1 Freitag, 29.01.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue Cds
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Freitag, 29.01.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Doris Blaich Klare und leichte Linienführung PALAZZETTO BRU ZANE | Portraits Volume 3 MARIE JAËLL (1846-1925) Musique symphonique Musique pour le piano PALAZZETTO BRU ZANE ES 1022, 3 CDs Schwingend und atmend CONVERSATIONS AVEC DIEU MOTETS ET CANTATES DE HAMMERSCHMIDT, TELEMANN, BRUHNS, SCHEIDT … LE CONCERT ÉTRANGER • ITAY JEDLIN AMBRONAY AMY 045 Ungeschönt, kompromisslos BEETHOVEN SYMPHONIES 4 & 5 HARNONCOURT CONCENTUS MUSICUS WIEN SONY CLASSICAL 88875136452 Reich an Farben ANNA VINNITSKAYA BRAHMS BACH-BRAHMS ALPHA CLASSICS 231 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … mit Doris Blaich, willkommen! Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 1. Satz (Ausschnitt) 0‘05 Nikolaus Harnoncourt hat Beethovens Fünfte neu eingespielt (und die Vierte) mit seinem Concentus Musicus Wien – 25 Jahre nach seiner Aufnahme mit dem Chamber Orchestra of Europe. Das schreit natürlich nach einem Vergleich! Außerdem gibt es hier heute späte Klavierstücke von Brahms mit der Pianistin Anna Vinnitskaya, dann „Conversations avec Dieu“ „Dialoge mit Gott“ – so nennt das französische Ensemble „Le Concert étranger“ seine neue CD mit frühbarocker geistlicher Musik Und jetzt zu Beginn: Ein Porträt der Komponistin Marie Jaëll. Sie war Schülerin von Franz Liszt, später Klavierlehrerin von Albert Schweitzer und eine der großen Virtuosinnen ihrer Zeit. – Als erste Kostprobe von Marie Jaëll: ein Walzer für Klavier zu vier Händen. Marie Jaëll: „Douze Valses et Finale pur piano à quatre mains“, Walzer Nr. 1 0’55 1 Ein Walzer von Marie Jaëll, gespielt von Lidija und Sanja Bizjak, der Erard-Flügel, den die beiden Geschwister sich hier teilen, stammt aus dem Jahr 1902. Die Walzer hat Marie Jaëll für sich und ihren Mann Alfred Jaëll geschrieben, mit ihm zusammen trat sie viele Jahre lang als Klavierduo auf – bis er sich von der Bühne verabschiedete. Vielleicht, weil sie ihm pianistisch haushoch überlegen war. Zumindest finden das die zeitgenössischen Konzertkritiker. Marie Jaëll wurde 1846 geboren, in Steinseltz, einem kleinen Dorf im Elsass. Das nächste Klavier stand im Nachbardorf, eine halbe Stunde entfernt; aber die kleine Marie hat so lange gebettelt, bis die Eltern ihr ein eigenes Instrument kauften. Und darauf übte sie wie besessen, machte erstaunliche Fortschritte, nahm dann Unterricht in Stuttgart; und dort hatte sie mit neun Jahren ihren ersten öffentlichen Auftritt. Sie reiste als Wunderkind durch die Lande – mit einem Klavier, das für sie extra eine Nummer kleiner gebaut war. Dann kam das Studium in Paris – besonders schön finde ich die Namen ihrer Lehrer: Henri Herz und Louis Liebe – und Herz und Liebe kennzeichneten auch ihr Spiel: In den Kritiken liest man von ihrem bemerkenswerten musikalischem Gefühl, von der klaren und leichten Linienführung. Später wurde sie Schülerin von Franz Liszt, eine Zeitlang auch seine Privatsekretärin; außerdem hatte sie Kompositionsunterricht bei Camille Saint-Saens und César Franck. Große Namen also, sie alle erkannten in Marie Jaëll ein außerordentliches Talent. Bemerkenswert sind auch die Konzertabende, die Marie Jaëll gab, und zwar mit zyklischen Programmen: im Juni 1889 alle Klaviersonaten von Beethoven, dann sechs Konzerte mit den wichtigsten Klavierwerken von Schumann und sechs Liszt-Abende. Für uns heute sind solche Programme ganz selbstverständlich, aber damals liebte man bunte Konzertabende, bei denen Werke von verschiedenen Komponisten und in den unterschiedlichsten Besetzungen wild durcheinander gewürfelt wurden: Sinfonien, Koloraturarien, Solostücke für Klavier und Konzerte. Da sind Marie Jaëlls Ideen schon sehr puristisch. Neben dem Hunger auf Musik war da auch ein unermüdlicher Forschergeist in ihr: Gemeinsam mit dem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Paris arbeitete sie an Experimenten zum Tastenanschlag, und sie erforschte genau die Bewegungsabläufe in der Hand. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Büchern, und ihre Erkenntnisse gab sie an ihre Schüler weiter – wie gesagt, Albert Schweitzer ist einer von ihnen. Die Kompositionen von Marie Jaëll sind heute kaum noch bekannt. Jetzt hat die Stiftung Palazzetto Bru Zane ein Buch veröffentlicht, das über das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau informiert, und mit drei CDs einen schönen Querschnitt ihrer Musik bietet: Da kann man zwei große Klavierkonzerte hören, ein Cellokonzert, jede Menge Charakterstücke für Klavier – davon hat sie besonders viel geschrieben – und die „Bärenlieder“ für Sopran und Orchester. Die stammen aus dem Jahr 1879 – da war Marie Jaëll 33 Jahre alt. Den humorvollen Text dieses Liederzyklus hat sie selbst gedichtet. Es geht darin um einen liebestollen Bären, der seine Gefährtinnen mit Bärencharme um den kleinen Finger wickelt – oder besser um die kleine Kralle. Hören Sie die Sopranistin Chantal Santon-Jeffery, sie wird begleitet vom Philharmonischen Orchester Brüssel, die Leitung hat Hervé Niquet. Marie Jaëll: „La Légende des ours“, Nr. 1 und Nr. 2 7‘40 Ein Ausschnitt aus „Die Geschichte von den Bären“ von der französischen Komponistin Marie Jaëll. Chantal Santon-Jeffery war die Sopranistin, Hervé Niquet dirigierte die Brüsseler Philharmoniker. Drei CDs umfasst diese Neuerscheinung und ein umfangreiches Buch über 2 das Leben und Werk der Komponistin und Pianistin Marie Jaëll. Veröffentlicht ist es in kleiner Auflage von der Stiftung Palazzetto Bru Zane, die in den letzten Jahren einige Kostbarkeiten der französischen Romantik wieder ans Licht geholt hat. Sie wundern sich vielleicht über den französisch-italienischen Hybrid-Namen dieser Stiftung. Das Bru kommt von der Geldgeberin Madame Bru, die reiche und kulturinteressierte Witwe eines Pharmaunternehmers. Vor zehn Jahren hat sie in Venedig einen kleinen barocken Palazzo gekauft und aufwändig restauriert: den Palazzetto Zane. Dort arbeitet ein französisches Team von Musikforschern, studiert Partituren, macht Noteneditionen, veranstaltet Konzerte und veröffentlicht solche wunderbaren CDs. Dass für die erste CD der Dirigent Hervé Niquet und die Brüsseler Philharmoniker gewonnen wurden, ist wirklich ein Glücksfall; das Orchester auf CD 2 ist etwas schwächer, aber wahrscheinlich wäre dieses Projekt sonst einfach nicht finanzierbar gewesen. Mit dem Palazzetto Bru Zane sind wir im 17. Jahrhundert gelandet – und da bleiben wir jetzt. „Conversations avec Dieu“ – Dialoge mit Gott – heißt eine neue CD, die das französische Ensemble Le Concert Étranger gerade veröffentlicht hat. Darauf sind geistliche Konzerte von Hammerschmidt, Scheidt, Bruhns und Telemann; in allen geht es um das menschliche Leid, das Gefühl des Verlassenseins und der Verzweiflung. Großer Weltschmerz also, starke Affekte – und genau die liebt die Musik des 17. Jahrhunderts. Die Geburt der Oper ist sozusagen der Urknall, das entscheidende Ereignis. Plötzlich geht es in der Musik um die Darstellung der menschlichen Leidenschaften in all ihren Schattierungen. Dafür erfindet man neue Formen, neue Harmonien, neue musikalische Gesetze. Italien ist in dieser experimentierfreudigen Zeit das Zentrum der musikalischen Entwicklungen. Von hier aus schwappt die Ästhetik der Leidenschaft ins restliche Europa. Weltliche und geistliche Musik haben zwar unterschiedliche Texte und Themen, aber im Kern geht es beiden um dieselbe Idee. Wenn der Held auf der Opernbühne um die verlorene Geliebte trauert, dann ist das musikalisch gar nicht so weit weg von einer verzagten Seele, die sich zerknirscht, verloren und gottverlassen fühlt. Diese Seelenfinsternis setzt Georg Philipp Telemann in Musik in seiner Psalmvertonung „Ach Herr, straf mich nicht in deinem Zorn“. Er schreibt diese Kantate als junger Mann in Leipzig, damals als Assistent des Thomaskantors Johann Kuhnau. Das Ensemble „Le Concert Étranger“ eröffnet seine CD mit dieser Psalmkantate von Telemann und kostet dabei sehr eindringlich die Nuancen von Text und Musik aus: die Seufzer, die musikalischen Figuren und Gesten der Trauer. Auch die klanglichen Qualitäten der Sprache kommen hier sehr gut zum Ausdruck – zum Beispiel die zischenden S-Laute in dem Abschnitt „Es müssen alle meine Feinde zuschanden werden.“ Das Glockengeläut am Anfang gehört übrigens zur Aufnahme, die ist in einer Kirche entstanden. Georg Philipp Telemann: „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn“, 9‘00 Psalmkantate Die Psalmkantate „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn“ von Georg Philipp Telemann, musiziert vom Ensemble Le Concert Étranger unter Leitung von Itay Jedlin. Mir gefällt an dieser Aufnahme, dass die Musiker nie über musikalische Details hinwegspielen oder singen, und trotzdem in großen Bögen denken: schwingend und atmend. Die Texte handeln von Schmerzen und Seelenqualen, und die Musik spiegelt diese extremen Affekte. Die Musiker in dieser Aufnahme schreien den Schmerz aber niemals heraus, sondern musizieren eher nach innen gekehrt; mit Ruhe, aber deswegen nicht ohne Spannung und schon gar nicht langweilig. Ich finde, das hat eine große Intensität. 3 Hören wir noch ein Concerto von Samuel Scheidt, 1634 veröffentlicht – also mitten im Dreißigjährigen Krieg. Der Text stammt aus dem Buch Jeremia: „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn“. Scheidt liebt die Gegenüberstellung von tiefen und hohen Stimmen – das hat fast eine räumliche Wirkung, und er liebt ungewöhnliche Harmonien mit langen Ketten von Vorhalt-Dissonanzen. Die kosten die Sängerinnen und Sänger dieser Aufnahme lustvoll aus. Die Stimmen mischen sich hier ganz wunderbar – untereinander und auch mit den Instrumenten.