscheidende Mauer über- steigt:

Wenn die Dardanerburg, Laertiade, Versänke, du verstehst, so daß ein See, Ein bläulicher, an ihre Stelle träte; Wenn graue Fischer, bei dem Schein des Monds, Den Kahn an ihre Wetterhähne knüpften; Wenn im Palast des Priamus ein Hecht Regiert’, ein Ottern- oder Ratzenpaar Im Bette sich der Helena umarmten: So wärs für mich gerad so viel, als jetzt.79

– Dennoch muss er trotz alledem lernen, dass solch ein Spielplatz nicht zu erschaffen ist, wenn Ernst aus dem Spiel und Schrecken aus der »Grille«80 geworden ist: »es ist mein Ernst; / Ich

75 Penthesilea, V. 2294ff. 76 Ebd., V. 2488. 77 Ebd., V. 1478ff. 78 Ebd., V. 2529f. 79 Ebd., V. 2518-2526. 80 Ebd., V. 2460. 206 Penthesilea will den Tempel der Diana sehn!«81 Dementsprechend klingt seine ambivalente, mit der Sem- antik des Sowohl-als-Auch konzipierte Herausforderung »zum Kampf, auf Tod und [!] Le- ben«82 im Ohr der desillusionierten Penthesilea nur so gut wie ihre vorherige, mit der Semantik des Entweder-Oder konzipierten Losung: »Rosen für die Scheitel unsrer Helden, / Oder Zyp- ressen für die unsrigen.«83 Während bei Goethe, in seiner in der Forschung oft mit Penthesilea verglichenen Iphigenie, das Medium der Sprache mit ihrer »humanisierende[n] Wirkung« zur »Durchsetzung des Humanen« und »Auflösung des Konflickts« dient,84 während man also au- ßerhalb des Trojanischen Krieges den Fluch der Erinnyen durch sein autonomes, ambivalentes Spiel mit dem fixierten Orakel versagen lässt, wie auch bei Kleist in der Liebesszene außerhalb desselben Krieges »[d]ie Eumeniden fliehn, die schrecklichen«,85 versagt die Kommunikation im Kriegsgeschehen durch den fixierten Ernst, indem man die ambivalente Herausforderung auf die kriegerische Realität bezieht und reduziert, wie Prothoe die Herausforderung von Achilles so lapidar deutet: »Zum Kampf ja, meine Herrscherin, so sagt ich«.86 Im Mangel der Sensibilität für die ästhetische Ambivalenz und die subjektive Zweckmäßigkeit (hier: irrealen Zweikampf) bzw. in Folge der Fixierung auf die objektive Zweckmäßigkeit (hier: den realen Krieg) ruft man selber den Fluch der Furien – dies gilt sowohl für Achilles als auch für Penthe- silea:

PENTHESILEA. [...] Was ich ihm zugeflüstert, hat sein Ohr Mit der Musik der Rede bloß betroffen? Des Tempels unter Wipfeln denkt er nicht, Ein steinern Bild hat meine Hand bekränzt?

PROTHOE. Vergiß den Unempfindlichen.87 [...]

PENTHESILEA. Stellen will ich mich: Er soll im Angesicht der Götter mich, Die Furien auch ruf ich herab, mich treffen!88

Das Glück ist Achilles versagt, zumal sein Glücksspruch durch die Vermittlung des Herolds, dessen Schweigeverbot durch Penthesilea und die Wiedergabe durch Prothoe schrittweise zum

81 Ebd., V. 2530f. 82 Ebd., V. 2362. 83 Ebd., V. 880f. 84 Benedikt Jeßing: »Heinrich von Kleists antiklassizistische Antikewahrnehmung – Penthesilea«, in: »Schlagt ihn todt«! Heinrich von Kleist und die Deutschen, hrsg. von Kevin Liggieri, Isabelle Maeth u. Chris- toph Manfred Müller, Heilbronn 2013, S. 81-100, hier: S. 99. 85 Penthesilea, V. 1679. 86 Ebd., V. 2383. 87 Ebd., V. 2392. 88 Ebd., V. 2398ff. 207 Penthesilea entsetzlichen Fluchspruch entstellt wird. Der sprechende Achilles wird zum besprochenen, will- kürlich interpretierten Achill. Er verliert seine Sprache und damit seine Autonomie und schließlich auch sein Leben, wie man am Ende nur mithilfe der Teichoskopie mittelbar berichtet: »Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen, / Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken, [!] / Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt sich.«89 Er wird als Schweigsamer getötet, weil er in seiner Revolution zu viel gedacht, gesprochen und gehandelt hat. Nicht von ungefähr kam Kleist, als er sich mit Penthesilea beschäftigte, zu der Erkenntnis:

Es gibt nichts Göttlicheres, als sie [Kunst]! Und nichts Leichteres zugleich; und doch, warum ist es so schwer? Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche, ist schön; und schief und verschroben alles, sobald es sich selbst begreift. O der Verstand! Der un- glückselige Verstand!90

Die Liebe zwischen Achilles und Penthesilea kann nur in der Kunst, in einem ästhetischen und interessenlosen Raum, geschehen. Sobald man den Verstand einsetzt und wiederum die Situa- tion zu begreifen und die Entwicklung zu berechnen versucht, wird die schöne, ebene Liebe schief und verschroben. Prothoes Vorwarnung, die sie beiläufig äußert: »Es läßt sich ihre Seele nicht berechnen«,91 schlägt Achilles in den Wind. Sobald Achilles die Verfassung der Amazo- nen zu erfragen versucht, (z. B.: »Wie faß ich es, / Daß du gerade mich so heiß verfolgtest?«,92 »Wodurch?«,93 »Nun –?«,94 »Nun? Hierauf?«95), wird nicht nur die Mythologie des Amazonen- staates, »Fern aus der Urne alles Heiligen, / O Jüngling: von der Zeiten Gipfeln nieder, / Den unbetretnen, die der Himmel ewig / In Wolkendurft geheimnisvollverhüllt«,96 zu einer Histo- rie mit konkreter Zeit- und Ortsangabe und damit entzaubert (hierzu später mehr), sondern Penthesilea, die hierzu wiederholt eine klare Auskunft verweigert: »Ich weiß nicht, Lieber. Frag mich nicht. – «,97 kommt schließlich auch nicht umhin, aus der traumhaften Atmosphäre her- auszutreten und zu fragen: »Wie? Was? Kein Wort begreif ich – «98 In diesem Augenblick kommt es zum Fall Penthesileas, in mehrfacher Hinsicht. Aber die Falle ist nicht vom Jäger Achilles aufgestellt worden, sondern von ihr selbst. Laut Kleist dient die Sprache aus dem »Köcher der Rede« des Zoroaster zur Befreiung der Menschheit aus ihrer ausweglosen Dialektik, »daß er, furchtlos und liebreich, mitten unter sie trete, und sie mit Pfei- len, bald schärfer, bald leiser, aus der wunderlichen Schlafsucht, in welcher sie befangen liegen, wecke«, damit die Menschheit sich aus ihrem menschlichen Zustand, »unter Jämmerlichkeiten

89 Ebd., V. 2651ff. 90 Brief an Rühle von Lilienstern vom 31. [August 1806], SWB II, S. 769. 91 Penthesilea, V. 1536. 92 Ebd., V. 2093f. 93 Ebd., V. 2096. 94 Ebd., V. 2150. 95 Ebd., V. 2172. 96 Ebd., V. 1905-1908. 97 Ebd., V. 2091. 98 Ebd., V. 2239. 208 Penthesilea und Nichtigkeiten«, befreit und ihre »Kräfte unendlicher Art, göttliche und tierische,« wieder- findet.99 Dies hätte Penthesilea mit ihrem für die Griechen unfassbaren Wesen leisten können, wenn sie »[a]us Köchern« nicht eine passive, an einen bestimmten adressierte »Antwort«,100 sondern eine aktive Ankündigung gesendet hätte. Aber sie ist selbst in den Bann von Achilles geraten und verliert mithin sowohl ihre göttlichen als auch animalischen Kräfte; sie wird menschlich und befindet sich menschlicherweise unter Jämmerlichkeiten und Nichtigkeiten. Die Liebe, die menschliche, allzu menschliche, schlägt sie »wie mit Blindheit«,101 darum lässt sie sie sich in ihrem Zustand gefallen, fall in love, und muss deshalb fallen:

Sie hemmt, Staub rings umqualmt sie, Des Zelters flüchtgen Lauf, und hoch zum Gipfel Mißt sie, auf einen Augenblick, die Wand: Der Helmbusch selbst, als ob er sich entsetzte, [!] Reißt bei der Scheitel sie von hinten nieder. Drauf plötzlich jetzt legt sie die Zügel weg: Man sieht, gleich einer Schwindelnden, sie hastig Die Stirn, von einer Lockenflut umwallt, In ihre beiden kleinen Hände drücken.102

Infolge der Liebe und der damit einhergehenden Fixierung, wenn auch nicht der Obsession, kann die Amazonenkönigin auf dem Schlachtfeld nicht länger graziös tanzen und lächeln wie zuvor: »Er jetzt, zum Dank, will ihr, der Peleïde, / Ein Gleiches tun; doch sie bis auf den Hals / Gebückt, den mähnumflossenen, des Schecken, / Der, in den Goldzaum beißend, sich her- umwirft, / Weicht seinem Mordhieb aus, und schießt die Zügel, / Und sieht sich um, und lächelt, und ist fort.«103 Da sie nun den Blick nur allein auf Achilles richtet, muss sie den Lauf hemmen und über ihre Strategie nachdenken, so dass sie ihre königliche Autonomie (Helm- busch und Zügel) verliert. Sie will Achilles, und zwar ausschließlich ihn. Deshalb hört sie weder auf, »Die Beute, die im Garn liegt, zu erhaschen«,104 noch hört sie auf ihre Freundinnen, bis sie um der Hartnäckigkeit willen zuerst ins Dilemma und dann in den Fall gerät:

Jetzt hat sie jeden sanftern Riß versucht, Den sich im Fels der Regen ausgewaschen; Der Absturz ist, sie sieht es, unersteiglich; Doch, wie beraubt des Urteils, kehrt sie um, Und fängt, als wärs von vorn, zu klettern an.

99 Gebet des Zoroaster, SWB II, 325f. 100 Penthesilea, V. 101. 101 Gebet des Zoroaster, SWB II, S. 325. 102 Penthesilea, V. 282-291. 103 Ebd., V. 187-192. 104 Ebd., V. 310. 209 Penthesilea

[...] Von ragendem Geklüfte rings geschreckt, Den Schritt nicht vorwärts mehr, nicht rückwärts wagt; Der Weiber Angstgeschrei durchkreischt die Luft: Stürtz sie urplötzlich, Roß und Reuterin, Von los sich lösendem Gestein umprasselt, Als ob sie in den Orkus führe, schmetternd Bis an des Felsens tiefsten Fuß zurück, Und bricht den Hals sich nicht und lernt auch nichts: Sie rafft sich bloß zu neuem Klimmen auf.105

Ist es die Liebe zu Achilles, die sie zu solch einer blinden Aktion veranlasst? Wie gesagt, bei Kleist dient die Liebe mehrmals als Katalysator, der durch das Absenken der Aktivierungs- energie (der energetischen Barriere) eine Revolution beschleunigt. Diese quasichemische Re- aktion in der moralischen Welt lässt sich nicht nur durch Goethes Wahlverwandtschaften legiti- mieren, sondern auch durch Kleists Allerneuesten Erziehungsplan, in dem es heißt:

Dieses höchst merkwürdige Gesetz [von der Elektrizität] findet sich, auf eine, unseres Wissens, noch wenig beachtete Weise, auch in der moralischen Welt; dergestalt, daß ein Mensch, dessen Zustand indifferent ist, nicht nur augenblicklich aufhört, es zu sein, sobald er mit einem anderen, dessen Eigenschaften, gleichviel auf welche Weise, bestimmt sind, in Berührung tritt: sein Wesen sogar wird, um mich so auszudrücken, gänzlich in den entgegengesetzten Pol hinübergespielt; er nimmt die Bedingung + an, wenn jener von der Bedingung –, und die Bedingung –, wenn jener von der Bedingung + ist.106

Demnach sind die Bedingungen für solch eine chemische Reaktion bereits vorhanden – wie im Fall der Amazonenkönigin. Der Widerspruch, sowohl zwischen Penthesilea und ihrer Freundin Prothoe als auch zwischen ihr und der Oberpriesterin, deutet darauf hin, dass Penthesilea bisher keine souveräne Herrscherin ist. Dies lässt sich wohl auf die Verfassung des Amazonenstaates zurückführen, die bei der Staatsgründung durch das demokratische Verfah- ren in Kraft trat:

Und dies jetzt ward im Rat des Volks beschlossen: Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind Die Fraun, die solche Heldentat vollbracht, Und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar. Ein Staat, ein mündiger [!], sei aufgestellt, Ein Frauenstaat, den fürder keine andre

105 Ebd., V. 311-330. 106 Allerneuester Erziehungsplan, SWB II, S. 330. 210 Penthesilea

Herrschsüchtge Männerstimme mehr durchtrotzt, Der das Gesetz sich würdig selber gebe, Sich selbst gehorche, selber auch beschütze: Und Tanaïs sei seine Königin.107

Der Staat rühmt sich, eine mündige bzw. aufklärerischen Organisation zu sein. Aus dieser Ak- tion aber, wie aus der ebenso sich rühmenden Französischen Revolution, ist Terror und nicht Freiheit und Gleichheit erwachsen, (ganz zu schweigen von Brüderlichkeit), weil die neu auf- gestellte Ordnung, um sich zu etablieren, zugleich Anspruch auf ihre Totalität erhob und des- halb die potenziell gefährlichen Fremdkörper ausgrenzte: »Der Mann, des Auge diesen Staat erschaut, / Der soll das Auge gleich auf ewig schließen; / Und wo ein Knabe noch geboren wird, / Von der Tyrannen Kuß, da folg er gleich / Zum Orkus noch den wilden Väter nach.108 Der amazonische Ausgang aus der Unmündigkeit ist fehlgegangen, und zwar derart, dass die Ancien Tyrannei des patriarchalischen Monarchen »Vexoris« 109 trotz der Demokratie nur durch die Tyrannei der matriarchalischen Monarchin »Tanaïs« abgelöst wurde. Dass der Bogen, der wie das Zepter von jeher die Macht des Skythenreiches symbolisiert, bei der Verkündigung der Gründung paradoxerweise niederfiel, kennzeichnet nicht zuletzt den absolutistischen Cha- rakter des Staates: Man denke an Kleists Metapher des Würzburger Torbogens: »Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen«.110 Zudem: Der Bogen »stürzt’«111, nachdem Tanaïs sich, weil »die feige Regung um sich griff«,112 die rechte Brust und somit auch den Sitz des Gefühls abgerissen und daraufhin ihr Volk auf den Namen »[d]ie Amazonen oder Busenlo- sen!«113 getauft hatte. Der Staat übt also eine kollektive Gewalt aus und verlangt von seinem Volk, nach demselben Muster zu handeln: Wer nicht busen- bzw. gefühllos ist, gehört konstitu- tionell nicht zu den Amazonen. Nicht von ungefähr, als Penthesilea aus der amazonischen Sicht- weise »von Sinnen« sei,114 als ob sie beim Kampf »völlig ums Bewußtsein [...] gebracht« wor- den wäre,115 sagt Prothoe das Gleichnis vom stürzenden Gewölbe und erinnert sie damit an die Konstitution (zuerst im Bild ihres Körperbaus):

So seis auch wie ein Riese! Sinke nicht, Und wenn der ganze Orkus auf dich drückte!

107 Ebd., V. 1953-1962. 108 Ebd., V. 1963-1967. 109 Ebd., V. 1919. 110 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. (u. 18.) November 1800, SWB II, S. 593. Auf diese Stelle hat Michel Chaouli auch den Fall des Skythischen Bogens bezogen, aber eine andere Interpretation abgeleitet. Vgl. Michel Chaouli: »Die Verschlingung der Metapher. Geschmack und Ekel in der ›Penthesilea‹«, in: KJb [1998], S. 127-149, vor allem S. 141-149. 111 Penthesilea, V. 1988. 112 Ebd., V. 1985. 113 Ebd., V. 1989. 114 Ebd., V. 1193 115 Ebd., V. 1195. 211 Penthesilea

Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht, Weil seiner Blöcke jeder stürzen will! Beute deine Scheitel, einem Schlußstein gleich, Der Götter Blitzen dar, und ruft, trefft! Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten, Nicht aber wanke in dir selber mehr, Solang ein Atem Mörtel und Gestein, In dieser jungen Brust, zusammenhält.116

Erst wenn Mörtel und Gestein in der Königin fest zusammenhalten, lässt sich der konstituti- onell-monarchische Staatsbau absichern. Es ist begreiflich, dass solch ein Staat die individuelle Liebe verneint und die Libido nur beim Ritual des kollektiv orgiastischen Rosenfestes zulässt, »denen sich, bei Todesstrafe [!], niemand, / Als nur die Schar der Bräute nahen darf – «.117 Denn die Liebe, wie Kleist einst an Wilhelmine von Zenge geschrieben hat, mag zuerst zur individuellen »Reform« führen und, wenn die Liebe »von der höheren Art« ist, kommt sogar »die große Revolution an die Seele«,118 was den Staat, in dem von der Individualität keine Rede sein darf, gefährden würde. Ein Bei- spiel dafür liefert nicht nur Kleist selbst, sondern auch seine Penthesilea (ein Grund dafür, dass Kleist in Penthesilea »mein innerstes Wesen« sieht – »der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele«119). Es geschieht also bei ihrem Kampf mit Achilles, dass sie sich selbst im re- flektierten Spiegelbild an seiner Rüstung sieht und sich zu reflektieren beginnt:

Ist das die Siegerin, die schreckliche, Der Amazonen stolze Königin, Die seines Busens erzne Rüstung mir, Wenn sich mein Fuß ihm naht, zurückespiegelt? Fühl ich, mit aller Götter Fluch Beladne, Da rings das Heer der Griechen vor mir flieht, Bei dieses einzgen Helden Anblick mich Gelähmt nicht, in dem Innersten getroffen, Mich, mich die Überwundene, Besiegte? Wo ist der Sitz mir, der kein Busen ward, Auch des Gefühls, das mich zu Boden wirft?120

116 Ebd., V. 1347-1356. 117 Ebd., V. 2077f. 118 »So viele Erfahrungen hatten die Wahrheit in mir bestätigt, daß die Liebe immer unglaubliche Verände- rungen in dem Menschen herorbringen; [...] ihr ganzes Wesen erlitt schnell eine große Reform«. Brief an Wilhelmine von Zenge vom 11. (u. 12.) Januar 1801, SWB II, S. 611. 119 Brief an Marie von Kleist [1807], SWB II, S. 797. 120 Penthesilea, V. 642-652. 212 Penthesilea

In diesem Augenblick ist sie aus dem anästhetischen Zustand erwacht; sie wird sich des ver- stümmelten Busens bewusst, fühlt »große[n] Schmerz«121 und entzaubert ihre stolze königli- che Identität. Es ist nicht verwunderlich, dass sie Achilles für Helios hält. Man erinnere sich an die Inschrift am Tempel des anderen Sonnengottes Apollo: »Gnothi seauton (Erkenne dich selbst!)«. Im Spiegelbild, in dem die Realität seitenverkehrt erscheint, erkennt sie sich als ein Mensch, der in gewissem Maße sowohl körperlich als auch geistig kastriert ist. Die Reflexion wendet ihren Blick also zu sich selbst, macht sie auf ihre private Seite aufmerksam und lässt sie um den verlorenen Teil trauern: »Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt.«122 Diese Er- kenntnis bringt sie zugleich um ihre unwissende Unschuld, was Kleist mithilfe einer erotischen Anspielung auf ihre verlorene Jungfräulichkeit und die darauffolgende sexuelle Erregung dar- stellt: »Der Sturz, der dir die Brust gewaltsam traf, / Hat dir das Blut entflammt, den Sinn empört: / An allen jungen Gliedern zitterst du! / Beschließe nichts, wir alle flehen dich, / Bis heitrer dir der Geist zurückgekehrt.«123 Diese Anspielung ist umso treffender, als die (geistige) Virginität die wesentlichste Eigenschaft der Amazonen sein soll. Das heißt: Mit dieser Selbst- erkenntnis beginnt Penthesilea, ihre Angehörigkeit zu dem Amazonenstaat in Zweifel zu zie- hen. Sie wird sich dessen bewusst, dass sie als Königin nur eine Rolle, eine Figur, eine Projek- tion des Volkes erfüllt, die aber kein Wesen besitzt (später wird deutlich, dass sie die geerbte Krone eigentlich nicht ergreifen wollte, sondern von ihrem Volk »Gewaltsam auf den Thron« gezerrt wurde124). So fragt sie: » – Was bin ich denn seit einer Hand voll Stunden?«125 Um die Identitätskrise zu überwinden, muss sie zu sich selbst zurückkehren. Sodann geht es ihr nicht mehr um die Staatlichkeit, wie es einer Königin bzw. einer Matriarchin gebührt. Dessen be- schuldigt sie die für die amazonische Moral stehende Oberpriesterin: »Was geht dem Volke der Pelide an? / – Ziemts einer Tochter Ares’, Königin, / Im Kampf auf einen Namen sich zu stellen?«126 Auch ihre Freundin wird durch die rebellische Aktion befremdet: »[Willst du] den Segen, / Gleich einem übellaunigen Kind, hinweg, / Der deines Volks Gebete krönte, wer- fen?«.127 Ja, Penthesilea will als Kind neugeboren werden; Zumindest will sie zur Kindheit zu- rückkehren, wo sie noch keine weibliche Brust hat und deshalb noch nicht kastriert ist, wo außerdem ihre Mutter Otrere sich ihr gegenüber nicht als Königin in der Öffentlichkeit, son- dern nur als Mutter im Privatleben verhält. Dies stellt Kleist durch den folgenden Dialog her- aus:

PENTHESELIA. Sie [Otrere] sagte: »geh, mein süßes Kind! Mars ruft dich! Du wirst den Peleïden dir bekränzen:

121 Ebd., V. 2345. 122 Ebd., V. 1253. 123 Ebd., V. 658-662. 124 Ebd., V. 2150-2157. 125 Ebd., V. 747. 126 Ebd., V. 1044ff. 127 Ebd., V. 669ff. 213 Penthesilea

Werd eine Mutter, stolz und froh, wie ich – Und drückte sanft die Hand mir, und verschied.

PROTHOE. So nannte sie den Namen dir, Otrere?

PENTHESILEA. – Sie nannt ihn, Prothoe, wie’s einer Mutter Wohl im Vertraun zu ihrer Tochter ziemt.

ACHILLES. Warum? Weshalb? Verbeut dies das Gesetz?

PENTHESILEA. Es schickt sich nicht, daß eine Tochter Mars’ Sich ihren Gegner sucht, den soll sie wählen, Den ihr der Gott im Kampf erscheinen läßt. – Doch wohl ihr, zeigt die Strebende sich da, Wo ihr die Herrlichsten entgegenstehn. – Nicht, Prothoe?128

Penthesilea will also nicht mehr die Tochter des Mars, sondern nur die Tochter ihrer Mutter sein. Die These, »Achill is supposed to replace her mother and to anchor her identity and reality«,129 ist nur insofern akzeptabel, als der von Otrere genannte »Peleïde«130 bloß ein Zei- chen ist, das im Wesentlichen nicht die Person signifiziert, sondern als Signal dient – Das ur- sprüngliche Signal zur Revolution. So lautet ihr ursprünglicher Wunsch: »Mars weniger, / Dem großen Gott, der mich dahin gerufen, / Als der Otrere Schatten, zu gefallen.«131 Diesem Sei- ten- resp. Ur-Sprung aus dem strickten amazonischen Staatssystem wohnt die Destruktion be- reits inne, die nun durch die Begegnung mit Achilles beschleunigt wird. Als Penthesilea nun im Krieg den wirklichen Achilles trifft, ist das Zeichen »Peleïde« nicht mehr bloß das Signal zur Revolution, sondern zugleich ein Anzeichen, das in erster Linie eine konkrete Person signifiziert. So erlebt sie in dem Augenblick, als sie Achilles selbst erblickt, einen »semiotische[n] Ansturm gegen das Symbolische«, der entweder zum »psychotischen Kollaps«, (man erinnere sich an ihr Erröten und Zerstreut-Sein beim ersten Blick auf Achilles, wobei sie gesagt haben soll: »solch einem Mann, o Prothoe, ist / Otrere, meine Mutter, nie begegnet!«),132 oder »bei entsprechender Bearbeitung« zum »poetischen Text« führt.133 Bei diesem Ansturm, also im Hinblick auf Achilles, fällt das Signal zur Revolution, das Anzeichen eines Mannes und, wie oben erwähnt, das eigene Abbild an dessen Körper in eins, was für ihr Subjekt eher Verwirrung als Orientierung bringt. Der geistige Ansturm wird zudem dadurch potenziert, dass sie sich körperlich eben in einem Ansturm befindet: »Staub ringsum, / Vom

128 Ebd., V. 2137-2149. 129 Chris Cullens u. Dorothea von Mücke: »Love in Kleist’s Penthesilea and Käthchen von Heilbronn«, in: DVjs [1989/3], S. 461-493, hier: S. 467. 130 Penthesilea, V. 2138. 131 Ebd., V. 2167-2169. 132 Ebd., V. 89f. 133 Diese Theorie über den Einbruch des Semiotischen in das Symbolische, die ich aus Marianne Schullers Interpretation zitiere, kommt aus Julia Kristevas Die Revolution der poetischen Sprache. M. Schuller [1994], S. 63f. 214 Penthesilea

Glanz der Rüstungen durchzuckt und Waffen: / Ein Knäuel, ein verworrener, von Jungfraun, / Durchwebt von Rossen bunt: das Chaos war, / Das erst’, aus dem die Welt sprang, deutli- cher.«134 Ein schier chaotischer Zustand – zweifelsohne. Nichtsdestoweniger bietet das Chaos, wie Kleist hier auf die Genesis verweist, eine Gelegenheit, sich zu reorientieren und damit eine neue (Welt-)Ordnung hervorzubringen, zumal die Vernunft, derer sich die Amazonen rühmen, und anhand derer sie ihren Staat aufbauen, unter solch einem Ausnahmezustand völlig versagt. Außerhalb der Vernunft und ihrer Totalität ist man vielleicht von Sinnen, dessen ungeachtet ist man jedoch gerade deswegen in der Lage, die totalitäre Vernunft kritisch zu reflektieren. So erinnert sich Penthesilea an eine metaphysische Heimsuchung, die sie im Kampf erlebt hat: » – Ists nicht, als ob ich eine Leier zürnend / Zertreten wollte, weil sie still für sich, / Im Zug des Nachtwinds, meinen Namen flüstert?«135 Der Chaos lässt sie über ihr Wesen reflektieren: Was bedeutet der Name »Penthesilea«? Ist er das Anzeichen ihrer Individualität oder das Signal ihrer königlichen Autorität oder ein Abbild ihres Staates? Es ist also nicht verwunderlich, dass sie Achilles auffordert, sie eher bei ihren »Zügen« als beim Namen »Penthesilea« zu nennen: »Wenn sie [Achilles’ eigene Seele] dich fragt, so nenne diese Züge, / Das sei der Nam, in wel- chem du mich denkst. – [...] Wenn dir der Nam entschwänd, der Rich sich mißte: Fändst du mein Bild in dir wohl wieder aus? / Kannst dus wohl mit geschloßnen Augen denken?«136 Darüber hinaus muss sie sich mit einer phantastischen Frage konfrontieren: Ist sie deshalb zur Königin geworden, weil »Ares, / Bei der Otrere, meiner Mutter, Tod, / Zu seiner Braut mich auserkor« (Gottesgnadentum),137 oder weil ihre Mutter es wollte, »denn ohne Erben / War, wenn sie starb, der Thron und eines andern Ehrgeizen Nebenstammes Augenmerk« (Erbkai- sertum).138 Ihr Hinweis auf den Nachtwind erlaubt die Feststellung, dass die Stimme, die we- der durch die vernünftige Sprache noch durch die ordnungsstiftende Vorschrift, sondern durch die lyrische Musik (Leier/Lyra) hervorgebracht wird, aus ihrem Inneren bzw. aus ihrer Nacht- seite kommt (nicht zuletzt ist die Oberpriesterin, die Vertreterin der Vernunft, auch dieser Meinung: »Unmöglich, / Da nichts von außen sie, kein Schicksal, hält, / Nichts als ihr töricht Herz – «139). Penthesilea nimmt ihr Selbst wahr, nämlich ihre menschliche Seele, die sich nicht von dem quasigöttlichen und gerade »unmenschlich[en]«140 Gesetz bändigen lässt, sondern ihm im Gegenteil widerspricht: »Und Trotz ist, Widerspruch, die Seele mir!«141 Demnach, und nachdem sie die eigene Identität hinterfragt hat, beginnt sie, das amazonische Gesetz infrage zu stellen, wobei sie immer wieder ihren eigenen Willen artikuliert:

Ists meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht

134 Ebd., V. 433-438. 135 Ebd., V. 1178ff. 136 Ebd., V. 1814-1822. 137 Ebd., V. 2102ff. 138 Ebd., V. 2134ff. 139 Ebd., V. 1279-1281. 140 Ebd., V. 2012ff. 141 Ebd., V. 680. 215 Penthesilea

Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben? Was will ich denn, wenn ich das Schwert ihm zücke? Will ich ihn denn zum Orkus niederschleudern? Ich will ihn ja, ihr wegen Götter, nur An diese Brust will ich ihn niederziehn!142

Für sie handelt es sich in diesem Krieg nicht mehr um das Duell mit Achilles, sondern vielmehr um ihr Duell mit dem Staat, aber, da sie als Königin den Staat vertritt, auch mit sich selbst. Penthesilea lässt das Sollen nicht gelten, weil sie nun nur das Wollen bzw. ihren souveränen Willen gelten lässt. »Ihre Souveränität besteht darin,« so Tim Müller, »dass sie in ihre Hingabe an die Leidenschaft, die sie als Eigenes entdeckt, nicht gegen sich selbst handelt, nicht unter- drückt, was von allen anderen bis auf die Freundin als falsches Handeln verworfen wird.«143 Nach dem individuellen Selbstbewusstwerden will sie nicht mehr allein um des Staates und der Solidarität willen eine kaltherzige Busenlose sein, die sich als (geistige) Jungfrau rühmen und bewähren soll. Wahrheit ist: Sie ist weder Ars noch Diana, sondern ein Mensch, der fühlt:

PENTHESILEA. [...] Wie sie mit Spiegeln mich, die Gleißnerinnen, Umstanden, rechts und links, der schlanken Glieder In Erz erpreßte Götterbildung preisend. – Die Pest in eure wilden Höllenkünste! [...]

DIE PRIESTERIN auf dem Hügel. Diana! Königin! Du bist verloren, Wenn du nicht weichst!144

Ihre Autonomie besteht weder in ihrer königlichen Erhöhung noch in ihrer angebeteten Gött- lichkeit, sondern in ihrem persönlichen Gefühl, das zwar dem kategorischen Imperativ wider- spricht, aber ihre Individualität verbürgt, wie Prothoe zur Oberpriesterin sagt: »Dir scheinen Eisenbanden unzerreißbar, / Nicht wahr? Nun sieh: sie bräche sie vielleicht, / Und das Gefühl doch nicht, das du verspottest. / Was in ihr walten mag, das weiß nur sie, / Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.«145 Um sich selbst und die eigene Autonomie zurückzugewinnen, muss Penthesilea eine eigene Ordnung schaffen, was erst mit einer Revolution gegen die alte, totalitäre Ordnung möglich

142 Ebd., V. 1187-1192. 143 Tim Müller: »Marionettentheater/Menschentheater. Kleists Ethik souveränen Handelns«, in: KJb [2010], S. 220-236, hier: 226. 144 Penthesilea, V. 1262-1269. 145 Ebd., V. 1282-1286. 216 Penthesilea ist. Dazu muss sie zuerst beweisen, dass die alte Ordnung absetzbar ist. So erzählt sie die Ge- schichte des Amazonenstaates:

Fern aus der Urne alles Heiligen, O Jüngling: von der Zeiten Gipfeln nieder, Den unbetretnen, die der Himmel ewig In Wolkenduft geheimnisvoll verhüllt. Der ersten Mütter Wort entschied es also, Und dem verstummen wir, Neridensohn, Wie deiner ersten Väter Worten du.146

Indem sie die Erzählung der geheimnisvollen Gründung eigens als Tabu bezeichnet und zu- gleich den menschlichen Faktor andeutet, entzaubert sie eigentlich schon – bewusst oder un- bewusst – die amazonische Mythologie. Das ist der erste Schritt ihrer Konzeption. Auf die Aufforderung von Achilles: »Sei deutlicher« hin,147 erzählt sie die ganze Geschichte des be- waffneten Aufstandes der amazonischen Frauen. Ihre Erzählung ist nicht nur ein erneuter Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sondern setzt auch die Geschichte in den zeitlichen und räumlichen Kontext. Anhand ihrer Erzählung tritt Penthesilea in den unbetretenen ge- heimnisvollen Ort ein, setzt sich mit der Mythologie auseinander und nimmt somit, obwohl sie immer wieder vom Mars/Ares und Diana/ Artemis spricht, die Geschichte als eine mensch- liche Geschichte auseinander. Auch die Frage, die Achilles ironischerweise stellt, entkräftet den vermeintlichen göttlichen Faktor: »Denn dieser überstolze Frauenstaat, / Der ohn der Männer Hülf entstand, wie pflanzt er / Doch ohne Hülfe sich der Männer fort? / Wirft euch Deukalin, von Zeit zu Zeit, / Noch seiner Schollen eine häuptlings zu?«148 Und dies führt zu einer tiefe- ren Auseinandersetzung, so dass Achilles inzwischen ausruft: » – Die ungeheure Sage wäre wahr?«149 Die Sage ist historisch wahr. Durch ihre entmystifizierende Erzählung, die die Geschichte als menschlich, deshalb absetzbar darstellt, will Penthesilea aus der selbstverschuldeten Mün- digkeit ausgehen. Aber auch sie kann selbst nicht der Dialektik der Aufklärung entfliehen, weil sie sich ihrer nicht ohne Leitung eines anderen zu bedienen wagt. Dies führt zur Paradoxie: Die amazonischen Jungfrauen, die sich aus der männlichen Herrschaft emanzipiert haben, ge- ben sich jedoch Mars als Kompesation für den Mann im Rosenfest beim Tempel der Artemis hin, so wie die französischen Revolutionäre die vergötterte Vernunft als Kompensation für den Gott im Tempel à la Philosophie anbeten. (Man verzeihe mir, dass ich die faktische und die fiktionale Geschichte nebeneinanderstelle. Denn es ist nicht anzuzweifeln, dass Kleist in Penthe- silea, wie Hans Peter Herrmann bemerkt hat, »den mythologischen Stoff benutzt, um seine

146 Ebd., V. 1905-1911. 147 Ebd., V. 1912. 148 Ebd., V. 2021-2025. 149 Ebd., V. 2006. 217 Penthesilea eigene Epochenerfahrung zu bearbeiten.«150) Solch eine Paradoxie teilt auch Penthesilea, weil sie sich infolge der Revolution im Umbruch befindet, was zuerst eher Verwirrung als Neuord- nung bewirken muss, zumal ihre Revolution, da sie gerade Königin ist, zugleich den Bruch mit sich selbst bedeutet. Somit gerät sie in den Bruch (im Sinne des Sumpfes), aus dem sie als Mensch ohne einen Halt nicht herauskommen kann: »Wenn es mir möglich wär –! Wenn ichs vermöchte –! / Das Äußerste, das Menschenkräfte leisten, / Hab ich getan – Unmögliches versucht – / Mein Alles hab ich an den Wurf gesetzt; / Der Würfel, der entscheidet, liegt, er liegt: / Begreifen muß ichs – – und daß ich verlor.«151 Gerade in diesem chaotischen Augen- blick, als ihr Bewusstsein zusammenzubrechen droht, erinnert sie sich offenbar eines phantas- tischen Phänomens, das ihr im zweiten Kampf mit Achilles begegnet ist. Um die für das Phan- tastische konstruktive ambivalente Sichtweise zum Ausdruck zu bringen, wendet Kleist hier erneut die teichoskopische Strategie an:

DAS ERSTE MÄDCHEN. Seht, seht, wie durch der Wetterwolken Riß, Mit einer Masse Licht, die Sonne eben Auf des Peliden Scheitel niederfällt!

DIE OBERPRIESTERIN. Auf wessen?

DAS ERSTE MÄDCHEN. Seine, sage ich! Wessen sonst? Auf einem Hügel leuchtend steht er da, In Stahl geschient sein Roß und er, der Saphir, Der Chrysolith, wirft solche Strahlen nicht! Die Erde rings, die bunte, blühende, In Schwärze der Gewitternacht gehüllt; Nichts als ein dunkler Grund nur, eine Folie, Die Funkelpracht des Einzigen zu heben!152

Im Hinblick auf diese scheinbare Epiphanie wird Achilles neben dem Anzeichen eines Mannes phantastischerweise das Anzeichen eines Gottes verliehen, des Einzigen, der ihre gigantische, d. h. sowohl (aus der menschlichen Perspektive) unmögliche als auch (aus der götterlichen Per- spektive) rebellische Aktion – »Den Ida will ich auf den Ossa wälzen, / Und auf die Spitze

150 Hans Peter Herrmann: »Sprache und Liebe. Beobachtungen zu Kleists ›Penthesilea‹«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 26-48, hier: S.43. 151 Penthesilea, V. 1302-1307. 152 Ebd., V. 1033-1043. 218 Penthesilea ruhig bloß mich stellen«153 – legitimieren kann. Erst mit dessen Hilfe kann sie solch eine Ak- tion zum »Gebiet der Möglichkeit«154 zählen. Und erst mit dessen Hilfe lässt sie sich als Indi- viduum dem Kollektiv gleichsetzen, das angeblich unter dem Schutz von Mars und Artemis steht. Vorher hat sie schon durch ihren Ausruf – »O Aphrodite!«155 – ihr Volk ent-setzt. Sie ruft also die Göttin der Liebe an, die im diametralen Gegensatz zur Jungfrau-Göttin Artemis steht. Jetzt findet sie in Achilles einen anderen Gott, der mit Ares zu kämpfen vermag: »Nun denn, so sei mir, frischer Lebensreiz, / Du junger, rosenwan’ger Gott, gegrüßt! […] Der junge Nereïdensohn ist mein!«156 Es ist Helios, der in der Mythologie Ares in flagranti mit Aphrodite erwischt und deren Gatten Hephaistos davon unterrichtet. So lernt der göttliche Achilles über Penthesilea nicht nur sich selbst erkennen, sondern er ist auch der Überbringer des neuen Tages (Epoche), der Rivale des Ares (Ancien Regime), der Zerschlagende des außerehelichen Verbundes zwischen Ares und Aphrodite (Unrecht) und kann zugleich, weil Hephaistos ihm die göttliche Rüstung gegeben und ihn in seinem Kampf mit Hektor gerettet hat, den Ehe- mann der Aphrodite vertreten (Legitimation). Kurz: Achilles als solcher eignet sich durchaus zum Idealbild der Revolution: »Nun denn, so grüß ich dich mit diesem Kuß, / Unbändigster der Menschen, mein! Ich bins, / Du junger Kriegsgott, der du angehörst; / Wenn man im Volk dich fragt, so nennst du mich.«157 (Wie ungewöhnlich solch ein phantastisches Bild in Penthesilea – anders als in der Mythologie – ist, zeigt Kleist an der Sprachlosigkeit und Fassungslosigkeit der Amazonen, als Penthesilea Achilles zum ersten Mal namentlich mit Helios verbindet.158) Achilles’ phantastischer Charakter manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass Penthesilea ihn niemals beim Namen »Achilles« nennt, sondern entweder »Pelide«, nämlich Sohn des mensch- lichen Königs Peleus, oder »Neridensohn«, nämlich Enkelsohn des Meeresgottes Nereus ruft. Hierin spiegelt sich ihr hintergründiger Wunsch wider: Einerseits will sie mithilfe von Helios und Aphrodite des amazonischen Staates Zusammenhalt von »Mörtel und Gestein« – Ares und Artemis – ent- und ersetzen, andererseits will sie von diesem Mann geliebt werden und ein »reizendes Weib« sein.159 Allerdings muss ihr phantastisches Achilles-Bild, wie die Eigenschaft des Phantastischen, so instabil sein, da das Bild im nächsten Augenblick entweder zum wunderbaren Gott sublimiert werden will oder zum unheimlichen Menschen zu verblassen droht. Der göttliche Achilles existiert nur in ihrer seelischen Projektion, wie ihr die Sonne nur im Wasserspiegel zu Füßen liegen;160 nur im spielerischen Passage, gleichsam in einer Utopie, wo nur die Liebe ohne jeg- liches Interesse herrscht, lässt sich der Triumph ihrer Revolution lobpreisen: »Ares entweicht!

153 Ebd., V. 1375f. 154 Ebd., V. 1369. 155 Ebd., V. 1231. 156 Ebd., V. 1619f./1629. 157 Ebd., V. 1805-1808. 158 Vgl. ebd., V. 1380-1390. 159 »Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reitzt.« (Ebd., V. 1252). 160 Ebd., V. 1386f. 219 Penthesilea

/ Seht, wie sein weißes Gespann / Ferhin dampfend zum Orkus niedereilt!«161 Es scheint, als ob Penthesileas revolutionäre Idee in die Realität umgesetzt worden wäre. In der Realität aber, wo man die Folge der Handlung kalkuliert, ist all dies unmöglich. Ich zitiere erneut die Aussage von Achilles, um daran zu erinnern:

Zwar durch die Macht der Liebe bin ich dein, Und ewig diese Banden trag ich fort; Doch durch der Waffen Glück gehörst du mir; Bist mir zu Füßen, Treffliche, gesunken, Als wir im Kampf uns trafen, nicht ich dir.162

Da es unmöglich ist, kann man auch nicht weiter fortschreiten. Als sie durch diese grausame Realität desillusioniert wird und der phantastische Achilles sich als unheimlicher Mensch er- weist (»Nein, sieh den Schrecklichen! Ist das derselbe –?«),163 wird ihre Revolution und ihre neue, geraude einsetzende Geschichte schlagartig in Abrede gestellt: »Komm her, ich sagte dir noch alles nicht – «164 Ihr einziges, ihr höchstes Ziel ist gesunken, und sie hat nun keines mehr –. Sie kann weder vorwärtsgehen, noch hat sie einen Rückweg. Denn angesichts ihrer revolu- tionären Aktion spricht die reaktionäre Oberpriesterin sie zwar von der Schuld frei, aber zu- gleich auch von ihrer Zugehörigkeit zum amazonischen Staat: »Frei, in des Volkes Namen, sprech ich dich; / Du kannst den Fuß jetzt wenden, wie du willst, / Kannst ihn mit flatterndem Gewand ereilen, / Der dich in Fesseln schlug, und ihm den Riß, / Da, wo wir sie zersprengten, überreichen: / Also ja wills das heilge Kriegsgesetz!«165 Es scheint, als ob sie sich ihre Auto- nomie endlich erkämpft hätte. Aber die Autonomie, die sie gewinnt, ist in der Tat Heteronomie, weil ihre Freiheit dadurch bestimmt ist, dass sie den Kampf sowohl gegen Achilles als auch gegen den Staat verloren hat. Die Freiheit als solche ist kein Triumph, sondern eine Verban- nung von beiden Seiten. Es fügt sich sich so, dass Achilles sie erneut zum Zweikampf herausfordert. Die Herausfor- derung ist eine Gelegenheit, sich aus der aussichtslosen Sumpfsituation zu befreien. Da ihre Revolution sich bereits als unmöglich erwiesen hat, entscheidet sich Penthesilea diesmal für die Restauration: »Ihr sollt all die Gefangnen wieder haben!«166 Sie versucht, die alte Ordnung, die durch ihre Revolution ins Wanken geraten ist, wiederherzustellen. Sie, die jetzt »außer sich« ist,167 ist selbst die Inkarnation von Diana, die den blasphemischen Jäger in einen Hirsch ver- wandelt und ihn von seinen eigenen Hunden zerfleischen lässt. (Bezeichnenderweise haben ein paar Hunde von Penthesilea dieselben Namen wie die Hunde von Aktaion: »Auf, Tigris,

161 Ebd., V. 1735ff. 162 Ebd., V. 2244-2248.f. 163 Ebd., V. 2267. 164 Ebd., V. 2284. 165 Ebd., V. 2329-2334. 166 Ebd., V. 2397. 167 Ebd., V. 2427. 220 Penthesilea jetzt, dich brauch ich! Auf Leäne! / Auf, mit der Zoddelzähne du, Melampus!«168 Dement- sprechend wird Achilles im letzten Kampf als Hirsch bezeichnet: »Ha! Sein Geweih verrät den Hirsch«.169) Ihrer restaurativen Konzeption gemäß ruft Penthesilea jetzt nicht mehr Helios o- der Aphrodite an, sondern den alten Gott Ares: »Dich, Ares, ruf ich jetzt, dich Schrecklichen, / Dich, meines Hauses hohen Gründer, an! / Oh! – – deinen erznen Wagen mir herab«.170 Indem sie sozusagen die Revolution der Revolution unternimmt, gerät die revolutionäre Pen- thesilea zwischen die Pole, als sie den auf Achilles gerichteten Bogen so spannt, »daß sich die Enden küssen«.171 Somit gerät sie in die Dialektik, wie es Prothoe ihr prophezeit hat: »Freud ist und Schmerz dir, seh ich, gleich verderblich, / Und gleich zum Wahnsinn reißt dich beides hin.«172 Ja, im »große[n] Schmerz«173 wird sie so wahnsinnig wie die »Mänade«,174 die ihren Feind Achilles wie Pentheus tötet und auffrisst und wandelt den Sinn ihrer bisherigen Aktion zum Wahn. Indem sie den Körper Achilles vernichtet, macht sie nicht nur das Signal der Re- volution, sondern auch alle Bilder, von denen jedes ihr geteiltes Ich bedeutet, zunichte. Indem sie den Gordischen Knoten der Identität mit den Zähnen durchschlägt, nimmt sie nicht nur ihrer Revolution, sondern auch sich selbst den Namen: »Sie, die fortan kein Name nennt – «175 Es gibt keinen phantastischen »Achilles« mehr, und somit auch keine hoch ambivalente »Pen- thesilea«: »Jetzt steht sie lautlos da, die Grauenvolle, / Bei seiner Leich, umschnüffelt von der Meute, / Und blicket starr, als wärs ein leeres Blatt, / Den Bogen siegreich auf der Schulter tragend, / In das Unendliche hinaus, und schweigt.«176 Sie schweigt, schreibt nämlich keine ei- gene Geschichte mehr; sie steht da – weder als Individiuum noch als Königin, sondern nur noch als Abbild des Staates, nämlich als dessen Ikon:

Seht, seht, ihr Fraun! – Da schreitet sie heran, Bekränzt mit Nesseln, die Entsetzliche, Dem dürren Reif des Hag’dorns eingewebt, An Lorbeerschmeckes Statt [!], und folgt der Leiche, Die Gräßliche, den Bogen festlich schulternd, Als wärs der Todfeind, den sie überwunden!177

Kleist ist der Semiotik des 20. Jahrhunderts voraus. Indem er hier das Ikon mit der schweigen- den Ikone Christi darstellt, treibt er es in Hinsicht der Semiotik der Penthesilea gezielt zu bunt, um wieder die uralte Frage nach der Bedeutung des Zeichens in den Raum zu werfen: des

168 Ebd., V. 2421f. 169 Ebd., V. 2645. 170 Ebd., V. 2428ff. 171 Ebd., V. 2647. 172 Ebd., V. 1665f. 173 Ebd., V. 2345. 174 Ebd., V. 2569. 175 Ebd., V. 2607. 176 Ebd., V. 2695-2699. 177 Ebd., V. 2704-2709. 221 Penthesilea

Zeichens der Eucharistie. Was hat Penthesilea wirklich zu sich genommen, bevor sie sich als Ikone in einer Fronleichnamsprozession präsentiert? Hat sie das Fleisch und Blut ihres ehe- maligen geliebten Erlösers Achilles verspeist? Oder hat sie, weil sein Körper zugleich ihr eige- nes Bild ist, das eigene Fleisch und Blut geteilt und gegessen, wie Jesus Christus im letzten Abendmahl? Nicht zu vergessen, dass sowohl der Körper Achilles’ als auch der Körper Penthe- sileas ganz ambivalente, ja phantastische Bedeutungen haben. So verschlingen sich Opfer und Selbstopfer, Objekt und Subjekt, Souveränin und Märtyrerin, verfilzen sich zu einem unlösba- ren Knäuel, wie Daniel Weidner in Bezug auf das barocke Trauerspiel bemerkt:

Nicht zufällig sind Souverän und Märtyrer dabei immer auch sakramental konnotiert, nämlich im Sinne jener radikalen Zweideutigkeit, die nach Hegel dem Sakrament anhaftet: Sie stehen nicht »symbolisch« für die Verkörperung von Sinn, sondern »allegorisch« für das Schwanken zwischen unsinnlicher Transzendenz und purer Sinnlichkeit.178

Die Sache ist nur, dass Penthesilea weder Jünger hat, die mit ihr das Abendmahl teilen und weitereifern, noch auferstehen kann, um sich als eine lebendige Göttin zu erweisen. Ganz im Gegenteil, Penthesilea Themiscyra Rex Amazonarum ist nach der (Selbst-)Opferung nichts als »die lebendge Leich«.179 Das Opfer dient hier also nicht zur Errichtung einer neuen Welt-Ord- nung, sondern ist eine »Opferhandlung im Zeichen der communitas, als der Herstellung oder Bestätigung gemeinschaftlicher Beziehung«.180 Die Penthesilea als Individuum ist sozusagen mit Achilles gestorben. Sie schweigt, verzichtet auf die subjektive Sprache und lässt sich als Objekt interpretieren:

DIE ERSTE. Den Peleïden sollte man, das wars, Vor der Dianapriestrin Füßen legen.

DIE DRITTE. Warum just vor der Dianapriestrin Füßen?

DIE VIERTE. Was meint sie auch damit?

DIE OBERPRIESTERIN. Was soll mir das? Was soll die Leiche hier vor mir? [...]181

Erst unter diesem passiven Zustand ist Penthesilea in der Lage, wieder in die amazonische Ordnung aufgenommen zu werden. So sagt die Oberpriesterin, als sie im fallenden Bogen ein (für sie) politisch-korrektes Signal wahrnimmt:

Du, meine große Herrscherin, vergib mir! Diana ist, die Göttin, dir zufrieden,

178 Daniel Weidner: »Zerreissen, Verschlingen, Zerrinnen. Opfer, Abendmahl und Trauerspiel in Kleists ›Penthesilea‹«, in: KJb [2012], S. 270-289, hier: S. 282. 179 Penthesilea, V. 2717. 180 Anthony Stephens: »Der Opfergedanke bei Heinrich von Kleist«, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg i.B. 1994, S. 193-248, hier: S. 218f. 181 Penthesilea, V. 2724-2728. 222 Penthesilea

Besänftigt wieder hast du ihren Zorn. Die große Stifterin des Frauenreiches, Die Tanaïs, das gesteh ich jetzt, sie hat Den Bogen würdger nicht geführt als du.182

Darauf folgt ihre abermalige Taufe, durch die sie zuerst wieder in die alte, mythologische Welt eingegliedert wird: »Sie kehrt ins Leben uns [!] zurück!«183 Dann scheint sie vom Geist der Diana erfüllt zu werden und beginnt, in einer uralten, mythologischen Sprache zu reden:

O sagt mir! – Bin ich in Elysium? Bist du der ewig jungen Nymphen eine, Die unsre hehre Königin bedienen, Wenn sie von Eichenwipfeln still umrauscht, In die kristallne Grotte niedersteigt? Nahmst du die Züge bloß, mich zu erfreuen, Die Züge meiner lieben Prothoe an?184

So wie sie sich nach der Revolution mit Achilles in einer scheinbar seligen neuen Welt wähnte, wähnt sie sich jetzt, nach der Restauration, mit den Amazonen in einer scheinbar seligen alten Welt. Und sie hätte sich mit solch einer Scheinwelt begnügen und darin vergnügen können, wenn die vernünftige Prothoe, deren Meinung für die Amazonenkönigin immer ins Gewicht, wie »des Gedankens Senkblei«,185 fällt, nicht nach wie vor ihre subjektive Zweckmäßigkeit ver- neint und sie somit immer in die grausame Realität zurückgerissen hätte: »Nicht, meine beste Königin, nicht, nicht. / Ich bin es, deine Prothoe, die dich / In Armen hält, und was du hier erblickst, / Es ist die Welt noch, die gebrechliche, / Auf die nur fern die Götter nieder- schaun.«186 Wenn auch die amazonische Konstitution auf der ästhetischen Sichtweise beruht, nämlich auf einem so ambivalenten Verhältnis zwischen der Dianajungfrau und der Marsbraut, dass die Griechen sich wundern: »war je ein Traum so bunt, als was hier wahr ist?«,187 verstehen

182 Ebd., V. 2773-2778. 183 Ebd., V. 2830. 184 Ebd., V. 2844-2848. Eine anachronistische, nichtsdestoweniger interessante Bemerkung: Prothoe ist nach Jacob Hübner (1824) eine Schmetterlingsgattung der Familie Nymphalidae. Dies hat Kleist vielleicht zur Kenntnis genommen, als er 1801 in Würzburg den Professor Blank besuchte und seine Naturaliensammlung besichtigte. »Ich denke,« so Kleist, »einst diese Papiere für mich zu nützen. / Schon der bloße Apparat ist sehenswürdig und erfordert einen fast beispiellosen Fleiß. Da sind in vielen Gläsern, in besondern Fächern und Schränken, Gefieder aller Art, Häute, Holzspäne, Blätter, Moose, Samenstaub, Spinngewebe, Schilfe, Wolle, Schmetterlingsflügel etc. etc. in der größten Ordnung aufgestellt.« Brief an Wilhelmine von Zenge vom 11. (u. 12.) September 1800, SWB II, S. 557. 185 Penthesilea, V. 158. 186 Ebd., V. 2851-2855. 187 Ebd., V. 986. 223 Penthesilea sich die Amazonen nicht auf die ästhetische Sichtweise, um sich mit ihrem ambivalenten We- sen abzufinden. Oder genauer gesagt: sie dürfen es nicht. Denn die Bedeutung und Reichweite des ambivalenten Begriffs »Segen keuscher Marsbefruchtung«188 darf nur von der Oberpries- terin, der »heilge[n] Mutter«,189 ausgelegt werden. Ihre Autorität besteht darin, die Ambivalenz im Modell des Entweder-Oder zu deuten, also »mit Hilfe eines rhetorischen Kunstgriffes, einer semantischen Verschiebung, die ihre Legitimation wiederum aus der Gleichung Lieben gleich Töten gewinnt«,190 und dann durch das Ritual rigoros zu fixieren. Es handelt sich ja um den Obskurantismus: Niemand außer der Obskurantin darf die ästhetische Sichtweise anwenden und die Gläubigen dürfen nur folgen. Andernfalls würde der Staat dadurch unterminiert, in- dem man im Modell des Sowohl-als-Auch neue Interpretationen anstellt und somit auch (blas- phemische) Kritik an der alten Interpretation äußert, indem man z. B. fragt: Ist die Jungfräu- lichkeit (nur) eine Metapher? Oder ist die mystische Hochzeit mit Mars (nur) eine Metapher? (Eine Anspielung, die Kleist in der Marquise von O... weiterentwickelt.) So ist es Prothoe, die sich als Garde des amazonischen Systems versteht und Penthesileas Revolutionen schon in der ästhetischen Phase, nicht ohne Gewalt, erwürgt: »Du wähnst, [...] / Und wenn du so die Gren- zen überschwärmst, / Fühl ich gereizt mich, dir das Wort zu nennen, / Das dir den Fittich plötzlich wieder lähmt.«191 Wie kann Penthesilea noch in der Lage sein, »In des Verstandes Sonnenfinsternis / Umher zu wandeln, ewig, ewig, ewig«,192 nachdem ihre subjektive Zweckmäßigkeit von Prothoe ge- leugnet wurde? Sie muss sich mit der gebrechlichen Realität auseinandersetzen: Ihre Revolution der Revolution ist in der Tat »den Toten töte[n]«.193 Um die objektive Zweckmäßigkeit des Todes von Achilles zu untersuchen, obduziert sie seine Leiche, stellt ein Verhör an und klärt den Fall auf: » – So war es ein Versehen, Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen.«194 Der Grund für das Versehen liegt nicht darin, dass man in einer verstandeswidrigen Stimmung in die Verrücktheit abdriftet und die Gräueltaten begeht, sondern darin, dass man im amazonischen Staat – liebeswidrig – nicht gelernt hat, sich durch die ästhetische Sichtweise mit der Ambivalenz abzufinden. Seit- dem Penthesilea die phantastische Ambivalenz ihrer Welt wahrnimmt, versucht sie beständig die Ambivalenz im Modell des Entweder-Oder zu behandeln: In der Revolution will sie Achil- les absolut ins Leben zurückküssen; in der Restauration will sie denselben absolut zu Tode beißen. So oder so will sie selbst ihr Verhältnis zu Achilles auslegen, was ihr aber nicht nur misslingt, sondern vielmehr den Schwerpunkt der Seele verstellt und sie der Grazie beraubt:

188 Ebd., V. 2039. 189 Ebd., V. 886. 190 Birgit Hansen: »Gewaltige Performanz. Tödliche Sprechakte in Kleists ›Penthesilea‹«, in: KJb [1998], S. 109-126, hier: S. 116. 191 Penthesilea, V. 1677-1670. 192 Ebd., V. 2902f. 193 Ebd., V. 2919. 194 Ebd., V. 2981ff. 224 Penthesilea

»Solch eine Jungfrau, Hermia! So sittsam! / In jeder Kunst der Hände so geschickt! / So rei- zend, wenn sie tanzte, wenn sie sang! So voll Verstand und Würd und Grazie!«195 Ja, Hermia, wäre dies alles nur Ein Sommernachtstraum, in dem das Versehen wiederhergestellt werden kann! Denn in einem Traum sowie in einem Spiel, in dem kein Interesse zu berechnen ist, können Küsse und Bisse im Modell des Sowohl-als-Auch eins werden, ohne fatale Folge: »Wie manche, die am Hals des Freundes hängt, / Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr, / Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte; / Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin! / Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.«196 Nimmt man jedoch in der Realität die Ambivalenz »wahrhaftig Wort für Wort« ernst, wird daraus immer wieder das vernichtende Weder-Noch entstehen: »Küßt ich ihn tot?«197 Weder Küsse noch Bisse werden im semantisch konkreten Sinne durch- geführt, nur der Tod ist dingfest gemacht. Penthesilea ist nicht verrückt: »Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.«198 Verrückt ist vielmehr die scheinheilige Welt, die per se ambivalent ist, aber die Ambivalenz rigoros verneint. Aus diesem Widerspruch heraus muss sich derjenige versprechen, d. h. versehentlich etwas an- deres als beabsichtigt sagen, der sich der Sprache und mithin der Logik dieser Welt bedient, wie dies Penthesilea am Ende erkennt: »Ich habe mich, bei Dana, bloß versprochen, / Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin«.199 Nicht, dass sie nicht autonom genug wäre, um der Lippe Herr zu werden, sondern sie ist so heteronom, dass ihr auch die Lippe nicht selbst, sondern Diana bzw. dem Staat gehört. Dies erkennend, nimmt sich Penthesilea eine Revolution vor, und zwar eine ästhetische, die jenseits der dialektischen Polarität vor sich geht: »Ich sage [!] vom Gesetz der Fraun mich los«.200 Genauso vom Mund ausgehend, revolutioniert sie aber weder mithilfe des Kusses noch des Bisses, die jeweils eines Denotats bedürfen, sondern mit- hilfe der eigenen Sprache, die sich allein mit dem Konnotat begnügt. Bezeichnenderweise ent- ledigt sich Penthesilea aller Gegenstände und sagt sich wahrhaftig tot:

PENTHESILEA. Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, Mir ein vernichtendes Gefühl hervor. Dies Erz, dies läutr’ ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann, Heißätzendem, der Reue, durch und durch; Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu, Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust:

195 Ebd., V. 2677-2680. 196 Ebd., V. 2991-2995. 197 Ebd., V. 2977. 198 Ebd., V. 2999. 199 Ebd., V. 2986f.111 200 Ebd., V. 3012. 225 Penthesilea

So! So! So! So! Und wieder! – Nun ists gut.

Sie fällt und stirbt.201

Ihre eigene Sprache dient nicht der Vermittlung zwischen Idee und Material – sie ist keine heteronome Dienerin mehr, sondern erweist sich hier als autonome Herrin, indem ihre Per- formanz eine Welt erschafft, die weder wahr noch falsch ist, sondern einfach »so! so! so! so!«, ohne sich vielfach interpretieren bzw. hinterfragen zu lassen: wie? oder wieso? Denn allein die subjektive Zweckmäßigkeit von Penthesilea gilt und genügt. Trotzdem ist das Totsagen nur ein Spiel und nur im Spiel möglich. (Dass das Totsagen nor- malerweise eine fälschliche Behauptung ist, impliziert schon die Unfähigkeit der Sprache, den Tod performativ zu bewirken.) Im Spiel hat sich Penthesilea wunderbar erlöst, gewissermaßen auch Kleist selbst, der damit die Robert-Guiskard-Krise überwindet: »Ich habe eine Tragödie (Sie [Wieland] wissen, wie ich mich damit gequält habe) von der Brust heruntergehustet; und fühle mich wieder ganz frei!«202 Aber außerhalb des Spiels würde ihr Tod als phantastisch, sogar als unheimlich, gedeutet, also von demjenigen Leser/Zuschauer, der ihr Spiel und das mit ihr gleichnamige Spiel nicht mit der ästhetischen Sichtweise genießt und Kleists Trauerspiel nicht als ein Spiel mit der Trauer betrachtet, sondern nach der objektiven Zweckmäßigkeit der ganzen Aktion fragt und mit der moralischen Sichtweise beurteilt, wie etwa: »Er [Kleist] belei- digt den Geschmack und empört das Zartgefühl, wo er nur Entsetzen hervorbringen wollte. Das Ekelhafte ist niemals Objekt der schönen Kunst.«203 Aus der aufklärerischen Sichtweise kann und darf so was wohl niemals infrage kommen. Doch Kleists Spiel zielt nicht auf die Aufklärung des Publikums ab, sondern auf die Aufklärung der Aufklärung, und zwar aus ei- nem anthropologischen Standpunkt. So stellt die Oberpriesterin, die sich von Anfang bis Ende als eine beurteilende Zuschauerin des Trauerspiels einstellt204 und deshalb hier als Exempel des Publikums dient, zuerst das Thema hervor: »Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter! / Wie stolz, die hier geknickt liegt, noch vor kurzem, / Hoch auf des Lebens Gipfeln, rauschte sie!«205 Dann stellt Prothoe die These auf, die die Gebrechlichkeit der angeblich ge- sunden Vernunft und die Dialektik der darauf Anspruch erhebenden Aufklärung epigramma- tisch abbildet: »Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! / Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, / Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, / Weil er in ihre Krone greifen kann.«206 Penthesilea ist gesandt gekommen und wieder zurückgekehrt: »Wohl ihr! / Denn hier war ihres fernern Bleibens nicht.«207 Ihr Befehl – »Der Tanaïs Asche, streut sie in die

201 Ebd., V. 3025-3034. 202 Brief an Christoph Martin Wieland vom 17. Dezember 1808, SWB II, S. 800. 203 LS, Nr. 283. 204 Dass die anderen Amazonen gewissermaßen die Zuschauerinnen ihres Spiels sind, sagt eine Amazonen- fürstin ganz konkret: »Wenn du so willst, o Herrscherin, so laß / Mich dir gestehn, wie ich des Schauspiels staune, / Das mir in die ungläubgen Sinne fällt.« (Penthesilea, V. 750ff.) 205 Ebd., V. 3037ff. 206 Ebd., V. 3040-3043. 207 Ebd., V. 3035f. 226 Penthesilea

Luft!«208 – ist zwar »im Vertrauen ein Wort, das niemand höre«,209 und richtet sich nicht auf das (Massen-)Publikum, aber wer Ohren hat, zu hören, der höre.

208 Ebd., V. 3009. 209 Ebd., V. 3008. 227 Das Käthchen von Heilbronn

VI.6. Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe Ein grosses historisches Ritterschauspiel

Vorab etwas Bekanntes: Während Kleist am Schauspiel Käthchen von Heilbronn arbeitete, schrieb er vorwegnehmend an Marie von Kleist: »Jetzt bin ich nur neugierig, was Sie zu dem Käthchen von Heilbronn sagen werden, denn das ist die Kehrseite der Penthesilea, ihr andrer Pol, ein Wesen, das ebenso mächtig ist durch gänzliche Hingebung, als jene durch Handeln.«1 Sollte in Penthesilea, wie Kleist selbst in demselben Brief bekannte, sein »innerstes Wesen« liegen, so gilt die Polarität zwischen Penthesilea und Käthchen auch für das Verhältnis zwischen Kleist und Käthchen, zumal die Initialen von Käthchen von Heilbronn (K. v. H.) eben die Verkehrung der Initialen ihres Dichters (H. v. K.) ist.2 Dementsprechend schrieb er ungefähr ein Jahr spä- ter an Heinrich Joseph von Collin: »[W]er das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und – der Algebra zusammen, und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht.«3 Da die beiden Pro- tagonistinnen jeweils zwei Pole ein und desselben Wesens sind, müssen die Beziehungen, in die sie verwickelt werden, auch jeweils positiv und negativ sein und somit auf einer Zahlenge- rade zwei entgegengesetzten Richtungen folgen, so dass die Ausrichtung der zwei Beziehungen verschiedenartig beschaffen ist. Wenn P = K, d. h. P + (–K) = 0, dann ist X + P eine Addition und X + (–K) hingegen eine Subtraktion. Nun, wenn laut Kleist das Plus von Pentesilea für das Handeln und das Minus von Käthchen für die Hingebung stehen, so wird nach dieser Logik das Handeln dem Gegenstand etwas hinzufügen, die Hingebung hingegen den Gegen- stand reduzieren. Wie schon im letzten Kapitel ausgeführt, wird das Zeichen Achilles durch Penthesileas Handeln potenziert (Ah), so muss das Zeichen Graf Wetter vom Strahl durch Käth- chens Hingebung negativ potenziert bzw. geteilt werden (G-h = 1/Gh). Die folgende Interpre- tation soll für diese These die Belege liefern. Das Stück beginnt mit einer Szene in »eine[r] unterirdische[n] Höhle«,4 die nicht nur jenseits der irdischen, sondern auch jenseits der überirdischen Welt liegt. Diese Szene ist somit in eine Welt eingebettet, in der weder eine irdische menschliche noch eine überirdische göttliche Ord- nung gilt. So wird bereits der erste Satz des Stückes von der Einrichtung dieser Welt unterlaufen:

GRAF OTTO steht auf. Wir, Richter des hohen, heimlichen Gerichts, die wir, die irdischen Schergen Gottes, Vorläufer der geflügelten Heere, die er in seinen Wolken mustert, den Frevel aufsuchen,

1 Brief an Marie von Kleist [vom Dezember 1807], SWB II, S. 797. 2 Diese Umkehr der Initialen wurde von Ruth Klüger in einer anderen Richtung interpretiert. R. Klüger: »Die andere Hündin: Käthchen«, in: KJb [1993], S. 103-115, hier: S. 107. 3 Brief an Heinrich Joseph von Collin vom 8. Dezember 1808, SWB II, S. 818. 4 Käthchen von Heilbronn, Regieanweisung, SWB I, S. 431. 228 Das Käthchen von Heilbronn

da, wo er, in der Höhle der Brust, gleich einem Molche verkrochen, vom Arm weltlicher Gerech- tigkeit nicht aufgefunden werden kann [...]5

Trotz dieser doch sehr heiligen Behauptung ist der dreiköpfige Ausschuss der Inquisitoren nicht nur außer Stande, die Wahrheit in dem phantastischen Knäuel der übernatürlichen These Theobalds auf der einen und der aufklärenden Antithese des Grafen vom Strahl auf der anderen Seite zu finden, sondern unternimmt sogar den Versuch, den (tatsächlich, wie man später er- fährt,) übernatürlichen Sachverhalt menschlich zu psychologisieren: »Du klagst ihn, hoff ich, der Zauberei nicht an, weil er deines Kindes Herz von dir abwendig gemacht?«,6 und lehnt demnach die Forderung des Grafen ab, den Fall unmittelbar, d. h. nicht mittels der »irdischen Schergen«, durch Gottes Urteil bzw. das Ordal entscheiden zu lassen:

DER GRAF VOM STRAHL. Wollt ihr meinem Wort schlechthin, wies die heilige Schrift vorschreibt, glauben: ja, ja, nein, nein; gut! Wo nicht, so will ich nach Worms, und den Kaiser bitten, daß er den Theobald ordiniere. Hier werf ich ihm vorläufig meinen Handschuh hin!

GRAF OTTO. Ihr sollt hier Rede stehn, auf unsre Frage!7

Dieser »Wendepunkt und Einschnitt in der Geschichte des „peinlichen“ Strafverfahrens«, so Günter Oesterle, reflektiert wohl das innovative Gerichtsverfahren nach dem »Reglement des reformierten preußischen Landrechts«, wonach sowohl die Folter als auch die Fehde von dem modernen Anklageprozess abgelöst werden soll, bei dem das Verhör demgemäß von aus- schlaggebender Bedeutung ist.8 Die angeblich göttliche Inquisition will offensichtlich nicht auf die Anklage gegen die Sünde »schändlicher Zauberei, aller Künste der schwarzen Nacht und der Verbrüderung mit dem Satan«9 eingehen, sie geht vielmehr aufklärerisch vor und in- sistiert auf einem vernünftigen Vorgehen, umso mehr, als sie auch im Prozess Anspruch auf das Menschenrecht erhebt, wenn der Inquisitor Wenzel dem Grafen vorwirft: »Das nenn ich menschlich nicht verfahren.«10 So aufgeklärt und modern sich die Inquisition auch gibt, so wenig lässt sich darüber hinwegsehen, dass diese Inquisition, gleich ob die Inquisitoren sich vom Menschen zum Gott hochstapeln oder sich umgekehrt vom Gott zum Menschen deva- luieren, in der Tat nicht vermag, die Wahrheit zu ermitteln. Es zeigt sich, dass die Sprache ihnen nahezu versagt, so dass sie außer dem ersten langen Satz nur noch über eine spärliche Sprache verfügen, und dass ihre sprachliche Hoheit und Position in der zweiten Szene sogar vom an- geklagten Grafen usurpiert wird. Da die Inquisition sich dermaßen entsetzt und somit disfunk- tioniert, gerät sie in einen negativen ambivalenten Zustand: Weder göttlich noch menschlich,

5 Ebd., V. 1-6. 6 Ebd., V. 38f. 7 Ebd., V. 238-242. 8 Günter Oesterle: »Vision und Verhör. Kleists Käthchen von Heilbronn als Drama der Unterbrechung und Scham«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleits Werk zwischen Klassizismus und Rom- antik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 303-328, vor allem S. 317-328. 9 Käthchen von Heilbronn, V. 32ff. 10 Ebd., V. 531. 229 Das Käthchen von Heilbronn wie Theobald höhnisch bemerkt: »Was ihn anklagt? O du – Mensch, entsetztlicher, als Worte fassen, und der Gedanke ermißt: stehst du nicht rein da, als hätten die Cherubim sich entkleidet, und ihren Glanz dir, funkelnd wie Mailicht, um die Seele gelegt!«11 Dies ist gleichermaßen eine Verhöhnung der Aufklärung. Der vernünftigen, jedoch im Hinblick auf solch einen ambivalenten, ja phantastischen Sach- verhalt – »ja, ja, nein, nein« – ohnmächtigen Inquisition gegenüber verfährt Theobald, ein »wil- der Kläger«,12 gegenteilig. Er gesteht ein, dass er Käthchens irrationale Hingebung dem Gra- fen vom Strahl gegenüber in keiner Weise nachvollziehen kann, doch gerade dies motiviert ihn, sich an die göttliche, d. h. omnisziente Instanz zu wenden und ein übersinnliches Urteil zu erbitten: »Durch welche Mittel [wurde Käthchen verführt]? – Ihr Herren, wenn ich das sagen könnte, so begriffen es diese fünf Sinne, und so ständ ich nicht vor euch und klagte auf alle, mir unbegreiflichen, Greuel der Hölle.«13 Angesichts des Unbegreiflichen versagt ihm zwar die menschliche Vernunft, aber nicht die Sprache wie dem Richter. Anstatt der Vernunft zu frönen, erlaubt er sich mithilfe seiner Phantasie abzuschweifen. Zudem ist seine Phantasie so performativ mächtig, dass die aufklärende, restrukturierende Aussage des Grafen vom Strahl nur wiederum in den Verdacht gerät, dass der Graf über eine über- bzw. paranatürliche Macht verfüge:

THEOBALD. [...] Mußt ich vor dem Menschen nicht erbeben, der die Natur [!], in dem reinsten Her- zen, das je geschaffen ward, dergestalt umgekehrt hat, daß sie vor dem Vater, zu ihr gekommen, seiner Liebe weicht, wie vor dem Wolfe, der sie zerreißen will? Nun denn, so walte, Hekate, Fürs- tin des Zaubers, moorduftige Königin der Nacht. Sproßt, ihr dämonischen Kräfte, die die menschliche Satzung sonst auszujäten bemüht war, blüht auf, unter dem Atem der Hexen, und schoßt zu Wäldern empor, daß die Wipfel sich zerschlagen, und die Pflanze des Himmels, die am Boden keimt, verwese; rinnt, ihr Säfte der Hölle, tröpfelnd aus Stämmen und Stielen gezogen, fallt, wie ein Katarakt, ins Land, daß der erstickende Pestqualm zu den Wolken empordampft; fließt und ergießt euch durch alle Röhren des Lebens, und schwemmt, in allgemeiner Sündflut, Unschuld und Tugend hinweg!

GRAF OTTO. Hat er ihr Gift eingeflößt?

WENZEL. Meinst du, daß er ihr verzauberte Tränke gereicht?

HANS. Opiate, die des Menschen Herz, der sie genießt, mit geheimnisvoller Gewalt umstricken?14

Durch die bunte Performation von Theobald und die schlichten Fragen der Richter schlägt der laut des Grafen vom Strahl allenfalls phantastisch-unheimliche Sachverhalt wiederum in die Richtung auf das Wunderbare hin um. Diese Dialektik nötigt den Grafen vom Strahl,

11 Ebd., V. 328-331. 12 Ebd., V. 62. 13 Ebd., V. 110-113. 14 Ebd., V. 331-351. 230 Das Käthchen von Heilbronn

Käthchen, das Agens des Streites, vor die Schranken zu ziehen, um das Verhör und die dazu- gehörige Kommunikation sinngemäß bzw. vernünftigerweise fortzusetzen – sonst muss man sich fragen: Habe ich mich bei diesem Verhör etwa stets verhört? Trotzdem ist Käthchens Auftritt in keiner Weise hilfreich, vielmehr macht er die bunte Ge- schichte nur noch komplizierter und die verzerrte Welt schräger, indem sie die Präfiguration der inquisitorischen Szene refiguriert:

KÄTHCHEN zur Schranke tretend. Ihr würdgen Herren, wer ihr auch sein mögt dort, Steht gleich vom Richtstuhl auf und räumt ihn diesem [dem Grafen vom Strahl]! Denn, beim lebendgen Gott, ich sag es euch, Rein, wie sein Harnisch ist sein Herz, und eures Verglichen ihm, und meins, wie eure Mäntel. Wenn hier gesündigt ward, ist er der Richter, Und ihr sollt zitternd vor der Schranke stehn!15

Von dieser »wunderliche[n] Maid«16 werden die sitzenden Inquirenten als Verklagte ent-setzt und der stehende Graf als Richter ent-stellt. Nicht zuletzt wird dieser als schwarzer Zauberer ange- klagte als Gott verklärt und diejenigen, die sich anmaßen, göttliche Schergen zu sein, werden der Sünde überführt. Die angeblich göttliche Autorität der Inquisitoren wird umso mehr an- nihiliert, als Käthchen auf Gottes Omniszienz verweist und meint: »Was in des Busens stillem Reich geschehn, / Und Gott nicht straft, das braucht kein Mensch zu wissen«.17 Darüber hin- aus bittet sie, sobald sie den Vater anblickt, ihn ohne weiteres darum: »Weis mich nicht von dir. 18 Sie faßt seine Hand und küßt sie«, was die ursprüngliche Anklage gewissermaßen desavouiert. Da sämtli- che Aussagen einander widersprechen, sich sogar gegenseitig aufheben, entsteht daraus »eine Welt von Bildern, als menschliches Kunstprodukt, dem jegliche Sicherheit mangelt und keine objektive Wahrheit zukommt.«19 Man verliert die Orientierung. Dass die inquisitorische Ordnung durch Käthchen in tiefste Verwirrung gerät, lässt sich auf ihr Wesen zurückführen. Bei dem Käthchen von Heilbronn handelt es sich um eine Kleist’sche Protagonistin, die, wie der »Lehnsname« von Heil-Bronn andeutet, mit dem Wasser verbunden ist und deshalb wiederum über eine natürliche elementare Macht verfügt, die die kulturelle, vor allem (praktisch-)vernünftige Ordnung aufzuheben in der Lage ist. Dies manifestiert sich ins- besondere in ihrem Käthchen-Effekt: In demselben Maße, wie Käthchen in Heilbronn schon immer – vor allem für Männer – eine Sensation war,20 ist ihr Auftritt nun spektakulär – wie

15 Ebd., V. 395-401. 16 Ebd., V. 382. 17 Ebd., V. 436f. 18 Ebd., V. 407. 19 Gert Ueding: »Zweideutige Bilderwelt: ›Das Käthchen von Heilbronn‹«, in: Kleists Dramen. Neue Inter- pretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 172-187, hier: S. 175. 20 Vgl. Theobalds Erzählung, Ebd., V. 80-106. 231 Das Käthchen von Heilbronn eine Sturmflut. Wenn Theobald zufolge die dämonischen Kräfte der Göttin Hekate Unschuld und Tugend »in allgemeiner Sündflut« hinwegschwemmt,21 so schwemmt die Kräfte der Halb- göttin Käthchen – »Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und von seinem Kuß geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie geboren hätte.«22 – Verstand und Vernunft in nicht geringerem Maße hinweg, zumal sich der Name Käthchen durchaus auf das Anagramm von Hekate (Kaethe) zurückführen lässt. Theobald hat also die unheimlichen Kräfte von Käthchen fälschlicherweise dem Grafen vom Strahl zu- geschrieben. Wie der Waffenschmied die Kraft der Hekate in Anlehnung an ein natürliches Phänomen (Waldentstehung und Wasserkreislauf) darstellt, gehört die Kraft von Käthchen auch der reinen Natur an, die sich nicht von der Vernunft beherrschen lässt und jenseits aller kulturellen Institutionen liegt, die übrigens, wie Manfred Weinberg bemerkt, gar nichts mit dem »Ideal der weiblichen Natur« zu tun hat,23 weil dieses Ideal eigentlich von der praktischen Vernunft der Männer bestimmt ist. Es ist weder von ungefähr noch von der bloß metaphori- schen Bedeutung so, dass Kunigunde später ihre Verschwörung zu Käthchens Ermordung als »Verwandlung in eine Pflanze«24 evoziert, deren natürliche Sprache nur in einer anderen Di- mension gilt als der Sprache von Homo sapiens und somit nicht mehr mit dem Menschen zu kommunizieren vermag: »Wenn sie vergiftet, tot ist, eingesargt, / Verscharrt, verwest, zerstiebt, als Myrtenstengel, / Von dem, was sie jetzt sah, im Winde flüstert; [...].«25 Man muss freilich sagen, dass Kunigunde nichts zu befürchten gehabt hätte, weil Käthchen zum einen bis zum Ende nicht einmal wagt, die Wahrheit über ihr mosaisches Wesen zu ent- hüllen, und weil sich solch eine Unfähigkeit zum Austausch zum anderen bereits in der anfäng- lichen Verhörszene zeigt. Bezeichnenderweise führt Käthchen die inquisitorische Funktion der Wahrheitsfindung zum Scheitern, weil sie sich weder von den Richtern verständlicherweise begreifen noch von den Häschern gewalttätig ergreifen lassen will. Hierdurch bewahrt sie sich ihre Subjektivität, die ihr, so passiv sie sich auch immer verhält, die aktive Beweglichkeit und somit die Oberhand gönnt. Die Natur von Käthchens Kräften ist deshalb rein, weil die Wahr- heit bei ihr nicht nur der Vernunft unzugänglich bleibt, sondern überhaupt weit entfernt ist vom Bewusstsein. So befindet sie sich stets im somnambulen Zustand, der die Kommunikation außerhalb des sogenannten Rapportes unmöglich macht:

DER GRAF VOM STRAHL sie aufweckend. Du wunderliche Maid! Was träumst, was treibst du?

21 Ebd., V. 346f. 22 Ebd., V. 78ff. 23 Vgl. Manfred Weinberg: »„… und dich weinen.“ Natur und Kunst in Heinrich von Kleists Das Käthchen von Heilbronn«, in: DVjs [04/2005], S. 568-601, hier vor allem S. 589-595. 24 Rudolf Deux: »Kunigundes künstlicher Körper. Zur rhetorischen Gestaltung und Interdiskursivität eines ›mosaischen‹ Motivs aus Heinrich von Kleists Schauspiel ›Das Käthchen von Heilbronn‹«, in: KJb [2005], S. 92-110, hier: S. 108. 25 Käthchen von Heilbronn, V. 2269ff. 232 Das Käthchen von Heilbronn

Du stehst hier vor dem heimlichen Gericht!26

Auch ihrem eigenen Bewusstsein bleibt die Wahrheit nicht nur unverständlich, sondern über- haupt unzugänglich, um gegenüber der nach dem Begreifen und somit nach dem Beherrschen trachtenden Vernunft – sei es die des Selbst, des Grafen, des Vaters, der Richter oder des Publikums – ihre absolute Autonomie zu erhalten:

Mein hoher Herr! Da fragst du mich zu viel. Und läg ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewußtsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen, zur Seite stehn; So spräche jeglicher Gedanke noch, Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht.27

Dass ihr Name Katharina Reinheit bedeutet, deutet also weniger auf ihre Unschuld als auf ihr natürliches Wesen hin: so rein und frei von allen nachgetragenen Begriffen wie etwa »Sanftmut und Vergebung, / Pflicht und Gesetz und Gott und Höll und Teufel«28 und folglich so rein und frei von »Reue und Gewissensbissen«.29 Geht man auf Kleists Angabe ein, das Käthchen von Heilbronn sei »ein Stück, das mehr in die romantische Gattung schlägt, als die übrigen,«30 so ist in der gleichnamigen Protagonistin das romatische Ich = Ich ersichtlich; es begnügt sich allein mit der subjektiven Zweckmäßigkeit, ohne Rücksicht auf die objektive Zweckmäßigkeit, nämlich »alles, woran Pflicht, Gewohnheit und Natur sie knüpfen,«31 zu nehmen. Dass die oben genannten Begriffe aus Kunigundes Munde kommen, deutet gerade darauf hin, dass Kunigunde im Wesentlichen Käthchens konträres Pendant ist. Während diese dank ihrer kog- nitiven Reinheit ihre wenn auch nicht erhabene, so doch graziöse Autonomie gewinnt, bemüht jene sich vergebens, mit der kognitiven Feinheit die Oberhand zu erkämpfen, wie auch ihr Name Kunigunde (Sippe-Kämpferin) andeutet, und wird letztlich eben von ihrer Sippe, den »Herren von Thurneck«,32 zum Besten gehalten. Ein weiterer Vergleich zwischen Käthchen und Kunigunde erbringt, dass Kunigunde im Gegensatz zum natürlichen Käthchen durchaus kultiviert ist.33 Dies bezieht sich nicht nur auf

26 Ebd., V. 382f. 27 Ebd., V. 460-467. 28 Ebd., V. 2272. 29 Ebd., V. 2273. 30 Brief an Johann Friedrich Cotta vom 7. Juni 1808, SWB II S. 813. 31 Käthchen von Heilbronn, V. 207f. 32 Ebd., Regieanweisung vor V. 2664. 33 Einen sublimen (aber manchmal zu assoziativen und stationären) Vergleich zwischen den beiden Protago- nistinnen, ebenso aus den Namen und der Sexualität ausgehend, hat Hans-Dieter Fronz geliefert: Verfehlte und erfüllte Natur. Variationen über ein Thema im Werk Heinrich von Kleists, Würzburg 2000, S. 288-317. 233 Das Käthchen von Heilbronn ihren adligen Stand, sondern auch auf ihre politische Korrektheit, für die eine hochgradig ent- wickelte Vernunft erforderlich ist. Sie ist gut berechnend,34 versteht sich auf den Flirt: »Wann hätte sie je einem Freier ihre Hand verweigert?«35 – und beherrscht das politische Spiel als solches, wie etwa ihre Antwort auf die Werbung des Grafen vom Strahl demonstriert: »einen Brief voll doppelsiniger Fratzen, der, wie der Schillertaft, zwei Farben spielt, und weder ja sagt, noch nein.«36 – wobei sie bereits das Dokument von der Landesschenkung seinerseits ange- nommen hat. Durch das geniale Arrangement Kleists wird ihre Vernünftigkeit nicht zuletzt ganz in effigie hervorgehoben:

KUNIGUNDE nachdem sie sich im Spiegel betrachtet, geht gedankenlos

ans Fenster und öffnet es. – Pause. Hast du mir alles dort zurecht gelegt, [!] Was ich dem Grafen zugedacht, Rosalie? Urkunden, Briefe, Zeugnisse?37

Immer wieder reflektiert Kunigunde durch den Spiegel – sei es wortwörtlich oder bildlich – über ihren eigenen Akt – mit allen Sinnen! Hierüber hinaus: Bei solch einem Vernunftwesen bleibt die Wissenschaft selbstverständlich nicht unberührt. Sie hat gute Kenntnisse über Gift, der Titel »Giftmischerin«38 wird ihr durchaus gerecht: »Das Pulver reicht, die Burg ganz weg- zufressen, / Mit Hund und Katzen hin!«39 (Gott allein weiß, ob sie sich die Kenntnisse durch Erfahrung erworben hat.) Sie ist auch eine Meisterin der Naturbeherrschung – zumindest der Beherrschung der eigenen Natur, indem sie dem natürlichen Körper Make-up auflegt bzw. ihn bearbeitet:

Sie ist eine mosaische [¡] Arbeit, aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt [!]. Ihre Zähne gehören einem Mädchen aus München, ihre Haare sind aus Frankreich verschrieben, ihrer Wangen Gesundheit kommt aus den Bergwerken in Ungarn, und den Wuchs, den ihr an ihr bewundert, hat sie einem Hemde zu danken, das ihr der Schmied, aus schwedischem Eisen, verfertigt hat.40

Bedeutet die Toilette das Sich-Zurechtmachen, so macht sich Kunigunde mit dieser Toilette ihren Körper, wortwörtlich zurecht, »wie de[n] Turm von Pisa«.41 Um ihr Ziel zu erreichen, versieht sie sich mit verschiedenerlei künstlichem Ersatz. Solch ein zusammengesetztes Werk kann sich in der Natur jedoch nicht bewähren. Denn, wie raffiniert sie sich auch immer das

34 Rüdiger Görner hat sie als »[d]ie vom Machtkalkül getriebene, intrigierende, alle täuschende Kunigunde« mit dem »sittenwidrige[n] Vernunftgebrauch« bezeichnet. R. Görner: Gewalt und Grazie. Heinrich von Kleists Poetik der Gegensätzlichkeit, Heidelberg 2011, S. 139. 35 Käthchen von Heilbronn, V. 1585f. 36 Ebd., V. 1595ff. 37 Ebd., V. 1248ff. 38 Ebd., V. 2683. 39 Ebd., V. 2277f. 40 Ebd., V. 2446-2452. 41 Ebd., V. 2467. 234 Das Käthchen von Heilbronn

Make-up aufträgt, muss sie es doch gelegentlich abmachen. Bezeichnenderweise wird die Wahr- heit über Kunigundes Körper zuallererst beim Bade in der Grotte entdeckt, d. h., als sie sich ganz nackt im Wasser reinigt, und zwar eben von dem Naturwesen Käthchen von Heilbronn. Zuvor hat Kunigunde sich mithilfe ihrer hergestellten erotischen Anziehungskraft nahezu ver- göttlicht, oder genauer: vergöttlichen lassen:

Du hättest sie sehen sollen, wie sie daher geritten kam, einer Fabel gleich, von den Rittern des Landes umringt, gleich einer Sonne, unter ihren Planeten! Wars nicht als ob sie zu den Kieseln sagte, die unter ihr Funken sprühten: ihr müßt mir schmelzen, wenn ihr mich seht? Thalestris, die Königin der Amazonen, als sie herabzog vom Kaukasus, Alexander den Großen zu bitten, daß er sie küsse: sie war nicht reizender und göttlicher, als sie.42

Sie hat sich also aufgeladen mit der Göttlichkeit der Zwillinge Apollo und Artemis, die die Göttin der Amazonen ist (man denke an die Amazonenkönigin Penthesilea). Zu nennen sind u. a. Mars (ebenso in Bezug auf die Amazonen), Hephaistos und selbstverständlich Aphrodite. Umso mehr, als sie sich nicht nur »einer olympischen Göttin gleich«43 darstellt, sondern auch, als sie als die von Gott geborene Eva gilt: »ihr dient alles, was eine Ribbe weniger hat, als sie«,44 und sogar die ägyptische Göttin Isis (in Bezug auf »Kleopatra«).45 Solch eine phantastische Figur kann jedoch nicht über ihr »wesenlose[s] Bild«46 hinwegtäuschen, weil ihre Aura bloß eine Fiktion ist, »einer Fabel gleich«,47 die über kurz oder lang endet. Wie der Burggraf von Freiburg sagt, dieses Bild wolle angefasst sein, »damit mit Augen erschaut wird, daß kein Gott [!] in ihm wohnt«,48 wird die göttlich-phantastische Kunigunde am Ende als eine bloß mensch- lich-unheimliche Figur im wortwörtlichen Sinne bloßgestellt. Dies hat ihr Ex-Geliebter Freiburg, der zur Rache an ihr »nichts tun will, als ihr das Halstuch abnehmen«,49 bereits angedeutet: »Der Mensch ist, nach Platon, ein zweibeinigtes, ungefiedertes Tier; du weißt, wie Diogenes dies bewiesen; einen Hahn, glaub ich, rupft’ er, und warf ihn unter das Volk. – Und diese Kunigunde, Freund, diese Kunigunde von Thurneck, die ist nach mir ––– «50 Dass Käthchen angesichts ihrer widersprüchlichen Verhaltensweise ebenso eine mosaik- hafte Figur wäre,51 ist fragwürdig. Während Kunigunde ihr phantastisches Spiel innerhalb der weltlichen Ordnung treibt und am Ende als eine unheimliche Figur überführt wird (über die

42 Ebd., V. 897-904. 43 Ebd., V. 918f. 44 Ebd., V. 771f. 45 Ebd., V. 769. 46 Ebd., V. 918. 47 Ebd., V. 898. 48 Ebd., V. 922f. 49 Ebd., V. 938f. 50 Ebd., V. 948-952. 51 Vgl. Hans Dieter Zimmermann: »Der Sinn im Wahn: der Wahnsinn. Das „große historische Ritterschau- spiel“ Das Käthchen von Heilbronn«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 203-213, hier: S. 205; Yixu Lü: »Zur Schreibtechnik Kleists im ›Käthchen von Heilbronn‹«, in: KJb [2003], S. 282-306, hier: S. 299. 235 Das Käthchen von Heilbronn

Theorie des Phantastischen hinaus wird sie am Ende gar als »Hexe[ ]«52 – jedoch ohne Zau- berkräfte – bezeichnet), bleibt Käthchen durchgehend außerhalb der weltlichen Ordnung und erhält somit ihre bewegliche Grazie: Sie ist durch das ganze Geschehen im Drama hindurch stets unterwegs, ohne auch nur einmal in die Kleist’sche Sumpfsituation zu geraten; selbst in der Feuerprobe wird sie nicht unter den Trümmern des eingestürzten Hauses begraben – dank der Hilfe eines Cherubs, was sie im polaren Gegensatz zur unheimlichen Kunigunde als eine wunderbare Figur evoziert. Während Kunigunde durch ihre Make-up-»Kunst«53 extrovertiert »[d]as unsichtbare Ding, das Seele heißt, / [...] an allem gern erscheinen machen [!]« will,54 also »[e]ine Prothesenfigur, die alle Zweifel bestätigt, welche zunehmend seit Ende des 18. Jahrhun- derts die Kunstproduktion begleiteten«,55 bleibt die Seele des introvertierten Käthchens stets in sich bzw. am ursprünglichen Schwerpunkt. Selbst wenn sie dem Grafen vom Strahl vor dem Fehmegericht sagt: »[D]ir liegt meine Seele offen da!«56 oder »Jetzt leg ich alles, Punkt für Punkt, dir dar«,57 ergibt sie sich in der Tat keineswegs seinen inquisitorischen Fragen, indem sie sie immer wieder negiert. Infolgedessen kann man, während man mithilfe der Vernunft »über sie [Kunigunde] philosophieren«, »einen metaphysischen Satz über sie geben, wie Platon,« und dann diesen Satz »erläutern, wie der lustige Diogenes getan,« kann,58 sich mithilfe der endli- chen Begriffe Käthchen nur auf eine asymptotische Weise im Unendlichen annähern: »Ich will meine Muttersprache durchblättern, und das ganze, reiche Kapitel, das diese Überschrift führt: Empfindung, dergestalt plündern, daß kein Reimschmied mehr, auf eine neue Art, soll sagen können: ich bin betrübt.«59 Gerade aufgrund ihrer Unfassbarkeit für die Vernunft, die also außerhalb der Reichweite der Vernunft liegt, besitzt Käthchen eine (unterschwellige) Kraft, die die Vernunft ohnmächtig macht, und somit, wie ein »Heilbronn«, für die an der Vernunft schwer erkrankten personae dramatis in den natürlichen Zustand wiederherstellen kann. So führt sie die Verwandten, die einander durch die bürgerliche kleinfamiliäre Ordnung entfremdet sind, wieder zur natürlichen Stammzugehörigkeit zusammen: »Vettern und Basen, mit welchen die Verwandtschaft, seit drei Menschengeschlechtern, vergessen worden war, nannten sie, auf Kindtaufen und Hochzeiten, ihr liebes Mühmchen, ihr liebes Bäschen«.60 Dass die Wiedervereinigung als solche gerade bei Kindtaufen und Hochzeiten stattfindet, kennzeichnet nicht zuletzt die Hoffnung auf eine neue Ordnung. Auch ihr vermeintlicher Vater Theobald versetzt sich ihretwegen, wie Nicolas Pethes bemerkt hat, in den Naturzustand: »Käthchens Flucht vor ihrem vermeintlichen Vater versetzt diesen in einen Naturzustand, innerhalb dessen er nicht nur als ›Wolf‹ erscheint, sondern auch

52 Ebd., V. 2486. 53 So nennt sie in der Phöbus-Fassung die Make-up-Technik. SWB I, S. 901. 54 Ebd. 55 G. Ueding (wie Anm. 19), S. 174. 56 Das Käthchen von Heilbronn, V. 440. 57 Ebd., V. 571. 58 Ebd., V. 943ff. 59 Ebd., V. 674-678. 60 Ebd., V. 80-84. 236 Das Käthchen von Heilbronn antritt, die rechtliche ›Satzung‹ durch blasphemische Flüche zu entkräften.«61 Der Vater sehnt sich sogar nach der elementaren Selbst-Auflösung in die Natur, um das vom Himmel geborene Naturwesen Käthchen zu begreifen:

Die Eichen sind so still, die auf den Bergen verstreut sind: man hört den Specht, der daran pickt. Ich glaube, sie wissen, daß Käthchen angekommen ist, und lauschen auf das, was sie denkt. Wenn ich mich doch in die Welt auflösen könnte, um es zu erfahren. Harfenklang muß nicht lieblicher sein, als ihr Gefühl; es würde Israel hinweggelockt von David und seinen Zungen neue Psalter gelehrt haben.62

Käthchen verfügt also über eine andere Sprache, welche aus dem Gefühl statt der Vernunft stammt und nur für das Naturwesen zugänglich ist. Diese natürlich-musikalische Sprache be- sitzt nicht zuletzt eine subversive, ja usurpatorische Kraft, die die gegebene Ordnung (»David« im metaphorischen Sinne) umzustürzen und eine neue Ordnung (wie »neue Psalter«) einzu- richten vermag. Diese Kraft nimmt der Graf vom Strahl wahr und bringt sie in seinem mono- logischen Bekenntnis zum Ausdruck:

Winfried, [...], du Erster meines Namens, Göttlicher mit der Scheitel des Zeus, dich frag ich, ob die Mutter meines Geschlechts war, wie diese: von jeder frommen Tugend strahlender, makelloser an Leib und Seele, mit jedem Liebreiz geschmückter, als sie? O Winfried! Grauer Alter! Ich küsse dir die Hand, und danke dir, daß ich bin; doch hättest du sie an die stählerne Brust gedrückt, du hättest ein Geschlecht von Königen erzeugt, und Wetter vom Strahl hieße jedes Gebot auf Erden!63

Nichtsdestoweniger entschließt sich der Graf, der sich seiner adligen Familie gegenüber in der Pflicht sieht, sich selbst geistig zu kastrieren, um sich gegen solche eine subversitve Gefahr zu wehren: »Nein, nein, nein! Zum Weibe, wenn ich sie [Käthchen] gleich liebe, begehr ich sie nicht; eurem stolzen Reigen will ich mich anschließen: das war beschloßne Sache, noch ehe ihr kamt.«64 Dieser Reaktionär, dessen Motto lautet: »Leben aber ohne Liebe sei Tod«,65 wird schließlich zum Homo compensator, verlegt sich, wenngleich er Käthchen liebt, auf Kuni- gunde, die andere K., angeblich »die Urenkelin eines der vorigen Kaiser«,66 was der Verheißung in seinem Silvestertraum nicht ohne Weiteres, aber der Erwartung in der politischen Realität völlig entspricht, und ignoriert deshalb Käthchens Muttermal, das ihm der Engel im Traum eigens als Identitätszeichen offenbart habe und das Theobald vor dem Fehmegericht nochmals erwähnt.

61 Nicolas Pethes: »Poetik der Adoption. Illegitime Kinder, ungewisse Väter und juristische Elternschaft als Figurationen von Kleists Ästhetik«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 323-346, hier:338. 62 Das Käthchen von Heilbronn, V. 1395-1401. 63 Ebd., V. 710-718. 64 Ebd., V. 707ff. 65 Ebd., V. 1161. 66 Ebd., V. 1140f. 237 Das Käthchen von Heilbronn

Die subversive Kraft von Käthchen kann aber nicht durch Vernunft blockiert werden, auch wenn man sich vernünftigerweise, d. h. unnatürlicherweise, kastriert. Denn eine natürliche Kraft wie die von Käthchen spricht, wie oben angedeutet, nicht die menschliche Vernunft, sondern die menschliche Natur an und es ist die menschliche Natur, die auf sie anspricht. Obwohl es in diesem »große[n] historische[n] Ritterschauspiel«67 – im Gegensatz zu Penthesilea – keine revolutionäre Figur gibt, hier also niemand im Begriff ist, eine neue Ordnung anstelle der alten einzurichten, wirkt sich die Kraft von Käthchen nicht minder subversiv aus: Sie be- freit das, was zuvor von der Vernunft unterdrückt wurde, und lässt dieses gegen die praktische Vernunft oder die Moral revolutionieren. Es ist in erster Linie die sexuelle Leidenschaft, die Käthchen in den männlichen Figuren, vor allem denjenigen, die normalerweise heilig scheinen, erweckt. Sie ist »ein Kind recht nach der Lust Gottes«,68 (Die Präposition »nach« lässt sich sowohl temporal als auch modal verstehen).69 Sie ist aber auch ein Gegenstand so recht nach der Lust der Männer. Dass der überfromme Theobald seine angebliche Tochter in einer Ho- helied-Paraphrase darstellt, impliziert die unterschwellige Sexualisierung von Käthchen.70 Der Graf vom Strahl handelt nicht anders. Dass der Graf, wie gut er sich auch immer mit der Vernunft zu rüsten und deren Mauer zu verteidigen versteht, der Lust gegenüber ziemlich unfähig ist, wird schon am Anfang anhand seiner physischen Rüstung angedeutet. So erzählt der Waffenschmied Theobald:

Meister, schau her, spricht er: dem Pfalzgrafen, der eure Wälle niederreißen will, zieh ich entgegen; die Lust, ihn zu treffen, sprengt mir die Schienen; nimm Eisen und Draht, ohne daß ich mich zu entkleiden brauche, und heft sie mir wieder zusammen. Herr! Sag ich: wenn Euch die Brust [!] so die Rüstung zerschmeißt, so läßt der Pfalzgraf unsere Wälle ganz [...]71

Kaum hat Theobald mit der Flickarbeit begonnen, tritt Käthchen ein – nicht nur in das Zim- mer, sondern auch direkt in die wehrlose Brust des Grafen. Diese Begegnung bringt bekannt- lich nicht nur Käthchen, sondern auch den Grafen in Verwirrung, umso mehr, als sie ihn an seinen erotischen Silvestertraum, in dem »das holde Kind, mit nichts, als dem Hemdchen an- getan«,72 erinnern dürfte. Nach dem ersten Schock fängt er sich und kommt offenbar wieder

67 So lautet der Untertitel vom Käthchen von Heilbronn. 68 Das Käthchen von Heilbronn, V. 66. 69 So wie es hier um Käthchens Geburt geht, wird später in der Erinnerung des Kaisers an seinen Seitensprung mit Käthchens Mutter ein anderer Gott, nämlich der bekanntlich lüsterne Jupiter, gekleidet im astronomischen Eigennamen, heranzitiert: »Es mochte ohngefähr eilf Uhr abends sein, und der Jupiter ging eben, mit seinem funkelnden Licht, im Osten auf, als ich, vom Tanz sehr ermüdet, aus dem Schloßtor trat, um mich in dem Garten, der daran stößt, unerkannt, unter dem Volk, das ihn erfüllte, zu erlaben; und ein Stern, mild und kräftig, wie der, leuchtete, wie ich gar nicht zweifle, bei ihrer Empfängnis.« (Ebd., V. 2409-2415). Nicht zuletzt ist zu bemerken, dass auch der Seitensprung des Kaisers auf die natürliche Kraft zurückzuführen ist. Denn es ist der Kaiser, der der höfischen Kultur müde wird und deshalb sowohl das Schloss als auch seine Identität hinter sich lässt, um sich im Freien, zumindest auf eine lockere, volkstümliche Weise, zu laben, d. h. auszuschweifen. 70 Chris Cullens u. Dorothea von Mücke: »Das Käthchen von Heilbronn. ›Ein Kind recht nach der Lust Gottes‹«, in: Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 116-143, hier: S. 125. 71 Das Käthchen von Heilbronn, V. 142-148. 72 Ebd., V. 1222f. 238 Das Käthchen von Heilbronn zur Besinnung: »Der Graf steht auf; er schaut das Mädchen, das ihm bis an die Brusthöhle ragt, vom Wirbel zur Sohle, gedankenvoll [!] an, und beugt sich, und küßt ihr die Stirn und spricht: der Herr segne dich, und behüte dich, schenke dir seinen Frieden Amen!«73 Dass er selbst in dieser verkürzten Segensformel die Stelle Gottes heimlich usurpiert,74 in der also das Er durch das implizierte Ich und der Optativ durch den Indikativ ersetzt wird: »der Herr [also ich, dein Herr] segne dich, und [ich] behüte dich« ,ist bei Kleist nicht nur nachvollziehbar (man denke z. B. an die ambivalente Apostrophe im Zerbrochnen Krug: »O Jesus.«), sondern eben eine vom Autor erzielte Wendung, die das scheinheilige Verhalten des Grafen auf eine performative Weise entlarvt. Die Sexualität, die sich hier im musternden Blick und körperlichen Kontakt verbirgt, tritt spätestens im Bekenntnis des Grafen offen zutage, indem dieser in seiner sexu- ellen Phantasie ausbricht:

Käthchen, Mädchen, Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Warum kann ich dich nicht aufheben, und in das duftende Himmelbett tragen, das mir die Mutter, daheim im Prunkge- mach, aufgerichtet hat? Käthchen, Käthchen, Käthchen! Du, deren junge Seele, als sie heute nackt vor mir stand, von wollüstiger Schönheit gänzlich triefte, wie die mit Ölen gesalbte Braut eines Perserkönigs, wenn sie, auf alle Teppiche niederregnend, in sein Gemach geführt wird! Käthchen, Mädchen, Käthchen!75

Diese erotische Phantasie, in der Käthchen nur als ein unberührbares Fernidol gilt, steigert sich am Ende, da sie sich als Kaiserstochter erweist und für ihn deshalb kein Tabu mehr ist, bis zum »Heißhunger seines geschlechtlichen Verlangens«,76 das seit langem unterdrückt ist:

Zuerst, mein süßes Kind, muß ich dir sagen, Daß ich mit Liebe dir, unsäglich, ewig, Durch alle meine Sinne zugetan. Der Hirsch, der von der Mittagsglut gequält, Den Grund zerwühlt, mit spitzigem Geweih, Er sehnt sich so begierig nicht, Vom Felsen in den Waldstrom sich zu stürzen, Den reißenden, als ich, jetzt, da du mein bist, In alle deine jungen Reize mich.77

Er ist also ein in die Natur zurückgekehrter, brünstiger Hirsch, dessen Geweih eindeutig ein phallisches Symbol ist. Er will von der felsenfesten Ordnung in den natürlichen Waldstrom ohne Damm und Ableitung stürzen; er will (sexuell) emanzipiert im Wasser ohne Maß und

73 Ebd., V. 177-180. 74 G. Oesterle (wie Anm. 8), S. 316. 75 Das Käthchen von Heilbronn, V. 687-695. 76 Hermann J. Weigand: »Zu Kleists „Käthchen von Heilbronn“ [1958]«, in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 326-350, hier: S. 341. 77 Das Käthchen von Heilbronn, V. 2586-2594. 239 Das Käthchen von Heilbronn

Ordnung ausschweifen; er will eine Orgie im Heilbronn – um es etwas vulgär, dies aber durch- aus gerechtfertigt, auszudrücken, zumal Kleist das Rosenfest in Penthesilea mit der gleichen Wendung versieht. Damit liegt eines nahe: Im gleichen Maße, wie die Sinnlichkeit des Grafen Wetter vom Strahl (also: Unwetter!) heftig ausbricht, ist sie für ihn schwer zu verdrängen. Der Trieb in ihm ist bisher nie unterdrückt worden, sondern verwandelt sich in nicht minder heftige Gewalt oder sogar zur Misogynie auf Käthchen hin, damit er der Verwirrung zum Trotz »eine einheitliche, wenn schon gewaltsam vereinfachte Haltung«78 erhalten und sich daran orientieren kann. Die Peitsche, die der Graf in der Vorgeschichte ergriff und in III/6, da Käthchen ihn bei Kuni- gunde heim-sucht, wieder ergreift, dient nicht nur zur Vertreibung und Distanzierung, sondern auch zur totalitären Züchtigung: Indem er Käthchen äußerlich mit der Peitsche bedroht und zugleich zum Hund herabsetzt, versucht er mit der Tat innerlich, den eigenen Sexualtrieb zu unterwerfen. Doch der Versuch misslingt, ja er endet sogar darin, dass er sich selbst entzweit, was z. B. in seinen in sich zweideutigen Worten erkennbar ist:

KÄTHCHEN. [...] Diesen Brief hier bitt ich –

DER GRAF VOM STRAHL. Ich will ihn nicht! – Was ist dies für ein Brief? Wo kommt er her? Und was enthält er mir?

KÄTHCHEN. Der Brief hier ist –

DER GRAF VOM STRAHL. Ich will davon nichts wissen! Fort! Gib ihn unten in dem Vorsaal ab.79

Deutet man sein verwirrtes Verhalten gegenüber Käthchen als eine Art Wahnsinn, so verrät eben »der Wahnsinn, dieser Dietrich aller Herzen«80 seinen chaotischen Zustand im Inneren. Ein anderes markantes Beispiel findet sich in der Szene der Feuerprobe, wo er Käthchen zu- nächst befiehlt: »Komm herab, sag ich!«,81 dann – Kunigunde zuliebe – seine Meinung ändert: »Ich sage, such!«,82 was er unmittelbar danach wiederum negiert: »Verflucht die hündische Dienstfertigkeit!«83 Diese kurzweilige Dialektik zeigt nicht nur seine Unentschlossenheit in ei- nem Ausnahmezustand, sondern auch seine Unentschlossenheit zwischen den beiden Frauen, also zwischen der natürlichen individuellen Liebe auf der einen Seite und der kulturellen poli- tischen Ehe auf der anderen Seite. Während die Vernunft für diese spricht, wird seine Nacht- seite von jener angesprochen. Dies ist später aus dem Mund des Grafen selbst zu hören: »Nun

78 Anthony Stephens: »“Das nenn ich menschlich nicht verfahren.“ Skizze zu einer Theorie der Grausamkeit im Hinblick auf Kleist«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 10-39, hier: S. 18. 79 Das Käthchen von Heilbronn, V. 1643-1647 80 Ebd., V. 194f. 81 Ebd., V. 1853. 82 Ebd., V. 1865. 83 Ebd., V. 1866. 240 Das Käthchen von Heilbronn steht mir bei, ihr Götter: ich bin doppelt! / Ein Geist bin ich und wandele zur Nacht!«84 Diese Identitätsspaltung führt konsequenterweise dazu, dass der Graf in der Feuerprobe zu einem total ohnmächtigen Kommandeur wird und seine Souveränität verliert:

DER GRAF VOM STRAHL. [...] – Hier! Legt die Leiter an! ERSTER KNECHT vorn, indem er sich umsieht. Holla! Da hinten!

EIN ANDERER zum Grafen. Wo?

DER GRAF VOM STRAHL. Wo das Fenster offen ist.

DIE KNECHTE heben die Leiter auf. O ha!

DER ERSTE vorn. Blitz! Bleibt zurück, ihr hinten da! Was macht ihr? Die Leiter ist zu lang!

DIE ANDEREN hinten. Das Fenster ein! Das Kreuz des Fensters eingestoßen! So!

FLAMMBERG der mit geholfen. Jetzt steht die Leiter fest und rührt sich nicht!

Erst als die Knechte das Kommando übernehmen und Flammberg, der Vasall des Grafen vom Strahl, helfend zur Seite steht, lässt sich die Leiter endlich aufrichten. Der Graf vom Strahl selbst kann hier gar nichts beitragen. »Der Graf Wetter vom Strahl wird im Laufe dieser Unfälle eine immer komödienhaftere Figur«,85 umso mehr, als das Haus, kaum, dass er auf die Leiter gestiegen ist, komischerweise in Schutt und Asche sinkt. Je mehr er handeln will, desto weniger kann er erreichen, weil er nicht weiß, woran er sich orientieren soll – Käthchen? Oder Kuni- gunde? Deutet man außerem die Leiter, die entgegen seinem Befehl nicht in das Fenster hin- eingesteckt wird, als ein phallisches Symbol, so kann man sogar behaupten, dass der Graf auch seine Männlichkeit einbüßt. Es mag so sein, wie es will: Dieser ohnmächtige Graf würde dem fatalen Untergang verfallen sein, wenn das Schauspiel mit Der Graf Wetter vom Strahl betitelt wäre; wenn also das Käthchen von Heilbronn nicht die einzige Figur im Ausnahmezustand wäre, die ihn an der männlichen Autorität, deren Symbol das Schwert ist, erhält und dadurch von der Impotenz bzw. der erektilen Dysfunktion heilt:

KÄTHCHEN mit Schwert, Schild und Lanze. Hier! DER GRAF VOM STRAHL indem er das Schwert nimmt und es sich umgürtet. Was willst du?

84 Ebd., V. 2144f. 85 Ruth Klüger (Anm 2.), S. 108. 241 Das Käthchen von Heilbronn

KÄTHCHEN. Ich bringe dir die Waffen. DER GRAF VOM STRAHL. Dich rief ich nicht! KÄTHCEHN. Gottschalk rettet. DER GRAF VOM STRAHL. Warum schickt er den Buben nicht? – Du dringst dich schon wieder auf?86

Im Hinblick hierauf erklärt es sich, weshalb der Graf am Ende zu Käthchen sagt: »Nun sann ich mir ein Fest aus, süßes Mädchen, / Zu welchem du die Göttin spielen sollst.«87 Es geht also weniger darum, dass der grausam diktatorische Graf sie bis zum letzten Augenblick zum wehrlosen Narren halte, indem er sie nicht von der bevorstehenden Hochzeit unterrichtet, was in der Forschung gern vertreten wird, als vielmehr um ein Dankesfest, das simutan zur Hoch- zeit stattfindet, damit der Graf die »Göttin« unter dem Baldachin anbetet und anbeten lässt: »Heil dir, o Jungfrau!«,88 was er zuvor andeutungsweise gesagt habe: »Nun möcht ich vor der Hochgebenedeiten / In Staub mich werfen, ihren Fuß ergreifen, / Und mit des Danks glut- heißer Träne waschen.«89 Gebenedeit ist für ihn nicht nur Maria von Nazareth, sondern auch Käthchen von Heilbronn.90 Tatsächlich steht Käthchen, auch wenn sie den Grafen vom Strahl vergöttert, nicht in sei- nem Bann, weil es nicht der Graf vom Strahl als Mensch ist, dem sie sich hingibt, sondern der Graf vom Strahl als Bild, das ihr visionär im Traum erschienen ist. Sie richtet sich also nicht auf etwas Menschliches, das sich bei Kleist bekanntlich immer wieder als gebrechlich und am- bivalent darstellt. Schon seit ihrem Ur-Sprung aus dem Vaterhaus bei der ersten Begegnung mit dem Grafen vom Strahl betrachtet sie sich nicht mehr als den menschlichen Institutionen zu- gehörig, weder den profanen noch den sakralen – »Nimmer und nimmermehr! Weder auf die Strahlburg, noch ins Kloster!«91 Bezeichnenderweise bleiben »auf seinem [bzw. ihrem] Weg zu Gott« die Engel aus. Sie gibt keiner menschlichen bzw. kulturellen Ordnung nach, selbst wenn der Graf vom Strahl sie am Ende als seine Braut bezeichnet und im Begriff ist, sie in die Kirche zur Trauung bzw. danach auf das Bett in der Strahlburg zu bringen:

DER GRAF VOM STRAHL umfaßt sie. Käthchen! Meine Braut! Willst du mich? KÄTHCHEN. Schütze mich Gott und alle Heiligen! Sie sinkt; die Gräfin empfängt sie.92

86 Das Käthchen von Heilbronn, V. 1784-1790 87 Ebd., V. 2630f. 88 Ebd., V. 2666. 89 Ebd., V. 2553ff. 90 Dieselbe Ansicht findet sich auch bei H.-D. Fronz (wie Anm. 33), S. 311. 91 Das Käthchen von Heilbronn, V. 1498. 92 Ebd., V. 2676ff. 242 Das Käthchen von Heilbronn

Sie will es nicht, so dass sie hier aneinander vorbeireden. Denn ihr Standort (Habitat) liegt nicht in der Burg, sondern außerhalb der kulturellen Mauer, nämlich am

Platz, dicht mit Bäumen bewachsen, am äußeren zerfallenen Mauernring der Burg. [!] Vorn ein Holunderstrauch, der eine Art von natürlicher Laube bildet, worunter von Feldsteinen, mit der Strohmatte bedeckt, ein Sitz. An den Zweigen sieht man ein Hemdchen und ein Paar Strümpfe usw. zum Trocknen aufgehängt.93

Es geht um einen Ort, »unter den Holunderstrauch, wo sich der Zeisig das Nest gebaut hat«,94 wo auch das Naturwesen Käthchen »wie die ersten Menschen«95 ihr Nest mit der Strohmatte baut und keine Kleidung braucht. Aus der kulturellen Perspektive scheint solch ein primitives Leben bejammernswert, wie der Graf vom Strahl meint: »Ich kann diesem Jammer nicht mehr zusehen.«96 Dementsprechend will er den besagten Ort zum »Sommersitz [...] / In heitern, weitverbreiteten Gemächern«97 umbauen lassen, in denen Käthchen nichts anderes machen kann oder darf, als wie eine Sexpuppe auf ihren Eigentümer zu warten. Es klingt unheimlich, weil solch ein kultureller Wohnort tatsächlich unheimlich ist, was der virtuose Kleist mithilfe einer Gegenszene darstellt, nämlich in der Szene einer Herberge (III/2-4), deren Gastwirt Ja- kob Pech heißt. In der Herberge zu Pech befindet sich also der Rheingraf stets in Verwirrung und setzt somit selber die Vereitelung seines heimlichen Planes voraus, was Kleist andeutungs- voll in den Mund von dessen Freund Friedrich legt: »Tod und Verderben! Du versiegeltest sie selbst!«98 Bezieht es sich auf die Briefe des Rheingrafen oder auf dessen Tod und Verderben? Sowohl, als auch. Da Käthchen weder auf das Menschliche eingeht noch sich darauf einlässt, ist die Einrich- tung ihrer eigenen Welt, nämlich dessen, was für sie die Wirklichkeit bedeutet, nicht so gebrech- lich wie bei den anderen Kleist’schen Figuren. Sie bleibt, im Gegensatz zum entzweiten Grafen vom Strahl und zur zweiseitigen Kunigunde, eine monadenhafte Einheit. Infolgedessen bleibt bei ihr sowohl das fatale Versehen als auch das fatale Versprechen aus: Sie versieht sich nicht, weil sie auf nichts absieht; sie verspricht sich nicht, weil sie sich gar nicht ausspricht. Darüber hinaus, weil sie sich nicht entscheidet, entsetzt sie sich nicht. Wie gesagt, sie bleibt immer am Schwerpunkt der Seele und »[i]hr Glaube ist,« so der Graf vom Strahl, »wie ein Turm, so fest gegründet!«99 Selbst in der Konfrontation mit einem phantastischen Phänomen denkt sie nicht darüber nach, ob das Phänomen in sich ambivalent ist. Sie denkt weder darüber nach, ob der angebliche Cherubim in der traumhaften Begegnung, den sie eigens »Mit Flügeln, weiß wie

93 Ebd., Regieanweisung vor IV/2. 94 Ebd., V. 1458f. 95 Ebd., V. 65. 96 Ebd., V. 2029f. 97 Ebd., V. 2616. 98 Ebd., V. 1623. 99 Ebd., V. 2077. 243 Das Käthchen von Heilbronn

Schnee, auf beiden Schultern«100 kennzeichnet, nicht eher ein Eros wäre oder zumindest »die Rolle des sakral überformten Eros spielt«,101 noch ist sie davon befremdet, »dass gerade die abergläubische Magd Mariane die Begegnung mit Licht unterbricht und das von der visionären Offenbarung benommene Käthchen verspottet.«102 Ob es Cherubim oder Eros ist, oder ob Mariane sich eigentlich als abergläubisch oder aufklärerisch erweist, ist ihr absolut gleichgültig. Denn mit solch einer dichotomischen Entscheidung vom Entweder-Oder hat sie nichts zu tun, die sie, die den Traum und die Realität phantastischerweise nicht voneinander unterscheiden kann und will, weil die Silvester-Begegnung für sie gleichermaßen ein traumhaftes wie ein leib- haftiges Erlebnis ist: »Ja, weil ich glaubt, es wär ein Traum«,103 was sie übrigens im somnam- bulen Zustand sagt. Sie begnügt sich also allein mit der subjektiven Zweckmäßigkeit, ohne auf irgendeine objektive Zweckmäßigkeit – weder Theologie noch Ideologie – Rücksicht zu neh- men. Dank solch einer introvertierten und zugleich resignativen Haltung im Modell vom So- wohl-als-Auch ist sie nicht nur in der Lage, sich »Gottes Fügung«104 durch die gesamte drama- tische Handlung hindurch zu erfreuen und in der Kleist’schen Welt zu überleben, sondern auch den Grafen vor dem Untergang zu retten, indem er, nachdem er sich im Rapport mit ihr ver- einigt hat, zugesteht: »Was mir ein Traum schien, nackte Wahrheit ists«.105 Ob Käthchen danach als Gräfin vom Strahl – und damit nicht mehr von Heilbronn – aus dem Traum erwachen muss oder bevorzugt weiter in Ohnmacht bleibt, was unweigerlich im Unglück enden muss, bleibt dahingestellt. Denn ihr ist es vom Autor gegönnt, ein ewiges Na- turwesen zu sein, indem das Stück genau da endet, als sie in die Kirche bzw. in die Kultur geschickt wird. Zwar hat Kleist ein paar Monate vor dem Ende seines Lebens über den Kom- promiss gegenüber der theatralischen Praxis geklagt:

Das Urteil der Menschen hat mich bisher viel zu sehr beherrscht; besonders das Käthchen von Heilbronn ist voll Spuren davon. Es war von Anfang herein eine ganz treffliche Erfindung, und nur die Absicht, es für die Bühne passend zu machen, hat mich zu Mißgriffen verführt, die ich jetzt beweinen möchte.106

Aber auch in Hinsicht auf das Ende ist es doch eine durchaus treffliche, typisch Kleist’sche Erfindung – eine kompromisslose Andeutung der unheilbaren Fragilität der Welt. Sobald die Handlung sich fortsetzt, würde die Giftmischerin, wie angekündigt, tödliche Rache an den nun miteinander verbundenen Protagonisten fordern, so dass »[e]in Märchen, aberwitzig, sinnver- wirrt, / Dir darzutun, das sich das Volk aus zwei / Ereignissen, zusammen seltsam freilich, /

100 Ebd., V. 2119. 101 Gerhart Pickerodt: »›Mein Cherubim und Seraph‹ Engelsbilder bei Heinrich von Kleist«, in: KJb [2006], S. 171-187, hier: S. 177. 102 Katharine Weder: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008, S. 177. Dazu vgl. auch G. Oesterle (wie Anm. 8), S. 313. 103 Das Käthchen von Heilbronn, V. 2131. 104 Ebd., V. 1682 u. V. 1997f. 105 Ebd., V. 2147. 106 Brief an Marie von Kleist vom [Sommer 1811], SWB II, S. 874. 244 Das Käthchen von Heilbronn

Wie die zwei Hälften eines Ringes, passend, / Mit müßgem Scharfsinn, an einander setzte«, in dialektischer Weise wieder entzweigeht.

245 Die Herrmannsschlacht

VI.7. Die Hermannsschlacht Ein Drama

Es wäre wunderlich, wenn Kleist das Phantastische nicht auch in seinem (in der Rezeptions- geschichte) umstrittenen Drama Die Hermannsschlacht verarbeitet hätte, zumal es sich bei diesem Drama in der Tat weniger um die Wiedergabe der Schlacht per se handelt als vielmehr um die allzu unbestimmte Vorphase der Schlacht, in der man Entscheidungen treffen muss, ohne zu wissen, wohin diese führen werden – entweder zum Leben oder zum Tod. Hinzu kommt, dass der cheruskische Fürst Hermann, der in diesem Ausnahmezustand als »letzte[r] Pfeiler«1 der Germanen gilt, ein kulturelles Mischwesen ist, was Kleist explizit durch Nennung seines römi- schen Namens Arminius verdeutlicht, ein Kunstgriff, den er schon in Penthesilea anwendet, indem Achilles als göttlich-menschliches Wesen mal als Pelide, mal als Neridensohn bezeichnet wird. Man hat sogar konstatiert, dass Thusnelda, Hermanns Gattin, »vielleicht auch in Her- mann mit einem Teil ihrer Leidenschaft den Römer Arminius liebt.«2 Immerhin ist es sicher, dass die kriegsstrategische Grenzziehung zwischen Germanen und Römern in dem cheruski- schen Fürsten – zumindest aus der Sicht der Seinigen – so paradox-unfassbar ist, dass sich die unbestimmte Situation zu einer ambivalenten Situation potenziert. Wolf, der Fürst der Katten, der im Drama als der Erster das Wort ergreift, bringt es treffend auf den Punkt: »Ihr seht es, Freunde, wie er uns verhöhnt: Statt die Legionen mutig aufzusuchen, / In seine Forsten spie- lend [!] führt er uns, / Und läßt den Hirsch uns und den Ur besiegen.«3 Ja, Hermann spielt, er muss spielen – sowohl den Germanen als auch den Römern gegenüber, weil sich die Germanen von den Römern im Wensentlichen nicht unterscheiden. Diesbezüglich lässt Kleist am Ende des allerersten Auftritts von Wolf (den Germanenfürsten) dem Wolf (Rom) in Anlehnung an die Bibel die wölfischen Gewalttaten vorwerfen und setzt dabei – typisch kleistisch – eine am- bivalente Apostrophe »o Deutschland« zwischen dem »Wolf« und dem Du, was sich wiederum unterschwellig auf einen anderen germanischen Fürsten bezieht, so dass die Grenze nahezu verschwommen ist:

WOLF indem er sich erhebt. Da hast du recht! Es bricht der Wolf, o Deutschland, In deine Hürde ein, und deine Hirten streiten Um eine Handvoll Wolle sich.4

1 Die Hermannsschlacht, V. 15. 2 Nobert Miller: »Verstörende Bilder in Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [1984], S. 98-105, hier: S. 99. 3 Die Hermannsschlacht, V. 17-20. 4 Ebd., V. 72ff. Stefan Börnchen vertritt eine ähnliche Ansicht: »In benachbarten Versen stoßen die beiden antagonistischen Partein des Dramas aufeinander, und beide heißen Wolf.« Interessanterweise fährt er fort: »Lediglich typographisch sind sie differenziert: germanischer ›Wolf‹ respektive ›WOLF‹ und römischer »Wolf«. Anders gesagt: Ein Wolf beschwert sich über den anderen.« Stefan Börnchen: »›Translatio Imperii. Politische Formeln und hybride Metaphern in Heinrich von Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [2005], S. 267-284, hier: S. 276. 246 Die Hermannsschlacht

Während der römische Wolf »keine andre Volksnatur / verstehen kann und ehren, als nur seine«,5 ist es bei dem germanischen Wolf die Stammessache anderer, die er nicht verstehen und ehren kann, was deutlich wird, wenn z. B. Dagobert betont: »Ob ich dem Bündnis mich, / Das diese Fremdlinge aus Deutschland soll verjagen, / Anschließen werd, ob nicht: darüber, weißt du, / Entscheidet hier ein Wort aus Selgars Munde! / […] /Doch der hier, Selgar, soll, der Fürst der Brukterer, / Den Strich mir [!], der mein Eigentum [!], / An dem Gestad der Lippe überlassen.«6 Es gibt also keine gegensätzliche Front zwischen den Römern und den Germanen, sondern zahlreiche komplizierte Frontlinien in den Reihen der Germanen, denn »[d]iese Menschen«, um es mit den Worten Kleists zu sagen, »sitzen sämtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubt seines sei das beste, und um den Baum bekümmern sie sich nicht.«7 Indem sie sich auf das eigene Eigentum und Erbland bzw. den seelischen Schwer- punkt auf das Äußerliche setzen, verlieren sie die bewegliche Grazie und somit ihre Autonomie gegenüber den Römern: »Ein förmlicher Vertrag ward jüngst, / Geschlossen zwischen mir und ihm: / Wenn ich dem Fürsten mich der Friesen nicht verbände, / So solle dem August mein Erbland heilig sein«.8 Im Gegensatz dazu weiß sich Hermann transzendentalerweise über die Sache zu einem makroskopischen Standpunkt zu erheben. Ihm geht es demnach nicht nur um das, was er wort- wörtlich plant, sondern vielmehr um ein dass-Bild: »Und daß ich das vermög, im ganzen vollen Maße, / Wie sichs die freie Seele glorreich denkt – / Will ich allein stehn, und mit euch mich – / – Die manch ein andrer Wunsch zur Seite lockend zieht, – / In dieser wichtgen Sache nicht verbinden.«9 Erst dadurch kann er als freie Seele – im Gegensatz zur auf die Sache gesetzten Seele – eine transzendentale Schlacht führen, die für die Welt des Verstandes durchaus paradox zu sein scheint: »So weit im Kreise mir der Welt / Das Heer der munteren Gedanken reichet, / Erstreb ich und bezweck ich nichts, / Als jenem Römerkaiser zu erliegen.«10 Eben weil er ein »sich losmachend[er]« Mensch ist,11 ist er in der Lage, sich über die Zeit und den Ort zu erheben und einen über diesen Augenblick erweiterten Horizont zu gewinnen: »Die Zeit stellt, heißen Drangs voll, die Gemüter / Auf eine schwere Prob; und manchen kenn ich besser, / Als er in diesem Augenblick sich zeigt.«12 Auch sein Bote Luitgar lobt ihn: »Du kennst, ich seh, die Zeit, wie wenige.«13 Was den transzendentalen Standpunkt (Ort) Hermanns betrifft, so be- findet sich in III/1 eine diesen belegende Szene:

5 Die Hermannsschlacht, V. 313f. 6 Ebd., V. 40-43 u. V. 51ff. 7 Brief an Ulrike von Kleist vom 5. Februar 1801, SWB II, S. 628. 8 Die Hermannsschlacht, V. 25ff. 9 Ebd., V. 234-238. 10 Ebd., V. 228-231. 11 Ebd., Nebentext vor V. 374. Darauf weist Eva Horn ausdrücklich hin und entwickelt vor allem daraus ihre Interpretation. Eva Horn: »Herrmanns ›Lektionen‹. Strategische Führung in Kleists ›Herrmannsschlacht‹«, in: KJb [2011], S. 66-90. 12 Die Hermannsschlacht, V. 261ff. 13 Ebd., V. 768. 247 Die Herrmannsschlacht

HERMANN. Das ist Thuiskon, was jetzt Feuer griff?

ERSTER ÄLTESTER. Vergib mir, Herthakon.

HERMANN. Ja, dort zur Linken. Der Ort, der brannte längst. Zur Rechten, mein ich.

ERSTER ÄLTESTER. Zur Rechten, meinst du. Das ist Helakon. Thuiskon kann man hier vom Platz nicht sehn. [!]

HERMANN. Was! Helakon! Das liegt in Asche schon. Ich meine, was jetzt eben Feuer griff?

ERSTER ÄLTERSTER. Ganz recht! Das ist Thuiskon, mein Gebieter! Die Flamme schlägt jetzt übern Wald empor. – Pause14

Auf die transzendentale Weise sieht Hermann, was »hier vom Platz«, also auf die empirische Weise, nicht zu sehen ist – auch von dem ersten Ältesten, nämlich dem mit der meisten Erfah- rung, nicht. Die darauffolgende Pause verschafft dem Leser bzw. Zuschauer Raum zum Nach- denken. Hiermit gibt Hermann sozusagen eine Weisung in der Verwirrung, in die Kleist 1805 selbst gefallen ist: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.«15 »Die Zeiten«, so Hermann, »sind entartet – «:16 Es bedarf einer anderen Art. Statt in der normalen Schlacht »dann gezwungen [zu] sein, / In dem gefährlichen Momente der Entscheidung, / Die ungeheure Wahrheit anzuschaun«,17 muss Hermann eine neue Art Schlacht anführen. Es wäre ein wenig gewagt, wenn man diese neue Art unmittelbar mit dem neumodischen Guerillakrieg bzw. Partisanenkrieg in der antinapoleonischen Zeit gleichsetzte.18 Denn der Partisanenkrieg ist allenfalls eine Eigenschaft der Hermannsschlacht, jedoch nicht deren Wesen. Mit dem Partisanenkrieg kann man die Hermannsschlacht nicht durchaus ver- gleichen. Immerhin hat Niels Werber darauf hingedeutet: »Der Defensivkrieg des Partisanen schlägt bereits bei Kleist um in einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg.«19 Es geht Kleist weniger um einen Krieg als solchen, als er, wie gesagt, nicht den Krieg gegen die Römer per se darstellen wollte. Was sich Hermann vornimmt und worauf sich der Titel Hermannsschlacht be- zieht, ist vielmehr ein Gedankenkrieg, ein subversiver Witz gegen den regulären Krieg, also eher ein sprachlicher ideologischer als ein tat-sächlicher. Kurz: Es geht um eine transzendentale

14 Ebd., V. 866-874. 15 Brief an Otto August Rühle von Lilienstern [Ende November 1805], SWB II, S. 761. 16 Die Hermannsschlacht, V. 964. 17 Ebd., V. 347. 18 Vgl. dazu Richard Samuel: »Kleists ›Hermannsschlacht‹ und der Freiherr vom Stein«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft [1961], S. 64-101, vor allem S. 74-76. 19 Niels Werber: »Kleists ›Sendung des Dritten Reichs‹. Zur Rezeption von Heinrich von Kleists ›Hermanns- schlacht‹ im Nationalsozialismus«, in: KJb [2006], S. 157-170, hier: S. 170. 248 Die Hermannsschlacht

Schlacht, die außerdem den Germanen als Lektion dient, wie Marbod am Ende des Stückes zum germanischen Wolf sagt:

MARBOD halblaut, zu Wolf. Die Lektion ist gut.

WOLF. Das sag ich auch.20

Der erste Schritt Hermanns ist, die Germanen aus ihrem egozentrischen Standpunkt heraus- zulocken, um die Voraussetzung für die Transzendenz zu schaffen. Dies führt unvermeidlich zum Ent-Setzen:

HERMANN sich losmachend. Kurz, wollt ihr, wie ich schon einmal euch sagte, Zusammenraffen Weib und Kind, Und auf der Weser rechtes Ufer bringen, Geschirre, goldn’ und silberne, die ihr Besitzet [!], schmelzen, Perlen und Juwelen Verkaufen oder sie verpfänden, Verheeren eure Fluren, eure Herden Erschlagen, eure Plätze niederbrennen, So bin ich euer Mann –:

WOLF. Wie? Was?

HERMANN. Wo nicht –?

THUISKOMAR. Die eignen Fluren sollen wir verherren –?

DAGOBERT. Die Herden töten –?

SELGAR. Unsre Plätze niederbrennen –?

HERMANN. Nicht? Nicht? Ihr wollt es nicht?

THUISKOMAR. Das eben, Rasender, das ist es ja, Was wir in diesem Krieg verteidigen wollen!

HERMANN abbrechend.

Nun denn, ich glaubte, eure Freiheit wärs. Er steht auf.

THUISKOMAR. Was? – Allerdings. Die Freiheit –21

Diesbezüglich hat Bernd Fischer in Anlehnung an den postkolonialen Diskurs die »displacement- Theorie« in seine Interpretation eingeführt: »Hier wird der Ideologie des displacement als integ- ralem Bestandteil der ‚totalen‘ heroischen Niederlage ihr zentraler identitätspolitischer Stellen

20 Die Hermannsschlacht, V. 2620. 21 Ebd., V. 374-389. 249 Die Herrmannsschlacht wert innerhalb des antikolonialen Diskurses zugeschrieben.«22 In der Tat kommt das displace- ment bereits im ersten Akt zum Ausdruck, wenn die Germanen und die Römer zusammen im Freien Jagd spielen. Erst im Freien, also außerhalb des gewohnten Kreises des jeweiligen Stam- mes bzw. der jeweiligen Kultur, ist ein ungewöhnlicher Standpunkt als neue Perspektive möglich. Wolfs Frage: » – Stand sie im Freien, als sie schoß?«23 deutet einerseits an, dass Thusnelda den Römern ihre Unbeholfenheit nur vorgespielt hat, andererseits aber, dass das Freie ein kritischer Standpunkt ist, von dem aus alle Gewohnheiten auf die Probe gestellt werden, von dem aus also das Selbstverständliche nicht mehr sich selbst versteht. Demgemäß dient das Freie, zumal es hier ein freies Spielfeld ist, als status nascendi, aus dem neue Möglichkeiten auf eine spiele- rische Weise entstehen können. Der zweite Schritt Hermanns richtet sich gegen die Römer, vor allem gegen den römischen Legaten Ventidius. Um ihn aus seiner überlegenden Autorität zur Verwirrung zu führen, setzt Hermann das primitivste, zugleich aber das gültigste Mittel ein: die Sexualität, oder besser: ein erotisches »Spiel«.24 Zwar konstatiert Ventidius bereits zu Beginn, dass das, was er unternimmt, nur »ein Geschäft / Für Livia […], die Kaiserin«25 sei, was Hermann scheinbar schon gewusst hat, was dann der Brief von Ventidius an Livia mit der beigelegten Locke belegt. Aber ihm wird, indem er sich auf das Spiel einlässt, aus dem galanten Spiel bitterer Ernst, was Hermann scheinbar auch gewusst hat. Denn Ventidius ist zwar ein Geschäftsmann, doch zugleich ein Playboy, der gegen die Sexualität wenig gefeit ist, wie sein Monolog in V/17 offen zutage legt: »Thusnelda! Komm und lösche diese Glut, / Soll ich, gleich einem jungen Hirsch, / Das Haupt voran, mich in die Flut nicht stürzen!«26 Es geht hierbei um den Antagonismus sowohl zwi- schen Geschäft und Play als auch zwischen Mann und Boy: Durch das Spiel gerät Ventidius also in eine ambivalente Situation, wobei Thusnelda der Gegenstand sowohl seines von der Vernunft getragenen Geschäfts als auch seines lüsternen Spiels ist.27 Die Waage gerät aller- dings außer Balance, als er Thusnelda im Spiel vergöttert und sie in diesem Zug als »Abgott meiner Seelen« bezeichnet.28 Sobald er in ihre »göttergleiche Nähe«29 kommt, verliert er den

22 Bernd Fischer: »Fremdbestimmung und Identitätspolitik in Die Hermannsschlacht«, in: Kleists Erzählun- gen und Dramen. Neue Studien, hrsg von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 165-178, hier: S. 171. 23 Die Hermannsschlacht, V. 107. 24 So sagt Thusnelda zu Hermann: »Laß mich mit diesem Römer aus dem Spiele.« (Ebd., V. 511.) 25 Ebd., V. 528f. 26 Ebd., V. 2360ff. 27 Im Hinblick auf das antithetische Verhalten von Ventidius behauptet Regina Schäfer, dass der Brief an Livia von Hermann selbst gefälscht ist, denn: »Wenn Hermann das angeblich einem zufällig erschossenen Sendboten abgenommene Schreiben des Ventidius an die römische Kaiserin nicht gefälscht hat, so folgt näm- lich, daß dessen Äußerungen – nicht nur die leidenschaftlichen Liebesbeteuerungen Thusnelda gegenüber, sondern auch die monologischen, sämtlich von Grund auf falsch und verlogen sind.« (Regina Schäfer: »Der gefälschte Brief. Eine unkonventionelle Hypothese zu Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [1993], S. 181- 189, hier: S. 184). Allerdings muss man dagegen – wenngleich nicht so wissenschaftlich – einwenden, dass es für Männer nicht unbedingt antithetisch, sondern wohl synthetisch ist. 28 Die Hermannsschlacht, V. 567. 29 Ebd., V. 533. 250 Die Hermannsschlacht

Schwerpunkt seiner Seele und somit seine Autonomie und die bewegliche Grazie in der Ga- lanterie, die eben ein Spiel hätte sein sollen, wie es bei Lessing heißt: »Nichts klingt in dieser Sprache wie Alles: und Alles ist in ihr so viel als Nichts«. Thusnelda gegenüber ist Ventidius nichts als ein unbeweglicher Anbeter: »Und müßt ich so, in Anbetung gestreckt, / Zu deinen Füßen flehend liegen, / Bis das Giganten-Jahr des Platon abgerollt […] / Von diesem Platz entweichen wird ich nicht«.30 Er ist von der »Vergötterte[n]«31 durchaus besessen. Das Lied, das Thusnelda »spielt und singt«, bringt die Lage von Ventidius vortrefflich und treffend zum Ausdruck:

Ein Knabe sah den Mondenschein In eines Teiches Becken; Er faßt mit der Hand hinein, Den Schimmer einzustecken; Da trübte sich des Wassers Rand, Das glänzge Mondesbild verschwand, Und seine Hand war –32

Und seine Hand war verloren. Der galante Play-Knabe fällt aus seiner spielerischen Rolle, weil er der Vorstellung erliegt, er sei in der Lage, das Spiel in Maßen (innerhalb eines Teichbeckens) zu treiben. Thusnelda hat wohl Recht, wenn sie zu Hermann sagt: »Du wirfst dem Walfisch, wie das Sprichwort sagt, / Zum Spielen eine Tonne vor; / Doch wenn du irgend dich auf offnem Meere noch / Erhalten kannst, so bitt ich dich, / Laß es was anders, als Thusnelden, sein.«33 Freilich ist es eben die Absicht Hermanns, dem Walfisch Ventidius statt der Tonne ein offenes Meer zu gönnen, um dessen subversive Kraft herauszufordern. Ventidius fällt in die Liebe (falls in love), fällt somit ins Wasser, ins offene Meer, wo es weder Balken noch Grenzen gibt und wo seine Leidenschaft »wirklich alle Schranken niederwarf.«34 Wer die Subversivität des Spiels unterschätzt, soll daran denken, dass Ventidius einen tödlichen Einwand gegen den Argwohn des vernünftigen Varus erhebt:

VARUS. So kann ich, meinst du, dreist der Sueven Fürsten Entgegenrücken? Habe nichts von diesem [Hermann], Bleibt er in meinem Rücken, zu befürchten?

VENTIDIUS. So wenig, wiederhol ich dir, Als hier von diesem Dolch in meinem Gurt. – 35

30 Ebd., V. 581ff. u. 587. 31 Ebd., V. 558. 32 Ebd., V. 593-599. 33 Ebd., V. 614-618. 34 Ebd., V. 621. 35 Ebd., V. 1254-1258. 251 Die Herrmannsschlacht

Ventidius »treib[t] die Dreistigkeit so weit«,36 um der Lage gerecht zu werden. Die schafft, wie später gezeigt wird, die Voraussetzung für das Phantastische in diesem Stück. Die Hermanns- schlacht ist eine Schlacht gegen den Verstand. Der dritte Schritt Hermanns zielt auf die Lektion für seine Ehegattin Thusnelda ab – auf ein »human-moralische[s] Experiment[ ]«, so Hans-Dieter Loose.37 Es ist bezeichnend, dass Kleist nicht gerade wenige Zeilen dafür aufwendet, um Thusneldas moralische Kritik an Her- manns Spiel bzw. Schlacht zur Sprache zu bringen. Sie beklagt sich bei Hermann über seine Hinterlist, die ihrer Tugend widerspricht: »Gewiß, glaub mir, ich fühls, und fühls mit Schmerz, / Daß ich den Irrtum leider selbst, / Der dieses Jünglings Herz ergriff, verschuldet.«38 Sie beklagt außerdem Hermanns Vorurteil gegen die Römer: »Dich macht, ich seh, dein Römerhaß ganz blind. / Weil als dämonenartig dir / Das Ganz’ erscheint, so kannst du dir / Als sittlich nicht den Einzelnen gedenken.«39 Dies greift sie später wieder auf, als sie von seinem Vernich- tungsplan erfährt: »Mit allen Römern –? / Die Guten mit den Schlechten, rücksichtslos?«40 Sie beschimpft ihn deshalb als einen »Unmenschliche[n]«.41 Es ist aber zu fragen, ob Hermann diesen Titel überhaupt verdient. Nein. Denn es geht Hermann in der Tat nicht um ein einzelnes Volk wie die Deutschen, sondern eben um die ganze Menschheit: »Wenn sich der Barden Lied erfüllt, / Und, unter einem Königsszepter, / Jemals die ganze Menschheit sich vereint, / So läßt, daß es ein Deutscher führt, sich denken, / Ein Britt’, ein Gallier, oder wer ihr wollt«, Er führt die Schlacht gegen jenen Latier, weil »der keine andre Volksnatur verstehen kann und ehren, als nur seine.«42 Er will kämpfen, »bis die Völker sich, die diese Erd umwogen, / Noch jetzt vom Sturm der Zeit gepeitscht, / Gleich einer See, ins Gleichgewicht gestellt.«43 Im Hinblick darauf scheint Hermanns Humanität humaner zu sein als Thusneldas These. Auch dem Römer steht Hermann/Arminius an der moralischen Kompetenz nicht nach. Indem er auf Septimius’ moralische Anforderung hin fragt: »Sieh da, so wahr ich lebe! / Er hat das Buch vom Cicero gelesen. / Was müßt ich tun, sag an, nach diesem Werk?«,44 zeigt sich, dass er das Werk von Cicero ebenso gut kennt wie der tugendhafte Römer Septimius.45 In diesem Punkt weist Mark- Georg Dehrmann auf Ciceros De officiis hin, wo es heißt: »Allein dieses Lebewesen [der Mensch]

36 Ebd., V. 604. 37 Hans-Dieter Loose: Kleists „Hermannsschlacht“: kein Kreig für Hermann und seine Cherusker. Ein pa- radoxer Feldzug aus dem Geist der Utopie gegen den Geist besitzbürgerlicher und feudaler Herrschaft, Karlsruhe 1984, S. 115. Die Meinung, dass die Lektion allein auf Thusnelda gerichtet sei, möchte ich jedoch nicht teilen. 38 Die Hermannsschlacht, V. 669ff. 39 Ebd., V. 685-688. 40 Ebd., V. 1695f. 41 Ebd., V. 1700. 42 Ebd., V. 307-314. 43 Ebd., V. 316ff. 44 Ebd., V. 2208ff. 45 »[B]ei einer Hütte, / Die durch den Römerzug, in Feuer aufgegangen. / Er schüttete gerührt dem Eigner / Zwei volle Säckel Geldes aus! / Bei Gott! Der ist zum reichen Mann geworden, / Und wünscht noch oft ein gleiches Unheil sich«. (Ebd., V. 2180-2185). 252 Die Hermannsschlacht nimmt wahr, was Ordnung sei (was sich schickt – in Taten und Worten), was das rechte Maß«.46 Und genau dies entlarvt die Moral, die der Römer für sich beansprucht, als eine römische Tyrannei, weil die Römer nicht nur keine andere Volksnatur verstehen als ihre eigene, sondern auch andere Völker als nichts – nichts weniger als Menschen – betrachten und behandeln. Darüber klärt Hermann seine Ehefrau, die die römische Kultur bzw. Ordnung bereits am Leib angenommen hat,47 mithilfe eines lehrhaften Dialoges auf:

HERMANN. […] Für wen erschaffen ward die Welt, als Rom? Nimmt August nicht dem Elefanten Das Elfenbein, das Öl der Bisamkatze, Dem Panthertier das Fell, dem Wurm die Seide? Was soll der Deutsche hier zum voraus haben?

THUSNELDA sieht ihn an. Was wir zum voraus sollen –?

HERMANN. Allerdings.

THUSNELDA. Daß du verderben müßtest, mit Vernünfteln! Das sind ja Tiere, Querkopf, der du bist, Und keine Menschen!

HERMANN. Menschen! Ja, mein Thuschen, Was ist der Deutsche in der Römer Augen?

THUSNELDA. Nun, doch kein Tier, hoff ich –?

HERRMANN. Was? – Eine Bestie, Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft! Ein Tier, das, wo der Jäger es erschaut, Just einen Pfeilschuß wert, mehr nicht, Und ausgeweidet und gepelzt dann wird!48

Der römische Homo Faber dringt in das Land ein, um die germanische Natur um seiner Kultur willen zu plündern. Selbst die Haare und die Zähne der germanischen Frauen sollen für seine Modekultur in Anwendung kommen: »Die schmutzgen Haare schneiden sie sich ab, / Und hän- gen unsre trocknen um die Platte! / Die Zähne reißen sie, die schwarzen, aus, / Und stecken

46 Mark-Georg Dehrmann: »Die problematische Bestimmung des Menschen. Kleists Auseinandersetzung mit einer Denkfigur der Aufklärung im Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, im Michael Kohlhaas und der Herrmannsschlacht«, in: DVjs [2/2007], S. 193-227, hier: S. 223, Anm. 75. 47 THUSNELDA. Geschmückt bin ich, beim hohen Himmel, / Daß ich die Straßen Roms durchschreiten könnte! / […] / [Ventidius] zeigte mir am Putztisch, / Wie man, in Rom, das Haar sich ordnet [!], / Den Gürtel legt, das Kleid in Falten wirft. (Die Hermannsschlacht, V. 979f. u. 984ff.). 48 Ebd., V. 1061-1075. 253 Die Herrmannsschlacht unsre weißen in die Lücken!«49 Was Hermann hier sagt, wird bald darauf von Ventidius bestä- tigt: »Er ist ein Deutscher. / In einem Hämmling ist, der an der Tiber graset, / Mehr Lug und Trug, muß ich dir sagen, / Als in dem ganzen Volk, dem er gehört. – «50 Da der Römer den Deutschen nicht als Menschen, sondern als eine Bestie betrachtet, soll die Moral auch nur für den Menschen Römer gelten, nicht aber für die Bestie Deutscher. Stiften darf der Römer so- wohl Brand als auch Tugend; auf die »Siegerpflicht«51 wird sich nur dann berufen, wenn der Römer einmal wie Septimius erliegt, und nicht umgekehrt. Kurz: Die Moral dient dem Römer einerseits zum Differenzieren zwischen dem Ich und dem Anderen, andererseits zur Legitima- tion seiner Totalität, wie Dehrmann anmerkt: »Es erscheint nun selbst als Teil einer subtilen Kriegsstrategie der römischen Besatzer, die ihrem Feldzug durch die Behauptung eines univer- salen Wertesystems den Anschein von Legitimität zu verleihen streben. Der Humanismus Roms, so impliziert Herrmann, hat einen imperialistischen Sinn.«52 Hermann, der bis ins We- sen der sogenannten Moral blicken kann, entblößt es beim Urteil gegen Septimius: »Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube, / Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt, / Um uns zu unterdrücken?« 53 Einer solch doppelbödigen Moral gebührt »eine Keule doppelten Ge- wichts«.54 Und angesichts einer solch doppelbödigen Moral, so Hermann, »Ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!« Die Hermannsschlacht ist eine Schlacht ohne Moral.55 Da die Moral bzw. der Anspruch auf die Humanität und die praktische Vernunft nichts anderes ist als »Roms Tyrannenjoch«,56 nimmt sich »Germaniens Retter und Befreier«57 dem- entsprechend nichts Geringeres vor, als die Menschheit im Sinne der Humanität umzucodieren und somit den Menschen zum Menschen selbst, nämlich zu seiner Natur, zurückzuführen. So verweist Hermann seine Frau auf sein Geschenk – ein Diadem, das die Hoheit seiner Trägerin zeigt:

THUSNELDA. Das ist das schöne Prachtgeschenk, Das du aus Rom mir jüngsthin mitgebracht.

HERMANN. So? Der geschnittne Stein, gefaßt in Perlen? Ein Pferd war, dünkt mich, drauf?

THUSNELDA. Ein wildes, ja,

Das seinen Reiter abwirft. – Er betrachtet das Diadem.

Hermann ist gewissermaßen der Über-»Mensch« in Kleists Fabel ohne Moral, und Thusnelda das »Pferd«, das einst »das unerzogene Kind der Natur« war und jetzt die »Künste« gelernt hat, das

49 Ebd., V. 1049-1052. 50 Ebd., V. 1250-1253. 51 Ebd., V. 2207. 52 M.-G. Dehrmann (wie Anm. 45), S. 223. 53 Die Hermannsschlacht, V. 2216. 54 Ebd., V. 2219. 55 Ebd., V. 1725. 56 Ebd., V. 2192. 57 Ebd., V. 2191. 254 Die Hermannsschlacht deshalb nicht mehr wie der freie »Vogel« zur Natur, sondern nur in die »Reitbahn« gehört.58 In der Tat hat Thusnelda in ihrem Zimmer nicht nur die Künste von Ventidius gelernt, wie man sich in Rom an- und betragen soll – insbesondere wie der »Gürtel« (beiseite) gelegt und »das Kleid« in Falten (beiseite) geworfen werden,59 sondern auch in ihm einen Geliebten ken- nen gelernt. Ihre Menschenliebe ist zur Liebe zum Menschen Ventidius geworden und ihr Hu- manismus zu einem neuen Glaubensystem: »Ventidiuismus«. Selbst ihre Zofe Gertrud, die am Ende die Position mit Thusnelda tauscht, steht im Bann des Galans: »Die Närrin, die ver- wünschte, die! Sie auch / Ist in das Affenangesicht verliebt!«60 Ebenfalls beruft sich die Zofe auf die Humanität und – nicht von ungefähr – auf Childerich als den »Zwingerwärter«:61 »Ventidius, Childrich, Roms Legat, ist es! / Errett ihn, bester aller Menschenkinder«.62 Aber, je größer man die Seifenblase dehnt, desto schneller wird sie, sobald das Material – gravitati- onsbedingt – ausläuft, platzen. Die doppelbödige Moral wird sich über kurz oder lang ad ab- surdum führen. Alsdann wird nicht nur der angeblich Unschuldige zum Sünder, sondern auch der Plädierende zum Ankläger. Da reicht dann schon ein Zufall, um die Blase zum Platzen zu bringen. Ein Zufall, der der Fürstin den verräterischen Brief von Ventidius bringt, richtet all ihre Moralität und somit ihre Humanität zugrunde: »Geh, geh, ich bitte dich! Verhaßt ist alles, / Die Welt mir, du mir, ich: laß mich allein!«63 Hieraus ergibt sich eine Metamorphose: Wäh- rend Callisto in Ovids Metamorphosen wegen ihrer Verbindung mit Jupiter durch die eifersüch- tige Juno in eine Bärin verwandelt wird, projiziert sich Thusnelda, die von ihren Männern als »Juno« bezeichnet wird,64 wegen der Verbindung von Ventidius mit Livia in eine Bärin: »Er hat zur Bärin mich gemacht!«65 Was Childrich über die Bärin schildert, deckt sich mit Thus- neldas Verfassung: »Sie würde Witz, von grimmiger Art, Euch machen, / Wenns Euch gelüsten sollte, sie zu necken.«66 Bemerkenswert ist hierbei, dass sie sich nicht über das Liebesspiel von Ventidius ärgert, sondern über die Bweggründe für das Spiel, nämlich das Interesse. Es ist die Rache der Natur an der Kultur, wenn diese sich nicht damit begnügt, mit ihr ein ästhetisches Spiel ohne Interesse zu treiben, sondern vielmehr versucht, sie durch das vernünftige, »klug[e]«67 Spiel zu besitzen und sie, oder besser: einen Teil von ihr, daraufhin als Ding bzw. Ware (die »Locke«68) dingfest zu machen, was, wie die Hally-Szene zeigt, »den zweiten Tod«

58 Die Fabel ohne Moral, SWB II, S. 325. 59 Die Hermannsschlacht, V. 996. 60 Ebd., V. 2371f. 61 Ebd., V. 2391. 62 Ebd., V. 2402f. 63 Ebd., V. 1818f. 64 Hermann: »Schau, wie er göttlich dir den Kopf besorgt! / Der Kopf, beim Styx, von einer Juno!« (Ebd., V. 987f.). Ventidius: »Gib eine Locke, Abgott seiner Seelen. / Von diesem Haupthaar mir, das von der Juno Scheiteln / In üppgern Wogen nicht zur Ferse wallt!« (Ebd., V. 567ff.). Von dem letzteren wird sie außerdem bezeichnet als »Du meiner Juno süße Iris, / Die mir Elysium eröffnen soll!« (Ebd., V. 2374f.). 65 Ebd., V. 2321. 66 Ebd., V. 2344f. 67 Ebd., V. 1803. 68 »Cheruska, faß mich wohl, der Heimat jener Locken, / Wie Gold so hell und weich wie Seide, / Die dir der heitre Markt von Rom verkauft.« (Ebd., V. 1804ff.). 255 Die Herrmannsschlacht bedeutet.69 Dass Hermann seine blonde Frau von Anfang an immer wieder »Thuschen« (Tu- schen) nennt,70 scheint bereits anzudeuten, dass sie im Wesentlichen »[d]ie zottelschwarze Bä- rin von Cheruska«71 ist, was eben ihre Grazie zeigt. Angesichts der obigen Interpretation ist dem Ansatz zuzustimmen, dass die Bärin-Szene, die an der Stelle steht, »wo im Ablauf der Ereignisse die eigentliche Schlacht hätte dargestellt werden müssen«, die Hermannsschlacht »repräsentiert«.72 Aber es gilt noch einiges zu bemerken, zumal Kleists Stück nicht Thusneldaschlacht oder, wie die Schlacht in der Geschichtsschreibung heißt, Varusschlacht, sondern eben Hermannsschlacht heißt. Was diese Hermannsschlacht anbe- langt, so ist sie, wie gesagt, eine Schlacht ohne Interesse, ohne Moral und gegen den Verstand. Man kann sie deshalb der Kantischen Philosophie gemäß für eine ästhetische Schlacht halten, die allein der subjektiven Zweckmäßigkeit Hermanns dient: »Wo Hermann steht, da siegt er, / Und mithin ist Cheruska da.«73 Weder hat sie die objektive Zweckmäßigkeit nötig, noch will sie positiv begründet werden. Somit reagiert er auf Thusneldas Aussage: » – Ich weiß nicht, was ich von dir denken soll«,74 nur mit einer lapidaren Antwort: »Bei Gott, ich auch nicht.«75 Später, als sie ihn in Bezug auf seine Erzählung fragt: »Gestehs mir nur: du scherztest bloß?«,76 antwortet er:

Ja. – Mit der Wahrheit, wie ein Abderit. – Warum soll sich, von seiner Not, Der Mensch, auf muntre Art, nicht unterhalten? – Die Sach ist zehnmal schlimmer, als ichs machte, Und doch auch, wieder so betrachtet, Bei weitem nicht so schlimm. – Beruhge dich.77

Er scherzt und macht (s)einen Witz; er macht aus der Welt einen Witz und erhebt sich damit über sie. Friedrich Balke hat sich von einer anderen Richtung her dem Witz in der Hermanns- schlacht genähert und eine Verbindung von dem Witz zum Partisanenkrieg und zu Freuds The- orie hergestellt:

69 Hiermit schließe ich mich also der These von Christine Künzel an, die die Hally-Szene als »Anonymisie- rung« und »Materialisierung« des weiblichen Körpers deutet. Christine Künzel: »Gewaltsame Transformati- onen. Der versehrte weibliche Körper als Text und Zeichen in Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [2003], S. 165-183. 70 Die Hermannsschlacht, V. 504. 71 Ebd., V. 2388. 72 Peter Michelsen: »›Wehe, mein Vaterland, dir!‹ Heinrich von Kleist ›Die Hermannsschlacht‹«, in: KJb [1987], S. 115-136, hier: S. 133. 73 Die Hermannsschlacht, V. 1854f. 74 Ebd., V. 647. 75 Ebd., V. 648. 76 Ebd., V. 1094. 77 Ebd., V. 1095-1100. 256 Die Hermannsschlacht

Das Märchen ist ein Witz, insofern es Herrmann nur erzählt, um der feindlichen Tendenz, seinem Römerhaß, den er (noch) nicht öffentlich zeigen kann, ein diskursives Ventil im privaten Raum zu verschaffen und zugleich die von Freud so genannte »Anwerbung« unbeteiligter Dritter oder poli- tisch Indifferenter voranzutreiben.78

In der Tat verfolgt Hermann diese Strategie. Bezeichnenderweise lehnt er in III/2 ab, seine düstere Phantasie weder auf »Was?«79 noch auf »Wie?«80 zu wiederholen, damit der sich po- tenzierende und zu potenzierende Witz nicht zur stillen Vorschrift und zuletzt als Unwahrheit zum Stillschweigen wird, sondern sich vielmehr zum Tsunami entwickelt, der die die Römer schonende Vernunft oder das Mitleid mit ihnen zum puren Römerhass wandeln soll. (Selbst zum dringendsten Zeitpunkt lehnt er noch ab, andere über »den Plan der Schlacht« in Kenntnis zu setzen.)81 Auch die Hally-Szene stellt insofern einen Witz dar, als es um »eine Person«82 geht, über die man zunächst nichts weiß, »Wer ists? Ein Mann? Ein Weib?«83 Nur der angeb- liche Vater erkennt die verschleierte Person – seltsamerweise bloß an ihren Füßen –, nennt sie »Hally, mein Einziges [!]«84 und tötet sie/es, um sie/es in »ewige Vergessenheit«85 zu versen- ken, so dass die ganze Szene – im Gegensatz zu Lessings Emilia Galotti – so gut wie »sinnlos«86 und zu nichts als zu einer Farce wird. Die Inszenierung, sei sie von Hermann selbst oder auch nicht,87 enthält also einen Witz, der interpretiert, jedoch nicht aufgeklärt werden will. (Wozu die Aufklärung? Wozu der Positivismus?) Und eben die ambivalente Negativität bietet Her- mann die Gelegenheit, Wort zu führen und somit dem Unsinn einen Sinn zu verleihen, indem er die Person als Individuum identifiziert: »Hally? Was sagst du mir! Die junge Hally?«88 Erst danach gilt er als Anführer der Schlacht und als in der Position, erteilt seinem Volk den ersten Befehl zu erteilen: »Das hör jetzt, und erwidre nichts. – «89 Erst mithilfe des Witzes, der ein fassungsloses Vakuum innerhalb der Ordnung eröffnet, kann Hermann die alte Ordnung, in der die Römer überlegen sind, durch eine neue (An)Ordnung entsetzen und ersetzen. – Freilich eine negative, wie Caroline Pross angemerkt hat, dass in der Hermannsschlacht »eine staatliche

78 Friedrich Balke: »Der Witz des Partisanen. Kleist mit Freud«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 61-88, hier: S. 84. 79 Die Hermannsschlacht, V. 901. 80 Ebd., V. 917. 81 Ebd., V 2245. 82 Ebd., Regieanweisung vor V. 1528. 83 Ebd., V. 1548. 84 Ebd., V. 1566. 85 Ebd., V. 1574. 86 Lawrence Ryan: »Die ›vaterländische Umkehr‹ in der ›Hermannsschlacht‹«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 188-212, hier: S. 203. 87 Es sei also darauf hingewiesen: »Die letzte Aussage Hermanns vor der »Tat« lautete, gemeinsam mit Egin- hardt »heimlich durch die Gassen schleichen« zu wollen, jetzt sagt Hermann, er komme »aus [d]em Zelte« und wisse von nichts.« Michael Neumann: »›Und sehn, ob uns der Zufall etwas beut‹. Kleists Kasuistik der Ermächtigung im Drama ›Die Hermannsschlacht‹«, in: KJb [2006], S. 137-156, hier: S. 142. 88 Die Hermannsschlacht, V. 1588. 89 Ebd., V. 1607. 257 Die Herrmannsschlacht

Ordnung in Auflösung begriffen ist, eine neue dagegen noch nicht begonnen hat.«90 Gewiss, Hermann spielt weniger eine »Bonum-durch-malum-Figur«91 als eine Positiv-durch-negativ-Fi- gur. Wie Eva Horn konstatiert, ist seine Freiheit »rein negativ«.92 Dies wird vor allem in der Szene deutlich, als Hermann Aristan enthaupten lässt, um ihn zu lehren, wo Deutschland liegt: Deutschland soll nicht durch den Kopf begriffen werden, damit man Deutschland nicht durch eine »Denkart«93 erfasst und somit »in die Enge«94 eines Begriffs treibt, sondern das Deutsch- land ist ein ästhetisches, transzendentales Deutschland, wie Hermann sagt: »Wir bauen uns ein schönres auf.«95 Am Prinzip der Negativität hält Herman fest, wie er schon zu Beginn ankündigt, dass er es nicht darauf absieht, »irgend was [zu] erringen«,96 sondern »alles zu verlieren.«97 Er resigniert, will dennoch einen Triumph. Auch, dass er im Zweikampf mit Fust innehält und Marbod die Krone zukommen lässt, gehört zu seinem Prinzip der progressiven Resignation. (Fust ist sich sogar nicht einmal sicher darüber, ob er Hermann wirklich getroffen hat.)98 Er ist weder re- volutionär noch reaktionär, will weder Ruhm gewinnen, noch »die Krone sonst, zur Zeit der grauen Väter, / Bei [s]einem Stamme rühmlich war«,99 auf sich zurückfallen lassen. Er erhebt keinen Anspruch auf die Macht, noch weniger auf die Totalität, die ihn mit einem Reich oder einem Thron verbinden könnte. Hierdurch hält er sich seine Autonomie und somit seine gra- ziöse Beweglichkeit, gleich wem er auch immer gegenüberstehen mag, – »wie ein Reisender«.100 In seinem Doppelleben als Amphibion ist Hermann bzw. Arminius in der Lage, »wie ein Cha- mäleon sein Erscheinungsbild« zu wandeln.101 So kann er, um mit Varus zu sagen, »blondes Haar und blaue Augen haben, / Und doch so falsch sein, wie ein Punier«.102 Dennoch werden ihm sowohl der Ruhm als auch die Macht zuteil. Dies klingt zwar paradox, verwundert aber seit dem Käthchen von Heilbronn nicht. Gewissermaßen ist Hermann das männliche Käthchen, was auch im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte naheliegt. Wie Käthchen dank ihrer progressiven Resignation einen Cherub zur Hilfe ruft und damit dem Stück das Phantastische verleiht, hat auch Hermann seinen Sieg dem Phantastischen zu verdanken, weil er seine Schlacht ebenso resignativ dem Schicksal anvertraut. Als Luigar, sein

90 Caroline Pross: »Verschobene Anfänge. Bruch und Begründung in Kleists ›Hermannsschlacht‹, Arnims ›Die Vertreibung der Spanier‹ und Brentanos ›Viktoria und ihre Geschwister‹«, in: KJb [2003], S. 150-164, hier: 161. 91 Michael Neumann (wie Anm. 87), S. 149. 92 E. Horn (wie Anm. 11), S. 76. 93 Die Hermannsschlacht, V. 2611. 94 Ebd., V. 2612. 95 Ebd., V. 2565. 96 Ebd., V. 264. 97 Ebd., V. 267. 98 Ebd., V. 2514. 99 Ebd., V. 2582f. 100 Ebd., V. 1656. 101 Gesa von Essen: »Römer und Germanen im Spiel der Masken. Heinrich von Kleists ›Hermannsschlacht‹«, KJb [1999], S. 41-52, hier: S. 49. 102 Die Hermannsschlacht, V. 2097. 258 Die Hermannsschlacht

Bote, ihm gegenüber die Sorge äußert: »Die Möglichkeit, daß mich ein Unfall träf, erschreckt mich. / Laß uns, in keinem Stück, der Gunst des Glücks vertraun«,103 antwortet er folgender- maßen: »Wer wollte die gewaltgen Götter / Also versuchen?! / […] / Du gehst allein; und triffst du mit der Botschaft / Zu spät bei Marbod, oder gar nicht, ein: / Seis! Mein Geschick ists, das ich tragen werden.«104 Von daher ist es verständlich, dass der germanische D-Day »[a]n dem Alraunentag, […], / (Also am Tag vor unserm Nornentag)«, liegt. Kurz: Das germanische Schicksal (Nornen) setzt eine Alraune voraus, die dann in V/4 in Gestalt eines Weibes auftritt und das Römerheer in den Tod führt. Um das angeblich übernatürliche Phänomen zu diskutieren, muss man sich zuerst im Klaren darüber sein, dass sich das Römerheer durch seine Ordnung auszeichnet, wie sich unter einer »Kohorte, der gegliederten«105 etymologisch ein eingeschlossener Haufe oder ein umfriedeter Raum verstehen lässt – eine Einheit also, die die andere Volksnatur sowohl zur eigenen Le- benserhaltung als auch zur eigenen Totalitätserhaltung bekämpft und beherrscht. Nicht zuletzt tragen die Liktoren von Varus »des Gesetzes heilges Richtbeil«,106 (das übrigens an die grie- chische »Vernunft keilförmig«107 in Penthesilea erinnert.) Das Römerheer ist also eine Inkarna- tion der Vernunft. Und die Vernunft ist auf dem »Kriegspanier«108 durch die Gestalt eines Adlers symbolisiert: »Sein Anblick hält / Die Scharen in der Nacht des Kampfs zusammen«109 und »führet sie den Pfad des Siegs«.110 Es wäre auch nicht übertrieben, wenn man den Kriegs- zug der Römer mit dem der Aufklärung gleichsetzte. Hermann gegenüber kann solch ein Heer allerdings keineswegs im Vorteil sein, weil, wie gesagt, Hermanns Schlacht eben eine Schlacht der Anti-Vernunft ist. So lässt Hermann das Römerheer in einer schwarzen Nacht – »Daß durch den Mantel doch, den sturmzerrißnen / Der Nacht, der um die Köpf uns hängt, / Ein einzges Sternbild schimmernd niederblinkte!«111 – in den Sumpf führen: »Wir können keinen Schritt fortan, / In diesem feuchten Mordgrund, weiter rücken! / Es ist so zäh, wie Vogelleim geworden.«112 Das Römerheer endet absolut orientierungs- und fassungslos in einem Sumpf bzw. in einer Sumpfsituation. Gefangen in den »toten Elemente[n]«,113 kann ihm auch sein Kriegspanier, der scharfblickende Adler, wie »die Eul am Tage«114 nicht helfen. Hinzu kommt, dass das letzte Mittel zur Orientierung, nämlich die Sprache und ihre Unterscheidungsfunktion, versagt:

103 Ebd., V. 846f. 104 Ebd., V. 854-861. 105 Ebd., V. 289. 106 Ebd., V. 1244. 107 Penthesilea, V. 233. 108 Die Hermannsschlacht, V. 1283. 109 Ebd., V. 1286f. 110 Ebd., V. 1288. 111 Ebd., V. 1884ff. 112 Ebd., V. 1891ff. 113 Ebd., V. 1617. 114 Ebd., V. 1889. 259 Die Herrmannsschlacht

Pfiffikon! Iphikon! – Was das, beim Jupiter! Für eine Sprache ist! Als schlüg ein Stecken An einen alten, rostzerfreßnen Helm! Ein Greulsystem von Worten, nicht geschickt, Zwei solche Ding, wie Tag und Nacht, Durch einen eignen Laut zu unterscheiden. Ich glaub, ein Tauber wars, der das Geheul erfunden, Und an den Mäulern sehen sie sichs ab.115

Während der Römer die germanische Sprache noch vernünftigerweise vom System her zu be- greifen versucht, wirkt sich die ambivalente Sprache verhängnisvoll auf ihn und sein Heer aus, so wie die schwarze Nacht und der ausweglose Sumpf. Die Nacht, der Sumpf und die Sprache: Es sind drei Elemente einer ambivalenten Situation, die jeweils von einem römischen Feldherrn genannt werden. Und gerade in solch einer Situation tritt die Alraune auf und gilt als der letzte Halt, an dem sich das Römerheer orientieren könnte:

VARUS. Auf diesem Weg, den ich im Irrtum griff, Stammütterchen Cheruskas, sag mir an, Wo komm ich her? Wo bin ich? Wohin wandr’ ich?116

Abgesehen von der Alraune im Mythos verleiht der Auftritt der Alraune dem Stück deshalb das Phantastische, weil sie einerseits aus dem Nichts zu kommen scheint und wieder ins Nichts »verschwindet«,117 was außer Varus niemand sonst bemerkt hat:

VARUS. Sieh da!

ERSTER FELDHERR. Beim Jupiter, dem Gott der Welt!

ZWEITER FELDHERR. Was war das?

VARUS. Wo?

ZWEITER FELDHERR. Hier, wo der Pfad sich kreuzet!

VARUS. Saht ihr es auch, das sinnverrückte Weib?

ERSTER FELDHERR. Das Weib?

ZWEITER FELDHERR. Ob wirs gesehn?

VARUS. Nicht? – Was wars sonst?

115 Ebd., V. 1897-1904. 116 Ebd., V. 1949ff. 117 Ebd., Nebentext nach V. 1982. 260 Die Hermannsschlacht

Der Schein des Monds, der durch die Stämme fällt?118

Andererseits wird sofort eine Wendung konzipiert, die die weibliche Alraune allenfalls als »[e]ine Hexe« ohne Hexerei erscheinen lässt: »Halt’ sie fest! / Da schimmert die Laterne noch!«119 Ob die cheruskische Alraune eine Alraune oder eine Menschenfrau ist oder ob die Phantasie, die in solch einer verwirrenden Situation an die Stelle der dysfunktionalen Vernunft tritt und aus der Laterne eine weibliche Figur macht, Varus bloß etwas vorgaukelt, bleibt im Ungewissen. Aber das ist gleichgültig. Denn die Antworten auf die drei Fragen von Varus sind ebenso fatal wie die Situation an sich, sie bereiten dem verwirrten Quintilius Varus nichts als den Tod: »Aus Nichts, Quintilius Varus!«,120 »Ins Nichts, Quintilius Varus!«121 und »Zwei Schritt vom Grab, Quintilius Varus, / Hart zwischen Nichts und Nichts!«122 Als das vierte Element der ambivalenten Situation beraubt ihn die phantastische Alraune seiner letzten Be- weglichkeit und lässt ihn fallen: »Laßt, laßt! / Sie hat des Lebens Fittisch mir / Mit ihrer Zunge scharfem Stahl gelähmt!«123 Auch mit der Vernunft kann man in der Situation als solcher nicht auskommen. Varus fällt, weil er der Vernunft so vertraut, dass er seine der Wahrheit nahekommende Ahnung unterdrückt. Erst als die Vernunft von der Stimme der Alraune durchaus zugrunde gerichtet ist, findet er sich wieder und beginnt zu glauben, statt zu analysieren: »Was soll dies alte Herz fortan nicht glauben? / […] / Beim Styx! Ich glaubt es noch; ich habs, schon vor drei Tagen / Als ich den Lippstrom überschifft, geahnt!«124 Dass ihn sein Feldherr mit dem unver- nünftigen Geständnis »des unrömerhaften Worts« bezichtigt,125 macht umso deutlicher, wie sehr die römische Kultur auf der Vernunft beruht. Eben darum erliegt das Römerheer in Her- manns ambivalenter Schlacht dem Feind:

Da sinkt die große Weltherrschaft von Rom Vor eines Wilden Witz zusammen, Und kommt, die Wahrheit zu gestehn, Mir wie ein dummer Streich der Knaben vor! Rom, wenn, gebläht von Glück, du mit drei Würfen doch, Nicht neunzehn Augen werfen wolltest!126

118 Ebd., V. 1983-1987. 119 Ebd., V. 1988f. 120 Ebd., V. 1957. 121 Ebd., V. 1964. 122 Ebd., V. 1978f. 123 Ebd., V. 1989ff. 124 Ebd., V. 2014 u. 2020f. 125 Ebd., V. 2022. 126 Ebd., V. 2464-2469. 261 Die Herrmannsschlacht

Wenn die ausgrenzende und zugleich von sich selbst begrenzte Vernunft außerhalb ihres Wir- kungsbereiches dennoch Anspruch auf Totalität erhebt, muss sie damit rechnen, dass das üb- rige Auge nicht von ihr beherrschbar ist. Die römische Kultur, die in die Natur zu fahren wagt und diese zu beherrschen wähnt, wird zuletzt von ihrer elementaren Kraft zermalmt: »Zer- schellt ward nun das ganze Römerheer, / Gleich einem Schiff, gewiegt in Klippen, / Und nur die Scheitern hülflos irren / Noch, auf dem Ozean des Siegs, umher!«127 Dasselbe Motiv fin- det sich bekanntlich auch bei Schopenhauer und bei Nietzsche. Was hilft es, wenn man sich in der Nacht auf Apollo beruft? Hermanns Lektion richtet sich nicht nur an sein Volk, sondern auch ex negativo an die Römer. Was das Ende des Stückes, nämlich den Appell Hermanns an die Deutschen, betrifft, so ist hierbei bemerkenswert, dass die Hermannsschlacht sich von einem defensiven Krieg zu einem Eroberungskrieg und somit zur Grenzübertretung wandelt. Es geht um die Hoffnung, die Welt von der Hegemonie der Vernunft zu befreien und somit vor der Dialektik der Aufklärung zu retten: »Denn eh doch, seh ich ein, erschwingt der Kreis der Welt / Vor dieser Mordbrut keine Ruhe, / Als bis das Raubnest ganz zerstört, / Und nichts, als eine schwarze Fahne, / Von seinem öden Trümmerhaufen weht!«128 Die Frage ist: Wie kann der Mensch auf die Vernunft verzichten und sich stattdessen (statt des Kriegspuniers mit dem Vernunft-Adler) mit einer schwarzen Fahne, auf der so gut wie nichts steht, versehen? Er ist ja der Homo sapiens, der der Vernunft seinen Namen verdankt. Insofern bleibt die Ein-Richtung der Welt zerbrechlich und die Hermannsschlacht ein hoffnungsloses Unterfangen. Wohl deshalb beendet Kleist das Stück hier abrupt, um Hermann vor der Dialektik zu bewahren: Der historische Hermann wurde nach der Schlacht im Teutoburger Wald wieder im germanischen Stammeskrieg gegen Marbod zerrieben, an dem die Römer ihren Anteil hatten, und letztendlich ermordet – um der Macht willen.

127 Ebd., V. 2455-2458. 128 Ebd., V. 2632-2636. 262 Prinz Friedrich von Homburg

VI.8. Prinz Friedrich von Homburg Ein Schauspiel

Prinz Friedrich von Homburg lässt sich gewissermaßen als ein männliches Käthchen ansehen, genauer gesagt, mit ihm wird dargestellt, was dem Käthchen von Heilbronn nach der Hochzeit, nämlich, nachdem es in die gesellschaftliche Ordnung integriert worden wäre, hätte widerfah- ren können. Seine Welt bzw. die Welt des gleichnamigen Schauspiels beginnt mit der Nacht, wo der Prinz »mit bloßem Haupt und offner Brust, halb wachend halb schlafend«1 seinen Traum und seinen Kranz umwendet. Es geht um einen Zustand, in dem der Schwerpunkt seiner Seele sich in sich selbst befindet und der somit seine Grazie zeigt, mit deren Hilfe er sich somnambul zwischen Schlaf und Alltag bewegt und sich eines vollkommenen Sowohl- als-Auch erfreut.2 Das entblößte Haupt und die offene Brust zeigen nicht zuletzt, dass sein Geist und Gefühl sich mit der Natur verbinden, ohne von der eignen und der kollektiven Ver- nunft, die sich übrigens sowohl in der militärischen Uniform als auch im militärischen Befehl mit der Zeitangabe3 manifestiert, eingeschränkt zu werden. In diesem Zustand ist der Prinz in der Lage, sich von der alltäglichen Wirrnis, nämlich vom »atemlos[en]«4 Krieg gegen die Schwe- den, zu erholen. Die Nacht unter der Eiche ist für den Prinzen wie die Nacht unter dem Ho- lunderbusch für das Käthchen. Noch bevor der »Strahl des Morgens«5 wie Wetter von Strahl Einzug hält, rückt schon das gesamte preußische Machtzentrum um den Kurfürsten herum an. »Mit Fackeln wird und Lich- tern und Laternen«6 der somnambule Prinz betrachtet und – aus der Sicht derer, die als Ord- ner dessen außer-ordentlichen Zustand zu begreifen versuchen – diagnostiziert. Der Begründer der modernen Psychiatrie Johann Christian Reil hat 1803 in einem anderen Kontext in seiner Abhandlung Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen ge- schrieben: »Die Vernunft ist das Gegengift des Aberglaubens; ihre Fackel erstickt die Geburten der Nacht.«7 Indem der Graf Hohenzollern den Schein der Fackel auf den Prinzen richtet,

1 Prinz Friedrich von Homburg, Regieanweisung zum ersten Auftritt. 2 Das Sowohl-als-Auch bzw. das Weder-Noch im Gegensatz zum Entweder-Oder ist der Grundton meiner ganzen Dissertation, nicht ohne zuerst in deren theoretischen Teil entwickelt zu werden. Hierdurch unter- scheidet sich die Anwendung der Begriffe bei mir von der bei Erika Fischer-Lichte: »Für den Prinzen von Homburg scheint der Zustand des „betwixt and between“ in besonderer Weise charakteristisch zu sein. Noch ehe der Kurfürst am Ende von I, 1 die Trennung vollzieht und ihn in das „Nichts“ zurückweist, befindet sich der Prinz offensichtlich in einem liminalen Zustand des Sowohl-als-auch bzw. des Weder-noch: Träumer und Held, schlafend und wachend, Mann und Mädchen.« Dies.: »Mißlingende Inkorporation? – Zur rituellen Struktur des Prinz Friedrich von Homburg«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 151-164, hier: S. 155f. 3 »Befehl ward ihm von dir, hier länger nicht, / Als nur drei Füttrungsstunden zu verweilen«, ebd., V. 6f. 4 Prinz Friedrich von Homburg, V. 4. 5 Ebd., V. 16. 6 Ebd., V. 24. 7 Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüt- tungen, Halle 1803, S. 343. 263 Prinz Friedrich von Homburg beginnt man über den »Nachtwandler«8 zu vernünfteln, ohne jedoch wie Käthchens Vater Theobald auf eine üppige abergläubische Auslegung zu kommen. So meint die Kurfürstin: »Der junge Mann ist krank, so wahr ich lebe.«9 Und Prinzessin Natalie stimmt ihr zu: »Er braucht des Arztes –!«10 Hohenzollern widerspricht den Damen: »Er ist gesund, ihr mitleids- vollen Frauen, / […] / Es ist nichts weiter, glaubt mir auf mein Wort, / Als eine bloße Unart seines Geistes.«11 Nur der Kurfürst, der sich mit dem »Unmöglich[en]«12 konfrontiert sieht, was seiner Meinung nach »Märchen«13 zugehörig ist, lässt seine Vernunft nicht so leichtsinnig in die Phantasie umschlagen, sondern will »näher ihn [den Prinzen] einmal betrachten.«14 Es scheint, als ob der Kurfürst ein echter Aufklärer wäre, der sich nicht mit einer ambivalenten Erklärung begnügt und sich deshalb einem Gegenstand in der Methode der empirischen See- lenkunde nähert. Dabei weiß er sehr wohl, beim Umgang mit diesem Fremdling unter einer deutschen Eiche in seinem »Garten im altfranzösischen Stil«15 wie mit dem »Lorbeer«16 in »[s]einem märkschen Sand«17 Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Denn, während sowohl der altfranzösische Garten als auch der märkische Sand auf den Verstand und die Vernunft refe- rieren,18 wirkt der Fremdling nicht nur fremd, sondern auch unberechenbar. Obwohl der Kur- fürst zuversichtlich sagt, »Bei Gott! Ich muß doch sehn, wie weit ers treibt«,19 muss er sich sodann zurückhalten, als die Reaktion seines Namenvetters die Grenzen zu weit überdehnt. Er zieht sich »rückwärts ausweichend«20 ins Schloss zurück, um sich und die eigene Familie sowie die von ihm auf jeder Ebene beherrschte Ordnung gegen den unkontrollierten Kerl zu schützen und die Gefahr ins Nicht zurückzubannen: »Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, / Ins Nichts, ins Nichts! In dem Gefild der Schlacht / Sehn wir, wenns dir gefällig ist, uns wieder! / Im Traum erringt man solche Dinge nicht!«.21 Übermittelt wird nach- her, man solle dem Prinzen »kein Wort, […], von dem Scherz entdecken, / Den er sich eben jetzt mit ihm erlaubt!«22 – damit der Witz nicht in seinem märkischen Geltungsbereich heran- wächst, und etwa aus dem Spiel noch Ernst werde.

8 Prinz Friedrich von Homburg, V. 24. 9 Ebd., V. 32. 10 Ebd., V. 33. 11 Ebd., V. 35-39. 12 Ebd., V. 30. 13 Ebd., V. 40. 14 Ebd., V. 41. 15 Ebd., Szenedarstellung zum ersten Akt. 16 Ebd., V. 47. 17 Ebd., V. 50. 18 Der französische Garten als Ausbund der Vernunft gehört seit je her zur literarischen Topologie: der mär- kische Sand findet sich mehrfach in früheren Briefen Kleists und bezieht sich auf den faden Verstand, wie etwa: »Die Reise ging durch die Mark – – also gibt es davon nichts Interessantes zu erzählen.« (Brief an Wilhelmine von Zenge vom 30. August 1800, SWB II, S. 535), und: »Das Weite des platten Landes hingegen wirkt mehr auf den Verstand.« (Brief an Wilhelmine von Zenge vom 3. September 1800, SWB II, S. 541). 19 Ebd., V. 64. 20 Ebd., Nebentext vor V. 68. 21 Ebd., V. 74-77. 22 Ebd., V. 83f. 264 Prinz Friedrich von Homburg

Allerdings ist der Scherz für den Prinzen durchaus Ernst geworden. Indem der Kurfürst als Inkarnation der Ordnung in des Prinzen Traum interveniert – »Der Kurfürst nimmt ihm den Kranz aus der Hand; […]. Der Kurfürst schlingt seine Halskette um den Kranz und gibt ihn der Prinzessin«23 –, rückt die pure Traumwelt mit der Totalität in eine Schwellensituation und verlagert sich der Schwerpunkt, man denke an das Beispiel im Marionettentheater, in die ausge- streckten Arme: »Der Kurfürst weicht mit der Prinzessin, welche den Kranz erhebt, zurück; der Prinz mit ausgestreckten Armen, folgt ihr.«24 Im Hinblick darauf hat Hans-Jakob Wilhelm, ebenfalls in Bezug auf Johann Christian Reil, von der »Zeichensetzung« als »Curmethode« ge- sprochen.25 So wenig der Kurfürst als Therapeut dient (er ist allenfalls ein Experimentator), vermag er doch den Prinzen, wie Uffe Hansen anmerkt, vom »natürlichen Somnambulismus« in den »leichteren somnambulen Zustand« zu versetzen und ihm »la volonté de son magnéti- seur« einzuprägen, die das spätere Handeln des Prinzen manipuliert.26 Die Halskette des Kur- fürsten stellt eine Fessel der irdischen Ordnung dar, die sich wie eine Schlange um den überir- dischen, »aus Sonnen« gewundenen »Siegeskranz«27 schlingt. Das Zeichen impliziert außer- dem, indem der Kranz an Natalie weitergereicht wird, die Sexualität, zu der der Prinz deshalb eine hohe Affinität hat, weil sein natürlicher Somnambulismus ursprünglich gerade von der Sexualität veranlasst wurde:

[…] Es war, du weißt, vor Hitze, Im Bette gestern fast nicht auszuhalten. Ich schlich erschöpft in diesen Garten mich, Und weil die Nacht so lieblich mich umfing, Mit blondem Haar, von Wohlgeruch ganz triefend Ach! wie den Bräutgam eine Perserbraut [!], So legt ich hier in ihren Schoß mich nieder.28

Durch den Eingriff des Kurfürsten hat sich jedoch die Qualität der Sexualität verändert: Indem der Kurfürst einen universal-unendlichen Kranz zu der preußisch-endlichen Fesselkette dekla- riert, macht er die natürlich-unendliche Sexualität zur kulturell-endlichen Ehe (NICHT Liebe!), die erst durch die Billigung des Ordnungsgebers möglich ist. Dieses Endliche führt dann den unendlich-»unbewusst[en]«29 Prinzen zu einem endlichen Halbbewusstsein, was sich darin ma- nifestiert, dass seine Erinnerung nur bis dahin zurückreicht, wo in seinem Traum »[d]er ganze

23 Ebd., Nebentext vor V. 65. 24 Ebd. 25 Hans-Jakob Wilhelm: »Der Magnetismus und die Metaphysik des Krieges: Kleists Prinz Friedrich von Homburg«, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Frei- burg i. B. 1994, S. 86-105, hier: S. 91-94. 26 Uffe Hansen: »Prinz Friedrich von Homburg und die Anthropologie des animalischen Magnetismus«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [2006], S. 47-79, hier: S. 58ff. 27 Prinz Friedrich von Homburg, V. 58. 28 Ebd., V. 117-123. 29 Ebd., V. 115. 265 Prinz Friedrich von Homburg

Reigen zu mir niedersteige, / Der Menschen, die mein Busen liebt: / Der Kurfürst und die Fürstin und die – dritte, / – Wie heißt sie schon?«30 Er vermag also weder daran zu erinnern, sich selbst einen Kranz gewunden zu haben, noch daran, Natalie im Traum beim Namen, und zwar als seine »Braut«,31 gerufen zu haben. Kurz: Er hat seine Autonomie verloren. Abgesehen davon, ob Kleist die Gedächtnisstörung, die beim Erwachen aus dem Somnambulismus auf- treten kann, in seinem Drama verarbeitet oder nicht, wird an der Amnesie des Prinzen vor allem ersichtlich, dass die kurfürstliche Schlange, die sich beim Eingriff um seine Seele schlingt, ihn derart bestimmt, dass er nur noch an den Kurfürsten, eine Figur »mit der Stirn des Zeus«,32 denken, sich auf ihn richten und sich an ihm orientieren kann. Und nur diese Orientierung gilt, wie der Prinz in Hinsicht auf seine Amnesie sagt: »Der Nam ist mir, seit ich erwacht, entfallen, / Und gilt zu dem Verständnis hier gleichviel.«33 Zum Verständnis bedarf die Vernunft nur des Fassbaren. Sieht man »die Perle / Nicht vor dem Ring, der sie in Fassung hält«,34 dann soll man sie dahingestellt sein lassen. Das Experiment ist dem Kurfürsten insofern gelungen, als es darauf abzielt, den Prinzen, der ihm [!] schon »[z]wei Siege jüngst verscherzt« hat,35 durch eine Art kategorischen Imperativ zu disziplinieren und in den Kriegsplan einzubinden, und somit mit ihm ein Vorbild für Preußen zu schaffen: einen Prinz Friedrich von Homburg, der nicht nur den äußeren Feind, sondern auch den inneren Feind (»den Trotz, den Übermut«36) ausgemerzt haben wird. Diese Statue soll seinem stabilen Status (zugleich im etymologischen Sinne »Staat«) zugrunde liegen. Ein Fremdkörper, der dem Kurfürsten auch im Traum nicht eingefallen ist, verhindert diese Integration. Gemeint ist hiermit der Handschuh, der sowohl zum Traum als auch zur Realität gehört und deshalb sowohl den Traum als auch die Realität stört. Die Wirkungen sind reziprok: a) Für den Träumenden deutet der Handschuh zwar vorwärts auf die Realität hin, die dem Traum eine nachhaltige Geltung als Schlüsseltraum garantiert. Aber in Hinsicht auf die »süße[ ] Traumgestalt«37 ist die Realität mit dem Traum nicht deckungsgleich. Hierdurch ergibt sich eine Leerstelle zwischen Traumwelt und Realität. b) Für den Erwachten bezieht sich der Hand- schuh rückwärtsgewandt auf die süße Traumgestalt, die nur im Traum verbleibt und ihm somit einen individuellen, also vom Kurfürsten unabhängigen Trauminhalt erhält. So besehen bringt der Handschuh die folgenschwere Ambivalenz hervor, die den Prinzen verwirrt.38 Hieraus

30 Ebd., V. 144-147. 31 Ebd., V. 65. 32 Ebd., V. 158. 33 Ebd., V. 155f. 34 Ebd., V. 151f. 35 Ebd., V. 350. 36 »Was kann der Sieg euch, meine Brüder, gelten, / Der eine, dürftige, den ich vielleicht / Dem Wrangel noch entreiße, dem Triumph / Vergliechen, / über den verderblichsten / Der Feind’ in uns, den Trotz, den Übermut, / Errungen glorreich morgen? […]« (Ebd., V 1753-1758). 37 Ebd., V. 189. 38 Anders merkt Valentine C. Hubbs an, indem sie die Amnesie in Zweifel zieht und somit die Ambiguität hervorhebt: »Was ist im Innern des Prinzen während der Pause des Gedankenstrichs vor sich gegangen? Hat 266 Prinz Friedrich von Homburg geht zudem das Phantastische hervor: der Prinz weiß nicht, ob die Traumgestalt eine reale oder eine übernatürliche Figur ist, ob sie also »[d]ie Platen. Wirklich. Oder die Ramin«39 oder die Fortuna ist, die eben die Tochter von Jupiter/Zeus ist und der Ikonographie entsprechend seinen Kranz als das Rad des Schicksals in der Hand hält.40 Nicht zuletzt bietet die offene Identität der Traumgestalt im Hinblick auf den Handschuh eine Möglichkeit zur Interpretation: Dies »ermöglicht Kontext- und Kombinationsbildungen, die horizontal-linear angeordnet sind und mehrere unterschiedliche, eventuell auch gegensätzliche Interpretatenbildungen nebenei- nander erlauben. Diese Verwörtlichung ist deutlich ein Metonymisierungsvorgang«.41 Kleist stellt diese Störung virtuos heraus, indem er die raffinierte Diktat-Szene des General- stabes, die sich an und für sich schon mit den überstürzten der Reisevorbereitungen der pri- mären Familie vermischt, an diese Episode anschließt: »Pagen kommen und servieren den Da- men ein Frühstück. – Feldmarschall Dörfling diktiert. – Der Prinz von Homburg, Stift und Tafel in der Hand, fixiert die Damen.«42 Die Verwirrung potenziert sich bis dahin, dass das Diktieren, das eine Eins-zu-eins-Kopie sein soll, sich allmählich zur Stichomythie wandelt, d. h. in Stücke gerissen wird:

FELDMARSCHALL. Habt ihr?

Er fährt fort. Die Schweden in den Sumpf zu jagen suchen, Der hinter ihrem rechten Flügel liegt.

EIN HEIDUCK tritt auf. Der Wagen, gnädge Frau, ist vorgefahren.

Die Damen stehen auf.

FELDMARSCHALL. Der Prinz von Homburg –

DER KURFÜRST erhebt sich gleichfalls. – Ist Ramin bereit?

DER HEIDUCK. Er harrt zu Pferd schon unten am Portal.

Die Herrschaften nehmen Abschied von einander.

GRAF TRUCHSS schreibt. Der hinter ihrem rechten Flügel liegt.

FELDMARSCHALL. Der Prinz von Homburg – Wo ist der Prinz von Homburg?

GRAF VON HOHENZOLLERN heimlich. Arthur! [!]

er sich, als er vor sich hinträumte, des Namens entsonnen – Wenn er ihn vorher wirklich nicht wußte?« Dies.: »Die Ambiguität in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [1981/82], S. 184-194, hier: S. 192. 39 Prinz Friedrich von Homburg, V. 167. 40 Das ikonographische »Rad in der Hand« bietet eine Ergänzung zu Axel Dunkers Abhandlung: »›Der Him- mel hab’ ein Zeichen ihm gegeben‹ Das System ›Fortuna‹ in Heinrich von Kleists ›Prinz Friedrich von Hom- burg‹«, in: KJb [2007], S. 236-253. 41 Dagmer Ottmann: »„Das stumme Zeichen“ Zum dramatischen Requisit in Kleists Prinz Friedrich von Homburg«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 249-276, hier: S. 260. 42 Prinz Friedrich von Homburg, Nebentext vor V. 248. 267 Prinz Friedrich von Homburg

DER PRINZ VON HOMBURG fährt zusammen. Hier!

HOHENZOLLERN. Bist du bei Sinnen?

DER PRINZ VON HOMBURG Was befiehlt mein Marschall?

Er errötet, stellt sich mit Stift und Pergament und schreibt.43

Es ist schon schwierig an sich, bei einer konfusen Befehlsausgabe als solcher seine Sinne bei- sammen zu haben. Noch schwieriger ist es jedoch für den Prinzen, der sich im Anblick von Natalie wohl halb-bewusst an seinen Traum erinnert. Ja, er ist bei Sinnen, nur seine Sinne sind nicht ganz auf den Feldmarschall gerichtet. Wie zuvor schon in einem Zwischenstadium zwi- schen Traumwelt und Realität, ist er nun wieder dazwischen: nämlich zwischen dem Feldmar- schall und der Prinzessin, zwischen der (preußischen) Kollektive und dem (oranischen) Indi- viduum, zwischen der Heteronomie und der Autonomie, zwischen der toten Vorschrift und der lebendigen Selbsterzählung und zwischen dem genannten Namen Arthur und dem ersten Namen Friedrich, der nicht zuletzt auch der Name des Souveräns Friedrich Wilhelm ist. So hat der Prinz recht, wenn er später anmerkt: »Zerstreut – geteilt; ich weiß nicht, was mir fehlte, / Diktieren in die Feder macht mich irr. – «44 Die Verwirrung wird zudem durch die Ambivalenz potenziert, die als Relikt des Traumes in der Realität latent vorhanden ist und nun durch die Anwesenheit der Prinzessin aktiviert wird. Es handelt sich erneut um einen typischen status nascendi, der das Experiment des Kurfürsten, das auf den stabilen Status des Prinzen abzielt, durchaus zerstört. Als dem Prinzen endlich bestätigt wird, dass der Handschuh in Wirklichkeit der Prinzessin Natalie gehört, pendelt sein seelischer Schwerpunkt sofort vom ambivalenten Zustand zu einer neuen Fassung, indem er Natalie mit der Fortuna – et vice versa – identifiziert und hierdurch verklärt. Dadurch, dass seine zwei Seelen an der Fortuna Natalie, für die es keine Grenze zwi- schen Realität und Traumwelt gibt, geeinigt werden, leidet der Prinz nicht mehr unter der Selbst-Entzweiung zwischen Tag und Nacht und auch nicht mehr unter dem Widerspruch zwischen Kollektiv und Individuum. Er fühlt sich durch die überirdische Gunst geheilt und auf einen höheren Standpunkt versetzt – den höheren Standpunkt über allen irdischen Wider- sprüchen und somit über der dramatischen Welt, deren »Ganze[s] […], wenn es denn ein Gan- zes ist, sich im Großen und Kleinen aus Widersprüchen zusammensetzt, Widersprüchen auf allen Ebenen, von der informierenden Oberfläche bis in alle Höhen und Tiefen.«45 Hinzu kommt, dass das Diktieren des Kriegsplans in Bezug auf die Rolle des Prinzen gerade auf den Punkt kommt: »Dann wird er die Fanfare blasen lassen.«46 Diese Koinzidenz flößt ihm eine

43 Ebd., V. 263-272. 44 Ebd., V. 420f. 45 Helmut Arntzen: »›Prinz Friedrich von Homburg‹ – Drama der Bewußtseinsstufen«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 213-237, hier: S. 214. 46 Prinz Friedrich von Homburg, V. 313. 268 Prinz Friedrich von Homburg triumphale Antizipation ein, wie man – man verzeihe mir bitte den anachronischen Vergleich – ein neues Programm im Computer installiert. Dies stellt Kleist folgendermaßen dar:

DER PRINZ VON HOMBURG steht, einen Augenblick, wie vom Blitz getroffen

da; dann wendet er sich mit triumphierenden Schritten wieder in den Kreis

der Offiziere zurück. Dann wird er die Fanfare blasen lassen!

Er tut, als ob er schriebe.47

Er schreibt ja, schreibt aber weder der Vorschrift nach noch auf die Tafel, sondern schreibt seine eigene Geschichte mit der eigenen Logik. Die Fanfare, die er nun antizipierend anspricht, ist nicht diejenige, die der Feldmarschall meinte. Damit nimmt er seine Revolution in Angriff, die die Fortuna scheinbar begünstigt, wie er in der ersten Hälfte seines ersten Monologs sagt: »Nun denn, auf deiner Kugel, Ungeheures, / Du, der der Windeshauch den Schleier heut, / Gleich einem Segel lüftet, roll heran! / Du hast mir, Glück, die Locken schon gestreift: / Ein Pfand schon warst du, im Vorüberschweben, / Aus deinem Füllhorn lächelnd mir herab«.48 Mit solch einer Zuversicht glaubt er, nicht nur über die widersinnige Ordnung triumphiert zu haben, sondern vielmehr, dass ihm dieses Verhalten als Souverän zusteht. In diesem Augen- blick ist er nicht der genannte (und fiktive) Arthur, sondern der Friedrich, der sich nicht nur auf den historischen Friedrich II. von Hessen-Homburg bezieht, sondern auch mehr oder weniger, zumal die Geschichte mit dem preußischen Kronprinzenprozess Ähnlichkeit hat,49 auf Friedrich II. von Preußen – auf dieser Ebene geht es schon um eine Usurpation, in dem sich der Prinz von Homburg von einer Figur in Oeuvres de Fréderic II roi de Prusse50 zum Verfasser selbst wandelt, was nicht ohne Folge bleibt – und nicht zuletzt auch für den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. So hat Walter Hinderer in seiner Abhandlung im Kapitel mit dem Titel »Die beiden Vettern Friedrich« herausgestellt, »daß die Regieanweisung bei beiden Friedrichs [dem Prinzen und dem Kurfürsten] körpersprachliche Gestik im Hinblick auf Natalie paralle- lisiert.«51 Der Prinz maßt sich an, das Zeichen Friedrich umzucodieren. Mit dieser neuen Fas- sung, aus der ein neues System entstehen kann, tritt er als neugeborener Rex Borussiae in den

47 Ebd., V. 322. 48 Ebd., V. 355-360. 49 Vgl. Joachim Bumke: »Der inszenierte Tod. Anmerkungen zu ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [2011], S. 91-109, hier: S. 100-103. 50 Vgl. SWB I, S. 947. 51 Walter Hinderer: »Prinz Friedrich von Homburg. ›Zweideutige Vorfälle‹«, in: Interpretationen. Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 144-185, hier: S. 163. 269 Prinz Friedrich von Homburg

Kreis der Offiziere zurück52 und erklärt sich später tatsächlich zum »Vollstrecker solchen letz- ten Willens [des Kurfürsten]«,53 als er die Nachricht, der Kurfürst sei auf dem Feld geblieben, erhalten hat. Ja, sogar dem größten Widerspruch in der Welt gegenüber, dass der Held im Krieg sich paradoxerweise den Kopf verwirken soll, stellt sich der Prinz zuversichtlich gegenüber, weil er sich schon als den König der Könige sieht, wobei sein Prädikat »Prinz« sich nicht nur auf seine irdische Identität als Sohn des Landgrafen Friedrich I. von Hessen-Homburg, son- dern vielmehr auf die Identität als Sohn Gottes hindeutet:

HOHENZOLLERN. Nun denn, bei Gott! [!] – Der Umstand rührt dich nicht?

DER PRINZ VON HOMBURG. Mich? Nicht im mindesten.

HOHENZOLLERN. Du Rasender! Und worauf stützt sich deine Sicherheit?

DER PRINZ VON HOMBURG. Auf mein Gefühl von ihm!

Er steht auf. Ich bitte, laß mich! Was soll ich mich mit falschen Zweifeln quälen?54

Die Apostrophe »von ihm!« richtet sich also ambivalenterweise auch auf Gott, wie es der Aus- ruf »bei Gott!« schon typisch kleistisch andeutet. Dies findet sich auch in III, 4, wo die Kur- fürstin ihn zufälligerweise als Gott apostrophiert:

DIE HOFDAME. Prinz Homburg, gnädge Frau, ist vor der Türe! – Kaum weiß ich wahrlich, ob ich recht gesehn?

KURFÜRSTIN betroffen. O Gott!

NATALIE. Er selbst?55

In diesem Sinne ist auch die folgende Äußerung des Prinzen, als ihn der Kurfürst gefangen nehmen lässt:

DER PRINZ VON HOMBURG nachdem er sich den Degen abgeschnallt.

52 Wenn man die Anspielung auf Jesus Christus als Überinterpretation wertet, so bedenke man, dass Kleist sich in keiner Weise davor zurückschrecken lässt, das Image Christi in sein Drama und ab und zu in weibliche Figuren einzuarbeiten, wie ich in den vorigen Kapiteln ausgeführt habe. Auch Marcel Krings ist der Ansicht: »So hat Kleist in seinem letzten Drama eine Passionsgeschichte geschrieben, die transzendentaler und natio- naler Bemühung analog ist und erwägt, ob das Leben und Sterben des Erlösers beiden fruchtbar zu machen wäre. Das Geschehen variiert die biblische Vorlage und konzentriert sich auf die zwei Tage vor der Kreuzi- gung.« Ders.: »Der Typus des Erlösers Heilsgeschehen in Kleists Prinz von Homburg«, in: DVjs [1/2005], S. 64-95, hier: S. 85. 53 Prinz Friedrich von Homburg, V. 586. 54 Ebd., V. 865-869. 55 Ebd., V. 958ff. 270 Prinz Friedrich von Homburg

Mein Vetter Friedrich will den Brutus spielen, Und sieht, mit Kreid auf Leinewand verzeichnet, Sich schon auf dem kurulschen Stuhle sitzen: Die schwedschen Fahnen in dem Vordergrund, Und auf dem Tisch die märkschen Kriegsartikel. Bei Gott, in mir nicht findet er den Sohn, Der, unterm Beil des Henkers, ihn bewundre. Ein deutsches Herz, von altem Schrot und Korn, Bin ich gewohnt an Edelmut und Liebe, Und wenn er mir, in diesem Augenblick, Wie die Antike starr entgegenkömmt, Tut er mir leid, und ich muß ihn bedauern!56

Wer dem lebendigen, einheitlichen Gott (A und O) gehört, kann nicht von der starren Antike (A) wie von Brutus oder Pilatus getötet werden. Auch das »deutsche Herz« bezieht sich auf eine Einheit voll Liebe (denn Gott ist Liebe!), die sich vom belehnten Kurfürstentum unter- scheidet und somit bis hin zur Heilsgeschichte auf die Mythologie bezieht.57 Es ist eindeutig, dass der Prinz hier, nämlich in der ersten Phase seiner Geschichte, als Erlöser dargestellt wird und sich auch selbst so darstellt. Und diesem überirdischen Image entsprechend lehnt er sich nicht nur gegen die irdische Herrschaft des Kurfürsten auf, sondern auch dagegen, dass der Kurfürst ihn wie einen jungen, unkontrollierten Hengst kastrieren will, dessen Potenz als »die raison d’être« eine potenzielle Gefahr für das rigorose Land als »die raison d’état« gilt.58 (Wohl deshalb schreibt Kleist den historischen Prinz Friedrich II. von Hessen-Homburg, der zum Zeitpunkt der Schlacht bei Fehrbelling schon 42 Jahre alt war, in den jungen Prinzen um.) Er schnallt sich selbst auf autonome Weise den phallischen Degen ab, aber keineswegs im Sinne der Selbstkastration, sondern als eine Art Reliquie, auf der sich eine neue Kirche aufbauen lässt. Der Prinz ist ja der General der Reuterei und in diesem Sinne als Hengst der Hengste zu betrachten. Bezeichnenderweise ist er es, der seinen kultivierten Hengsten die natürliche Po- tenz wieder verschafft. Es geht um den Obristen Kottwitz, der unter seiner gespaltenen Iden- tität leidet: »Ja, auf dem Roß fühl ich voll Jugend mich; / Doch sitz ich ab, da hebt ein Strauß

56 Ebd., V. 777-788. 57 Ein anderes Beispiel für die Ineinssetzung von Deutschland und »Gottes Reich« bietet Kleists politische Schrift Katechismus der Deutschen, wo nicht nur vom Krieg gegen Napoleon, sondern vielmehr »Von Deutschland überhaupt« als Vater-Land die Rede ist. SWB II, S. 350-360. 58 In seiner Abhandlung bezeichnet Hans-Georg Werner den Prinzen als Repräsentation der »raison d’être des ruhm-, liebe- und glückssüchtigen, aus dem unverstellten Gefühl des Augenblicks heraus handelnden Menschen.« Der Kurfürst verkörpert hingegen »die raison d’état.« Ders.: »Geschichtlichkeit in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [1992], S. 81-94, hier: 84f. Meiner Meinung nach ist es treffender, wenn man die raison d’être bis auf die Potenz, sei es die weibliche oder die männliche, als den primitivsten Willen der Lebenserhaltung zürückführt. 271 Prinz Friedrich von Homburg sich an, / Als ob sich Leib und Seele kämpfend trennten!«59 Unter der preußischen Herrschaft verliert er an seiner eigenen Beweglichkeit, indem ihm der Feldmarschall tyrannisch mit einem Übertakt derart überfordert, dass er sich gespalten fühlt: »Zum Henker, nein! Was denkt die Exzellenz? / Bin ich ein Pfeil, ein Vogel, ein Gedanke, / Daß er mich durch das ganze Schlacht- feld sprengt? / Ich war beim Vortrab, auf den Hackelhöhn, / Und [!] in dem Hackelgrund, beim Hintertrab«.60 Kein Zufall also, dass er der erste ist, der dem subversiven Befehl des Prinzen wie sein Jünger folgt. Nicht zuletzt steht er in seiner Veranlagung dem Prinzen ziemlich nah, weil er auch in der Lage ist, in seiner ästhetischen Sichtweise eine andere Ordnung außer- halb des sich nähernden Krieges wahrzunehmen, was entsprechend wie ein kleiner Monolog außerhalb des kriegerischen Kontextes klingt: »Ein schöner Tag, so wahr ich Leben atme! / Ein Tag von Gott, dem hohen Herrn der Welt, / Gemacht zu süßerm Ding als sich zu schlagen! / Die Sonne schimmert rötlich durch die Wolken, / Und die Gefühle flattern, mit der Lerche, / Zum heitern Duft des Himmels jubelnd auf! – «61 Dies nimmt sich fast wie ein Glaube aus, wie Dorothea von Mücke, die den Monolog als Zeichen einer »transzendente[n] Teleologie« betrachtet, dahingehend anmerkt: »Gott als der Schöpfer dieses besonderen schönen Morgens ist hier allerdings kein christlicher Gott, sondern allein Platzhalter und Garant einer radikal anderen, an sich unbestimmten und die konkrete Tagesordnung transzendierenden Ord- nung.«62 Nun übt der Prinz als solch ein Gott Einfluss auf ihn aus, indem er den empfind- lichsten Punkt seiner Seele präzise trifft: »Auf Ord’r! Ei, Kottwitz! Reitest du so langsam? / Hast du sie noch vom Herzen nicht empfangen?«63 Als Folge dessen wandelt sich des Obristen subjektive Zweckmäßigkeit, die der objektiven Ordnung zuliebe in Kot und Witz zu zerlegen ist, gleichsam zur objektiven Zweckmäßigkeit um, so dass er ein neues, einheitliches Leben als Kottwitz erhält und seine völlige Beweglichkeit gewinnt, wie Natalie ihn später bezeichnet als »Der wunderliche Herr! Bald kühn, bald zaghaft!«,64 nicht zuletzt wie Feldmarschall seine Ak- tivität als »Rebellion« vorwirft.65 Hier ist erneut augenfällig, dass Kottwitz den Prinzen als »Herr« anredet: »Oho! Kömmst du mir so, mein junger Herr? – / Den Gaul, den du daher- sprengst, schlepp ich noch / Im Notfall an dem Schwanz des meinen fort! / Marsch, marsch, ihr Herrn! Trompeter, die Fanfare! / Zum Kampf! Zum Kampf! Der Kottwitz ist dabei!«66 – »Ich folge Dir!«67 Ja, die Fanfare. Hiermit gewinnt der junge Herr nicht nur seine ersten Jünger, sondern beginnt auch seine Predigt. Der junge Herr verkündet dann seine »Zehn märkischen

59 Prinz Friedrich von Homburg, S. 371ff. 60 Ebd., V. 391-395. Und die Antwort darauf lautet: »Das wird sehr leid ihm tun. Es schien, er hatte / Dir von Belang noch etwas zu vertraun.« (Ebd., V. 398f.). 61 Ebd., V. 384-389. 62 Dorothea von Mücke: »›Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel‹ oder die Ästhetik der Verklärung«, in: KJb [2002], S. 70-93, hier: S. 78. 63 Prinz Friedrich von Homburg, V. 474f. 64 Ebd., V. 1264. 65 Ebd., V. 1428. 66 Ebd., V. 478-482. 67 Ebd., V. 496. 272 Prinz Friedrich von Homburg

Gebote«,68 wie Marcel Krings anmerkt: »In Anspielung auf die Bergpredigt, in der Jesus den alttestamentlichen Dekalog des Vaters modifizierend überbietet, deutet auch Homburg die „zehn märkischen Gebote“ neu.«69 Genauer besehen beziehen sich die zehn Gebote des Prin- zen eigentlich nicht mehr auf die Mark (marcha), sondern auf das Mark (marg), das Innerste, das der Ursprung dieser Revolution ist. Die Revolution scheint in dem Augenblick zu gelingen, als der angebliche Augenzeuge Mör- ner berichtet: »Der Kurfürst ist nicht mehr!«70 Wie er erzählt, in diesem Augenblick erreicht die Grazie des Prinzen ihren Höhenpunkt, dass er gleichsam fliegen kann und wie ein bären- starker Berserker antigravitativ tanzend kämpft: »Dem Bären gleich, von Wut gespornt und Rache, / Bricht er mit uns auf die Verschanzung los: / Der Graben wird, der Erdwall, der sie deckt, / Im Anlauf überflogen, die Besatzung / Geworfen, auf das Feld zerstreut, vernichtet, / Kanonen, Fahnen, Pauken und Standarten, / Der Schweden ganzes Kriegsgepäck, erbeu- tet«.71 Auch Natalie, sein Heiligtum, antwortet auf seinen Heiratsantrag: »Wenn ich ins innre Mark ihr [seiner Brust] wachsen darf?«72 Mit diesem neuen »Bund«73 wäre der Prinz zum Sou- verän des Marks geworden, der die Mark Brandenburg zum Brandenburger Mark umwandelt und einen neuen Generationsbaum pflanzt, wäre der Bericht nicht Lügen gestraft worden. Sobald der Prinz laut zu Gott betet: »Vater, segne uns!«,74 stürmt der zweite Berichterstatter herbei und sagt: »Mein Prinz, kaum wag ich, beim lebendgen Gott, / Welch ein Gerücht sich ausstreut, Euch zu melden! / – Der Kurfürst lebt!«75 Bald darauf kommt schon der zweite Augenzeuge, der den ersten Bericht anhand der Froben-Anekdote dementiert. Eben das, was durch die Medien bekannt gemacht wird, mediatisiert den Prinzen Friedrich vom Mark zum Prinzen Arthur in der Mark. Die Froben-Anekdote übt ihre supplementäre Funktion ziemlich gut aus, wie Christian Moser konstatiert: »Sie supplementiert die ›Wahrheit‹ geschichtlicher Größe, wo das verwirrende Spiel der Ereignisse und der Einbruch von Kontingenzen die his- torische Persönlichkeit ins Zwielicht geraten lassen.«76 Desavouiert wird also die Geschichte des Prinzen; gestützt wird hingegen nicht nur die Geschichte des Großen Kurfürsten, sondern auch die Friedrichs II. von Preußen, der »sich in seiner narrativen Gestaltung der Ereignisse darum bemüht, die Verantwortung für den siegreichen Ausgang der Schlacht allein seinem Vorfahren zuzuerkennen«.77 Auf jeder Ebene gewinnt dieser Friedrich II. seinen Thron zu-

68 Ebd., V. 487. 69 M. Krings (wie Anm. 50), S. 87. 70 Prinz Friedrich von Homburg, V. 518. 71 Ebd., V. 552-558. 72 Ebd., V. 606. 73 Ebd., V. 610. 74 Ebd., V. 611. 75 Ebd., V. 612ff. 76 Christian Moser: »Die supplementäre Wahrheit des Anekdotischen. Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹ und die europäische Tradition anekdotischer Geschichtsschreibung«, in: KJb [2006], S. 23-44, hier: S. 34. 77 Ebd., S. 33. 273 Prinz Friedrich von Homburg rück, während der Prinz, der zuvor als Held der Schlacht galt und somit eine brillante Ge- schichte für Preußen zu schreiben schien, wiederum als eine seiner Figuren entlarvt wird. Nicht zuletzt wird der Usurpationsversuch des Prinzen von Frobens Opfer als Substitution des Todes des sich im Krieg ebenso unvernünftig verhaltenden Kurfürsten vorweggenommen und somit annulliert, wie Hans Jürgen Scheuer in seiner sehr interessanten Abhandlung in Hinsicht auf die Pferde- bzw. Farbenwechsel über die Dreiecksbeziehung zwischen den drei F. – dem Kur- fürsten Friedrich Wilhelm (Schimmel → Fuchs), Stallmeister Froben (Fuchs → Schimmel) und dem Prinzen Friedrich Arthur (Rappe → Goldfuchs = Schimmel + Fuchs) – anmerkt.78 Wäh- rend der eine »Friedrich lebt«,79 kann der andere nicht nur nicht Friedrich heißen, sondern muss auch sterben. Man denke an die zweite Hälfte des ersten Monologs des Prinzen: »Heut, Kind der Götter, such ich, flüchtiges, / Ich hasche dich im Feld der Schlacht und stürze / Ganz deinen Segen mir zu Füßen um: Wärst du auch siebenfach, mit Eisenketten, / Am schwedschen Siegeswagen festgebungen!«80 Hier handelt es sich weniger um seine Hybris nach oben, sondern um seinen Fall nach unten: Statt auf ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß zu warten, möchte er selbst das Glück erkämpfen und darüber verfügen, so dass er nicht mehr graziös, nicht mehr mithilfe der traumhaft ästhetischen Sichtweise mit dem Glück umgehen kann – Es geht ihm jetzt um Interesse; und er verspricht sich. Deswegen muss er an der objektiven Welt- ordnung, in der der Kurfürst herrscht, scheitern und wieder in die weltliche Dialektik geraten. Kein Zufall also, dass er gerade in der Nacht auf den Tag der Schlacht schon mit seinem Pferd fällt.81 In diesem Punkt steht der Prinz dem Käthchen keineswegs nahe, wie Arthur Henkel anmerkt:

Auch daß das Verhältnis der spendenden Fortuna zum Empfangenden umgekehrt ist, die gewalt- samen Bilder des entrissenen Füllhorns und der Eisenketten, sind verräterisch. […] So ergibt die Analyse der Exposition, daß Kleist seinem Prinzen nicht etwa wie seinem Käthchen von Heilbronn die gegen alles Versehen gefeite Traumsicherheit verlieh. Er ist zwar auch nicht eigentlich schuldig – aber der Dichter läßt ihn doch in einen halben Sündenfall des Bewußtseins gleiten.82

Aus der objektiven Sicht, die nun wieder dominiert, wird die subjektive Vision des Prinzen zur Phantasie degradiert, die dann aufzuklären ist. So sagt die Kurfürstin performativ, nachdem sie aus der Ohnmacht erwacht ist: »O Gott, wie herrlich klärt sich alles auf? sie steht auf.«83 Jetzt tritt die Geschichte in eine neue Phase der Dialektik ein, nämlich die Phase der Aufklärung, in der

78 Hans Jürgen Scheuer: »Pferdewechsel – Farbenwechsel. Zur Transformation des adligen Selbstbildes in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [2003], S. 23-45, vor allem S. 34-39. 79 Prinz Friedrich von Homburg, V. 622. 80 Ebd., V. 361-365. 81 Ebd., V. 378f. 82 Arthur Henkel: »Traum und Gesetz in Kleists ›Prinz von Homburg‹«, in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967, S. 576-604, hier: S. 587. 83 Prinz Friedrich von Homburg, V. 695. 274 Prinz Friedrich von Homburg die Vernunft Anspruch auf ihre Totalität erhebt. Der erste Punkt der Tagesordnung heißt, die unvernünftige, unmündige, unberechenbare, unkontrollierbare Gefahr, die der »eigenmäch- tig[e]«84 Prinz alle in einem inkarniert, zu beseitigen. Zwar hat der Prinz den Sieg erkämpft, so Kurfürst, »Doch wär er [der Sieg] zehnmal größer, das entschuldigt / Den nicht, durch den der Zufall mir ihn schenkt: / Mehr Schlacht noch, als die, hab ich zu kämpfen, / Und will, daß dem Gesetz Gehorsam sei.«85 Dementsprechend beraubt der Kurfürst des Prinzen das auto- nome Recht zur Erzählung bzw. Wortführung, indem er einerseits die ihm dargebotenen Sie- gestrophäen aus dem Heer des Königs Karl als die Fahne »aus König Gustav Adolfs Zeiten«86 bezeichnet, andererseits dem Prinzen jede Gelegenheit zum direkten Dialog verbietet, wie der Rittermeister Golz fordert: »Prinz, gib den Degen, rat ich, hin und schweig!«87 Der Prinz darf nur als ein auf die raison d'état hin definierter Name, »als des Siegers Namen«,88 existieren, als ein vom anderen kodiertes Zeichen, jedoch nicht als ein lebendiger Sieger mit einer Stimme. Wie gesagt, die Disziplinierungsmaßnahme und die Festnahme schaden dem Prinzen zu- nächst nicht. Erst als er darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass der Kurfürst Natalie, sein Hei- ligtum, als Pfand um des Friedens willen nach Schweden verheiraten will, droht seine eigene Welt zusammenzubrechen: »O Freund! Hilf, rette mich! Ich bin verloren.«89 So wird er orien- tierungs- und fassungslos, und zwar dermaßen, dass es nicht einmal eines Gefängnisses bedarf, um ihn gefangen zu setzen: »Mein Prinz, mir übergeben bist du nicht. / Die Order, die man mir erteilt hat, lautet, / Dich gehen zu lassen frei, wohin du willst.«90 Wohin vermag er sonst zu gehen, als hier zu bleiben? Denn ohne die Orientierung, der er sich zuvor versprochen hat, vermag er nur noch verloren zu gehen, wenn er gehen will. »Dein Wort ist eine Fessel auch.«91 Durch sein Wort, seinen Monolog, in dem er sich versprochen hat, hat er sich in eine Welt katapultiert, die jetzt auf das Gefängnis zwischen vier Wänden reduziert ist. Während die Geschichte in eine neue Phase übergeht, tritt der Prinz von seiner revolutio- nären Phase in die reaktionäre. Der Prinz ist so vergleichbar mit einem fassungslosen Zombie, der dorthin geht, wie man es ihm anweist. Graf Hohenzollern von der Suite des Kurfürsten weist ihn auf die Kurfürstin hin, folgelich geht er zur Kurfürstin. Dies bringt die Prinzessin dahingehend zum Ausdruck:

Verstört und schüchtern, heimlich, ganz unwürdig, Ein unerfreulich, jammernswürdger Anblick! Zu solchem Elend, glaubt ich, sänke keiner, Den die Geschicht als ihren Helden preist.

84 Ebd., V. 718. 85 Ebd., V. 731-734. 86 Ebd., V. 756. 87 Ebd., V. 766. 88 Ebd., V. 811. 89 Ebd., V. 931. 90 Ebd., V. 943ff. 91 Ebd., V. 947. 275 Prinz Friedrich von Homburg

Schau her, ein Weib bin ich, und schaudere Dem Wurm zurück, der meiner Ferse naht: Doch so zermalmt, so fasslungslos [!], so ganz Unheldenmütig träfe mich der Tod, in eines scheußlichen Leun Gestalt nicht an! – Ach, was ist Menschengröße, Menschenruhm!92

Als ein Untoter passiert er sein Grab, das ihn erneut ermahnt: entweder gehorsam wie Untoter oder mausetot wie Nichts. Die Todesangst löst seinen instinktiven Willen zur Lebenserhaltung ab und führt ihn zum Verzicht auf das vernünftig Erhabene, somit ist er doch ein vernunftloser Zombie: »Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben, / Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!«93 Was sich seit seiner Revolution linear entwickelte und immer etwas Neues hervorbrachte, kehrt jetzt reaktionär zur alten, zyklischen Ordnung zurück: »Ich will auf meine Güter gehen an Rhein, / Da will ich bauen, will ich niederreißen, / Daß mir der Schweiß herabtrieft, säen, ernten, / Als wärs für Weib und Kind, allein genießen, / Und, wenn ich erntete, von neuem säen, / Und in den Kreis herum das Leben jagen, / Bis es am Abend niedersinkt und stirbt.«94 Dementsprechend ist seine eigene Geschichte hier beendet, wie Cor- nelia Zumbusch treffend anmerkt: »Das Leben, das Homburg hier ›jagen‹ will, assoziiert sich mit der zyklischen Zeit der Natur, die in sich kreist und nicht, wie die Zeit der Geschichte, zu Ruhm und Ehre fortschreitet«.95 Der Prinz hat nichts mehr zu erzählen, als seine neue Le- bensfassung, die er im zweiten Monolog zum Ausdruck bringt:

Das Leben nennt der Derwisch eine Reise Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter. Ich will auf halbem Weg mich niederlassen! Wer heut sein Haupt noch auf der Schulter trägt, Hängt es schon morgen zitternd auf den Leib, Und übermorgen liegts bei seiner Ferse.96

Sich der bloßen Tatsache seiner bevorstehenden Hinrichtung bewusst werdend, nimmt er nun nichts mehr als Leben in Anspruch, und zwar ein Leben ohne jede Autonomie. Er »entperso- nalisiert« sich:97 Er will am Leben hängen, wie sein »Hut an der Wand«;98 er will sich zwischen

92 Ebd., V. 1165-1174. 93 Ebd., V. 1003f. 94 Ebd., V. 1030-1036. 95 Cornelia Zumbusch: »›nichts, als leben‹. Affektpolitik und Tragödie in ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2001, S. 270-289, hier: S. 280. 96 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1286-1292. 97 Jochen Schmidt: »Stoisches Ethos in Brandenburg-Preußen«, in: KJb [1993], S. 89-102, hier: S. 95. 98 Prinz Friedrich von Homburg, Regieanweisung des IV, 3. 276 Prinz Friedrich von Homburg

Leben und Tod einrichten, wie ein Untoter ohne Ruhe in Frieden. Demgemäß vermag er weder an das Jenseits als Todesüberwindung zu denken noch die Welt nach dem Tode in der ästheti- schen Sichtweise zu phantasieren:

Zwar, eine Sonne, sagt man [!], scheint dort auch, Und über buntre Felder noch, als hier: Ich glaubs; nur schade, daß das Auge modert, Das diese Herrlichkeit erblicken soll.99

Ist dies der erste Schritt der Initiationsreise, die zuerst zur Mutter »im Motiv des „regressus ad uterum“« führt, damit der Adoleszent durch den Reifeprozess – wie die Verpuppung der In- sektenlarve – aus seiner Unmündigkeit in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden kann?100 Ich fürchte die Antwort ist nein. Zwar befindet sich der Prinz gleichsam im entomo- logischen Verpuppungsstadium, aber es geht um einen Degenerationsprozess, in dem der Ado- leszent zuerst zum Kind, zum Pupil, dann zur Puppe wird. Demgemäß bittet der Prinz die Kurfürstin zuerst darum, sich seiner nicht nur als Schwiegersohn, sondern als leiblichen Sohn anzunehmen: »Dir übergab zu Homburg, als sie starb, / Die Hedwig mich, und sprach, die Jugendfreundin: / Sei ihm die Mutter, wenn ich nicht mehr bin. / Du beugtest tief gerührt, am Bette knieend, / Auf ihre Hand dich und erwidertest: / Er soll mir sein, als hätt ich ihn erzeugt. / Nun, jetzt erinn’re ich dich an solch ein Wort!«101 Um als leiblicher Sohn zu sein, vergisst er auch nicht zu deklarieren: »Ich gebe jeden Anspruch auf an Glück. / Nataliens, das vergiß nicht, ihm [dem Kurfürsten] zu melden, / Begehr ich gar nicht mehr, in meinem Busen / Ist alle Zärtlichkeit für sie verlöscht.«102 Daraufhin erteilt die Kurfürstin ihren ersten Befehl: »Wohlan! Kehr jetzt nur heim in dein Gefängnis, / Das ist die erste Fordrung meiner Gunst!«103 Eine Puppe gehört ins Puppenhaus. Dies ist nichts anderes als die Entlarvung der Aufklärung, die in Wirklichkeit (oder in Wahrheit) der Ausgang lediglich des Herrschers aus seiner Unmün- digkeit sein darf, aber nicht der der Untertanen. Sieht man doch die Reifung des Kurfürsten, indem er das rationale Gesetz statt seiner bis hierher emotionalen Willkür lernt: »Mein süßes Kind! Sieh! wär ich ein Tyrann / Dein Wort, das fühl ich lebhaft, hätte mir / Das Herz schon in der erznen Brust geschmelzt. / Dich aber frag ich selbst: darf ich den Spruch / Den das Gericht gefällt, wohl unterdrücken? – Was würde wohl davon die Folge sein?«104

99 Ebd., V. 1293-1296. 100 Alexander von Bormann: »Kleists Prinz Friedrich von Homburg – Drama der Adoleszenz«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Chris- tine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 277-302, hier: S. 299. 101 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1010-1016. 102 Ebd., V. 1022-1025. 103 Ebd., V. 1037f. 104 Ebd., V. 1112-1117. 277 Prinz Friedrich von Homburg

Wenn man diesen Lernprozess außerhalb der Szene nicht miteinbezieht, dürfte man den Kurfürsten als »die andere rätselhafte Person – vielleicht die rätselhaftere«105 betrachten, die zuvor noch das Vor-Urteil, also das Urteil vor dem des Kriegsgerichtes, fällte106 und keinerlei Rechtfertigung, auch nicht in Form eines Verhörs, zuließ, jetzt aber meint: »Da müßt ich noch den Prinzen erst befragen, / Den Willkür nicht, wie dir bekannt sein wird, / Gefangen nahm und nicht befreien kann. – «107 Ob er während des Gedankenstriches an seine frühere Willkür und Unvernunft dächte, muss dahingestellt bleiben. Immerhin ist an ihm eine Veränderung erkennbar: Er ist nun willens, das Gespräch mit den anderen auf eine durchaus aufklärerische Weise zu führen: Mit Natalie über Gesetz und Liebe, mit Kottwitz über begnadbare Entschei- dungen des Prinzen und mit Hohenzollern über seine »vorsätzliche Schuldlosigkeit«108 – je- weils eine argumentative Auseinandersetzung. Vor allem aber bietet er dem Prinzen eine Ge- legenheit zur Selbstrechtfertigung:

»Mein Prinz von Homburg, als ich Euch gefangen setzte, Um Eures Angriffs, allzufrüh vollbracht, Da glaubt ich nichts, als meine Pflicht zu tun; Auf Euren eignen Beifall rechnet ich. Meint Ihr, ein Unrecht sei Euch widerfahren, So bitt ich, sagts mir mit zwei Worten – Und gleich den Degen schick ich Euch zurück.«109

Dies zielt in der Tat nicht auf die Freilassung, sondern vielmehr darauf, dass der Prinz der aufklärerischen Konzeption gemäß sein Urteil akzeptiert, damit »ein konsensorientiertes Recht gegenüber einem nur machtorientierten Recht«110 in Kraft tritt und die mit dem Gesetzesstaat bekleidete Herrschaft noch legitimiert scheint. Die Frage, ob ihm ein Unrecht widerfahren sei, lässt sich nur mit nein beantworten, weil das »Mein Prinz« hier weniger zur floskelhaften Wen- dung als zur Deklaration gereicht: »Ihr seid mein. ›Meine Pflicht‹ ist also auch Eure Pflicht – Meinetwegen.« Mit der ambivalenten Anrede setzt ein ambivalentes Spiel ein, dessen Regel allein für den Ordnungsgeber steht. Gesetz, dass der Prinz antwortete: »Ja, es ist ein Unrecht

105 So hat Max Kommerell früher den Kurfürsten beschrieben. Ders.: »Die Sprache und das Unaussprechli- che. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist«, in: Interpretationen 2. Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1965, S. 181-222, hier: S. 190. 106 »Wers immer war, der sie zur Schlacht geführt, / Ich wiederhols, hat seinen Kopf verwirkt, / Und vor ein Kriegsrecht hiemit lad ich ihn. / – Folgt, meine Freunde, in die Kirche mir!« (Prinz Friedrich von Homburg, V. 735-738). 107 Ebd., V. 1469ff. 108 Vgl. Remigius Bunia: »Vorsätzliche Schuldlosigkeit – Begnadete Entscheidungen. Rechtsdogmatik und juristische Willenszurechnung in ›Der Prinz von Homburg‹ und ›Die Marquise von O…‹«, in: KJb [2004], S. 42-61. 109 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1307-1313. 110 Klaus Lüderssen: »Recht als Verständigung unter Gleichen in Kleists ›Prinz von Homburg‹ – Ein aristo- kratisches oder ein demokratisches Prinzip?«, in: KJb [1985], S. 56-83, hier: S. 78. 278 Prinz Friedrich von Homburg gewesen«, könnte er allenfalls seinen Degen zurückerhalten, welcher ohnehin von ihm freiwil- lig abgegeben wurde; das Leben jedoch, auf das er unwilligen Verzicht leisten muss, hat der Kurfürst nicht versprochen. Kurz: Gleichviel, wie der Prinz sich entscheindet, der Kurfürst würde dieses politische Spiel gewinnen. Der Kurfürst könnte gewinnen, wenn er dem Prinzen von Angesicht zu Angesicht gegen- übersteht und ein direktes Gespräch mit ihm wie mit den anderen führt, um von ihm eine sofortige Antwort zu erzwingen. Dass seine Worte aber als Zeichen schwarz auf weiß gesandt sind, bietet dem Prinzen eine Möglichkeit zu einer neuen Lesart, die die Intention des Kur- fürsten unterhöhlt. Wie er in IV, 4 am Tisch verfährt, ist durchaus dem ähnlich, was wir als Literaturwissenschaftler in unserer Arbeit machen. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass er dar- über brütet, wie er den Text (auf-)fassen soll, und wie er seine Interpretation in Worte (ab-)fas- sen soll:

Der Prinz schreibt. – Pause.

DER PRINZ VON HOMBURG indem er den Brief, den er angefangen hat, zer-

reißt und unter den Tisch wirft. Ein dummer Anfang.

Er nimmt ein anderes Blatt.

NATALIE hebt den Brief auf. Wie? Was sagtet Ihr? – Mein Gott, das ist ja gut; das ist vortrefflich! DER PRINZ VON HOMBURG in den Bart. Pah! – Eines Schuftes Fassung, keines Prinzen. – Ich denk mir eine andre Wendung aus.

Pause. – Er greift nach des Kurfürsten Brief, den die Prinzessin in der Hand hält. Was sagt er eigentlich im Briefe denn?111

Die besagte Ähnlichkeit manifestiert sich auch darin, dass ihm der Kurfürst nun gleichsam wie gestorben wäre, damit er nicht mehr sein ist, sondern eine eigene Autonomie verwenden darf: »Er handle, wie er darf; / Mir ziemts hier zu verfahren, wie ich soll!«112 Das ist die Auferste- hung des (Un-)Toten. (Man erinnere sich an Roland Barthes’ Formulierung: »Die Geburt des Lesers muss mit dem Tod des ›Autors‹ bezahlt werden.«)113 Erst jetzt ist es dem Prinzen ge- lungen, die Macht des Kurfürsten zu usurpieren; erst jetzt ist ihm die Revolution gelungen, aber nicht im realistischen Sinne wie zuvor, sondern im ästhetischen. Und erst jetzt gewinnt er die wahre Autonomie: Er braucht kein Heiligtum mehr, was sich in seiner Auseinandersetzung mit Natalie zeigt. Um seine ästhetische Sichtweise vor der realistischen zu schützen, schreibt er letztlich – im Gegensatz zum Kurfürsten – so gut wie nichts zurück: »›Homburg; gegeben,

111 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1332-1336. 112 Ebd., V. 1374. 113 Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), dt. Übers. von Dieter Hornig, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2015, S. 57-63, hier: S. 63. 279 Prinz Friedrich von Homburg

Fehrbellin, am zwölften –‹; / Ich bin schon fertig. – Franz! / Er kuvertiert und siegelt den Brief.«114 Er antwortet weder Ja noch Nein, sogar weder Friedrich noch Arthur, um nicht auf die Konzep- tion, Logik und Ordnung des Kurfürsten einzugehen. Und, was am wichtigsten ist, er begnügt sich mit der (aus praktischer Sicht) nichtigen Antwort. Ob der Kurfürst ihn für »erhaben« hält, wie Natalie versichert,115 gilt ihm für »[g]leichviel«.116 Was man in der Bittschrift um seine Rettung, die ihm der Kurfürst zeigt, geschrieben hat, gilt ihm für gleichviel (Er will es auch nicht lesen). Denn seine Lebensfassung ist jetzt Resignation. So will er jetzt den freien Tod: »Es ist mein unbeugsamer Wille! / Ich will das heilige Gesetz des Kriegs, / Das ich verletzt, im Angesicht des Heers, / Durch einen freien Tod verherrlichen!«117 Es scheint ein Paradoxon zu sein, dass ein Resignierender noch Begehrlichkeiten, und zwar »den Tod, der mir erkannt, erdulden« will.118 Im Hinblick hierauf konstatiert Peter Horn, dass der Prinz den Tod »nun nicht länger so konkret begreif[t], wie er ihn im Anblick des geöffneten Grabes begriffen hat. Wie wenig dieser Tod noch Tod ist, läßt sich schon an der Sprache [im dritten Monolog] ablesen«.119 Bevor ich auf den dritten Monolog des Prinzen eingehe, ist al- lerdings anzumerken, dass er nicht das »Kriegsrecht«, wodurch der Kurfürst ihn dingfest ma- chen wollte,120 sondern »das heilige Gesetz des Kriegs« verherrlichen will. Dies ist nicht bloß ein Wortspiel. An dieser Stelle referiert der Krieg nicht auf den Nordischen (Schwedisch-Bran- denburgischen) Krieg gegen die Wrangeln, sondern auf einen geistigen Krieg – einen Krieg gegen »den Trotz, den Übermut«,121 allerdings nicht gegen die Insubordination dem Kurfürs- ten gegenüber, sondern die Gott gegenüber: »Denn alle hoffärtigen Augen werden erniedrigt werden, und, die stolze Männer sind, werden sich beugen müssen; der HERR aber wird allein hoch sein an jenem Tage.«122 So setzt der Prinz fort: »[…] Es erliege / Der Fremdling, der uns unterjochen will, / Und frei, auf mütterlichem Grund, behaupte / Der Brandenburger sich; denn sein ist er, / Und seiner Fluren Pracht nur ihm erbaut.«123 Der letzte Satz bezieht sich keineswegs auf den Kurfürsten, sondern geht transzendentalerweise über den Kontext hinaus und richtet sich dann – an einem Umkehrpunkt – auf den Prinzen selbst hin. In diesem Au- genblick ist er der authentische Erlöser:

KOTTWITZ gerührt.

114 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1377f. 115 »Nun so versichr’ ich dich, er [der Kurfürst] faßt sich dir / Erhaben, wie die Sache steht, und läßt / Den Spruch mitleidsvoll morgen dir vollstrecken!« (Ebd., V. 1371ff.). 116 Ebd., V. 1374. 117 Ebd., V. 1749-1752. 118 Ebd., V. 1745. 119 Peter Horn: »›…sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich …‹ Verhinderte Tragik im Traum des Prin- zen Friedrich von Homburg von seinem postumen Ruhm«, in: KJb [1992], S 126-139, hier: S. 134. 120 »Wers immer war, der sie [die Reuterei] zur Schlacht geführt, / Ich wiederhols, hat seinem Kopf verwirkt, / Und vor ein Kriegsrecht hiemit lad ich ihn« (Prinz Friedrich von Homburg, V. 735ff.). 121 Ebd., V. 1757. 122 Jes., 2, 11. 123 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1758-1762. 280 Prinz Friedrich von Homburg

Mein Sohn! Mein liebster Freund! Wie nenn ich dich?

GRAF TRUCHSS. O Gott der Welt!

KOTTWITZ Laß deine Hand mich küssen!

Sie drängen sich um ihn.124

Unter diesem transzendentalen Zustand ist das weltliche bzw kurfürstliche Gesetz nicht mehr von Belang. Denn jetzt dominiert das göttliche, heilige Gesetz. Zwar sagt der Prinz zum Kur- fürsten, dass sein Herz »[s]ich deinem Rechtsspruch unterwirft«,125 aber er tat dies zum ersten im evangelischen Sinne: »gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!«,126 zum zweiten zur Rettung des Kurfürsten, wobei seine Worte so autonom sind, als ob er ihm eine Lehre erteilt: »Laß meinem Herzen, das versöhnt und heiter / Sich deinem Rechtsspruch unterwirft, den Trost, / Daß deine Brust auch jedem Groll entsagt«.127 Die Rettung gilt auch Prinzessin Natalie, damit sie nicht wie ein Pfand nach Schweden verkauft wird. In Gottes Land, dem Vaterland, darf niemand wie ein Gegenstand behandelt werden. Nachdem alles in (seine) Ordnung gebracht worden ist, kommt es endlich zu seinem dritten Monolog, den er sowohl performativ als auch transzendental zum Ausdruck bringt:

Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, Mir Glanz der tausendfachen Sonne zu! Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, Die muntre Hafenstadt versinken sieht, So geht mir dämmernd alles Leben unter: Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen, Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.128

Es geht hier ohne Frage um eine durchaus ästhetische Szene, und zwar so ästhetisch, dass man gar nicht feststellen kann, ob der Prinz hier schon tot ist oder nur eine Vision sieht. Er (und somit seine Geschichte) fällt wieder in den Zustand des Sowohl-als-Auch zurück, in dem es nur Nebel bzw. keine Grenze gibt, wie der Ausgang dieses Dramas ist. Auch sein olfaktorischer Sinn nimmt bereits etwas Ungewöhnliches wahr, was nicht von dieser Welt ist:

DER PRINZ VON HOMBURG. Ach, wie die Nachtviole lieblich duftet!

124 Ebd., V. 1763f. 125 Ebd., V. 1772. 126 Mt., 22, 34. 127 Prinz Friedrich von Homburg, V. 1771ff. 128 Ebd., V. 1830-1839. 281 Prinz Friedrich von Homburg

Spürst du es nicht?

Stranz kommt wieder zu ihm zurück.

STRANZ Es sind Levkojn und Nelken.

DER PRINZ VON HOMBURG. Levkojn? – Wie kommen die hierher?129

Wo ist hier? Gott allein weiß es. Es muss auf dem Weg nach Hause sein, wie der Prinz sagt: »Ich will zu Hause sie in Wasser setzen.«130 Ist er deshalb tot und begibt sich zur Wohnung in des Vaters Haus? Wer weiß. Feststellen lässt sich nur, dass es im Wasser auch keine Grenze gibt, wie im Nebel. Diese Szene ist wohl die phantastischste Szene in Kleists Dramen, in der sich alles – über den Ursprung hinaus – in einem status nascendi befindet, wie vor dem Urknall des Universums. Auch auf der Ebene der dramatischen Welt lässt sich nichts aufklären. Aber eben, weil der Prinz in den traumhaften Zustand zurückfällt, kann sein Traum genau da anset- zen, wo er abgebrochen wurde: »[Natalie] setzt ihm den Kranz auf, hängt ihm die Kette um, und drückt seine Hand an ihr Herz.«131 So vollendet sich sein Traum. So vollendet sich die Dialektik. Die einzige Fassung ist nun so gut wie nichts:

DER PRINZ VON HOMBURG. Nein, sagt! Ist es ein Traum?

KOTTWITZ. Ein Traum, was sonst?132

Und das Nichts ist so gut wie alles. Die existenziellen Fragen sind, ob sich der Prinz von Anfang an durchgehend in einem Traum befindet, oder ob dieser ganze Traum bzw. das gesamte Drama jemandes Traum ist. Darauf lässt sich wohl nichts antworten, weil es so phantastisch ist. Durch das Phantastische wird die zerbrechliche Einrichtung der Welt bzw. die Welt der Auseinandersetzung gerettet. Demgemäß braucht man sich nicht mehr entweder revolutionär oder reaktionär zu verhalten und infolgedessen in der unendlichn Dialektik zwischen Ordnungen zugrunde zu gehen, wenn man sich auf phantastische Weise damit begnügen kann, »[i]n Staub mit [!] allen Feinden Bran- denburgs«133 zusammenzuziehen, statt entweder sich oder den Feind in den Staub zu werfen. Im elementarischen Staub ist nichts mehr zu jagen, denn da gibt es auch keinen Unterschied zwischen Freund oder Feind. Wo es nicht um Moral, Interesse und Wohl geht, sondern wo allein die ästhetische Sichtweise gilt, da gilt Heil: »Heil, Heil dem Prinz von Homburg!«.134 Ist dieser der Erlöser, so ist das gleichnamige Drama Neu-Brandenburg, Vater(s)land, Heil-Land.

129 Ebd., V. 1840ff. 130 Ebd., V. 1845. 131 Ebd., Nebentext vor V. 1852. 132 Ebd., V. 1856. 133 Ebd., V. 1858. 134 Ebd., V. 1854. 282 Prinz Friedrich von Homburg

Da man sich mit dem Staub begnügen, womöglich auch vergnügen soll, geht das Drama hier zu Ende. 283

VII. Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit ist insofern ein Fragment, als sie sich nur mit den Dramen Heinrich von Kleists beschäftigt, also nicht auf seine keineswegs weniger wertvollen Erzählungen ein- geht. Nichtsdestoweniger lässt sich wie folgt zusammenfassen, dass das Phantastische nicht nur ein Anhaltspunkt für die Interpretation seines Werkes, sondern vielmehr ein Topos ist. Das Phantastische dient als ein poetologisches Substrat, auf dem verschiedene Handlungen aufgetragen werden – sei es die Vergötterung oder die Verteufelung, sei es akustischer Spuk oder visuelle Erscheinung. Das Phantastische löst jeweils einen Ausnahmezustand aus, der den Betroffenen wiederum verschiedene Reaktionen abverlangt – seien sie revolutionär, reaktionär oder resignativ. Das Phantastische ist bei Kleist nämlich eine poetologische Verfahrensweise, die, wie Kleist selbst wünscht, eine antropologische Intention erfüllt: »Ich habe den Lauf mei- ner Studien plötzlich unterbrochen, und werde das Versäumte hier nachholen, aber nicht mehr bloß um der Wahrheit willen, sondern für meinen menschenfreundlicheren Zweck – «1 Hie- raus entsteht eine Anthropologie in poelogischer Hinsicht, die wohl der kantischen Anthropo- logie in pragmatischer Hinsicht nahesteht. Während die Vernunft das Menschliche möglichst (aber vergebens) vertuscht und verdrängt, sogar dessen Verstellung in Kauf nimmt, entblößt Kleist mithilfe des weit über den vernünf- tigen Kopf hinauswachsenden Phantastischen das entsetzende Wesen der Vernunft. Durch das Phantastische entblößt er also die Vernunft und ihre »Burdizzo-Zange«, welche das Menschli- che kastriert oder kastrieren will, aber (es ist natürlich so) immer zu kurz greift, so dass sich der Mensch immer wieder nach seinem verlorenen Teil, seiner Potenz, sehnt und diese begehrt. Es ist kein Zufall, dass bei Kleist wiederholt das Amphibion von Mensch und Pferd auftritt, wie etwa Johann aus der Familie Schroffenstein, der Adam im zerbrochnen Krug, die Königin Penthe- silea oder Kottwitz aus dem Heer des Prinzen Friedrich von Homburg, insbesondere, nachdem solch ein Mensch seine Grenzen bzw. Stallzäume übertritt und zur Natur zurückkehrt. Dies gilt auch für die amphibischen Figuren, die zwischen Kultur und Natur leidend pendeln bzw. pendelnd leiden: Amphitryon-Jupiter, Arminius-Hermann in seiner Schlacht, Prinz Friedrich-Arthur von Homburg und das Käthchen von Heilbronn bzw. von Schwaben. Auch der schlaue Kopf Robert Guiskard trägt an sich einen Kampf aus zwischen dem natürlichen und dem kulturellen Körper. Wer ist unter der Zange noch in der Lage, sich die Autonomie zu bewahren? Man muss sich doch der Vernunft gemäß ent(zweien)scheiden. Und wer ist dem ambivalent Phantastischen gegenüber noch in der Lage, bei der Entscheidung, entweder so oder so, zu bleiben? Jede Ent- scheidung wird doch vom Phantastischen desavouiert. Die Vernunft – Die Dichotomie – Die Entscheidung: Diese Standardvorgehensweise (Standard Operation Procedure) kann nur zu einer ausweglosen Dialektik führen, die schließlich im Untergang endet.

1 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801, SWB II, S. 684. 284

Man mag sich doch mit seiner ästhetischen Sichtweise, mit der subjektiven Zweckmäßigkeit, begnügen oder am besten vergnügen. Gemeint ist eine positive Negativität, eine progressive Resignation. Dies vermag bei Kleist am Anfang nur der Wahnsinnige, der Blinde und die Hexe (Familie Schroffenstein), dann Alkmene mit ihrem berühmten ambivalenten Ach (Amphitryon) und schließlich das Käthchen mit ihrem ambivalenten Wesen, Hermann mit seiner ambivalenten Schlacht und der Prinz von Homburg, der trotz der tragischen Dialektik in eine ambivalente Welt hinaufsteigt. Erst solche Figuren sind in der Lage, sich über die gebrechliche Einrichtung der Welt zu erheben. Ob die Erhebung nur ein Spiel ist, wie sie als personae dramatis im We- sentlichen auch nur ein Spiel sind, ist ihnen doch gleichgültig. Um es einmal mit Novalis zu sagen: »Wer wandelt nicht gern im Zwielichte, wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der Nacht in höhere Schatten und Farben zerbricht«2 Sie sind, sich vis motrix behaltend, sowohl alles als auch nichts – weder nichts noch alles. Sie sind sie, so totalitär, als nur mithilfe der Tautologie zu definieren. Es ist sozusagen ein Wunder, dass Kleist, der einst zu dem Typ »Ent- weder-alles-oder-nichts« gehörte, solche graziösen Figuren geschaffen hat. Demgemäß ist er weder ein klassischer Dichter noch ein moderner: Er ist ein menschlicher, allzumenschlicher Dichter.

2 Novalis: Werke, hrsg. von Gerhard Schulz, Müncehn 1969, S. 20. 285

Lebenslauf

I-Tsun Wan, geboren am 23. März 1985

Sep. 2000 - Tsoying Senior High School in Kaohsiung City, Taiwan Jun. 2003 Abschluss: High School Diploma Sep. 2003 - Studium der Germanistik Jun. 2007 an der Chinese Culture University in Taipeh City, Taiwan Abschluss: Bachelor of Arts Sep. 2007 - Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und Philosophie Nov. 2010 an der Soochow University in Taipeh City, Taiwan Abschluss: Master of Arts Okt. 2012 - Promotion im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Jun. 2017 an der Ruhr-Universität Bochum

2012-2016 DAAD-Forschungsstipendium für Promotion in Deutschland 2017 S. Fischer-Stipendium für Autoren- und Verlagsgeschichte für Forschungsaufenthalt im Deutschen Literaturarchiv Marbach

286

Siglenverzeichnis

BKA Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hrsg. von Roland Reuß u. Peter Staengle, Basel u. Frankfurt a. M. 1988-2010.

DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.

KHb Kleist-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, hrsg. von Ingo Breuer, Stuttgart 2009.

KJb Kleist-Jahrbuch.

LS Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hrsg. von Helmut Sembdner, 7. Aufl., München u. Wien 1996.

NR Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, hrsg. von Helmut Sembdner, 4. Aufl., München u. Wien 1996.

SWB Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., hrsg. von Helmut Sembd- ner, 9., vermehrte und revidierte Aufl., München 1993.

287

288

Bibliographie

(1) Quellenangabe

Beethoven, Ludwig van: Briefe Beethovens, hrsg. von Ludwig Nohl, Stuttgart 1865. Brecht, Bertolt: Werke, Berliner u. Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht u. a., Frank- furt a. M. 1988ff. Campe, Joachim Heinrich: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, Braunschweig 1790. Freud, Sigmund: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M. 1969ff. Genazino, Wilhelm: Das Glück in glücksfernen Zeiten, 2. Aufl., München 2011. Gentz, Friedrich von: Briefe von und an Friedrich von Gentz, hrsg. von Friedrich Carl Wittichen, München u. Berlin 1909. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, hrsg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt a. M. 1987ff. Hart, Heinrich: Gesammelte Werke, hrsg. von Julius Hart, Berlin 1907. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986ff. Herder, Johann Gottfried: Werke, hrsg. von Wolfgang Pross, München u. Wien 1984ff. Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke, hrsg. von Hartmut Steinecke u. a., Frankfurt a. M. 1985ff. Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe, hrsg. von Rudolf Hirsch u. a., Frankfurt a. M. 1975ff. Homer: Die Odyssee, dt. Übers. von Wolfgang Schadewaldt, 3. Aufl., Reinbeck bei Hamburg 2012. Die Horen. Eine Monatsschrift, hrsg. von Schiller, Nachdruck, Darmstadt 1959. Kafka, Franz: Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, New York City 1958, S. 382-387. Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1956ff. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Helmut Sembdner, 9., vermehrte und revidierte Aufl., München 1993. (zitiert als SWB) --: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hrsg. von Roland Reuß u. Peter Staengle, Basel u. Frankfurt a. M. 1988-2010. (zitiert als BKA) Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke, hrsg. von Karl August Schleiden, 3. Aufl., München 1969. Kierkegaard, Sören: Entweder-Oder. Teil I und II, hrsg. von Hermann Diem u. Walter Rest, dt. übers. von Heinrich Fauteck, 6. Aufl., München 2000. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. von Wilfried Barner u. a., Frankfurt a. M. 1985ff. 289

Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt a. M. 1952. Mann, Thomas: Der Zauberberg, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2013. Moritz, Karl Philipp: »Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre«, in: ders.: Werke, hrsg. von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1981. Müller, Adam: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften in zwei Bänden, hrsg. von Walter Schroeder u. Werner Siebert, Neuwied u. Berlin 1967. Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 67. Aufl., Hamburg 2012. Novalis: Werke, hrsg. von Gerhard Schulz, Müncehn 1969. Nietzsche, Friedrich: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. 6, Bd. 1: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen hrsg. von. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1968. Oelsner, Konrad Engelbert: Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution, hrsg. von Werner Greiling, Frankfurt a. M. 1988. Pfau, Ludwig: Ausgewählte Werke, hrsg. von Rainer Moritz, Tübingen u. Stuttgart 1993. Rose, Johann Wilhelm: Pocahontas. Schauspiel mit Gesang in fünf Akten. [1784], hrsg. von Stephan Kraft, Hannover 2008. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. von Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 1992ff. Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, München, Pader- born u. Wien 1958ff. Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, 7. Aufl., München u. Wien 1996. (zitiert als LS) Tieck, Ludwig: Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Manfred Frank u. a., Frankfurt a. M. 1985ff. Sophokles: König Ödipus, dt. Übers von Kurt Steinmann, Stuttgart 2002. Wieland, Christoph Martin: Sämtliche Werke, hrsg. von Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg 1984.

290

(2) Forschungsliteratur

Abel, Günter: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 2. Aufl., Berlin u. New York 1998. Allemann, Beda: »Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ›Über das Marionettentheater‹«, in: KJb [1981/82], S. 50-65. -- Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, aus dem Nachlaß hrsg. von Eckart Oehlenschlä- ger, Bielefeld 2005. Angress, Ruth K.: »Kleists Abkehr von der Aufklärung«, in: KJb [1987], S. 98-114. Anker-Mader, Eva-Maria: Kleists Familienmodelle. Im Spannungsfeld zwischen Krise und Persistenz, München 1992. Anonym: »De l’État de la Littérature Allemagne«, in: Le Globe VIII, N° 12 [10.02. 1830], S. 89ff. Arntzen, Helmut: »›Prinz Friedrich von Homburg‹ – Drama der Bewußtseinsstufem«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 213-237. Auerochs, Bernd: »Was ist eigentlich Kunstreligion?« in: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs u. Christian Soboth, Berlin u. New York 2011, S. 323-335. Bachmaier, Helmut u. Horst, Thomas: »Die mythische Gestalt des Selbstbewusstseins. Zu Kleists ›Amphitryon‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1978], S. 404-441. Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), dt. Übers. von Dieter Hornig, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2015, S. 57-63. Bauer, Franz J.: Das »lange« 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche, 3. Aufl., Stuttgart 2010. Beil, Ulrich Johannes: »›Kenosis‹ der Idealistischen Ästhetik. Kleists ›Über das Marionetten- theater‹ als Schiller-réécriture«, in: KJb [2006], S. 75-99. Benthien, Claudia: »Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit. Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ›Familie Schroffenstein‹«, in: KJb [1999], S. 128-143. Bernath, Peter: Die Sentenz im Drama von Kleist, Büchner und Brecht. Wesensbestimmung und Funkti- onswandel, Bonn 1976. Bisky, Jens: Kleist. Eine Biographie, Berlin 2007. Blamberger, Günter: »Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kon- text der europäischen Moralistik«, in: KJb [1999], S. 25-40. -- Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a. M. 2011. -- »Kleists Brautbriefe«, in: KJb [2013], S. 72-83. Bollnow, Otto Friedrich: Sprache und Erziehung. Stuttgart, Berlin, Koeln, Mainz 1979. Borelbach, Doris Claudia: Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen, Würzburg 1998. Bormann, Alexander von: »Kleists Prinz Friedrich von Homburg – Drama der Adoleszenz«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 277-302. 291

Börnchen, Stefan: »›Translatio Imperii. Politische Formeln und hybride Metaphern in Heinrich von Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [2005], S. 267-284. Braig, Friedrich: Heinrich von Kleist, München 1925. Brandstetter, Gabriele: »Inszenierte Katharsis in Kleists Penthesilea«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 225-248. Breuer, Ingo (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009. Brors Claudia: Anspruch und Abbruch. Unteruchungen zu Heinrich von Kleits Ästhetik des Rätselhaften, Würzburg 2002. Brown, Hilda Meldrum: »Kleists Theorie der Tragödie – im Licht neuer Funde«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 117-132. -- Heinrich von Kleist. The Ambiguity of Art and The Necessity of Form, Oxford u. New York 1998. Bumke, Joachim: »Der inszenierte Tod. Anmerkungen zu ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [2011], S. 91-109. Bunia, Remigius: »Vorsätzliche Schuldlosigkeit – Begnadete Entscheidungen. Rechtsdogmatik und juristische Willenszurechnung in ›Der Prinz von Homburg‹ und ›Die Marquise von O…‹«, in: KJb [2004], S. 42-61. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung, 2. Aufl., Tübingen 1932. -- »Heinrich von Kleist und die kantische Philosophie«, in: ders.: Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist, 2. Aufl., Darmstadt 1971, S. 157-202. Caillois, Roger: »Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction«, in: Phan- tastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 44-83. Chaouli, Michel: »Die Verschlingung der Metapher. Geschmack und Ekel in der ›Penthesilea‹«, in: KJb [1998], S. 127-149. Cullens, Chris u. Mücke, Dorothea von: »Love in Kleist’s Penthesilea and Käthchen von Heilbronn«, in: DVjs [1989/3], S. 461-493. --: »Das Käthchen von Heilbronn. ›Ein Kind recht nach der Lust Gottes‹«, in: Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 116-143. Dahlhaus, Carl: »Zur Dramaturgie der Literaturoper«, in: ders. Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte, München 1989, S. 294-312. -- Die Musik des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Carl Dahlhaus, fortgeführt von Hermann Danuser, Laaber 1996 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6). Dehrmann, Mark-Georg: »Die problematische Bestimmung des Menschen. Kleists Auseinan- dersetzung mit einer Denkfigur der Aufklärung im Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, im Michael Kohlhaas und der Herrmannsschlacht«, in: DVjs [2/2007], S. 193-227. Delbrück, Hansgerd: Kleists Weg zur Komödie. Untersuchungen zur Stellung des ›Zerbrochnen Krugs‹ in einer Typologie des Lustspiels, Tübingen 1974. 292

Denneler, Iris: »Legitimation und Charisma. Zu ›Robert Guiskard‹«, in: Kleists Drama. Neue In- terpretation, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 73-92. Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 1994. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB), 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1961. Deux, Rudolf: »Kunigundes künstlicher Körper. Zur rhetorischen Gestaltung und Interdiskur- sivität eines ›mosaischen‹ Motivs aus Heinrich von Kleists Schauspiel ›Das Käthchen von Heilbronn‹«, in: KJb [2005], S. 92-110. Dunkel, Axel: »›Der Himmel hab’ ein Zeichen ihm gegeben‹ Das System ›Fortuna‹ in Heinrich von Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [2007], S. 236-253. Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur, 2. Aufl., Berlin 2007. Dyer, Denys G.: »Kleist und Paradoxe«, in: KJb [1981/82], S. 210-219. Essen, Gesa von: »Römer und Germanen im Spiel der Masken. Heinrich von Kleists ›Her- mannsschlacht‹«, KJb [1999], S. 41-52. Fink, Kristina: Die sogenannte »Kantkrise« Heinrich von Kleists. Ein altes Problem aus neuer Sicht, Würz- burg 2012. Fischer, Bernd: »Fremdbestimmung und Identitätspolitik in Die Hermannsschlacht«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würz- burg 2001, S. 165-178. Fischer, Jens Malte: »›Selbst die schönste Gegend hat Gespenster‹ Entwicklung und Konstanz des Phantastischen bei Ludwig Tieck«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 131-149. Fischer-Lichte, Erika: »Mißlingende Inkorporation? – Zur rituellen Struktur des Prinz Friedrich von Homburg«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 151-164. Freund, Winfried: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart, Berlin u. Köln 1990. Frevert, Ute: »Gefühle um 1800. Begriffe und Signaturen«, in: KJb [2008/09], S. 47-62. Fricke, Gerhard: Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters, Berlin 1929. Fronz, Hans-Dieter: Verfehlte und erfüllte Natur. Variationen über ein Thema im Werk Heinrich von Kleists, Würzburg 2000. Fülleborn, Ulrich: »Die Geburt der Tragödie aus dem Scheitern aller Berechnungen. Die frü- hen Briefe Heinrich von Kleists und ›Die Familie Schroffenstein‹«, in KJb [1999], S. 225- 247. -- »Dem Scheitern von Kleists ›Robert Guiskard‹ nachgefragt«, in: KJb [2003], S. 263-281. 293

-- »Nach Kleists gescheiterter Tragödie das Gelingen der Kömödien«, in: KJb [2004], S. 88- 105. -- »›Amphitryon‹ Kleists tragikomisches Spiel vom unverfügbaren ›Erdenglück‹«, in: KJb [2005], S. 185-215. Gabler, Thorsten: »Verbriefte Breiflehre. Kleists Beitrag zur Epistolographie des Freund- schaftsbriefes«, in: KJb [2013], S. 31-57. Gall, Ulrich: Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des philo- sophischen Gehalts seiner Schriften, Bonn 1977. Geyer, Angelika: »Penthesileas Schwestern. Amazonomachie als Thema antiker Kunst«, in: KJb [1991], S. 124-154. Gnam, Andrea: »Die Rede über den Körper. Zum Körperdiskurs in Kleists Texten ›Die Mar- quise von O...‹ und ›Über das Marionettentheater‹«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 170-176. Görner, Rüdiger: Gewalt und Grazie. Heinrich von Kleists Poetik der Gegensätzlichkeit, Heidelberg 2011. Graham, Ilse: »Der zerbrochene Krug – Titelheld von Kleists Komödie« [1955], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 274-295. Grathoff, Dirk: »Der Fall des Krugs. Zum geschichtlichen Gehalt von Kleists Lustspiel«, in: KJb [1981/82], S. 290-313. -- »„Wenn die Geister der Äschylus, Sophokles und Shakespear sich vereinigten“ Antike und Moderne im Werk Heinrich von Kleists«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 21-33. Greiling, Werner: »Oelsner in Paris oder ›Zeugnisse eines Fremden über wichtige Revolutions- begebenheiten‹«, in: Konrad Engelbert Oelsner: Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution, hrsg. von Werner Greiling, Frankfurt a. M. 1988, S. 7-28. Greiner, Bernhard: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist, Berlin 1994. -- Kleists Dramen und Erzählungen: Experimente zum »Fall« der Kunst, Tübingen u. Basel 2000. -- »“Die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen“: Die unausführbare Tragö- die Robert Guiskard«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 135-149. Grimminger, Rolf: »Vorbemerkung«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680- 1789, hrsg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deut- schen Literatur, Bd. 3), S. 7-12. 294

-- »Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammen- hang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts«, in: Deut- sche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 15-99. Hahn, Torsten: »Auferstehungslos. Absolute Ausnahme und Apokalypse in Kleists ›Robert Guiskard, Herzog der Normänner‹«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Hein- rich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 21-41. -- »›Du Retter in der Not‹ Akklamation in ›Robert Guiskard. Herzog der Normänner‹«, in: KJb [2011], S. 49-65. Hansen, Birgit: »Gewaltige Performanz. Tödliche Sprechakte in Kleists ›Penthesilea‹«, in: KJb [1998], S. 109-126. Hansen, Uffe: »Grenze der Erkenntnis und unmittelbare Schau. Heinrich von Kleists Kant- Krise und Charles de Villers«, in: DVjs [3/2005], S. 433-471. -- »Prinz Friedrich von Homburg und die Anthropologie des animalischen Magnetismus«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [2006], S. 47-79. Harm, Ingeborg: »›Wie fliegender Sommer‹ Eine Untersuchung der ›Höhlenszene‹ in Heinrich von Kleists Familie Schroffenstein«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1984], S. 270-314. Herrmann, Hans Peter: »Sprache und Liebe. Beobachtungen zu Kleists ›Penthesilea‹«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 26-48. Hettche, Walter: Heinrich von Kleists Lyrik, Frankfurt a. M., Bern u. New York 1986. Henkel, Arthur: »Traum und Gesetz in Kleists ›Prinz von Homburg‹« [1962], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967, S. 576-604. -- »Erwägungen zur Szene II, 5 in Kleists ›Amphitryon‹« [1974], in: Kleists Aktualität. Neue Auf- sätze und Essays 1966-1978, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981, S. 200-222. -- »Zur Frage nach dem Sinn von Kleists ›Amphitryon‹«, in: KJb [1981/82], S. 278-285. Hennings, Justus Christian: Von Geistern und Geistersehern, Leipzig 1780. Herrmann, Britta: »Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht: die Briefe Heinrich von Kleists und Männlichkeit um 1800«, in: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männ- lichkeit, hrsg. von Walter Erhart u. Britta Herrmann, Stuttgart u. Weimar 1997, S. 212-234. Hinderer, Walter: »Prinz Friedrich von Homburg. ›Zweideutige Vorfälle‹«, in: Interpretationen. Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 144-185. Hoffmeister, Elmar: Täuschung und Wirklichkeit bei Heinrich von Kleist, Bonn 1968. Holländer, Hans: »Das Bild in der Theorie des Phantastischen«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 52-78. Hölscher, Uvo: »Gott und Gatte. Zum Hintergrund der ›Amphitryon‹-Komödie«, in: KJb [1991], S. 109-123. Horn, Eva: »Herrmanns ›Lektionen‹. Strategische Führung in Kleists ›Herrmannsschlacht‹«, in: KJb [2011], S. 66-90. 295

Horn, Peter: »Das erschrockene Gelächter über die Entlarvung einer korrupten Obrigkeit. Kleists zwiespältige Komödie „Der zerbrochne Krug“, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 149-162. Peter Horn: »›…sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich …‹ Verhinderte Tragik im traum des Prinzen Friedrich vo Homburg von seinem postumen Ruhm«, in: KJb [1992], S 126- 139 Hubbs, Valentine C.: »Die Ambiguität in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [1981/82], S. 184-194. Irrlitz, Gerd: Kant Handbuch. Leben und Werk, 2. Aufl., Stuttgart 2010. Eduard Jacobs: »Plessing, Friedrich«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 26, München 1888, S. 277-281. Jaśtal, Katarzyna: »›Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe...‹ Zur Pädagogik in Kleists Braut- briefen«, in: Gesprächsspiele & Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800, hrsg. von Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal u. Paweł Zarychta, Köln, Weimar u. Wien 2013, S. 117- 130. Jauß, Hans Robert: »Von Plautus bis Kleist: ›Amphitryon‹ im dialogischen Prozeß der Arbeit am Mythos«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 114-143. Jehmlich, Reimer: »Phantastik – Science Fiction – Utopie. Begriffsgeschichte und Begiffsab- grenzung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 11-33. Jeßing, Benedikt: »Heinrich von Kleists antiklassizistische Antikewahrnehmung – Penthesilea«, in: »Schlagt ihn todt«! Heinrich von Kleist und die Deutschen, hrsg. von Kevin Liggieri, Isabelle Maeth u. Christoph Manfred Müller, Heilbronn 2013, S. 81-100. Johnson, Laurie: »Psychic, Corporeal, and Temporal Displacements in Die Familie Schroffenstein«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 121-133. Jørgensen, Sven Aage / Bohnen, Klaus / Øhrgaard, Per: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, 1740-1789, München 1990 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Helmut de Boor u. Richard Newald, Bd. 6). Kagarlizki, Juli: Was ist Phantastik? Ein Essay, dt. Übers. von Reinhard Fischer, Berlin 1977. Kaiser, Gerhard: »Mythos und Person in Kleists „Penthesilea“«, in: ders.: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977, S. 209-239. Kayka, Ernst: Kleist und die Romantik. Ein Versuch, Berlin 1906. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk, 10. Aufl., Bern u. München 1964. 296

Kempe, Michael: »Teufelswerk der Tiefsee. Piraterie und die Repräsentation des Meeres als Raum im Recht«, in: Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, hrsg. von Hannah Baader u. Gerhard Wolf, Zürich 2010, S. 379-413. Kittler, Wolf: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. B. 1987. Klinger, Florian: »Thatness in Kleist«, in: DVjs [4/2013], S. 616-636. Klotz, Volker: »Aug um Zunge – Zunge um Aug. Kleists extremes Theater«, in: KJb [1985], S. 128-142. Klüger, Ruth: »Die andere Hündin: Käthchen«, in: KJb [1993], S. 103-115. Kluge, Gerhard: »Der Wandel der dramatischen Konzeption von der ›Familie Ghonorez‹ zur ›Familie Schroffenstein‹«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 52-72. Kohlhäufl, Michael: »Die Rede – Ein dunkler Gesang? Kleists ›Robert Guiskard‹ und die De- klamationtheorie um 1800«, in: KJb [1996], S. 142-168. Kommerell, Max: »Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist«, in: Interpretationen 2. Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht, hrsg. von Jost Schil- lemeit, Frankfurt a. M. u. Hamburg 1965, S. 185-222. Konersmann, Ralf: »Das Versprechen der Wörter. Kleists erste und letzte Dichtung«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 100-124. Koselleck, Reinhart: »Einleitung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S.XIII-XXVII. -- Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1995. Kraft, Stephan: »Die Nöte Jupiters. Zum Verhältnis von Komödie und Souveränität bei Plautus, Molière und vor allem Kleist«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüre zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 208-225. Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt a. M. 2010. Kremer, Detlef: Romantik, 2. Aufl., Stuttgart u. Weimar 2003. Krings, Marcel: »Der Typus des Erlösers Heilsgeschehen in Kleists Prinz von Homburg«, in: DVjs [1/2005], S. 64-95. Künzel, Christine: »Gewaltsame Transformationen. Der versehrte weibliche Körper als Text und Zeichen in Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [2003], S. 165-183. Kurz, Gerhard: »„alter Vater Jupiter“. Zu Kleists Drama Amphitryon«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 169-185. Lederer, Horst: Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose, Köln 1986. Lem, Stanisław: »Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen«, in: Phaicon I, hrsg. von Rein A. Zondergeld, Frankurt a. M. 1974, S. 92-122. 297

Loose, Hans-Dieter: Kleists „Hermannsschlacht“: kein Krieg für Hermann und seine Cherusker. Ein paradoxer Feldzug aus dem Geist der Utopie gegen den Geist besitzbürgerlicher und feudaler Herrschaft, Karlsruhe 1984. Lukács, Georg: »Die Tragödie Heinrich von Kleists [1936]«, in: ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Neuwied u. Berlin 1964, S. 201-231. Lü, Yixu: »Zur Schreibtechnik Kleists im ›Käthchen von Heilbronn‹«, in: KJb [2003], S. 282- 306. Lüderssen, Klaus: »Recht als Verständigung unter Gleichen in Kleists ›Prinz von Homburg‹ – Ein aristokratisches oder ein demokratisches Prinzip?«, in: KJb [1985], S. 56-83. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. Man, Paul de: Allegorien des Lesens, dt. Übers. von Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frank- furt a. M. 1988. Mandelartz, Michael: »Von der Tugendlehre zur Lasterschule. Die sogenannte ›Kantkrise‹ und Fichtes ›Wissenschaftslehre‹«, in: KJb [2006], S. 120-136. Marquard, Odo: »Homo compensator. Zur anthropologischen Karriere eines metaphysischen Begriffs«, in: ders.: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 11-29. -- »Philosophie des Stattdessen. Einige Aspekte der Kompensationstheorie«, in: ders.: Philoso- phie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 30-49. Mazza, Ethel Matala de der gleichen Meinung: »Recht für bare Münze. Institution und Geset- zeskraft in Kleists ›Zerbrochnem Krug‹«, in: KJb [2001], S. 160-177. Michelet, Jules: Geschichte der Französischen Revolution, hrsg. von Jochen Köhler, dt. Übers. von Richard Kühn, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1988. Michelsen, Peter: »›Wehe, mein Vaterland, dir!‹ Heinrich von Kleist ›Die Hermannsschlacht‹«, in: KJb [1987], S. 115-136. -- »Die Lügen Adams und Evas Fall. Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug«, in: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, hrsg. von Herbert Anton, Bernhard Gajek u. Peter Pfaff, Heidelberg 1977, S. 268-304. -- »Die Betrogenen des Rechtgefühls. Zu Kleists ›Die Familie Schroffenstein‹«, in: KJb [1992], S. 64-80. Miller, Norbert: »Verstörende Bilder in Kleists ›Hermannsschlacht‹«, in: KJb [1984], S. 98-105. -- »„Du hast mir deines Angesichtes Züge bewährt...“ Der Zerbrochne Krug und die Probe auf den Augenblick«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 215-239. Moser, Christian: Verfehlte Gefühle. Wissen – Begehren – Darstellen bei Kleist und Rousseau, Würzburg 1993. -- »Die supplementäre Wahrheit des Anekdotischen. Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹ und die europäische Tradition anekdotischer Geschichtsschreibung«, in: KJb [2006], S. 23- 44. 298

Mücke, Dorothea von: »›Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel‹ oder die Ästhetik der Verklärung«, in: KJb [2002], S. 70-93. Müller, Gernot: »Man müsste auf dem Gemälde selbst stehen« Kleist und die bildende Kunst, Tübingen u. Basel 1995. Müller, Klaus E.: Kleine Geschichte des Essens und Trinkens. Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine, München 2009. Müller, Tim: »Marionettentheater/Menschentheater. Kleists Ethik souveränen Handelns«, in: KJb [2010], S. 220-236. Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002. Müller-Seidel, Walter: »›Penthesilea‹ im Kontext der deutschen Klassik«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 144-171. Muth, Ludwig: Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954. Neumann, Gerhard: »Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kulturelle Anthropologie«, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg i. B. 1994, S. 13-29. Neumann, Michael: »Genius malignus Jupiter oder Aklmenes Descartes-Krise«, in: KJb [1994], S. 141-155 -- »›Und sehn, ob uns der Zufall etwas beut‹. Kleists Kasuistik der Ermächtigung im Drama ›Die Hermannsschlacht‹«, in: KJb [2006], S. 137-156. Nölle, Volker: »Verspielte Identität. Eine expositorische ›Theaterprobe‹ in Kleists Lustspiel ›Amphitryon‹«, in: KJb [1993], S. 160-180. Oberlin, Gerhard: »Gott und Gliedermann. Das ›unendliche Objekt‹ in Heinrich von Kleists Erzählung ›Über das Marionettentheater‹ (1810)«, in: KJb [2007], S. 273-288. Oellers, Nobert: »›Kann auch so tief ein Mensch erniedrigt werden?‹ Warum ›Amphitryon‹? Warum ›ein Lustspiel‹?«, in: Text + Kritik: Heinrich von Kleist, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993, S. 72-83 Oelmüller, Willi: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt a. M. 1979. Oesterle, Günter: »Vision und Verhör. Kleists Käthchen von Heilbronn als Drama der Unterbre- chung und Scham«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleits Werk zwischen Klas- sizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 303-328. Oesterle, Ingrig: »Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 97-116. Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, Mün- chen 2007. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 299

Ottmann, Dagmer: »„Das stumme Zeichen“ Zum dramatischen Requisit in Kleists Prinz Fried- rich von Homburg«, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassi- zismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 249- 276. Penning, Dieter: »Die Ordnung der Unordnung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 34-51. Pethes, Nicolas: »Poetik der Adoption. Illegitime Kinder, ungewisse Väter und juristische El- ternschaft als Figurationen von Kleists Ästhetik«, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lek- türen zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 323-346. Pfeiffer, Joachim: »die Konstruktion der Geschlechter in Kleists Penthesilea«, in: Gewagte Ex- perimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hrsg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 186-198. Pickerodt, Gerhart: »›Bin ich der Teufel? Ist das ein Pferdefuss?‹ Beantwortung der Frage, wa- rum Kleists Dorfrichter Adam den linken Fuß zeigt«, in: KJb [2004], S. 107-122. --: »›Mein Cherubim und Seraph‹ Engelsbilder bei Heinrich von Kleist«, in: KJb [2006], S. 171- 187. Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 1: Von Kant bis Hegel, Darmstadt 1993. Pross, Caroline: »Verschobene Anfänge. Bruch und Begründung in Kleists ›Hermannsschlacht‹, Arnims ›Die Vertreibung der Spanier‹ und Brentanos ›Viktoria und ihre Geschwister‹«, in: KJb [2003], S. 150-164. Ribbat, Ernst: »Babylon in Huisum oder der Schein des Scheins. Sprach- und Rechtsprobleme in Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“«, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 133-148. Riedl, Peter Philipp: »Eine bessere Ordnung der Dinge? Die Psychologie revolutionärer Gewalt im Werk Heinrich von Kleists«, in: Heinrich von Kleist. Konstruktive und destruktive Funktion von Gewalt, hrsg. von Ricarda Schmidt, Seán Allan u. Steven Howe, S. 97-116. Rösch, Ewald: »Bett und Richersthl. Gattungsgeschichtliche Überlegungen zu Kleists Lustspiel ‚Der zerbrochene Krug‘«, in: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder, hrsg. von Ernst-Joachim Schmidt, Berlin 1974, S. 434-475. Ryan, Lawrence: »Kleists „Entdeckung im Gebiete der Kunst“: ›Robert Guiskard‹ und die Fol- gen« [1969], in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966-1978, hrsg. von Walter Mül- ler-Seidel, Darmstadt 1981, S. 77-103. -- »Die ›vaterländische Umkehr‹ in der ›Hermannsschlacht‹«, in: Kleists Dramen. Neue Interpreta- tionen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 188-212. Samuel, Richard: »Kleists ›Hermannsschlacht‹ und der Freiherr vom Stein«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft [1961], S. 64-101. 300

--: »Heinrich von Kleists ›Robert Guiskard‹ und seine Wiederbelebung 1807/8«, in: KJb [1981/82], S. 315-348. Sauder, Gerhard: »Geniekult im Sturm und Drang«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von ders., 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 327-340. Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn, München, Wien u. Zürich 2002. Schadewaldt, Wolfgang: »Der „zerbrochene Krug“ von Heinrich von Kleist und Sophokles’ „König Ödipus“« [1960], in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller- Seidel, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 317-325. Schäfer, Regina: »Der gefälschte Brief. Eine unkonventionelle Hypothese zu Kleists ›Her- mannsschlacht‹«, in: KJb [1993], S. 181-189. Scheuer, Hans Jürgen: »Pferdewechse – Farbenwechsel. Zur Transformation des adligen Selbstbildes in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [2003], S. 23-45. Schindler, Stephan K.: »Die blutende Brust der Amazone: bedrohliche weibliche Sexualität in Kleists Penthesilea«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 191-202. Schinköth, Thomas: »Zeit und Raum an der Grenze des Lebens: Zum Singspiel Leben? oder Theater? der Malerin Charlotte Salomon (1917-1943)«, in: Zeit und Raum in Musik und bildender Kunst, hrsg. von Tatjana Böhme u. Klaus Mehner, Köln, Weimar u. Wien 2000, S. 65-80. Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974. -- »Stoisches Ethos in Brandenburg-Preußen«, in: KJb [1993], S. 89-102. -- Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, 2. Aufl., Darmstadt 2009. Schneider, Hans-Peter: »Justizkritik im ›Zerbrochnen Krug‹«, in: KJb [1988/89], S. 309-326. Schneider, Helmut J.: »Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹ und der Diskurs der klassischen Ästhetik«, in: KJb [1998], S. 153- 175. Schmitz-Emans, Monika: »Das Verschwinden der Bilder als geschichtsphilosophisches Gleich- nis. ›Der zerbrochne Krug‹ im Licht der Beziehungen zwischen Bild und Text«, in: KJb [2002], S. 42-69. Schrader, Hans-Jürgen: »Unsägliche Liebesbriefe«, in: KJb [1981/82], S. 86-96. -- »›Denke du wärest in das Schiff meines Glücks gestiegen.‹ Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut« in: KJb [1983], S. 122-179. Schuhbeck, Birgit: »„Ich muß, muß, muß berühmt werden!“ Klaus Manns Skandalmotivation zwischen Selbst-Exposition und Gemeinschaftsstiftung«, in: Skandalautoren, hrsg. von An- drea Bartl u. Martin Kraus, Würzburg 2014, S. 475-497. 301

Schuller, Marianne: »Den ›Übersichtigkeiten‹ das Wort geredet / Oder: ›Verrückte Rede‹? Zu Kleists Penthesilea«, in: Theorie – Geschlecht – Fiktion, hrsg. von Nathalie Amstutz u. Martina Kuoni, Basel u. Frankfurt a. M. 1994, S. 61-73. Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie, München 2007. Seeba, Hinrich C.: »Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists ‚Familie Schroffenstein’«, in: DVjs [1/1970], S. 64-100. Seidlin, Oskar: »What the bell tolls in Kleist’s Der zerbrochne Krug«, in: DVjs [1977/1], S. 78- 97. Sembdner, Helmut: »Kleist und Falk. Zur Entstehungsgeschichte von Kleists ›Amphitryon‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1969], S. 361-396. Simonis, Linda: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002. Skrotzki, Ditmar: Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists, Marburg 1971. Stephens, Anthony: »“Das nenn ich menschlich nicht verfahren.“ Skizze zu einer Theorie der Grausamkeit im Hinblick auf Kleist«, in: Heinrich von Kleist. Stuien zu Werk und Wirkung, hrsg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 10-39. -- »Der Opfergedanke bei Heinrich von Kleist«, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg i. B. 1994, S. 193-248. -- »Antizipation als Strukturprinzip in Werk Kleists«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft [1998], S. 195-213. Strässle, Urs: Heinrich von Kleist. Die keilförmige Vernunft, Würzburg 2002. Stierle, Karlheinz: »Amphitryon. Die Komödie des Absoluten«, in: Kleists Dramen, hrsg. von Wal- ter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 33-74. Szondi, Peter: »Versuch über das Tragische«, in: ders.: Schriften I, hrsg. von Wolfgang Fietkau, Frankfurt a. M. 1978, S. 149-160. -- »Amphitryon, Kleists ›Lustspiel nach Molière‹«, in: ders. Schriften II, hrsg. von Jean Bollack u. a., Frankfurt a. M. 1978, S. 155-169. Theisen, Bianca: Bogenschluss. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg i. B. 1996. Thomsen, Christian W. / Fischer, Jens Malte: »Einleitung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer, Darmstadt 1980, S. 1-8. Tieck, Ludwig: »Vorrede«, in: Heinrich von Kleists hinterlassenen Schriften, hrsg. von ders., Berlin 1821. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, dt. Übers. von Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur, München 1972. Ueding, Gert: »Zweideutige Bilderwelt: ›Das Käthchen von Heilbronn‹«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 172-187. 302

-- »Popularphilosophie«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hrsg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 605-634. -- Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815, 2. Aufl., München 2008. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 4) Vogel, Juliane: »Windung und Bahn. Landschaftsdramaturgie in Kleists Penthesilea«, DVjs [4/2013], S. 600-615. Weder, Katharine: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 3. Aufl., München 1996. Weidner, Daniel: »Zerreissen, Verschlingen, Zerrinnen. Opfer, Abendmahl und Trauerspiel in Kleists ›Penthesilea‹«, in: KJb [2012], S. 270-289. Weigand, Hermann J.: »Zu Kleists „Käthchen von Heilbronn“ [1958]«, in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hrsg. von Walter Müller-Seidel, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 326-350. Weinberg, Manfred: »„… und dich weinen.“ Natur und Kunst in Heinrich von Kleists Das Käthchen von Heilbronn«, in: DVjs [04/2005], S. 568-601. Wellbery, David E.: »Der zerbrochne Krug. Das Spiel der Geschlechterdifferenz«, in: Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 11-32. Werber, Niels: »Kleists ›Sendung des Dritten Reichs‹. Zur Rezeption von Heinrich von Kleists ›Hermannsschlacht‹ im Nationalsozialismus«, in: KJb [2006], S. 157-170. Werner, Hans-Georg: »Geschichtlichkeit in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹«, in: KJb [1992], S. 81-94. Wetzel, Michael: »Geben und Vergeben. Vorüberlegungen zu einer Neudeutung der Ambiva- lenzen bei Kleist«, in: KJb [2000], S. 89-103. Wichmann, Thomas: Heinrich von Kleist, Stuttgart 1988. Wilhelm, Hans-Jakob: »Der Magnetismus und die Metaphysik des Krieges: Kleists Prinz Fried- rich von Homburg«, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, hrsg. von Gerhard Neumann, Freiburg i. B. 1994, S. 86-105. Wittkowski, Wolfgang: Heinrich von Kleists „Amphitryon“ Materialien zur Rezeption und Interpretation, Berlin u. New York 1978. Wölfel, Kurt: »Über das Marionettentheater«, in: Kleists Erzählungen, hrsg. von Walter Hin- derer, Suttgart 1998, S. 17-39. Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der frühen Moderne: (1890-1930); Definition; Denkge- schichtlicher Kontext; Strukturen, 2. Aufl., München 1998. -- »Phantastik in der Literatur der frühen Moderne«, in: Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890-1918, hrsg. von York-Gothart Mix, München 2000. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 7), S. 175-191. 303

Zimmermann, Hans Dieter: Kleist, die Liebe und der Tod, Frankfurt a. M. 1989. --: »Der Sinn im Wahn: der Wahnsinn. Das „große historische Ritterschauspiel“ Das Käthchen von Heilbronn«, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hrsg. von Paul Michael Lützeler u. David Pan, Würzburg 2001, S. 203-213. Zgorzelski, Andrej: »Zum Verständnis phantastischer Literatur«, in: Phaicon II, Frankfurt a. M. 1975, S. 54-63. Zondergeld, Rein A.: »Vorwort«, in: Phaicon I, hrsg. von ders., Frankurt a. M. 1974, S. 9-10. -- »Wege nach Saïs Gedanken zur phantastischen Literatur«, in: Phaicon I, hrsg. von ders., Frankurt a. M. 1974, S.84-91. Zumbusch, Cornelia: »›nichts, als leben‹. Affektpolitik und Tragödie in ›Prinz Freidrich von Homburg‹«, Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hrsg. von Nico- las Pethes, Göttingen 2001, S. 270-289.