Freitag, 29.01.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Doris Blaich

Klare und leichte Linienführung PALAZZETTO BRU ZANE | Portraits Volume 3 MARIE JAËLL (1846-1925) Musique symphonique Musique pour le piano PALAZZETTO BRU ZANE ES 1022, 3 CDs

Schwingend und atmend CONVERSATIONS AVEC DIEU MOTETS ET CANTATES DE HAMMERSCHMIDT, TELEMANN, BRUHNS, SCHEIDT … LE CONCERT ÉTRANGER • ITAY JEDLIN AMBRONAY AMY 045

Ungeschönt, kompromisslos BEETHOVEN SYMPHONIES 4 & 5 HARNONCOURT CONCENTUS MUSICUS WIEN SONY CLASSICAL 88875136452

Reich an Farben ANNA VINNITSKAYA BRAHMS BACH-BRAHMS ALPHA CLASSICS 231

Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“

… mit Doris Blaich, willkommen!

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 1. Satz (Ausschnitt) 0‘05

Nikolaus Harnoncourt hat Beethovens Fünfte neu eingespielt (und die Vierte) mit seinem Concentus Musicus Wien – 25 Jahre nach seiner Aufnahme mit dem Chamber Orchestra of Europe. Das schreit natürlich nach einem Vergleich!

Außerdem gibt es hier heute späte Klavierstücke von Brahms mit der Pianistin Anna Vinnitskaya, dann „Conversations avec Dieu“ „Dialoge mit Gott“ – so nennt das französische Ensemble „Le Concert étranger“ seine neue CD mit frühbarocker geistlicher Musik

Und jetzt zu Beginn: Ein Porträt der Komponistin Marie Jaëll. Sie war Schülerin von Franz Liszt, später Klavierlehrerin von Albert Schweitzer und eine der großen Virtuosinnen ihrer Zeit. – Als erste Kostprobe von Marie Jaëll: ein Walzer für Klavier zu vier Händen.

Marie Jaëll: „Douze Valses et Finale pur piano à quatre mains“, Walzer Nr. 1 0’55

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Ein Walzer von Marie Jaëll, gespielt von Lidija und Sanja Bizjak, der Erard-Flügel, den die beiden Geschwister sich hier teilen, stammt aus dem Jahr 1902. Die Walzer hat Marie Jaëll für sich und ihren Mann Alfred Jaëll geschrieben, mit ihm zusammen trat sie viele Jahre lang als Klavierduo auf – bis er sich von der Bühne verabschiedete. Vielleicht, weil sie ihm pianistisch haushoch überlegen war. Zumindest finden das die zeitgenössischen Konzertkritiker.

Marie Jaëll wurde 1846 geboren, in Steinseltz, einem kleinen Dorf im Elsass. Das nächste Klavier stand im Nachbardorf, eine halbe Stunde entfernt; aber die kleine Marie hat so lange gebettelt, bis die Eltern ihr ein eigenes Instrument kauften. Und darauf übte sie wie besessen, machte erstaunliche Fortschritte, nahm dann Unterricht in Stuttgart; und dort hatte sie mit neun Jahren ihren ersten öffentlichen Auftritt. Sie reiste als Wunderkind durch die Lande – mit einem Klavier, das für sie extra eine Nummer kleiner gebaut war. Dann kam das Studium in Paris – besonders schön finde ich die Namen ihrer Lehrer: Henri Herz und Louis Liebe – und Herz und Liebe kennzeichneten auch ihr Spiel: In den Kritiken liest man von ihrem bemerkenswerten musikalischem Gefühl, von der klaren und leichten Linienführung.

Später wurde sie Schülerin von Franz Liszt, eine Zeitlang auch seine Privatsekretärin; außerdem hatte sie Kompositionsunterricht bei Camille Saint-Saens und César Franck. Große Namen also, sie alle erkannten in Marie Jaëll ein außerordentliches Talent.

Bemerkenswert sind auch die Konzertabende, die Marie Jaëll gab, und zwar mit zyklischen Programmen: im Juni 1889 alle Klaviersonaten von Beethoven, dann sechs Konzerte mit den wichtigsten Klavierwerken von Schumann und sechs Liszt-Abende. Für uns heute sind solche Programme ganz selbstverständlich, aber damals liebte man bunte Konzertabende, bei denen Werke von verschiedenen Komponisten und in den unterschiedlichsten Besetzungen wild durcheinander gewürfelt wurden: Sinfonien, Koloraturarien, Solostücke für Klavier und Konzerte. Da sind Marie Jaëlls Ideen schon sehr puristisch.

Neben dem Hunger auf Musik war da auch ein unermüdlicher Forschergeist in ihr: Gemeinsam mit dem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Paris arbeitete sie an Experimenten zum Tastenanschlag, und sie erforschte genau die Bewegungsabläufe in der Hand. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Büchern, und ihre Erkenntnisse gab sie an ihre Schüler weiter – wie gesagt, Albert Schweitzer ist einer von ihnen.

Die Kompositionen von Marie Jaëll sind heute kaum noch bekannt. Jetzt hat die Stiftung Palazzetto Bru Zane ein Buch veröffentlicht, das über das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau informiert, und mit drei CDs einen schönen Querschnitt ihrer Musik bietet: Da kann man zwei große Klavierkonzerte hören, ein Cellokonzert, jede Menge Charakterstücke für Klavier – davon hat sie besonders viel geschrieben – und die „Bärenlieder“ für Sopran und Orchester. Die stammen aus dem Jahr 1879 – da war Marie Jaëll 33 Jahre alt. Den humorvollen Text dieses Liederzyklus hat sie selbst gedichtet. Es geht darin um einen liebestollen Bären, der seine Gefährtinnen mit Bärencharme um den kleinen Finger wickelt – oder besser um die kleine Kralle.

Hören Sie die Sopranistin Chantal Santon-Jeffery, sie wird begleitet vom Philharmonischen Orchester Brüssel, die Leitung hat Hervé Niquet.

Marie Jaëll: „La Légende des ours“, Nr. 1 und Nr. 2 7‘40

Ein Ausschnitt aus „Die Geschichte von den Bären“ von der französischen Komponistin Marie Jaëll. Chantal Santon-Jeffery war die Sopranistin, Hervé Niquet dirigierte die Brüsseler Philharmoniker. Drei CDs umfasst diese Neuerscheinung und ein umfangreiches Buch über 2

das Leben und Werk der Komponistin und Pianistin Marie Jaëll. Veröffentlicht ist es in kleiner Auflage von der Stiftung Palazzetto Bru Zane, die in den letzten Jahren einige Kostbarkeiten der französischen Romantik wieder ans Licht geholt hat. Sie wundern sich vielleicht über den französisch-italienischen Hybrid-Namen dieser Stiftung. Das Bru kommt von der Geldgeberin Madame Bru, die reiche und kulturinteressierte Witwe eines Pharmaunternehmers. Vor zehn Jahren hat sie in Venedig einen kleinen barocken Palazzo gekauft und aufwändig restauriert: den Palazzetto Zane. Dort arbeitet ein französisches Team von Musikforschern, studiert Partituren, macht Noteneditionen, veranstaltet Konzerte und veröffentlicht solche wunderbaren CDs.

Dass für die erste CD der Dirigent Hervé Niquet und die Brüsseler Philharmoniker gewonnen wurden, ist wirklich ein Glücksfall; das Orchester auf CD 2 ist etwas schwächer, aber wahrscheinlich wäre dieses Projekt sonst einfach nicht finanzierbar gewesen.

Mit dem Palazzetto Bru Zane sind wir im 17. Jahrhundert gelandet – und da bleiben wir jetzt. „Conversations avec Dieu“ – Dialoge mit Gott – heißt eine neue CD, die das französische Ensemble Le Concert Étranger gerade veröffentlicht hat. Darauf sind geistliche Konzerte von Hammerschmidt, Scheidt, Bruhns und Telemann; in allen geht es um das menschliche Leid, das Gefühl des Verlassenseins und der Verzweiflung. Großer Weltschmerz also, starke Affekte – und genau die liebt die Musik des 17. Jahrhunderts. Die Geburt der Oper ist sozusagen der Urknall, das entscheidende Ereignis. Plötzlich geht es in der Musik um die Darstellung der menschlichen Leidenschaften in all ihren Schattierungen. Dafür erfindet man neue Formen, neue Harmonien, neue musikalische Gesetze.

Italien ist in dieser experimentierfreudigen Zeit das Zentrum der musikalischen Entwicklungen. Von hier aus schwappt die Ästhetik der Leidenschaft ins restliche Europa. Weltliche und geistliche Musik haben zwar unterschiedliche Texte und Themen, aber im Kern geht es beiden um dieselbe Idee. Wenn der Held auf der Opernbühne um die verlorene Geliebte trauert, dann ist das musikalisch gar nicht so weit weg von einer verzagten Seele, die sich zerknirscht, verloren und gottverlassen fühlt.

Diese Seelenfinsternis setzt Georg Philipp Telemann in Musik in seiner Psalmvertonung „Ach Herr, straf mich nicht in deinem Zorn“. Er schreibt diese Kantate als junger Mann in Leipzig, damals als Assistent des Thomaskantors Johann Kuhnau. Das Ensemble „Le Concert Étranger“ eröffnet seine CD mit dieser Psalmkantate von Telemann und kostet dabei sehr eindringlich die Nuancen von Text und Musik aus: die Seufzer, die musikalischen Figuren und Gesten der Trauer. Auch die klanglichen Qualitäten der Sprache kommen hier sehr gut zum Ausdruck – zum Beispiel die zischenden S-Laute in dem Abschnitt „Es müssen alle meine Feinde zuschanden werden.“ Das Glockengeläut am Anfang gehört übrigens zur Aufnahme, die ist in einer Kirche entstanden.

Georg Philipp Telemann: „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn“, 9‘00 Psalmkantate

Die Psalmkantate „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn“ von Georg Philipp Telemann, musiziert vom Ensemble Le Concert Étranger unter Leitung von Itay Jedlin. Mir gefällt an dieser Aufnahme, dass die Musiker nie über musikalische Details hinwegspielen oder singen, und trotzdem in großen Bögen denken: schwingend und atmend. Die Texte handeln von Schmerzen und Seelenqualen, und die Musik spiegelt diese extremen Affekte. Die Musiker in dieser Aufnahme schreien den Schmerz aber niemals heraus, sondern musizieren eher nach innen gekehrt; mit Ruhe, aber deswegen nicht ohne Spannung und schon gar nicht langweilig. Ich finde, das hat eine große Intensität.

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Hören wir noch ein von Samuel Scheidt, 1634 veröffentlicht – also mitten im Dreißigjährigen Krieg. Der Text stammt aus dem Buch Jeremia: „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn“. Scheidt liebt die Gegenüberstellung von tiefen und hohen Stimmen – das hat fast eine räumliche Wirkung, und er liebt ungewöhnliche Harmonien mit langen Ketten von Vorhalt-Dissonanzen. Die kosten die Sängerinnen und Sänger dieser Aufnahme lustvoll aus. Die Stimmen mischen sich hier ganz wunderbar – untereinander und auch mit den Instrumenten.

Samuel Scheidt: „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn“ 6‘20

„Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn“ – Motette von Samuel Scheidt aus dem Jahr 1634. Das Ensemble „Le Concert Étranger“ musizierte unter der Leitung von Itay Jedlin. „Conversations avec Dieu“ ist der Titel der CD – „Dialoge mit Gott“, sie enthält geistliche Konzerte und Kantaten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts von Hammerschmidt, Telemann, Bruhns und Scheidt. Zwischen den Kantaten sind Orgelstücke und instrumentale Sonaten eingebaut – eine sehr geschmackvolle Zusammenstellung, mit viel Stilgefühl und Ausdruckskraft musiziert. Das französische Label Ambronay hat die CD veröffentlicht.

„Die Kunst ist … keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein“ – das sagt der Dirigent . Am 5. Dezember, einen Tag vor seinem 86. Geburtstag, hat er sich von der Bühne verabschiedet, mit einem offenen Brief an sein Publikum – den kann man übrigens auch auf seiner Website nachlesen (in Harnoncourts charaktervoller Handschrift, die auch einem Architekten gehören könnte). Er schreibt: „Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne“. Und Pläne gab es noch viele – unter anderem bei der Styriarte in einen Beethoven-Zyklus: alle Sinfonien mit dem Concentus Musicus Wien, seinem eigenen Orchester. Jahrelang hat Harnoncourt darin selbst Cello gespielt und seine Frau Alice die erste Geige. Die Konzerte dirigieren jetzt jüngere Dirigenten, die Harnoncourt verbunden sind: Jérémie Rhorer, Andrés Orozo-Estrada und Karina Canellakis (sie ist letztes Jahr schon einmal für Harnoncourt eingesprungen).

Parallel zu den Konzerten war eine Gesamteinspielung der Beethoven-Sinfonien geplant, die wird jetzt leider nicht mehr fertig. Bis auf eine – und die kommt nächsten Freitag in den Handel mit den Sinfonien Nr. 4 und 5. Vor 25 Jahren hat Harnoncourt die Beethoven- Sinfonien schon einmal eingespielt, damals mit dem Chamber Orchestra of Europe.

Schauen wir doch mal, worin sich die beiden Interpretationen der Fünften unterschieden. Da sind zum einen die Instrumente. Der Concentus Musicus spielt auf historischen Instrumenten aus der Beethoven-Zeit, das Chamber Orchestra of Europe auf modernen Instrumenten (abgesehen von den Trompeten, da wurden Naturtrompeten ohne Ventile gespielt). Den Unterschied im Klang der Instrumente hört man besonders deutlich im vierten Satz, da ist die Orchesterbesetzung am größten: Die Posaunen spielen erst ab diesem Finale mit, ebenso eine Piccolo-Flöte.

Hören wir rein in Harnoncourts Einspielung mit dem Chamber Orchestra of Europe von 1990:

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 4. Satz, Ausschnitt 0‘40 Chamber Orchestra of Europe

Und jetzt die neue Einspielung mit dem Concentus Musicus Wien. Die Stimmung ist hier um einen knappen Halbton tiefer, davon bitte nicht irritieren lassen. Der Klang der alten Blasinstrumente, das werden Sie gleich hören, ist viel direkter und schärfer.

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Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 4. Satz, Ausschnitt 0‘40 Concentus Musicus Wien

Der Beginn des vierten Satzes aus Beethovens Sinfonie Nr. 5 mit dem Concentus Musicus Wien. Fast grell ist dieser Klang mit den schmetternden Blechbläsern und dem schrillen Flagoelett, einer besonderen Piccoloflöte. Schön kann man diesen Klang nicht unbedingt nennen ... Aber Klangschönheit ist hier auch gar nicht das Ziel. Harnoncourt geht es um einen Klang, der sich radikal von den anderen drei Sätzen unterscheidet: Die haben ihre Heimat in der dunklen Welt in c-Moll, der klassischen Trauertonart. Das Finale (das attacca aus dem dritten Satz hervorgeht) entkommt daraus mit einem Schlag: Plötzlich bricht die Musik durch nach C-Dur. Durch die Nacht zum Licht – ein unglaubliches Ereignis, von vielen großen Musikschriftstellern bewundert.

Harnoncourt schreibt im Booklet dazu: „Es ist für mich eigentlich schon als sehr junger Mensch klar gewesen, .... dass hier eine Türe nach außen aufgeht auf einen großen Balkon und die Symphonie sich ins Freie begibt. Das ist also Freiluftmusik. Interessant ist, dass bei der Pariser Uraufführung napoleonische Soldaten im Publikum geschrieen haben sollen „Vive l’Empereur!“ Die haben dieses Werk sofort politisch gesehen, als eine Befreiung, als einen großen Sieg.“

Ganz unterschiedlich sind auch die Hörner in den beiden Aufnahmen: einmal moderne Hörner mit Ventilen, einmal Naturhörner ohne Ventile. Hören wir einen Ausschnitt aus dem dritten Satz, wieder zuerst das Chamber Orchestra of Europe, da blasen zwei moderne Hörner.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 3. Satz, Ausschnitt 0‘35 Chamber Orchestra of Europe

Und jetzt die neuere Aufnahme mit dem Concentus Musicus. Auf Naturhörnern, die ja keine Ventile haben, kann man über die Regulierung der Lippenspannung nur bestimmte Töne spielen (eben die Naturtonreihe), bei allen anderen Tönen muss man stopfen, das heißt, die Hand ein Stück in den Schalltrichter schieben, dadurch verkürzt man den Luftweg, und der Ton wird höher. Der Nebeneffekt ist, dass sich die Klangqualität dadurch verändert: Die Naturtöne klingen schmetternd und brillant, die gestopften Töne viel dumpfer. Und die genaue Intonation ist ausgesprochen schwierig. Hörner haben ja auch den Kosenamen „Glücksspiralen“, und das ist besonders treffend für die Naturhörner.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 3. Satz, Ausschnitt 0‘30 Concentus Musicus Wien

... die Aufnahme mit dem Concentus Musicus Wien. Auch hier spielen Schönheit und Perfektion keine Rolle, es geht um den Charakter des Instruments, das durchaus seine Brüche zeigen darf. Als ich die Stelle zum ersten Mal gehört habe, fand ich sie grässlich unsauber und dachte mir sofort, warum haben sie da nicht mehrere Takes aufgenommen und die wacklige Intonation ausgetauscht? Einem jungen Dirigenten würde man das sicher nicht durchgehen lassen. Bei Harnoncourt drücke ich ein Auge zu, weil ich die Passage in ihrer schmetternden Wucht auch irgendwie ehrlich finde. Naturhörner klingen halt einfach so, auch wenn sie ein Könner spielt. Etwas sauberer wär trotzdem schön.

Kommen wir zu den Tempi – bei Beethoven immer eine Gretchenfrage. Er hat ja zu vielen seiner Stücke Metronomangaben gemacht – auch zur fünften Sinfonie; wobei jeder Musiker weiß, dass Metronomangaben nie ganz sklavisch zu befolgen sind, weil sie immer im Zusammenhang stehen mit der Größe des Orchesters und der Akustik im Raum. Außerdem darf man sich natürlich niemals vom Schlag des Metronoms dirigieren lassen, weil sonst die 5

Musik in einem Korsett steckt und nicht mehr atmen kann. Im ersten Satz der Sinfonie gibt es gerade zu Beginn etliche Fermaten und anschließende Generalpausen. Da kann man das Metronom gerade mal vergessen, weil bei den Fermaten die Dauer sowieso nicht klar definiert ist.

Hören wir wieder zuerst das Chamber Orchestra of Europe. Da bewegt sich die Musik in einem ziemlich gleichmäßigen Puls.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 1. Satz (Ausschnitt) 0‘55 Chamber Orchestra of Europe

Und zum Vergleich die neue Aufnahme mit dem Concentus Musicus:

Ludwig van Beethoven: 5. Sinfonie, 1. Satz (Ausschnitt) 0‘55 Concentus Musicus Wien

Die Tempi sind hier viel flexibler, es gibt – zum Beispiel vor dem Einsatz des zweiten Themas – große Schwankungen: Beschleunigung, dann wieder Temporeduktion.

Bei vielen Dirigenten kann man beobachten: Wenn sie das Tempo zurücknehmen, dann lässt sofort die Spannung nach. Das ist bei Harnoncourt nicht so, hier strömt die ganze Zeit die Energie – mal etwas gestaut, dann wieder zügiger. Langsamer werden hat nichts zu tun mit mangelnder Präsenz oder Nachlässigkeit. Zumindest mir scheinen die Tempi und auch die Schwankungen bewusst gewählt, ich finde sie lebendig und plausibel.

Was Harnoncourt mit dieser Freiheit aber in Kauf nimmt, ist, dass die pochenden Achtelfiguren oft nicht ganz präzise sind, und dass der Rhythmus klappert, wenn die Figuren durch die Stimmen hin und her wandern. Bei dieser Sinfonie, deren erster Satz ja lebt von den drei pochenden Achteln, sind die idealerweise messerscharf. Hören wir den ersten Satz in dieser Aufnahme weiter bis zum Schluss.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 1. Satz (Ausschnitt) 7‘00 Concentus Musicus Wien

Der erste Satz aus Beethovens Sinfonie Nr. 5 in der neuen Aufnahme mit Nikolaus Harnoncourt und dem Concentus Musicus Wien. Sie wirkt viel radikaler, ungeschönt, kompromisslos und darum auch sehr lebendig und temperamentvoll – insgesamt vielleicht feuriger als die ältere Aufnahme von 1990 mit dem Chamber Orchestra of Europa, die allerdings auch nicht gerade verschlafen ist.

Hören wir jetzt noch den zweiten Satz aus der fünften Sinfonie, ein groß angelegter Variationensatz, in dem zwei Themen durch alle Lebenslagen wandern: durch Täler und Höhen, triumphierend und zerknirscht, zurückhaltend und schwelgerisch-stürmend. Das alles hat bei Harnoncourt und dem Concentus Musicus eine glühende Ausdruckskraft und Eindringlichkeit – und auch hier spüre ich eine noch stärke musikalische Intensität als 25 Jahre zuvor.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, 2. Satz 9‘05 Concentus Musicus Wien

Der zweite Satz aus Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 5. Nikolaus Harnoncourt dirigierte den Concentus Musicus Wien. Die vierte und die fünfte Sinfonie sind auf dieser neuen CD – es ist wahrscheinlich Harnoncourts letzte Neuproduktion. Viel von seinem Geist steckt drin

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und von seinem Feuer, von seiner Kompromisslosigkeit und seiner unglaublichen musikalischen Energie. Kommenden Freitag wird die CD veröffentlicht beim Label SONY.

Sie hören „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“.

Am Ende jeder französischen Barockoper steht eine Chaconne – ein großer Variationensatz, über einem ostinaten Bass mit üppigem musikalischen Aufgebot und ebenso viel Aufwand auf der Bühne: Hier kommen meistens noch einmal alle zusammen zu einem triumphierenden Fest: Tänzer, Sängersolisten und der Chor– der Absolutismus feiert sich selbst und zeigt sich auf der Opernbühne in all seiner Pracht.

Johann Sebastian Bach weiß das. Und wenn er als Schlusssatz seiner Partita d-Moll für Geige solo eine großangelegte Chaconne schreibt, dann stellt er sie in diesen Zusammenhang. Auch seine Chaconne ist ein Fest. Aber hier feiert die Musik sich selbst und zeigt, was sie alles kann. Das hat viele spätere Komponisten begeistert und zu Nachahmungen oder Bearbeitungen inspiriert: Johannes Brahms zum Beispiel. Brahms schreibt über dieses Stück:

„Diese Chaconne ist eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke. Auf einem einzigen Notensystem schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und Empfindungen.“

Brahms schreibt 1877 eine Klavierversion der Chaconne – mit einer besonderen Absicht, und die heißt: Das Klavier soll so nah wie möglich am Original für Geige bleiben! Die Geige ist ja ein Melodieinstrument, man kann höchstens zwei Töne gleichzeitig darauf spielen, vierstimmige Akkorde sind natürlich möglich, aber immer gebrochen. Im Gegensatz zum Klavier, da hat man ja zehn Töne zur Verfügung. Brahms beschränkt sich deshalb in seiner Bearbeitung auf eine Pianistenhand: die linke. „Eine Übung für die linke Hand“ schreibt er im Untertitel.

Die Pianistin Anna Vinnitskaya hat die Chaconne jetzt aufgenommen auf ihrer nagelneuen Brahms-CD. Im Booklet schreibt sie dazu: „Auf dem Klavier liegen die Töne sichtbar vor dir, auf der Geige muss man sie erst finden. Das erzeugt eine innere Spannung, die uns Pianisten oft fehlt. Die künstliche Beschränkung auf die linke Hand – und die Tatsache, dass Bachs Musik eben nicht fürs Klavier konzipiert und daher extrem unbequem zu spielen ist – versetzt uns in eine ähnliche Situation. Im Studio habe ich gedacht: Warum nimmst du nicht die rechte Hand dazu? Keiner wird es hören. Aber erstens fehlt dann diese innere Spannung, und zweitens hat der Tonmeister immer geguckt, dass ich nicht schummele ...“ Anna Vinnitskaya hat hier gegenüber den meisten Pianisten einen klaren Vorteil: sie ist nämlich Linkshänderin.

Johannes Brahms: Chaconne für die linke Hand 14‘10

Johann Sebastian Bach: die Chaconne aus der Partita d-Moll für Violine solo, transkribiert für Klavier von Johannes Brahms – und mit links gespielt von Anna Vinnitskaya; die, wie ich finde, die Linien und Spannungsbögen dieser Musik mit souveräner Klarheit gestaltet und dabei wunderbar mit unterschiedlichen Klangfarben zaubert.

Der Reichtum an Farben ist überhaupt eine der Stärken dieser CD – eine der vielen Stärken. Anna Vinnitskaya beherrscht die unterschiedlichen Nuancen und bringt sie klug zum Einsatz: Sie kann das Instrument donnern lassen, mit Kraft und großer Energie, sie kann aber auch auf der Klaviatur flüstern, tänzeln und säuseln. Die Extreme reizt sie voll und ganz aus. Aber – und das unterscheidet vielleicht die wirklich großen Pianisten vom Mittelmaß – sie spielt auch im Mezzoforte differenziert, wenn die Musik gerade nicht explodiert oder sich 7

ganz zurückzieht, sondern einfach nur vorwärtsgeht. Da hält sie die Spannung, arbeitet die musikalischen Linien plastisch hervor, auch wenn die Rhythmen noch so komplex verschachtelt sind. Für die Musik von Brahms ist das ganz essentiell. Brahms schreibt zwar höchst leidenschaftliche Musik, aber die Leidenschaft brodelt fast immer ein Stück unter der Oberfläche, ist verborgen und versteckt. Man muss sie beim Spielen hervorlocken. Genau das kann Anna Vinnitskaya. Wir hören zum Abschluss aus ihrer Brahms CD die zweite Rhapsodie op. 79 in g-Moll.

Johannes Brahms: Rhapsodie g-Moll op. 79 Nr. 2 5’35

Johannes Brahms: Rhapsodie g-Moll op. 79 Nr. 2, gespielt von Anna Vinnitskaya. Sie hat vor sieben Jahren den Reine Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel gewonnen, ist seither in den Konzertsälen der Welt unterwegs, hat eine Professur an der Hamburger Musikhochschule und hat in den letzten Jahren innerhalb kürzester Zeit fünf CDs eingespielt. Keine Ahnung, wie sie das alles schafft. Man kann nur hoffen, dass sie mit dieser Energie weitermacht. Die Brahms-CD erscheint in der ersten Märzwoche beim Label ALPHA und enthält außer den beiden Rhapsodien und der Bach-Transkription von Brahms noch die Klavierstücke op. 76 und die Fantasien op. 116 – extrem verdichtete Spätwerke. Ich finde, sehr hörenswert.

Und das war’s für heute mit den neuen CDs in „Treffpunkt Klassik“. Sieben Tage steht die Sendung im Netz zum Nachhören: unter swr2.de. Dort finden Sie von allen vorgestellten CDs auch die Titel und Bestellnummern. – Hier geht’s weiter mit Neuigkeiten vom SWR2 Kulturservice, anschließend folgen die Nachrichten. Tschüss sagt Doris Blaich.

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