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Umsetzung Und Verwandlung Der Konzeption Des Erhabenen Bei Schiller

Umsetzung Und Verwandlung Der Konzeption Des Erhabenen Bei Schiller

Umsetzung und Verwandlung der Konzeption des Erhabenen bei Schiller

Eine Untersuchung

über die Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung

am Beispiel von Schillers Maria Stuart

Inaugural-Dissertation

zur

Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie

in der

Fakultät für Philologie

der

RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

vorgelegt

von

Dong Hun Kim

Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum

Referent: ……. Prof. Dr. Benedikt Jeßing …...... Korreferent: … Prof. Dr. Ralph Köhnen …………. Tag der mündlichen Prüfung: …30. 01. 2018....

Meinem Großvater Johannes Kim gewidmet

Danksagung

„mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“ (Mk. 12, 30)

Gott sei Dank! Ich danke allen, die mich in den vergangenen Jahren immer wieder ermutigt haben. Ich bedanke mich ganz herzlich bei meinem Doktorvater, Prof. Dr. Benedikt Jeßing. Herr Jeßing stand mir stets mit seiner sowohl wissenschaftlichen als auch organisatorischen Unterstützung zur Seite. Prof. Dr. Ralph Köhnen danke ich auch für seine Unterstützung als Korreferent. Herr Köhnen hat mir besonders in meiner Disputation neue Anregungen für meinen weiteren wissenschaftlichen Weg gegeben.

Ich danke der KAS (Konrad Adenauer Stiftung), die meine Arbeit von 2012 bis 2016 gefördert hat. Die KAS hat mir während der gesamten Förderungszeit viele Möglichkeiten angeboten, an zahlreichen Seminaren und Fortbildungen teilzunehmen.

Ich hätte dieses langjährige Projekt ohne die Hilfe meiner Freunde nicht bewältigen können. Margherita Mascalchi Marchetti hat das ganze Manuskript meiner Dissertation gelesen und Feedback gegeben. Florian Pölking, mein Tandempartner, Jana, Naree, Rebekka, Harald usw. Viele haben mir bei der Korrektur dieser Arbeit geholfen und relevante Hinweise für Verbesserungen gegeben. Ich danke auch der Gemeinschaft Chemin Neuf und Pater Gerold Jäger, und Kaplan Johannes Na für ihre geschwisterliche Begleitung auf diesem Weg.

Zutiefst dankbar bin ich meiner besonderen „Germanistikfamilie“, meinen Eltern und meiner Schwester für ihre endlose Unterstützung und Ermutigung.

Inhalt

I. Einleitung……………………………………….…………………………….…….…. 1 1. : Ein Dramatiker als Theoretiker und Praktiker……...………….... 1 2. Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung bei Schiller.……….. 11 3. Forschungsfeld und Forschungsdesiderat….………………………..……….…….. 22 4. Forschungsgegenstand und Aufbau der Arbeit.…………………………….……… 28

II. Dramentheorie: Aufnahme des Begriffes des Erhabenen in das dramenpoetologische Feld………………….……………………………..……... 34 1. Dramenpoetologischer Diskurs im 18. Jh.: Gottsched, Johann Elias Schlegel, Lessing.………………………………………………………………………….... 35 1.1. Gottsched: Rationalistische Regelpoetik zwischen Barock und Französischem Klassizismus…………....……………………………………………………. 36 1.2. Johann Elias Schlegel: Wegweiser zur neuen Dramenpoetik im 18. Jh. ……….47 1.3. Lessing: Auf den Zuschauer bezogene Mitleidspoetik des Bürgerlichen Trauerspiels…………………………………………………………………... 55 2. Das Pathetischerhabene und die Wandlung der Dramenästhetik.….…….………… 66 2.1. Entstehung einer Tragödientheorie: Das Pathetischerhabene………..….…….. 66 2.2. Wandlung der Dramenästhetik in dramenpoetologischer Hinsicht……….….... 77

III. Drama: Literarische Umsetzung und Problematisierung des Erhabenen im Stück………………………………………………………………………….…… 85 1. Problematisierung des Erhabenen in Maria Stuart …..……………………………. 85 1.1. Abgrenzung von früheren dramenpoetologischen Konzepten….……………... 87 1.1.1. Wahrnehmung und Erscheinung der Figur der Maria………..…………... 88 1.1.2. Irritation des Erhabenen und Ironisierung der Bewunderungsästhetik ..… 100 1.2. Der Prozess des inneren Wandels Marias……………………………….….… 110 1.2.1. Die Funktion der Beichtszene……..…...…………………………….….. 111 1.2.2. Maria als erhabene Figur: Eine plötzliche Wandlung oder ein langer Prozess………………………………………………………………..... 121 2. Zusammenfassung ‒ Rückwirkung des Dramas auf die Dramentheorie…….…… 131

IV. Inszenierung: Dramaturgische Umsetzung und theatralische Darstellung des Erhabenen auf der Bühne…………………………………………………….… 140 1. Rekonstruktion einer historischen Inszenierung zur Inszenierungsanalyse……….. 142 1.1. Inszenierungsanalyse und Methodik der Rekonstruktion………………….… 142 1.2. Materialien für die Rekonstruktion der Schiller-Inszenierung……………….. 153 2. Das Weimarer Hoftheater als politisches und künstlerisches Umfeld für Schiller- Inszenierungen…………...….……...………………………………………….… 163 2.1. Das Weimarer Hoftheater: Ein kulturpolitisches Zentrum……………….…… 163 2.2. Künstlerische Darstellungsweise am Weimarer Hoftheater………………….. 170 3. Maria Stuart auf der Bühne zur Zeit des Dramatikers……….………….……….. 177 3.1. Inszenierung unter der Leitung von Schiller am Weimarer Hoftheater……… 177 3.1.1. Von der Fertigstellung des Manuskripts bis zum Einstudieren des Stücks 178 3.1.2. Darstellung des Stücks auf der Bühne…….…………..………………... 183 3.1.3. Rezeption und Wirkung der theatralischen Darstellung….……...….…... 192 3.2. Inszenierung unter der Leitung von Iffland am Berliner Nationaltheater….…. 202 3.2.1. Austausch zwischen Dramatiker und Intendant als Beginn der Inszenierung……………………………………………..……………..202 3.2.2. Darstellung des Stücks und Wechsel der Weimarer und Berliner Hauptdarstellerinnen…………..……………………………………… 211 3.2.3. Versuch einer Inszenierungsanalyse anhand der Kostümbilder…...... ….. 224 4. Rück- und Nachwirkung von der Inszenierung auf Dramentheorie und Drama…... 236 5. Auf der Bühne der Gegenwart: ausgewählte Aspekte der 16. Internationalen Schillertage Nationaltheater Mannheim………………………………………...…243

V. Fazit………………………………………………………………………………… 252

Anhang Literaturverzeichnis…………………………………………...…………………..… 263 Verzeichnis der Schemen, Tabellen und Kostümbilder……..……………..………… 275 Bildnachweis…….……………………...………………………...…...... … 276

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I. Einleitung

1. Friedrich Schiller: Ein Dramatiker als Theoretiker und Praktiker

Friedrich Schiller (1759-1805) war Dramatiker, aber gleichzeitig beschäftigte er sich sowohl mit der Dramentheorie als auch mit der Bühnenbearbeitung im praktischen Theaterbereich. Als Dramatiker vollendete er insgesamt neun Dramen. Während seiner philosophischen und ästhetischen Lehrjahre verfasste er seine meisten theoretischen Schriften über die Dramentheorie. Außerdem hat er die Stücke von anderen Dramatikern zu Bühnenfassungen für Inszenierungen am Weimarer Hoftheater verarbeitet und sie sogar inszeniert. Dass Schiller nicht nur im literarischen, sondern auch im Bereich der Verschränkung der Theorie und Praxis des Theaters beschäftigt war, ist ein wichtiger biografischer Moment. Denn dadurch wird nachvollziehbar, dass der Dramatiker auf der einen Seite sein Drama mit Rücksicht auf seine Theorie verfasst hat, und auf der anderen Seite sein Drama als potenzielles Material für die zukünftige Theateraufführung wahrgenommen hat. Aus diesem Grund ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung als repräsentative Komponenten bei Schiller. Umso offensichtlicher wird diese Verbindung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung durch den Faktor, dass eine tatsächliche Wechselwirkung zwischen Schiller als Theoretiker, Dramatiker und Praktiker existierte.

(1) Kooperative Tätigkeit in Schillers früher Epoche und in der Übergangszeit

Die Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Theater bei Schiller begann seit der Zeit der Ausarbeitung seines ersten Theaterstückes, Die Räuber (1781).1 Während dieser Zeit litt Schiller unter dem Druck und der Bedrohung

1 UA 13. Januar 1782, Nationaltheater Mannheim, Regie: Wolfgang Heribert von Dalberg. Vgl. Marion Siems (Hg.): Reclams neuer Schauspielführer, Stuttgart 2005, S. 189. Für die weitere Stücke sind folgende Angaben erläutert. Zunächst Verfassungsjahr im Klammer, Art der Aufführung: UA (Uraufführung), EA (Erste Aufführung) bzw. DSE (Deutschsprachige

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durch seinen damaligen Landesfürsten Karl Eugen, den Herzog von Württemberg (1728-1793). Schillers Existenz als ein selbständiger und freier Schriftsteller wurde stets durch Haftstrafe und Schreibverbot bedroht. Trotz aller Hindernisse auf dem Zugang zum Theater hat Schiller durch den Briefwechsel mit dem damaligen Intendanten des Nationaltheaters in Mannheim, Wolfgang Heribert von Dalberg (1750-1806), Kontakt zum Theater für die Aufführung seines ersten Stückes. Schiller bearbeitete sein Stück nach der kritischen Stellungnahme Dalbergs und versuchte, einen Kompromiss für die Bühnenfassung zu finden. Trotz seiner Unzufriedenheit mit der Veränderung des Originals ergab sich ein Erfolg bei der Premiere. Danach ließ Schiller 1782 die verbesserte Auflage für die Inszenierung bei dem Verlag von Christian Friedrich Schwan (1733-1815) neu drucken lassen. 2 Dies zeigt, dass eine Wechselwirkung zwischen Drama und Theater bei Schiller entstand, obgleich sein Verhältnis zum Theater nicht horizontal, sondern vertikal, also abhängig von der Meinung des Intendanten Dalberg war. Er befand sich in einer Lage ohne permanente finanzielle Absicherung. Daher wollte er seinen Status als Theaterdichter am Mannheimer Theater für die Zukunft sicherstellen. Für die weiteren Dramenstücke hat er sich wieder auf die praktische Theaterarbeit in Mannheim bezogen. Zum Beispiel bearbeitete er sein zweites Stück, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel (1783) 3 , von Beginn der Abfassung im Hinblick auf das Mannheimer Nationaltheater und auf Dalberg hin. Die zwölf nachträglich aufgefundenen Rollenhandschriften von Fiesko belegen auch, dass der Dramatiker das Stück im intensiven Kontakt mit der Theaterpraxis z. B. Bühne, Intendant, Regisseur und Schauspielern verfasste. 4 Den Titel des nächsten

Erstaufführung), dessen Aufführungsort und ggf. dessen Regisseur. 2 Vgl. Gert Sautermeister: »Die Räuber. Ein Schauspiel (1781)«, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart·Weimar 2005/2011, S. 1-52, hier S. 1ff. 3 UA 20. Juli 1783, Bonn, Großmannsche Truppe von Friedrich Wilhelm Großmann, UA mit Mannheimer Bühnenfassung, 11. Januar 1784, Nationaltheater Mannheim, Regie: Iffland; Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 191. 4 Vgl. Nikola Roßbach: »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel (1783)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): ebd., S. 53-55, hier S. 54.

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Stücks, Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel (1784)5, änderte er auf Empfehlung des damaligen Schauspielers August Wilhelm Iffland (1759-1814) in die heute bekannte Form.6 In dieser Zeit gewann für Schiller das Publikum eine relevante Funktion. In der Ankündigung für die Zeitschrift Rheinische Thalia äußert er, „das Publikum ist mir jetzt alles, mein Studium, mein Souverain [sic!], mein Vertrauter. Ihm allein gehör ich jetzt an“.7 Damit bezieht er sich stark auf die Verbindung zwischen seinem Stück und dessen Wirkung auf das Publikum. Darüber hinaus bekam der Dramatiker den Anlass zu Don Karlos – Infant von Spanien (1787/1805) 8 vom Intendanten, der ihm empfahl, über diesen Stoff ein Stück zu schreiben. Die Beispiele zeigen, dass die Zusammenarbeit bzw. der Kontakt zum Theater für Schiller eine praktische Hilfe für seine weitere dichterische Arbeit bot. In dieser frühen Zeit als junger Dichter äußerte Schiller theoretische Überlegungen über das Drama und Theater schriftlich. Zum Beispiel schrieb er die Vorrede für Die Räuber und Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Dazu verfasste er 1782 eine Rezension über sein eigenes Stück Die Räuber und veröffentlichte auch im Württembergischen Repertorium eine Theaterkritik über dessen Premiere am 13.01.1782 mit dem Titel „Anhang über die Vorstellung der Räuber“.9 Anschließend erschien wegen der umstrittenen Diskussion über die

5 UA 3, April 1784, Frankfurt a. M., Großmannsche Truppe von Friedrich Wilhelm Großmann, EA 15. April 1784, Mannheim, Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 193. 6 Vgl. ebd., S. 67. 7 Friedrich Schiller: Vermischte Schriften. Rheinische Thalia und Thalia, Bd. 22, in: Ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe in 42 Bänden, begründet v. Julius Petersen, fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, seit 1992 hg. v. Norbert Oellers im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik u. des Schiller-Nationalmuseums Marbach a. N. 1943ff, S. 93-100, hier S. 94f, später als „NA 22, S. 94f“ bezeichnet. 8 UA mit Thalia-Fassung 29, August 1787, Theater am Gänsemarkt, Hamburg unter dem Titel Dom Carlos, Regie: Friedrich Ludwig Schröder. Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 194; Schiller bearbeitete das Stück mehrmals nach der Erstausgabe der Buchfassung 1787, da er es später als sein jugendliches Stück betrachtete. Bis zu seinem Tod 1805 wurden sieben Druckfassungen veröffentlicht. Vgl. NA 29, S. 152; Matthias Luserke-Jaqui: »Don Karlos/Briefe über Don Karlos«, in: Ders.: Schiller-Handbuch, S. 92-109, hier S. 94, später als „Luserke-Jaqui: »Don Karlos«“ bezeichnet. 9 „Die Räuber. Der Autor an das Publikum“; NA 22, S. 88; „Fiesko. Erinnerung an das Publikum“; Ebd., S. 89-91; „Die Räuber. Ein Schauspiel von Friedrich Schiller 1782“; Ebd., S. 115-131; „Anhang über die Vorstellung der Räuber“; Ebd., S. 309-311; „Erläuterungen über

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Einheit von Don Karlos die Abhandlung Briefe über Don Karlos (1788). 10 Diese Schriften sind keine reinen theoretischen Schriften über allgemeine Dramenpoetik, sondern beinhalten bestimmte theoretische Überlegungen, die auf der Reflexion auf das eigene Stück und dessen Wirkung auf der Bühne beruhen. 1785 erschien die Schrift Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, die als eine der frühesten theoretischen Schriften gilt.11 Aus den unterschiedlichen Faktoren ist zu erkennen, dass Schiller durchaus in seiner früheren Epoche schon eine Position als Theoretiker vertrat und sich schon auf die dramentheoretischen Teile bezog. Sein Bezug auf die Theorie wurde durch die ‚theoretische Zeit’, die sich der Abfassung Don Karlos anschloss, verdeutlicht. Die Übergangszeit zwischen dem jungen Schiller auf der Flucht vor seinem Fürsten und dem klassischen Schiller in Weimar, der mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) den Weimarer Klassizismus prägte, ist keine verlorene Zeit für den Dramatiker Schiller. Während jener Zeit verfasste Schiller kein Theaterstück, aber er verbesserte durch die Beschäftigung mit ästhetischer und philosophischer Lektüre seinen poetischen Status.12 Schiller übernahm als Dramatiker rein ästhetische und philosophische Ideen von seinen Vorgängern Immanuel Kant (1724-1804), Lessing und Sulzer mit der Perspektive eines Dramatikers in die dramatische Welt und interpretierte sie neu. 13 Seit 1791 setzte er sich mit der kantischen Ästhetik auseinander. Seine Überlegungen zu Kant richten sich auf den theatralischen Aspekt.14

die Vorstellung der Räuber“; Ebd., S. 431-433. 10 „Diese insgesamt zwölf fiktiven Briefe, die eher als Essays bezeichnet werden können, erschienen im Juli (Brief 1-4) und Dezember (Brief 5-12) 1788 in Wielands Zeitschrift Der Teutsche Merkur. 1792 wurden sie überarbeitet im ersten Band der Kleineren prosaischen Schriften veröffentlicht.“ Vgl. Luserke-Jaqui: »Don Karlos«, S. 107. 11 Vgl. Peter-André Alt: Schiller: Leben-Werk-Zeit in 2 Bänden, München 2000, Bd. 2, S. 711f. Am 26. Juni 1784 hielt Schiller eine Rede vor der Deutschen Gesellschaft in Mannheim über Vom Wirken der Schaubühne auf das Volk, was ein Jahr später als Druckfassung mit dem Titel „was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ erschienen ist. 12 Seit 1790 hat er damit angefangen, die Vorlesung über die Theorie der Tragödie an der Universität Jena anzubieten, in der er 1788 als Professur berufen worden ist. Vgl. ebd., S. 712f. 13 Vgl. Kapitel II. 2. 1. 14 Worauf Schiller bei Kant aufmerksam gemacht hat, ist der Verknüpfungspunkt zu

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(2) Schiller in der Weimarer Zeit: ein Multiplayer im Bereich des Theaters

Eine engere und intensivere Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Theater bei Schiller wird in der späteren Epoche Schillers in Weimar sichtbar. Zwischen 1796 und 1805 war Schiller am Weimarer Hoftheater nicht nur als Dramatiker tätig, sondern auch gleichzeitig als Theoretiker und Dramaturg und schließlich als Inszenator oder Regisseur und künstlerischer Leiter des Theaters. In seiner Weimarer Zeit, in der er gleichzeitig mehrere Funktionen innehatte, stellten sich viele produktive Ergebnisse ein. Die wechselseitigen Wirkungen vollzogen sich sowohl innerhalb des Dramatikers bei der Tätigkeit zwischen der literarischen Dichtung und theatralischen Arbeit am Theater als auch zwischen den großen Weimarer Klassikern Goethe und Schiller.15 Diese Zusammenarbeit mit Goethe hat für Schillers Mitarbeit am Weimarer Hoftheater eine wichtige Rolle gespielt. Goethe übernahm 1791 die Leitung des neuen Weimarer Hoftheaters, die ihm von Herzog Carl August anvertraut wurde. Seit ihrer gegenseitigen Annäherung 1794 hatte Goethe Schiller vorgeschlagen, am Theater mitzuarbeiten. Er sah in Schiller eine Chance, „das Theater in künstlerischer Sicht [zu] bereichern, ihm eine neue ästhetische Dimension [zu] verleihen und Neuerungen durch[zu]setzen“16. Darüber hinaus trug er als Leiter des Theaters dazu bei, dass Schiller Zugang zum Weimarer Theater finden konnte, indem er

dramentheoretischen Gedanken. Vgl. Helmut Koopmann: »Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant«, in: Ders. (Hg.): Schiller-Handbuch, 2., durchgesehene und aktualisierte Aufl, In Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach, Stuttgart 2011, S. 611-624, hier S. 613, später als „Koopmann: »Kleinere Schriften«“ bezeichnet; Durch die Beschäftigung mit der Ästhetik und Philosophie verfasste er theoretische Schriften wie z. B. Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), Ueber die tragische Kunst (1792), Vom Erhabenen (1793) und Ueber das Erhabene (1801). Vgl. Zelle: »Über das Erhabene (1801)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch, S. 479-490, hier S. 480, später als „Zelle: »Über das Erhabene«“ bezeichnet. 15 Vgl. Birgit Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen. Schillers Anteil an der Leitung des Weimarer Hoftheaters«, in: Klaus Manger (Hg.): Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung, Heidelberg 2006, S. 29-46, hier S. 42ff, später als „Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen« bezeichnet. 16 Vgl. ebd., S. 36.

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ihn sein Stück Egmont (1788)17 bearbeiten ließ. Die weitere Unterstützung und das Vertrauen von Goethe ermöglichten ihm, nicht nur Zugang zum Theater zu finden, sondern inoffiziell „die Funktion eines Stellvertreters“ für den Theaterdirektor wahrzunehmen. Wenn Goethe wegen seines höfischen Dienstes in Weimar abwesend war, übernahm Schiller die Leitung des Weimarer Hoftheaters. Daher durfte Schiller neben Goethe im Theater nicht nur im künstlerischen, sondern auch im administrativen und organisatorischen Bereich als „das inoffizielle Leitungsteam des Weimarer Hoftheaters“18 mitwirken. Das ist ein deutlicher Unterschied zur frühen Lage im Nationaltheater Mannheim, in dem sich Schiller als Dramatiker unter dem Einfluss des Intendanten nur begrenzt beteiligen konnte. Die Zusammenarbeit zwischen Goethe und Schiller zielte auf ein gemeinsames Projekt ab.

»Wir [Goethe und Schiller] beriethen uns über den Gedanken, die deutschen Stücke die sich erhalten ließen, theils unverändert im Druck zu sammeln, theils aber verändert und ins Enge gezogen der neueren Zeit und ihrem Geschmack näher zu bringen. Eben dasselbe sollte mit ausländischen Stücken geschehen, eigene Arbeit jedoch durch eine solche Umbildung nicht verdrängt werden. Hier ist die Absicht unverkennbar den deutschen Theatern den Grund zu einem soliden Repertorium zu legen, und der Eifer dies zu leisten spricht für die Ueberzeugung, wie nothwendig und wichtig, wie folgereich ein solches Unternehmen sei.«19

Goethe und Schiller bemühten sich darum, eine neue deutsche Theaterkultur zu schaffen. Nach diesem Motto wurden die neuen Stücke adaptiert und modernisiert, um das Repertoire der Schaubühne zu verbessern und zu bereichern. Im Rahmen dieses Projekts verfasste Schiller auch seine eigenen Stücke und bearbeitete die Stücke anderer Dramatiker als Dramaturg.20

17 UA 9. Januar 1789 Mainz, UA mit Schillers Bühnenfassung 25. April 1796, Weimarer Hoftheater, Regie: Iffland. Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 171. 18 Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 30 u. 45. 19 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagesbücher und Gespräche in 40 Bänden, hg. v. Friedmar Apel u. a., Bd. 17: Tag- und Jahreshefte, hg. v. Irmtraut Schmid, Frankfurt a. M. 1994, S. 66, später als „Goethe: Sämtliche Werke“ bezeichnet. 20 Vgl. Helmut Koopmann: »Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen«, in: Ders. (Hg.): Schiller- Handbuch, S. 777-791, hier S. 784-791, später als „Koopmann: »Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen«“ bezeicnet; Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S.

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Durch diese Beschäftigung entstand natürlicherweise eine Wechselwirkung zwischen Theorie, Drama und Theater bei Schiller. Schillers erste Aufgabe am Weimarer Hoftheater war die Bearbeitung von Goethes Egmont 1796. Diese erste Aufgabe ließ Schiller für seine eigene Dichtung profitieren, da er die Arbeit als „Zurüstungen“ 21 für den Wallenstein“ sah. Denn Schiller war neun Jahre lang nach der Verfassung von Don Karlos (1787) entfernt von der dichterischen Tätigkeit und gerade wollte er wieder mit dem Dramenstück anfangen.22 Durch die Bearbeitung für Goethes Stück Egmont von Ende März bis Anfang April 1796 überwand Schiller den Zweifel an seinen eigenen dichterischen Fähigkeiten und bestätigte die Möglichkeit der Realisierung seines Stückes für die Bühne. 23 Mit der Ermutigung, die Schiller bei der Bearbeitung von Goethes Egmont bekam, verfasste und arbeitete Schiller die Wallenstein Trilogie (1798-1799)24 für die Darstellung auf der Bühne aus. Am 22. Oktober 1796 schrieb Schiller in der Kalendernotiz, dass er schließlich nach einer längeren Vorbereitungsphase „an den Wallenstein gegangen“25 sei. Während der Vorbereitung der Inszenierung lernte er das Ensemble kennen und machte Vorschläge für die Besetzung. Zuerst nahm er an die Proben teil und leitete sie später sogar. Er arbeitete mit dem Ensemble für eine theatralische Realisierbarkeit seines eigenen Stückes zusammen. Die Bedeutung der Wechselwirkung mit dem Theater wurde ihm durch diese Erfahrung natürlicherweise bewusst. In den Briefen zwischen Schiller und Goethe vom 9.

41. 21 Vgl. NA 28, S. 201f: Schillers Brief an Goethe am 18. März 1796. 22 Vgl. Harmut Reinhardt: »Wallenstein«, in: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 416-437, hier S. 416; Koopmann: »Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen«, S. 784. 23„Die gedankliche Auseinandersetzung z. B. mit der Praxis eines zweckmäßigen Aufbaus von Theaterstücken war ihm für seine weiteren dramatischen Arbeiten hilfreich“ Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 33. 24 Wallensteins Lager (1798, UA 12. Oktober 1798, Weimarer Hoftheater), Die Piccolomini (1799, UA 30. Januar 1799, Weimarer Hoftheater), Wallensteins Tod (1799, UA 20. April, Weimarer Hoftheater) Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 196-200. 25 Vgl. NA 41/I, 47; Vgl. Reinhardt, ebd., S. 416; Vgl. Norbert Oellers: »Wallenstein (1800)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 113-153, hier S. 115, später als „Oellers: »Wallenstein«“ bezeichnet.

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und 12. August 1799 nach der Uraufführung der Wallenstein Trilogie ist bemerkbar, dass Schiller sich wünscht, sich dem Theater anzunähern, um es für seine dramatische Arbeit inspirierend wirken zu lassen.26 Schließlich brachte dies Schiller tatsächlich näher zum Theater. Ende des Jahres 1799 zog er mit seiner Familie von Jena aus in das benachbarte Weimar, um intensiver mit dem Theater in Weimar arbeiten zu können.27 Die Wechselwirkung innerhalb des Dramatikers Schiller wurde größer, indem er an der künstlerischen Leitung der Inszenierungen teilnahm und weitere Stücke für die Bühnenfassung in Weimar bearbeiten konnte. Die Stücke anderer Dichter zu bearbeiten, war ein experimentelles Feld für seine Dramentheorie.28 Er veränderte die Werke anderer Dichter, um seine Dramentheorie zu verwirklichen. Vor dem „Hintergrund seiner eigenen wirkungsästhetischen Überlegungen zum ›Pathetisch-Erhabenen‹“29 übernahm er etwa die Bearbeitung der Iphigenie auf Tauris (1787, UA mit Prosafassung 6. April 1779)30. Darüber hinaus bearbeitete Schiller die Werke anderer Dichter, denen er seinen eigenen dramatischen Stil einschrieb. So ließ Schiller beispielsweise bei der Bearbeitung für Macbeth (UA möglicherweise 7. August 1806)31 die Shakespeare-Figuren in der Sprache seines Wallensteins reden.32 Neben den Stücken von Goethe und William Shakespeare (1564~1616)

26 Schillers Brief an Goethe am 9. und 12. Aug. 1799, Goethes Brief an Schiller am 10. August 1799. Vgl. Friedrich Schiller / Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch- Kritische Ausgabe in 2 Bänden, hg. v. Nobert Oellers, Bd. 2, Stuttgart 2009, S. 848-852, später als „Schiller / Goethe: Briefwechsel“ bezeichnet; NA 30, S.79. 27 Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 36f. 28 Vgl. ebd., S. 39f. 29 Benedikt Jeßing: »Im Wettstreit mit den Alten und den Neueren: Schillers Braut von Messina im Kontext Klassizistischer Dramenästhetik«, in: Klaus Manger (Hg.), Ebd., S. 359-376, hier S. 367, später als „Jeßing: »Braut von Messina«“ 30 1787, UA mit Prosafassung 6. April 1779, Liebhabertheater, Schloss Ettersburg bei Weimar, UA mit Versfassung 7. Januar 1800, Burgtheater Wien, UA mit Schillers Bühnenfassung 15. Mai 1802, Weimarer Hoftheater, Regie: Schiller; Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 169ff. 31 UA möglicherweise 7. August 1606, am Hofe Jakobs I., London, DSE 26. November 1771 Theater, Biberach, UA mit Schillers Bühnenfassung 14. Mai 1800, Regie: Schiller; Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 94ff. 32 Vgl. Heinz Gerd Ingenkamp: »Bearbeitungen und Übersetzungen«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 529-535, hier S. 531, später als „Ingenkamp: »Bearbeitungen und Übersetzungen«“ bezeichnet.

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bearbeitete er mehrere weitere Dramen. 33 Die Bearbeitung eines fremden Stückes trug nicht nur dazu bei, es nach seiner Dramentheorie neu zu organisieren und sprachlich zu realisieren, sondern bot sich auch als Quelle für seine eigene literarische Arbeit an. Das Material für Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder (1803) gewann er z. B. aus Euripides’ Phönizierinnen (410/409 v.Chr.), während er dieses Drama für das Repertoire recherchierte.

(3) Schillers Vielfältigkeit als ein neuer Impuls für die Schiller-Forschung

Schiller war der ‚Multiplayer’ im Bereich des Theaters in der Weimarer Zeit. Er bearbeitete die Stücke für die Bühne und leitete die Proben während der Abwesenheit Goethes. 34 Goethes Iphigenie auf Tauris ist ein beispielhaftes Projekt: Den Goetheschen Text bearbeitete er als Dramaturg und inszenierte das Stück sogar.35 Schiller führte auch selbst bei den meisten seiner eigenen Dramen

33 Beispiele für Schillers Bearbeitung sind etwa Goethes Stella. Ein Schauspiel für Liebende in fünf Akten (1776 Erste Fassung, UA 8. Februar 1776, Nationaltheater Hamburg / UA mit Schillers Bühnenfassung 1803, Weimarer Hoftheater), und Gotthold Ephraim Lessings (1729- 1781) Nathan der Weise (1779, UA (privat) Ende 1770er-Jahre Mannheim, UA (öffentlich) 14. April 1783, Theater in der Behrenstraße Berlin, Döbbelinsche Schauspielergesellschaft / UA mit Schillers Bühnenfassung, 28. November 1801, Weimar), Graf Carlo Gozzis (1720-1806) Turandot (1762, UA 22. Januar 1762 im Teatro San Samuele, Venedig, UA mit Schillers Bühnenfassung mit dem Titel Turandot, Prinzessin von China. 30. Januar 1802 Weimarer Hoftheater), und William Shakespeares (1564~1616), Macbeth (1623, UA möglicherweise 7. August 1606 am Hofe Jakobs I., London, frühe Aufführung 20. April 1611 Globe Theatre, UA mit Schillers Bühnenfassung 14. Mai 1800, Regie: F. Schiller) und Othello, der Mohr von Venedig (1622, UA möglicherweise um 1603/04 London, frühe Aufführung 1. November 1604 Palace of Whitehall in London, UA mit Schillers Bühnenfassung 8. Juni 1805 Weimarer Hoftheater). Louis Benoît Picards (1769-1828), Der Nette als Onkel (1791, UA 9 Juni 1791, théâtre Feydeau, UA mit Schillers Bühnenfassung 18. Mai 1803) und Der Parasit oder die Kunst, sein Glück zu machen (1797, UA 19 Juli 1797, au Théâtre-Français, UA mit Schillers Bühnenfassung 12. Oktober 1803) und Jean Baptiste Racines (1639-1699) Phädra (1677, UA 1. Januar 1677 Hotel de Bourgones Paris, UA mit Schillers Bühnenfassung 30. Januar 1805). Vgl. Koopmann: »Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen«; Vgl. Ingenkamp: »Bearbeitungen und Übersetzungen«, S. 531. 34 Z. B. berichtete Schiller Goethe während seiner Abwesenheit über den Prozess der Inszenierung der Iphigenie, dass das Ensemble bereit sei, die erste Aufführung am vorgesehenen Tag durchzuführen. Goethe kehrte erst zur Premiere am 14. Mai nach Weimar zurück. Schillers Brief an Goethe am 20. Jan. 1802; Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 1, S. 1005f; NA 39/I, S. 445f, 533, 588; Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 491. 35 Goethe wollte sein Stück auf der Weimarer Bühne aufführen lassen, aber er war selbst nicht

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Regie, und wirkte an der Inszenierung der Stücke anderer Dramatiker mit.36 Schillers Beteiligung als praktischer Theatermacher ist aber in der bisherigen Forschung relativ wenig bekannt und selten erwähnt.37 Dass Schiller nicht als Regisseur bekannt ist, liegt auch daran, dass er keinen offiziellen Titel im Bereich der künstlerischen Leitung am Theater besaß. Er gehörte stattdessen inoffiziell zum Leitungsgremium, der sogenannten Theaterkommission.38 Die gegenseitige Beeinflussung zwischen Schiller und dem Weimarer Hoftheater ist nicht zu unterschätzen. Das Weimarer Hoftheater war für Schiller ein „Experimentierfeld für den Entstehungsprozess [seiner] Dramen“39 und für die Verwirklichung und Umsetzung seiner Dramentheorie. 40 Dank seiner „umfangreichen Bestrebungen und der daraus resultierenden Reformen und Veränderungen im Theater war Schiller zum Motor für die Entwicklung am Weimarer Theater“ geworden.41 Seine Tätigkeit am Theater muss berücksichtigt werden, wenn man den Zusammenhang zwischen Theorie, Drama und Theater bei Schiller genauer untersuchen möchte. Aus der vielfältigen Beschäftigung als Theoretiker, Dramatiker und Praktiker im Theaterbereich resultierte dementsprechend ein enger Zusammenhang zwischen Theorie, Drama und Inszenierung als repräsentativen Komponenten von Schillers Werk. Theorie, Drama und Theater sind die Koordinaten des Handlungsfeldes Theater bei Schiller. Aus diesem Grund soll zunächst das allgemeine Verhältnis und die Transformation zwischen Dramentheorie, Drama und Theater genau betrachtet werden. Dann wird deren Wechselwirkung bei Schiller beleuchtet, um

überzeugt genug, eine Revision des Dramas in die Hand zu nehmen. Aus diesem Grund bat Goethe Schiller um die Bearbeitung seines Stücks für die Bühne. Vgl. Jeßing: »Braut von Messina«, S. 361; Über Goethes Iphigenie: Überlieferung und Lesarten, Vgl. NA 14/II, S. 330-335. 36 Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 42; Die zweite Leseprobe für Turandot leitete Schiller selbst und Goethe nahm erst wieder die Hauptprobe teil. NA 14/2, S. 316f. 37 Vgl. Kapitel I. 3; Vgl. Marbacher-Schiller-Bibliographie: https://www.dla-marbach.de/biblio thek/bibliografien/schiller-bibliografie/ (Zugriff am 23. Mai 2017). 38 Vgl. Himmelseher, Ebd. 39 Ebd., S. 39f. 40 Vgl. Jeßing, ebd., S. 367. 41 Vgl. Himmelseher, ebd., S. 39f.

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ihre Vielfalt zu verstehen, und schließlich werden seine dramentheoretischen, dramatischen und dramaturgischen bzw. theatralischen Werke als Ergebnis dieser Wechselwirkung exemplarisch herausgearbeitet.

2. Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung bei Schiller

Die hier unterstellte Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung bei Schiller macht zuallererst notwendig, die drei genannten Begriffe in allen Einzelheiten zu diskutieren. Auf der Basis der Begriffserklärung wird abgeleitet werden, in welchem Zusammenhang Dramentheorie, Drama und Inszenierung stehen und wie sie sich im Laufe des Umsetzungsprozesses verwandeln.

(1) Begriffserklärung: Dramentheorie, Drama und Inszenierung a. Der Begriff der Dramentheorie

Der Begriff der Dramentheorie ist „ein Teilgebiet der Literaturwissenschaft, das die Gesamtheit begrifflicher Systematisierungen in bezug auf Theaterstücke umfaßt.“42 Im Vergleich zum Verhältnis zwischen Drama und Inszenierung hat Dramentheorie keine direkte kausale Verbindung zu Drama und Inszenierung. Trotzdem spielt sie gegenüber Drama und Theater eine Rolle als Wegweiser und dient der Reflexion. In beiden Aspekten der Begriffserklärung für Dramentheorie wird anschaulich, dass die Dramentheorie eine wichtige Bedeutung sowohl für Drama als auch Theater im Sinne von Inszenierung trägt. Auf der einen Seite befasst sich Dramentheorie mit dem wirkungsästhetischen und historischen Aspekt des Theaters. Ihr Bezug auf

42 Herta Schmid: Art. »Dramentheorie«, in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller, Bd. I, Berlin·New York 1997, S. 402-406, hier S. 402.

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Theater besteht darin, dass das Drama als Grundlage für eine Inszenierung auf dem Schauplatz aufgeführt werden kann. Aber das bedeutet nicht, dass sich Dramentheorie mit der konkreten Aufführung auf der Bühne auseinandersetzt. Es wird nicht die einzelne Inszenierung analysiert, was die Aufgabe der Theaterwissenschaft ist,43 sondern es wird untersucht, zu welchem Zweck und in welcher Form sich das Theater im Laufe der Theatergeschichte entwickelt hat. Die Dramentheorien besitzen je nach Theoretiker einen unterschiedlichen Fokus. Daher ist es wichtig, die Strategien der Dramentheorie zu erkennen, die sich als Hintergrund im Drama bzw. Theater steckt. Dramentheorie weist auch darauf hin, nach welcher Konzeption ein Drama inszeniert werden kann, und welche ästhetische Wirkung es auf der Bühne hervorrufen kann. Dazu bietet es das Ziel einer theatralischen Darstellung bei der Inszenierung und unterstützt sie mit einem theoretischen Hintergrund. Auf der anderen Seite beschäftigt sich Dramentheorie mit dem Drama als einer literarischen Gattung. Drama ist eine besondere Gattung im Vergleich zu Lyrik und Epik, die neben einer Lektüre die Inszenierung auf der Bühne ermöglicht.44 Es ist zunächst wichtig, die poetische Regelhaftigkeit und die Form des Dramas zu erkennen, um es in der Art und Weise seines Gattungscharakters zu lesen und zu analysieren. In diesem Sinne ist die Aufgabe der Poetik, die Prinzipien der Poesie wie z. B. Grundsätzen, Stil und Regeln des dichterischen Schreibens zu reflektieren. Es wird angeschaut, wie ein Drama gemäß der Dramenpoetik literarisch aufgebaut werden kann. Dramentheorie definiert und weist im Hinblick auf die Gattungspoetik darauf hin, was ein Drama sei und wie es in Bezug auf seine Wirkung auf der Bühne konkretisiert werden kann. Die Elemente eines Dramenstückes, wie z. B. die Konstellation zwischen Figuren, Struktur der dramatischen Handlung in Akt und Auftritt, und Räumlichkeit und Zeitraum werden in der Dramentheorie analysiert und in Bezug auf eine Inszenierung geprüft, wie sie später dargestellt werden können.

43 Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, 5, neu bearbeitete u. erweiterte Auflage, Berlin 2014, S. 87. 44 Martin Ottmer: Art. »Drama«, S. 392, in: Weimar (Hg.): Reallexikon, S. 392-396, hier S. 392.

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b. Der Begriff des Dramas

Der Begriff des Dramas kann als eine „lit[erarische] Textgattung, die auf einer Theaterbühne dargestellt werden kann und durch Rede bzw. ↗Dialog der beteiligten ↗Figuren eine ↗Handlung unmittelbar gegenwärtig macht“, bezeichnet werden. 45 Jedes Drama ist aus dem Charakter seiner Gegenwärtigkeit eine potenzielle Bühnenfassung. Die Virtualität der Vergegenwärtigung, die Drama in sich trägt, ermöglicht, jedes Drama auf der Bühne darzustellen. Die Struktur des Dramas, die aus der fiktiven direkten Rede und Textpassagen bzw. Bühnenanweisungen besteht, richtet sich auch auf die theatralische Darstellung ein. Direkte Rede zwischen den Figuren bildet den Haupttext des Dramas und präsentiert den gegenwärtigen Dialog auf der Bühne. Textpassagen bieten als Nebentext des Dramas Informationen über die Bühnenanweisung und Haltung der Figur an, die später durch die körperliche und materielle Darstellung sichtbar werden. Aus diesem internen Prinzip des Dramas entsteht eine enge Beziehung zwischen Drama und theatralischer Darstellung. Durch den Inszenierungsprozess wird ein Drama in ein Theaterstück auf der Bühne verwandelt. c. Der Begriff der Inszenierung bzw. des Theaters und der Aufführung

Der Begriff der Inszenierung lässt sich von den Begriffen des Theaters und der Aufführung unterscheiden, die zwar in einer ähnlichen Gruppe kategorisierbar sind, aber sich auf die unterschiedlichen Aspekte im Bereich der theatralischen Darstellung beziehen. Aus diesem Grund ist es notwendig, zunächst die Definition der beiden Begriffe des Theaters und der Aufführung genau zu betrachten.

45 Michael Ott: Art. »Drama«, in: Dieter Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, Begründet von Günther und Irmgrad Schweikle, 3. Völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart·Weimar 2007, S. 167-169, hier S. 167, später als „Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur“ bezeichnet .

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Der Begriff des Theaters ist ein weiterreichender Begriff. Auf der einen Seite bezeichnet Theater das räumliche Umfeld der theatralischen Darstellung, das inhaltlich nicht direkt mit dem Kunstwerk zu tun hat, aber als Ort des Ereignisses gekennzeichnet werden kann.46 In diesem Sinne markiert Theater z. B. soziale Institution, das Gebäude als Theaterort und den Schauplatz der Aufführung, nämlich die Bühne. Auf der anderen Seite wird Theater von einer besonderen Form der Kommunikation über die unterschiedlichen Phänomene bis hin zu den Prozessen auf verschiedenen kulturellen Feldern erweitert definiert.47 Es schließt vielfältige Bedeutungen und Gebiete ein, aber in Bezug auf die Gattung der Darstellungskunst markiert der Begriff des Theaters die allgemeine darstellende Kunst überhaupt.48 Spezifisch in Bezug auf den Begriff des Dramas wird Theater als „die Aufführung eines Schauspiels selbst, entweder a) im Sinne der ↗Inszenierung oder b) der einzelnen Vorstellung“ definiert49. Wenn der Begriff des Theaters vielfältige Bedeutungen und Gebiete einschließt, bezieht sich der Begriff auf ein bestimmtes Ereignis auf der Bühne. Eine Aufführung ist eine „szenisch-spielerische Darstellung vor Zuschauern durch Schauspieler auf der Grundlage eines dramatischen Textes oder einer freien (evtl. selbst erarbeiteten) Spielvorlage, meist unter Leitung des → Regisseurs nach einer Reihe von →Proben.“50 Wenn z. B. Regisseur A das Dramenstück Maria Stuart von Friedrich Schiller mit Theatergruppe B inszeniert, heißt das Theaterstück Maria Stuart von Regisseur A mit Theater B. Das Theaterstück Maria Stuart ist dann eine Inszenierung, dennoch gäbe es

46 Andrea Heinz: Art. »Theater«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 764. 47 Ebd. 48 Im Vergleich dazu kann der Begriff des Schauspiels als eine Gattung der Kunst und Aufführung bezeichnet werden. „Darstellende Künste, die mit heterogenen Materialien wie dem menschlichen Körper, der Stimme, unterschiedlichen Objekten, Licht, Musik, Sprache, Lauten arbeiten und Aufführungen hervorbringen“, Vgl. Erika Fischer-Lichte, »Theater«, in: Weimar (Hg.): Reallexikon, Bd. 3, S. 619-624, hier S. 620. 49 Andrea Heinz, Ebd. 50 Vgl. Monika Sandback: Art. »Aufführung«, in: Manfred Brauneck / Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, 3. Vollständig überarbeitete und erweitere Neuausgabe, Hamburg 1992, S. 103, später als „Brauneck / Schneilin (Hg,): Theaterlexikon“ bezeichnet.

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mehrere Aufführungen einer Inszenierung. Denn jede Aufführung ist einmalig und nicht wiederholbar.51 Das Theaterstück wird mit gleichem Titel aufgeführt, aber die Aufführung von heute ist nicht dieselbe Aufführung wie von gestern. Der Unterschied der Aufführung zur Inszenierung beruht darauf, dass jede Aufführung in den gegenwärtigen und abgegrenzten Umständen aus der Einmaligkeit unterschiedlich erscheint. Diese Umstände sind z. B. menschlicher Ausdruck wie Gestik, Körpersprache der Darstellende und Reaktion des Publikums. Es sind die Elemente, die je nach dem Zustand des Schauspielers und der anwesenden Zuschauer veränderbar sind. Im Unterschied zur Einmaligkeit der Aufführung zeigt der Begriff der Inszenierung seine Eigenschaft als Prozess und Gesamtheit der Kunst. Eine Inszenierung ist eine „szenisch-künstlerische Realisierung eines Theaterstücks, welche die Konzeption, den Einstudierungsprozess und das fertige Produkt (↗ Aufführung) gleichermaßen umfasst.“52 Das heißt, unter Inszenierung werden auch „der Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien verstanden, nach denen die ↗ Materialität einer ↗ Aufführung ↗ performativ hervorgebracht werden soll“.53 Der Begriff der Inszenierung kann einerseits als sogenannter Prozess des Theatermachens bezeichnet werden. Wichtig ist hier, dass die Aufführung in der Inszenierung keinen Vorrang vor dem fertigen Produkt hat, sondern mit anderen Elementen wie der ästhetischen Konzeption und dem Einstudierungsprozess „gleichermaßen“ 54 behandelt werden. Inszenierung beginnt mit der Bühnenbearbeitung des Dramentextes aus einer einheitlichen Konzeption und Interpretation des Stückes, entwickelt sich über die Einstudierung mit den Darstellern, und schließt zum fertigen Produkt im Sinne eines eigenständigen Kunstwerks ab.55 Eine Inszenierung wird andererseits im breiteren Sinne als „die

51 Vgl. ebd. 52 Andrea Heinz: Art. »Inszenierung«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 351. 53 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Art. »Inszenierung«, in: Ders. / Doris Kolesch / Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, 5. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart·Weimar 2005, S. 146-153, hier S. 146. 54 Vgl. Andrea Heinz: Art. »Inszenierung«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 351. 55 Ebd.

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Gesamtheit der Mittel szenischer Interpretation“ und im engeren Sinne als „die Tätigkeit, welche darin besteht, die verschiedenen Elemente der szenischen Interpretation eines Bühnenwerks in einer bestimmten Spielzeit und einem bestimmten Spielraum zu gestalten“56 definiert. Es ist ein Begriff, der mit dem Hervortreten von Intendanten-Dramaturgen als „Gesamtverantwortlichen für Schauspiel und künstlerische Darbietung“ in der 1. Hälfte des 19. Jh. entstanden ist.57 Inszenierung besteht darin, die dramatische Schreibweise eines Textes durch Dramaturgie, Regie und alle anderen theatralischen Mittel in eine szenische Form als Kunstwerk umzusetzen.58

(2) Prozess der Umsetzung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung

Aus der Begriffserklärung von Dramentheorie, Drama und Inszenierung (bzw. Theater und Aufführung) ergibt sich, dass sich die Begriffe zwar auf unterschiedliche Bereiche beziehen, aber miteinander verbunden sind und sich untereinander beeinflussen. Das Verhältnis zwischen den Begriffen kann als ein Prozess bzw. ein Werdegang betrachtet werden, in dem ein Begriff in andere umgesetzt und verwandelt werden kann. Es ist nachvollziehbar, dass es ein Transformationsprozess ist, der von der Dramentheorie über das Drama bis zur Inszenierung verläuft. Das Schema 1 versucht, den Prozess der Umsetzung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung zu zeigen, die jeweils im Schema als T, D und I kennzeichnet sind. Jede Ebene oder Dimension hat eine eigene Form und einen eigenen Stil. Sie stellen sich als unabhängig voneinander dar und tragen in eigener Art und Weise ihre Bedeutung. Es ist kein hierarchisiertes Verhältnis zwischen den Ebenen vorhanden, vielmehr finden sich drei

56 Vgl. Patrice Pavis: Art. »Inszenierung«, in: Brauneck / Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, S. 441-443, hier S. 441. 57 Ebd. 58 Vgl. Nils Lehnert: Oberfläche, Hallraum, Referenzhölle. Postdramatische Diskurse um Text, Theater und zeitgenössische Ästhetik am Beispiel von Rainald Goetz' Jeff Koons, Hamburg 2012, S. 128.

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Komponenten in einer horizontalen Konstellation, in der ihre Eigenständigkeit auffällig ist. Die Richtung der Pfeile markiert, in welcher Richtung die Komponente umgesetzt und verwandelt wird.

X Y Z 1 2 D ` T` T` Q

< T > < D > < I >

(T: Dramentheorie, D: Drama, I: Inszenierung, Q·Y·Z: Sonstige Elemente im Theater) < Schema 1> Umsetzung von Dramentheorie über Drama bis zur Inszenierung

Weiterhin wird hier gezeigt, dass die Komponenten trotz ihrer Unterschiedlichkeit in einer Kette miteinander verbunden sind. In diesem zweistufigen Prozess spielt das Vorfeld eine Rolle als Prototyp für das nächste Nachfeld. Aus diesem Prozess ergibt sich zunächst ein Verknüpfungspunkt, den die beiden Komponenten gemeinsam bilden. Das heißt, aufgrund der Verbundenheit der Begriffe ereignet sich die Umsetzung und Transformation von einer Komponente zur nächsten und stellt im Zusammenhang mit anderen Prozess der Umsetzung einen Kontext dar. Prozess 1 zeigt den Werdegang der Abfassung eines Dramas. Ein Drama entsteht (zumindest darf man das für Schillers dramatischen Produktion annehmen!), indem eine dramentheoretische Idee in das literarische Feld aufgenommen und in Bezug auf die Wirkungsästhetik und Dramenpoetik umgesetzt wird. D ist im Vergleich zu T ein anderer Prototyp bzw. Ebene: In D steht T(`) statt T mit einer schiefen Neigung, was andeuten soll, dass der Dramatiker eine Theorie verwendet, aber nicht authentisch rezipiert oder hundertprozentig umsetzt, sondern sie für die literarische Darstellung je nach seiner Intention anverwandelt oder transformiert. Theorie ist eine fixierte Idee und Vorstellung, aber Drama ist eine literarische Darstellung. Das heißt, Theorie

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ist Konzeption, Drama dagegen poetische Rede und fiktive Welt. Die Welt im Drama existiert zwar nicht, aber sie lebt doch, in dem Sinne, dass lebendige Figuren sprechen und sich Handlungen ereignen. Daher liegen der Unterschied bzw. die Besonderheit des Dramas in seiner inhaltlichen Fiktionalität und formalen Stilistik. Dadurch erscheint D anders im Vergleich zu T. D enthält auch eine Variable X in sich, was T nicht entspricht bzw. verändert ist und schließlich keinen Zusammenhang mit T hat und sogar dem entgegengesetzt sein kann. Dieses X, das nichts mit Theorie zu hat, bezeichnet, über Poetizität und Fiktionalität hinaus, z. B. eine Darstellung oder Konstellation, die der Dramatiker für sein Drama neu hinzugefügt hat. Auffallend im Prozess 2 zwischen D (Drama) und I (Inszenierung) ist, dass sich daraus eine größere Veränderung als bei Prozess 1 ergibt. Beim Prozess 1 sind T und D zwar unterschiedlich, aber der Anteil von T in D in einem großen Bereich ist deutlich sichtbar. In D bleibt trotz der Transformation eine große Gemeinsamkeit übrig, indem Dramentheorie eine zentrale Rolle bei der Abfassung des Dramas spielt. Im Vergleich zum Prozess 1 wird der Zusammenhang zwischen D und I im Prozess 2 deutlich verkleinert. Inszenierung hat ein völlig anderes Format im Vergleich zu T und D. Bei der Inszenierung eines Dramas wird zwar grundsätzlich ein dramatischer Text umgesetzt, aber die Inszenierung entwickelt sich im Werdegang des Arbeitsprozesses zu einer völlig neuen Form. In I sind T`(Dramentheorie) und D`(Drama) nur als eines von vielen Elementen sichtbar. Es gibt daneben einige andere Elemente wie Q, Y und Z, die bei T und D nicht zu finden sind. Es sind die Elemente, die die Inszenierung materiell verkörpert, wie z. B. neue Bühnenfassung, Interpretation und Konzeption des Regisseurs in der Inszenierung, Körpersprache des Schauspielers, Bühnenbild und sonstige theatralische Darstellung, was nicht im Bereich von D vorhanden ist. Der Prozess der Umsetzung, der im Bild 1 veranschaulicht wird, zeigt, dass je weiter die Bestandsaufnahme geht, desto größer der Unterschied innerhalb des Komplexes wird. Der fehlende Zusammenhang zwischen den Komponenten scheint nicht vermeidbar zu sein. Die Komponente im Vorfeld wird in das nächste Feld nicht vollkommend aufgenommen, sondern mit der

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Änderung umgesetzt. Darüber hinaus kann analysiert werden, wie die „ursprüngliche“ Intention des Dramentheoretikers bzw. der theoretische Gedanke ins Drama umgesetzt wird. Mit der gleichen Weise könnte in der Inszenierung des Stückes untersucht werden, ob sie das originäre Stück, das Drama, authentisch verwirklicht.

(3) Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung

Es ist zwar eine logische Konsequenz des zeitlichen Grunds der Entstehung der verschiedenen Komponenten, dass die Reihenfolge der Transformation zwischen den Komponenten, von Dramentheorie über Drama zur Inszenierung, geht, aber es ist kein absolutes Modell für den Entstehungsprozess jeder einzelnen Komponente. Diese Reihenfolge von Drama zur Inszenierung ist auch veränderbar. Eine dramentheoretische Konzeption kann auch aus der Abfassung eines Dramenstückes oder der Inszenierung eines Theaterstückes abgeleitet werden und zu einer Dramentheorie umgeschaffen werden. Im anderen Fall kann bei der Inszenierung eines Dramas nicht nur das Drama bearbeitet werden, sondern auch die ursprüngliche dramentheoretische Konzeption des Dramatikers rezipiert und zur theatralischen Darstellung einer Inszenierung verwendet werden. Das Schema 2 zeigt konkret als Beispiel, wie Dramentheorie, Drama und Inszenierung wechselseitig wirken und wie sie sich in einem Prozess entwickeln und verwandeln. Die Pfeile zwischen T und D, D und I, und I und T markieren die Prozesse der Umsetzung und Verwandlung zwischen Komponenten. Die zweiseitige Richtung der Pfeile bezeichnet die gegenseitige Wechselwirkung zwischen den Komponenten. Die Nummerierung der Prozesse zwischen den Komponenten bedeutet keine eindeutige Prozesslogik. Die Dreieckposition der Komponente bezeichnet zunächst, dass es hier keine zentrale Komponente vorausgesetzt ist, die eine herrschende Funktion gegenüber anderen Komponenten ausübt.

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X

T`

1 < D > 2

Z T` 3 D T`

`` D` I` Y Q

< T > < I >

(T: Dramentheorie, D: Drama, I: Inszenierung, Q·Y·Z: Sonstige Elemente im Theater)

< Schema 2> Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung

Die Komponenten beeinflussen sich untereinander, indem sie andere als einen Bestandteil rezipieren oder denken und dadurch sich umgestalten. Die Vorstellung einer horizontalen Wechselwirkung zwischen den Komponenten trägt dazu bei, den Blickwinkel auf das Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung zu erweitern. Denn dieser Aspekt setzt den Schwerpunkt nicht nur auf die einzelne Komponente, sondern auf deren Kontext und darüber hinaus die gemeinsame Bedeutung, die aus der Trilogie der Betrachtungsebenen resultiert. Der Prozess 3 ist – im Unterschied zur Darstellung in Abb. 1, neu. Hier tauschen beide Komponenten, I (Inszenierung) und T (Dramentheorie), ihre Elemente aus. Auf der einen Seite werden durch die konkrete Erscheinung einer Aufführung auf der Bühne und die Reaktion des Publikums weitere Impulse und spezifische Beispiele für die Begründung einer Dramentheorie angeboten. Die theatralische Darstellung wird analysiert und betrachtet, wie ein Dramenstück gemäß einer Wirkungsästhetik und Gattungspoetik verfasst bzw. inszeniert

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werden kann. Die Faktoren werden gesammelt und für weitere Dramentheorie verallgemeinert. Auf der anderen Seite wird die dramentheoretische Idee unmittelbar bei einer Inszenierung rezipiert. T kann dazu beitragen, ein Drama in Bezug auf eine bestimme Dramenpoetik und Wirkungsästhetik zu inszenieren. Es wird darauf hingewiesen, welche theoretische Konzeption durch die dramaturgische Umsetzung realisiert werden kann, und welche Wirkung durch die theatralische Darstellung auf der Bühne erreicht werden kann. Im weiteren Sinne ist in Abb. 2 zu beobachten, dass die Komponenten durch die gegenseitige Wirkung einen stärkeren Kontext als diejenige im Abb. 1 bilden. Die jeweilige Komponente gewinnt ihre Bedeutung nicht nur von sich selbst, sondern durch den Kontext mit einer anderen Komponente. Aufgrund der gegenseitigen Kontextualisierung aller Komponenten kann das Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung als ein Organismus betrachtet werden. Die Komponenten tragen keine fixierten Formen oder haben keinen festen Inhalt, sondern sie können sich durch die Wechselwirkung mit anderen Komponenten weiter entwickeln. Darüber hinaus können die drei Komponenten erweitert als ein einheitlicher Komplex betrachtet werden, von dem eine übergreifende Bedeutung abgeleitet werden kann. Die Vorstellung des wechselseitigen Prozesses zwischen den Komponenten kann eine erweiterte Sichtweise für die Schillerforschung anbieten. Zuerst bezeichnen die Komponente T, D, und I Schillers Dramentheorie, Drama und dessen Inszenierung. Der jeweilige Prozess zwischen den Komponenten kann als der Prozess der literarischen und theatralischen Umsetzung bei Schiller interpretiert werden. Das Konzept des triologischen Komplexes aus Dramentheorie, Drama und Inszenierung ist insofern bedeutungsvoll, da Schiller tatsächlich in vielfältiger Weise als Theoretiker, Dramatiker und Theatermacher am Theater beteiligt war und es dadurch die wechselseitigen Einflüsse zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung gab. Durch die Untersuchung des gegenseitigen Wirkungsprozesses zwischen Dramentheorie und Drama, Drama und Inszenierung, und Inszenierung und Dramentheorie kann die Bedeutung des gesamten Komplexes bei Schiller aufgezeigt werden.

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3. Forschungsfeld und Forschungsdesiderat

In den vorangegangenen zwei Kapiteln wurde abgeleitet, dass Schiller in seiner Weimarer Zeit sowohl im theoretischen und literarischen Feld als auch in der praktischen Seite des Theaters intensiv tätig war. Darüber hinaus wurde herausgefunden, dass die Komponenten T (Dramentheorie), D (Drama) und I (Inszenierung) bei Schiller als ein Komplex betrachtet werden und der Umsetzungsprozess und die wechselseitige Wirkung zwischen den Komponenten als Forschungshintergrund vorausgesetzt werden können. Nun ist es erforderlich zu bestimmen, inwieweit das Verhältnis zwischen T-D-I als ein Hintergrund einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung geeignet ist. Das Verhältnis zwischen T-D-I bei Schiller jedoch bezieht sich nicht nur auf das Forschungsgebiet der Literaturwissenschaft, sondern hat auch seinen Anteil in der Theaterwissenschaft. Daher fordert die Forschung zum Verhältnis zwischen T-D-I bei Schiller ein Zwischenfeld, das die beiden Wissenschaften der Literatur- und Theaterwissenschaft umschließen kann. Darüber hinaus wird auch geprüft, wieweit die Forschung bereits in Bezug auf das Verhältnis zwischen T- D-I eingegangen ist.

(1) Forschungsfeld zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft

Literatur- und Theaterwissenschaft unterscheiden sich durch den Forschungsgegenstand der beiden Fächer. Die Trennung zwischen beiden Wissenschaften aber besteht einerseits aus dem langjährigen Verzicht bzw. einer Unterschätzung der Praxis des Theaters von Seiten der Literaturwissenschaft, andererseits aus der emanzipatorischen Entstehungsgeschichte der Theaterwissenschaft. Der Gegenstand der Literaturwissenschaft ist zunächst Literatur, 59 deren „Besonderheit ausdrücklich oder unausdrücklich als

59 Die Literaturwissenschaft ist die „Gesamtheit der von akademischen Institutionen als wissenschaftlich anerkannten Tätigkeiten, die sich auf die Erkenntnis der Lit.[eratur] richten“ Vgl. Heinz Schlaffer: Art. »Literaturwissenschaft«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon

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Literarizität (↗Poetizität) gefaßt wird und die unter diesen Begriff fallenden Texte allgemein das Attribut literarisch erhalten.“ 60 Weiterhin befasst sich Literaturwissenschaft mit „eine[r] Vielfalt von gegenstandsbezogenen Theorien“ wie Literaturtheorie, Gattungstheorie und Dramentheorie.61 In Bezug auf das Verhältnis zwischen T-D-I geht es in der Literaturwissenschaft um keine praxisrelevanten Fragen des wissenschaftlichen Gegenstandes, der, im Falle des Dramas, auf die Darstellung auf einer Bühne bezogen ist. 62 In der Literaturwissenschaft werden hingegen die inhaltlichen und formalen Ebenen von Drama und Dramaturgie akzentuiert und behandelt.63 Die auf die Literatur fokussierte Sichtweise, die auf die Relevanz der theatralischen Darstellung nur wenig achtet, ist bereits in der Antike zu finden. Beispielsweise wurde bei Poetik von Aristoteles die Inszenierung des Dramas auf der Bühne nicht als notwendig betrachtet, um die Wirkung des Stückes bei den Lesern hervorzurufen.64 Die Theaterwissenschaft befindet sich von ihrem Ursprung her in einer Gegenposition zur Literaturwissenschaft. Sie ist eine „wissenschaftliche Disziplin, deren Auseinandersetzung mit dem Theater theoretisch, systematisch oder historisch ausgerichtet ist“. 65 Im zentralen Bereich des Faches stehen Aufführungs- und Inszenierungsanalysen. 66 Die Begründung des Faches ist schon ein Prozess der Unabhängigkeitsgewinnung von der Literaturwissenschaft.67 Die Emanzipation der Theaterwissenschaft gegenüber

Literatur, S. 455-458, hier S. 455. 60 Klaus Weimar: Art. »Literatur«, in: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, S. 443-448, hier S. 443. 61 Weimar: »Literaturwissenschaft«, in: ebd., S. 485-489, hier S. 485. 62 Vgl. Balme: Theaterwissenschaft, S. 19. 63 Vgl. ebd., S. 52. 64 Aristoteles behauptet, dass die mimetische Qualität und kathartische Wirkung der Tragödie bereits durch die reine Lektüre des Texts durchgeführt werden können, ohne es aufführen zu müssen. Vgl. Jörg von Brincken / Andreas Englhart: Einführung in die moderne Theaterwissenschaft, S. 10. 65 Andrea Heinz: Art. »Theaterwissenschaft«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 766-767, hier S. 766. 66 Vgl. ebd. 67 Bis Ende des 19. Jahrhunderts positionierte sich die Theaterwissenschaft innerhalb der Literaturwissenschaft. Das erste Institut der Theaterwissenschaft in der deutschen Universitätslandschaft wurde 1923 an der Freie Universität Berlin begründet. Es gab

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den Philologien war schon seit den drei Gründervätern des Faches, Max Herrmann, Arthur Kutscher und Julius Petersen wichtig. 68 Das Ziel für die Gründungsväter war gegenüber der Literaturwissenschaft ihr eigenes Feld zu sichern. In der Theaterwissenschaft wurde das Drama nicht mehr die einzige Textquelle für die Inszenierung betrachtet. Stattdessen wurde der Theatertext in der Theaterwissenschaft als wichtig behandelt, der „jede Art von Textvorlage ein, die auf der Bühne zur Aufführung gelangt“69 einschließt.70 Dazu gewann die theatralische Darstellung auf der Bühne aufgrund ihrer Einmaligkeit eine wichtigere Position als das vollendete Dramenstück.71 Trotz des unterschiedlichen Gegenstandes bei Literatur- und Theaterwissenschaft existiert ein Forschungsgebiet, in dem sich die beiden Wissenschaften überschneiden. Die dramaturgische Umsetzung vom Drama zur Inszenierung bezieht sich auf die beiden Wissenschaften. Aufgrund der unbegrenzten potentiellen Umsetzungsmöglichkeiten gilt ein Drama nicht nur als ein literaturwissenschaftliches Objekt, sondern kann auch in der Theaterwissenschaft als ein Theatertext für eine Inszenierung anerkannt werden. Es ist die „Intermedialität“ des Dramas, die das Drama schon als interdisziplinären Charakter trägt.72 Das Drama ist ein aufzuführender Text statt eines aufgeführten Textes, da der Dramatiker diverse aufführungsbezogene Zeichen und Codes bewusst oder unbewusst in seinen Text einbezogen hat.73

Misstrauen von der Seite der Literaturwissenschaft gegenüber dieser neuen Disziplin und daher wurde Theaterwissenschaft bis 1944 als Hilfswissenschaft der Literaturwissenschaft betrachtet. Vgl. Wolfgang Beck, »Theaterwissenschaft«, in: Brauneck / Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, S. 1024-1107, hier S. 1024-1028, 1104 und 1106. 68 Die Theaterwissenschaftler haben versucht, die Theaterwissenschaft von der Literaturwissenschaft loszulösen, indem ein eigenes wissenschaftliches Feld einrichtete. Vgl. Balme: Theaterwissenschaft, Ebd., S. 15-19. 69 Ebd., S. 83. 70 1914 meinte Max Herrmann „das völlig unkünstlerische Theaterstück im engeren Sinne des Wortes [sei] für unsern Gesichtspunkt unter Umständen wichtiger als das größte dramatische Meisterwerk der Welt“. Vgl. ebd., S. 80. 71 Vgl. Wolfgang Beck: »Theaterwissenschaft«, in: Brauneck / Schneilin (Hg.), ebd., S. 1103; Die Betonung auf die Einmaligkeit bzw. „Nicht-Wiederholbarkeit“ einer Aufführung und Unterscheidung zwischen Dramentext und Theatertext sind stark verbunden mit dem Prozess der Emanzipation der Theaterwissenschaft von Literaturwissenschaft. Vgl. Balme, ebd., S. 89. 72 Balme, ebd., S. 85. 73 Vgl. Andreas Höfele: »Drama und Theater: Einige Anmerkungen zur Geschichte und

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Außerdem können die beiden Wissenschaften voneinander profitieren, wenn das Zwischenfeld der beiden Wissenschaften stärker berücksichtigt wird. Auf der einen Seite ist es relevant für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, aufgrund des Umsetzungspotenzials des Dramas den Zusammenhang eines Dramentextes mit der Inszenierung zu beachten, wenn es um die Dramen- bzw. Dramentheorie als Forschungsgegenstand geht. Auf der anderen Seite ist die Dramenanalyse für die Theaterwissenschaft insofern wichtig, als sie den ersten Schritt zur wissenschaftlichen Unabhängigkeit von der Literaturwissenschaft bildet. Die Konstellation zwischen Drama und Inszenierung wird in der Literaturwissenschaft nicht als „eine unter zahlreichen möglichen Perspektiven erkannt“. 74 Im Gegensatz dazu steht das Verhältnis zwischen Drama und Inszenierung für die Theaterwissenschaft jedoch im Mittelpunkt des Faches, da ihre wissenschaftliche Existenz durch die Unabhängigkeit der Literaturwissenschaft gerechtfertigt wird. Dabei handelt es sich bei einer Inszenierungs- bzw. Aufführungsanalyse auch um einen analytischen Einblick in die praktische Seite des Dramas. Zum Endzweck ist es nicht zu vermeiden, dass Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft sich in der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem geschriebenen Text und seiner Realisierung auf der Bühne treffen. Aus der gemeinsamen interdisziplinären Forschung kann eine neue Perspektive entstehen.

(2) Das Forschungsdesiderat im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Theorie, Drama und Inszenierung bei Schiller

Sowohl 2005 und als auch 2009 waren zwei große Gedenkjahre zum 200. Todesjahr und zum 250. Geburtsjahr des Dichters Friedrich Schiller. Aus diesen Jubiläumsjahren sind zahlreiche Publikationen über Schiller erschienen. Einen Überblick über die gesamte Schillerforschung bietet die Deutsche Schillergesellschaft Marbach, die als eine periodische Berichterstattung den

gegenwärtigen Diskussion eines problematischen Verhältnisses«, in: Forum Modernes Theater, 6/1, 1991, S. 1-21, hier S. 11. 74 Vgl. Andreas Höfele, ebd.

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Überblick über die neueste Schiller-Literatur seit 2000 anbietet. Seit 2000 wird dieser Bericht als Anhang des „Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft“ jedes Jahr veröffentlicht.75 Außerdem wurden nach den beiden Gedenkjahren zwei umfangreiche Handbücher über Schiller veröffentlicht bzw. aktualisiert. 76 Das Schiller-Handbuch, das von Matthias Luserke-Jaqui herausgegeben wurde, bietet einen nach Gattungen sortierten systematischen Überblick über die Werke Schillers. Ein anderes Schiller- Handbuch, das von Helmut Koopmann herausgegeben wurde, ist insofern wichtig, als es einen ausführlichen Überblick über die bisherige Schillerforschung anbietet.77 Im Vergleich zur Tatsache, dass bereits höchst umfangreich über Schiller geforscht wurde, gibt es wenige Forschung, die den gesamten Prozess der Umsetzung von Dramentheorie über Drama bis zur Inszenierung betrachtet. Einerseits untersucht die literaturwissenschaftliche Forschung, die auf die einzelne Komponente eingeht, entweder die Dramentheorie oder das einzelne Drama. Andererseits beschäftigt sich diejenige Schillerforschung, die zwei der genannten Komponenten untersucht, zum großen Teil mit dem Verhältnis zwischen Dramentheorie und Drama. 78 In dieser Forschungsrichtung wird

75 Die Dokumente sind in der Internetseite von Schiller Gesellschaft Marbach überschaubar. Die Daten bestehen aus vielfältigen Überblick über sowohl die aktuelle Tendenz der Schillerforschung als auch Schiller-Inszenierung im Theater innerhalb des deutschsprachigen Raumes. Die Publikationen sind je nach den Kategorien bzw. Thema des Forschungsgebietes sortiert. Es wird dazu beitragen, zu beleuchten, nach welcher Forschungseinrichtung die Schillerforschung letzten zehn Jahren eingegangen ist: https://www.dla- marbach.de/bibliothek/bibliografien/schiller-bibliografie/ (Zugriff am 23. Mai 2017). 76 Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch; Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. 77 Die erste Auflage wurde 1998 erschien und 2011 ist es mit der zweiten Auflage erneuert worden. In der neuen Auflage wird über den Forschungsstand seit 1998 berichtet. 78 Michael Böhler: »Die Zuschauerrolle in Schillers Dramaturgie: Zwischen Außendruck und Innenlenkung: Der Chor in der Braut von Messina und die Darstellungsform des Erhabenen«, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, Tübingen 1982, S. 273–294; Hartmut Reinhardt: »Die Wege der Freiheit. Schillers Wallenstein Trilogie und die Idee des Erhabenen«, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Ebd., S. 252–272; Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition, München 1973; Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie, Paderborn 2004; Michael Hofmann: »Die unaufhebbare Ambivalenz historischer Praxis und die Poetik des Erhabenen in Friedrich Schillers

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Schillers theoretische Position mit der dramatischen Darstellung des Stückes verglichen.79 Beispielsweise wurde in der Arbeit von Barone die literarische Darstellung im Drama auf der Basis des theoretischen Gedankens untersucht. Es wurde jedoch die gegenseitige Wechselwirkung zwischen Dramentheorie und Drama nicht zum Fragegegenstand gemacht. Der Prozess der Umsetzung der Dramentheorie im Drama wurde auch nicht berücksichtigt. Im Vergleich zu Barone untersucht Schulz den Problemkomplex des Heroisch-Erhabenen im 18. Jahrhundert und beschäftigt sich mit der Umsetzung des Erhabenen in der dramatischen Praxis.80 Es fehlt aber hier die Untersuchung der Umsetzung der dramatischen Werke und theoretischen Schriften im Hinblick auf deren theatralischen Darstellung auf der Bühne. Das heißt, die Schillerforschung, die sich mit der Schiller-Inszenierung bzw. dem Verhältnis zur Inszenierung beschäftigt, ist selten und die wenigen Untersuchungen, die sich mit Inszenierungsfragen auseinandersetzen, kommen aus der theaterwissenschaftlichen Perspektive.81 Die Forschungsbeiträge, die sich mit dem Verhältnis zwischen T-D-I beschäftigen, sind nicht zahlreich.82 Die Arbeit von Nils Lehnert setzt sich nicht mit Schiller auseinander, aber sie bietet gute Hinweise für die Untersuchung in

"Wallenstein"-Trilogie«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 43(1999), S. 241- 265. später als „JdDS“ bezeichnet; Dennis Alexander Goebels: Schillers klassizistische Ästhetik und "Maria Stuart", München 2008; Max Rössner: Schillers Abhandlung "Über Anmut und Würde" in der praktischen Analyse in Bezug auf sein Drama "Die Jungfrau von Orleans", München 2010; Dong-Do Shin: Die Verkehrtheit der Mittel. Lust und Unlust an der Gewalt in Schillers Ästhetik und späten Dramen, Würzburg 2012; Marie-Christin Wilm: »Die Jungfrau von Orleans, Tragödientheoretisch gelesen. Schillers romantische Tragödie und ihre praktische Theorie«, in: JdDS., 47(2003), S. 141–170. 79 Die Dissertation von Paul Barone als ein Beispiel dafür zu nennen. Vgl. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004. 80 Vgl. Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Poetischen, Niemeyer 1988. 81 Ortrud Gutjahr: Die Räuber von Friedrich Schiller. Brüderbande und Räuberchor in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, Würzburg 2009; Johannes Bruggaier: Deutsche Klassiker auf der Bühne. Tendenzen im Theater der Gegenwart, Bremen 2006; Erika Fischer-Lichte: »Was ist eine 'werkgetreue' Inszenierung? Überlegungen zum Prozess der Transformation eines Dramas in eine Aufführung«, in: Klaus Schwind / Christel Weiler (Hg.): Das Drama und seine Inszenierung, Tübingen 1985, S. 37–49. 82 Vgl. Antje Arnold / Walter Pape (Hg.): Emotionen in der Romantik: Repräsentation, Ästhetik, Inszenierung, Berlin 2012; Vgl. Lehnert: Oberfläche, Hallraum, Referenzhölle.

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Bezug auf das Verhältnis zwischen T-D-I. Hier wird der Zusammenhang zwischen Text [Drama], Theater [Inszenierung] und zeitgenössische Ästhetik [Theorie] untersucht, indem der Prozess der Umsetzung vom Stück Jeff Koons (1998) von Rainald Goetz (1954- ) zur Inszenierung und deren Bezug auf die Ästhetik abgehandelt wird. In der Konzeption des Forschungsansatzes ist hier bemerkenswert, dass die Inszenierung bei der Untersuchung wie eine Komponente neben der Dramentheorie und dem Drama gleichermaßen behandelt wird, und dass die drei Komponenten als ein Komplex betrachtet werden.

4. Forschungsgegenstand und Aufbau der Arbeit

(1) Gegenstand der Forschung

Das Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung bei Schiller konkreter zu untersuchen, heißt, zu untersuchen, wie der Prozess der Umsetzung zwischen den drei Komponenten abläuft und wie sie einander wechselseitig beeinflussen. Dieser Prozess kann deutlich übersichtlicher sein bzw. transparenter gemacht werden, wenn die Umsetzung eines konkreten theoretischen Begriffes untersucht werden kann. Ein gutes Beispiel dafür ist Schillers Konzeption des Erhabenen, die in Schillers Dramenästhetik relevant ist. Der Begriff des Erhabenen ist selbstverständlich nicht ein von Schiller erfundener Begriff, sondern hat eine lange Geschichte. Die Tradition dieses Begriffes geht von der griechischen Antike (Longinus) über Kant bis zu Schiller und entwickelt sich weiter bis hin zu Lyotard im Zeitalter der Moderne und Postmoderne. 83 Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff des Erhabenen von englischen Philosoph Edmund Burke (1729-1797) in den Mittelpunkt seiner Theorie gestellt. Er beschäftigte sich damit vorrangig in seiner Schrift

83 Vgl. Hanjo Berressem: »Erhabene«, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart·Weimar 2013, S. 179-180, hier S. 179.

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Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen (London 1757, dt. Riga 1773).84 Bei Schiller wurde der Begriff des Erhabenen nach seiner Beschäftigung mit Kants Ästhetik in seiner späteren Dramentheorie aufgenommen und ist stark mit seiner theatralischen Wirkungsästhetik verbunden.85 Hier soll im Folgenden untersucht werden, wie Schillers Konzeption des Erhabenen auf dem Weg von Dramentheorie über Drama bis zur Theaterinszenierung umgesetzt und verwandelt wurde. Es soll dadurch herausgearbeitet werden, welche Wechselwirkung die dramentheoretischen Ideen auf Dramentext und Inszenierung ausgeübt haben, und wie Schillers dramentheoretischer Gedanke im Prozess der literarischen Darstellung und der dramaturgischen bzw. inszenatorischen Realisierung auf der Bühne umformuliert und verwandelt wird. Darüber hinaus wird hier ein Drama Schillers detailliert untersucht, um die dramatische und theatralische Umsetzung des Begriffs des Erhabenen zu analysieren. Maria Stuart (UA 1800, ED 1801) wird als Gegenstand der Untersuchung abgehandelt, ein Drama, das Schiller nach dem Umzug nach Weimar 1799 auf dem Hintergrund der intensiven Teilnahme am Weimarer Hoftheater verfasste. 86 Mit dem Versuch einer Inszenierungsanalyse von Maria Stuart zur Zeit des Dramatikers wird die Umsetzung der Konzeption des Erhabenen bei Schiller als ein gemeinsamer Komplex aus Dramentheorie, Drama und Inszenierung herausgearbeitet werden. Besonders werden dabei diese beiden Aspekte der Inszenierung, einerseits als Prozess, andererseits als Zusammenspiel der Künste, berücksichtigt. Denn es handelt sich hier nicht darum, eine Aufführung als das fertige Theaterstück zu analysieren. Vielmehr geht es um die Untersuchung der Umsetzung durch die dramaturgische Bearbeitung eines Dramas und theatralische Darstellung eines

84 Viele Philosophen und Dichter wie z. B. Moses Mendelssohn (1729-1786), Lessing, Johann Gottfried von Herder (1744-1803), Kant und bis zu Schiller haben sich von Burkes Theorie stark beeinflusst. Vgl. Rolf-Peter Janz (Hg.): Friedrich Schiller Theoretische Schriften, Frankfurt a. M. 2008, S. 1346. 85 Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 612. 86 UA 14. Juni 1800, Hoftheater, Weimar, Regie: Schiller, Vgl. Siems (Hg.): Schauspielführer, S. 201ff.

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Theaterstückes auf der Bühne mit unterschiedlichen Elementen, aus denen ein Kunstwerk entsteht. Insofern ist der Begriff der Inszenierung der passende Begriff, wenn es den Werdegang und Gesamtheit des Theaters betriff.

(2) Aufbau der Arbeit und relevante Bibliographie

Die Hauptkapitel dieser Arbeit werden im Hinblick auf die Begriffe der Dramentheorie, des Dramas und der Inszenierung strukturell in drei Teile eingeteilt, die jeweils eine repräsentative Komponente bei Schiller darstellt. Im Kapitel zu „Dramentheorie“ werden zuerst drei prominente Dramentheoretiker des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum untersucht. Es sind Johann Christoph Gottsched (1700-1766), Johann Elias Schlegel (1719-1749) und (1729-1781), die vor Friedrich Schiller deutliche Spuren im dramenpoetologischen Diskurs hinterlassen haben. Aus ihren theoretischen und dramatischen Schriften wird abgeleitet, in welchem dramenpoetologischen Kontext sich Schillers spätere Dramenästhetik befindet. Dies ermöglicht, Schillers Dramenpoetik nicht allein aus den theoretischen Schriften zu erarbeiten, sondern sie auch in den Traditionsfeldern der gattungspoetologischen Diskussion des gesamten Aufklärungsjahrhunderts zu verorten. Darüber hinaus wird die Aufnahme des Begriffs des Erhabenen in das dramenpoetologische Feld anhand der zentralen theoretischen Texte Schillers erarbeitet: Vom Erhabenen (1793) und Ueber das Pathetische (1801). Dabei werden die Abhandlungen von Carsten Zelle und Helmut Koopmann behandelt, in der die theoretische Schriften Schillers ausführliche untersucht worden sind.87 Im Kapitel zu „Drama“ wird analysiert, wie Schillers Dramatik sich in dramenpoetologischer Hinsicht von der älteren Bewunderungsästhetik abgrenzt und wie die Konzeption des Erhabenen im literarischen Sinne umgesetzt worden ist. Schillers Maria Stuart wird intensiv im Blick auf die Umsetzung von

87 Aus der jüngeren Forschungsliteratur zu diesem Gegenstand sind es insbesondere die Beiträge von Zelle und Koopmann in den o.g. Schiller-Handbüchern relevant.: Zelle: »Vom Erhabenen (1793) / Über das Pathetische (1801)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S 398- 406, später als „Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«“ bezeichnet; Koopmann: »Kleinere Schriften«, S.611-624.

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Schillers Konzeption des Erhabenen ‒ insbesondere mit Blick auf die innere Veränderung Marias, ihre Läuterung zur erhabenen Figur – untersucht. Die Hypothese lautet: das Erhabene wurde nicht einfach umgesetzt, sondern an den Zentralfiguren problematisiert. Dies zeigt, dass das Drama nicht die Theorie exemplifiziert, sondern die Bedingungen und (Un-)Möglichkeiten ihrer Realisierung verhandelt. Dabei bieten die Schiller-Nationalausgabe Band 9/I und die Schrift von Herrmann einen grundliegenden Überblick über das Stück.88 Im weiteren Teil zum Drama wird die innere Veränderung Marias in eine erhabene Figur abgehandelt. Der Prozess der inneren Veränderung Marias wird in zwei Aspekten herausgearbeitet: Zunächst werden die Funktion der Beichtszene und dann die Läuterung Marias im fünften Akt untersucht. Im Kapitel zu „Inszenierung“ werden die beiden ersten Inszenierungen der Maria Stuart in Weimar und Berlin untersucht. Die Rekonstruktion der weimarischen Inszenierung gestaltete sich wegen des Mangels aussagekräftiger Quellen nicht leicht. Es ist eine entscheidende Frage, wie eine historische Inszenierung als Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht werden kann. Anstatt einer (heute denkbaren) Videoaufnahme wurden die verschiedenen schriftlichen Dokumente über die zeitgenössische Inszenierung als historische Quellen herangezogen, um die Umsetzung der Konzeption des Erhabenen im Prozess der Inszenierung zu rekonstruieren. Die Materialien, die für die Rekonstruktion der Inszenierung gebraucht werden, werden extra erläutert.89 Die ersten Inszenierungen des Dramas im Jahr 1800 in Weimar unter der Leitung von Schiller und in Berlin unter der Leitung von Iffland werden untersucht, indem die Bühnenumsetzung der im dramatischen Text realisierten Konzeption des Erhabenen erforscht wird. Dies kann als eine neue Orientierung

88 Vgl. NA 9/I; Vgl. Hans Peter u. Martina Herrmann: Friedrich Schiller Maria Stuart. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas, 1989 Frankfurt a. M.; Karl S. Guthke: Maria Stuart. Die Heilige von »dieser« Welt, in: ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis, Tübingen·Basel 1994, S. 207-233, später als „Guthke: Schillers Dramen“ bezeichnet; Gert Sautermeister: »Maria Stuart« , in: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Schillers Dramen, Stuttgart 1992, S. 280-335. 89 Vgl. Kapitel IV. 1. 2.

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für Schiller-Forschung betrachtet werden, insofern das Projekt den Übergang der Konzeption von Dramentheorie über das Drama bis zu dem dramatischen Text hin zur Bühnenrealisierung miteinschließt. Für die Weimarer Inszenierung bietet die Schrift von Birgit Himmelseher einen guten Überblick über das Weimarer Hoftheater. Sie versteht das Hoftheater mehr als einen Ort der Aufführung und erklärt dessen Funktion als eine kulturpolitische Institution für den Weimarer Klassizismus. Die Konstellation der Inszenierung der Maria Stuart im Jahr 1801 am Königlichen Nationaltheater Berlin ist vollkommen anders als in Weimar. Der Intendant Iffland hatte mit dem Dramatiker Schiller Kontakt durch einen (überlieferten) Briefwechsel, er war darüber hinaus aber unabhängig vom Dramatiker. Schiller hat gegenüber Iffland seinen Wunsch hinsichtlich der Darstellung schriftlich geäußert, aber es wurde nicht alles von Iffland angenommen. Er hat Schillers Empfehlungen mehr oder weniger abgelehnt und gleichzeitig seine eigene Intention auf der Bühne verwirklicht. Daher ist es zielführend, in der Inszenierung in Berlin zu schauen und zu vergleichen, was die ursprüngliche Intention des Dramatikers war und wie das Stück tatsächlich auf der Bühne in Berlin aufgeführt wurde. Darüber hinaus gibt es über die Aufführung von Maria Stuart am Nationaltheater Berlin mehr historische Dokumente als über die Inszenierung in Weimar, die für die Rekonstruktion der Inszenierung verwendet werden können. Die Besonderheit der Berliner Inszenierung liegt in den Kostümbildern von Maria Stuart, die Iffland für die jeweilige Rolle bestimmt und in Kupferstichen festhalten ließ. Zwei Kostümbilder von Friederike Unzelmann (1760-1815) in der Figur der Maria zeigen deutlich die kontrastvollen Erscheinungen dieser Rolle. Darüber hinaus wird auch eine aktuelle Maria-Stuart-Inszenierung (Regie: Michael Thalheimer, Schauspiel Frankfurt, UA 2011 Frankfurt a. M.) untersucht. Mit ausgewählten Aspekten wird hier versucht, nachzuvollziehen, ob die Kategorie des Erhabenen in gegenwärtigen Inszenierungen entweder nach der ursprünglichen Intention des Dramatikers umgesetzt wurde oder nach der neuen Konzeption des Regisseurs stark reduziert auf der Bühne dargestellt wurde. Die Untersuchung der aktuellen Aufführung ist insofern sehr relevant für

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meine Arbeit, als dadurch eine übergreifende Perspektive in Bezug auf die theatralische Umsetzung des Erhabenen abgeleitet wird. Sowohl zeitgenössische theatralische Umsetzung des Erhabenen als auch dessen moderne Interpretation auf der heutigen Bühne wird meine Arbeit als Ergebnisse umfassen.

(3) Das Forschungsziel

Das Forschungsziel dieser Arbeit ist es, einen neuen Weg über die Trennung zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft hinweg zu finden. Die Arbeit ist besonders für diejenigen geeignet, die zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft, zwischen Drama und Inszenierung nach einem gemeinsamen Weg suchen, die die Spaltung zwischen beiden Disziplinen überwinden wollen. Weiterhin ist der Adressat der Schrift auch diejenige, die einen neuen Weg für die Schillerforschung entdecken will. Der Zweck der Arbeit ist, dem Adressaten dieser Dissertation ein Beispiel für eine neue Richtung der literaturwissenschaftlichen Forschung anhand der Schillerforschung zu zeigen. Es ist ein Versuch, eine Brücke zwischen beiden Wissenschaften aufzubauen. Weiterhin wird diese Dissertation eine essentielle Frage zu beantworten suchen, diejenige nämlich nach der Bedeutung der theoretischen Konzeption und Dichtung Schillers noch im 21. Jahrhundert. Letztlich soll mit der Untersuchung der Interaktion zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung das Bild des Weimarer Klassizismus erweitert werden.

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II. Dramentheorie: Aufnahme des Begriffes des Erhabenen in das dramenpoetologische Feld

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) hat sich in seiner Dramentheorie vom Konzept der Bewunderung für die klassischen Heldenfiguren abgegrenzt, die für Johann Christoph Gottsched (1700-1766) ein zentraler Bestandteil der vom Drama auszulösenden Affekte war und stattdessen die Mitleidskonzeption in den Mittelpunkt seiner Dramenästhetik gestellt. 90 Er war der Ansicht, dass die Bewunderung für die tragischen Helden für das Publikum schwer zu verstehen sei, denn es entstehe „durch die Unerreichbarkeit des dargestellten Ideals eher Distanz zum Helden“.91 Sein Nachfolger, Friedrich Schiller (1759-1805) nahm aber den Begriff des Erhabenen in das dramenpoetologische Feld auf und stellte ihn in den Mittelpunkt seiner Tragödientheorie. Man könnte also Schiller verdächtigen, dass er zur alten Konzeption der Dramenästhetik zurückkehrte, da der Begriff des Erhabenen mit dem Heldentum und dem Übermenschlichem verbunden werden kann. 92 Dieser Verdacht lässt sich durch die Tatsache erhärten, dass Schiller die Heldenfiguren, wie z. B. Don Karlos, Wallenstein, Maria Stuart, die Heilige Johanna [Jungfrau von Orleans] und Wilhelm Tell in seinen späteren Stücken nicht nur als Hauptprotagonisten, sondern auch als

90 Vgl. Benedikt Jeßing: Dramenanalyse. Eine Einführung. Berlin 2015, S. 166-185; Vgl. Inge Stephan: »Aufklärung«, in: Wolfgang Beutin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 8. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart·Weimar 2013, S. 151-184, hier S. 159ff, später als „Beutin: Deutsche Literaturgeschichte“ bezeichnet. 91 Vgl. Hartmut Grimm: Art. »Affekt«, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Bd. 1, Stuttgart·Weimar 2001, S. 16-48, S. 34, später als „Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe“ bezeichnet. 92 Der Begriff des Erhabenen wurde bereits bei den Vorgängern Schillers als etwas Großes oder Heroisches konnotiert. Burke ordnet die Eigenschaften des Erhabenen im Gegensatz zu denen des Schönen als Größe, Dunkelheit usw. Darüber hinaus definiert dieser den Schrecken sowie die Ehrfurcht als die dem Erhabenen eigentümlichen Affekte, die man vor einem großen und herosichen Gegenstand haben kann. Bei Kant liegt der Schwerpunkt darin, dass das Erhabene eine Vorstellung des Subjekts ist. Das heißt, der Ursprung des Erhabenen liegt nicht im Objket, sondern im Inneren des Subjekts. Trotzdem liegt das Erhabene des Objekts darin, dass es diese an sich unvorstellbaren un begriffslosen Ideen repräsentiert. Vgl. Manfred Weinberg: Art. »Erhabene/Erhaben«, in: Achim Trebeß (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik, Stuttgart·Weimar 2006, S. 97; Vgl. Achim Geisenhanslüke: Art. »Erhabene«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 204; Vgl. Hanjo Berressem: »Erhabene, das«, in: Nünning (Hg.): Literatur- und Kulturtheorie, S.179-180, hier S. 179.

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Namensgeber der Stücke dargestellt hat. Die Skepsis lässt sich jedoch auflösen, wenn die Konzeption des Erhabenen bei Schiller im Kontext des zeitgenössischen Diskurses dargelegt und betrachtet wird. Im ersten Teil des folgenden Kapitels wird dafür der dramenpoetologische Diskurs im 18 Jahrhundert untersucht, um einen Überblick über Schillers Vorgänger, J. C. Gottsched, J.E. Schlegel (1719-1749) und G. E. Lessing im Hinblick auf ihre dramentheoretischen Gedanken gegeben. Der Rückgriff auf die Dramentheorie der Vorgänger Schillers wird zunächst dazu beitragen, wichtige Markierungen im dramenpoetologischen Feld des 18. Jahrhunderts zu erörtern. Auf diesem Hintergrund kann der Standort von Schillers Dramenpoetik mit seinen Vorgängern verglichen werden, die Schiller direkt und indirekt beeinflussten. Im zweiten Teil des Kapitels wird in Rückbezug auf jenen dramentheoretischen Kontext Schillers Tragödientheorie untersucht werden. Das Ziel der Untersuchung liegt zunächst darin, nachzuvollziehen, worauf Schiller bei der Aufnahme des Begriffes des Erhabenen in das dramentheoretische Feld achtete. Ziel ist es, herauszufinden, welche Merkmale Schillers Dramenpoetik im Vergleich zu seinen drei Vorgängern im dramenpoetologischen Feld kennzeichnen. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt besonders in der Konzeption des Erhabenen, die als der zentrale Begriff seiner Tragödientheorie gilt. Des Weiteren wird die Wirkung des Pathetischerhabenen im Menschen als auch deren Funktion in der Wirklichkeit behandelt, da seine Dramenästhetik sich stark auf die Wirkung des Theaters auf der Bühne bezieht.

1. Dramenpoetologischer Diskurs im 18 Jh.: Gottsched, Johann Elias Schlegel, Lessing

Nach der Epoche des Barock folgt in der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert die literarische Epoche der Aufklärung, eine Makroepoche, die gleichzeitig mehrere Strömungen umfasst, wie z. B. den Rationalismus, Empfindsamkeit,

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Sturm und Drang und Weimarer Klassizismus.93 Im dramenpoetologischen Feld der Aufklärung traten vor Schiller drei prominente Dramentheoretiker auf, die wesentlichen Orientierungspunkte für die deutsche Dramentheorie hinterlassen haben: Gottsched, J. E. Schlegel und Lessing. Die Dramenpoetik sowohl Gottscheds und Schlegels als auch Lessings sind direkt und indirekt, positiv oder negativ auf die Dramenpoetik des Aristoteles bezogen. Die Poetik des Aristoteles gilt als eine gemeinsame grundlegende Quelle für die deutschen Dramatiker im 18. Jahrhundert. Aus diesem Grund wird zunächst untersucht, wie die aristotelische Grundlage für die Tragödie von den Theoretikern unterschiedlich interpretiert und zur eigenen Dramentheorie umgesetzt wurde. Dabei ist die zentrale Fragestellung, wo sich die Kontraste- bzw. Berührungspunkte zwischen den Dramatikern bzw. Dramentheoretikern auffinden lassen. Damit wird die Grundlage dafür geschaffen, später nach den direkten und indirekten Verknüpfungspunkten ihrer Gedanken mit der dramentheoretischen Konzeption Schillers zu fragen.

1.1. Gottsched: Rationalistische Regelpoetik zwischen Barock und Französischem Klassizismus

(1) Ausgangspunkt

Der 1700 geborene Gottsched war Professor für Poetik, Logik und Metaphysik in Leipzig. Er versuchte, die deutsche Poetik und vor allem das Theater in Deutschland nach einem aufklärerischen und rationalistischen Ansatz zu reformieren. Seine Bemühungen, eine neue Dramenpoetik zu schaffen, wurden sowohl in dramatischen Beispieltexten, seiner poetologischen Hauptschrift Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) als auch in der wissenschaftlichen Form der literarischen Zeitschrift verwirklicht. Insbesondere

93 Vgl. Inge Stephan: Art. »Aufklärung«, in: Beutin: Deutsche Literaturgeschichte, S. 151-184, hier S. 182ff.

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veröffentlichte er die Literaturzeitschrift Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit und versuchte, durch die kritischen Abhandlungen der deutschen Poetik eine neue Orientierung zu geben.94 Dafür wurden zunächst die höfischen Künste, vor allem die Oper, und die Manierismen des Barockstils abgelehnt und stattdessen wurde, nicht ohne Kritiken und Ablehnungen seitens anderer Dramatiker, eine auf Vernunft bezogene Regelpoetik vorgeschlagen.95 Gottsched lehnte die übertriebenen Schmuck- und Schwulstformen „barocker“ Literatur ab. Als Barock wurde der schwülstige, in seinen Schmuckelementen übertriebene Stil des 17. Jahrhunderts verstanden, wie sie in der Kunstgeschichte der Begriff des Barocks als unregelmäßig und schräg bezeichnet.96 In diesem Sinne vermag er die antiken Stoffe und die mit dem Barock verbindliche unbedingte Bewunderung der Antike nicht bedingungslos zu teilen, sondern sie im Rahmen des rationalistischen Bewertungsprozesses zu überprüfen.97 Stattdessen hat Gottsched eine auf die Vernunft bezogene Poetik vertreten. Er war der Meinung, dass, da die Natur selber sich nach dem Prinzip der Kausalität konstruiert, auch in der Literatur nach einer rationalistischen Regel eine Handlung oder ein Gegenstand nachgeahmt werden solle. Die Wahrscheinlichkeit wurde als ein notwendiges Kriterium der poetischen Nachahmung betrachtet und war ein zentraler Punkt der Poetik Gottscheds. Die Kausalität der Natur muss in der Poesie ebenfalls nachgeahmt werden. Dadurch gewinne die Kunst an Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit und erreiche ihr Wirkungsziel.98

94 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 166ff. 95 Vgl. Peter-André Alt: Aufklärung, Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2007, S. 196f. Dieser Versuch, alle Elemente des poetologischen Lehrsystems – allgemeine dichterische Darstellungsprinzipien, Stilmittel, Gattungen – in einen vernunftmäßigen und hierarchischen Systemzusammenhang zu rücken, brachte jedoch den Literaturstreit aus. Die Schweizer J. J. Bodmer (1698-1783) und J. J. Breitinger (1701-1776) stellten sich gegen die von Gottsched behaupte rationalistische Poetik. Im Gegensatz zu Regelpoetik Gottscheds haben sie die Phantastischen und Wunderbares in der Poetik bevorzugt. 96 Vgl. Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart·Weimar 2012, S. 11. 97 Vgl. Alt, ebd., S. 70f. 98 Vgl. Johann Christoph Gottsched, »Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutsschen«,

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Darüber hinaus forderte Gottsched, die Dichter sollten die Poesie dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit entsprechend schaffen. 99 Nach dem Prinzip dieser Wahrscheinlichkeit versuchte er, bei der Dichtung die schwülstigen Ornamente und die unrealistischen Elemente im Theater von der Bühne zu verbannen. Trotz seiner Orientierung an der aufklärerischen Poetik befindet sich Gottscheds Tragödientheorie am Übergang vom Barock zur Aufklärung, da er sein musterhaftes Beispieldrama (Sterbender Cato) für seine Tragödientheorie aus dem Französischen Klassizismus übernahm, das noch entsprechend der Wirkungsästhetik der Bewunderung gebaut war. 100 Daher scheint es hochinteressant, die Ambivalenz zwischen den dramenpoetologischen Elementen bei Gottsched zu untersuchen.

(2) Theaterreform

Es gab in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zwei Arten von Theater. Auf der einen Seite existierte das Hoftheater, zu dem die Bürger keinen Zugang hatten, auf der anderen Seite gab es die Wandertruppen, die dem einfachen Bürger zugänglich waren, aber keinen festen Spielplatz hatten. Ein ‚echtes’ Nationaltheater gab es letztlich noch nicht. Die Wandertruppen veröffentlichten aus Gründen der Absicherung gegen Konkurrenten die eigenen Theatertexte nicht veröffentlicht, sondern behielten das Stückerepertoire stets innerhalb der Truppe. Das langsam Gestalt gewinnende Projekt eines Nationaltheaters, als öffentliches Theater mit einer festen Schaubühne, das von Bürgern für Bürger geführt werden und auf publizierten Texten basieren sollte, scheiterte aber noch lange am finanziellen Mangel, an Intrigen von Schauspielern und starkem Gegenwind von Seiten der Kirche.101

in: Ders., Schriften zur Literatur, hg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart 1972, S. 12-196, hier S. 129-152, später als „Gottsched: »Versuch einer Critischen Dichtkunst«“ bezeichnet: Gottsched setzt sich mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit in seiner Abhandlung unter dem gleichnamigen Kapitel „Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie“ aus. 99 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 196. 100 Vgl. ebd., S. 199. 101 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 189-193.

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Bereits in den 1730er Jahren setzte Gottsched sich in enger Zusammenarbeit mit der Theatergruppe von Friederike Caroline Neuber (1697- 1760) für eine regelmäßige deutsche Schauspielkunst ein.102 Nach dem Vorbild der klassizistischen französischen Dramen versuchte er, ein regeltreues und sittenstrenges Schauspiel zu schaffen. In der Umsetzung solcher Dramen auf der Bühne wurde das Stück dann textgetreu dargestellt, so dass es nach der im Dramenstück vorgesehenen Akt- und Szenenteilung aufgeführt wurde. Gottsched setzte sich vehement für die Abschaffung der häufig auftretenden komischen Figur eines Hans Wurst und des (antiken) Elementes des Deus ex machina und auch des Chores ein, da sie dem Wahrscheinlichkeitsprinzip der Dichtung nicht entsprachen. 103 Gruselszenen und andere unterhaltende, die Sensationslust des Publikums anreizende Momente entfielen – die vorrangig erzieherische Funktion der Bühne bzw. der theatralischen Darstellung setzte sich gegenüber dem Unterhaltungsanspruch durch.104 Trotz des Bemühens um die Abschaffung des barocken Stils und der Orientierung an der Regelpoetik beinhaltet die Dramenpoetik Gottscheds sowohl die aristotelische Wirkungsformel als auch die Elemente der klassizistischen Tragödientheorie und Bestandteile der barocken Gattungsdoktrin.105

(3) Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730)

In der theoretischen Abhandlung Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) war Gottscheds Intention, „die deutsche Literatur im Geist der aufklärerischen Ideale neu zu beleben“ 106 das leitende Prinzip. Gottsched forderte hier, dass die Dichtung den Regeln der vernünftigen Wahrscheinlichkeit folgen müsse. Er war der Ansicht, die Natur sei vernünftig und sie funktioniere

102 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 164. 103 Herabkommen der Götter. Vgl. Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched, Stuttgart·Leipzig 2000, S. 89-98. 104 Vgl. Jeßing, ebd., S. 168f. 105 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 194. 106 Stefanie Arend: Einführung in Rhetorik und Poetik, Darmstadt 2012, S. 99.

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nach kausallogischen Regeln. Wenn die Dichtung daher die Natur nachahme, solle sie nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit der Natur geschaffen werden. Erst dann sei die Dichtung für den Menschen nachvollziehbar und vermöge, sie zu belehren.107 Gottsched beruft sich hier auf Aristoteles, der die Nachahmung einer Handlung als leitendes Prinzip der Dichtung betrachtete.108 Die Struktur der Handlung, die Zusammenfügung der Geschehnisse sei wichtig, weil die Tragödie „Lebenswirklichkeit“ nachahme. Die Handlung soll das Mögliche und das Wahrscheinliche zur Darstellung bringen, das sich in der Lebenswelt abspielen und von den Zuschauern nachvollzogen werden kann. Schon seine ein Jahr zuvor verfasste Rede Die Schauspieler und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (1729) zeigte sein neues Konzept für die Tragödie. Dieser Text fasst Gottscheds Kernidee hinsichtlich der Tragödie zusammen und zeigt, welche poetologischen Ansätze für ihn relevant sind.

»Ein Trauerspiel, meine Herren, ist ein lehrreiches moralisches Gedichte, darin eine wichtige Handlung vornehmer Personen auf der Schaubühne nachgeahmet und vorgestellet wird. Es ist eine allegorische Fabel, die eine Hauptlehre zur Absicht hat und die stärksten Leidenschaften ihrer Zuhörer, als Verwunderung, Mitleiden und Schrecken, zu dem Ende erreget […]. Die Tragödie ist also ein Bild der Unglücksfälle, die den Großen dieser Welt begegnen und von ihnen entweder heldenmütig und standhaft ertragen oder großmütig überwunden werden. Sie ist eine Schule der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu Trübsalen, eine Aufmunterung zur Tugend, eine Züchtigung der Laster. Die Tragödie […] schicket ihre Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause.«109

Die Tragödientheorie von Gottsched folgt den großen Linien der aristotelischen Poetik. Der Schwerpunkt bei Gottsched liegt darin, dass die Natur –und dazu

107 Vgl. Arend: Rhetorik und Poetik, S. 100f. 108 Vgl. Aristoteles: Poetik, übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 23: „Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. […] Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden.“ 109 Johann Christoph Gottsched: »Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen«, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. v. P. M. Mitchell in 12 Bänden, 9. Bd., 2. Teil: Gesammelte Reden, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin·New York 1987, S. 492-500, hier S. 494.

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gehörte der Mensch – vollkommen nach der Regelpoetik nachgeahmt werden solle. Handlung, Zeit, Ort, Charaktere, Ausdruck oder Schreibart, Musik, Maschine und anderen Zierarten der Schaubühne, Kleidung, Aussprache und das Gebären der spielenden Personen, Auftritte oder Szene in einer Handlung werden gemäß der normativen Poetik erklärt. Der Zweck der Tragödie liegt für Gottsched darin, dem Zuschauer die moralische Belehrung durch das Theater zu vermitteln. In seiner Schrift Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) wird der Schwerpunkt auf die Ermittlung des aufklärerischen Ansatzes deutlich dargestellt.

»Der Poet wählet sich einen moralischen Lehr-Satz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit seines Satzes erhellet. Hiernächst sucht er in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas Ähnliches begegnet ist«110

Gottsched erklärt in Bezug auf eine gute tragische Handlung den dichterischen Prozess bei der Entstehung einer Tragödie. Es ist auffällig, dass der moralische Ansatz zunächst bestimmt wird, nicht die Handlung oder sonst ein dramenpoetologisches Element. Die Handlung wird ausgesucht, diese moralische Kernidee als greifbare Geschichte sichtbar und deutlich zu machen. Darüber hinaus werden auch die Protagonisten in dieser Weise bestimmt. Die dramenpoetologischen Elemente dienen dazu, diesen moralischen Ansatz literarisch zu verkörpern und zu tragen. Es wird bereits bei der Entstehung einer Tragödie verdeutlicht, dass die Tragödie bei Gottsched als ein aufklärerisches Mittel stark betrachtet wird, die eine lehrende Funktion hat. Die Konzeption einer strikten Lehrhaftigkeit der Literatur steht im Kontext der im Kern rationalistischen Aufklärung, die das Fundament dieser Tragödienkonzeption darstellt. Gottsched bezeichnet die Erfahrung des Theaters als eine Schule, Dichtung ist hier moralisches Lernobjekt im Rahmen der Aufklärung, die Poesie wird zum Mittel des pädagogischen Zweckes verwendet. Damit haben Poesie und Theater Anteil an der Demokratisierung der Dichtung

110 Gottsched: »Versuch einer Cristischen Dichtkunst«, hier S. 161.

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bzw. des Bildungssystems, der im Hintergrund von Gottscheds Vorstellung stand. 111 Literarische Werke sollten nicht mehr nur von Gelehrten für die Gelehrten, sondern auch von und für die normale(n) Bürger geschrieben werden. Es ist nachvollziehbar, dass auf diesem Hintergrund mit der Erneuerung der Dichtungslehre in Gottscheds Schrift das rhetorische System der Barock-Poetik abgelöst und der übertriebene Redeschmuck scharf abgewehrt wurden.112 Nichtsdestoweniger akzentuiert Gottsched den Affekt der Bewunderung als Wirkung des Theaters. In der Tragödie werden die Unglücksfälle nachgeahmt, die großen Persönlichkeit geschehen sind, die die Großen ertragen haben oder die sie mit ihrer Heldenhaftigkeit und Standhaftigkeit überwunden haben. Der Affekt der Bewunderung, die bei Gottsched als ein Synonym von Verwunderung zu verstehen ist, steht als erstes in der Reihe der Affekte vor Mitleid und Schrecken. Die Bewunderung bezieht sich auf die „Großen der Welt“, deren Tugendhaftigkeit bzw. Standhaftigkeit der Zuschauer bewundern soll. Die großen Helden ertragen das Unglück, das sie getroffen hat „heldenmütig und standhaft“ oder überwinden sie „großmütig“. Das zeigt, dass Gottsched für seine neue Dramenpoetik auch Französischen Klassizismus als Vorbild aufgenommen hat.

(4) Französischer Klassizismus und Bewunderungsästhetik

Der Begriff der Bewunderung wurde bei Gottsched unter dem Einfluss des Französischen Klassizismus als ein wichtiges Ziel der Affekterregung

111 „Poesie soll nicht mehr, wie im Barockzeitalter, für einen exklusiven Kreis weniger Gelehrter geschrieben sein: In stilistischer und formaler Klarheit soll sie in die sich formierende und ausdifferenzierende bürgerliche Klasse hineinwirken.“ Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 167; Z. B. waren die Moralische Wochenschriften, bei denen Gottsched eine wichtige Gestalt war, „wesentliche Organe bürgerlicher Selbstverständigung über die Identität der eigenen Klasse“. Durch die Lehrdichtungen, literaturkritische Abhandlung und belehrende Dialoge wurde dem Lesepublikum über Tugend-, Erziehungs-, Rechts- und Gesellschaftsfragen unterrichtet. Vgl. Benedikt Jeßing / Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, 3. Auflage, Stuttgart·Weimar, S. 37. 112 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 166.

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betrachtet.113 Bewunderung ist ein Begriff, der eng mit der Figur des Helden verbunden ist. Im Unterschied zu Aristoteles, bei dem nur Jammer und Schauder als Affekt genannt waren, fügte Gottsched neben Traurigkeit und Schrecken noch Mitleid und Bewunderung hinzu. Es ist relevant zu unterscheiden, was für ein Typus von Figur es sein soll, die der Zuschauer wegen seiner Tugendhaftigkeit bewundern soll. Der Zusammenhang zwischen der Figur und dem Affekt, den die Figur im Zuschauer hervorrufen kann, ist der Schlüssel, um den Schwerpunkt der gottschedschen Tragödienkonzeption herauszufinden. In seinem Versuch einer Cristischen Dichtkunst erklärt Gottsched anhand der Figur von Ödipus seine Konzeption des Helden in der Tragödie:

»Er [Oedipus] ist so […] von mittlerer Gattung, [er] hat gewisse Tugenden, auch gewisse Laster an sich: und doch stürzen ihn die letzten ins Unglück. (Denn hätte er niemanden erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolget. Er hätte sich aber vor allen Totschlägen hüten sollen; nachdem ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte. Denn er sollte billig allezeit gedacht haben: »Wie? Wenn dies etwa mein Vater wäre.« […] weil nämlich die meisten von ebender Art sind als er; nämlich weder recht gut noch recht böse. Man hat einesteils Mitleiden mit ihm: andernteils aber bewundert man die göttliche Rache, die kein Laster ungestraft läßt.«114

Gottsched erklärt, dass die ideale Figur „weder recht gut noch recht böse“ sei. Wichtig hier ist, dass Gottsched für die Figur die soziale Höhe und das Moralische des Charakters unterscheidet. Die nachgeahmte Person ist keine Gottheit, sondern eine menschliche Person, weil die Tragödie eine menschliche Handlung nachahmt. 115 Nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit ist es nachvollziehbar, dass er auf die Göttlichkeit der Person verzichtet und stattdessen eine Person dargestellt wissen will, die sowohl Tugend als auch Laster besitzt. Aber der Affekt der Bewunderung ist eng mit dem Begriff der Fallhöhe verbunden. Er argumentierte, je höher der soziale Rang der Figur sei, desto tiefer werde der Affekt empfunden. Nach diesem Gedanken sollten die

113 Vgl. ebd., S. 167. 114 Gottsched: »Versuch einer Cristischen Dichtkunst«, S. 158. 115 Ebd., S. 172.

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Tragödienhelden aus dem hohen Stand stammen, 116 denn nur die Großen können bei den Zuschauern die Affekte wie Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung“ erregen.117 Die Tugendhaftigkeit und Standhaftigkeit der Helden scheinen widersprüchlich, da die Figur „weder recht gut noch recht schlecht“118 ist. Trotz der Fehlerhaftigkeit des Charakters ist der Held tugendhaft genug, um mit dem Unglück umzugehen. Er bleibt standhaft in seinem tiefen Fall, wofür man ihn bewundert. Dies reibt sich letztlich mit anderen Forderungen in Gottscheds Poetik, wo die Wahrscheinlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Handlung als Grundprinzip gefordert werden.119 Dieser Widerspruch kann mit der Ansicht erklärt werden, dass der Endzweck bei Gottsched vielmehr in der Belehrung der Vernunft und Tugend liegt, nicht in der Bewunderung selbst. Standhaftigkeit und Tugendhaftigkeit der Protagonisten sind Objekte und Mittel der Belehrung, die im Zuschauer die Bewunderung hervorbringen und die später als ein Vorbild nach Hause mitgenommen werden sollen. Allerdings zeigt der Grund der Koexistenz dieser widersprüchlichen Elemente den Standort der Poetik Gottsched im poetologiegeschichtlichen Kontext.

(5) Übergang vom barocken Stil zur auf Vernunft basierten Poetik

Gottsched kritisierte den barocken Stil und versuchte, eine auf die Vernunft bezogene Regelpoetik zu ermöglichen. Dennoch finden sich in seinen eigenen Dramen einige barocke Elemente, die im Gegensatz zu seinen dramentheoretischen Gedanken stehen. Anhand des Beispiels Ödipus lässt sich darstellen, dass der Protagonist der Tragödie weder Gott noch Übermensch ist.

116 Alt: Aufklärung, S. 195. 117 Vgl. Arend: Rhetorik und Poetik, S. 103. 118 Gottsched: »Versuch einer Critischen Dichtkunst«, S. 158. 119 Es ist jedoch nicht eindeutig, auf welche Ebene zwei Elemente in der Tragödientheorie Gottscheds, nämlich die Wirkungskonzeption der Bewunderung durch die Darstellung der standhaftigen Helden und die Mitleidserregung im Unglück der mitteleren Charakters im Hinblick auf die moralische Belehrung als Zweck der Tragödie zusammenwirken können. Vgl. Alt, ebd., S. 196.

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Die Figur ist von einer mittleren Gattung, die sowohl Tugend als auch Laster besitzt. Das heißt, Ödipus besitzt eine Normalität des Menschen, der „weder recht gut noch recht böse“ ist. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass die Protagonisten Gottscheds trotz ihrer Fehlerhaftigkeit aus einem höheren gesellschaftlichen Rang stammen. Es betrifft die Konzeption der Fallhöhe, dass, je höher der Stand der Figur ist, desto stärker wird der Affekt im Unglücksfall. Die Koexistenz zwischen der Tugendhaftigkeit des Großen und deren Normalität, die auch Fehlerhaftigkeit beinhaltet, scheint jedoch widersprüchlich. Gottsched stellt auch nicht deutlich heraus, wie die Wirkungskonzeption der Bewunderung durch die Darstellung der vorbildlichen Standfestigkeit des Helden, und die Gedanken der Mitleidserregung im Fall des Unglücks eines mittleren Charakters nebeneinanderstehen.120 Die Inkonsistenz von Gottscheds Theorie zeigt, dass zwei unterschiedliche Wirkungsimpulse, die sich nicht harmonisieren lassen, zusammen existieren.121 Auf der einen Seite werden die Irrtümer des mittleren Charakters dargestellt, die den Unglückfall verursachen und zum Endzweck dem Zuschauer ein vernünftig-moralisches Verhalten zeigt. Auf der anderen Seite spiegelt die bewundernswürdige Heldenfigur die Elemente des barocken Märtyrertums wider, die im Unglückfall ihre Tugendhaftigkeit zeigt. Diese Widersprüchlichkeit des Tragödienkonzepts zeigt, dass die Dramenpoetik Gottscheds sich im Übergang vom barocken Stil zur auf Vernunft basierten Poetik befindet. Die Elemente der barocken Dramenpoetik, z. B. die Ständeklausel, die Fallhöhe und die Beständigkeit sind aber auch bei Gottsched zu finden. Gottsched übernimmt aus dem Französischen Klassizismus den Begriff der Bewunderung als Wirkungsziel der Tragödie.122

120 Vgl. Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 72, zitiert nach Alt: Aufklärung, S. 196. 121 Vgl. Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds >Deutscher Schaubühne<, Tübingen 1994, S. 79ff, zitiert nach Alt: Aufklärung, S. 196. 122 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 167; „Am Beginn einer Neuorientierung der deutschen Literatur steht Gottscheds von aufklärerischen Pathos getragene Reform des Theaters, der von ihm so genannten „weltlichen Kanzel“. Vorbild seines „regelmäßigen“, d. h. den Regeln der Vernunft folgenden Dramas, war das französischen théâtre classique mit der Beachtung der Ständeklausel, der Einheit von Ort, Zeit und Raum, den festgelegten fünf Akten und der gebundenen Rede“.

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Dieser Übergangszustand der Dramenpoetik Gottscheds lässt sich vor allem an einem seiner Stücke veranschaulichen. Sterbender Cato (1732) von Gottsched ist ein Musterdrama und ein Wendepunkt in der deutschen Dramengeschichte, in dem das Reformkonzept für das Trauerspiel verwirklicht und Theater als moralische Institution betrachtet wurde.123 In der Figur des Cato kann der konzeptionelle Bruch in der Dramenpoetik Gottsched aufgewiesen werden. Es geht um die Geschichte Catos, eines Statthalters in Utica, der sich gegen Cäsar stellt. Im Stück wird seine Standfestigkeit gezeigt, indem er dem republikanischen Ideal die Treue hält und sich einer diktatorischen Alleinherrschaft entgegenstellt. 124 Seine Standfestigkeit, Mut und Weisheit werden bereits am Beginn des Stückes gerühmt.125 Spätestens aber mit der Lüge gegenüber einem Sohn und dem Selbstmord wird die Figur problematisch: Der Titelheld Cato kann als Übergangsfigur zwischen dem Märtyrer des Barocks und dem Helden des aufklärerischen Trauerspiels interpretiert werden,126 – das Ende des Trauerspiels macht aber die Brüchigkeit der Figurenkonzeption deutlich. Die ambivalente Charakterdisposition eines Heldentypus weist einerseits auf die Standfestigkeit des Helden und andererseits auf die moralischen Lehren durch sein trauriges Schicksal. 127 Im Stück wurden zwei unterschiedlichen Tragödienkonzepte, die aristotelische Wirkungsformel und die französische klassizistische Tragödientheorie zusammengestellt. Das heißt, die voraufklärerische Konzeption der moralischen Lehre und die auf den barocken Märtyrer bezogene Konzeption der Bewunderung sollten innerhalb eines Stückes realisiert werden. „Cato wird modelliert im Stile eines Helden, wie er eher in einem barocken Märtyrerdrama zu erwarten gewesen wäre und der stoische Ideale wie Standfestigkeit bis zum eigenen Tode verteidigt.“128

123 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 197-201. 124 Vgl. ebd. 125 Vgl. ebd., S. 197. 126 Vgl. ebd., S. 196ff. 127 Ebd., S. 195. 128 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 170.

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1.2. Johann Elias Schlegel: Wegweiser zur neuen Dramenpoetik im 18. Jh.

(1) Ausgangspunkt

Der 1719 geborene Schlegel war zunächst ein Schüler Gottscheds.129 Er nahm auch an der Arbeit der von Gottsched veröffentlichten Zeitschrift teil, mit Gottsched teilte er das Ziel, letztlich eine nationale Bühne mit einem institutionalisierten Rahmen zu begründen. Nach seinem Leipziger Studium gelangte Schlegel als Beamter an den dänischen Hof und blieb bis zu seinem frühen Tod 1749 in Kopenhagen. Dort entwickelte Schlegel seine eigene Dramenpoetik, die sich in einigem Kontrast zu der Theorie Gottscheds verstehen lässt. Schlegel arbeitete in Dänemark für das Hoftheater in Kopenhagen, konnte jedoch nicht eigenständig arbeiten, sondern lediglich im Auftrag des Hoftheaters. Aus diesem Grund ist die Dramentheorie von Schlegel trotz ihrer Modernität in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung nicht prominent gemacht. Dennoch sind seine dramenpoetologischen Überlegungen in Bezug auf den dramenpoetologischen Kontext im 18. Jahrhundert nicht zu unterschätzen und bahnten letztlich auch den neuen Weg einer Autonomieästhetik, wie Schiller ihn schließlich in seiner klassizistischen Dramenpoetik ging. Auf der einen Seite hat Schlegel eine der Grundregeln der Regelpoetik Gottscheds, die die Literatur nach dem Prinzip der Vernunft zu bestimmen suchte, in Frage gestellt. Darüber hinaus wurden zentrale dramenpoetologischen Merkmale, die bei Gottsched relevant sind – etwa Nachahmung der Handlung nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, moralische Funktion der Literatur und Bewunderungsästhetik – mit den neuen Überlegungen Schlegels konfrontiert und dadurch relativiert bzw. kritisiert. Aus diesem Grund kann die Dramenpoetik Schlegels leicht verstanden werden, wenn sie als Kontrastbild mit der Dramenpoetik Gottscheds verglichen wird. Auf der anderen Seite hebt Schlegel

129 Vgl. ebd., S. 170.

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den Rang des Charakteristischen in der Dramenästhetik hervor und betont die Bedeutung nationaler Bedingtheiten literarischer Kultur. 130 Er hat dazu beigetragen, einen neuen Weg für Dramenpoetik im 18. Jahrhundert zu bahnen. Trotz der Modernität seiner dramenpoetologischen Konzeption ist seine Dramentheorie wegen seines frühen Todes nicht sehr bekannt.

(2) Vergnügen als Endzweck der künstlerischen Nachahmung

Das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, das bei Gottsched eine zentrale Rolle für die Nachahmung gespielt hat, wurde auch von Schlegel aufgenommen. Bei Schlegel aber ist es nicht mehr die einzige absolute Regel der Poetik. Er hat, viel genauer als alle Vorgänger, Unähnlichkeit als notwendiges Kennzeichen ästhetischer Nachahmung festgestellt:

»Man soll, nämlich zu weilen die Nachahmung der Sache, der man nachahmet, unähnlich machen. […] Ich bin überzeugt, daß man die Umstände seines Vorbildes zuweilen anders vorstellen muß, als sie wirklich sind; daß man öfters nur wenige Züge von derjenigen Sache, die man abschildert, behalten darf; kurz, daß man oft, wenn man nachahmet [sic!], die ganze Sache, der man nachahmet, so zu sage verwandeln muß.«131

»Ich habe dargethan, dass es recht sey, unähnlich zu wenn die Begriffe der Menschen von der Wahrheit abweichen; daß es nützlich sey, wenn das Vergnügen dadurch befördert wird; daß es eine Schuldigkeit sey, wenn man den Menschen dadurch Vorstellungen voll Eckel und Abscheu aus den Augen entziehet, oder wenn der Wohlstand einer vollkommnen Aehnlichkeit zuwieder ist.«132

Schlegel leitet aus der Spezifik des künstlerischen Materials die Notwendigkeit ab, dass ein Gegenstand in der Kunst nur „unähnlich“ und „anders“ nachgeahmt werden könne, als er in der Wirklichkeit ist. Wahrscheinlichkeit der Nachahmung spielt für Schlegel immer noch eine Rolle – er legt allerdings ein

130 Vgl. Jeßing: Dramenanlayse, S. 170. 131 Johann Elias Schlegel: »Abhandlung, daß die Nachahmnung der Sache, der man nachahmet, zu weilen unähnlich werden müsse«, in: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Werner Schubert, Weimar 1963, S. 478-485, hier S. 479f, später als „Schlegel: »Nachahmnung der Sache«“ bezeichnet. 132 Ebd., S. 484.

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größeres Gewicht auf den Schein als auf das Wahre. Der Grund, warum der Gegenstand unähnlich nachgeahmt wird, liegt (über die materiale Seite des Kunstwerks hinaus) darin, das Vergnügen beim Betrachten des Kunstwerks zu erwecken. Wichtig ist hier, dass das Vergnügen beim Kunstwerk Vorrang vor der Nachahmung hat. Das heißt, das Gelingen der Nachahmung hängt nicht davon ab, wie authentisch die Kunst die Wirklich darstellt, sondern, ob sie dazu dient, das Vergnügen als die Wirkung des Kunstwerkes auszulösen. Das Vergnügen- Schaffende des Kunstwerkes steht im Mittelpunkt der künstlerischen Wirkung. Darüber hinaus verknüpft Schlegel den Begriff der Nachahmung mit dem des Vergnügens und der Schönheit des Kunstwerkes:

»Je mehr Vergnügen unsere Nachahmung erweckt, desto schöner ist sie. […] Also ist es nicht ein Fehler, sondern ein Kunststück, Unähnlichkeit in die Nachahmung zu bringen, wenn mehreres Vergnügen dadurch erhalten wird, wenn nur derjenige, dem zu gefallen wir nachahmen, noch immer Aehnlichkeit zu bemerken glaubt, und das Mittel seines Vergnügens, durch unsere Begierde zu vergnügen, nicht umgestossen wird.«133

»Denn es macht allezeit Misvergnügen, wenn man die Unähnlichkeit bemerket. […] Kurz, es ist kein Verbrechen, die Aehnlichkeit zu übertreten; aber es ist schon ein Fehler, sich merken zu lassen, daß man sie übertreten hat, und seine Unähnlichkeit den Sinnen seiner Richter empfindlich zu machen.«134

Es ist hochinteressant, dass Schlegel die Wirkung des Kunstwerkes mit dessen Schönheit verknüpft. Die Schönheit des Kunstwerkes hängt nicht davon ab, wie authentisch die Nachahmung gelungen ist, sondern davon, ob es mehr Vergnügen einbringt. Der Hauptzweck der künstlerischen Nachahmung ist nicht die Belehrung, sondern das Vergnügen (delectare), den Unterschied bzw. die Unähnlichkeit zwischen Kunst und Natur zu finden.135 Schlegel formulierte die notwendige Bestimmung der Kunst, dass nicht in allen Momenten die Wirklichkeit des Gegenstandes nachgeahmt werden könne noch dürfe. Das heißt aber nicht, dass er Nachahmung nach dem Prinzip

133 Schlegel: »Nachahmnung der Sache«, S. 482. 134 Ebd., S. 484f. 135 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 170.

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der Ähnlichkeit in seinem Sinne komplett ablehnt. Vielmehr hat er die authentische Nachahmung der Gegenstände als Basis der Nachahmung aufgenommen. Die Verwandlung des Gegenstandes ist nur dann notwendig, wenn das Vergnügen am Kunstwerk durch die natürliche Nachahmung scheitert. Es gebe solche Fälle, in der die Gegenstände nicht authentisch nachgeahmt werden müssen, um eine negative Wirkung zu vermeiden. Um das Vergnügen am Kunstwerk hervorzurufen, müssen z. B. unerträglicher Ekel oder Abscheu vor dem Gegenstand bei der Nachahmung verwandelt werden. Dadurch wird herausgefunden, dass das Prinzip der Wahrscheinlichkeit bei Schlegel im Vergleich zu Gottsched kein absolutes Gesetz der künstlerischen Nachahmung ist. Stattdessen betont Schlegel das Vergnügen bei der Anschauung des Kunstwerkes als seine Wirkung.

(3) Möglichkeit der autonomen Kunstform: Autonomieästhetik

Bei Gottsched wurde das Prinzip der Nachahmung des Kunstwerkes betont und die Kunst wurde als ein Mittel zum moralischen Zweck betrachtet. Bei Schlegel trägt die Kunst keine moralische Funktion, sondern wird als ein Gegenstand der Lust und der Schönheit behandelt. Indem das Vergnügen als Endzweck der künstlerischen Nachahmung betrachtet wird, entfaltet sich ein Raum, in dem weder Pflicht noch Zwang der Nachahmung der Wahrscheinlichkeit existiert.

»Aber habe ich dadurch auch vielleicht der Unähnlichkeit zu einer zügellosen Herrschaft verholfen? Habe ich dadurch vielleicht ein Feld geöffnet, wo man ohne Regel herumirren, und seine Hirngespinste für Nachahmungen verkaufen wird? Nichts weniger, als dieses. Das Verbrechen dererjenigen, die ohne Ursache ihren Nachahmungen Unähnlichkeiten einmischen, würde desto wichtiger seyn, da man so wichtige Ursachen zu Unähnlichkeiten haben muß. Desto eifriger muß man sich bemühen, seinem Vorbilde nahe zu kommen, wo es die Regel nicht verbietet, damit man durch die übrigen Aehnlichkeiten die regelmäßige Unähnlichkeit des Bildes überdecken und verbergen möge.«136

Schlegel definiert hier nicht direkt den Begriff der Autonomie der Kunst, aber

136 Schlegel: »Nachahmnung der Sache«, S. 484.

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seine Ausführungen können als Idee einer Zweckfreiheit der Kunst bzw. der Eigenschaft der Autonomie der Kunst verstanden werden. Der Kunst, die nicht nach der Pflicht der Wahrscheinlichkeit handelt, wird attestiert, dass sie „zügellos herumirren“ könne – und der dadurch entstehende freie Raum wird hier als „ein Feld […] ohne Regel“ bezeichnet. Es ist klar angedeutet, dass die Nachahmung in der Unähnlichkeit nur gestattet wird, wenn sie ein Hervorrufen des Vergnügens ermöglicht. Dies aber eröffnet eine neue Dimension für die Poetik und befreit gleichzeitig die Kunst von der Pflicht der authentischen Nachahmung. Schlegel behauptet aber nicht, dass die Autonomie der Kunst als zentraler Begriff im Mittelpunkt der Ästhetik stehe. Trotz der Annahme der neuen Perspektive im dramenpoetologischen Feld bevorzugt er das Prinzip der Wahrscheinlichkeit bei der Nachahmung.

(4) Psychologische Nachvollziehbarkeit des Charakters

So wie Schlegels andeutungsweise Autonomieerklärung der Kunst in gewissem Sinne Schiller vorbereitet, so weist sein Begriff des Charakters auf Lessing voraus – und auch damit geht er über seinen Lehrer Gottsched hinaus. Nach der aristotelischen Tradition bevorzugte Gottsched die Handlung vor dem Charakter. Der Charakter wurde als annähernd nebensächlich betrachtet, etwas, das die Handlung der Tragödie unterstützt. Schlegel allerdings betrachtet die Bedeutung und die Rolle des Charakters als viel wichtiger als sein Vorgänger.

»Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. An zweiter Stelle stehen die Charaktere. […] Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden.«137

»Es ist die Natur der Menschen, daß sie nach ihren Charakteren handeln. Diejenigen also, die uns die Ursachen der Handlungen entdecken wollen, wie solches die Pflicht eines Geschichtsschreibers ist, müssen uns nothwendig die Charaktere derer entdecken, welche Theil daran gehabt haben. […] Die Charaktere, die Sophokles in seinem Philoktetes gebildet hat, sind so unterschieden, als die Personen selbst. Des Ulysses Charaktere ist bekannt; aber dennoch hat er auch bey diesem viel Kunst gezeigt. Es ist nicht genug, daß ich von jemanden sage, er sey listig. Ich muß auch

137 Aristoteles: Poetik, S. 21f.

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wissen, was für Eigenschaften damit verknüpft sind, wofern der Charakter sich nicht selbst widersprechen soll.«138

Schlegel erklärt zunächst, dass der Mensch nach seinem Charakter handele und dass dies die grundlegende menschliche Natur sei. Das Gewicht, das Schlegel auf den Charakter legt, markiert den Abstand zur Dramenpoetik Gottscheds.139 Für den Charakter einer Figur war es bei Gottsched bereits genug, wenn sie eine einheitliche Eigenschaft hatte und in Bezug auf ihre Tugend als Vorbild erschien. Bei Schlegel gewinnt der Charakter die Priorität in der Dramenpoetik. Es handelt sich nicht nur darum, dass der Charakter die Handlung eines Menschen verursacht. Darüber hinaus geht es um die psychologische Nachvollziehbarkeit des Charakters. Entsprechend der Dramenpoetik des Aristoteles betonte Gottsched, die Tragödie könne ihre kathartische Wirkung erst entfalten, wenn die Handlung der Tragödie eine Form von Nachvollziehbarkeit beinhalte.140 Im Gegensatz zur Nachvollziehbarkeit der Handlung fokussiert Schlegel die Nachvollziehbarkeit des Charakters. Im Hinblick auf die Eigenschaft einer literarischen Figur müsse es nachvollziehbar sein, inwiefern der Charakter mit der Handlung der Person verbunden ist und welche Wirkung er bei der Tat hineingebracht hat. Dafür sollen der Freiheitsdrang und der Wille der einzelnen Person im Stück mit der Umwelt lebendig vor den Augen des Publikums dargestellt werden.141 In diesem Sinne ist der Begriff des Charakters auch mit dem Begriff des Nationalen verbunden. Schlegel vertrat die Ansicht, dass jede Nation ihren eigenen Charakter besitze und demgemäß auch das Figurenbild jeweils anders dargestellt werden müsse.

»Bey Einrichtung eines neuen Theaters muß man also die Sitten und den besondern

138 Schlegel: »Auszug eines Briefs, welcher einige kritische Anmerkungen über die Trauerspiele der Alten und Neueren enthält«, in: Ders.: Ausgewählte Werke, S. 403-407, hier S. 406, später als „Schlegel: »Auszug eines Briefs«“ bezeichnet. 139 Im 21. Kapitel von Aristoteles Poetik handeln die Schauspieler „nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlung willen beziehen sie Charaktere ein“. Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 122. 140 Vgl. ebd. 141 Vgl. Arend: Rhetorik und Poetik, S. 107.

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Charakter seiner Nation in Betrachtung ziehen, und zugleich den edelsten Endzweck vor Augen haben, der durch Schauspiele überhaupt, und der insonderheit bey unserer Nation erhalten werden kann.«142

Jede Nation habe ihre spezifischen Eigenschaften und das Drama wird je nach Nation unterschiedlich rezipiert und dadurch andere Wirkungen ausprägen. Aus diesem Grund müsse mehr auf den Charakter im Drama geachtet werden, um eine entsprechende Wirkung zu erreichen. Die Akzentuierung des Charakters gemäß der jeweiligen Nation stellt die normative Regelpoetik Gottscheds in Frage, da dadurch auf die absolute Regelpoetik verzichtet wird.

(5) Kritik am franzäsichen Klassizismus und Einführung Shakespeares in Deutschland

Schlegel betrachtete den Französischen Klassizismus, der für Gottsched als Muster galt, nicht mehr als absoluten Prototyp, den man unbedingt nachahmen solle.143 Die auf der Darstellung der Heldenfigur basierte Bewunderungsästhetik, die im Mittelpunkt des Franzäsicher Klassizismussteht, wurde von Schlegel in Frage gestellt und abgelehnt.

»Die Griechen waren ein freyes Volk. Sie hatten die hohen Gedanken von den Königen nicht, die wir haben. Es ist uns heut zu Tage unerträglich, einen Helden reden zu hören, wie andere Leute reden. Er muß außerordentlich reden und erzählen. Daher haben wir diese Einfalt im Erzählen nicht beybehalten; sondern wir lassen unsere Helden fast nicht, wie Menschen, reden, weil wir unsere Könige selten sehen, und also nichts von ihnen denken, als was außerordentlich ist.«144

Schlegel notiert hier, dass die Helden in den zeitgenössischen Stücken nicht als normale Menschen, sondern als außergewöhnliche Figuren dargestellt würden. Er erwähnt hier nicht direkt, deutet aber die Figuren des Franzäsicher Klassizismusan,

142 Vgl. Schlegel: »Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters«, in: Ders.: Ausgewählte Werke, S. 559-585, hier 562. 143 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 201-205. 144 Schlegel: »Auszug eines Briefs«, S. 407.

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von denen der Affekt der Bewunderung hervorgerufen werden sollte. Stattdessen sieht er die Figuren der griechischen Tragödien als vorbildhaft an. Schlegel bezieht damit gegenüber der Figurenkonzeption von Gottsched eine kritische Position, da die Helden bei Gottsched nach der Tradition des Franzäsicher Klassizismusvon hohem Rang waren. Anstelle des französischen Vorbilds sieht Schlegel in Shakespeares Dramen seiner Vorstellung entsprechende Charaktere der Figur:

»Die Engelländer haben schon durch viele Jahre den Shakespear [sic!] für einen großen Geist gehalten. […] Wenn ich nach demjenigen urtheilen soll, was ich in der Englischen Schaubühne gelesen habe: so sind ihre Schauspiele mehr Nachahmungen der Personen, als Nachahmung einer gewissen Handlung.«145

»Hingegen wird ein selbstgemachter Held den größten Vortheil darinnen haben, daß die Züge desselben viel verwegner, und dessen Charakter in der Bildung künstlicher und gefährlicher seyn wird; weil man leichtlich Dinge, die nicht seyn können, malen wird, wenn man Dinge malt, die nicht sind. Man findet die Gemüthsbewegungen viel heftiger und ausdrücklich in den Gesichtern abgebildet die der Maler selbst gedichtet hat, […] Es ist also eine erlaubte Kühnheit, seine Helden selbst zu machen, wenn sie nur die Geschichte nicht offenbar Lügen strafen.«146

Schlegel erwähnt zunächst, dass das englische Theater, das er von Shakespeare repräsentiert sieht, vielmehr die Darstellung der Person als die Handlung akzentuiert. Darüber hinaus behauptet er, dass die Erfindung einer Figur größere Vorteile habe, da sie nicht mit einer historischen Figur übereinstimmen muss.147 Schlegel behauptete nicht, dass Shakespeare das absolute Musterbeispiel für ein ideales Drama liefere. 148 Schlegel hat statt des Französischen Klassizismus Shakespeare im Hinblick auf den Charakter der Figur als alternatives Beispiel für seine Dramenpoetik aufgenommen. Unter anderem dadurch wurden die Dramen Shakespeares und die ihnen implizite Dramenpoetik nach Deutschland eingeführt,

145 Ders.: »Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs bey Gelegenheit des Versuchs einer Gebundenen Uebersetzung von dem Tode des Julius Cäsar, aus den englichen Werken des Shakespeare. (Berlin 1741)«, in: Ders.: Ausgewählte Werke, S. 456-477, hier S. 462. 146 Ebd., S. 467. 147 Vgl. ebd., S. 464. 148 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 202: Schlegel hatte bereits 1741 die Charakterisierungskunst Shakespeares als Muster lebendiger Dramatik erklärt und sie in einem Vergleich mit dem Werk von Gryphius gegen Regelpoetik verteidigt.

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ihre Rezeption in der deutschen Dramatik konnte beginnen. Die Akzentuierung auf den Charakter wurde unter dem Einfluss der Dramatik Shakespeares in Schlegels eigenem Drama Canut verwirklicht, das 1746 erschienenen ist. Canut gilt in der deutschen Literaturgeschichte als eins der ersten Dramen, die im Übergang zu den Trauerspielen Lessings stehen. In dramenpoetologischer Hinsicht beinhaltet das Drama noch Elemente der Regelpoetik wie Alexandriner, fünf Akte, und Prinzip der Einheit für Zeit, Ort und Handlung. Trotz der Anwesenheit der Merkmale des Franzäsicher Klassizismusschafft Schlegel mit der Figur des Ulfo einen einmaligen Charakter in der deutschen Dramatik. Im Gegensatz zur Titelfigur des Canut, der historisch existiert hat, wurde die Figur des Ulfo vom Dramatiker erfunden, wie er in seiner theoretischen Schrift über die Dramatik Shakespeares erwähnt hat. Ulfo ist keine tugendhafte positive Figur im Stück, sondern tritt als Gegenfigur zum positiven, aber langweiligen Protagonisten Canut auf. In der Figur des Ulfo wird ein Charakter veranschaulicht, der nicht einer aufklärerischen Norm, sondern aus eigenem Willen und nach seinem individuellen Gesetz handelt. Diese Darstellung eines einmaligen psychisch starken Charakters wurde deutlich vom Drama Shakespeares beeinflusst, was für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschen Drama erstmals der Fall ist und auf die Charakterkonzeption in Lessings Dramen und auf den Sturm und Drang vorausweist.149

1.3. Lessing: Auf den Zuschauer bezogene Mitleidspoetik des Bürgerlichen Trauerspiels

(1) Ausgangspunkt

Lessing eröffnete durch seine Mitleidspoetik eine neue Dimension für die

149 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 170f: Schlegel hebt „den Rang des Charakteristischen in der Dramenästhetik hervor. […] Mit Ulfo greift Schlegel in gewisser Weise auf die Selbsthelfer im Drama des Sturm und Drama voraus, etwa auf Götz oder Karl Moor.“.

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deutsche Dramatik im 18. Jahrhundert. Er führte im dramenpoetologischen Umfeld, in dem vorrangig höfische Dramen und die entsprechende Dramentheorie vorherrschten, ein neues Dramenkonzept unter dem Begriff „Bürgerliches Trauerspiel“ ein. Darüber hinaus bemühte er sich darum, das Theater als einen Ort der Begegnung und der Meinungsfreiheit der bürgerlichen Schicht zu modellieren.150 Er trug dazu bei, ein Nationaltheater aufzubauen, das als eine selbständige Institution unabhängig von Hof geleitet und von Bürgern finanziert werden sollte. Das Projekt des Nationaltheaters in Hamburg scheiterte zwar früh, der Wunsch nach einem bürgerlichen Nationaltheater lebte aber weiter, und so wurden später in mehreren Städten wie in Wien und Mannheim ähnliche Nationaltheater begründet. Die Basis, auf der Lessing gegenüber dem höfischen Theater seine dramentheoretischen Überlegungen programmatisch im Kontext der bürgerlichen Aufklärung begründet, liegt wie bei Gottsched in der aristotelischen Poetik. 151 Trotz der mit Gottsched gemeinsamen Urquelle befindet sich Lessings Dramenpoetik jedoch im Kontrast zu seinem Vorgänger, da er die aristotelischen Überlegungen zur Dramenpoetik mit eigenen Schwerpunkten versieht und für seine eigene Dramentheorie umsetzte. Die zwei wirkungsästhetischen Grundbegriffe des Aristoteles, eleos und phobos, also Jammer und Schauder, wurden von ihm als Mitleid und Furcht neu interpretiert. Daher ist zunächst entscheidend, zu untersuchen, worauf Lessing genau die Schwerpunkte setzte. Darüber hinaus ist es wichtig, zu beachten, dass Lessing bestimmte dramenpoetologische Elemente des Franzäsicher Klassizismusablehnte, von denen Gottsched sich wiederum stark beeinflussen ließ. Beispielweise betrachtete Lessing den Affekt der Bewunderung, der bei Gottsched ein zentraler Begriff der Dramenpoetik war, als nebensächlich. Stattdessen steht im Mittelpunkt seiner Dramentheorie der Begriff des Mitleids, das im Hinblick auf den wirkungsästhetischen Aspekt das Prinzip der Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur voraussetzt. Als Besonderheit

150 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 183. 151 Ebd., S.179f.

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bei Lessing soll verdeutlicht werden, wie er die Grundbegriffe des Aristoteles in sein eigenes dramenpoetologisches Feld umgesetzt hat, indem er sich dadurch von Gottsched abgrenzte. In diesem Kapitel wird somit untersucht werden, wie Lessing die aristotelische Dramenpoetik für seine dramatische Überlegung aufnahm und wie er darüber hinaus seine eigene Dramentheorie entfaltete.

(2) Hamburgische Dramaturgie: Umsetzung der Poetik in die eigene Dramentheorie

Die dramenpoetologische Konzeption Lessings muss in einem gesellschaftlichen Zusammenhang verstanden werden. Das sogenannte bürgerliche Trauerspiel, zu dem zum Beispiel die Dramen Miss Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) gehören, ist auch auf dieser Basis der dramentheoretischen Überlegung entstanden. Diese Tradition beeinflusste die spätere deutsche Dramatik und Dramenpoetik im 18. Jahrhundert, zu der auch Schillers frühe Dramatik gehört, stark. Im Stück Kabale und Liebe (1784) wurde beispielsweise die Tradition des Bürgerlichen Trauerspiels fortgesetzt. Zentral für den Nachvollzug der entsprechenden Argumentation Lessings ist seine große dramaturgische Abhandlung Hamburgische Dramaturgie (1767-1769). 152 Lessing arbeitete seit 1767 als Dramaturg am Hamburger Theaterprojekt, setzte sich in dieser Schrift mit dem Repertoire des Theaters auseinander – und entwickelte hier darüber hinaus seine eigene Dramenpoetik. Die Dramaturgie ist für diese Überlegungen eine historisch wertvolle Quelle, da diese Schrift einerseits auf die Praxis bezogenen ist und andererseits die dramenpoetologische Orientierung des Dramatikers Lessing darstellt.

152 Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, 2. Durchgesehene und ergänzte Auflage, Stuttgart·Weimar 2004, S. 279: Am 22. April 1767 veröffentlicht Lessing die Ankündigung, in dem er sein Projekt der Hamburgischen Dramaturgie vorstellt. Am 8. Mai erschienen deren ersten drei Stücke. Mitte April 1768 liegen 82 Stücke vor, die Stücke 83-104 wurden 1769 innerhalb des zweiten Bandes der Hamburgischen Dramaturgie als zweibändige Buchausgabe veröffentlicht.

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Im Zentrum seiner Dramenkonzeption des Bürgerlichen Trauerspiels steht die der Mitleidspoetik. Es ist zunächst bemerkenswert, wie die zwei Grundbegriffe eleos und phobos, die fundamentalen Kategorien der aristotelischen Wirkungsästhetik, von Lessing neu interpretiert werden.

»Man hat ihn [Aristoteles] falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget stehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.«153

Lessing behauptet, es sei falsch, die Begriffe eleos und phobos, als Mitleid und Schrecken zu übersetzen. An die Stelle des Begriffs des Schreckens setzt er stattdessen den Begriff der Furcht ein. Darüber hinaus unterscheidet er die Begriffe des Schreckens und der Furcht. Der Schlüsselpunkt bei der Unterscheidung ist der Bezug auf das Mitleid. Schrecken ist „eine plötzliche, überraschende Furcht.“154, die aufgrund der Gräueltaten hervorgerufen wird. Es ist keine abgezielte Wirkung des aristotelischen Trauerspiels. Man kann mit dem Gegenstand, von dem man Schrecken empfindet, sich nicht identifizieren, sondern bleibt nur distanziert und erschreckt.155 Darüber hinaus erklärte Lessing Schrecken als eine Art von Furcht und ordnete ihn dem Begriff des Mitleids unter, denn er versteht den letzteren als Ursprung aller anderen Affekte. 156 Im Gegensatz zu Schrecken wird der Affekt der Furcht als ein Begriff betrachtet, der im Zusammenhang mit dem Begriff des Mitleids steht. Man empfindet die Furcht, indem man die Ähnlichkeit mit dem Gegenstand und die Möglichkeit des eigenen Unglücksfalls sieht. Darum wird der Affekt der Furcht als „auf uns

153 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. 6: Werke 1767-1769, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 181-694, hier S. 556f, später als „Lessing: Werke und Briefe“ bezeichnet. 154 Ebd., S. 553. 155 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 182. 156 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 555f.

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selbst bezogene Mitleid“ 157 betrachtet. Die beiden relevanten Affekte des Mitleids und der Furcht sind miteinander eng verbunden und können nicht getrennt voneinander stehen.158

(3) Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur

Über diese neue Interpretation der aristotelischen Wirkungsbegriffe hinaus unterscheidet sich die Dramenpoetik Lessings noch in entscheidenden weiteren Punkten von Aristoteles (bzw. auch von Gottsched). In Bezug auf den Vorrang von Handlung oder Charakter haben beide unterschiedliche Standpunkte. Aristoteles akzentuierte in der Poetik deutlich das Primat der Handlung, indem er die Tragödie als Nachahmung der Handlung definiert. 159 Nach der aristotelischen Definition steht die Nachahmung einer Handlung im Mittelpunkt einer Tragödie. Darüber hinaus hat die Handlung in der Tragödie den deutlichen Vorrang vor dem Charakter der Figur. Das Glück oder das Unglück eines Menschen wird daher auch nicht von seinem Charakter, sondern von seiner Handlung bestimmt.

»Denn das eine [Jammer] stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, das andere [Schauder] bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, […] So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern.«160

157 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 557. 158 Ebd., S. 556-560: Lessing erklärt, Furcht sei das auf uns selbst bezogene Mitleid. Furcht entsteht daraus, dass die Unglücksfälle uns selbst treffen können. Darüber hinaus erklärt er, es werde uns kein Mitleid erregt werden, wenn wir keine Möglichkeit sähen, dass das Leiden, das wir sehen, uns auch treffen könne. Es bezieht sich auf den Begriff der Wahrscheinlichkeit des Unglücks, in dessen Zusammenhang die Furcht und das Mitleid zueinanderstehen. 159 Aristoteles: Poetik, S. 19: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache […]“. 160 Ebd., S. 39.

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In der Poetik erklärt Aristoteles, wie die Tragödie die Affekte hervorrufen könne. Er beschreibt mögliche Fälle der Erregung dieser Affekte. Der Affekt des Jammers (eleos) wird im Zuschauer hervorgerufen, wenn jemand scheinbar unverdient leidet, der Schauder dagegen, wenn die Figur dem Zuschauer ähnlich ist. Darüber hinaus hat der Grund des Unglücks nicht mit dem Charakter der Figur zu tun, denn das Unglück wurde von einem Fehler der Figur verursacht. Trotz der Erklärung des Prozesses der Erregung der Affekte und der Ursache des Unglücks bestimmt Aristoteles, dass die Figur aus einem hohen gesellschaftlichen Rang stammen soll.161 Bei Aristoteles war wichtig, dass je nach Gattung ein anderer Typ von Mensch zugeordnet ist. In diesem Sinne sollen für die Komödie schlechtere und für die Tragödie bessere Menschen nachgeahmt und dargestellt werden, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.162 Im Unterschied zur aristotelischen Konzeption erklärt Lessing den Zusammenhang bzw. Ähnlichkeit zwischen der Figur auf der Bühne und dem Publikum als Zuschauer als Voraussetzung für die Wirkung der Tragödie.

»Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgendeine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei für uns verloren, sei vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen können. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen ebenso ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe. «163

Bei Lessing bezieht sich der Begriff der Wahrscheinlichkeit nicht nur auf die

161 Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 39: Aristoteles erwähnt den Charakter eines Helden im Hinblick auf die Wirkung der Tragödie. Er meinte, dass das Unglück eines Helden weder wegen „seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens“ noch wegen „seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit“ verursacht wird, sondern wegen eines Fehlers. 162 Vgl. ebd., S. 9. 163 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 558f.

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Handlung, sondern auch auf den Zuschauer. Das Theater zeigt dem Zuschauer aus der Ähnlichkeit zwischen dem Bühnengeschehnis und der Welt die Möglichkeit, dass das Unglück in der realen Welt ebenso passieren könnte. Es ist notwendig bei Lessing, dass das Unglück, das in uns Furcht und Mitleid erweckt, auch „uns selbst treffen“ könne. Die Affekte der Furcht und des Mitleids haben eine wirkungsästhetische Bedeutung, nur wenn sie auf der Basis dieser Wahrscheinlichkeit hervorgerufen werden. 164 Die aristotelische Bestimmung, dass die Figur, die ins Unglück stürzt, dem Zuschauer ähnlich sein müsse, damit Schauder ausgelöst werden könne,165 wurde bei Lessing erweitert und ins Zentrum gestellt. Bei Lessing wurde die Kategorie der Wirkung auf die gesamten Affekte erweitert. Bei Lessing wurde der Schwerpunkt aber nicht (wie bei J.E. Schlegel) auf den Charakter der Figur gelegt, sondern auf die Ähnlichkeit zwischen der Figur und dem Zuschauer. Die Wahrscheinlichkeit der Handlung, die sich bei Aristoteles auf die Handlung der Bühne bezogen hat, wurde hier bei Lessing auf das Subjekt des Betrachters übertragen. Die Erregung der Affekte Furcht und Mitleid hängt nicht davon ab, ob die handelnde Figur das Unglück verdient oder nicht. Bei Lessing geht es nicht darum, ob diese Handlung selbst nachvollziehbar ist, sondern vielmehr, ob es möglich sei, dass eine ähnliche Handlung dem Zuschauer auch geschehen könne. Das heißt, die Affekte können unabhängig von der Moralität der handelnden Person beim Zuschauer hervorgerufen werden, wenn die Möglichkeit gezeigt wird, dass die Handlung auch dem Zuschauer passieren könne. Die Möglichkeit der Identifikation spielt eine entscheidende Rolle für die Dramenpoetik Lessings. Die Erregung der Affekte hängt nicht von der Figur als Gegenstand ab, sondern es geht um das Verhältnis zwischen dem Gegenstand und dem Zuschauer als Betrachter. Es ist im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit

164 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 556. 165 Es ist ein wichtiger Punkt, dass es bereits bei Aristoteles über die Ähnlichkeit zwischen der Figur und dem Zuschauer zu Rede ist, was später bei Lessing als Voraussetzung seiner Dramenpoetik der Mitleid in der Mitte steht. Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 43.

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wichtig, ob der Zuschauer sich selbst auf der Bühne wiedererkennen kann.166 Weiterhin ist die neue Interpretation der Wahrscheinlichkeit von Lessing in dramenpoetologischer Hinsicht mit der Mitleidsästhetik verknüpft. Die Identifikation des Zuschauers ist mit der Figur auf der Bühne sehr relevant, um das Mitleid hervorzurufen.167 Aus diesem Grund wurden Ständeklausel und Fallhöhe des Helden im Hinblick auf die Bewunderungsästhetik von Lessing abgelehnt, da diese Elemente die Zuschauer von den Bühnengeschehnissen distanzieren. Bei Lessing wird eine Figur nicht über seinen Stand, sondern über sein Menschsein definiert und bestimmt.168 Die Figuren sollen als Menschen mit gemischtem Charakter erscheinen, damit der Zuschauer sich mit der Figur identifizieren kann. Aus diesem Grund muss der Held in der Tragödie weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein völliger Bösewicht sein. Andersrum können die Affekte des Mitleids und Schreckens, die zur Identifikation grundlegen sind, nicht erregt werden.169 Der Stand der Person wird nicht mehr relevant, vielmehr spielt das Menschsein der Figur eine wichtige Rolle. Aus dieser Bestimmung der Dramenfiguren kann der Adel auch in der Tragödie auftreten, nur wenn er nicht seinen adeligen Stand vertritt, sondern als rein menschliche Figur erscheint.170 Aus dieser Perspektive entsteht die Genre-Konzeption bürgerlichen Trauerspiels. Bürgerliche Schichten können durch das bürgerliche Trauerspiel das Mitleid, die Fähigkeit zur Empathie erlernen und dadurch sich identifizieren.171 Darüber hinaus sind die Affekte des Mitleids und der Furcht die Gefühle, die nicht die handelnde Figur,

166 Vgl. Arend: Rhetorik und Poetik, S. 104. 167 Für die Erregung des Mitleids als die Wirkung der Tragödie ist vorausgesetzt, dass das Theater ein Illusionstheater sei, denn die Wirkung der Identifikation und des Mitleids kann erst gelingen, wenn der Zuschauer sich in die Lage der Bühnenfigur versetzen kann, wenn er der Illusion erliegt, einem ‚echten’ Vorgang beizuwohnen.Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 184. 168 Vgl. Franziska Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, 4. Auflage, Darmstadt 2015, S. 30. 169 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 551: „Die Tragödie, nimmt er [Aristoteles] an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein völliger Bösewicht sein müsse.“. 170 Vgl. Schößler, S. 30. 171 Vgl. ebd., S. 32.

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sondern der Zuschauer fühlen.172 Der Bezug und das Ziel und die Richtung der Wirkung wurden nicht auf den Gegenstand auf der Bühne, sondern auf den Zuschauer als Subjekt bezogen. Dies stellt eine fundamentale Umstellung der Denkweise dar.

(4) Mitleidspoetik und Zweck der Tragödie

Die wirkungsästhetische Kategorie des Mitleids steht im Mittelpunkt von Lessings Dramenkonzept.173 Moses Mendelssohn (1729-1786) und Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811), mit denen Lessing schriftlich seine dramenpoetologischen Überlegungen austauschte, befassten sich auch mit wirkungsästhetischen Aspekten der Tragödie. Sie machten aber die Wirkung vorrangig an den Kategorien der Fallhöhe und der Bewunderung fest, ähnlich wie es in der Dramenästhetik Gottscheds geschah.174 Viele Elemente, die mit der Bewunderungsästhetik zu tun haben, wurden bei Lessing vermieden bzw. als nebensächlich behandelt. Das sind die Ständeklausel und Fallhöhe, und Einheiten von Ort und Zeit, die im Mittelpunkt des Franzäsicher Klassizismusstehen. 175 Darüber hinaus lehnt Lessing Königs- bzw. Märtyrerdramen ab, da Mitleid nur mit solchen Charakteren empfunden werden könne, die dem Zuschauer ähnlich seien.176 Lessing hat aber statt des Affektes der Bewunderung das Mitleid in die Dramenpoetik hineingebracht und darauf

172 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 572. 173 Vgl. Schößler: das bürgerliche Trauerspiel, S. 29. 174 Vgl. Stefanie Stockhorst: Einführung in das Werk Gotthold Ephraim Lessings, Darmstadt 2011, S. 104; Vgl. Peter J. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing. Einführung in Lessings Leben und Werk mit Interpretationen und unter Berücksichtigung der Literaturkritik, Religionspolemik, Ästhetik u. a., Stuttgart 2000, S. 186: Gottsched nimmt in der Folge Pierre Corneilles (1606-1684) den Affekt der Bewunderung als ein wichtiges Ziel der Affekterregung an. 175 Lessing akzentuiert die Ähnlichkeit zwischen dem Helden und dem Zuschauer und setzt sie für die Rührung der Tragödie voraus. Er meinte, wenn wir mit dem Unglück eines Königs Mitleid haben können, sei es nicht sein Stand als König, sondern sein Menschsein, das wir auch gemeinsam teilen. Vgl. Lessing, ebd., S. 77. 176 Vgl. ebd., S. 381; Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 181.

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die Priorität seiner Trauerspiele gesetzt.177

»[...] Sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß [...] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.»178

Der erste Zweck seiner Tragödie liege darin, so Lessing, „unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, [zu] erweitern“. Seine berühmte Aussage, „der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“ zeigt auch, dass der Begriff des Mitleids das Fundament für sein Trauerspielkonzept ist. Diese Mitleidsästhetik von Lessing ist durch die Interpretation von Poetik des Aristoteles entstanden.179 In diesem Sinne definiert Lessing die Tragödie als „die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung“180 – und verknüpft so die aristotelische Definition der Tragödie mit der Mitleidsästhetik.181 Des Weiteren achtet er in Bezug auf den Zweck der Tragödie den aristotelischen Begriff der Katharsis und dessen Mehrdeutigkeit.182 Daraus interpretiert er den Begriff neu für seine Tragödientheorie und begründet damit eine moralische Deutung des Katharsis-Konzepts.183 Bei Aristoteles wird das Ziel der Tragödie in Bezug auf die Katharsis verstanden, den Zuschauer von den Leidenschaften zu reinigen.184 Der Zuschauer erlebt durch die Tragödie die

177 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 396f. 178 Lessings Brief an Friedrich Nicolai im November 1756; Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11: Briefe von und an Lessing 1743-1770, hg. v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Georg Braungart u. Klaus Fischer, Frankfurt a. M. 1987, S. 116-122, hier S. 120. 179 Vgl. Arend: Rhetorik und Poetik, S. 104. 180 Vgl. Lessing, ebd., S. 567. 181 Vgl. Arend, S. 104f. 182 Der Begriff der Katharsis kann wegen dem Genitiv auf die Affekte eleos und phobos in drei verschiedenen Bedeutungen übersetzt werden. Einmal „separativ (Reinigung von den Leidenschaften“, einmal „objektiv (Reinigung der Leidenschaften)“ und einmal „subjektiv (Reinigung durch die Leidenschaften)“ Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 113. 183 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 113. 184 Fuhrmann sieht, dass die Tragödie Jammer und Schauder hervorruft und „hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ Hier wird die Katharsis als die

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Reinigung von überschüssigen Affekten und gewinnt dadurch wieder den seelischen Ausgleich. 185 Im Gegensatz dazu geht es bei Lessing um die Reinigung der Leidenschaften.

»Wer sich um einen richtigen und vollständigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemüht hat, wird finden, dass […] Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserem Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein: welches auch von der Furcht zu verstehen.«186

Bei Lessing ist es nicht der Zuschauer, der von den Leidenschaften gereinigt werden muss, sondern die Leidenschaften selbst. Dafür werden als Ziel des Reinigungsprozesses für Leidenschaften die tugendhaften Fertigkeiten angegeben. Dabei bezieht sich Lessing in konkreter Weise im Hinblick auf die Leidenschaften auf Mitleid und Furcht, die er für die aristotelischen Begriffe eleos und phobos übersetzt hat. Das heißt, dass Mitleid und Furcht der Zuschauer in Tragödie verwandelt werden müssen, so dass sie nicht in extremer Weise bleiben.187 Darüber hinaus stellt Lessing den gesamten Prozess der Tragödie in wirkungsästhetischer Hinsicht dar und setzt sich dabei mit dem Ziel der Verwandlung der Leidenschaften auseinander.

»Sie [Tragödie] erregt sie [Mitleid und Furcht], indem sie uns das Unglück vor Augen stellet, in das unsersgleichen durch nicht vorsätzliche Fehler gefallen sind; und sie reiniget sie, indem sie uns mit diesem nämlichen Unglücke [sic!] bekannt macht und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fürchten, noch allzusehr davon gerührt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte. ‒ Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufälle mutig zu tragen, und macht die Allerelendesten geneigt, sich für glücklich zu halten, indem sie ihre Unglückfälle

Befreiung von dem Übermaß der Affekte interpretiert. Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 19 u. S. 109. 185 Vgl. Jeßing: Dramenanlayse, S. 113. 186 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 574. 187 Lessing begrenzt die Gegenstände der Leidenschaften als Mitleid und Furcht: „Nur unser Mitleid und unsere Furcht müßte sie [die Tragödie] ungereiniget lassen. Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragödie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns rühren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfälle zuziehen.“ Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 398f.

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mit weit größern vergleichen, die ihnen die Tragödie vorstellet.«188

In der Tragödie geht es zunächst um die Erregung der Leidenschaften, die die Darstellung des Unglücksfalls in der Tragödie verursacht. Diese hervorgerufenen Leidenschaften werden gereinigt, indem sie „in die tugendhafte Fertigkeiten“ verwandelt werden. Der Sinn dieser Reinigung der Leidenschaften besteht darin, dass sich der Zuschauer durch die Tragödie auf die wirklichen Unglücksfälle vorbereiten kann. Denn alle extremen Leidenschaften werden im Theater gereinigt und auf eine tugendhafte Mittelposition eingestellt. Darüber hinaus kann man da die Fähigkeiten erlernen, wie man mit eigenen Situation der Widrigkeit und des Elends umgehen kann.189

2. Das Pathetischerhabene und die Wandlung der Dramenästhetik

2.1. Entstehung einer Tragödientheorie: Das Pathetischerhabene

In diesem Kapitel wird zunächst untersucht, wie Schiller den kantischen Begriff des Erhabenen rezipierte. Dabei wird darauf fokussiert, wie der philosophische und ästhetische Begriff des Erhabenen zu einem dramentheoretischen Begriff umgesetzt wurde. Der Begriff des Pathetischerhabenen wird im Hinblick auf den theatralischen Mechanismus betrachtet. Darüber hinaus wird herausgearbeitet, inwiefern der Begriff des Pathetischerhabenen sich von den zugrundeliegenden Kantischen Überlegungen unterscheidet. Diese Fragestellung kann in dramentheoretischer Hinsicht anders formuliert werden: Was wird im Schillerschen Theater auf der Bühne gezeigt? Dazu wird u.a. das argumentative Zentrum der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771-1774) von Johann Georg Sulzer (1720-1779) erarbeitet, um zu untersuchen, welchen Einfluss Sulzers Ästhetik auf die Theorie des Erhabenen bei Schiller nahm. Darüber

188 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 573. 189 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 182.

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hinaus wird die Bedeutung des Theaters als Ort der Freiheit und der ästhetischen Erziehung in wirkungsästhetischer Hinsicht betrachtet.

(1) Auseinandersetzung mit der kantischen Lektüre: Vom Erhabenen (1793)

Die Aufnahme des Begriffes des Erhabenen bei Schiller resultiert zum großen Teil aus seiner Auseinandersetzung mit der Kant-Lektüre. 1791 begann Schiller mit dem regelmäßigen Studium der Philosophie von Kant. Er setzte sich besonders mit dem kantischen Begriff des Erhabenen auseinander, insofern als er sich mit dessen Kritik der Urteilskraft (1790) beschäftigte.190 Als Ergebnis seiner Beschäftigung mit der gesamten Kant-Lektüre entstanden die theoretischen Schriften Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), Ueber die tragische Kunst (1792) und Vom Erhabenen (1793). Besonders versuchte er zunächst in der Abhandlung Vom Erhabenen (1793), für sich selbst und sein Publikum, die kantische Theorie des Erhabenen verständlich zu machen.191 In der Schrift Vom Erhabenen (1793) erklärt Schiller: “Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsere vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt”192. Der Begriff des Erhabenen ist ein Doppelgefühl, das aus zwei Gefühle des Leidens und der Lust besteht. Es benötigt ein Objekt, vor dem wir uns

190 Der Begriff des Erhabenen ist nicht von Schiller erfundener Begriff, sondern hat chronologisch und horizontal ein weites Spektrum. Die Tradition dieses Begriffes geht von der griechischen Antike (Longinus) über Kant bis zu Schiller und entwickelt sich weiter bis hin zu Lyotard im Zeitalter der Moderne und Postmoderne. Vgl. Hanjo Berressem, Art. »Erhabene«, in: Nünning (Hg.): Literatur- und Kulturtheorie, S. 179-180, hier S. 179; Im 18. Jahrhundert, Zeitalter Schillers wurde der Begriff des Erhabenen von englischen Philosoph Edmund Burke (1729-1797) im Mittelpunkt seiner Theorie gestellt. Er beschäftigte sich in seiner Schrift Philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schönen (London 1757, dt. Riga 1773). Viele Philosophen und Dichter wie z. B. Moses Mendelssohn (1729-1786), Lessing, Johann Gottfried Herder (1744-1803), Kant und bis zu Schiller haben sich von Burkes Theorie stark beeinflusst. Vgl. Rolf-Peter Janz (Hg.): Friedrich Schiller Theoretische Schriften, Frankfurt a. M. 2008, S. 1346. 191 Vgl. Rolf-Peter Janz (Hg.): Friedrich Schiller Theoretische Schriften, S. 1345. 192 NA 20, S. 171.

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sinnlich schwach fühlen. Da fühlt man sich zunächst ohnmächtig und lustlos, da das Objekt unsere Vermögen übersteigt bzw. uns bedrohen kann. Trotz aller Schwachheit der Sinne spüren wir im Inneren eine ungestörte Kraft der Vernunft, die der Ohnmacht oder der Bedrohung widersteht und dagegen kämpft. Aus der Erkenntnis, dass wir im Inneren eine Kraft, die vom Sinnlichen unabhängig ist, besitzen und dadurch das bedrohende Ding nur als ein Objekt betrachten können, erfahren wir gleichzeitig Lust. Auf der Basis dieser Erklärung des Begriffs definierte Schiller das Erhabene nach dem Charakter des Gegenstandes differenzierter:

»Bey dem Theoretischerhabenen steht die Natur als Objekt der Erkenntniß, im Widerspruch mit dem Vorstellungstriebe. [sic!] Bey dem Praktischerhabenen steht sie als Objekt der Empfindung, im Widerspruch mit dem Erhaltungstrieb. Dort wurde sie bloß als ein Gegenstand betrachtet, der unsre Erkenntniß erweitern sollte ; hier wird sie als eine Macht vorgestellt, die unsern eigenen Zustand bestimmen kann. Kant nennt daher das Praktischerhabene, das Erhabene der Macht oder das Dynamischerhabene, im Gegensatz von dem Mathematischerhabenen. Weil aber aus den Begriffen dynamisch und mathematisch gar nicht erhellen kann, ob die Sphäre des Erhabenen durch diese Eintheilung erschöpft sey oder nicht, so habe ich die Eintheilung in das Theoretisch- und Praktischerhabene vorgezogen.«193

Schiller formulierte die kantischen Überlegungen mit seinen Worten neu, indem er den kantischen Begriff des Mathematischerhabenen mit dem Begriff des „Theoretisch-Erhabenen“, und das Kantische Dynamisch-Erhabene durch das „Praktisch-Erhabene“ ersetzte. 194 Der Begriff des Erhabenen, auf den sich Schiller mehr fokussiert, bezieht sich auf den „praktisch-großen“ Gegenstand, der als furchterregende Macht der Natur bezeichnet werden kann.195 Weiterhin

193 NA 20, S. 172. 194 Die kantische Unterscheidung der zwei Arten des Erhabenen wurde von Schiller übernommen und mit neuen Worten definiert. Vgl. Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«, S. 400f; Über den kantischen Begriff des Dynamisch-Erhabenen (Kritik der Urteilskraft, Paragraph 28) und des Mathetisch-Erhabenen (Kritik der Urteilskraft, Paragraph 25): Vgl. Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften, in 29 Bänden, Bd. 1-22 hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5: Kritik der praktischen Vernunft. Kritk der Urteilskraft, Berlin 1902ff, S. 248-251 u. S. 260-264. 195 Schiller erwähnt in seiner Schrift Vom Erhabenen, dass das Praktisch-Erhabene im Gegensatz zum Theoretisch-Erhabenen unsere Kraft erweitern lässt und wir nur durch das Praktisch- Erhabene unsere wahre und vollkommene Unabhängigkeit von der Natur erfahren können. Vgl. NA 20, S. 175.

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unterteilt Schiller den Gegenstand des Praktisch-Erhabenen in das „Kontemplativ-Erhabene“ und das „Pathetisch-Erhabene“.196 Im Vergleich zum Kontemplativerhabenen, das durch die Einbildungskraft die Furcht im Betrachter hervorruft, werden beim Pathetisch-Erhabenen das Furchtbare und das physische Leiden direkt dargestellt, ohne die Phantasie noch zusätzlich künstlich zu erregen. 197 Es ist der Begriff des Pathetischerhabenen, in dem Schiller den Zusammenhang zum Tragödienmechanismus sah und den er in eine dramentheoretische Konzeption umsetzte – und schließlich zum „Herzstück von Schillers Theorie der Tragödie“198 galt.

(2) Der theatralische Wirkungsmechanismus des Pathetisch-Erhabenen

Der Grund, warum Schiller aus unterschiedlichen Begriffen des Erhabenen das Pathetischerhabene in den Mittelpunkt seiner Theorie der Tragödie wählt, ist stark auf „die in sich folgerichtigste Darstellung des pathetischerhabenen Wirkungsmechanismus“ bezogen. 199 Der Kantische Begriff des Erhabenen wurde bei Schiller stark zu einem theatralischen Begriff verwandelt. 200 Die Konstellation zwischen dem Gegenstand und dem Betrachter bei Kant wurde bei Schiller zu dem Verhältnis zwischen dem Bühnengeschehnis und dem Zuschauer umgesetzt. Der Begriff des Erhabenen wurde „später in Beziehung auf die aristotelische Kategorie des Pathos (des schweren Leids) für die tragödientheoretischen Zwecke Schillers gesondert definiert.“201 Der Begriff des Pathetisch-Erhabenen spiegelt nach Schiller die zwei Gesetze der tragischen Kunst, wie der Begriff sie bereits in sich trägt. Das „Pathetische“ zeigt was Leiden, Pathos und Affekt erregt, und das „Erhabene“ den Widerstand gegen das Leid und die Unabhängigkeit von ihm.

196 Vgl. NA 20, S. 186; In der Schrift Vom Erhabenen wird jeweils über das Kontemplativ- Erhabene und das Pathetisch-Erhabene erläutert. Vgl. NA 20, S. 186-192 u. S. 192-195. 197 Vgl. NA 20, S. 187; Vgl. Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«, S. 401. 198 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 92. 199 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 92 200 Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 612. 201 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 88.

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Das Pathetischerhabene setzt zunächst die furchterregende Macht der Natur voraus. Furcht und Leiden sind in diesem Fall für das Subjekt unvermeidlich. Das Leiden im Gegenstand erregt das Mitleid des Betrachters und je stärker der Reiz ist, desto lebhafter wird der Widerstand. Die furchterregende Natur und der Widerstand dagegen können zur Konstellation zwischen der Darstellung des leidenden Menschen und des moralischen Widerstands auf der Bühne erweitert verstanden werden. 202 Bei der Aufnahme des Begriffs des Erhabenen bei Schiller geht es nicht nur um die Aneigungs- oder Auseinandersetzungsversuch mit kantischen Vorstellungen, sondern um die Nutzbarkeit und Entwicklung der Begriffe für seine eigene Theorie der Tragödie.203 In diesem Sinne äußert er seine Überlegungen über die Tragödie als Fundamentalgesetz.204 Die Distanz zum Objekt, die als die fundamentale Voraussetzung für den Begriff des Erhabenen gilt, wurde in der Konstellation zwischen dem Publikum und dem Bühnengeschehen widergefunden. Die Zuschauer können durch eine tragische Figur ein mittelbares Pathos indirekt erleben und dadurch einen freien Zustand in ihrem Inneren hervorrufen. Wie man durch das Objekt, von dem kein Gefahr ausgeht, das Erhabene fühlen kann, so kann man auch das Pathetischerhabene durch das gespielte Ereignis auf der Bühne erleben. Die Distanz zum Objekt ist die Voraussetzung für den Begriff des Pathetischerhabenen, sowie des Erhabenen selbst. Ein gutes Beispiel, das die Umsetzung des Begriffs des Erhabenen in die theatralische Konstellation widerspiegelt, ist der Schiffbruch mit Zuschauern.

»Das erhabene Objekt muß also zwar furchtbar sein, aber wirkliche Furcht darf es nicht erregen. Furcht ist ein Zustand des Leidens und der Gewalt; das Erhabene kann allein in der freien Betrachtung und durch das Gefühl innrer Tätigkeit gefallen. […] Denn da, wo wir uns wirklich in Gefahr befinden, wo wir selbst der Gegenstand einer feindseligen Naturmacht sind, da ist es um die ästhetische Beurteilung geschehen. So erhaben ein Meersturm, vom Ufer aus betrachtet, sein mag, so wenig

202 In diesem Sinne hat Schiller den Begriff des Erhabenen von seiner rhetorischen bzw. naturästhetischen Bedeutung, die dem Französischen Klassizismus zugeordnet ist, befreit und ihn mit den menschlichen Geisteshaltungen verknüpft. Vgl. ebd., S. 89. 203 Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 613ff. 204 „Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweyte ist Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden.“ Vgl. NA 20, S.199.

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mögen die, welche sich auf dem Schiff befinden, das von demselben zertrümmert wird, aufgelegt sein, dieses ästhetische Urteil darüber zu fällen.«205

Die Konstellation zwischen den Leuten im Schiff und an der Küste ist vergleichbar mit der zwischen den Figuren bzw. dem Geschehen auf der Bühne und dem Publikum. Die Personen, die auf dem sinkenden Schiff sind, befinden sich in einem gefährlichen Zustand. Sie haben keine Distanz zu dem, was sie eben erleben und haben nur Todesangst. Daher können sie das Ereignis nicht als Objekt wahrnehmen. Im Gegensatz dazu verhält es sich anders für die Leute, die vom Strand aus diesen Schiffbruch betrachten. Sie sehen die Gefahr des Schiffbruches und erleben jene Angst und Leiden der Menschen im Schiff mit. Trotzdem können sie die Situation ohne Verwirrung betrachten, denn sie erfahren es nicht selbst. Wenn eine leidende Figur vor einer Gefahr auf der Bühne steht, kann man mit ihr mitleiden. Doch da man es auf der Bühne, also mit einem distanzierten Blick erlebt, lässt man sich von den Affekten des Bühnengeschehens nicht ergreifen. Die Distanz zwischen der Bühne und dem Publikum bietet dem Zuschauer einen sicheren Ort. Man fühlt sich zur Bühne ein, aber man erlebt es durch die Bühne. Einfühlung zur Bühne, aber gleichzeitig Distanz von der Bühne, das ist der Mittelpunkt der Wirkungsästhetik Schillers.206 Der Erfolg eines Theaterstückes hängt für Schiller davon ab, ob der Zuschauer eine Distanzierung von der Bühne erfährt.207

(3) Die Kraft von außerordentlicher Größe ohne Rücksicht auf die Ethik: Sulzer- Rezeption

Schiller trennt sich von der Grundlage der kantischen Vorstellung, indem er den Begriff des Erhabenen von seiner moralischen Zugehörigkeit entbindet und sich

205 NA 20, S. 178f. 206 Vgl. Su-Yong Kim: Ästhetik des Schönen und Kunsttheorie des Erhabenen. Schillers Klassische Literatur, Seoul 2009, S. 161. 207 Aus diesem Grund spielt das Epische eine wichtige Rolle bei Schiller: Vgl. Emil Staiger (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Frankfurt a. M., 2005, S. 525.

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auf die Möglichkeit des absoluten freien Willens fokussiert. Kant hält an der Macht des Sittengesetztes fest und betrachtet das Erhabene nur in der Anerkennung der Macht des Sittengesetzes. Aus diesem Grund schließt Kant in Bezug auf den Begriff des Erhabenen nur den Affekt ein, der in moralischen Ideen seinen Wurzeln hat. Dadurch wird das Böse ausgeschlossen. Stattdessen setzt Schiller an die Stelle des Sittengesetzes und der Ethik den Autonomieanspruch des Einzelnen.208 Infolgedessen wird die Kraft, abgesehen von ihrer Moralität, in Schillers Tragödientheorie auch anerkannt, wenn sie die Möglichkeit des freien Willens zeigt. An diesem Punkt schließt Schillers Tragödientheorie an diejenige von Johann Georg Sulzers (1720-1779) Ästhetik an, die er bereits aus der Karlsschulzeit kannte und von der er sich vor dem Studium Kants beeinflussen ließ.209 Der ästhetische Aspekt des Pathetischerhabenen bei Schiller geht auf die Gedanken Sulzers zurück, der schon darauf hingewiesen hatte, dass die Kraft von außerordentlicher Größe über die Grenze zwischen dem Guten und Bösen hinausgehe.210

»Sie [Die Bewunderung] wird aber eben sowohl durch einen hohen Grad des Bösen, als des Guten hervorgebracht. Die ausserordentliche Bosheit des Satans bei Milton und Klopstock oder gewisser Menschen in den Trauerspielen des Shakespear [sic!], setzen uns eben so stark in Bewunderung als die erhabenen Charaktere der Helden in dem Guten. Jenes wirkt Abscheu und Verwünschung, dieses [sic!] Ehrfurcht und Bestreben zur Nachahmung des Guten.«211

208 Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 613. Bei Kant ist die Autonomie nicht erreichbar durch die Kunst, sondern durch Verhaltensweise, die sich nach ethischen Gesetzmäßigkeit orientiert. Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 82f. 209 Schiller hat sich von der Popularphilosophie, zu der Sulzer auch gehörte, durch die Lehre Abel an der Karlschule beeinflussen lassen. Die Bestimmung des moralischen Zwecks der Schaubühne, die in den früheren Schriften Schillers Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782), Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1785) zu finden ist, hat schon Sulzer erläutert. Vgl. Maurizio Pirro: »Sulzers Physik der Seele und die Dramentheorien Schillers«, in: Zeitschrift für Germanistik, 16 (2006), H2, S. 314-323, hier S. 314; Vgl. Toshio Iwakiri: »Schiller und Sulzer – Die Bedeutung der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts für Schiller«, in: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.): Doitsu Bungaku 72 (1984), H2, S. 1-10, hier S. 9. 210 Vgl. Toshio Iwakiri, ebd.; Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 614f. 211 Johann Georg Sulzer: Art. »Bewunderung«, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, neue vermehrte zweite Auflage, erster Teil, Leipzig 1792, S. 396-398, hier S. 397.

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Er behauptet, dass das Erhabene auch im Bösen stattfinden könne. Sulzer nennt als Beispiel dafür die Anrede des Satans im Verlorenen Paradies (1667) John Miltons (1608-1674):

»Seid gegrüßt Schrecknisse; dich grüß ich unterste Welt und dich tiefste Hölle. Empfange deinen neuen Einwohner; einen der ein Gemüt mit sich bringt, das weder Ort noch Zeit zu verändern vermag. Das Gemüt ist sein eigener Platz und kann in ihm selbst einen Himmel aus der Hölle und eine Höll aus dem Himmel machen. – Wenigstens werden wir hier frei sein; der Allmächtige hat hier nicht gebaut, was er uns missgönnen sollte; er wird uns hier nicht verjagen.«212

Der Zusammenhang zwischen dem Bösen und dem Erhabenen wird hier durch die Anrede des Satans selbst dargestellt, indem der Charakter des Gemüts erläutert wird. Das Gemüt ist ein freier Ort und das Erhabene kann auch im Bösen gefunden werden, solange die Stärke des Gemüts bewahrt wird. Die Gemütsfreiheit Satans ist trotz seines Falls in die Hölle nicht zerstört. Sulzer sagt, dass die Stärke seines Gemüts weder in Ort noch Zeit veränderbar sei und durch nichts niedergedrückt werden könne. Das Gemüt ist „eine Kühnheit, die keine Gefahr achtet“ und „ein Mut, den kein Hindernis überwältigt“. Das Gemüt ist ein freier Platz, wie Satan beschreibt, in dem man sogar von Gott, der hier als Metapher für die Ethik, die das Gute und das Böse unterscheidet bezeichnet ist, ungestört frei bleiben kann. Die Stärke des Gemüts ist etwas Großes, obgleich es nicht moralisch wäre.213 Darüber hinaus weist Sulzer darauf hin, dass diese Kraft des Bösen das Potential habe, sich zum Guten zu wenden.

»Ein großmütiger Bösewicht kann bald gut werden und durch einen kleinen Schritt zu einer ehrwürdigen Größe gelangen. aber wem die Stärke des Geistes und die Kräfte der Empfindung fehlen, wenn gleich sonst im Gemüt nichts Böses vorhanden wäre, der bleibt in der sittlichen Welt immer ein geringschätziges Geschöpf.«214

212 Vgl. Sulzer: Art. »Erhaben«, in: Ders.: Ebd., zweiter Teil, S. 97-114, hier S.100; Schiller hat auch in seiner Schrift Ueder das Pathetische Milton erwähnt.Vgl. NA 20, S. 211; NA 21, S. 192. 213 Vgl. ebd., S. 101f. 214 Ebd., S. 101.

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Die Stärke des Gemüts des Bösewichts ist nicht weniger wichtig als das Gute, denn sie kann ins Gute gewendet werden. Aus der Hölle, nämlich aus der Kraft der Bösen kann ein Himmel etwas Gutes gemacht werden. Die Kraft bzw. die Stärke, die die Gemütsfreiheit voraussetzt wird hier für wichtig gehalten, da sie auch verwendet werden kann, um etwas Gutes zu vollbringen. Die Stärke des Gemüts ohne Rücksicht auf die Ethik, die von Sulzer anerkannt wurde, wird auch bei Schiller weitergeführt.215 Schiller zeigt anhand der Beispiele in der Poetik, dass die Lust an der Kunst im ästhetischen Sinne über die Ethik hinausgeht und setzt den Schwerpunkt seiner Tragödientheorie darauf, die „Möglichkeit desabsoluten freien Willens“ 216 hervorzubringen. Mit dem Beispiel von Selbstverbrennung des Peregrinus Protheus zu Olympia zeigt er in der Schrift Über das Pathetische, dass das Böse auch ästhetisch als erhabenen beurteilt werden kann.217

»Moralisch beurteilt kann ich dieser Handlung [die Selbstverbrennung des Peregrinus Protheus zu Olympia] nicht Beifall geben, insofern ich unreine Triebfedern dabei wirksam finde, um derentwillen die Pflicht der Selbsterhaltung hintan gesetzt wird. Ästhetisch beurteilt gefällt mir aber diese Handlung, und zwar deswegen gefällt sie mir, weil sie von einem Vermögen des Willens zeugt, selbst dem mächtigsten aller Instinkte, dem Triebe der Selbsterhaltung zu widerstehen.«218

Schiller bezieht kritische Distanz zur Selbstverbrennung des Peregrinus Protheus zu Olympia vor, da die Tat wider die Pflicht zur Selbsterhaltung begangen worden und damit als moralisch schlecht zu bewerten sei. Aber er bewundert im ästhetischen Urteil die Größe dieser Handlung,219 da sich hier das „Vermögen des Willens“ wider das physische Erhaltungsprinzip durchgesetzt habe. Der Geist, der dem Menschen trotz seiner physischen Begrenztheit die innere Kraft gibt, wird für wichtig betrachtet.

215 Über die Würdigung des Bösewichts als ästhetischer Person hat Schiller bereits in den Schriften Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Vgl. NA 20, S. 145.) und Über die tragische Kunst (Vgl. NA 20, S. 155) verschiedenen Stellen erwähnt. 216 Vgl. NA 20, S. 221. 217 Vgl. NA 21, S. 193. 218 NA 20, S. 215. 219 Vgl. NA 21, S. 193.

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»Ein Lasterhafter fängt an, uns zu interessieren, sobald er Glück und Leben wagen muß, um seinen schlimmen Willen durchzusetzen; [...] Rache, zum Beispiel, ist unstreitig ein unedler und selbst niedriger Affekt. Nichts desto weniger wird sie ästhetisch, sobald sie dem, der sie ausübt, ein schmerzhaftes Opfer kostet. Medea, indem sie ihre Kinder ermordet, ziel bei dieser Handlung auf Jasons Herz, aber zugleich führt sie einen schmerzhaften Stich auf ihr eigenes, und ihre Rache wird ästhetisch erhaben, sobald wir die zärtliche Mutter sehen.«220

In ähnlicher Weise wird die Tat Medeas, die eigenen Kinder zu töten, auch im moralischen Sinne als schlecht beurteilt, da sie gegen das Sittengesetz geschehen sei. Aber im ästhetischen Sinn könne ihre Tat als „ästhetisch erhaben“ 221 beurteilt werden, da Medea auch trotz des Leids ihren Willen durchgesetzt hat. Dabei handelt sich nicht um eine bloße Darstellung des Leidens ohne Zweck, was bei Schiller als gemeine Handlung betrachtet wird. Vielmehr geht es um die Darstellung des übersinnlichen Widerstands gegen das Leiden, was als „edel“ eingeschätzt wird.222 Die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt es, indem die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts dargestellt wird.223 Darüber hinaus befreit Schiller seine Dramatik von der Pflicht des Moralischen im Vergleich zu seinen Vorgängern, indem er das ästhetische Urteil vom moralischen differenziert. Es handelt sich bei Schiller weder darum, ein moralisches Gesetz literarisch darzustellen noch eine harmonisierte Welt zu schaffen. Vielmehr geht es ihm darum, die „Autonomie unserer Willensbestimmungen“ zu zeigen, die auch mit anderen Worten als „ein selbstständiges Gemüt“, und „die Selbstständigkeit des Geistes“ gekennzeichnet werden. 224 Darin liegt Schillers Modernität, dass er darauf verzichtet, im Kunstwerk die Möglichkeit der Versöhnung von Natur und Freiheit, Trieb und Vernunft darzustellen, und stattdessen für ein Aushalten der Dissonanzen und

220 Vgl. NA 20, S. 220. 221 Ebd. 222 Vgl. ebd., S. 201. 223 Vgl. ebd., S. 196. 224 NA 20, S. 208 u. 210.

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des Widerstreits plädiert.225

(4) Schillers Theater, Ort der Möglichkeit und der Freiheit

Der Zweck der Tragödie, „die Möglichkeit des absoluten freien Willens“226 hervorzubringen, bestimmt zunächst, welcher Gegenstand auf der Bühne dargestellt wird, welche räumliche Bedeutung das Theater hat, und schließlich, welche Funktion die Tragödienkunst hat. Zuerst ist Schillers Theater insofern ein Ort der Freiheit, als „die Selbstständigkeit des Geistes im Zustand des Leidens“ 227 dargestellt wird. Der übersinnliche Begriff der Freiheit wird indirekt gezeigt, indem zunächst die leidende Natur als das erste Gesetz der tragischen Kunst und der moralische Widerstand gegen das Leiden als das zweite Gesetz dargestellt werden.228 Der Zweck der Darstellung des Leidens und des Widerstandes gegen das Leiden beruht darin, zu zeigen, dass in uns nicht nur Sinnliches und Tierisches vorhanden ist, sondern auch Vernünftiges und dass es einen Bereich gibt, der nicht von Gewalt, Schrecken, Leiden überwältigt werden kann, was der grundlegenden Begriffserklärung entspricht. Zweitens ist Schillers Theater ein Ort der Möglichkeit und des Experiments. Die leidenden Menschen und deren Widerstand gegen den Affekt und das Leiden sind die Gegenstände der Tragödie. Dabei geht es nicht darum, zu zeigen, was wirklich geschehen ist, sondern dass es geschehen könne.229 Also beruht die ästhetische Kraft nicht auf dem Interesse der Vernunft, dass recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, dass rechtes Handeln möglich sei.230 In diesem Sinne ist „die Möglichkeit des absolut freien Wollens insofern verständlich, 231 als die Poesie als Gegenstand der

225 Vgl. Michael Hofmann u. Thomas Edelmann: Wallenstein, München 1998, S. 38. 226 Vgl. NA 20, S. 221. 227 NA 20, S. 211. 228 Vgl. ebd, S. 199. 229 Vgl. NA 20, S. 218: „Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache.“. 230 Vgl. NA 20, S. 220. 231 Vgl. ebd., S. 221.

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Nachahmung keine Wirklichkeit, sondern Wahrscheinlichkeit darstellt.

2.2.Wandlung der Dramenästhetik in dramenpoetologischer Hinsicht

Die Aufnahme des Begriffs des Erhabenen in die Dramentheorie brachte eine Wandlung in die Dramenästhetik hinein, indem der Fokus der Tragödie von der objektiven Darstellung des Heroischen zur subjektiven Wahrnehmung des Erhabenen verschoben wurde. Dieser Wechsel der Perspektive in der Dramenästhetik brachte auch konkrete Änderungen in dramenpoetologischer Hinsicht, da die dramenpoetologischen Elemente mit der Dramenästhetik eng verbunden sind. Schillers Tragödientheorie des Pathetischerhabenen befindet sich entweder im Kontrast oder im Überschneidungspunkt zur Dramenästhetik von seinen Vorgängern im 18. Jahrhundert: Gottsched, Schlegel und Lessing.

(1) Perspektivwechsel vom Heroisch- zum Pathetischerhabenen

Die wesentliche Erneuerung in Schillers Dramenästhetik besteht aus der Wandlung von der objektiven Darstellung des Heroisch-Erhabenen zur subjektiven Darstellung des Pathetischerhabenen, womit weitere Verschiebungen in den dramenpoetologischen Elementen verbunden sind. Dieser Perspektivwechsel von Objekt zum Subjekt, der von der Kantischen Begriffserklärung des Erhabenen übernommen wurde, ist aber auch im dramenpoetologischen Diskurs zu finden. Gottsched hat den Schwerpunkt seiner Dramenästhetik auf den Gegenstand auf der Bühne gesetzt. Er hat den aristotelischen Begriff der Wahrscheinlichkeit als Nachvollziehbarkeit der Handlung interpretiert und auf Standhaftigkeit und Tugendhaftigkeit als Objekte der Belehrung den Fokus seiner Dramenästhetik gesetzt. Bei Lessing wurde die Position des Zuschauers im Vergleich zur Dramenästhetik Gottscheds bedeutender. Die Bedeutung des Subjekts als Betrachter des Bühnengeschehnisses wurde betont, denn die Mitleidspoetik Lessings setzt die

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Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur voraus. Diese Wandlung des dramenästhetischen Fokus kann auch in der Konzeption des Pathetischerhabenen bei Schiller umgesetzt werden. Wie der dramenästhetische Fokus bei Lessing nicht auf der Handlung, sondern auf dem Zuschauer liegt, hängt das Ziel der Wirkung auch bei Schiller vom Zuschauer ab. Denn das erste Gesetz der Tragödie bei Schiller, die Darstellung des leidenden Menschen, bezieht sich darauf, zunächst das Leiden beim Zuschauer zu erregen und darüber hinaus durch die Darstellung des moralischen Widerstandes die innere Gemütsfreiheit zu erwecken, und schließlich die Überlegenheit des Geistes über das Sinnliche und Physische hervorzurufen.

(2) Figurenbild: Menschlicher Held

Das Figurenbild der Tragödie hat sich durch die Konzeption des Erhabenen verändert.232 Schiller lässt seine Heldenfigur als Hauptprotagonist im Stück auftreten, aber die Wirkung, auf die Schiller mit dem Erhabenen gezielt hat, ist nicht, dass man von der großzügigen Tat der Heldenfigur begeistert würde. Er hatte nämlich nach seiner Konzeption des Erhabenen eine andere Vorstellung von einem Helden als im Zeitalter von Barock bzw. vom Französischen Klassizismus.233

»[D]ie Helden sind für alle Leiden der Menschheit so gut empfindlich als andere, und eben das macht sie zu Helden, daß sie das Leiden stark und innig fühlen, und

232 Die Wandlung in den dramenpoetologischen Aspekten bei Schiller hat weiter dazu beigetragen, konkrete Darstellungsformen des Erhabenen in seinen klassischen Dramen hineinzubringen. In diesem Sinne unterscheiden sich die klassischen Dramen Schillers von der Darstellung erhabener Charaktere in seiner frühen Dramen, in denen der Affekt der Bewunderung als zentrale Wirkung behandelt wurde. Vgl. Barone: Erhabenen, S. 179. 233 Vgl. ebd., S. 191; Schiller bewertet die tragédie classique, die französische Tragödie zuvor in seiner Schrift Über die tragische Kunst (1792) positiv. Er betrachtet Corneilles Cid (1637) als „Meisterstück der tragischen Bühne“. Später ist in der Schrift Über das Pathetische (1801) zu finden, dass seine Bewertung auf die französische Tragödie sich geändert hat. Die französische Tragödie wurde hier unter dem Aspekt der Pathoserergung kritisch betrachtet und dem Muster der Griechen gegenübergestellt, in dem der leidende Menschen dargestellt wird. Vgl. Zelle: »Vom Erhabene / Über das Pathetische«, S. 402.

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doch nicht davon überwältigt werden.234«

Also ist ein Held für Schiller kein Übermensch, der überhaupt nicht leidet und trotz aller Gefahr etwas Übermenschliches wagt, sondern er ist ein normaler Mensch, der Grenzen besitzt. Dies entspricht dem Menschenbild von Gottsched, der dem Menschen attestiert, dass er „gewisse Tugenden, auch gewisse Laster an sich“ 235 habe. Die Figur als Gegenstand der Tragödie ist ein mittlerer Charakter, der weder schlecht noch gut ist, da bei Gottsched die menschliche Handlung der Gegenstand der Nachahmung ist.236 Darüber hinaus weist der Begriff der Fallhöhe bei Gottsched einen Zusammenhang mit der Dramenästhetik Schillers in wirkungsästhetischer Hinsicht auf. Gottsched hat seine Protagonisten trotz ihrer Fehlerhaftigkeit aus einem hohen gesellschaftlichen Rang gewählt, denn er meinte, je höher der soziale Rang der Figur ist, desto stärker werde der von seinem Unglück erregte Affekt. Trotz der Verbundenheit zwischen den Begriffen der Bewunderung und des Helden hatte Schiller im Vergleich zu Gottsched eine andere Vorstellung von einem Helden. Der Schwerpunkt bei Schillers Dramen liegt nicht auf dem hohen sozialen Rang des Protagonisten, sondern auf dem Effekt des Affekts. Es treten zunächst in Schillers Dramen nicht unbedingt die Protagonisten aus einem hohen sozialen Rang auf, wie bei der Jungfrau von Orleans oder Wilhelm Tell, aber sie sind in Prinzip Helden, da sie mindestens eine Tugend haben und von Leiden nicht überwältigt werden. Wichtig ist in Schillers Dramenästhetik, dass zunächst das Leiden des Menschen dargestellt wird und dass, je stärker das Leiden ist, desto stärker auch die Darstellung des moralischen Widerstands dagegen deutlich kenntlich wird. Das Leiden oder der Schmerz ist insofern wichtig, als es dazu beiträgt, die „Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“ zu verwirklichen.237 In diesem Sinne greift Schillers Dramenpoetik den Effekt durch die Fallhöhe auf, indem die Protagonisten am Anfang scheitern.

234 NA 20, S. 198. 235 Gottsched: »Versuch einer Critischen Dichtkunst«, S. 158. 236 Vgl. II. 1.1. 237 NA 20, S. 199.

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(3) Affekt: statt Bewunderung, über die begrenzte Mitleidserregung zum Erhabenen

Bis 1795 war das Darstellungsmodell des Heroischen bei Schiller mit dem Affekt der Bewunderung verknüpft. 238 Das Darstellungsmodell des Heroisch- Erhabenen war ein wichtiges Element bei Schiller, da der tragische Affekt der Bewunderung eine objektive Darstellung heroischer Größe voraussetzt.239 Wie bei Gottsched bewirkt das Heroische im Zuschauer die Bewunderung eines als nachahmungswürdig dargestellten Helden. Trotz der Veränderung des dramentheoretischen Konzepts um 1795 schafft es Schiller im dramatischen Feld erst bei Maria Stuart (1800) und der Jungfrau von Orleans (1801) einen grundlegend veränderten Begriff der tragischen Wirkung zu gewinnen. Das Pathetischerhabene wurde anstatt der Bewunderung durch die Darstellung der Charaktere mit einer veränderten Affektregie, wie Furcht, Schrecken, Mitleid und Staunen (bei der Jungfrau) dargestellt.240 Das heißt, der Affekt in der neuen Dramenästhetik bezieht sich nicht auf die Helden bzw. die heroische Größe einer Person, sondern auf die tragischen Geschehnisse der Handlung. Der Affekt hat einen Bezug auf den Gegenstand in wirkungsästhetischer Hinsicht. Die Darstellung der furchtbaren und schrecklichen Macht der Geschichte zielt anstatt einer objektiven Darstellung des Hohen und Edlen, die den Affekt der Bewunderung hervorbringen, auf den Affekt der Furcht. Der Affekt der Bewunderung ist mit der Größe der Person verbunden. Im Gegensatz dazu ist der Affekt der Furcht auf die Handlung bezogen.

238 Vgl. Barone: Erhabenen, S. 178. 239 Ebd., S. 168f: Bis 1795 verknüpft sich Schiller mit der Tragödientheorie des Französischen Klassizismus und der Aufklärung. Erst nach 1795, das heißt nach dem Entschluss, sich wieder als Dramatiker der poetischen Tätigkeit zuzuwenden und auch während seiner Arbeit am Wallenstein gelingt Schiller, sich von der klassizistischen Theorie der Aufklärung zu lösen. 240 Vgl. ebd., S. 178: Schillers Distanzierung vom Affekt der Bewunderung ist aber bereits vor 1795 in seiner theoretischen Schrift erkennbar. Unter den Affekten solle Furcht besonders primär durch die Vorstellung der Notwendigkeit der Handlung erregt werden. Vgl. ebd., S. 189.

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»Die Tragödie ist fünftes Nachahmung einer Handlung, welche uns Menschen im Zustand des Leidens zeigt. Der Ausdruck, Menschen, ist hier nichts weniger als müßig, und dient dazu, die Grenzen genau zu bezeichnen, in welche die Tragödie in der Wahl ihrer Gegenstände eingeschränkt ist. Nur das Leiden sinnlichmoralischer Wesen, dergleichen wir selbst sind, kann unser Mitleid erwecken.«241

Die Darstellung des leidenden Menschen hindert den Zuschauer davor, die Figur auf der Bühne zu bewundern, indem ihre physische und sinnliche Schwäche und Begrenztheit sichtbar wird. Stattdessen erweckt sie das Mitleid des Betrachters und lässt sie sich in das Bühnengeschehnis einfühlen. Allerdings ist das Mitleid, das auch im Zentrum der Dramenpoetik Lessings steht, weder Ziel noch Zweck der Tragödie Schillers, aber ohne Mitleid wird kein Gefühl des Erhabenen hervorgerufen.242 Die begrenzte Erregung von Mitleid ist für das Pathetischerhabene erforderlich. Die Erregung des Mitleids ist nichts als die Vorstufe und das Mittel für die Erweckung der subjektiven Freiheit des Zuschauers. Die objektive Darstellung der erhabenen Freiheit auf der Bühne befreit den Zuschauer vom Affekt des Mitleids und führt deren eigene subjektive Gemütsfreiheit zu Bewusstsein. Der Zuschauer, dessen Mitleid durch die Darstellung des leidenden Helden erweckt wird, wird nicht mehr von Mitleid beherrscht werden, wenn auf der Bühne dargestellt wird, dass der Held sein Leiden aus geistiger Selbständigkeit beherrscht.243 Bei Lessing wurde das Ziel der Tragödie durch die Erregung von Mitleid als Mittel zur Erziehung des mitleidsfähigen Menschen interpretiert. 244 Im Unterschied dazu wird bei Schiller vermittels jenes begrenzten Mitleids auf die Selbstvergewisserung der subjektiven Freiheit des Menschen gesetzt, den Menschen vorzubereiten, das

241 Vgl. NA 20, S. 167. 242 Lessing erklärt das Mitleid im 74. Stück der Hamburgischen Dramaturgie. Es ist auch wie der Begriff des Erhabenen ein vermischter Begriff, der aus der Lust und Unlust besteht. Beim Mitleid stammt der Lust der Liebe zum Gegenstand und Unlust zum Übel. Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 182. 243 Vgl. Barone: Erhabenen, S. 167. 244 Lessing hält in seinem Briefwechsel über das Trauerspiel mit Nicolai und Mendelssohn fest, dass das Ziel eines Trauerspiels Mitleid zu erregen sei. Vgl. Schößler: das bürgerliche Trauerspiel, S. 29; Lessings Brief an Friedrich Nicolai im November 1756: Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11, S. 120.

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fürchterliche Leid in der Welt anzunehmen.245 Schiller vertrat die Position, die Kraft, sich innerlich frei zu halten, könne man durch das tragische Spiel erlernen. Schiller betonte diesen Zustand, weil man in der fürchterlichen realen Welt seine innere Freiheit behalten könne, wenn man die Fähigkeit zur Wahrnehmung des Erhabenen entwickle.

(4) Autonomie der Kunst und deren Funktion

Der Verknüpfungspunkt der dramenpoetologischen Merkmale Schlegels zu Schillers Dramenästhetik ist seine Anerkennung des Charakters der Kunst als Ort der Freiheit. Schlegel hat den Begriff der Autonomie der Kunst nicht stark akzentuiert, aber er trennt die Kunst von deren moralischer Funktion und legte mehr Wert auf das Vergnügen an der Künstlichkeit der Kunst als auf die die Natürlichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Nachahmung. Die Möglichkeit der autonomen Kunst bei Schlegel wurde in Schillers theoretischer Gesamtkonzeption systematisch ausgebaut. Bei Schiller wurde zunächst das Vergnügen am tragischen Gegenstand in Bezug auf die Konzeption des Pathetischerhabenen erklärt. Das Vergnügen bzw. die Lust werden bei der Betrachtung des sinnlichen und physischen leidenden Gegenstands erweckt. Als Voraussetzung dafür ist das Bewusstsein einer Gemütsfreiheit nötig, das Bewusstsein davon, dass es im Menschen einen unabhängigen Bereich von physischen Zustand in sich gebe. Mit der Kraft aus der Gemütsfreiheit kann man gegen das Leiden bestehen. Bei Schiller ist Theater bzw. Kunst als ein Ort der Autonomie programmatisch bestimmt. Kunst ist ein Ort der Freiheit, an dem man sich von der Welt, zu der man gehört, befreit fühlt. Solange man in der Kunst verweilt, ist man unabhängig von der Welt und den Pflichten, die man in der Welt besitzt. Und da man von allen Zwängen frei ist, kann man in der imaginären Kunstwelt als freier Mensch existieren. Aber sowie die Kunst den Menschen von der realen

245 Barone: Erhabenen, S. 166.

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Welt befreit hat, soll sie uns nicht in ihre magische Welt ganz hineinziehen. Denn wie der Zuschauer für das Pathetischerhabene eine Distanz von der Bühne brauche, benötigt er hier auch eine Distanz von der Kunst. Die Kunst braucht dafür die Kraft der Einfühlung und der Verfremdung, damit die Zuschauer in die Szene eintauchen und gleichzeitig nicht von deren Rohheit ergriffen werden können. Und wenn die Kunst diese Kraft im Gleichgewicht hält, kann man dadurch seine „Gemütsfreyheit“ bewahren und als freier Mensch spielen.

»Innere Gemütsfreyheit gehört schlechterdings dazu, um das Furchtbare erhaben zu finden, und wohlgefallen daran zu haben: denn es kann ja bloß dadurch erhaben seyn, daß es unsre Unabhängigkeit, unsre Gemütsfreyheit zu empfinden giebt. Nun hebt aber die wirkliche und ernstliche Furcht alle Gemüthsfreyheit auf.«246

Die Kunst als Erscheinung des Schönen ist zweckfrei, sie hat keinen Zweck, außer sie selbst zu sein. Aus diesem Grund bedient die Kunst den Zweck des Erhabenen und das Schöne ist ein notwendiges Element für das Erhabene, auch wenn das Schöne zum Erhabenen im Widerspruch steht.247 Denn das Erhabene benötigt für sich einen freien Ort, wodurch man Gemütsfreiheit bewahren kann und darüber hinaus die Kraft erlernen kann, dem Leiden zu widerstehen. Die Kunst kann dafür ein Mittel sein. In diesem Sinne bezieht sich Schillers Verständnis der Kunst zum einen auf die Dramenpoetik Gottsched, der die

246 NA 20, S. 178. 247 Neben dem Begriff des Erhabenen ist das Schöne auch ein relevanter Begriff in der Ästhetik Schillers. Die Gemeinsamkeit mit dem Erhabenen besteht darin, dass das Schöne auch die beiden Seiten des Menschen, das Sinnliche (den sinnlichen Trieb) und das Moralische (den Formtrieb), benötigt, aber in einem anderen Verhältnis. Beim Erhabenen befinden sich die beiden Elemente bzw. Triebe im Widerspruch. Als Reaktion auf das Sinnliche bestätigt sich der Formtrieb und stellt sich über das Sinnliche. Aber beim Schönen entsteht eine Harmonie zwischen den beiden Elementen. Vgl. NA 20, S. 796f; wenn man die Kunst als die Erscheinung des Schönen betrachtet, spielt die Kunst eine Rolle bei der Harmonisierung der beiden Triebe. Dadurch entsteht das Paradox der schillerschen Dramenästhetik. Denn das Schöne ist auf die Harmonie abgezielt, dagegen das Erhabene auf die Überlegenheit des Formtriebes. Kim stimmt zu, dass das Erhabene und das Schönen bei Schiller sich im begrifflichen Widerspruch befinden. Darüber hinaus betrachtet er das Verhältnis der beiden Begriffe, indem er auf die Funktion des Schönen für die Wirkung des Erhabenen achtet. Das Erhabene ist das Endzweck der Tragödientheorie Schillers, aber es setzt die Gemütsfreiheit voraus, die durch das Schöne ermöglicht wird. Vgl. Kim: Ästhetik des Schönen und Kunsttheorie des Erhabenen, S. 222f; Vgl. Kapitel IV. 2.2.

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moralische Funktion der Kunst betonte, und aber zum anderen auch auf Schlegel, der die Freiheit der Kunst erstmals formulierte. Lessings Konzeption der Kunst, innerhalb derer die Menschen durch die Institution des Theaters zu tugendhafteren Menschen erzogen werden sollen, 248 weist insbesondere im Blick auf die weiterentwickelte und ergänzte Mitleidsästhetik einen inneren Zusammenhang mit Schillers Konzeption der Erziehung durch die Kunst auf. Darüber hinaus kann die Betonung der Nachvollziehbarkeit des Charakters bei Schlegel mit der Möglichkeit des absoluten freien Willens bei Schiller zusammengedacht werden. Schlegel hat den Schwerpunkt auf den Charakter gesetzt und behauptet, dass die Freiheit und der Wille der Figur lebendig vor dem Zuschauer dargestellt werden sollen. Als Beispiel dafür ist die Figur des Ulfo bei Canut zu nennen, der keine moralische Figur ist, aber aus eigenem Willen und nach seinem individuellen Gesetz handelt. Die Intention Schlegels ist nicht identisch mit der Schillers, aber die Betonung der Freiheit und des Willens ohne Rücksicht auf die Ethik ist vorhanden.

(5) Ausblick auf Drama und Inszenierung

Der Schwerpunkt und die Besonderheit von Schillers Dramenästhetik wurden hier ihre Kontextualisierung mit dem dramenpoetologischen Diskurs im 18. Jahrhundert deutlicher zu konsturieren versucht. Schillers Theorie des Pathetischerhabenen setzt in jeweils unterschiedlichem Maße die Dramentheorien seiner Vorgänger fort. Im folgendem wird nun zu untersuchen sein, wie diese Konzeption des Erhabenen, die in das dramenpoetologische Feld Eingang fand, im dramatischen Feld als Stück umgesetzt wurde. Dabei wird auf die dramatische Darstellung des Pathetischerhabenen fokussiert, indem die konkrete Erscheinung der dramenpoetologischen Merkmale berücksichtigt wird.

248 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 183.

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III. Drama: Literarische Umsetzung und Problematisierung des Erhabenen im Stück

Der Begriff des Erhabenen kann als zentraler Begriff für die spätere dramentheoretische Konzeption Schillers bestimmt werden. Nun ist die Frage, wie diese Konzeption des Erhabenen im dramatischen Feld umgesetzt wurde. Dabei handelt es sich um zwei Fragen. Erstens: Mit welchen dramatischen Elementen setzte Schiller seine Konzeption ganz konkret um? Zweitens: Welche Strategie verwandte Schiller, um sich von der Dramenästhetik seiner Vorgänger abzusetzen? Dafür wird als Hauptgegenstand der Untersuchung das Stück Maria Stuart (1801, UA 1800 Weimar) untersucht. Dabei wird der Fokus darauf gesetzt, wie die Konzeption des Erhabenen in der Figur Marias konkret verkörpert dargestellt ist. Dieserart soll abgeleitet werden, wie die literarische Umsetzung des Erhabenen im Vergleich zur theoretischen Konzeption unterschiedlich ausgeprägt ist, und anschließend wird untersucht, wie die Konzeption gegebenenfalls innerhalb der dramatischen Umsetzung implizit problematisiert wird. Der Schwerpunkt liegt insgesamt einerseits darauf, wie die Konzeption des Erhabenen aus der Dramentheorie ins Stück hinein umgesetzt wurde, und anderseits auf der Frage, wie die literarische Umsetzung des Erhabenen umgekehrt auf die theoretische Konzeption zurückgewirkt hat.

1. Problematisierung des Erhabenen in Maria Stuart

Die dramatischen Figuren können durch unterschiedliche Fragenkategorien charakterisiert werden.249 Jeßing stellt vier Fragekategorien vor, nach denen die

249 Der Begriff der Figur bezeichnet die fiktive, von einem Autor geschaffene Gestalt. Es ist also eine Kunst-Person, die zunächst in einer Bühnenhandlung eine Person zu sein scheint, aber als Handlungsträger im Rahmen fiktionaler, also literarischer Handlungsentwürfe visuell bleibt. Im Vergleich dazu bezeichnet der Begriff der Person ein Konzept von menschlicher Individualität, die sich aus der Einheitlichkeit von Erleben, Handeln und Sprechen eines Menschen identifizieren oder wiedererkennen lässt. In diesem Sinne steht der Begriff der Person dem Begriff der Figur nicht als Gegen-, sondern Oberbegriff. Der Begriff des Charakters, zu dem auch Typus gehört, bezeichnet nicht den ganzen Menschen, sondern die

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Darstellung und die Analyse der Figuren verfahren werden können.250 In dieser Arbeit wird besonders auf die Aspekte der Figurendarstellung im Stück und deren Wirkungen fokussiert werden. Das heißt, die Figurenanalyse wird zunächst durch die Berichte und die Wahrnehmung anderer Figuren über die Figur im Stück und durch das Verhalten, die Körpersprache und die Figurenrede der Figur verfahren.251 Das erste Kriterium der Erkenntnis über die Figur wird als indirekte Charakteristik bezeichnet, da man über die Person von einer anderen Person als Bericht verfahren kann. Das zweite wird im Gegensatz dazu als direkte Charakteristik bezeichnet, da der Zuschauer durch das Anschauen unmittelbar Kenntnisse über die Figur erlangen kann.252 Darüber hinaus wird auch darauf geachtet, welche unterschiedlichen Affekte die Figur beim Zuschauer erregen. Die Untersuchung der Figurendarstellung ist insofern wichtig, als sie mit der wirkungsästhetischen Einstellung des Dramatikers verbunden ist. Durch die erregten Affekte kann weiter herausgefunden werden, welche wirkungsästhetischen Effekte der Dramatiker damit intendiert hat.253 In dieser Arbeit werden die dramenanalystische Verfahren besonders in

konstante Eigenart und Merkmale eines Menschen, die unabhängig vom augenblicklichen Gemütszustand anhaltend feststeht. Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 32; Vgl. Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, 7. Aktualisierte u. erweiterte Auflage, Stuttgart·Weimar 2009, S. 90f. 250 Zunächst kann die Figur nach der rhetorischen und poetologischen Tradition der Antike kategorisiert werden. Die Merkmale dieser Aspekt sind Abstammung, Name, Geschlecht, Alter, Nationalität, Vorgeschichte der Figur, mit denen eine Dramenfigur modelliert werden kann. Als zweites kann ein Kriterienkatalog vorgeschlagen werden, in denen die Figurenanalyse nach dem körperlichen, geistigen und äußeren Merkmal systematisch erarbeitet wird. Als drittes werden die Kriterien genannt, die zeigen, wie der dramatische Text selbst nach der literarischen Technik Figurenexposition zur Geltung bringt. Als letztes wird der wirkungsästhetische Aspekt genannt. Vgl. Jeßing, S. 74ff. 251 Vgl. Asmuth, S. 85f. 252 Asmuth unterscheidet die beiden Erkenntniswege nach der Definition von Sulzer. Vgl. Johann George Sulzer: Art. »Charakter«, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 2 Teile in 4 Bänden, Bd. 1, Erster Theil Leipzig 1773, S. 259-266, hier S. 265. 253 Die Figuren können analysiert werden, je nach welcher Wirkung sie auf den Zuschauer ausüben können und nach der Intention des Dramatikers hervorbringen sollen. Im Hinblick darauf setzt sich Jeßing explizit mit der Kategorie der Eigenschaften und der Verhaltensweise der Figuren auseinander: 1. Sympathie, Anteilnahme oder Mitleid auslösende Eigenschaften, 2. Faszination, Bewunderung oder Spannung auslösende Eigenschaften, 3. Abscheu, Entsetzen oder Distanz auslösende Eigenschaften. Vgl. Jeßing, S. 76f.

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Bezug auf die Figurendarstellung der Maria umgesetzt.254 In diesem Sinne wird herausgefunden, inwiefern und in welchem Maße die Figur der schottischen Königin die Konzeption des Erhabenen entsprechend der dramenästhetischen Intention Schillers repräsentiert. Dafür wird untersucht, wie die Figur der Maria im Stück handelt und, wie sie von anderen Figuren des Dramas wahrgenommen wird. Dazu werden auch ihre Eigenschaften und Verhaltensweise in der Handlung in wirkungsästhetischer Hinsicht betrachtet werden. Durch diese beiden Perspektiven kann herausgefunden werden, wie Schillers Dramatik sich in dramenpoetologischer Hinsicht im Hinblick auf die Bewunderungsästhetik positioniert, und wie er seine Figur im Hinblick auf die Konzeption des Erhabenen darzustellen vermag.

1.1. Abgrenzung von früheren dramenpoetologischen Konzepten

In Maria Stuart distanziert sich Schiller durch die Darstellung der Maria von der früheren (fremden und eigenen!) Dramenästhetik und verwirklicht seine eigene Dramentheorie. Schiller schafft mit Maria einen neuen Heldentypus. Die Darstellung des menschlichen und physischen Figurenbildes der Maria zeigt einerseits, dass Schiller sich von der Darstellung des Übermenschen und darauf basierender Bewunderungsästhetik distanziert, andererseits grenzt er sich durch die Präsentation Marias als würdevoller Königin im letzten Akt auch von der Mitleidsästhetik ab. Die Darstellung der Figur ist insofern wichtig, als der jeweilige Affekt danach anders erzielt wird und deren Wirkung auch unterschiedlich ist. Im Mittelpunkt der Untersuchung der Maria stehen die

254 Elisabeth ist in Bezug auf die literarische Darstellung des Erhabenen insofern keine geringschätzige Figur, als sie als Gegensatz zu Maria dargestellt wird. Der Kontrast der beiden Figuren wird im letzten Akt deutlich gezeigt. Elisabeth scheint, bei der Entscheidung für die Hinrichtung Marias keine innere Freiheit zu besitzen, während Maria innerlich verwandelt auftritt. Vgl. Karl S. Guthke: »Maria Stuart«, in: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 438- 466, hier S. 445-451, später als „Guthke: »Maria Stuart«“ bezeichnet. In dieser Arbeit wird aber auf die Erscheinung der Figur der Maria fokussiert.

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Kontraste zwischen der Wahrnehmung der Figur durch die anderen Handelnden, der Selbstdarstellung und der physischen Erscheinung Marias. Die Unterschiede zeigen, dass Maria kein Gegenstand der Verehrung bzw. Bewunderung ist. Des Weiteren gelingt es Schiller durch die Ironisierung der Bewunderung, eindeutig seine Dramenästhetik des Erhabenen von denjenigen seiner Vorgänger abzugrenzen. Schillers Position wird hinsichtlich der Bewunderungsästhetik konkret an der Figur Mortimers deutlich, indem sein Affekt der Bewunderung problematisiert und ironisiert wird.

1.1.1. Wahrnehmung und Erscheinung der Figur der Maria

Die Figur Marias weist sehr viele Gegensätze auf. Auf der einen Seite wird sie als eine Heilige betrachtet, indem man sie mit dem „Märtyrthum“ (V. 516) verbindet. Als solches ist sie ein Gegenstand der Verehrung und Bewunderung. Auf der anderen Seite wird sie als „Helena“ (V. 84) bezeichnet, die Unglück bringe und den Menschen gegenüber verführerisch erscheine. Durch solche doppelseitige Figurendarstellung wird Maria von vornherein als eine Figur des Zwielichts charakterisiert.255 Der tatsächliche Charakter der Figur kann aber neben diesen verschiedenen Perspektiven auch durch ihre gegenwärtige Erscheinung herausgefunden werden. Diese Vielseitigkeit der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit der Figur verhindert grundsätzlich ihre einseitige Darstellung, wodurch ein komplexes Figurenbild der Maria entsteht. Dementsprechend wird dieses unfassbar – und es ist relevant, das Figurenbild herauszuarbeiten, das der Dramatiker trotz der Vielseitigkeit als potenzielle Wirklichkeit eingesetzt hat, um bestimmte Affekte und Wirkungen hervorzurufen.

255 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 223.

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(1) Wahrnehmung der Maria durch männliche Figuren

Marias Sinnlichkeit und Schönheit wird von männlichen Figuren je nach ihrer Intention unterschiedlich wahrgenommen. Sie wird entweder als gefährlicher oder sexuell zu besitzender Gegenstand wahrgenommen. Das Figurenbild Marias wird mit der angstbesetzten Helena-Faszination der Männer verknüpft,256 die als Sinnbild für Zwietracht und Verblendung bezeichnet werden kann. Paulet und Burleigh haben eine ähnliche Einstellung gegenüber Maria. In ihrer Wahrnehmung erscheint Maria als femme fatale, also als verführerische und gefährliche Frau. In diesem Sinne wird sie von Paulet als „Helena“ (V. 84), als „Unheilbrütend listige“ Frau (V. 132), „ränkevolle Königin“ (V. 141) und „Mörderin“ (V.98) bezeichnet; von Burleigh zur „Mordanstifterin“ (V. 1516), „Stifterin des Unheils“ (V. 1002) und „Ate“ (V. 1281) erklärt.

»BURLEIGH. […] Nicht unser Mitleid ruft’ sie an. Wohl kennt sie Den Zweifelmuth der Königin von England, Und unsere Furcht ist’s, was sie muthig macht.

PAULET. […] Man hätte diesen Babington und Tichburn Ihr in Person vorführen, ihre Schreiber Ihr gegenüber stellen sollen.

BURLEIGH (schnell). Nein! Nein, Ritter Paulet! Das was nicht zu wagen. Zu groß ist ihre Macht auf die Gemüter Und ihrer Thränen weibliche Gewalt.«257

Maria wird hier als verführerisches Sinnenwesen gekennzeichnet, das heimlich

256 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, Tübingen·Basel 2005, S. 302. 257 NA 9-I, V. 980-982, 987-993. Für das weitere Zitat der Maria Stuart wird nur die Zahl der zitierten Verse genannt.

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Listen plane und durch seine Schönheit die Menschen beeinflusse. 258 Hier figuriert sie nicht als Gegenstand des Mitleids, vielmehr als furchteinflößende Größe. Weiterhin wird sie als sinnliches Wesen dargestellt. Selbst die Besitztümer Marias, die Paulet ihr weggenommen hat, spiegeln sie als Schönheit und Sinnenwesen wider: „Spiegel“ (V. 40), „Schmuck“ (V. 24), „Laute“ (V. 44) und „Schatz“ (V. 150) – diese Objekte verweisen auf ihre Schönheit. Darüber hinaus wird sie bei Mortimer und Leicester als Gegenstand der Sinnlichkeit stark repräsentiert.

»MORTIMER. […] Eines Tags, Als ich mich umsah in des Bischofs Wohnung, Fiel mir ein weiblich Bildniß in die Augen, Von rührend wundersamen Reiz, gewaltig Ergriff es mich in meiner tiefsten Seele, Und des Gefühls nicht mächtig stand ich da. Da sagte mir der Bischof: Wohl mit Recht Mögt ihr gerührt bei diesem Bilde weilen. Die schöne aller Frauen, welche leben, Ist auch die jammernswürdigste von allen, Um unsers Glaubens willen dudelt sie«259

In Szene I 6 erklärt Mortimer Maria, wie er zum ersten Mal in Frankreich über sie erfahren hat. Die Affekte, die hier hervorgerufen worden sind, zeigen, durch welches Mittel und welche Vorstellung er auf Maria hat. Das war nicht sie selbst, sondern ihr Bild, das er gesehen hat und von dem er gerührt, gereizt und tiefst ergriffen war. Maria wurde durch ihr Bild als eine Figur der Schönheit wahrgenommen. Dieses Mechanismus, in dem das Bild Marias als ihr Existenz selbst betrachtet wird und auf ihre Schönheit fokussiert wird, wird noch mal bei Leicester dargestellt.

»MORTIMER. (den Brief schnell hervorziehend). Dieß sendet euch die Königin von Schottland.

258 „Den Christus in der Hand, / Die Hoffart und die Weltlust in dem Herzen“ (V. 143f.) 259 V. 501-511.

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LEICESTER. (schrickt zusammen und greift hastig darnach). Sprecht leise, Sir – Was seh' ich! Ach! Es ist Ihr Bild! (küßt es und betrachtet es mit stummen Entzücken)

MORTIMER. (der ihn während des Lesens scharf beobachtet) Milord, nun glaub ich euch!«260

In Szene II.8 übergibt Mortimer Leicester heimlich ein Bild und einen Brief Marias. Die Haltung Leicesters, wenn er das Bild Marias empfängt, ähnelt der Haltung Mortimers in Szene I.6, erinnernd, wie er zum ersten Mal in Frankreich dem Bild Marias begegnet war. Leicester zeigt sich auch vom Bild Marias begeistert. Darüber hinaus wird gezeigt, dass der sinnliche Trieb als ein wichtiges Unterscheidungskriterium für die Glaubwürdigkeit einer Person funktioniert. Mortimer glaubt Leicester seine Treue, nachdem er sieht, wie Leicester emotional auf das Bild reagiert. Die Emotion, die das Verhalten Leicesters leitet, ist für Mortimer das Kriterium, das „[zu] deutlich“ zeigt, „was (ihr) für sie empfindet“ (V. 1737). In den beiden zitierten Szenen wird deutlich gezeigt, dass die beiden Männerfiguren nach dem sinnlichen Treib handeln – eine deutliche Gemeinsamkeit ihrer Charaktere. Beide Männer verhalten sich, als ob das Bild Marias Existenz selbst wäre. Das Bild Marias bezeichnet das sinnliche Begehren Beider gegenüber Maria, in die sie verliebt sind und die sie besitzen möchten. Weiterhin erkennen sie Maria als Entgelt oder Preis, den man später erhalten könne – ebenfalls eine Figuration des Begehrens.261

(2) Kontroverse Vorstellungen von Maria: Märtyrerin vs. Sünderin

Im ersten Akt wird Maria nach der Rede des Kardinals, dem Onkel Marias, als

260 V. 1724ff. 261 Vgl. V. 1820ff. Das Wort „Preiß(e)“ (Mortimer V. 1661 und Leicester V. 1822) ist in beider Reden zu finden.

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Märtyrerin (Vgl. V. 509) und die legitimere Königin als Elisabeth vorgestellt. Mortimer, der Neffe von Paulet, in dessen Schloss Maria gefangen ist, glaubt, dass Maria wegen ihres Glaubens gefangen sei und das Recht auf den englischen Thron habe. (Vgl. 1. Akt, 6. Auftritt, V. 510ff u. 515-533) Die Imagination der Figur Maria als Märtyrerin ist in der literarischen Tradition verankert. Der Stoff Maria wurde zunächst in der frühen Neuzeit in den mehr als fünfzig Trauerspielen verwendet. Als ein vorbildliches Märtyrertum wurde dieser Stoff in den sechs Schuldramen prätentiert, die zwischen 1593 und 1709 aus dem Kreis der Societas Jesu entstanden ist.262 Ein der einflussreichen Dramen, die die schottische Königin als Märtyrerin darstellt ist Maria Stuart of gemartelde Majesteit (1646) von einem niederländischen Dramatiker Joost van den Vondel. Als die erste deutschsprachige Version, die das Märtyrerspiel Vondels übernommen und erweitert hat, ist Maria Stuart Oder Gemarterte Majestät (1673) von Christoph Kormart.263 Schillers Maria kann auch in bestimmter Weise diesem traditionellen Deutungsmuster als Märtyrerin interpretiert werden. Z. B. steht die Figur der Maria in der Nähe des barocken Märtyrerdramas, indem sie in der Beichtszene ihr Tod unverdient annimmt und ihrer Feindin Elisabeth vergibt. 264 Die Darstellung dieses starken Moments könnte diese Märtyrer- These durchaus untermauern. Es geht in Maria Stuart jedoch nicht um ein Märtyrerdrama, denn das Figurenbild Marias entspricht nicht der Vorstellung eines Märtyrers. Der

262 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 492. 263 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Friedrich Schiller. Klassische Dramen, Bd. 26, Frankfurt a. M. 2008, S. 577; Vgl. ders.: Friedrich Schiller, S. 299. 264 Vgl. Volker C. Dörr: Weimarer Klassik, Paderborn 2007, S. 106: Dörr erwähnt einerseits, dass dasjenige des Mitleids mit der unschuldigen Maria mit diesem Moment des Leids deutlich reduziert wird. In diesem Sinne erwecken Märtyrer kein Mitleid, sondern Bewunderung, was Lessing kritisiert hat; Andererseits wird auch behauptet, dass Schillers Stück nicht unreflektiert der Tradition des Märtyrerdramas folgt. Vgl. Alt: »Der Zeremonienmeister. Schillers politisches Theater und die kontrafakturen des höfischen Rituals«, in: Ders.: Schiller, der Spieler, Göttingen 2013, S. 161-187, hier S. 172-176: Alt reflektiert die Bedeutung der Marias letzte Beichte und der Abendmahlszene. Er weist darauf hin, dass es sich zunächst um die Ästhetisierung des heiligen Ritus handelt. Die heiligen Rituale werden zum Gegenstand einer Inszenierung und sie verschaffen Maria das Recht auf Würde. Darüber hinaus wird Maria durch die kontrastvolle Darstelllung zwischen der weltlichen Machtlosigkeit und moralisch- geistlichen Ermächtung in der Beichtszene zur Märtyrerin erhoben.

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Märtyrer eines Dramas muss ein Held sein, der bereits von Beginn des Stücks an unerschütterlich fest in seinem Glauben steht und kraft dieses Glaubens mit der Welt unwiderruflich abgeschlossen hat.265 Ein Märtyrer weigert sich, seinen Glauben zu leugnen und stirbt, um ihn zu schützen. Oder er gibt sich hin, um eine Tugend oder eine andere Pflicht als den Glauben einzuhalten. Der Fall Marias lässt sich von einer solchen Heldenfigur unterscheiden. Ihr Todesurteil hat nicht direkt mit ihrem Glauben zu tun und die Reihe der religiösen Szenen wie der Beichte und des Empfangs der Kommunion stehen auch nicht mit dem Märtyrertum in Verbindung. Denn Maria stirbt weder für Gott noch um unter Verfolgung ihren Glauben zu wahren. Maria wurde nicht gezwungen, ihren katholischen Glauben abzulegen und zum Glauben der englischen Königin zu konvertieren. Darüber hinaus lädt das Stück den Zuschauer nicht ein, an das Leben nach dem Tod zu glauben.266 Schiller stellt Maria als eine fehlerhafte menschliche Figur dar und verhindert dadurch, dass sie als Gegenstand der Bewunderung identifiziert werden kann. Maria erscheint menschlich – allzu menschlich.267 Sie ist weder Heilige noch Märtyrerin, vielmehr ein fehlerhafter Mensch.268 Von Beginn des Stücks an wird Maria als eine Sünderin dargestellt: Die Protagonistin lud, wie die Rückgriffe in die Vorgeschichte deutlich machen, bereits in ihrer Jugendzeit schwere Schuld auf sich. In ihrer Vergangenheit hatte sie angeblich ihren Gatten von ihrem Geliebten ermorden lassen. 269 Zum Spielzeitpunkt des Dramas verdächtigt man sie auch, in das Mordattentat an der englischen Königin involviert zu sein, weswegen sie letztlich gefangengenommen wurde. Wie Körner an Schiller schreibt, gibt es „keinen Helden in Deinem Stück, selbst die Hauptpersonen sind nicht idealisiert, und keine ihrer Schwächen und gehässigen

265 Guthke: Schillers Dramen, S. 207-233. 266 Vgl. Lesley Sharpe: Friedrich Schiller. Drama, Thought and Politics, Cambridge 1991, S. 271: „The play does not invite us to believe in an afterlife.“. 267 Vgl. Guthke: »Maria Stuart«, S. 464. 268 Vgl. ebd., S. 451. 269 Maria bekennt, sie habe gewusst, dass ihr Gatte in Gefahr vor der Ermordung stand. Vgl. V. 292ff: „Ich wußte drum. Ich ließ die That geschehn,/ Und lockt' ihn schmeichelnd in das Todesnetz.“

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Seiten verborgen.“270

(3) Ambivalentes Menschenbild der Maria

Die Menschlichkeit der Maria wird sowohl durch die Ambivalenz ihres Charakters als auch durch ihre Gestik und Mimik, also körpersprachlich gezeigt.271 Der Charakter der Maria wird mehrdeutig und komplex dargestellt. Maria ist zunächst eine sinnliche Akteurin, die nach dem Prinzip des Erhaltungstriebs handelt. Sie will das Urteil des englischen juristischen Hofs gegen sie erfahren und wissen, ob sie frei gelassen wird.272 Dabei zeigt sie sich als verängstigt und gibt vor, sich vor dem Urteil zu fürchten: „so gebeugt, so mutlos“ (1. Akt, 4. Auftritt, V. 268) sei sie geworden.273 Als sinnliche Figur erfährt sie auch Leiden und Freude leicht. Im dritten Akt bei der Begegnung mit Elisabeth stürzt Maria in den heftigen inneren Kampf hinein und ihre Körpersprache und Haltung illustrieren Maria deutlich als leidende Akteurin.

»MARIA. (welche diese Zeit über halb ohnmächtig auf die Amme gelehnt war, erhebt sich jetzt und ihr Auge begegnet dem gespannten Blick der Elisabeth. Sie schaudert zusammen und wirft sich wieder an der Amme Brust).

O Gott, aus diesen Zügen spricht kein Herz!

ELISABETH. Wer ist die Lady? […] SHREWSBURY. Lass dich erbitten, königliche Frau, Dein Aug auf die Unglückliche zu richten, Die hier vergeht vor deinem Anblick. (Maria rafft sich zusammen und will auf die Elisabeth zugehen, steht aber auf halbem Weg schaudernd still, ihre Gebärden

270 NA 38-I, S. 287. 271 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 223. 272 Vgl. V. 209ff, 230f u. 236ff. 273 V. 268.

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drücken den heftigsten Kampf aus.)«274

Ihre Körpersprache und Haltung, die Erschütterung ausdrücken, spiegeln das Gegenbild zum Märtyrer wider, dessen Gestalt die Standhaftigkeit und die Unwiderruflichkeit im Glauben zeigen soll. 275 Dieses leidende Figurenbild stellt sich gegen das eines übermenschlichen und standhaften Helden. Sie ist menschlich, gleichermaßen unbesonnen wie diszipliniert, ihre Körperbewegungen sind stets Ausdruck ihrer inneren Haltung.276 Trotz der verschiedenen Vorstellungen, die die männlichen Figuren von Maria haben, erscheint sie in der Wirklichkeit nicht nur als sinnliches Wesen, sondern auch als vernünftiges. Im Gegensatz zur Vorstellung von Paulet und Burleigh agiert Maria im 7. Auftritt des 1. Akts nicht als eine gefährliche und verführerische Frau. Vielmehr verhält sie sich als ein vernünftiger Mensch. Sie versucht nicht die Gunst Elisabeths mit ihrer Schönheit zu gewinnen, sondern argumentiert auf rationale Weise für sich und kritisiert das englische Gericht. Sie setzt den Männern deutlich auseinander, was im juristischen Prozess gegen sie ungerecht ablief.277 Auch von dem Lob und der Aussage Mortimers, dass sie anstelle Elisabeths den Vorrang und das Vorrecht auf den englischen Thron besitze, lässt sie sich nicht emotional beeinflussen. Stattdessen überblickt sie ihre Situation vernünftig. Sie erkennt, dass ihr Anrecht auf den englischen Thron für Elisabeth bedrohlich ist, dass dies der Grund ihrer Gefangennahme ist. 278 Darüber hinaus lehnt sie den Vorschlag Mortimers ab, der sie mit Gewalt retten will. Maria weigert sich, den listigen Plan umzusetzen und erweist sich als weniger intrigant, als Paulet und Burleigh sie einschätzen.279 Dennoch: Die zwei Strategien, die Maria verfolgt, um sich aus der Gefangenschaft zu befreien, spiegeln ihren ambivalenten Charakter wider. Auf

274 Regieanweisung nach V. 2231, V. 2232ff., V. 2239ff. 275 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 220. 276 Vgl. ebd., S. 300. 277 Vgl. V. 917ff. 278 Vgl. V. 534f: „O dieses unglücksvolle Recht! Es ist / Die einz'ge Quelle aller meiner Leiden.“. 279 Vgl. V. 661-664: „Umsonst! Mich rette nicht Gewalt, nicht List. /Der Feind ist wachsam und die Macht ist sein.“.

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der einen Seite gibt sie ihrem Hüter Paulet einen Brief an Elisabeth, in dem Maria um ein persönliches Gespräch mit ihr bittet. Sie wählt die direkte Lösung für die Befreiung. Denn sie erkennt, dass Elisabeth die Macht habe, sie zu befreien. Deshalb hofft sie, sie überreden zu können. Auf der anderen Seite aber sucht sie nach einer anderen Möglichkeit, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Maria spricht die sinnlich empfindsamen Mortimer und Leicester an. Sie bittet Mortimer darum, Leicester ihren Brief weiterzuleiten.280 In diesem Moment erscheint sie doch wieder als physisches Wesen und auch listig, wovon sie sich kurz zuvor abgesetzt hat. Sie zieht die Nachricht an Leicester aus ihrem Busen. Das kann als erotische Annäherung verstanden werden. 281 Diese Haltung Marias erinnert an die Aussage von Paulet, da sie augenscheinlich keine eigenen Pläne verfolgt, indes heimlich an einem eigenen Rettungsplan arbeitet.282 Diese Vielseitigkeit und Komplexität ihres Charakters bewirkt einerseits ein unbestimmtes und undeutliches Figurenbild. Indem Maria als vielseitige Figur gezeigt wird, die sich durch Menschlichkeit, Sinnlichkeit, Vernünftigkeit auszeichnet, schafft Schiller die Distanz zum Gegenstand der Bewunderung oder des Mitleids. Denn als Gegenstand der Bewunderung soll die Figur von Anbeginn standhaft und zum Mitleid moralisch fehlerhaft bleiben, was auf Maria in den beiden Fällen nicht zutrifft. Andererseits aber erweist sich dieser Widerspruch und diese Ungleichheit als eine potenzielle Vorstufe zum Erhabenen. Denn die Darstellung der Ohnmacht Marias als sinnlicher Figur entspricht der Konzeption des Erhabenen, die physische Schwäche als erste Etappe zum Erhabenen voraussetzt. Des Weiteren basieren sie auch auf der anthropologischen Vorstellung Schillers, die den Menschen als ein gemischtes Wesen aus Körper und Geist, Emotion und Vernunft versteht.283

280 Vgl. V. 674: „Bringt ihm dieß Schreiben. Es enthält mein Bildniß. (sie zieht ein Papier aus dem Busen, Mortimer tritt zurück und zögert, es anzunehmen.)“. 281 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 223. 282 Vgl. V. 143f: „Den Christus in der Hand, Die Hoffart und die Weltlust in dem Herzne.“. 283 Vgl. Kapitel II. 2.

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(4) Erschaffung eines neuen Heldentypus durch Maria

Schiller schafft mit der Figur Marias ein neuer Heldentypus. Ihr indifferentes Verhalten im fünften Akt zeigt, dass sie nicht mit einem Typus definiert und bestimmt werden kann.

»MELVIL. Nahm sie die Todespost mit Fassung auf? Man sagt, daß sie nicht vorbereitet war.

KENNEDY. Das war sie nicht. Ganz andre Schrecken warens, Die meine Lady ängstigen. Nicht vor dem Tod, Vor dem Befreier zitterte Maria […] Kein Merkmal bleicher Furcht, kein Wort der Klage Entehrte meine Königin – Dann erst, Als sie Lord Lesters schändlichen Verrath Vernahm, das unglückselige Geschick Des werthen Jünglings, der sich ihr geopfert, Des alten Ritters tiefen Jammer sah, Dem seine letzte Hoffnung starb durch sie, Da flossen ihre Thränen, nicht das eigene Schicksal, Der fremde Jammer preßte sie ihr ab.«284

Im fünften Akt scheint es so, als ob Maria sich innerlich geändert habe. Ihr Verhalten erweckt den Eindruck, als ob sie nicht mehr dem Erhaltungstrieb folge. Sie fürchtet sich nicht vor der Ankündigung ihres Todes, sondern tröstet sogar ihren Gegner Paulet, dessen Neffe sich um ihretwillen umgebracht hat. Es war nicht der Tod, vor dem sie sich fürchtet, sondern Mortimer, der sie willkürlich behandelt und zum Preis der Rettung besitzen will. Ihre Ehre und Würde als Königin werden für wichtiger als ihr Leben geachtet.

»MARIA. (mit ruhiger Hoheit im ganzen Kreise herumsehend).

284 V. 3383ff, V. 3409-3417.

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Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet Ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel Nun endlich naht, daß meine Bande fallen, Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich Auf Engelsflügeln schwingt zur ew'gen Feindin Gegeben war, Unwürdiges erduldend, Was einer freien großen Königin Nicht ziemt, da war es Zeit, um mich zu weinen! ‒ Wohltätig, heilend, nahet mir der Tod, […] Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, Den würd'gen Stolz in meiner edeln Seele!«285

Maria tritt in Szene IV 2 auf die Bühne zum ersten Mal auf und zeigt sich, so wie ihre Amme Kenndy über sie berichtet. Ihre Haltung ist deutlich anders als in den früheren Akten, in denen sie verschiedene Wege zur Befreiung gesucht hat, und sich sogar vor Elisabeth erniedrigt hat, um zu überleben. Nun ist sie plötzlich unabhängig von dem Selbsterhaltungstrieb und stellt sich standhaft wie ein Gegenstand der Bewunderung dar.286 Sie zeigt keine Angst vor der Hinrichtung, sondern tröstet ihre Dienerinnen und interpretiert ihr kommendes Tod als Befreiung vom ihren bisherigen Leiden. So spricht sie davon, dass sie wieder die Krone auf dem Haupt und den würdigen Stolz in ihrer edlen Seele fühle. Die Erscheinung Marias im fünften Akt entspricht demjenigen, was Lessing am Affekt der Bewunderung kritisierte. Es ist bewundernswert, dass sie physisch keine Schwäche und keine innere Verwirrung vor der kommenden Hinrichtung zeigt. „Die erhabenen Entschlüsse und Gedanken“ sind nach Lessings Ansicht „unmenschlich“.287 Er stellt die Bewunderung als tragischen Affekt in Frage, denn die Haltung des Helden ist für das einfache Volk unmenschlich und es ist nicht nachvollziehbar, dass die Helden lieber ihr Leben als ihre Ehre verlieren. Die bewundernswerte Person widerspricht nicht nur dem Selbsterhaltungstrieb, sondern auch der Möglichkeit zu humaner Verständigung, Kompromissbereitschaft und Versöhnung in Konfliktsituationen.288 In diesem

285 V. 3480-3489, 3493f. 286 Vgl. Dörr: Weimarer Klassik, S. 106. 287 Vgl. Hartmut Grimm: Art. »Affekt«, in: Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, S. 16-48, hier S. 34. 288 Vgl. ebd.

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Sinne ist Marias heldenhafte Haltung weder verständlich noch nachvollziehbar. Maria als ein Gegenstand der Bewunderung ist nur dann nachvollziehbar, wenn sie bereits zu Beginn des Stücks als eine Figur erschienen wäre, der die Ehre viel wichtiger als ihr Leben wäre. Aber bis zum Ende des Stücks bleibt sie ein physisches Wesen, das nach dem Selbsterhaltungstrieb handelt.289 Trotz der Aussage Marias, dass sie ihr Tod als Befreiung bezeichnet und bekennt, dass sie keinen Anteil mehr an die irdische Welt hat, bezieht sich sie mehrmals im fünften Akt auf das Leben, worauf sie verzichtet zu haben erklärt. Sie verabschiedet sich lange von ihren Dienerinnen und zeigt sich doch nicht bereit mit der Hinrichtung und wünscht sich die Gelegenheit der Beichte und zeigt sich erschüttert bei der Begegnung mit Leicester am Ende noch mal. 290 Aus dieser uneinheitlichen Erscheinung Marias ergibt sich eine neue Vorstellung eines Heldenbilds bei Schiller. Durch Maria Stuart gelingt es Schiller, ein neues Heldentypus auf die Bühne zu bringen. Die Darstellung des menschlichen und physischen Figurenbilds der Maria zeigt einerseits, dass Schiller sich von der Darstellung des Übermenschen und der darauf basierenden Bewunderungsästhetik abgrenzt. Wenn Maria von Anfang an standhaft wäre, dann wäre sie ein Gegenstand der Bewunderung, aber sie war am Anfang physisch schwach, und sie zeigte sich bis zum Ende als auch physisches Wesen. Andererseits lässt sich ihre Erscheinung als würdige Königin im letzten Akt auch von der Mitleidsästhetik abgrenzen. Denn ihre standhafte Haltung vor der Nachricht des eigenen Todes hindert den Zuschauer daran, sich in ihre Situation einzufühlen. Die Protagonistin Maria ist eine Figur, die sich vom traditionellen, neostoisch-klassizistischen Heldenbild abgrenzt, aber zum klassizistischen humanen Helden geworden ist.291 Schiller verbindet erst bei Maria Stuart die Darstellung des Heroisch-Erhabenen anstelle von Bewunderung mit einer veränderten Affektregie wie Furcht, Schrecken oder Mitleid.292

289 Vgl. Kapitel II. 2. 2. 290 Vgl. Kapitel III. 1. 2. 2. 291 Vgl. Barone: Erhabenen, S. 302. 292 Vgl. ebd., S. 178.

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Die neue Figurenkonzeption ist insofern wichtig, als sie sich weder auf den Affekt der Bewunderung noch des Mitleids bezieht. Auf diese Weise gelingt es dem Dramatiker, seine Konzeption des Erhabenen in der Figur der Maria zu verwirklichen, die sich trotz ihrer Schwäche schließlich entscheiden kann, nach ihrem freien Willen zu handeln, dabei aber Mensch aus Körper und Geist zu bleiben. Im Hinblick auf die erhabene Figur geht es aber nicht darum, ob Maria sich ganz vom Physischen loslöst und zum rein geistlichen Wesen entwickelt, oder ob die Figur von Beginn bis zum Ende des Stücks als Gegenstand eines bestimmen Affektes durchhalten kann. Vielmehr geht es bei Schiller darum, ob man trotz aller physischen Schwäche die Möglichkeit einer absoluten Freiheit hat.293

1.1.2. Irritation des Erhabenen und Ironisierung der Bewunderungsästhetik

Schiller vermeidet es bewusst, das Figurenbild Marias mit der Bewunderungsästhetik zu verbinden, 294 dies demonstriert Maria Stuart mehrfach. Die Bewunderungsästhetik wird vor allem in der Szene der Begegnung zwischen Elisabeth und Maria sowie durch die Figur des Mortimer konkretisiert und problematisch dargestellt. Dadurch wird auch die Konzeption des Erhabenen von der Bewunderung unterscheidbar.

(1) Begegnung Marias mit Elisabeth: ein erhabener Moment?

Die heitere Stimmung Marias zu Beginn von III.4, die von der Natur inspiriert wird, wandelt sich rasch in physische Ohnmacht kurz vor der Begegnung mit Elisabeth. Sie ist erschüttert und „halb ohnmächtig auf die Amme gelehnt“ und „ihre Gebärden drücken den heftigen Kampf aus.“295 Ihre Körperbewegungen

293 Vgl. Kapitel III. 1. 2. 2. 294 Vgl. Barone: Erhabenen, S. 208. 295 Regieanweisung nach V. 2241.

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sind Symptome ihres inneren Zustands. Maria ist zunächst verängstigt – und die Tatsache, dass sie gegen ihre Gefühle handeln muss, erregt bei ihr einen heftigen Affekt. Diese affektive Erschütterung zeigt, dass Maria nicht mehr ihre Gefühle beherrschen kann und in höchste Angst geraten ist. 296 In diesem Moment erscheint sie deutlich als ein physisches Wesen, wie es sich der Dramatiker vorgestellt hat.297 Maria erniedrigt sich vor Elisabeth gegen ihren Willen und bittet sie um ihre Befreiung. Das tut sie, um zu überleben und den Tod zu vermeiden. Um der Selbsterhaltung willen muss sie diese Demütigung dulden. Als sie sich aber von Elisabeth beleidigt fühlt und riskiert, ihre Würde zu verlieren, stellt sie sich trotz der Gefahr und physischen Bedrohung gegen die Königin. Könnte die Begegnungsszene im dritten Akt, in der Maria sich gegen Elisabeth stellt, als ein erhabener Moment angesehen werden?

»ELISABETH. (Sieht sie lange mit einem Blick stolzer Verachtung an). Das also sind die Reizungen, Lord Lester, Die ungestraft kein Mann erblickt, daneben Kein andres Weib sich wagen darf zu stellen! Fürwahr! Der Ruhm war wohlfeil zu erlangen, Es kostet nichts, die allgemeine Schöhnheit Zu seyn, als die gemeine seyn für alle!

MARIA. Das ist zu viel!

ELISABETH (höhnisch lachend). Jetzt zeigt ihr euer wahres Gesicht, bis jetzt war's nur die Larve. […] MARIA. Mäßigung! Ich habe Ertragen, was ein Mensch ertragen kann. […]

296 Vgl. Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, S. 305. 297 Vgl. ebd., S. 298; Schiller erwähnt über seine Vorstellung auf Maria als physisches Wesen in seinem Brief an Goethe am 18. Juni 1799. Vgl. NA 30, S. 61: „ich will sie immer als ein physisches Wesen halten, […] ihr Schicksal ist nur heftige Paßionen zu erfahren und zu entzünden.“

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LEICESTER. (in der heftigsten Unruhe, sucht die Elisabeth hinweg zu führen). Höre Die Wüthende nicht an! Hinweg, hinweg Von diesem unglücksel'gen Ort!

MARIA. Der Thron von England ist durch einen Bastard Entweiht, der Britten edelherzig Volk Durch eine list'ge Gauklerin betrogen. ‒ Regiere Recht, so läget Ihr vor mir Im Staube jetzt, denn ich bin euer König.«298

Elisabeth nutzt die Situation aus, in der Leicester, welcher bei beiden Königinnen beliebt ist, ihr Gespräch beobachtet. Die englische Königin lacht Maria vor den Augen ihres Geliebten aus, indem sie deren Schönheit beleidigt. Der strategische Angriff Elisabeths trifft Marias wunden Punkt. Die Tatsache, dass Maria sich davon beleidigt fühlt, dass Elisabeth ihre Sinnlichkeit auslacht, zeigt, dass Maria selbst als physisches Wesen von der Sinnlichkeit abhängig ist. Maria stellt sich gegen ihre Gegnerin, aber sie ist außer sich. Sie ist nur kurze Zeit überzeugt davon, dass sie in diesem Moment von allen Leiden befreit worden sei. Sie erniedrigt sich nicht mehr, sondern greift Elisabeth ihrerseits an.

»KENNEDY. O was habt ihr gethan! Sie geht in Wuth! Jetzt ist es aus und alle Hoffnung schwindet.

MARIA (noch ganz außer sich). Sie geht in Wuth! Sie trägt den Tod im Herzen! (der Kennedy um den Hals fallend) O wie mir wohl ist, Hanna! Endlich, endlich Nach Jahren der Erniedrigung, der Leiden, Ein Augenblick der Rache, des Triumphs! Wie Bergeslasten fällt's von meinem Herzen, Das Messer stieß ich in der Feindin Brust.

KENNEDY. Unglückliche! Der Wahnsinn reißt euch hin,

298 V. 2413-2420, 2436f u. 2444-2451.

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Ihr habt die Unversöhnliche verwundet. Sie führt den Blitz, sie ist die Königin, Vor ihrem Buhlen habt ihr sie verhöhn!

MARIA. Vor Lesters Augen hab' ich sie erniedrigt! Er sah es, er bezeugte meinen Sieg! Wie ich sie niederschlug von ihrer Höhe, Er stand dabei, mich stärkte seine Nähe!«299

Mit den gleichen Mitteln, mit denen sie angegriffen wurde, wendet sie sich nun gegen Elisabeth. Es ist ihr allerdings nur ein Augenblick des Sieges gegönnt. Ihr Motiv ist nicht nur, ihre Würde zu bewahren, sondern sie will ihre Gegnerin in Gegenwart ihres Geliebten beleidigen und angreifen. Die erste Motivation ihrer Handlung ist demnach eine Art Rache für die bisherige Unterdrückung und Erniedrigung, die sie als Gefangene erdulden musste. Ihren Zustand im Gefängnis empfindet sie wie eine Verfolgung. Die zweite Motivation ihrer Handlung besteht aus dem Kampf um den Geliebten. Vor dem Angesicht Leicesters, der bei beiden Königinnen beliebt ist, will Maria Elisabeth bloßstellen. Die Kennedy, die diese Szene unmittelbar als Zuschauer miterlebt hat, erklärt jedoch auch, was Maria dazu führt, sich gegen Elisabeth zu behaupten: Es ist keine vernünftige Handlung, sondern im Wortlaut „Wahnsinn“. Marias innerer Zustand ist voller Affekte, als sie Elisabeth begegnet. Durch die Darstellung des Verhaltens nach dem heftigen Affekt wird indirekt zwischen dem Erhabenen und leidenschaftlicher Haltung differenziert.

(2) Kritische Darstellung der Bewunderungsästhetik: Mortimer

Schiller lehnt die Bewunderungsästhetik ab, indem er sie in seinem Stück ironisch darstellt. Dies wird in einer Figur exemplarisch konkretisiert, die sich nur von Emotion leiten lässt, unvernünftig handelt und schließlich eine Gefahr verursacht. Die „falsche“ Wirkung der Bewunderungsästhetik wird dadurch von

299 V. 2452-2467.

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ihrer neuen Dramenästhetik des Erhabenen abgegrenzt. Diese Tendenzen sind bereits in Schillers früheren Stücken zu finden. Die schwülstige Figur des Ferdinand in Kabale und Liebe scheint zunächst frei von aller Sorge vor Gefahr und Leiden zu handeln. In Wahrheit aber agiert er nur aus pathetischer Blindheit ohne Vernunft. In Maria Stuart wird in ähnlicher Art und Weise auch die Figur des Mortimers dargestellt. Mortimer hält Maria für eine absolut bewundernswerte Figur und wegen seiner emotionalen Übertreibung scheitert die Rettung Marias komplett. Die schwärmerische Affektion von Mortimer gegenüber Maria zeigt, welche Gefahr sich darin versteckt, wenn eine Figur nur als ein Gegenstand der Bewunderung betrachtet wird. Maria ist als Gegenstand der Bewunderung wie ein Bildnis, das man besitzen kann. Es gibt insgesamt zwölf Szenen bis zu seinem Selbstmord, in denen Mortimer auftaucht: Seine Wahrnehmung Marias sowie seine Reaktion und Haltung lassen sich genau rekonstruieren.300 a. Maria als Gegenstand der Bewunderung und der Verehrung: 1. Akt, 6. Auftritt

Im ersten Dialog zwischen Maria und Mortimer wird offensichtlich, dass Mortimer Maria mit Verehrung und Bewunderung begegnet. Am Beginn des Gesprächs zeigt seine körperliche Haltung bereits seine Wahrnehmung gegenüber Maria. In einer Position der Verehrung spricht er sie, „sich ihr zu Füßen werfend“ (Regieanweisung nach V. 394), an. Darüber hinaus erzählt er von seinem ersten Eindruck von dem Bild Marias: Er sei von ihrem Bild tief berührt und begeistert worden. Maria wurde ihm als die „Schönste aller Frauen“ (V. 509) und als Symbol des „Märtyrthum“ (V. 516) vorgestellt. Sie wird nicht als ein wirklicher Mensch, sondern als ein sinnliches Bild wahrgenommen. Mortimer hat sich in das Bildnis Marias verliebt, schon bevor er sie persönlich trifft. Dass er nicht in Maria als Menschen, sondern in ihr Bild verliebt ist, bestätigt die Szene, als Maria ihm ihr Bild als Zeichen des Vertrauens an

300 Im 1. Akt 3 Mal (3, 5-6. Auftritt), im 2. Akt 5 Mal (4.-8. Auftritt), im 3. Akt 3 Mal (6. - 8. Auftritt) und im 4. Akt 1 Mal (4. Auftritt) taucht er auf.

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Leicester geben will. Er tritt zurück und zögert es anzunehmen. (V. 674) Die Begeisterung und die Bewunderung Mortimers gegenüber dem Bild wandeln sich in eine furchtlose Tat, um Maria zu retten. Er offenbart ihr seinen heimlichen Plan, dass sie mit Gewalt retten zu wollen. Maria findet seinen Plan nicht bestechend und bezeichnet Mortimer als „[u]nglückliche[n], verführte[n] Jüngling“. Er kümmert sich nicht um ihre Ansicht – eine bewunderte Person zu retten, nimmt zunächst die Angst vor dem Tod, und zudem ist diese Tat mit Ruhm und Glück verbunden. (V. 659f.) b. Maria als Preis und sinnliche Göttin der Lebenslust: 2. Akt, 6. Auftritt

In Mortimers monologischer Szene im 2. Akt wird verdeutlicht, welche Vorstellung er von Maria hat und was ihn motiviert, sie trotz der Gefahr zu retten.301

»Mortimer allein. […] Mich locket nicht des eiteln Ruhmes Geiz! Bei ihr [Maria] nur ist des Lebens Reiz – Um sie, in ew'gem Freudenchore, schweben Der Anmuth Götter und der Jugendlust, Das Glück der Himmel ist an ihrer Brust, Du [Elisabeth] hast nur todte Güter zu vergeben! Das Eine höchste, was das Leben schmückt, Wenn sich ein Herz, entzückend und entzückt, Dem Herzen schenkt in süßem Selbstvergessen, […] Nie hast du [Elisabeth] liebend einen Mann beglückt! […] Ich selber kann sie [Maria] retten, ich allein, Gefahr und Ruhm und auch der Preiß sei mein!«302

301 Ein Monolog ist nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit keine realistische Szene, da man allein auf der Bühne seine Gedanken und Emotionen ausdrückt, er ist aber aus demselben Grund einerseits ein theatralisch geeignetes Mittel, die inneren Vorhaben der Figur darzustellen und andererseits eine gute Gelegenheit für Zuschauer, ein Erkenntnis über die Figur und den Überblick über kommende Geschehnisse auf der Bühne zu gewinnen. Vgl. Adriana Hass: Art. »Monolog«, in: Brauneck / Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, S. 623-626. 302 V. 1646-1661.

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Mortimers Monolog beginnt, nachdem er mit Elisabeth ein heimliches Gespräch geführt hat. Er wurde von ihr darum gebeten, heimlich Maria zu töten, die zu der Zeit im Schloss seines Onkels gefangen ist. Dabei verspottet er den Ruhm, den Elisabeth ihm versprochen hat. Für ihn ist der Ruhm der englischen Königin weniger wert als der Preis, den er von Maria gewinnen kann. Es ist der sinnliche Reiz, den er für wichtig hält und der ihn motiviert, Maria zu retten. Der Hintergrund seiner Ablehnung von Elisabeth und seiner Zuneigung zu Maria wird dadurch verdeutlicht, dass er die beiden Königinnen vergleicht. Er erklärt, dass Elisabeth nie einen Mann befriedigt habe; stattdessen beschreibt er Maria als Göttin der Anmut und der jugendlichen Lust, die den Reiz des Lebens hervorbringe. Er phantasiert die schottische Königin als Göttin und Garantin reiner Lebenslust.303 Für ihn ist entscheidend, wer von beiden Königinnen ihn mehr Lust und Vergnügen bringen kann. Es ist die Sinnlichkeit, wonach er sich verzehrt. Diese These wird durch seine Aussage verstärkt, dass das Glück, nach dem er sucht, an der Brust Marias liege. (Vgl. V. 1650) Maria ist schließlich nichts als der Preis der Rettung und des Risikos, den er nach seiner Tat gewinnen und besitzen will. c. „Tollkühnheit, Raserey“: 2. Akt, 8. Auftritt

Mortimer führt ein heimliches Gespräch mit Leicester, der laut Maria ein angeblicher Helfer ist. Die beiden haben eine gemeinsame Vorstellung von Maria und die Intention, sie zu retten. Für Leicester ist sie auch nichts als eine sinnliche Figur,304 und er will sie auch retten, um sie als Preis zu gewinnen. (Vgl. V. 1821). Trotz der gemeinsamen Vorstellung bezeichnet Leicester die Art und Weise, wie Mortimer Maria retten will, als willkürlich.

»MORTIMER (bitter). Nein, nicht für euch, der sie besitzen will!

303 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 221. 304 Vgl. Kapitel III. 2. 1.

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Wir wollen sie bloß retten, und sind nicht so Bedenklich – […]

LEICESTER. Tollkühnheit, Raserey ist dieser Muth. […] Ihr überlegt nicht, hört nicht, werdet alles Mit heftig blindem Ungestüm zerstören, Was auf so guten Weg geleitet war.«305

Mortimer erklärt Leicester, dass er Maria mit Gewalt aus dem Kerker befreien wolle. Er fordert auch Leicester dazu auf, nicht zu zögern, sondern Elisabeth mit allen Mitteln dazu zu zwingen, Maria frei zu lassen. Das Vorhaben Mortimers wird hier als „Tollkühnheit“, „Raserey“ und Blindheit definiert. Die Beschreibung der Eigenschaften Mortimers durch Leicester ist vergleichbar mit der Figur des Ferdinand in Kabale und Liebe, der nicht aus Vernunft, sondern temperamentvoll allein aus Leidenschaft handelt. Durch den Kontrast zu Leicester wird die sinnliche und emotionale Anziehungskraft Mortimers verdeutlicht. d. Verwandlung der Bewunderung zu sexueller Besitzgier: 3. Akt, 6. Auftritt

Der 6. Auftritt des 3. Akts wurde seit der Zeit der Uraufführung als problematische Szene betrachtet. Der sexuelle Angriff auf Maria durch Mortimer rief heftige Reaktionen bei den Zuschauern hervor. In der wirkungsästhetischen Hinsicht hat, wie berichtet wird, das Verhalten Mortimers bei Maria einen starken Affekt der Furcht hervorgerufen. 306 Dafür wurde die Szene mit gekürzten Versionen auf der Bühne aufgeführt. Die provokative Szene mit erotischen Darstellungen wurde gemildert inszeniert und die Rollen von Maria und Mortimer wurden von einem Ehepaar gespielt.307 Abgesehen davon, wie

305 V. 1866ff u. 1881ff. 306 Vgl. Heinrich Schmidt: Erinnerungen eines weimarischen Veteranen aus dem geselligen, literarischen und Theater-Leben, Leipzig 1856, S. 96f. 307 Vgl. NA 9/I, S. 334f; Vgl. Kapitel IV. 3. 1.

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zeitgenössische Zuschauer auf die Darstellung dieser Szene reagierten und wie stark sie zensiert wurde, ist diese Szene sehr bedeutsam, um Schillers Position und Intention gegenüber der Bewunderungsästhetik zu verstehen. Denn die Irritation des Affekts der Bewunderung wird hier deutlich dargestellt. Es wird gezeigt, dass sich die Bewunderung Mortimers gegenüber Maria im Laufe der Zeit zum Wahnsinn und zur sexuellen Begierde wandelt. Dieser innere Wandel Mortimers wird während der Szene in der Regieanweisung und im Dialog veranschaulicht. Die Szene beginnt nach der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth. Am Beginn der Szene tritt Mortimer bereits aufgeregt auf und lobt Maria. Er bezeichnet das Verhalten Marias vor Elisabeth als Sieg, was sich im deutlichen Kontrast zur Aussage Kennedys befindet, die es als „Wahnsinn“ (V. 2460) bezeichnet. Mortimer verehrt Maria als eine Göttin und zeigt seine Bewunderung, indem er das Wort „anbeten“ verwendet. (Vgl. V. 2471f.). Dabei zeigt die Regieanweisung, dass er dies mit einer heftigen leidenschaftlichen Stimmung ausdrückt (nach V. 2468). Maria fragt stets Mortimer danach, ob er Leicester ihren Brief weitergeleitet habe, aber darauf antwortet er nicht. Stattdessen betrachtet er sie „mit glühenden Blicken“ (nach V. 2475) und beginnt, nach seinem inneren Affekt zu handeln. Hier wird Maria für ihn nicht mehr Gegenstand der Verehrung, sondern ein „Weib“ (Vgl. V. 2477f.), das ihn sinnlich reizt. Des Weiteren behauptet Mortimer, dass er in Konkurrenz mit Leicester geeigneter sei, Maria zu retten. Dabei verbindet er die Rettung Marias mit dem Gedanken des Besitzes und auch mit der Bereitschaft zum Tod. Der heimliche Plan Mortimers, Maria zu retten, ruft bei ihr die Affekte der Furcht (V. 2510) und des Schrecks (V. 2524, 2535) hervor. Mortimer definiert sich als Rasender (V. 2543) und sein Verhalten als Kühnheit (V. 2498). Nichts soll ihn hindern, sie zu retten. Die Willkür Mortimers, der sich vor nichts fürchtet und keine physischen Grenzen kennt, erinnert wiederum an die Figur des Ferdinand, der auch einerseits keine Grenze kennt, um die Liebe von Luise zu gewinnen, aber andererseits wegen seines blinden Wahnsinns bei seiner Geliebten Furcht und Schreck hervorgebracht hat. Bei Mortimer hat seine Willkür stark mit Sinnlichkeit zu tun. „Mit irren

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Blicken, und im Ausdruck des stillen Wahnsinns“ (Regieanweisung nach V. 2535) werden die Verrücktheit und sexuelle Begierde gegenüber Maria veranschaulicht. Nun ist Maria nichts weiter als ein Gegenstand der Sinnlichkeit, den er besitzen will. (V. 2548) Mortimer versucht, Maria sexuell zu belästigen, „indem er heftig auf sie zugeht, mit ausgebreiteten Armen“ (Regieanweisung nach V. 2538) und sie heftig an sich presst (vgl. Regieanweisung nach V. 2580). Durch die übertriebene Handlung Mortimers wird die Maria aus der Vorgeschichte, die nach der Sinnlichkeit lebte, auf die Bühne zurückgerufen und vergegenwärtigt.308 Außerdem wird hier das bewundernswerte Figurenbild Marias zum Opfer des Vergnügens und Besitzes, indem ihr ganzes Wesen zu verschiedenen kleinen Körperteilen reduziert wird. Der Körper Marias wird zum erotischen und sexuellen Gegenstand. Die einzelnen Körperteile, wie z. B. Brust (V. 2540 u. V. 2580), Mund (V. 2541), Hals (V. 2554), Haar (V. 2561) und Locke (V. 2561) werden genannt und als sinnliche Reizpunkte wahrgenommen. Dabei verschwindet Maria als Königin auf einmal und das ganze Wesen aus Geist und Körper wird vernichtet. Der Gegenstand der Bewunderung und Verehrung wird nur auf einzelne Körperteil reduziert. Maria ist nun nichts „als die rührende Gestalt“ (V. 2571) und wird von Mortimer als Opfer betrachtet, das ihn befriedigen soll. e. 4. Akt. 4. Auftritt, Selbstmord Mortimers: Vergebliches Selbstopfer

In seiner letzten Szene will Mortimer Leicester vor der kommenden Bedrohung warnen, aber Leicester übergibt ihn den Soldaten, um sich dadurch zu retten. Mortimer tötet sich selbst und erklärt, dass er im Gegensatz zu Leicester als treuer Retter Marias sterbe. Darüber hinaus vergleicht er die schottische Königin Maria mit der himmlischen Maria, der Mutter Gottes. Mortimer rechtfertigt seinen Tod dadurch, dass er seinen Selbstmord in Treue begehe. Er irrt sich allerdings in seiner Vorstellung, dass er für eine große Idee sterbe. Tatsächlich

308 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 220.

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ist sein Selbstmord nicht auf eine große Idee bezogen, sondern auf seinen übertriebenen Affekt. Das Beispiel Mortimers zeigt, welche Position Schiller gegenüber der Bewunderungsästhetik einnimmt, indem er in seinem Stück die Konzeption seiner Vorgänger literarisch darstellt. Schiller gelingt es, die Konzeption des Erhabenen von der der Bewunderung zu abzugrenzen, indem durch die Figur des Mortimers die Gefahr- und die Irritationsmöglichkeit der Bewunderungsästhetik kritisch dargestellt wird. Auf der einen Seite wird der Affekt der Bewunderung durch die Entwicklung des Affekts problematisiert. Der Affekt der Bewunderung hat sich zu einer egoistischen Begierde entwickelt, die anderen Menschen bedrohlich werden kann und schließlich im Selbstmord endet. Auf der anderen Seite wird dargestellt, dass ein Verhalten, das nicht auf Vernunft, sondern nur auf Emotion und Instinkt beruht, bei anderen Menschen die Affekte der Angst und der Furcht hervorrufen kann. Darüber hinaus wird auch gezeigt, wie die Perspektive der Bewunderung stark mit der Sinnlichkeit verbunden werden kann. Der Gegenstand der Verehrung wird zum sinnlichen Gegenstand des Besitzes und des Vergnügens reduziert. Mortimer scheint sich zu Beginn vor nichts zu fürchten, als ob er keine physischen Schranken hätte. Die emotionale Intention ohne Vernunft wird als Wahnsinn und als bedrohlich kategorisiert.

1.2. Der Prozess des inneren Wandels Marias

Die Protagonistin Maria stellt sich im fünften Akt als innerlich verändert dar. Die innere Veränderung Marias ist im Hinblick auf die Konzeption des Erhabenen der zentrale Gegenstand dieser Untersuchung.309 Die Erscheinung der Maria als erhabene Figur ist allerdings in der Forschung umstritten. Ihre Läuterung im fünften Akt wurde in der bisherigen Forschung entweder als Charakterentwicklung oder als Charakterbruch interpretiert. Einerseits erscheint sie bereits zu Beginn des vorherigen Akts als eine erhabene Figur vor der

309 Vgl. III. 1. 2. 2.

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Hinrichtung, was als eine plötzliche Wandlung bezeichnet werden kann. Andererseits ist ihr Wandel ein allmählicher Prozess. Es gibt mehrere Stationen bis zur Hinrichtung, in denen Maria sich ändert. Einer der wichtigen Momente ist die Beichtszene im fünften Akt. Durch den Empfang der Sakramente der Beichte und der Eucharistie erscheint Maria direkt vor der Hinrichtung selbständiger und erhabener. Im Hinblick auf zwei unterschiedliche Aspekte ihrer Läuterung soll zunächst die Funktion der Beichtszene untersucht werden. Geht man davon aus, dass die Beichte wichtige Auswirkungen auf ihre Läuterung hatte, so ließe sich noch eine weitere Überlegung ableiten: ob nicht Maria, statt aus eigener Vernunft durch göttliche Macht zum Erhabenen gelangt ist. Aus diesem Grund ist es wichtig, zu untersuchen, was in der Beichtszene geschieht und welche Wirkung sie im Hinblick auf die Konzeption des Erhabenen hat. Darüber hinaus soll die Intention Schillers herausgearbeitet und untersucht werden, warum Maria trotz ihrer Ausrichtung auf das Himmlische bei der Begegnung mit Leicester in ihrer Erschütterung derart unter Vorzeichen des Physischen erscheint.

1.2.1. Die Funktion der Beichtszene

Die Präsentation der religiösen Szene des Stücks auf der Bühne war bereits zur Zeit der Uraufführung umstritten. Im siebten Auftritt des fünften Akts geschehen zwei religiöse Praktiken, die in der katholischen Kirche als heilige Sakramente der Beichte und der Eucharistie bezeichnet werden. Maria bekennt ihre Schuld vor ihrem ehemaligen Hofmeister Melvil, der extra für sie die Priesterweihe empfangen hat, um ihr letztes Sündenbekenntnis zu hören. Dazu empfängt Maria die vom Papst gesegnete Eucharistie und den von Melvil gesegneten Kelch auf der Bühne. Als der Herzog Carl August davon hörte, dass es eine religiöse Szene geben solle, ließ er sie ändern. 310 Auch Goethe bezeichnete es als „kühne

310 Am 10. oder 11. Juni 1800 schreibt Carl August an Goethe, dass man ihm erzählt habe, dass in der Aufführung der Maria Stuart eine Abendmahlszene auf der Bühne gezeigt werden solle.

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Gedanken“, diese religiöse Szene auf der Bühne darzustellen. 311 Es ist historisch nicht einheitlich zu klären, wie die Szene tatsächlich aufgeführt wurde. 312 Aber schließlich wurde sie in die Druckfassung des Stücks aufgenommen. Es erscheint auch fragwürdig, aus welchem Grund es Schiller trotz aller Widerstände wagte, die provokative Szene hinzuzufügen. Schiller präsentierte diese umstrittene Szene nicht bloß, um das historische Ereignis authentisch zu dokumentieren. Es ist zunächst keine historische Repräsentation. In der Tat wurde Maria vor ihrer Hinrichtung nicht erlaubt, Beichte oder Kommunion nach der katholischen Liturgie zu empfangen, sondern ihr wurde ein anglikanischer Beichtvater zur Verfügung gestellt, den sie jedoch abgewiesen hat.313 Darüber hinaus war Sir Andrew Melvil (1545-1622) kein Katholik, sondern Protestant.314 Er war einer von jenen vier Brüdern, die sich treu auf Marias Seite stellten. Im Stück wird dies zunächst äußerlich so dargestellt, dass Maria durch das Beichtsakrament von ihren Ängsten und der Zuneigung zu weltlichen Dingen befreit wird und große Impulse auf dem Weg zum Erhabenen erhält. Sie fürchtet sich nicht mehr vor der Hinrichtung und entscheidet sich freiwillig für den Tod. (Vgl. 5. Aufzug 9. Auftritt V. 3761) Marias Verzicht auf das Irdische und ihre Ausrichtung auf das Himmlische können die These stärken, dass sie vermittels der kirchlichen Liturgie zum Erhabenen geleitet worden sei. Nach der theoretischen Konzeption des Erhabenen sollte man nicht durch eine äußerliche Kraft, sondern durch die Vernunft erkennen, dass ein innerer freier Raum existiert, der von der äußeren

Er meinte, dass man sich dafür bei den Jesuiten entschuldigen solle und aus diesem Grund wies er Goethe darauf hin, dass etwas Anstößiges auf der Bühne nicht vorkommen solle. Vgl. NA 9/I, S. 221. 311 Goethe schreibt am 12. Juni 1800 an Schiller zwei Tage vor der Uraufführung des Stücks, dass Carl August von der Abendmahlszene mitgeteilt wurde und es empfehlenswert sei, die Szene zu ändern. Vgl. ebd.; NA 38-1, S. 269. 312 Es ist umstritten, wie die Szene in der Wirklichkeit dargestellt wurde. Es wurde berichtet, dass die Szene nach der Uraufführung wegen der negativen Reaktion auf die Szene nicht mehr auf die Bühne dargestellt wurde. Vgl. NA 9/I, S. 334f; Vgl. Kapitel IV. 3. 1. 2. 313 Historisch gesehen wurde Marias Bitte, mit ihrem Beichtvater Kaplan de Preau sprechen zu dürfen, abgewiesen. Stattdessen schlug man ihr einen protestantischen Geistlichen vor, den sie jedoch ablehnte. Vgl. NA 9/I, S. 428. 314 NA 9/I, 427.

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Welt sowie physischen Bedingungen unabhängig ist.315 Wenn aber Maria durch eine religiöse Kraft bzw. durch ein Sakrament innerlich verändert wird, widerspricht ihr innerer Wandel der theoretischen Konzeption des Erhabenen bei Schiller. Diese These wird dadurch verstärkt, dass Maria bereits eine Kraft sucht, die außerhalb ihres inneren Daseins ist. In der vierten Szene des fünften Akts wird berichtet, dass sie sich vor dem Auftritt mit Gott unterhalten habe.316 Dies kann so gedeutet werden, dass sie einer göttlichen Kraft bedarf, um ihre Ängste vor dem schweren Kampf zu überwinden.317 War es eine göttliche Kraft, die sie zum Erhabenen berufen hat? Es lässt sich annehmen, dass dieser Werdegang Marias vom Sinnlichen zur Überlegenheit der Vernunft durch den religiösen Prozess gelang und nicht aus der Erkenntnis eigener innerer Kraft. Aus diesem Grund ist es wichtig, zu betrachten, welche Funktion diese Beichtszene in Bezug auf die innere Veränderung Marias hat. Dafür wird das Prinzip der Beichte in theatralischer Hinsicht herausgearbeitet.

1) Das Prinzip der Beichte

Die Beichte ist im christlichen Sinne ein „öffentliches od. geheimes Aussprechen seiner Sünden, in der katholische Kirche Mittel zur Erlangung des Bußsakraments“. 318 Sie ist ein Dialog zwischen zwei Personen. Es findet zwischen einem Beichtenden, der erzählt und einem Zuhörer statt. Der Geistliche hört und sitzt im Beichtstuhl und hört die Beichte an.319 Die Beichte findet meistens in einem geschützten Raum zwischen zwei Akteuren statt. A spricht freiwillig über Dinge, die B nicht kennt. A legt aus freier Entscheidung

315 Vgl. Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«, S. 401. 316 Vgl. V. 3461ff. 317 Vgl. V. 3450: „Doch ihrer wartet noch ein schwerer Kampf“; Vgl. V. 3658: „Dir bleibt ein harter Kampf noch zu bestehen“. 318 Vgl. Gerhard Wahrig †/ Hildegard Krämer / Harald Zimmermann (Hg.): Brockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden, 1. Bd., Stuttgart 1980, S. 573. 319 Vgl. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Bd. 2, Mannheim 1999, S. 502.

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die Beichte ab und B nimmt sie ab.320 Es ist ein Priester in der katholischen Kirche, der das Sündenbekenntnis des Beichtenden anhört und anschließend die Lossprechung erteilt. Dies geschieht in einem besonderen Raum.

A → B

A: Erzähler/in (Beichtende/r), B: Zuhörer (Beichtvater) Beichtraum

Es ist ein geschützter Zeitraum, der von der Außenseite nicht gehört werden kann. In diesem geschlossenen Raum legt A seine Beichte ab. Dementsprechend wird normalerweise weder der Prozess noch der Inhalt des Beichtens Anderen offenbart, denn der Inhalt des Beichtens wird als Geheimnis eines Bekennenden geschützt und der Person, die die zuhörende Position ausübt, der Priester in der katholischen Kirche, ist es verboten, den Inhalt weiterzugeben. Es bestimmt das sogenannte Beichtgeheimnis, dass bewahrt wird, was man beichtet. 321 Die Person B, die als einzige die Beichte von A hört, ist verpflichtet darüber zu schweigen. Unter dieser Bedingung kann A seine Gedanken, Taten und Worte berichten, ohne sich davor zu fürchten, dass ein Dritter den Inhalt der Beichte erfahren kann. Der Beichtende wird innerhalb des Beichtraums vom Zuhörer getrennt, so dass der Inhalt des Bekennenden geschützt ausgesprochen werden und der Bekennende nicht identifiziert werden kann. Der Inhalt der Beichte wird durch das Erzählen von A zu B überliefert. Der Inhalt der Beichte kann sich in diesem Zeitraum auf die persönliche Geschichte, Emotion, Sünde, Dunkelheit,

320 Es ist ein wichtiger Punkt, dass diese Handlung der Beichte die Freiheit des Beichtenden voraussetzt. Im Stück der Maria Stuart hat es die Entschlossenheit Marias, aus freiem Willen den Todesurteil als Buße aufzunehmen. 321 Vgl. Wahrig † u. a. (Hg.): Brockhaus Wahrig, S. 502.

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Ohnmacht oder Schwäche beziehen. Es kann etwas sein, was A bedrückt, dem Gesetz, der Moral und der Pflicht widerspricht und religiösen Geboten entgegensteht. Prinzipiell folgt die Beichtszene in Maria Stuart dem hier illustrierten Prinzip der Beichte. Eine Person legt die Beichte ab, und eine andere nimmt das Gebeichtete auf: Maria bekennt ihre Sünden und Melvil hört ihr als Beichtvater zu.

(2) Die Bedingungen der Beichtszene in Maria Stuart

A → B

(1) Beichtraum

(2) Bühne (3) Zuschauerraum

A: Erzähler (Beichtende), B: Zuhörer (Beichtvater) Konstellation der Beichtszene in Maria Stuart322

Das Schema 4 stellt die Konstellation der Beichtszene in Maria Stuart dar. Die Beichtszene in Maria Stuart ist in theatralischer Hinsicht als ein Dialog zwischen zwei Protagonisten auf der Bühne zu begreifen. Die Besonderheit der Beichtszene liegt darin, dass sie auf der Bühne stattfindet. Sowohl der gesamte Prozess als auch der Inhalt des Bekenntnisses werden dem Zuschauer unmittelbar mitgeteilt. Die Beichte bleibt somit weder innerhalb noch außerhalb des Beichtraumes anonym. B weiß bereits, wer A ist, der spricht. Aber es ist nicht nur B, der es hört. Der gesamte Inhalt wird dem Zuschauer preisgegeben. Es ist paradox, dass der im Prinzip geschützte Dialog der Beichte im öffentlichen Raum dargestellt wird. Das Gespräch findet unter zwei Personen statt, aber durch

322 Die offene Linie bedeutet, dass der Raum auf der Bühne eben kein fest geschlossener Raum ist, sondern von der Außenseite betrachtet werden kann.

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die offene vierte Wand zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum wird alles offenbart, was Maria bekennt. Die Konstellation der Beichtszene, die Schiller offensichtlich beabsichtigt hat, wirkt in zweierlei Hinsichten. Aus der Sicht der Bühne bringt der verborgene Raum der Beichte auf der einen Seite Maria dazu, über die Wahrheit zu sprechen, da das Gespräch an sich unter ihr und Melvil stattfindet. Auf der anderen Seite kann der Zuschauer den gesamten Prozess der Beichte beobachten, von der freien Entscheidung Marias zu beichten bis zur Lossprechung. Außerdem überzeugt der Rahmen des Gesprächs den Zuschauer davon, dass Maria in jenem verborgenen Raum nicht lügt und nur die Wahrheit erzählt. Beispielweise wird durch die Suggestivfrage Melvils offenbart, ob sie an dem Mordattentat an Elisabeth beteiligt war.323 In diesem Moment erscheint das Gespräch zwischen der Beichtenden und Beichtvater wie das zwischen einem Verdächtigen und dem Inquirenten. Melvil bedrängt Maria stark, indem er die Frage wiederholt und prüft, ob sie noch etwas versteckt hält, was nicht bekannt ist. Maria wird nun aufgefordert, die Wahrheit über ihre Tat zu bekennen, nicht nur vor Melvil, sondern auch vor dem Zuschauer. Sowohl die Aufforderung von Melvil an Maria als auch der Rahmen der Beichte machen die Aussage Marias glaubwürdig. Es ist der für die Zuschauer wichtige Moment, indem ihnen bekannt wird, inwieweit Maria schuldig ist. Maria bekennt, dass sie den Mordanschlag an Elisabeth nicht befohlen hat. Dadurch, dass sie die Wahrheit beichtet, wird bewiesen, dass sie zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde. Die bisherige Unklarheit über ihre Schuld wird dadurch beseitigt und ihre Unschuld

323 Vgl. Herrmann: Maria Stuart, S. 84. Herrmann setzt sich mit der Beichtszene nicht spezifisch in theatralischer Hinsicht aus, so dass sie als ein Dialog mit zwei unterschiedlichen Rahmen betrachtet wird: einerseits ein geschlossenes Gespräch unter vier Augen mit geschütztem Raum, andererseits ein offenes Dialog, da die Zuschauer mitbekommen, was auf der Bühne geschieht. Trotz der fehlenden Erklärung mit theatralischen Aspetk wird hier über die Funktion der Beichte erwähnt. Zunächst ist diese Szene eine „willkommene Gelegenheit“ über die Sünde Marias ausdrücklich zu machen. Denn das Verbrechen Marias wird hier veröffentlicht. Die Beichtszene trägt noch dazu bei, die Unschuld Marias glaubwürdig zu machen. Die Protagonistin Maria weist in dieser Szene auf mehrfaches Rückfragen Melvils zurück, ob sie sich an den Mordplan gegen Elisabeth beteiligt habe. Daraus ergibt sich, dass Maria für den Tod ihres Ehemanns unschuldig ist, und dass sie das Todesurteil als ihr Unglück verdient hat.

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dem Zuschauer bekannt gemacht. Das Unglück, unter dem sie leiden muss, hat sie nicht verdient.

(3) Wendepunkt vom Sinnlichen zum Förmlichen

Die Funktion der Beichte liegt zunächst darin, dass man von den Gedanken und Taten, die einen bedrücken, befreit wird, indem man sie ablegt. Abgesehen von der religiösen Bedeutung kann man Abstand davon gewinnen, was man in der Beichte ausspricht. Man legt seine Beichte ab und wird von der Schuld befreit.324 Es sind zwei Handlungen, die während der Beichte geschehen und die auch miteinander verbunden sind. Maria weist selbst darauf hin, dass sie beichtet, um „sich frei und freudig zu erheben“ (V. 3585). Darüber hinaus wirkt die Beichte darauf hin, den Beichtenden wieder zur Regel und zum Gebot zurückzuführen. Der Inhalt der Beichte wird im religiösen Sinne als Sünde bezeichnet, doch es sind die Gedanken und Taten, die dem Gebot oder der Regel nicht entsprechen. Man wird gefordert, die sogenannten dem Gebot nicht passenden Taten zu vermeiden und wieder nach dem Gebot zu handeln. In diesem Sinne ist die Beichte Marias ein Wendepunkt vom Sinnlichen zum Förmlichen. In der Beichtszene wendet sich Maria von ihren bisherigen Taten ab und hin zu Regel und Gebot. Der Inhalt der Beichte kann als sinnlicher Trieb im Sinne Schillers gekennzeichnet werden. Es sind verschiedene Affekte wie Hass, Neid oder Liebe, die sich entweder auf die Sinnlichkeit beziehen, oder dem Gebot und Pflicht widersprechen. Maria nimmt Abstand von der sinnlichen Kraft, die ihre früheren Taten motiviert hat.325 Ihre frühere Blutschuld, ihren eigenen Gatten ermorden zu lassen, und ihre Untreue als Ehefrau, die sie als dritte Sünde bekennt, sind die Taten, bei denen sie nicht gemäß den Geboten und

324 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 229: Guthke erklärt, dass Maria durch die Absolution am Ende der Beichte über die gebeichteten Sünden hinausgegangen sei. 325 Die sinnliche und erotische Komponente Marias wird im Rahmen der Beichte vollends offenkundig gemacht, indem sie nach jene Komponente geleitete Taten bekennt. Durch diesen Prozess der Beichte verabschiedet sich Maria von ihrem „Schatten der Vergangenheit“, die ihre Sinnlichkeit bezeichnet. Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 505 u. 509.

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Pflichten gehandelt hat. Maria wird durch die Beichte nicht nur vom sinnlichen Verhalten, das man bekennt, befreit. Darüber hinaus wird Maria gleichzeitig aufgefordert, wieder zum verlassenen Weg des Gebots und der Pflicht zurückzukehren. Sie wird von Melvil stets gefragt, ob sie an dem Mordversuch an Elisabeth beteiligt war. Durch ihre Antwort wird bestätigt, dass sie unschuldig ist. Aber sie entscheidet sich trotz ihrer Unschuld, (in dieser Sache) unverdient den Tod zu erleiden. Sie gibt sich als Opfer für die vergangenen Taten hin.326 Die Entscheidung Marias, trotz ihrer Unschuld freiwillig den Tod auf sich zu nehmen, ist weder ein Akt des Selbsterhaltungstriebs noch der Sinnlichkeit. Vielmehr ist es ihr freier Wille, der ihr Verhalten steuert. In diesem Sinne geschieht in der Beichtszene ein Wandlungsprozess. Maria, die sich von sinnlicher Kraft leiten ließ, lässt sich nun durch die Beichte zu Gesetz, Pflicht, Gebot und Form zurückbringen und gewinnt dadurch die Gemütsfreiheit und entscheidet, den Weg gleichsam des Formtriebs zu wählen. Die Beichte trägt funktionell dazu bei, dass man sich wieder vom Sinnlichen zum Förmlichen wenden kann. 327 Dies geschieht, unabhängig von der Frage, ob dabei eine religiöse Kraft gewirkt hat. Darüber hinaus gewinnt Maria innere Freiheit, die weder von der Sinnlichkeit noch vom Erhaltungstrieb abhängig ist. Sie hat keine Angst mehr vor dem kommenden Tod. Ihre Aussage: „Ich fürchte keinen Rückfall. Mein Haß / Und meine Liebe. Hab ich Gott geopfert.“ (V. 3761f.) erklärt auch, dass sie ihre

326 Vgl. Herrmann: Maria Stuart: „Zu Schillers Konzeption der Figur gehört eine besonders hochgespannte Verantwortlichkeit der Heldin, die die objektiv ungerechte Verurteilung freiwillig akzeptiert, als Buße für die noch ungeahndete, weit zurückliegende „schwere Blutschuld“ (3736)“; Vgl. Nikolas Immer: Der Inszenierte Held, Schillers dramenpoetische Anthropologie, Heidelberg 2008, S. 363: „Indem sie [Maria] Melvil gesteht, keine Schuld an den verübten Anschlägen auf Elisabeth zu tragen, dafür aber das vergangene Verbrechen an Darnley mit dem eigenen Tod sühnen will, wird ihre Opfterrolle signalhaft herausgehoben.“ 327 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 507: Alt behauptet, dass Maria in der Abendmahlszene, (die die Beichtszene miteinschließt,) als schöne Seele gezeigt wird, und verbindet ihre Erscheinung mit den Begriffen der Anmut und der Würde. Aber seine Beschreibung der Funktion der Beichte bezieht sich mehr oder weniger auf den Begriff des Erhabenen. Er sieht, dass Maria in jener Szene sich „im Gestus einer moralischen Überlegenheit“ befindet, was dem Begriff des Erhabenen entspricht. Darüber hinaus meinte er, dass die Beichte Maria ermöglicht hat, ihr Leben zu reflektieren und die moralische Bilanz gebracht hat. Mehr über die Erscheinung der Maria: Vgl. Kapitel III. 2. 2. 2.

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Sinnlichkeit durch die Beichte abgegeben hat, von ihr Abstand gehalten und sich geändert hat. Die innere Bereitschaft zum Tod zeigt, dass sie sich nicht vom Selbsterhaltungsprinzip steuern lässt. Wie sie sich im Verhältnis zu anderen verhält, zeigt auch, dass sie nun von ihren Affekten befreit ist. Sie versöhnt sich mit Paulet in der der Beichte folgenden Szene.328

(4) Die Möglichkeit des absoluten freien Willens

In der Beichtszene wird die Möglichkeit des absoluten freien Willens durch die Entscheidung Marias dargestellt, freiwillig ihren Tod auf sich zu nehmen. Es ist offenbar, dass Maria nicht an dem Attentat an Elisabeth beteiligt war. Das Todesurteil ist als falsch bewiesen und Maria hat ihren Tod nicht verdient. Trotz ihrer Unschuld (in dieser Sache) äußert sie am Ende der Beichte, dass sie den Tod hinnehmen wolle. Es ist ein entscheidender Punkt, dass sie an dem Moment der Offenbarung die Aussage trifft, ihren Tod freiwillig zu akzeptieren.

»MELVIL. So steigst du, überzeugt Von deiner Unschuld, auf das Blutgerüste?

MARIA. Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen.«329

Wenn sie Melvil gesagt hätte, dass sie an dem Mord indirekt teilgenommen habe, wäre das Todesurteil gerechtfertigt gewesen, denn sie hätte dieses dem damaligen Rechtsverständnis nach verdient. Aber ihre Entscheidung wird als eine Wahl aus innerer Freiheit betrachtet, weil sie sich als unschuldig erweist und trotzdem das unverdiente Todesurteil auf sich nimmt. Trotz ihrer physischen Ohnmacht akzeptiert sie den Tod, um Buße zu tun. Es geht nicht darum, dass sie diese Entscheidung treffen konnte, weil sie sich

328 Vgl. V. 3789-3793. 329 V. 3727-3736.

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vor dem Tod nicht fürchtete, sondern darum, dass sie durch die Beichte innere Freiheit gewonnen hat. In diesem Moment ist sie nicht mehr das Sinnenwesen, das nach Emotion, Gefühl und Affekt handelt. Sie hat einen inneren freien Raum gewonnen, indem sie ihre Sinnlichkeit bei der Beichte abgelegt hat und davon befreit ist. In dieser Freiheit kann sie nun ihren Tod annehmen. Sie hat von der Sinnlichkeit Abstand genommen und sich an Gebot und Pflicht orientiert. Es ist auch wichtig, dass sie ihre Entscheidung noch vor der Lossprechung des Beichtvaters getroffen hat. Das heißt, sie hat sich ganz unabhängig sowohl von ihrer physischen Ohnmacht als auch von der Meinung des Beichtvaters völlig frei entschieden. Sie ist hier auf einmal vom Sinnenwesen zum Erhabenen aufgestiegen und hat sich zu einer erhabenen Figur verändert. Die Möglichkeit des absoluten freien Willens wird dem Zuschauer durch die Erscheinung der Maria als einer erhabenen Figur dargestellt.330 Die Möglichkeit des absoluten freien Willens ist insofern wichtig, als sie konkret die Konzeption des Erhabenen verwirklicht. Sie bietet auch Hinweise für die bisherige – im nächsten Schritt nachzuvollziehende – Debatte um Maria. Die Frage nach dem Typus der Maria, d. h. ob sie sich entweder zu einer „schöne[n] Seele“ oder zur „erhabenen Figur“ verwandelt hat, kann auch beantwortet werden. Wie Maria bereits vor der Beichte angedeutet hat, vermag sie „sich frei und freudig zu erheben“ (V. 3585). Sie wurde durch die Beichte zum Erhabenen erhöht, was es ermöglicht, dass sie ihre Sinnlichkeit ablegt und unabhängig von ihrer physischen Schwäche eine freie Wahl trifft. Der Zweck der

330 Es ist nicht nur Maria, die die Konzeption des Erhabenen verkörpert. Im Stück sind außer der Beichtszene bereits einige Stellen vorhanden, in denen die Figuren die Möglichkeit des absoluten freien Willens darstellen. In der Figur Paulet wird eine Möglichkeit gezeigt, unabhängig von Sinnen handeln zu können. Als Hüter der Maria wurde ihm aufgetragen, sie im Kerker seines Schlosses gefangen zu halten. Er zeigt sich emotional gegen sie, aber als Burleigh ihn zwingt, sie heimlich umzubringen, verweigert es. Hier handelt er nicht nach der Emotion oder äußerlichen Zwängen, sondern nach dem Gesetz, Pflicht und Vernunft. Es wird damit gezeigt, dass es möglich sei, unabhängig von Staat, Macht und seinen eigenen Emotionen zu handeln. Vgl. V. 1065-1076; Talbot fordert von Elisabeth, unabhängig von ihrer Emotion gegen Maria, sie zu befreien. Er meint, dass sie trotz ihrer Ängste vor der Gefahr und Hass gegen Maria nach dem freien Willen handeln kann. Vgl. V. 1330-1341; Im gleichen Sinne spricht Maria bereits bei der ersten Begegnung mit Mortimer, dass nur der freie Wille der Elisabeth sie befreien kann. Vgl. V. 665f.

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Beichtszene liegt nicht darin, Maria durch die göttliche Kraft zu einer Märtyrerin zu verwandeln, sondern die Möglichkeit zu zeigen, dass man nicht nach den Sinnen, sondern nach seinem Willen handeln kann. Die Kritik daran, dass Schiller durch die Beichtszene eine Märtyrerin dargestellt habe, kann durch die Entscheidung der Maria erklärt werden.

1.2.2. Maria als erhabene Figur: Eine plötzliche Wandlung oder ein langer Prozess

(1) Zwei Interpretationen der Erscheinung Marias im fünften Akt

Es gibt zwei verschiedene Forschungspositionen im Hinblick auf den inneren Zustand Marias im letzten Akt. Ihre Erscheinung kann je nach Interpretation mit den unterschiedlichen theoretischen Begriffen Schillers definiert werden, die in einem dualistischen Verhältnis zueinanderstehen. Auf der einen Seite wird Maria als „schöne Seele“ betrachtet, in der die kontroversen Begriffe wie z. B. „das Sinnliche und Vernünftige, Trieb und Vernunft, Natur und Gesetz, empirisches und intelligibles Selbst, Naturtrieb und Stofftrieb“ 331 miteinander versöhnt werden und sich im Schönen harmonisieren. 332 Diese Deutung folgt der Konzeption Schillers in Ueber Anmuth und Würde (1793) und sieht die veränderte Maria als Sinnbild der harmonischen Verfassung des Individuums. Auf der anderen Seite wird die Erscheinung Marias im letzten Akt im Hinblick auf die Konzeption des Erhabenen verstanden. 333 Hier wird die Darstellung Marias als die Befreiung von ihrem Sinnlichen gedacht. Maria verzichtet auf das bisherige sinnliche Verhalten, indem sie es in der Beichte ablegt.

331 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 212f. 332 Vgl. Herrmann: Maria Stuart, S. 84: Herrmann interpretiert in diesem Sinne, dass der Zweck der Abendmahlszene im 7. Auftritt des 9. Akts darin besteht, „Versöhnung zwischen „Irdischem“ und „Göttlichem“ im Menschen darzustellen“. 333 Vgl. Gert Vonhoff: »Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen (1801)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch, S. 153-168, hier S. 159, später als „Vonhoff: »Maria Stuart«“ bezeichnet.

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In dieser Arbeit wird Marias Erscheinung als Erhabenheit betrachtet. Die Erscheinung Marias im fünften Akt zeigt deutlich ihre Befreiung von der Sinnlichkeit bzw. den Weg zum Erhabenen. In der Beichte hat sie ihre sinnliche Seite wie Hass, Liebe und Schuldgefühl abgelegt und entscheidet, freiwillig den Tod auf sich zu nehmen. Dazu äußert Maria im letzten Moment mehrmals, dass sie nichts mehr an die irdische Welt binde (5. Akt, 9. Auftritt V. 3815f u. V. 3838). Das zeigt ihre innere Freiheit von der Sinnlichkeit und Entschlossenheit zum Erhabenen.334 Vonhoff weist auch darauf hin, dass die Regieanweisungen und die auffälligen Attribute, die sie verwendet, die Erhabenheit des Moments zeigen. 335 Beispielweise tritt Maria im 6. Auftritt des 5. Akts „mit ruhiger Hoheit im ganzem Kreise herumsehend“ auf und sagt von sich: „Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, / Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele“ (V. 3493f). Das Wort „Würde“ ist ein Wort, das auf das Erhabene verweist. In diesem Sinne können Marias Verzicht auf Rache und ihre Annahme des Todes nicht anders als erhaben bezeichnet werden.

(2) Zur Plötzlichkeit der Wandlung Marias

Marias Wandlung zur erhabenen Figur im fünften Akt scheint sich zunächst entsprechend dem schillerschen Begriff des Erhabenen zu vollziehen. In der Schrift Über das Erhabene erklärt Schiller, dass das Erhabene uns „einen Ausgang aus der sinnlichen Welt [schaffe], worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte.“

»Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte. Nicht allmählig (denn es gibt von der Abhängigkeit keinen Uebergang zur Freyheit), sondern plötzlich und durch eine Erschütterung, reißt es den selbstständigen Geist aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn umstrickte, und das um so fester bindet, je durchsichtiger es gesponnen ist.«336

334 Vgl. Vonhoff: »Maria Stuart«, S. 159. 335 Vgl. ebd. 336 NA 21, S. 45.

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Das Erhabene geschieht auf einmal, denn es gibt von der sinnlichen und physischen Abhängigkeit keinen Übergang zur moralischen Freiheit. Am Beginn des fünften Akts berichtet die Amme Kennedy, dass Marias Wandlung auf einmal geschehen sei. Sie erzählt, man „löst sich nicht allmählig von dem Leben! / Mit einem Mal, schnell augenblicklich muß / Der Tausch geschehen zwischen Zeitlichem/und Ewigem“.337 Es wird keine ausführliche Erklärung geliefert, wie dieser Wandel geschehen ist. Erwähnt wird nur: Maria „fühlt sich stark, sie täuscht ihr Heldenmut.“ 338 In der Tat erscheint Maria so, wie es über sie berichtet wird. Sie hält auf einmal von der irdischen Welt Abstand und fürchtet sich nicht vor der kommenden Hinrichtung.

» […] Bei ihrem Eintritt weichen die Anwesenden zu beiden Seiten zurück, und drücken den heftigsten Schmerz aus. […]

MARIA (mit ruhiger Hoheit im ganzen Kreise herumsehend). Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet Ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel Nun endlich naht, daß meine Bande fallen, Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich Auf Engelsflügeln schwingt zur ew’gen Freiheit. […] Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele!«339

Marias Erscheinung ist völlig anders als jene im ersten und dritten Akt, als sie versuchte, das Todesurteil zu umgehen. Sie erweckt den Eindruck, als hätte sie sich bereits von der irdischen Welt verabschiedet. Auffällig ist der Kontrast zwischen den trauernden Dienerinnen und der standhaften Maria. Es ist eine wichtige Szene, da „die Darstellung der leidenden Menschen“ und gleichzeitig „die Darstellung des Widerstandes gegen das Leiden“ auf der Bühne gleichzeitig

337 V. 3402-3409. 338 V. 3448. 339 Regieanweisung vor V. 3480, V. 3480-3484 u. 3493f.

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beobachtet werden kann. 340 Dadurch wird die Veränderung der Maria noch deutlicher exponiert.

(3) Der Weg zum Erhabenen, ein langer Lernprozess

In Maria Stuart wurden die theoretischen Begriffe Schillers mit anderen Worten umgesetzt – gleichsam in bühnentauglichen Synonymen. Das Sinnliche wird als das „Irdische“, und das Förmliche als das „Himmlische“ konnotiert. Daher werden die Figur der Maria und der Prozess ihrer inneren Änderung mit beiden Worten dargestellt. So wird etwa Marias Verzicht auf die irdische Welt im Stück als Befreiung von ihrer Sinnlichkeit beschrieben und gleichzeitig als Schritt zum Himmlischen konnotiert. Dieser Prozess vom Irdischen zum Himmlischen geschieht jedoch im Laufe des Stücks nicht einmalig, sondern verläuft auch rückwärts und wiederholt sich. Dies wird in konkreter Weise im Stück formuliert, indem Maria zunächst als eine sinnliche Figur unter den verschiedenen Affekten leiden muss, aber schließlich davon Abstand nimmt und sich davon befreit. Trotz ihrer Entschlossenheit bezieht sie sich immer wieder auf die irdischen Dinge, die sie zuvor losgelassen hat. Maria scheint sich von der irdischen Welt befreit zu haben, jedoch kehrt sie sich wieder in die irdische Welt zurück. Sie erklärt Melvil, dass sie sich mit alles Irdischen erledigt habe und sich nur eins wünsche, nämlich die Versöhnung mit Gott durch die Beichte nach ihrem Glauben, bevor sie sich von der irdischen Welt verabschiedet und in die himmlischen Welt eintrete.341 Trotz der inneren Veränderung Marias zu Beginn des fünften Akts liegen noch einige Schritte vor ihr auf dem Übergang vom Irdischen zum Himmlischen. Beispielweise nimmt sie in der Tat mehrmals Abschied von der Welt, seitdem sie im fünften Akt erstmals auftritt. Sie verabschiedet sich von ihren Dienerinnen, indem sie unter ihnen ihren Schmuck verteilt und vergibt Margereth, deren Mann eine falsche

340 Vgl. NA 20, S. 199. 341 Vgl. V. 3585-3594: „Ich stehe an dem Rand der Ewigkeit, / Bald soll ich treten vor den Höchsten Richter, / Und noch hab’ ich den Heil’gen nicht versöhnt. [...] Im Glauben meiner Kirche will ich sterben,“

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Zeugenaussage über ihre Taten gemacht hat. Darüber hinaus legt sie noch bei Melvil ihre Beichte ab, in der sie sich von den bisher abhängigen Emotionen und Gedanken loslöst. Kurz vor der Hinrichtung scheint sie zunächst nicht mehr von ihren Sinnen abhängig zu sein, nachdem sie in der Beichte entschieden hat, freiwillig den Tod anzunehmen. Der innere freie Raum, den sie gewonnen hat, nachdem sie ihre Sinnlichkeit abgelegt hat, öffnet ihr eine neue Perspektive. Sie lässt sich nicht mehr von ihrem Hass und Rachegefühl führen, sondern tut das Gegenteil. Sie bittet nicht für sich, sondern um Sicherheit für ihre Dienstleute. Sie nimmt Abschied von ihren bisherigen Gegnern und geht Schritte der Versöhnung. Sie lässt ausrichten, dass sie Elisabeth für ihren Tod von ganzem Herzen vergibt und sie und ihre Regierung segnet.342 Die Beichtszene scheint es ermöglicht zu haben, sie innerlich von der Sinnlichkeit zu befreien und ihre Entschlossenheit zu befestigen. Sie fühlt keine Verbindung mehr mit der Welt und bereitet sich auf ihren letzten Weg vor. Auf dem Weg zur Hinrichtung bekennt sie Folgendes: „Nun hab' ich nichts mehr / Auf dieser Welt“.343 Diese Aussagen sind Ausdruck dessen, dass sie sich von allen irdischen und sinnlichen Dingen verabschiedet hat. In diesem entscheidenden Moment, als sie den letzten Weg zur Hinrichtung antritt, wird etwas Auffälliges dargestellt, was ihrer letzten Aussage widerspricht. Die kleine Szene, in der Maria ihrem Geliebten Leicester begegnet, zeigt, dass der Weg zum Erhabenen keine einmalige Erscheinung, sondern ein langer Werdegang ist.

»MARIA. ([…] Bei diesem Anblick zittert Maria, die Knie versagen ihr, sie ist im Begriff hinzusinken, da ergreift sie Graf Leicester, und empfängt sie in seinen Armen. Sie sieht ihn eine Zeitlang ernst und schweigend an, er kann ihren Blick nicht aushalten, endlich spricht sie.) Ihr haltet Wort, Graf Leicester – Ihr verspracht Mit Euren Arm, aus diesem Kerker mich Zu führen, und Ihr leihet mir ihn jetzt! (Er steht wie vernichtet. Sie fährt mit sanfter Stimme fort.) Ja, Leicester, und nicht bloß Die Freiheit wollt ich Eurer Hand verdanken. Ihr sollet mir die Freiheit teuer machen,

342 Vgl. V. 3543ff, 3569-3580 und 3783ff. 343 Vgl. V. 3815f.

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An Eurer Hand, beglückt durch Eure Liebe, Wollt' ich des neuen Lebens mich erfreun. Jetzt, da ich auf dem Weg bin, von der Welt Zu scheiden, und ein sel'ger Geist zu werden, Den keine ird'sche Neigung mehr versucht, Jetzt, Leicester, darf ich ohne Schamerröten Euch die besiegte Schwachheit eingestehn ‒ Lebt wohl, und wenn Ihr könnt, so lebt beglückt! Ihr durftet werden um zwei Königinnen, Ein zärtlich liebend Herz habt Ihr verschmäht, Verraten, um ein stolzes zu gewinnen. Kniet zu den Füßen der Elisabeth. Mög' Euer Lohn nicht Eure Strafe werden! Lebt wohl! – Jetzt hab' ich nichts mehr auf der Erden!«344

Maria begegnet ihrem ehemaligen Geliebten Leicester auf dem Weg zur Hinrichtung. Maria zittert und ist „im Begriff [auf die Knie] hinzusinken“, als sie in Leicesters Augen blickt. Ihre körperliche Reaktion zeigt, dass sie innerlich aufgewühlt ist. Diese Reaktion bei der Begegnung mit Leicester ist widersprüchlich zu dem, was sie im siebten Auftritt des fünften Akts erwähnt hat: „Es [die Liebe zu Leicester] war der schwerste Kampf, den ich bestand, / Zerrissen ist das letzte ird’sche Band.“345 In der Beichte bekennt sie, dass sie die Zuneigung zu Leicester überwunden habe. Dazu war sie kurz vor der Begegnung davon überzeugt, dass sie keinen Anteil mehr an der irdischen Welt habe.346 An dem Punkt zeigt sie sich jedoch als Mensch, der noch innerlich erregt werden kann,347 was bereits zu Schillers Lebzeiten kritisiert wurde.348 Es zeigt sich hier, dass die Läuterung Marias nicht primär mit der Konzeption der schönen Seele zu tun hat, sondern mit dem Erhabenen. Sie spricht Leicester mit der sanften Stimme an und wünscht ihm Glück im Leben,

344 Regieanweisung nach V. 3818, V. 3819-3838. 345 V. 3690f. 346 V. 3815f. 347 Es ist umstritten, ob Maria im Stück als eine erhabene Figur oder schöne Seele erscheint. Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 227; Vgl. ders., »Maria Stuart«, in: Koopmann (Hg.): Schiller- Handbuch, S. 415-441, hier S. 434f; Dennoch unabhängig von dieser Fragestellung gibt es in der Tat mehrere Hinweise auf ihre Rückfälle in die Leiblichkeit des Lebens aufgrund der Begegnung mit Leicester. Vgl. Vonhoff: »Maria Stuart«, S. 157. 348 Vgl. Herrmann: Maria Stuart, S. 85.

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gibt ihm aber kein Wort der Versöhnung. Sie distanziert sich von der Zuneigung zu ihm, indem sie sein Verhalten ironisch und kritisch darstellt. Sie erwähnt, dass er sie aus dem Gefängnis führe, wie er ihr versprochen habe, aber nicht in die Richtung zum neuen Leben mit ihm, sondern zur Hinrichtung. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass er sie verraten habe, um Elisabeth zu gewinnen. Maria empfindet das Verhalten Leicesters als negativ, aber sie lässt sich nicht davon emotional beeinflussen, sondern positioniert sich autonom gegenüber Leicester und der Zuneigung zu ihm. Das heißt, es bleibt, was sie als physisches Wesen wahrnimmt, aber es gelingt ihr, einen inneren freien Raum zu schaffen, der unabhängig von ihrer sinnlichen Schwachheit oder Ohnmacht steht. Durch diesen langen Prozess gewinnt Maria die Erkenntnis der inneren Freiheit und die Kraft, trotz ihrer Schwäche gegen das Leiden zu widerstehen. Hier werden die Darstellung der leidenden Natur und des Widerstandes gegen das Leiden zusammen dargestellt. Die Darstellung des Erhabenen wird vollendet, indem ihre allerletzte Aussage auf der Bühne ausgesprochen wird: „Jetzt hab’ ich nichts mehr auf der Erden!“ (V. 3837) Hier endet ein Prozess der Befreiung von den Affekten, die sie noch in der sinnlichen Welt hatte und eine Vorbereitung und ein Werdegang hin zur „echten“ erhabenen Figur. Dazu zeigt der lange Weg zum Erhabenen dem Zuschauer, dass man diesen zu gehen im Laufe der Zeit erlernen kann. Darüber hinaus zeigen die Kontrastbilder beider Königinnen, dass Maria im Laufe der Zeit eine innere Freiheit gewinnt, wohingegen Elisabeth von ihren sinnlichen Trieben stets besessen ist und unfrei bleibt. Es ist auch kein Zufall, dass die Hinrichtung Marias gleichzeitig nicht das Ende des Stücks ist. Nach der Exekution wird Elisabeth im englischen Hof gezeigt. Es wird dargestellt, dass sie von ihren Diener verlassen wird. Im Gegensatz zu Maria, die gestorben, aber innerlich frei geworden ist, bleibt Elisabeth, die geglaubt hat, durch Marias Hinrichtung von den Ängsten vor der Bedrohung ihrer Macht befreit zu werden, einsam, leer und verlassen und letztlich unfrei.

(4) Schillers Menschenbild und Darstellung des menschlichen Helds

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Karl S. Guthke sucht nach einem bestimmten Moment, in dem Maria sich von der lebenslustigen Genießerin ihrer Macht und Anziehungskraft zur weltabgewandten Büßerin wandelt.349 Er versucht, die sich ihm selbst stellende Frage zu beantworten, indem er die Wandlung Marias entweder als eine Charakterentwicklung oder als einen Charakterbruch zu verstehen versucht. Er setzt sich mit der Läuterung Marias Szene für Szene auseinander, aber die Fragestellung bleibt unbeantwortet.350 Es gibt weder Spuren noch Merkmale, die helfen, Marias Wandlung entweder als Charakterentwicklung oder Charakterbruch zu definieren. Zunächst bemüht er sich im Hinblick auf die Charakterentwicklung darum, den genauen Zeitpunkt der Läuterung herauszufinden, findet jedoch keinen eindeutigen Anhaltspunkt. 351 Es gibt einige Momente im Stück, die im Prozess zum Erhabenen wichtige Etappen bilden. So wirkt etwa die Beichtszene als Wendepunkt vom Sinnlichen zum Förmlichen. Dennoch geht Maria den Weg zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen bis zum Ende des Stücks hin und her. Hinter diesem Versuch, einen bestimmten Moment der vollkommenen inneren Transformation Marias herauszufinden,352 steht die Idee, dass Maria absolut standhaft und unabhängig von der Sinnlichkeit bleibe, nachdem sie sich verändert. Das hieße, Maria wäre nach der Veränderung nicht mehr vom Physischen und Irdischen abhängig und verbliebe gleichzeitig als absolut geistliches und vom Irdischen unabhängiges Wesen, das einem ethisch- religiösen Imperativ entsprechen soll.353 Das ist aber unmöglich, da Maria sich kurz vor der Hinrichtung als sinnliches Wesen zeigt. Die Beichte ist ein wichtiger Moment für Marias Läuterung. Sie lehnt dort ihre bisherigen der Sinnlichkeit geschuldeten Taten ab und entscheidet sich dazu, freiwillig ihren Tod anzunehmen. Diese Entscheidung bedeutet aber nicht, dass sie kein physisches Wesen mehr sei. Sie erkennt es selbst nicht, aber trotz ihrer Aussage, „ich habe

349 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 221. 350 Vgl. ebd., S. 232. 351 Vgl. ebd. 352 Ebd. 353 Vgl. ebd., S. 221.

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nun nichts mehr auf dieser Welt“ ist sie stets ganz Mensch, der sowohl Vernunft, als auch Sinnlichkeit hat. Marias Unbeständigkeit, die Guthke als „Auf und ab“ bezeichnet,354 und ihre sich immer wiederholende Rückkehr zur irdischen Welt spiegelt Schillers Vorstellung des Menschen wider. Die letzte Abschiedsszene mit Leicester zeigt, dass es für den Menschen schwierig ist, vollkommen unabhängig von seinen Sinnen zu sein, weil man ein physisches Wesen ist. Darüber hinaus ist vorgesehen, dass Maria direkt bei der Hinrichtung ihre Ängste zeigen kann, was im Stück weder szenisch dargestellt noch berichtet wird. Der Leibarzt von Maria, Burgoyn, weist bereits am Beginn des letzten Akts darauf hin, dass die sinnliche Reaktion des Menschen unvermeidbar und man gegenüber der Bedrohung bei der Hinrichtung physisch schwach sei.

»MELVIL. Wie? Ist der Königin nicht wohl?

BURGOYN. Sie fühlt sich stark, sie täuscht ihr Heldenmut. Und keiner Speise glaubt sie zu bedürfen, Doch ihrer wartet noch ein schwerer Kampf, Und ihre Feinde sollen sich nicht rühmen, Dass Furcht des Todes ihre Wangen bleichte, Wenn die Natur aus Schwachheit unterliegt.«355

Die Aussage Burgoyns spiegelt das anthropologische Menschenbild des Dramatikers wider.356 Die ambivalente Seite des Wesens des Menschen, der grundsätzlich aus Körper und Geist besteht, wird konkret dargestellt. Aus diesem Grund ist das physische Leiden für den Menschen als Sinnenwesen nicht zu

354 Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 232. 355 V. 3447-3453. 356 Schiller war selbst Arzt. In Stuttgart beendete er sein Medizinstudium und bereits in dieser Zeit interessierte er sich für das anthropologische Wissen vom Menschen. Er hat den Menschen als Wesen aus Körper und Geist verstanden. Das Menschbild Schillers aus dem Sinnlichen und Vernünftigen geht auf seine Dissertation zurück und wurde weiter in seiner ästhetischen Schrift geprägt. Vgl. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 156-166; Dieser Dualismus zwischen Körper und Geist, Emotion und Vernunft, Sinnlichkeit und Form ist auch in den theoretischen Gedanken Schillers zu finden.Vgl. ebd., Bd. 2, S. 505.

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vermeiden, obgleich man geistig bereit ist, das Leiden anzunehmen. In diesem Sinne muss Maria bei ihrer Hinrichtung trotz ihres Heldenmuts und Entschlossenheit die physische Schwäche der Natur erleben. Maria bleibt bis zum Ende ihres Lebens ‚ganzer Mensch’. Der Rückfall Marias zum Irdischen hin ist weder Zufall der theatralischen Szene noch steht sie im Widerspruch zum Erhabenen, sondern sie ist eine gewollte Darstellung des Dramatikers. Es ist Schillers Absicht, dass Maria bis zuletzt ein fühlender Mensch bleibt und nicht als absolut erhabene Heroine erscheint. 357 Man kann sich nie von seiner Sinnlichkeit trennen, solange man einen Körper besitzt, nämlich bis zum Tod. Schiller gelingt es, durch die Figur der Maria sich einerseits von der Bewunderungsästhetik abzugrenzen und andererseits ein neues Menschenbild darzustellen. Wenn Maria nach der Beichte – spätestens nach der Entscheidung zum Tod – als standhaft dargestellt würde, wäre sie nichts als ein Gegenstand der Bewunderung, was jedoch nicht der Dramentheorie Schillers entspricht. „Die fragile Natur Marias“358 kann nicht nur als negativ bezeichnet werden, sondern sie entspricht der dramenpoetologischen Konzeption Schillers, der die Bewunderungsästhetik ablehnt. Darüber hinaus entspricht die Darstellung der Maria Schillers Menschenbild. Trotz der Entscheidung und Wandlung Marias bleibt sie grundlegend Mensch, der sowohl physisch als auch geistig ist. Es geht in der Darstellung der Figur der Maria nicht um eine makellose „ethisch- religiöse“ Figur,359 die nur nach der Idee, dem Gesetz und aus Vernunft handelt. Vielmehr wird hier ein Menschenbild verwirklicht, das physische Ohnmacht und Schwäche besitzt, sich aber stets aus freiem Willen entscheiden und handeln kann. Das ist der Punkt, den Schiller in Marias Figur darzustellen versucht: Einen Menschen, der aufgrund der physischen Ohnmacht leidet, aber kraft der inneren Freiheit des Geistes unabhängig vom Leiden handeln kann – der erhabene Mensch.

357 Es ist typisch für Schiller, wie er seine edelste Figur allzumenschlich darstellt, ohne ihn zu unterschätzen. Vgl. Vonhoff: »Maria Stuart«, S. 158, zitiert nach Guthke: Schillers Dramen, S. 232f. 358 Vgl. Guthke, ebd., S. 233. 359 Vgl. ebd., S. 221.

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2. Zusammenfassung – Rückwirkung des Dramas auf die Dramentheorie

Anhand von Schillers Drama Maria Stuart konnte nachvollzogen werden, wie Schiller die Konzeption des Erhabenen literarisch umsetzt und wie er die dramenpoetologischen Elemente einsetzt, um sich von der Dramenästhetik seiner Vorgänger abzusetzen. Die literarische Umsetzung der Konzeption des Erhabenen entspricht zunächst den bis dahin vorliegenden dramentheoretischen Vorstellungen Schillers, wurde jedoch anders als die theoretische Konzeption formuliert, indem das Erhabene auch als problematisch dargestellt wurde. Darüber hinaus lässt sich aber auch in Bezug auf die wechselseitige Wirkung zwischen den drei Komponenten, die am Beginn der Arbeit vorgestellt wurden, Dramentheorie, Drama und Inszenierung zeigen, wie das Drama die Dramentheorie beeinflusst hat. Schillers theoretische Schrift Über das Erhabene, die nach der Abfassung der Maria Stuart entstand, kann diese Rückwirkung vom Drama in die Dramentheorie hinein bestätigen.

(1) Neuer Heldentypus, unabhängig von Bewunderung- und Mitleidsästhetik

Schiller schafft mit der Figur der Maria einen neuen Heldentypus, der sich sowohl von der Bewunderungsästhetik als auch von der Mitleidsästhetik abgrenzen lässt. Einerseits wird Maria als eine fehlerhafte menschliche Figur vorgestellt, indem sie bereits am Beginn des Stücks als Sünderin auftritt und bei der Begegnung mit Elisabeth als sinnlicher und physischer Mensch auftritt. Dadurch wird verhindert, dass sie als Gegenstand der Bewunderung hingestellt wird. Andererseits tritt Maria im letzten Akt als würdige Königin auf und zeigt ihre Standhaftigkeit sogar bei der Gewissheit des nahen eigenen Todes. Dies verhindert den Zuschauer, mit ihr Mitleid zu haben. Außerdem zeigt sie sich auch als ein vernünftiger Mensch vor den Hofleuten der Elisabeth, die sie sich als listige Verführerin vorgestellt hat. Die Komplexität und die Vielfältigkeit des Charakters der Maria erzeugt einerseits ein unbestimmtes und undeutliches Figurenbild, zeigt aber dadurch andererseits die potenzielle Kraft zum Erhabenen. Das Figurenbild Marias setzt die anthropologische Vorstellung

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Schillers voraus, die den Menschen als ein gemischtes Wesen aus Körper und Geist, Emotion und Vernunft versteht. Darüber hinaus unterscheidet Schiller die Darstellung der Erhabenen vom Zustand der reinen Sinnlichkeit und von der Bewunderungsästhetik, indem die leidenschaftliche Haltung Marias bei der Begegnung mit Elisabeth gezeigt und die Bewunderung Mortimers kritisch dargestellt wird. Der Widerstand Marias gegen Elisabeth kann nicht als eine das Gefühl des Erhabenen hervorrufende Tat interpretiert werden, denn ihr innerer Zustand besteht nicht aus geistiger Kraft, sondern aus starken sinnlichen Affekten des Hasses und des Zorns, die aus der Konkurrenz um den Geliebten entstanden sind. Dazu wurde anhand der Haltung Mortimers gegenüber Maria gezeigt, wie der Affekt der Bewunderung im Laufe der Zeit zum Wahnsinn und zur gewalttätigen Begierde werden kann. Die Gefahr, die in der Bewunderungsästhetik steckt, wird implizit problematisiert. Maria wird von Mortimer am Anfang als Objekt der Verehrung wahrgenommen, aber bald als Preis, den er nach ihrer Rettung gewinnen könne, erkannt und später zum sinnlichen Objekt der Lust und des Besitzes verwandelt. Ihr ganzheitliches Menschsein wurde auf einmal als auf einzelne Körperteile reduziert wahrgenommen.

(2) Das Erhabene, ein langer Prozess

Der Sinn der Beichtszene im siebten Auftritt des fünften Akts liegt darin, die Möglichkeit des freien Willens durch den Prozess der inneren Änderung Maria zu zeigen. Die Konstellation der Beichtszene kann in theatralischer Hinsicht als ein Dialog zwischen zwei Personen auf der Bühne betrachtet werden. Die offene Konstellation der Beichtszene auf der Bühne dient dazu, einerseits die Unschuld der Maria zu beweisen und andererseits diesen Prozess der inneren Änderung zu veranschaulichen. In der Beichte legt Maria ihre bisherigen Taten und Haltung, die von der Sinnlichkeit geleitet begangen waren, ab, indem sie den Hass gegen Elisabeth, ihre Zuneigung zu Leicester und sogar frühere Sünden ausspricht. Dies ermöglicht Maria, vom Sinnlichen Abstand zu nehmen und mit der geistigen Kraft, die ihr durch die Beichte bewusst geworden ist, sich wieder der

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Regel und dem Gebot zuzuwenden, die sie einmal verlassen hat. Die innere Freiheit, die sie durch die Beichte gewonnen hat, hat dazu beitragen, mit freiem Willen die Entscheidung zu treffen, den Tod hinzunehmen. Diese Gemütsfreiheit muss im theoretischen Sinne für das Erhabene vorausgesetzt werden. Dennoch scheint Marias Übergang vom Sinnlichen zum Moralischen zunächst fehlzuschlagen, da sie seit ihrem Auftritt im letzten Akt nach der Beichtszene immer wieder zum Sinnlichen zurückkehrt, das im Stück auch als das Irdische bezeichnet wird. Der Höhepunkt dieser sich wiederholenden Läuterung ist die Szene, in der sie auf dem letzten Weg in die Hinrichtung ihrem Geliebten Leicester begegnet. Ihre innere Erschütterung wird durch die Körperbewegung sichtbar dargestellt. Dies zeigt, dass sie noch ein physisches Wesen ist, obgleich sie in der Beichtszene ihre Sinnlichkeit abgegeben hat, auch die Zuneigung zu Leicester. Diese widersprüchliche Erscheinung Marias spiegelt das anthropologische Menschenbild Schillers wider, das Menschen aus Vernunft und Emotion, Geist und Körper versteht. Trotz ihrer Entschlossenheit, sich zu opfern, bleibt Maria ein physisches Wesen, solange sie den Körper besitzt. Als Vernunftwesen hat Maria auf das Sinnliche verzichtet, aber als sinnliches Wesen ist sie noch abhängig davon. Diese ambivalente Darstellung Marias aber widerspricht nicht der Konzeption der Erhabenen, sondern verwirklicht sie ganz, indem Maria sich trotz ihrer physischen Schwäche und Ohnmacht am Ende ihres Auftritts schließlich wieder aufrichtet und mit innerer Freiheit Leicester verlässt. Dadurch wird gezeigt, dass es möglich ist, aus der Gemütsfreiheit mit freiem Willen zu handeln.

(3) Über das Erhabene (1801) – eine Fortsetzung von Schillers Überlegungen über das Pathetischerhabene

Die Veröffentlichung des dritten Bands der kleineren prosaischen Schriften im Mai 1801, zu dem die drei Schriften Über das Erhabene, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen und Über das Pathetische gehören, kann als eine Rückwirkung des Dramas auf die Dramentheorie verstanden werden. Chronologisch gesehen ist dieser Band nach der Abfassung

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der Dramen Wallenstein, Maria Stuart und die Jungfrau von Orleans (1801) entstanden. Der Zeitpunkt der Publikation liegt insbesondere nach der Abfassung von Maria Stuart im Juni 1800 und deren erster Druckversion im April 1801. Unter den drei theoretischen Schriften hat Über das Erhabene eine besondere Bedeutung, da sie im Vergleich zu den beiden anderen Schriften unter dem dritten Band der kleineren prosaischen Schriften zum ersten Mal erschien.360 Einerseits wird sie in Bezug auf den Begriff des Erhabenen als „eine Fortsetzung der Schrift Über das Pathetische“ 361 , und als „Erneuerung der früheren Schriften über das Erhabene“ betrachtet.362 Schiller stellt in dieser Schrift seine Überlegungen über das Pathetischerhabene erneuert dar und fasst seine Tragödientheorie, mit der er sich in der Mitte der neunziger Jahre beschäftigt hatte, 363 zusammen. 364 Es wird hier die Konzeption des Pathetischerhabenen, die bereits in Vom Erhabenen und Über das Pathetische untersucht wurde, noch einmal behandelt. Anderseits wird diese Schrift auch als „Fortsetzung der nichtvollendeten Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“ 365 betrachtet und gilt als Ersatzschrift über die „energische Schönheit“, die dort nicht dargestellt war.366 Hier ist der innere Zusammenhang zwischen den Schriften zu finden, insofern sie als Struktur wahrgenommen

360 Im Vergleich zu anderen Schriften ist Über das Erhabene zum ersten Mal erschienen. Über das Pathetische (1801) ist Wiederabdruck des Teils der früheren Abhandlung der Vom Erhabenen (1793) und Fortgesetzte Entwicklung des Erhabenen (1793). Es wurde „so gut wie ohne weiter Redaktion übernommen“. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen wurde 1795 bereits entstanden. Allerdings ist die Meinung beherrschend, dass diese Schrift bereits vorher entstanden ist. Koopmann behauptet, dass die Schrift zwischen 1794 und 1796 verfasst wurde. Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 617; Zelle behauptet für die Entstehungszeit der Schrift zwischen 1793 und 1801, nämlich zwischen der Entstehung der Schriften Vom Erhabenen und Fortgesetzte Entwicklung des Erhabenen 1793 und dem Erstdruck 1801. Vgl. Zelle: »Über das Erhabene«, S. 479; Janz behauptet zwischen 1793-1796, eher um die Jahreswende 1795. Vgl. Rolf-Peter Janz (Hg): Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, Frankfurt a. M. 2008, S. 1448. 361 Vgl. Koopmann, ebd. 362 Vgl. Rolf-Peter Janz (Hg.), ebd. 363 Vgl. Zelle, S. 487. 364 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 96. 365 Vgl. Koopmann, ebd. 366 Vgl. Zelle, ebd.

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werden kann,367 innerhalb derer die Möglichkeit der Vermittlung zwischen dem Begriff des Schönen und des Erhabenen zu erklären versucht wird.

(4) Zweck der Tragödie: Inokulation des unvermeidlichen Schicksals

In Über das Erhabene werden nicht nur die Motive aus der bisherigen Theorie des Erhabenen wieder aufgenommen und der innere Wirkungsmechanismus des Erhabenen in der Tragödie wiedergegeben368, sondern es wird auch die äußere Wirkung und der Zweck der auf das Pathetischerhabene basierenden Tragödie außerhalb des Theaters erläutert. Die Tragödie führt dem Publikum durch die Darstellung der leidenden Natur und des Widerstands gegen das Leiden die Möglichkeit sittlicher Freiheit vor Augen und hilft dabei, die nötige Widerstandskraft gegen die künftigen Notfälle zu entwickeln.369 Der Begriff des Erhabenen wird als ein gemischtes Gefühl und dessen Wirkungsprozess erklärt, so wie es in der Schrift Vom Erhabenen bereits abgehandelt wurde.370 Darüber hinaus wird der Wille des Menschen behandelt, der in der Schrift Über das Pathetische schon betont wurde. Der Wille des Menschen wird als wichtige Fähigkeit zum Erhabenen und somit als wichtigstes Vermögen des Menschen erklärt. 371 Des Weiteren wird das Ziel der Tragödientheorie Schillers im Rahmen dieser Funktion der Kunst erklärt und definiert.

»Das Pathetische ist ein künstliches Unglück, und wie das wahre Unglück, setzt es uns in unmittelbaren Verkehr mit dem Geistergesetz, das in unserm Busen gebietet. Aber das wahre Unglück wählt seinen Mann und seine Zeit nicht immer gut; es überrascht uns oft wehrlos, und was noch schlimmer ist, es macht uns oft wehrlos.

367 Zelle: »Über das Erhabene«, S. 481. 368 Vgl. Rolf-Peter Janz (Hg): Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, S. 1449. 369 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 96. 370 Vgl. NA 21, S. 42: „Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von Wehseyn, das sich in seinem höchten Grad als ein Schauder äußert, und von Frohseyn, das bis zum Entzücken steigen kann und ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von feinem Seelen aller Lust doch weit vorgezogen wird.“ 371 Ebd., S. 52: „Die Fähigkeit, das Erhabene zu empfinden, ist also eine der herrlichsten Anlagen in der Menschennatur, die sowohl wegen ihres Ursprungs aus dem selbstständigen Denk- und Willens-Vermögen unsre Achtung, als wegen ihres Einflusses auf den moralischen Menschen die vollkommenste Entwickelung verdient.“

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Das künstliche Unglück des Pathetischen hingegen findet uns in voller Rüstung, und weil es bloß eingebildet ist, so gewinnt das selbstständige Prinzipium in unserm Gemüte Raum, seine absolute Independenz zu behaupten. Je öfter nun der Geist diesen Akt von Selbsttätigkeit erneuert, desto mehr wird ihn derselbe zur Fertigkeit, einen desto größern Vorsprung gewinnt er vor dem sinnlichen Trieb, daß er endlich auch dann, wenn aus dem eingebildeten und künstlichen Unglück ein ernsthaftes wird, im Stande ist, es als ein künstliches zu behandeln, [...] das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung aufzulösen. Das Pathetische, [...] ist eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.«372

Das Pathetische, das auf der Bühne dargestellt wird, wird als ein künstliches Unglück bezeichnet. Denn der Zweck des Pathetischen liegt nicht in sich selbst, sondern dient dazu, die Fähigkeit des Erhabenen in der Wirklichkeit zu verstärken. Die Darstellung der leidenden Natur auf der Bühne lässt den Zuschauer zunächst mitleiden, aber ohne seiner Gemütsfreiheit zu schaden, da sie sich durch die künstlerische Form, die Künstlichkeit der Bühnenhandlung, auf einer sicheren Ebene ereignet. So wird im Zuschauer das Bewusstsein geweckt, dass er ein Vermögen der Vernunft besitzt, das von Leiden unabhängig sei. In diesem Sinne ist Schillers Theater ein Ort der ästhetischen Erziehung durch die Erfahrung eines künstlichen Unglücks. Die Darstellung des Widerstands gegen das Leiden auf der Bühne soll uns fähig machen, in der Wirklichkeit die Gemütsfreiheit nicht zu verlieren und nach dem freien Willen zu handeln. Darüber hinaus dient die ästhetische Erfahrung des Erhabenen als „eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“ in der Wirklichkeit. 373 Schiller meinte, die rohe Menschheitsgeschichte sei ein Objekt der Furcht, durch die dem man die Gemütsfreiheit verliere. Die Kraft des freien Willens sollte man durch das Theater erlernen, 374 indem die leidende Natur im Vergleich zur

372 NA 21, S. 51. 373 Ebd. 374 Kant hält an der Macht des Sittengesetzes fest und sieht das Erhabene nur in der Anerkennung der Macht des Sittengesetzes. Schiller setzt an dessen Stelle den Autonomieanspruch des einzelnen ein. Der Unterschied zwischen den beiden Aspekten besteht darin, dass das Erhabene bei Kant als ein einmaliges Erlebnis verstanden wird, aber Schiller dazu erklärt, dass die Fähigkeit des Erhabenen erlernt werden kann. Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 620ff.

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Realität in einer künstlichen milden Form gezeigt werde und der Zuschauer sie aus einer sicheren Distanz erfahren könne. Bemerkenswert ist hier, dass Schillers Zweck der Tragödie mit der ästhetischen Erziehung verknüpft ist.

(5) Wechselwirkung zwischen dem Erhabenen und dem Schönen

Als erste Schrift des dritten Bands der kleineren prosaischen Schriften bezieht sich die Schrift Über das Erhabene nicht nur auf den Begriff des Erhabenen, sondern bringt ihn auch in einen Zusammenhang mit dem Begriff des Schönen und behandelt deren beide Wechselwirkungen im Rahmen der ästhetischen Erziehung.

» […] weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen, und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unsrer Bestimmung, und als auch über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern. Ohne das Schöne würde zwischen unsrer Naturbestimmung und unsrer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit seyn. [...] Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen. [...] Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet, und unsre Empfänglichkeit für beides in gleichem Maß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deswegen ihre Sklaven zu seyn, und ohne unser Bürgerrecht intelligibeln Welt zu verscherzen.«375

Schiller stellt hier die These auf, dass die beiden Begriffe des Erhabenen und des Schönen sich ergänzen, um die ästhetische Erziehung vollständig zu erreichen. Wenn das Erhabene dem Begriff des Schönen fehlt, bei dem das harmonische Verhältnis zwischen Sinnlichkeit (dem sinnlichen Trieb) und Vernunft (dem Formtrieb) ausfällt, ergibt sich dadurch ein Streit zwischen unserer Natur- und Vernunftbestimmung. Umgekehrt, wenn das Schöne dem Begriff des Erhabenen fehlt, bei dem eine Gegensatzspannung zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft prägend ist, wird man seiner Würde nicht bewusst sein.376 Darüber

375 NA 21, S. 52f. 376 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 96; Vgl. Kapitel. II. 2. 2.

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hinaus liegt der Zweck der ästhetischen Erziehung, die in dem Zusammenwirken von dem Erhabenen und dem Schönen besteht, nicht in sich selbst, sondern in der Erweiterung des menschlichen Vermögens, das sowohl aus dem Moralischen als auch aus dem Sinnlichen besteht. Es ist bedeutsam, dass Schiller hier den Begriff des Erhabenen als ein dem Schönen komplementäres Element darstellt und das Zusammenwirken beider Begriffe im Programm der ästhetischen Erziehung versteht. 377 Es bestätigt auch, dass die Schriften, in einem Band veröffentlicht sind, in der aber jeweils andere Hauptmotive behandelt werden, auch in einem inneren Zusammenhang stehen. Der Widerspruch zwischen beiden Begriffen wird zu einer wechselseitigen Ergänzung umgesetzt, indem die Zweckfreiheit des Schönen mit der Zweckmäßigkeit des Erhabenen zu einem Zweck zusammengeführt wird. Das Erhabene benötigt für sich einen freien Ort, worin man seine Gemütsfreiheit bewahren kann. Die Kunst als Erscheinung des Schönen kann dafür ein Mittel sein. Denn Kunst ist zunächst ein Ort der Zweckfreiheit, solange sie uns die Gemütsfreiheit bewahrt. Sie befreit uns einerseits von der wirklichen Welt, indem man in der Kunstwelt von den alltäglichen Aufgaben und Pflichten Abstand nimmt. Andererseits aber kann Kunst uns auch überwältigen, wenn man die künstliche Welt als Wirklichkeit wahrnimmt. In diesem Fall kann man keine Gemütsfreiheit gewinnen, die als Voraussetzung für das Erhabene dient.

»Die physische Sicherheit ist ein unmittelbarer Beruhigungsgrund für unsere Sinnlichkeit ohne alle Beziehung auf unsern innern oder moralischen Zustand. Es wird daher auch gar nichts dazu erfordert, ein Objekt ohne Furcht zu betrachten, vor welchem man sich in dieser physischen Sicherheit befindet.«378

»Wirkliches Leiden aber gestattet kein aesthetisches Urteil, weil es die Freyheit des Geistes aufhebt. Also darf es nicht das urtheilende Subjekt seyn, an welchem der furchtbare Gegenstand seine zerstörende Macht beweißt«379

Der Zuschauer betrachtet z. B. in einem Theater das Bühnengeschehnis frei von

377 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 96. 378 Vgl. NA 20, S. 180. 379 Vgl. NA 20, S. 192.

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allen weltlichen Zwängen. Aber wenn man die Darstellung auf der Bühne zu unmittelbar wahrnimmt, als wäre es eine reale Welt, wird man von der künstlichen Welt nicht unabhängig sein und das Bühnengeschehnis nicht mit distanziertem Blick betrachten. Aus diesem Grund ist es relevant, dass die Kunst durch ihre Form diese Distanz schafft, damit man dadurch seine „Gemütsfreyheit“ bewahren kann. Erst dann kann man das Pathetische auf der Bühne als etwas Ästhetisches im schillerschen Sinne betrachten und dadurch die Fähigkeit entwickeln, das Erhabene zu empfinden. Das ist die Aufgabe der tragischen Kunst bei Schiller, unsere Empfindungsfähigkeit für das Erhabene zu stärken und damit unsere geistige Widerstandskraft, für den Fall, dass man in der Welt dem realen Unglück begegnet.380

380 Vgl. Klaus L. Berghahn: »Das Pathetischerhabene. Schillers Dramentheorie [1971]« in: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien I: Beiträge zur historischen Poetik des Dramas in Deutschland, 3. Verbesserte Auflage, Wiesbaden 1980, S. 197-221, hier S. 207.

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IV. Inszenierung: Dramaturgische Umsetzung und theatralische Darstellung des Erhabenen auf der Bühne

Die dramentheoretische Konzeption des Erhabenen bei Schiller wurde in der Maria Stuart sowohl im Blick auf Figurenkonzept als auch Handlungselemente als leitendes dramaturgisches Prinzip transformiert – nicht ohne dann wiederum in späteren theoretischen Überlegungen Widerhall zu finden. Welche Transformationen der Vorstellung vom Erhabenen beim Übergang vom Dramentext zur Inszenierung widerfahren sind, wie dramaturgische Umsetzung und theatralische Darstellung des Erhabenen auf der Bühne real aussahen, steht im Folgenden im Zentrum. Untersuchungsgegenstand ist zunächst, unter welchen Umständen die späteren Dramen Schillers auf der weimarischen Bühne umgesetzt wurden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Weimarer Hoftheater um 1800, das für Schiller das künstlerische Umfeld war. Welche Bedeutung hat das Weimarer Hoftheater für die Schiller- Inszenierung um 1800? Die zeitliche und räumliche Bedeutung des Weimarer Theaters kann eine grundlegende Vorstellung davon vermitteln, in welchem Umfeld die dramentheoretischen Gedanken und dramatischen Werke Schillers umgesetzt wurden. Das Weimarer Hoftheater war nicht nur ein Ort, an dem ein Stück Schillers auf die Bühne aufgeführt wurde. Die Bedeutung des Weimarer Hoftheaters ist nur in seiner zeitgenössischen gesellschaftlichen Konstellation verstehbar: die Funktion des Theaters als kulturpolitische Institution, das Verhältnis zum Hof, unter dessen Einfluss das Hoftheater stand. Dies soll unter der Rücksicht auf den politischen und geschichtlichen Wendepunkt um 1800 betrachtet werden. Darüber hinaus kann auch die weimarische Darstellungsweise beim Schauspiel in Bezug auf den künstlerischen Wert untersucht werden, den Schiller und Goethe am ihren Theater umsetzen und präsentieren wollte. Auf dieser Basis wird im weiteren Kapitel die Darstellung der dramatischen Werke auf der Bühne angeschaut werden. Als nächstes sollen die dramaturgische Umsetzung und theatralische Darstellung des Dramas untersucht werden. Es ist notwendig für die Untersuchung der praktischen Seite der dramatischen Kultur um 1800, die

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zeitgenössische Inszenierung zum Gegenstand zu machen, da die Umsetzung der dramentheoretischen Konzeption erst in der Verwirklichung auf der Bühne sichtbar wird und dadurch das Gelingen (oder Mißlingen) der Umsetzung der Intention des Dramatikers nachgeprüft werden kann. Es wird untersucht, wie der Theatermacher Schiller seine dramentheoretische Konzeption des Erhabenen auf der Bühne umsetzte, und wie das zeitgenössische Publikum die Umsetzung im wirkungsästhetischen Sinne aufnahm. Es ist aber eine wichtige Frage, wie die Weimarer Inszenierung um 1800 überhaupt rekonstruiert werden könne. Die Aufführung ist der entscheidend als Ergebnis des Prozesses der Inszenierung, der für die Untersuchung einer Inszenierung unverzichtbar ist. Aufgrund der nur begrenzten Möglichkeiten, über Medien Einblick in das Inszenierung- und Aufführungsgeschehen zu erhalten, stellt es eine wissenschaftliche Herausforderung dar, die Weimarer Inszenierung zu untersuchen. Die verschiedenen schriftlichen Dokumente über die zeitgenössische Inszenierung werden als historische Quellen herangezogen, um die Umsetzung der Konzeption des Erhabenen im Prozess der Inszenierung zu rekonstruieren. Weiterhin wird untersucht, wie die Inszenierung der Dramen Schillers und seine Beteiligung am Theater auf seine Dramentheorie und Drama rückwirkte. Im letzten Teil dieses Kapitels wird eine moderne Inszenierung der Dramenstücke Schillers untersucht. Die Inszenierung, die als Beispiel ausgewählt ist, wurde auf den Internationalen Schillertagen Mannheim 2011 aufgeführt. Es besteht ein zeitlicher Abstand von 200 Jahren zwischen dem Weimarer Klassizismus und der heutigen Zeit. Dieser Teil der Arbeit bietet keinen gesamten Überblick über bisherige Schiller-Inszenierungen. Der Zweck der Untersuchung der heutigen Bühnenbearbeitung liegt darin, die Aktualität von Schillers Dramenästhetik zu ermitteln. Durch die Untersuchung der Schiller- Inszenierungen soll abgeleitet werden, welche Bedeutung das Erhabene der Tragödientheorie Schillers etwa 200 Jahre nach dem Tod des Dramatikers noch auf der heutigen Bühne haben könnte. Die Inszenierung wird, wie es schon in der Einleitung erwähnt wurde, nicht aus theaterwissenschaftlicher Perspektive, sondern unter ausgewählten Aspekten anhand von kritischen Rezensionen

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eingeschränkt repräsentiert und analysiert werden.

1. Rekonstruktion einer historischen Inszenierung zur Inszenierungsanalyse

1.1. Inszenierungsanalyse und Methodik der Rekonstruktion

Die Analyse einer historischen Inszenierung kann durch deren Rekonstruktion tendenziell ermöglicht werden. Es scheint aber schwierig, eine historische Inszenierung zu rekonstruieren, da der Analytiker selbst bei der vergangenen Aufführung natürlich weder präsent war noch eine mediale Dokumentation der Aufführung vorliegt. Bei dem Versuch ist zunächst wichtig, darauf zu achten, die Dimensionen des Gegenstands der Untersuchung genau zu bestimmen, indem die Begriffe der Aufführung und der Inszenierung bei der Analyse unterschieden werden. Darüber hinaus kann in Bezug auf den methodischen Prozess der Rekonstruktion der Inszenierung erläutert werden, wie die historische Aufführung der wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht werden kann.

(1) Unterscheidung zwischen Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

Die Unterscheidung zwischen Aufführungs- und Inszenierungsanalyse ist der zentrale Punkt dafür, das Verhältnis zwischen der Inszenierungsanalyse und der Rekonstruktion der historischen Inszenierung zu bestimmen. Die beiden Analysen haben einen gemeinsamen Überschneidungspunkt, aber jeweils einen anderen Schwerpunkt. Dieser begründet sich aus dem Unterschied der beiden Begriffe der Aufführung und der Inszenierung, wie bereits erläutert wurde.381 Der Begriff der Aufführung bezieht sich auf ein einmaliges und gegenwärtiges Ereignis, in dem „die Interaktion zwischen dem theatralen Ereignis und den anwesenden Zuschauern“382 ermöglicht wird. Aus diesem Grund sind bei der

381 Vgl. Kapitel I. 2. 382 Vgl. Balme: Theaterwissenschaft, S. 88.

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Aufführungsanalyse die Gegenwart der Aufführung sehr relevant und die Anwesenheit des Analysierenden bei der Aufführung vorausgesetzt. 383 Der Fokus einer Inszenierung liegt auf dem Produktionsprozess, der aus dem Werdegang von der Bühnenbearbeitung eines bestimmten Dramenstücks über das Einstudieren durch das Theaterensemble bis zur konkreten Aufführung besteht.384 Aus diesem Grund werden bei der Inszenierungsanalyse nicht nur die Aufführung als fertiges Kunstwerk, sondern auch die anderen Kriterien wie z. B. ästhetische Konzeption und Einstudierungsprozess gleichermaßen behandelt.385 Der unterschiedliche Bezug der beiden Begriffe der Aufführung und der Inszenierung bedeutet auch, dass sie bei der Aufführungs- bzw. der Inszenierungsanalyse nicht synonym verwendet werden können.386 Im Hinblick auf die Divergenz dieser Begriffe stellt Lehnert zwei Aspekte aus der theaterwissenschaftlichen Perspektive als Lösungsmöglichkeiten für das Problem vor, das aus der Unterschiedlichkeit der Begriffe besteht.387 Auf der einen Seite behauptet Erika Fischer-Lichte im Hinblick auf die Aufführungsanalyse, dass die Aufführung nur von Analysierenden untersucht werden kann, die die Aufführung besucht und erfahren haben. Hier wird die Gegenwärtigkeit und Zuschauerbeteiligung der Aufführung stark betont.388 Des Weiteren entsteht die Inszenierungsanalyse nach Fischer-Lichte aus der Varianz zwischen den unterschiedlichen Aufführungen. 389 Auf der anderen Seite unterscheidet Christopher Balme die Aufführungs- und Inszenierungsanalyse, indem er sich mit den Schwerpunkt des jeweiligen Begriffs der Aufführung und der Inszenierung auseinandersetzt.390 Die Aufführung wird als „das einmalige Ereignis“ bezeichnet, insofern ist empirische Untersuchung im Hinblick auf die Interaktion zwischen dem theatralen Ereignis und den anwesenden Zuschauer

383 Vgl. Jörg von Brinken / Andreas Englhart: Einführung in die moderne Theaterwissenschaft, S. 127. 384 Vgl. ebd. S. 108. 385 Vgl. Kapitel I. 2. 386 Vgl. Balme: Theaterwissenschaft, S. 88f. 387 Vgl. Lehnert: Oberfläche, Hallraum, Referenzhölle, S. 127-131. 388 Vgl. ebd., S. 128. 389 Vgl. ebd., S. 128f. 390 Vgl. Balme, ebd.

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wichtig. Beispielweise werden sogenannte Performances und das Improvisationstheater genannt, bei der jeweils die Nicht-Wiederholbarkeit und Variabilität des Gegenstands relevant sind. 391 Im Gegensatz dazu wird die Inszenierung als „das theatrale Kunstwerk“ verstanden, das eine Struktur ästhetisch organisierter Zeichen bezeichnet.392 In der Inszenierungsanalyse wird das Repertoiretheater als eine unveränderliche Version betrachtet, da es zwischen den Aufführungen strukturell hohe Konstanz vorhanden ist.393 Das Modell von Balme eignet sich zur Untersuchung einer historischen Inszenierung mehr als Fischer-Lichtes Konzept. Für die historische Inszenierung ist es wegen der eingegrenzten Materialien nicht günstig, nach Fischer-Lichte die jeweilige Aufführung zu untersuchen. Dazu ist es auch nicht möglich, eine historische Aufführung zu analysieren, da der Analytiker keinen Zugang zur vergangenen Aufführung hat. Im Vergleich dazu ist die Inszenierungsanalyse nach dem Modell von Balme realistischer. Hier werden die verschiedenen Aufführungen im Rahmen des Repertoires als eine unveränderte Inszenierung betrachtet werden. Das heißt in praktischer Hinsicht, alle theatralischen Merkmale in Bezug auf die Aufführung können trotz ihres unterschiedlichen Ursprungs als einheitliche Materialien aus einer Inszenierung anerkannt und zur Inszenierungsanalyse verwendet werden. In diesem Sinne wird der Schwerpunkt der Analyse nicht auf der einzelnen Aufführung, sondern auf der Inszenierung als gesamtem Prozess gelegt und es wird besonders auf deren Produktions- und Rezeptionsprozess eingegangen.

(2) Methodik und Beispiel für die Rekonstruktion der Inszenierung

Die Rekonstruktion einer Inszenierung ist ein notwendiger Prozess für die Untersuchung einer historischen Inszenierung. Bei der Analyse einer historischen Inszenierung wird die Abhängigkeit von der Aufführung als

391 Vgl. Balme: Theaterwissenschaft, S. 88f. 392 Ebd. 393 Ebd.

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Gegenstand der Untersuchung aufgehoben, da die Aufführung keinen absoluten Untersuchungsgegenstand mehr für die Inszenierungsanalyse darstellt. Stattdessen wird dabei der Inszenierungsprozess stärker berücksichtigt. Im Normalfall gibt es keine mediale Aufzeichnung, die dabei beitragen kann, die Einmaligkeit der vergangenen Aufführung zu rekonstruieren. Aus diesem Grund ist ein entscheidender Punkt, inwiefern die Rekonstruktion einer Inszenierung die wichtigen Ressourcen für die Untersuchung einer historischen Inszenierung erarbeiten kann. Durch die Anschauung der verschiedenen Komponenten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Aufführung, die als Teil einer Inszenierung zusammengebracht und koordiniert werden, kann eine historische Inszenierung ohne mediale Aufzeichnung rekonstruiert werden. In diesem Sinne ist die Rekonstruktion der historischen Inszenierung sehr relevant für die Inszenierungsanalyse, da sie dadurch zur Analyse zugänglich gemacht wird.394 Dennoch wurden der Produktions- wie der Rezeptionsprozess im Hinblick auf die Rekonstruktion einer Inszenierung bislang in der Forschung relativ wenig analysiert.395 Der Aufsatz von Alan Woods kann als ein Wegweiser zur Methodik für die Rekonstruktion der Inszenierung betrachtet werden.396 Woods befasst sich hauptsächlich damit, wie ein Theater methodisch rekonstruiert werden kann.

394 Vgl. Nils Lehnert: Oberfläche, Hallraum, Referenzhölle, S. 441f. 395 Vgl. Heinri Schoenmakers: Art. »Inszenierungsanalyse«, in: Brauneck / Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, S. 444-449, hier S. 444 u. S. 448; Die Schrift von Wilfried Passow über Max Reinhardts Faust ist ein gutes Beispiel, das als eine Unterlage für die Rekonstruktion des Produktionsprozesses relevant ist. Vgl. Wilfried Passow: Max Reinhardts Regiebuch zu Faust 1., 2 Bände, München 1971; Trotz der fehlenden Beispiele für die Forschung in Bezug auf die Rekonstruktion der Inszenierung ist bei der Zeitschrift Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft (Graz, Wien) ein entsprechender Beitrag zu finden. Vgl. Margret Dietrich: »CHELIDONIUS' SPIEL: „VOLUPTATIS CUM VIRTUTE DISCEPTATIO", Wien 1515: Versuch einer Rekonstruktion der Inszenierung«, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 5 (1959), S. 44-59, später als „Dietrich: »Rekonstruktion der Inszenierung«“ bezeichnet. 396 Vgl. Alan Woods: »Theatre Reconstruction: Tentative Steps Toward a Methodology«, in: Theater Survey, 12 (1971), Issue 01, S. 46-57, hier S. 46: Es gibt keine systematisch festgelegte einheitliche Methodik für die Rekonstruktion der Inszenierung. Brockett hat in seiner Schrift “Research in Theatre History” im von 1965 bis 1966 veranstaltete Konferenz über Theaterforschung an der Princeton University einen ersten wesentlichen Schritt im Hinblick auf die Methodik hinterlassen.

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Hier wird der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der Inszenierung- und Aufführungsanalyse keine Bedeutung beigemessen. Trotzdem bietet die Methodik Woods' einen bedeutungsvollen Blick auf die Rekonstruktion der Inszenierung, da hier auf die konkrete Perspektive hingewiesen wird. Woods schlägt für die konkrete Methodik der Rekonstruktion drei Schritte vor. Erstens wird die Untersuchung der sozialen und politischen Tendenz der Gesellschaft, zu dem das Theater gehört, beschrieben. Das soziale und politische Umfeld des Theaters ist ein wesentlicher Punkt, da es das Theater sehr beeinflussen kann.397 Dabei werden das grundlegende politische System der Gesellschaft und der Zweck des Theaters untersucht. Dazu gehört auch die Frage, unter welcher Kontrolle das Theater sich eigentlich befindet. Darüber hinaus wird auch das Theater als Aufführungsort als ein wichtiges Kriterium betrachtet, indem die Rolle des Zuschauers und die gesellschaftliche Vorstellung des Künstlers behandelt werden. Als nächster Punkt greift die Analyse auf ikonografische Materialien zurück. Dazu gehören die bildlichen Materialien wie Gemälde, Bilder, Theaterzettel, Diagramm und ggf. Fotografien. Beispielweise sind die Bilder des Theatergebäudes, des Aufführungsmoments und des Zuschauers zu nennen. Wichtig ist hier, zum welchen Zweck der Künstler die Bilder verfertigt hat.398 Als letzter Teil des Prozesses der Rekonstruktion wird literarisches Material vorgeschlagen, zu dem das Theatermanuskript zur Textanalyse gehört.399 Als konkretes Beispiel für die Rekonstruktion der historischen Inszenierung bietet auch der Aufsatz von Margret Dietrich wertvolle Impulse. Wenn Woods sich in seiner Abhandlung mit den allgemeinen methodischen Ansätzen auseinandersetzt hat, versucht Dietrich, eine bestimmte historische Inszenierung zu rekonstruieren. Es ist eine Inszenierung, die am 23. und 25. Februar 1515 aufgeführt worden ist, wo es im Zeitpunkt der Inszenierungsanalyse weder jemanden gibt, der persönlich die Aufführung

397 Alan Woods: »Theatre Reconstruction«, S. 48. 398 Ebd., S. 52. 399 Ebd., S. 53f.

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angeschaut hat, noch eine Möglichkeit vorhanden ist, die vergangene Aufführung durch die filmische Aufnahme zurückzuholen. Zunächst fokussiert sich Dietrich darauf, zu welchem Anlass das Stück inszeniert und aufgeführt worden war. Allgemeine Information über die Inszenierung wie z. B. den Verfasser des Stücks und die historische Bedingung der Aufführung werden zuerst betrachtet. Wie bei Woods wird hier auch auf das gesellschaftliche Umfeld des Theaters berücksichtigt. Die Besonderheit dieser Abhandlung liegt drin, dass die szenische Gestaltung des Spiels auch rekonstruiert wird, indem die Spielzüge, die gleiche Motive beinhalten, untersucht werden.400 In diesem Sinne wird die Bühnenvorstellung des jeweiligen Akts grafisch dargestellt, in der der Standort der Figuren und des Chors gekennzeichnet ist. Darüber hinaus wird hier auch auf die Dekoration und das Kostüm hingewiesen.

(3) Gegenstand und Methodik der Inszenierungsanalyse

In dieser Arbeit werden als Gegenstände der Analyse die Weimarer Inszenierung der Maria Stuart unter der Leitung Schillers (UA 14. Juni 1800) und die Berliner Inszenierung unter der Leitung Ifflands (EA 8. Jan. 1801) erarbeitet. Es sind zwei historische Inszenierungen, die rekonstruiert werden, um die dramaturgische Umsetzung und theatralische Darstellung des Erhabenen auf der Bühne zu untersuchen. Das Stück Maria Stuart ist aus der theatralischen Perspektive ein äußerst repräsentatives Drama seiner Epoche. Es ist das erste Theaterstück, mit dessen Aufführung am Weimarer Hoftheater sich der Dramatiker bereits während der Abfassung des Stücks beschäftigte, und in dessen Prozess der Inszenierung er nah am Theater intensiv mit dem Theaterensemble beteiligt war. 401 Der

400 Vgl. Dietrich: »Rekonstruktion der Inszenierung«, S. 48. 401 Vgl. Kapitel I. 1.: Die späteren Dramen, die Schiller nach seiner Theoriezeit mit der neuen dramenpoetologischen Sicht verfasst hat, gilt schon ab Wallensteins Trilogie. Schiller hat jedoch seit Maria Stuart die neue Auffassung von Dramen- und Kunstästhetik in seinem Drama und dessen Inszenierung hauptsächlich verwirklichen können. Erst nach der Inszenierung der Wallensteins Trilogie hat Schiller die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit dem Theater für seine Dramatik bemerkt und ist Ende des Jahres 1799 nach Weimar umzogen.

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Dramatiker wusste grundsätzlich schon von Beginn der intensiven Beschäftigung mit dem Stück, dass sein Stück auf der weimarischen Bühne aufgeführt werden sollte. Der Prozess der Inszenierung begann schon hier, insofern es bereits einen Austausch zwischen dem Dramatiker und dem Intendanten im Hinblick auf die Aufführung des Stücks gab.402 Schiller zeigte dem Intendanten Goethe die Manuskripte des Stücks und hatte bereits eine Vorstellung von der Rollenbesetzung vor der Fertigstellung des Stücks. Zwischen 1800 und 1805 wurde Maria Stuart vom Weimarer Ensemble insgesamt 16 Mal gespielt.403 Das Theaterstück wurde nach der UA in Weimar auch in den benachbarten Städten, Bad Lauchstädt und Rudolstadt aufgeführt. Sowohl die Weimarer Aufführungen als auch die Berliner Aufführungen können nach dem Modell von Balme jeweils als eine Inszenierung betrachtet und analysiert werden. Es ist nicht möglich, nach dem Modell von Fischer- Lichte eine historische Inszenierung um 1800 in Weimar und Berlin zu analysieren, da der Analytiker keinen Zugang zu vergangenen Aufführungen hat. Nach der Theorie von Balme werden die Weimarer Aufführungen, die vom Weimarer Ensemble seit der UA 1800 bis zum Tod Schillers 1805 vorgestellt wurden, als eine Inszenierung betrachtet.404 Es sind die Aufführungen, die im Rahmen des Weimarer Repertoires entstanden sind und unter dem direkten Einfluss von Schiller standen.405 Die Berliner Aufführungen seit der EA 1801 bis zum Tod Ifflands 1814 werden auch als eine Inszenierung unter der Leitung von Iffland angesehen.

Er erkannte nämlich, dass die Kooperation mit dem Ensemble seine dramatische Welt bereichern kann. 402 Vgl. Kapitel IV. 3. 1.: Am 16. September 1799 hat Schiller Goethe die ersten zwei Akten der Maria Stuart vorgelesen. Nach dem Umzug nach Weimar schrieb er in einen Brief an Körner am 5. Jahr, dass er jeden Tag Goethe treffe und weiter das Stück schreibe. 403 Maria Stuart wurde vom Weimarer Ensembl im Jahr 1800 7 Mal, 1801 7 Mal, 1802 1 Mal, 1803 3 Mal, 1804 2 Mal, 1805 3 Mal aufgeführt. Vgl. NA 9/I, S. 337. 404 Das heißt, die Aufführungen, die vom Weimarer Ensemble in Bad Lauchstädt und in Rudolstadt vorgeführt wurden, können in diesem Sinne als eine Inszenierung betrachtet werden. Außerhalb von Weimar wurde auch das Stück unter der Anweisung Schillers trotz seiner Abwesenheit an dem Spielort vorgeführt. Vgl. NA 9/I S. 336f; NA 31, S. 270f. 405 Schiller wirkte selbst als Dramaturg für die dramaturgische Bearbeitung und auch als Regisseur für die künstlerische Darstellung seines eigenen Stücks. Vgl. Kapitel 1. 1.

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Außerdem wird die aktuelle Inszenierung der Maria Stuart unter der Leitung von M. Thalheimer (UA 2011 Frankfurt a. M.) sowohl als Gegenstand der Aufführungsanalyse als auch der Inszenierungsanalyse untersucht. Es ist Aufführungsanalyse, die auf den Aspekt von Fischer-Lichte basiert ist, da der Analytiker gegenwärtig die Aufführung vor Ort angeschaut hat. Es ist aber auch Inszenierungsanalyse nach dem Aspekt von Balme, da die Aufführungen der „deutschen Repertoiresystems“ als eine Inszenierung betrachtet werden kann. Dafür wird die Untersuchung durch die Filmaufzeichnung und die Theaterkritik erweitert abgehandelt. Methodisch wird für die Rekonstruktion der historischen Inszenierung nach dem Beispiel von Wood zunächst auf die soziale und politische Bedingung der Gesellschaft eingegangen werden. In diesem Sinne werden die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich das Weimarer Hoftheater befand, in Bezug auf die ästhetische und politische Ebene untersucht werden. Nach dem Modell von Dietrich werden auch allgemeine Informationen über die Inszenierung wie z. B. den Verfasser des Stücks und die historische Bedingung und das sichtbare Material wie das Kostüm bei der Rekonstruktion berücksichtigt.

(4) Konzeption des Theaters: Wechselwirkung zwischen Schauspiel und Publikum

Die Inszenierung zur Zeit eines Dichters kann zunächst auf zwei Ebenen betrachtet werden. Gertrud Rudloff-Hille hat auf die zwei Aspekte der Aufführung der Dramen auf der Bühne hingewiesen. In ihrer Forschung zu Schiller-Inszenierungen zur Zeit des Dichters betont sie, dass für die Untersuchung eines Theaterstückes die „Erscheinung auf der Bühne und der Wechselwirkung zwischen Spiel und Aufnahme, zwischen Aufführung und Antwort von der Seite des Publikums“406 berücksichtigt werden müssen. Auf

406 Gertrud Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne seiner Zeit, Berlin·Weimar 1969, S. 5.

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der einen Seite geht es um die Perspektive des Künstlers, der das Dramenstück auf der Bühne inszeniert hat. Es muss zunächst angeschaut werden, wie das dramatische Werk Schillers für die Bühne bearbeitet wurde. Diese Untersuchung schließt die Frage mit ein, ob eine bestimmte Aufführung aus einem Grund, der innerhalb oder außerhalb des Theaters zu suchen ist, geändert bzw. bearbeitet wurde. Die Inszenierung selbst soll rekonstruiert werden, indem betrachtet wird, wie das Ensemble der Schauspieler besetzt war, wie die einzelnen Szenen gestaltet wurden, wer Regie führte, wie das Bühnenbild und das Kostüm gestaltet waren usw.407 Die vorgenannten Fragestellungen bilden den Ansatz, um eine Theateraufführung rekonstruieren zu können. Auf der anderen Seite soll die Aufnahme des Dramas seitens des Publikums herangezogen werden, denn es ist entscheidend bei der Inszenierungsanalyse, nicht nur auf die Seite der Produktion zu achten, sondern auch auf die Seite der Rezeption. Die Reaktion des Publikums auf die Aufführung und die Rezension eines Kritikers sind auch ein relevanter Teil der Bedeutung einer Inszenierung, denn es geht um die Wechselwirkung zwischen Bühne und Publikum. Das Publikum im Zuschauerraum beobachtet nicht nur die Darstellung auf der Bühne, sondern auch nimmt mit allen Sinnesorganen wahr, was auf der Bühne geschieht und erlebt dies mit. Das Sehen und das Erfahren einer Aufführung im Theater unterscheiden sich in qualitativer Hinsicht deutlich von dem Sehen einer filmischen Aufzeichnung einer Aufführung. Aus den zeitgenössischen Berichten kann man herausarbeiten, wie die Inszenierung auf der Bühne erschienen haben mag und wie die damaligen Zuschauer auf die Inszenierung reagierten. Die Briefe an Schiller, Zeitschriftenbeiträge, ggf. das Tagebuch eines Schauspielers und die anderen Berichte über die Inszenierung bilden Quellen hierfür.408

407 Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne, S. 5. 408 Vgl. Kapitel IV 1. 2.

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(5) Innere Struktur der Theaterproduktion in Weimar und in Berlin

Es muss für die Inszenierungsanalyse berücksichtigt werden, in welcher Struktur der Prozess der Theaterproduktion um 1800 zur Zeit Schillers eingefügt war. Es gab bis weit ins 19. Jahrhundert keinen Regisseur, der im heutigen Sinne den gesamten Arbeitsprozess der Inszenierung von der Erstellung der „Strichfassung“, über die Proben bis zur Premiere, prägte.409 Die Proben zum Einstudieren der Aufführungen waren sowohl in den Wandertruppen des 18. Jahrhunderts als auch an der stehenden Bühne nicht üblich.410 Der Schauspieler erhielt meistens nicht den gesamten Dramentext, sondern nur seinen Teil für die Rolle.411 In diesem Sinne führte Goethe eine Neuerung zum Theater hinein, dass die Schauspieler nicht nur sein Teil sondern auch das gesamte Stück kennen sollten, damit jeder die Funktion seiner Rolle im dramatischen Kontext erkennen kann.412 Der damalige ‚Regisseur’ kontrollierte eher den gesamten Ablauf und die Ordnung des Theaters, was der Aufgabe der Inspizienten am heutigen Theater betrifft. 413 Die Aufgabe des Regisseurs wurde meistens von einem älteren Schauspieler übernommen. In Weimar spielte der Regisseur eine administrative Rolle. Er sorgte für die Finanzen des Theaters und plante die Proben, doch es wurden ihm nur selten Lese- und Stellproben anvertraut.414 Die künstlerische Leitung der Inszenierung, die Aufgabe eines Regisseurs im heutigen Sinne, hätte Goethe zwar als Theaterdirektor übernehmen können, aber er bevorzugte, sich auf die

409 Vgl. Theo Girshausen: Art. »Regietheater«, in: Curt Bernd Sucher (Hg.): Theaterlexikon. In zwei Bänden, Bd. 2: Epochen, Ensemble, Figuren, Spielformen, Begriffe, Theorien, München 1996, S. 348-351, hier S. 349. 410 Vgl. ebd., S. 349. 411 Vgl. Ulrike Müller-Harang: Das Weimarer Theater zur Zeit Goethes, Weimar 1991, S. 54: Es war damals üblich, dass dem Schauspieler nur der Rolle entsprechende Teil des Manuskripts verteilt wird. 412 Ebd. 413 Inspizient ist verantwortlich für den Bühnenaufbau vor der Aufführung und sorgt während der Aufführung hinter den Kulissen für einen reibungslosen technischen Ablauf der Vorstellung, indem er z. B. dem Schauspieler das Zeichen zum Auftritt gibt. Vgl. Bernard Poloni: Art. »Inspiziet«, in: Brauneck / Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, S. 441. 414 Vgl. Birgit Himmelseher: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Kunstanspruch und Kulturpolitik im Konflikt, Berlin 2010, S. 31.

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disziplinarische, administrative und repräsentative Funktion des Intendanten zu konzentrieren. 415 Stattdessen hat er Schiller die Rolle der künstlerischen Leitung anvertraut, um die nötigen ästhetischen Impulse zu geben.416 Dies war aber keine offizielle Ernennung, da der Herzog es nicht genehmigt hatte.417 Trotzdem konnte Schiller seine Intention, die er als Dramatiker in seinem Stück umgesetzt hat, im Prinzip auf der Bühne umsetzen. Die Schiller-Inszenierung am Weimarer Hoftheater kann also als am dramatischen Text treu arbeitende Inszenierung verstanden werden, da es keinen großen Unterschied zwischen dem ersten Manuskript und dem aufgeführten Theaterstück gab. Dies ist ein relevanter Punkt, um die zeitgenössische Inszenierung von Schillers Dramen zu verstehen. Die Änderungen entstanden nicht aufgrund von theaterinternen Angelegenheiten, sondern wurden durch externe Einflüsse verursacht, wie z. b. die Zensur des Herzogs. Die Berliner Inszenierung kann stattdessen schon als eine relativ unabhängige Fassung von der Intention des Dramatikers betrachtet werden. In Berlin befindet sich die Inszenierungsarbeit der Maria Stuart in einer anderen Lage als in Weimar. Das Stück konnte nach der Intention des Berliner Regisseurs auf der Bühne dargestellt werden. Der Dramatiker hatte in der Zeit kein Recht auf die Aufführung des eigenen Stücks, wenn statt des Theatermanuskripts die Druckfassung zur Inszenierung verwendet wird. Aber in der Wirklichkeit gab es zwischen dem Dramatiker und dem Intendanten als Regisseur durchaus einen Austausch.418 Aus diesem Grund ist es hochinteressant, zu untersuchen, wie die Inszenierung der Maria Stuart im Rahmen dieser Struktur des Theaters erfolgte.

415 Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 35; Vgl. Girshausen: Art. «Regietheater», in: Sucher (Hg.): Theaterlexikon, Bd. 2, hier S. 349. 416 Vgl. Kapitel I. 2. 417 Vgl. ebd. 418 Vgl. Kapitel IV. 3. 2.

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1.2. Materialien für die Rekonstruktion der Schiller-Inszenierung

Bühnenbearbeitung & Dramentext

Theaterkritik Briefwechsel

Rekonstrutkon der Inszenierung

Bühnen- und Berichte der Kostümbild Zeitgenossen

Theaterzettel

Beispiele Materialien für die Rekonstruktion einer historischen Inszenierung

(1) Bühnenbearbeitung & Dramentext

Die grundlegenden Materialien für die Inszenierungsanalyse sind zunächst die Bühnenbearbeitung und der Dramentext. Die Bühnenbearbeitung ist die „zum Zweck einer bestimmten ↗Aufführung [und gemäß des Geschmackes der Zeiten] redigierte ↗Fassung eines Dramentextes“.419 Der Dramentext ist die originale Fassung des Dramatikers und gilt als Fundament für die Bühnenbearbeitung. Er wird vom Dramaturgen so bearbeitet, dass er an die besondere Situation des Aufführungsortes bzw. der Aufführungszeit angepasst wird. Die dramaturgische Bearbeitung zeigt zunächst, welche Stelle im Vergleich zum Dramentext gestrichen bzw. ergänzt wurde und darüber hinaus in welcher Form das Stück auf die Bühne eingebracht wird. Gibt es keinen großen

419 Vgl. Andrea Heinz: Art. »Bühnenbearbeitung«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S.108.

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Unterschied zwischen dem Drama und der Bühnenfassung, bedeutet dies, dass die ursprüngliche Intention des Dramatikers im Dramentext zum großen Teil vonseiten der Dramaturgie aufgenommen und auf die Bühne dargestellt wird. Im Fall Schillers hatte er sowohl seine eigenen Stücke als auch fremde Dramen für das Weimarer Hoftheater bearbeitet.420 Die Bühnenbearbeitung ist eine wichtige Komponente einer Inszenierung, um zunächst herauszufinden, wie das Stück der zeitgenössischen Situation der Aufführungszeit angepasst bearbeitet wurde. Sowohl in der Weimarer als auch in der Berliner Inszenierung der Maria Stuart wurde nicht die Druckfassung, sondern das vom Dramatiker fertiggestellte Manuskript in die Bühnenfassung umgearbeitet. Die Druckversion des Stücks entstand erst später nach den Aufführungen in beiden Orten im April 1801. Die Intention des Dramatikers für die jeweilige Inszenierung kann abgeleitet werden, wenn die Bühnenbearbeitung untersucht werden kann. Leider aber sind die Bühnenbearbeitungen von beiden Inszenierungen nicht vorhanden. Als alternatives Material für die fehlenden Bühnenbearbeitungen für die beiden Inszenierungen kann das Hamburger Theatermanuskript angesehen werden. Das erste Hamburger Theatermanuskript, das als „h3“ SUB Hamburg bekannt ist,421 das autorisierte Theatermanuskript, das Schiller am 28. Juni 1801 von Lauchstädt aus an den Hamburger Intendanten Jakob Herzfeld übersenden ließ. 422 Es ist unter den übrig gebliebenen Manuskripten am vertrauenswürdigsten, da es verglichen mit den anderen überlieferten Manuskripten der Bühnenbearbeitung in engstem Bezug zur Bühnenbearbeitung steht.423 Schiller hat das Theatermanuskript für die Weimarer Inszenierung nach

420 Vgl. Andrea Heinz: Art. »Bühnenbearbeitung«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S.108. 421 Über das Hamburge Theatermanuskript: Vgl. NA 9/I, S. 193. 422 Nach zwei Briefe Schillers an Herzfeld am 28. Juni und 16. Juli 1801 schreibt Herzfeld an Schiller am 25 Juli 1801, dass das Manuskript immer noch nicht angekommen sei. Daraufhin berichtet Becker im Brief an Schiller am 27. Juli 1801, dass er das Manuskript nach Hamburg geschickt habe. Vgl. NA 9/1, S. 250f. 423 Allerdings unterscheidet sich die tatsächliche Aufführung möglicherweise davon. Auf die Bühnenbearbeitungen um 1800 bietet die Nationalausgabe 9/1 einen Überblick. Die erste Weimarer Fassung wurde direkt nach der UA in Weimar jeweils dem dortigen Intendanten an Iffland (am 22. Juni, 1800) in Berlin und Opitz (am 30. Juni, 1800) in Leipzig geschickt. Es

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der UA in Weimar an mehrere Intendanten an den verschiedenen Theater gesendet.424 In seinem Brief an Herzfeld bestätigt Schiller, dass Maria Stuart in Lauchstädt, einer Weimar benachbarten Stadt, aufgeführt wurde und sowohl in Berlin (UA 8. Jan. 1801) als auch in Leipzig (UA 16. Juni 1801) nach diesem Theatermanuskript aufgeführt werden solle. 425 Das heißt zum einen, das Manuskript wurde im Jahr 1801 als Grundlage sowohl für die Weimarer als auch die Berliner Bühnenfassung bearbeitet. Allerdings könnte die tatsächliche Aufführung durchaus Differenzen zum Theatermanuskript aufgewiesen haben, je nachdem, wie es bearbeitet wurde.426 Die Handschrift h3 könnte das gleiche Theatermanuskript sein, das Schiller am 22. Juni 1800 nach der UA in Weimar an Iffland geschickt hat, wenn er danach keine weitere Bühnenfassung nach Berlin gesendet hat. Zum anderen wird angenommen, dass Schiller die Bühnenfassung der Maria Stuart in Manuskriptblättern der Druckfassung, die im April 1801 publiziert wurde, noch mal ausgearbeitet hat, von diesem Konvolut eine Abschrift der Bühnenfassung herstellen ließ und diese nach Hamburg schicken ließ.427 Trotz der fehlenden absoluten Beweise über das Verhältnis zwischen h3 und der Weimarer Bühnenbearbeitung kann h3 als autorisiertes Manuskript im Vergleich zu anderen Manuskripten insofern als vertrauenswert gelten, da es der Dramatiker selbst erwähnte und bestätigte.

sind sogenannte das Berliner Theatermanuskript und Leipzig-Dresdner Theatermanuskript, aber wurden weder überliefert noch dokumentiert. Vgl. NA 9/I, S. 192-195. 424 Maria Stuart wurde in Berlin, Schwerin, Leipzig, Breslau, Hamburg, Magdeburg, Köln, Stuttgart, Frankfurt a. M. und in Mannheim aufgeführt. Der Dramatiker kontaktierte selbst die Intendanten vor Ort und sandte ihnen das Manuskript der Maria Stuart zu, oder wurde andersherum vom Intendanten um das Manuskript zur Inszenierung des Stücks gebeten. Vgl. NA 9/I, S. 333-349. 425 Brief Schillers an Jakob Herzfeld; Vgl. NA 31, S. 44. 426 Es könnte sich sogar um dasselbe Manuskript handeln, das er nach der UA in Weimar an Iffland 1800 gesendet hat. Es ist aber nicht prüfbar, da es keine genügenden bzw. vergleichbaren Manuskripte vorhanden sind. Vgl. NA 9/I, S. 193. Das Mannheimer Manuskript ist vermutlich die Abschrift des Leipzig-Dresdner Theatermanuskript, das von Opitz nach Mannheim am 9. Feb. 1802 geschickt wurde. Neben den Theatermanuskripten gibt es eine englische Teilübersetzung, die vor dem Erstdruck veröffentlicht wurde. Vgl. ebd., S. 183. 427 Vgl. NA 9/I, S. 193f u. S. 343f.

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Es ist aber nötig neben dem Hamburger Manuskript die erste Druckfassung als Grundlage für die Inszenierungsanalyse zu verwenden, um das Dilemma der Abwesenheit des einheitlichen ersten Manuskripts und der jeweiligen Bühnenbearbeitung aufzulösen. Dabei wird die erste Druckversion des Stücks mit dem Hamburger Manuskript verglichen.

(2) Briefwechsel

Wichtiges Material für die Inszenierungsanalyse liefert der Briefwechsel des Dramatikers. Im 18. Und 19. Jahrhundert erreichte die Briefkultur in Deutschland ihren Höhepunkt. Besonders wurde Brief für die Bürgerlichen in Bezug auf ihre Emanzipation als wichtiges Medium betrachtet, weil man sich da seine Souveränität behaupten und in der brieflichen Beziehung das Bedürfnis nach intensiver persönlicher schriftlicher Kommunikation jenseits der ausgeschlossenen Gesellschaft ausdrücken konnte. 428 Darüber hinaus diente Briefwechsel als „Träger gemeinsamen Denkens und Fühlens“429 und wurde zur poetologischen und philosophischen Werkstatt, aus dem literaturkritischen und philosophischen Abhandlungen entwickelten haben.430 Der Briefwechsel war für Schiller ein Mittel, sich mit dem Empfänger des Briefs seine über seine literarische und theatralische Beschäftigung auszutauschen. Es kann auch gezeigt werden, wie der Prozess der Inszenierung, um die es hier geht, konkret in den brieflichen Austausch eingegangen ist. Das wichtigste Beispiel hierfür ist der Briefwechsel Schillers mit Goethe. Ihr Briefwechsel umfasst die gesamte gemeinsame Arbeitszeit am Klassizismus- Projekt (1794-1805) und kann als „Gründungsurkunde der Weimarer Klassik“431

428 Vgl. Jochen Golz: Art. »Brief«, in: Weimar (Hg.): Reallexikon, Bd. 1, S. 251-255, hier S. 252; Vgl. Elke-Maria Clauss: Art. »Brief«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 98-99, hier S. 98. 429 Vgl. Elke-Maria Clauss: Art. »Brief«, in: ebd., S. 98-99, hier S. 98. 430 Vgl. Georg Guntermann: Art. »Brief«, in: Horst u. Rainer Moritz (Hg.): Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2006, S. 63-65, hier S. 63; Vgl.Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 8., verbesserte und erweitere Auflage, Stuttgart 2001, S. 101ff. 431 Reiner Wild: »Briefwechsel Schiller-Goethe«, in: Luserke-Jaqui: Schiller-Handbuch, S. 537-

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verstanden werden, in der über ihre gemeinsamen Überlegungen hinsichtlich einer klassizistischen Programmatik ausgetauscht wurde. Der Briefwechsel wurde ab 1800 geringen, da die beiden nach dem Umzug Schillers nach Weimar 1799 nah zueinander lebten. Trotzdem ist der briefliche Austausch zwischen beiden Dichtern eine wichtige Quelle, aus der ihre persönlichen Positionen im Hinblick auf die Inszenierung der Maria Stuart abgeleitet werden können.432 Ein weiterer wichtiger Briefwechsel für die Inszenierungsanalyse ist der Austausch Schillers mit seinem vertrauten Freund und Ratgeber Christian Gottfried Körner (1756-1831). 433 Er ist neben Goethe eine der wichtigen Personen, zu denen Schiller lebenslange Beziehung hatte. Die beiden haben in allen Bereichen des Lebens von der Kunst, Poesie und Philosophie bis zu den Problemen des alltäglichen Lebens im Briefwechsel ausgetauscht.434 Körner teilt über den Briefwechsel seine Meinung über das neue Stück mit. Er durfte im Hinblick auf die bisherige literarische Entwicklung Schillers durchaus kritische Bemerkungen äußern, da er Schillers literarische Tendenz seit der Anfangszeit kannte und begleitete.435 Darüber hinaus sind die Briefe von Heinrich Becker (1770-1822) ebenfalls relevante Materialien für die Rekonstruktion der Schiller-Inszenierung.

545, hier S. 537. Goethe erhielt nach dem Tod Schillers von dieser Familie eigene Briefe, die er an Schiller geschrieben hatte, zurück und bereitete die Drucklesung des Briefwechsels vor. Er sah die Herausgabe des Briefwechsels als „eine Art von Fortsetzung seiner autobiographischen Schriften“. 432 Schiller berichtet Goethe im Brief vor der Uraufführung der Maria Stuart über den Schreibprozess seines Dramas, so dass dieser während seiner Abwesenheit einen Überblick auf die Inszenierung bekommen hat. Schillers Brief an Goethe am 5. und 9. Mai 1800. Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 1: Text, S. 919f u. 921f. 433 Körner war Konsistorialrat in Dresden und preußischer Staatsrat. Er war auch Schriftsteller, Musiktheoretiker und dilettierender Komponist. 1785 lud er Schiller von Mannheim nach Leipzig und Dresden, und unterstützte ihn finanziell. Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 2: Kommentar, S. 545. 434 Georg Kurscheidt: »Briefwechsel Schiller-Körner«, in: Luserke-Jaqui, Schiller-Handbuch, S. 545-559, hier S. 551. 435 Z. B. hat Schiller über das Gastspiel von Unzelmann in Weimar unterschiedliche Aussage in verschiedenen Briefen gemacht. Iffland hat er eine positive Bemerkung geteilt, aber Körner hat er seine kritische Meinung geäußert. Schillers Brief an Körner am 23. Sept. 1801: Vgl. NA 31, S. 58f; Schillers Brief an Iffland am 23. Sept. 1801: Vgl. NA 31, S. 60.

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Er war selber Schauspieler und Regisseur am Weimarer Hoftheater 436 und spielte die Rolle von Wilhelm Cecil, den Baron von Burleigh. Er berichtete Schiller in Briefen über die Proben und Aufführungen des Stücks, wenn das Ensemble außerhalb Weimar in den Nachbarstädten spielte. Seine Aussagen sind so ausführlich, dass man Details der Aufführung gut rekonstruieren kann. Außerdem ist er eine Schiller nahestehende Person, die die Inszenierung Schillers und seine Auffassung vom Theater selbst erlebte und an der Weimarer Inszenierung mitwirkte. Für die Berliner Inszenierung ist der Briefwechsel zwischen Schiller und Iffland, dem Intendanten, von zentraler Bedeutung für die Inszenierungsanalyse.

(3) Berichte der Zeitgenossen

Die Berichte der Zeitgenossen können im Vergleich zum Manuskript als Material für die Inszenierungsanalyse als eine authentische Wahrnehmung und Wirkung der zeitgenössischen Darstellung betrachtet werden. Sie sind relevante Quelle für die Rekonstruktion einer historischen Inszenierung, da sie die damalige Aufführung aufgrund der direkten und indirekten Erfahrung beschreiben und repräsentieren. Es handelt sich dabei um verschiedene Berichte von den Schauspielern, die im Theaterstück mitgespielt haben, aber auch aus dem Publikum, das die Aufführung angeschaut bzw. das Stück gelesen hat. Ein gutes Beispiel ist die Schrift von Eduard Franz Genast (1797-1866) über die Erinnerung seines Vaters Anton Genast (1763-1831).437 Eduard Franz Genast war selbst Regisseur und Schauspieler am Weimarer Hoftheater. Sein Vater hatte zusammen mit Heinrich Becker das Amt des Regisseurs am Weimarer Hoftheater unter der Leitung Goethes begleitet und hatte an vielen Stücken Goethes und Schillers sowohl als Regisseur als auch als Darsteller teilgenommen. Daneben wird auch der Bericht von Caroline Jagemann (1777-1846), der

436 Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 2, S. 512. 437 Vgl. Eduard Genast: Aus dem Tagebuch eines alten Schauspielers. 4 Teile, Leipzig 1862- 1866.

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bedeutendsten Schauspielerin am Weimarer Hoftheater, die in der Uraufführung in Weimar die Rolle der Elisabeth übernommen hat, hier untersucht.438 Eine bemerkenswerte Sammlung, die einen Überblick über Berichte, Reaktionen und kritische Anschauung der Zeitgenossen von Schiller und über die zeitgenössische Inszenierung von Schillers Stücken und deren Rezeption bietet, ist die Schrift Schiller und sein Kreis von Oscar Fambach. 439 Die Besonderheit dieser Schrift besteht darin, dass sie von der Rezeption der Werke Schillers zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Erstdrucks bis zur Reaktion auf die Aufführung des jeweiligen Stücks auf der zeitgenössischen Bühne Dokumente sammelt und übergreifend darstellt. Außerdem stellt diese Schrift im Anhang die wichtigen Rezensionen und Äußerungen über die Werke Schillers und deren Inszenierung aus Literaturzeitschrift und Zeitung bis zum Tod des Dramatikers dar. Die Materialien sind je nach der Gattung und Form systematisch sortiert.440

(4) Theaterzettel

Der Theaterzettel ist das Ankündigungsblatt einer Theateraufführung, auf dem grundlegenden Informationen über die Aufführung stehen. Im 19. Jh. haben die stehenden Theater auf dem Theaterzettel Angaben wie z. B. Datum, Name der spielenden Gesellschaft, Titel und Gattung des Stücks, Verfasser, Personen- und Darstellerverzeichnis, Schauplatz, Eintrittspreise, Zeitangabe beinhaltet. Es war das offizielle Ankündigungsblatt bis 1894, als das erste Programmheft erschien und den Theaterzettel ablöste. 441 Im Vergleich zum heutigen Programmheft fehlen auf dem Theaterzettel die Informationen über andere theatralische Komponenten wie Dramaturgie, Kostüm, Bühnenbild, Licht und Musik – also alle möglichen ästhetischen Momente der Inszenierung. Der Theaterzettel für die

438 Ruth B. Emde (Hg.): Selbstinszenierung in klassischen Weimar: Caroline Jagemann, 2. Bd., kommentiert in Zusammenarbeit mit Achim von Heygendorff, Göttingen 2004, später als „Emde: Caroline Jagemann“ bezeichnet. 439 Oscar Fambach: Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit, Berlin 1957. 440 Vgl. ebd., S. 507-562. 441 Vgl. Andrea Heinz: Art. »Theaterzettel«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 767.

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Weimarer UA ist zum großen Teil in Weimar aufbewahrt,442 aber der aus Berlin ist nur zum Teil vorhanden.443

(5) Bühnen- und Kostümbild

Bühnen- und Kostümbild gestalten sowohl den Bühnenraum als auch die Schauspieler szenisch-visuell, angepasst an das Inszenierungskonzept. Sie vergegenwärtigen Ort und Zeit der Handlung auf der Bühne mit Hilfe von gemalten Dekorationsteilen, plastischen Versatzstücken und Kleidungen, die in Bezug zur Figurencharakteristik stehen. 444 Alexander Košenina bewertet Abbildungen (von Kostüm oder Bühnenbild) trotz deren Unterschätzung in der Forschung als eines der wichtigsten Materialien zur Rekonstruktion der historischen Bühnenpraxis. 445 Er behauptet, aus der Erläuterung der Illustrationen könne abgeleitet werden, „wie tatsächlich inszeniert, gespielt und ausgestattet wurde, was dem Publikumsgeschmack wirklich entsprach und welchen Einfluss das auf die Theorie der Schauspielkunst ausübte“. 446 Das wichtigste Moment der bildlichen Quelle beruht auf der relativen Unmittelbarkeit des visuellen Materials. Trotz der eingeschränkten Zahl der entsprechenden Quellen und trotz des Mangels an Einheitlichkeit der Quellen

442 In der Anna Amalia Bibliothek in Weimar sind die Weimarer Theaterzettel zwischen 1800 und 1805 unter der Signatur „ZC 120“ zu finden. Die Dokumente wurden in der Form von Mikrofisch bewahrt. Es fehlt aber hier die Theaterzettel von 14. Juni 1801, 28. Mai 1803, 20. Juni 1803, und 10. Aug. 1805. Der Theaterzettel von UA befindet sich in der NA 9/I; Vgl. NA 9/I, S. 439. 443 Das Stadtmuseum Berlin besitzt einige Theaterzettel von Maria Stuart, die von Berliner Nationaltheater vorgeführt worden sind. Nach der freundlichen Aussage von Frau Bärbel Reißmann, die für die Abteilung „Geschichte/Theater“ am Stadtmuseum Berlin Spandau zuständig ist. 444 Vgl. Andrea Heinz: Art. »Bühnenbild«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 108f, hier S. 108. 445 Alexander Košenina: »August Wilhelm Iffland (1759-1814): Zum 250. Geburtstag des Schauspielers, Dramatikers und Theaterdirektors«, in: Zeitschrift für Germanistik – Neue Folge, 19 (2009), H1, S. 178-183, hier S. 180: Košenina nennt als Beispiel für die Abbilder und Erläuterung zwei Quellen. Im ersten Beitrag über das Bild von Franz Moor im vierten Akt der Trauerspielfassung in Almanach für Theater und Theaterfreunde für das Jahr 1807 und 59 Figurenbilder in Ideen zu einer Mimik (1785/86) von Johann Jakob Engel. 446 Vgl. ebd., S. 179.

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können die Bilder bei der Rekonstruktion der Inszenierung ergänzen, was den textlichen Materialien fehlt. Für die Weimarer Inszenierung sind weder Bühnen- noch Kostümbild vorhanden, aber für die Berliner Inszenierung gibt es Kostümbilder, die Iffland veröffentlichen ließ.447 Die Kostümbilder der Berliner Inszenierung sind besondere Materialien, die für die Rekonstruktion der Inszenierung verwendet werden können. Iffland hat das Kostüm für die jeweilige Rolle bestimmt und als Muster zeichnen und veröffentlichen lassen. Diese Abbildungen sind für diese Untersuchung mediale Elemente, die dazu beitragen können, herauszuarbeiten, wie die Darstellung der Konzeption des Erhabenen im Kostümbild veranschaulicht werden sollte. In dieser Arbeit wird anhand der Berliner Kostümbilder untersucht werden, wie die theatralische Darstellung der Figur der Maria im Hinblick auf die Konzeption des Erhabenen eingegangen ist. Die Bilder, die hier im Folgenden verwendet werden, wurden mit entsprechender Genehmigung vom Stadtmuseum Berlin- Spandau direkt zur Verfügung gestellt.

(6) Theaterkritik

Theaterkritik ist „beschreibender, interpretierender oder wertender Bericht über eine Theateraufführung.“ 448 Es werden das Stück, die schauspielerische Leistungen der Darsteller und die Reaktionen des Publikums analysiert. Über die Inszenierung der Maria Stuart in Weimar und Berlin wurden viele Kritiken geschrieben. 449 Die meisten davon sind in Zeitschriften und Zeitungen erschienen.450 Theaterkritiken gehören zu den wichtigsten Materialien für die

447 Vgl. Kapitel Ⅳ. 2. 4. 448 Vgl. Andrea Heinz: Art. »Theaterkritik«, in: Burdorf (Hg.): Lexikon Literatur, S. 765-766, hier S. 765. Bei Ur- und Erstaufführungen wird vor allem der Inhalt des Stücks vorgestellt und kritisch betrachtet. Bei bekannten Stücken stehen die Interpretation und das Regiekonzept im Zentrum der Kritik. 449 Vgl. NA 9/I, S. 318-322. Die Nationalausgabe Nr. 9-I bietet einen Überblick auf die Rezensionen der Erstausgabe und der Übersetzung, und die Theaterkritiken an, die je nach dem Ort der Aufführung sortiert sind. 450 Es handelt sich u. a. um Eunomia, Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts, Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 1753-1801. Göttingen. Diesch Nr. 160;

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Untersuchung einer Inszenierung zur Zeit des Dichters, denn sie spiegeln die Aufnahme und die Reaktion seitens des Publikums bzw. der Empfänger des Werks wider. Sowohl die Weimarer als auch die Berliner Theaterkritiken haben ganz unterschiedliche Qualität und gehen in zwei Richtungen. Eine Art von Rezension behandelt spezifisch die Handlung des Stücks. Es wird hier auch erörtert, welcher Teil und welche Figur des Stücks vom Dramatiker erfunden wurden. Einerseits ist verständlich, dass die Rezension die Handlung des Stücks vorgestellte, da es noch keine Druckfassung des Textes gab. Andererseits ist aber fraglich, ob der Verfasser wirklich die Aufführung gesehen hat, wenn es sich in der Theaterkritik nur um die Handlung des Stücks dreht.451 Eine andere Art von Rezension ist diejenige, die sich auf die wirkliche Aufführung bezieht. Der Fokus liegt auf dem Schauspiel der Hauptdarstellerin. Diese Gattung der Rezension beschäftigt sich besonders viel mit der Darstellung der Figur, ohne unbedingt auf den Zusammenhang mit der Intention des Dramatikers zu achten.

Gothaische gelehrte Zeitungen, 1774-1804. Gotha. Diesch Nr. 284; Garlieb Merkel (Hg.): Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur und Allgemeine Literatur-Zeitung, Berlin. Bd. 1-7, 1800-03; Friedrich Nicolai (Hg.): Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 56-107. 1801-06. Berlin und Stettin, Diesch Nr. 225; Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd 1-55, 1793-1800. Kiel. Diesch Nr. 225. Für die Inszenierung des Stückes gibt es Berichte aus der Zeitschrift: Journal des Luxus und der Moden, Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts; Brennus. Eine Zeitschrift für das nördliche Teuschland; Zeitung für die elegante Welt. Außerdem gibt es die Zeitschriften, die über die zeitgenössischen Aufführungen berichten. Journal des Luxus und der Modes, Beilage zur allgemeine Zeitung und Allgemeine Literarischen Zeitung sind die Zeitschriften, die über die Aufführung mit kritischer Anschauung berichten und sie bewerten. 451 Z. B. in der Rezension von Christian August Vulpius wurde der Schwerpunkt auf die Handlung gelegt und es gibt keine Bemerkung über gegenwärtige Darstellung auf der Bühne. Hier ist es nicht beweisbar, ob man nur das Manuskript gelesen hätte bzw. indirekt davon gehört hätte. Vgl. S. [= vermutlich Christian August Vulpius]: »Über das Schauspiel Maria Stuart, von Schiller und dessen Aufführung auf dem Hoftheater zu Weimar«, in: Janus. Eine Zeitschrift auf Ereignisse und Tatsachen, gegründet 1 [Januar-Juni]. Nr 6 [Juni 1800], S. 524- 528.

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2. Das Weimarer Hoftheater als politisches und künstlerisches Umfeld für Schiller-Inszenierungen

Das Weimarer Hoftheater kann nicht nur als Inszenierungsort von Schillers Dramen, sondern auch des kulturpolitischen Zentrums betrachtet werden, in dem er mit Goethe das ästhetische Projekt des Weimarer Klassizismus umzusetzen versuchte. Der grundlegende Gedanke des ästhetischen Projekts wurde auch in das theatralische Feld übernommen. Das Publikum wurde in diesem Sinne von Schiller als Zielgruppe seiner ästhetischen Erziehung verstanden und die theatralische Darstellungsweise wurde auch nach diesem ästhetischen Konzept konkretisiert. Dabei geht es insbesondere um die Künstlichkeit als Darstellungsstil, die im Kontrast zur Wirklichkeit steht.

2.1. Das Weimarer Hoftheater: Ein kulturpolitisches Zentrum

Das Weimarer Hoftheater war für Schiller einerseits ein kulturpolitisches Zentrum, in dem er sein ästhetisches Projekt durch die theatralische Beschäftigung umsetzen konnte, anderseits aber litt er unter dem Druck des Fürsten und musste gegen die Zensur ankämpfen. Der Druck der Fürsten lastete lebenslang auf Schiller und seiner literarischen Arbeit. Schon früh in seinem Leben hatte er unter der Bedrohung durch seinen ehemaligen württembergischen Fürsten Carl Eugen fliehen müssen. In seiner Weimarer Phase war er zwar physisch frei, aber nicht ganz frei als Künstler, seine ästhetische Intention auf der Bühne zu verwirklichen. Denn er konnte sich nicht von der Meinung des Fürsten und Hofes völlig emanzipieren, obwohl das Problem im Vergleich zu früheren Zeiten abgemildert war.452 Trotz dieser Situation konnte Schiller mit der Unterstützung des Theaterdirektors Goethe an der künstlerischen Leitung des

452 Goethe arrangierte in der Mitte das Verhältnis zwischen dem Herzog und Schiller und ermutigte den Dramatiker, so dass dieser sich trotz der Zensur des Hofes mit seiner dramatischen Tätigkeit weiter beschäftigen konnte. Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 44ff.

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Theaters teilnehmen, was ihm einen neuen Weg bahnte, auf dem er sich von der theoretischen Zeit verabschieden konnte und sich mit Goethe im „Weimarer Klassizismus“ als einem kulturpolitischen Projekt engagieren konnte.

(1) Das Weimarer Hoftheater als Schillers ‚Stützpunkt’

Das Weimarer Hoftheater ist das repräsentative Umfeld für die dramaturgische und theatralische Arbeit Schillers zur Weimarer Zeit. Es war der neue Arbeitsmittelpunkt für ihn, in dem er seine theoretische Idee und dramatischen Werke auf der Bühne umsetzen konnte. Die Unterstützung vom Intendanten Goethe ermöglichte es ihm, seine Talente als Theatermann in vielfältiger Weise zu verwirklichen. 453 Er beteiligte sich dort als Dramatiker, Dramaturg, und künstlerischer Leiter.454 Die enge Verbindung mit dem Weimarer Hoftheater gab Schiller die Möglichkeit, seine Laufbahn als Dramatiker fortzusetzen. Alle seine späteren Stücke von der Wallenstein-Trilogie bis zu Wilhelm Tell verfasste er in seiner Weimarer Zeit in Verbindung mit dem Weimarer Hoftheater; alle Dramen wurden dort aufgeführt.455 Er konnte seine Dramen unter der Rücksicht auf das ihm bekannte Schauspielensemble abfassen, und wusste schon zu der Zeit der Abfassung, dass die Stücke dort aufgeführt würden. Es ist davon auszugehen, dass dieser Sachverhalt ihm Sicherheit gab, was einen grundlegenden

453 Vgl. Kapitel I. 1. 454 Vgl. ebd. 455 Alle Stücke, die in Schillers Weimarer Zeit verfasst wurde, wurden außer der Jungfrau von Orleans in Weimar uraufgeführt. Maria Stuart (UA 14. Juni 1800), Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder (UA 19. März 1803), Wilhelm Tell (UA 17. März 1804) werden in Weimar uraufgeführt. Die Jungfrau von Orleans (UA 11. Sept. 1801, Leipzig im Theater auf der Ranstädter Bastei) wurde wegen der Zensur des Herzoges erst im Jahr 1803 in Weimar auf die Bühne gebracht, nachdem es in anderen Städten wie Leipzig, Dresden (EA, 26. Jan. 1802) und Berlin (EA, 23. Nov. 1801) aufgeführt wurde. Herzog fand das Stück anstößig, da dessen Stoff an das damals problematisch angesehene Voltaires Epos erinnert. Außerdem hatte er auch Sorge dafür, dass seine Geliebte, die Schauspielerin Caroline Jägermann, die angeblich die Titelrolle Johanna spielen sollte, wegen des Stücks zum Spott gelingen könnte. Schließlich wurde die Titelrolle von Amalie Miller-Malcolmi gespielt. Vgl. Ariane Martin: »Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie (1801)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 168-195, hier S. 186f, später als „Martin: »Jungfrau von Orleans« bezeichnet.

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Unterschied zu seiner Mannheimer Zeit darstellte.456 In diesem Sinne wurden Schillers Stücke für das lebendige Theater geschrieben und sie sind ohne auf das Verhältnis zum Theater zu achten, schwierig nachvollzuziehen. 457 Das Weimarer Hoftheater wird nicht nur als Ort der Herstellung einer Inszenierung bzw. der Aufführung betrachtet, sondern deren Bedeutung kann im inneren und äußeren Kontext erweitert interpretiert werden. Sowohl die politischen als auch literarischen Sichten sind miteinander verwoben und spielen eine entscheidende Rolle als Umfeld des Weimarer Hoftheaters.

(2) Das kulturpolitische Zentrum des Weimarer Klassizismus

Das Weimarer Hoftheater ist für Schiller nicht nur ein Ort, an dem seine Dramen auf die Bühne gebracht werden, sondern auch ein kulturpolitisches Zentrum, innerhalb dessen er mit und auf der Bühne das ästhetische Projekt des Weimarer Klassizismus mit Goethe umsetzen wollte. 458 Dies kann im Rahmen der zeitgenössischen geschichtlichen Situation verstanden werden. Die Zeit um 1800 ist eine Übergangszeit in Deutschland. Zwei verschiedene historische Epochen fließen ineinander. Auf der einen Seite stand politisch das Ancien Regime, die aristokratische Vormachtstellung in den Ländern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Auf der anderen Seite herrschte in ganz Europa eine antiaristokratische, quasi-demokratische oder republikanische

456 Am Mannheimer Nationaltheater war er nur kurzfristiger angestellter Theaterdichter. Er konnte sich unter der Leitung des damaligen Intendanten Dalberg, der über die Aufführung seiner Stücke entschied, begrenzt an der künstlerischen Leitung beteiligen. Vgl. Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne, S. 9. 457 Vgl. Franz Hadamowsky: »Das dramatische Werk Schillers in Wien«, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 5 (1959), S. 208-212, hier S. 208, später als „Hadamowsky: »dramatische Werk Schillers«“ bezeichnet. 458 Das Theater war ein Ort, in dem das Publikum durch ästhetische Erfahrung bzw. Beschäftigung zu verantwortungsvollen, politischen Menschen gebildet wird. Vgl. Himmelseher: Weimarer Hoftheater, 102. Schillers Wallensteins Lager, die im Herbst 1798 zur Eröffnung des renovierten Weimarer Hoftheaters uraufgeführt wurde, war die erste Gelegenheit für beiden Dichter, durch die Wirkung der theatralischen Darstellung ihr kulturpolitisches Konzept verwirklichen zu können. Vgl. ebd., S. 54.

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politische Strömung, die eine Folge der Französischen Revolution war.459 Der Weimarer Klassizismus kann als eine Reaktion von der Seite der deutschen Intellektuellen auf die Französische Revolution verstanden werden, die der befürchteten Desorientierung durch die französischen Ereignisse eine neue, eigentlich alte, ästhetische Ordnung entgegenzusetzen versuchten.460 Die von Schiller 1794 herausgegebene Zeitschrift Die Horen bietet die theoretische Grundlage des Weimarer Klassizismus, die auch schließlich auf sich eine kulturpolitische Bühnenkonzeption auswirkte.461

»Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Kriegs das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert und nur allzuoft Musen und Grazien daraus verscheucht, […] Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. […] Man wird streben, die Schönheit zur Vermittlerin der Wahrheit zu machen und durch die Wahrheit der Schönheit ein dauerndes Fundament und eine höhere Würde zu geben. «462

Schiller formuliert in der „Öffentlichen Ankündigung“ für seine neue Zeitschrift seine Überlegungen, die als Aufruf zu einem ästhetischen Projekt anstelle der kriegerischen Revolution betrachtet werden können. Er distanziert sich von der damaligen politischen Situation und schlägt den alternativen Weg durch die ästhetische Erziehung vor. Die einzelne Person wird durch die Kunst befördert, ihren Charakter zu veredeln und zum Humanitätsideal des ‚ganzen Menschen’

459 Vgl. Jürgen Wertheimer / Angelika Lochmann: Art. »Französisch-deutsche Literaturbeziehnungen«, in: Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methode. Hg. v. Volker Meid, Gütersloh·München 1992, S. 314-324, hier S. 317ff: literarisch gesehen befinden sich ebenfalls zwei unterschiedliche Auffassungen. Zunächst gab es eine traditionelle Sicht, die den Französischen Klassizismus als Vorbild wählte und weiterführte, wobei dies im Anschluss an Gottsched geschah. Auf der anderen Seite befanden sich die literarischen Strömungen, die anstelle von Racine und Corneille, Shakespare und die griechische Antike als Vorbild für die deutsche Literatur heranzogen. Vgl. ebd., S. 159-162. 460 Vgl. Dörr: Weimarer Klassik, S. 43. 461 Vgl. ebd., S. 47. 462 Heinz Drügh u. Christian Metz (Hg.): Weimarer Klassik. Das große Lesebuch, Frankfurt a. M. 2009, S. 57f.

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erzogen zu werden. Die Verbesserung des Individuums soll sich schließlich auf die soziale Ordnung und staatlichen Strukturen auswirken und letztlich zu einem Staat der Freiheit und Gleichheit führen.463 Diese grundlegenden Gedanken des Dramatikers wurden als das ästhetische Konzept ins theatralische Feld übernommen. Das Publikum verstand Schiller als Zielgruppe seiner ästhetischen Erziehung. 464 Es soll nach dieser Konzeption durch die theatralischen Darbietungen zu einem verantwortungsvollen und politischen Menschen ästhetisch gebildet und herangezogen werden.465 Die Bedeutung des Theaters als Ort der Massen wurde nach der Französischen Revolution relevant, da die Fürsten alle Versammlungen verboten hatten. Das Theater war neben dem Fest einer der wenigen Orte, an dem es den Massen erlaubt wurde, sich zu versammeln. Gleichzeitig aber wurde sie auch überwacht.466 Daher bildete das Theater einen Raum der Begegnung, der eine öffentliche Meinung hervorbringen konnte. Dafür galt es im ausgehenden 18. Jahrhundert als idealer Ort, da es eine öffentliche Institution war, die sowohl für Adelige als auch für Bürger zugänglich war.467 In Weimar z. B. kamen Besucher aus allen gesellschaftlichen Schichten zum Theater: Fast alle Schichten von den fürstlichen und adligen über die bürgerlichen Familien, von den Studenten aus der benachbarten Stadt Jena bis zu den untersten Schichten besuchten das Theater. 468 In diesem Sinne entstanden Schriften wie Vorreden, Publikumsansprachen und Ankündigung der Theateraufführung als konkrete Mittel, um die Wirkung der theatralen Darstellung gemäß dem ästhetischen Konzept zu lenken und vor allem das Publikum darauf vorzubereiten.469

463 Vgl. Himmelseher: Weimarer Hoftheater, S. 47f. 464 Vgl. Dörr: Weimarer Klassik, S. 50. 465 Vgl. ebd., S. 102. 466 Vgl. Hadamowsky: »dramatische Werk Schillers«, S. 208. 467 Vgl. Müller-Harang: Weimarer Theater, S. 84. 468 Am Weimarer Hoftheater gab es ungefähr 400 Plätze für Zuschauer, wenn es ein volles Haus wäre. Vgl. ebd., S. 82. 469 Vgl. Himmelseher, S. 54.

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(3) Ein Hof-Theater, das Verhältnis zum Weimarer Hof

Die Weimarer Bühne war in Prinzip ein Hoftheater, das sich unter der Kontrolle des Fürsten Carl August befand. 470 Trotz der Initiative der beiden Dichter, anstatt der politischen Rebellen durch die ästhetische Erziehung des Menschen die politische Entwicklung zu erreichen, gab es auch Spannungen zwischen der künstlerischen Leitung und dem Hof. Das Theater war nicht unabhängig von der politischen Meinung und dem Kunstgeschmack des Fürsten. Der Weimarer Hof und sein Fürst, Carl August, waren naturgemäß Gegner der Französischen Revolution und wollten die althergebrachte Staatsform verteidigen und bewahren. Der Herzog, der das höfische Ideal auch auf der Bühne einbringen wollte, äußerte nicht öffentlich seine Meinung, wollte aber in grundlegender Weise Einfluss auf den kulturellen Bereich ausüben.471 Das Hoftheater wurde im Prinzip vom Herzog indirekt zensiert, indem er die Spielplangestaltung, die Regie, das Bühnenbild und die Aufführungspraxis seines Hoftheaters kommentierte. Darüber hinaus hatte der Fürst deutliche Vorliebe im literarischen Bereich. Der Herzog interessierte sich für die höfische Literatur des französischen Ancien Regime. Er war Anhänger eines maßvollen Französischen Klassizismus. Aus diesem Grund wurden die Stücke, die sich direkt auf die Revolution in Frankreich bezogen, ebenso verboten wie Dramen mit kirchenkritischen und religionsfeindlichen Themen.472 Carl August wies den von ihm zum Direktor des Hoftheaters ernannten Goethe dazu an, das Programm des Theaters dem Hofgeschmack anzupassen.473 Das Verhältnis zwischen Schiller und dem Herzog war nicht vertrauensvoll. Schiller hatte selbst seine Meinung hinsichtlich der Französischen Revolution geändert, seitdem diese in unkontrollierte Gewalt umschlug. Er setzte sich von der damaligen aggressiven Tendenz der Revolution

470 Vgl. Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Gothes und Schillers, Ulm 2008, S. 15. 471 Vgl. Himmelseher: Weimarer Hoftheater, S. 105. 472 Alt, ebd., S. 17. 473 Vgl. ebd., S. 15.

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ab und begründete mit Goethe ein kulturpolitisches Programm als Alternative zur Revolution.474 Trotz seines Verhaltens gegenüber der Revolution betrachtete der Herzog Schiller als Rebellen und traute Schillers politischer Gesinnung nicht vollständig. Er sprach zwar nicht öffentlich seine kritische Meinung über Schiller aus, teilte aber seine Skepsis in privaten Sphären mit.475 Der Herzog hielt an seiner kritischen Anschauung der Aufführungen von Schillers Stücken vom Wallenstein bis zur Braut von Messina fest. Das Missverständnis des Herzogs gegenüber Schiller kann dahingehend begründet werden, dass er die neue ästhetische Konzeption Schillers nicht aus der kunstästhetischen Perspektive betrachtet hat.476 Vielmehr hat er das Theater als gesellschaftliche und politische Indikatoren für das Verhältnis zum Ancien Regime gesehen. Darüber hinaus hat er versucht, an der künstlerischen Darstellung seine eigene kulturpolitischen Überlegungen durchzusetzen. 477 Daher sah der Fürst das Angebot von Goethe kritisch, Schiller in die Arbeit des Theaterdirektoriums zu integrieren. 478 Goethe, der einerseits Politiker und Freund des Herzogs, andererseits künstlerischer Mitarbeiter und Freund Schillers war, versuchte diplomatisch einen Kompromiss für das Verhältnis zwischen dem Herzog und Schiller zu schaffen.479 Erst im Winter 1804/05 kurz vor dem Tod Schillers wurde die Weimarer Bühnen-Kooperation zwischen Goethe und Schiller vom Fürsten anerkannt, da Schiller einige theatralische Produkte auf die Bühne gebracht hat, die dem Herzog gefallen haben. Zum Anlass der Vermählung des weimarischen Erbprinzen Carl Friedrich und der russischen Großfürstin Maria Paulowa am 3. August 1804 hat der Dramatiker das Festspiel Die Huldigung der Künste geschrieben.480 Darüber hinaus hat er auf Wunsch des Herzogs, der besonders

474 Schiller positiniert sich seit dem Beginn der Jokobinerrepublik 1792 eindeutig gegen die Französische Revolution. Vgl. Himmelseher, ebd., S. 45. 475 Vgl. Alt: Klassische Endspiele, S. 16. 476 Vgl. Himmelseher: »Produktive Wechselwirkungen«, S. 34. 477 Vgl. ders.: Weimarer Hoftheater, S. 105. 478 Vgl. ders.: »Produktive Wechselwirkungen «, S. 44. 479 Vgl. ders.: Weimarer Hoftheater, ebd. 480 Vgl. ebd, S. 95ff; Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 586f.

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französische Stücke schätzte, das Stück von Racine, Phédre et Hippolyte (1677) übersetzt, das am 30. Januar 1805 zu Ehren des Geburtstags der Herzogin aufgeführt wurde.481 Die Tatsachen zeigen, dass Schiller sich als Dramatiker und Theatermacher in einer schwierigen Konstellation befand, da er stets dem Interesse des Hofes und dem Geschmack des Fürstens entsprechend arbeiten musste.

2.2. Künstlerische Darstellungsweise am Weimarer Hoftheater

(1) Theater der Freiheit und Autonomie der Kunst

Schillers Theater ist kein Theater der Affekterregung, sondern ein Theater der Freiheit.482 Die Mitleidserregung durch die Darstellung des Leidens ist kein Zweck der Schillers Theater. Vielmehr liegt der Schwerpunkt seiner Tragödientheorie des Pathetischerhabenen darin, durch „die Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“483 und „durch Bekämpfung des Affekts“484 negativ das Übersinnliche des Menschen darzustellen. Durch diese indirekte Darstellung des Übersinnlichen, das aus der sinnlichen Welt nicht abgeleitet werden kann, wird die Freiheit des Menschen veranschaulicht.485 In diesem Sinne wirkt Schillers Tragödie des Pathetischerhabenen, nicht nur aus der Darstellung des Affekts gegebene Möglichkeit der sittlichen Autonomie zu bezeichnen, sondern auch funktioniert als besonderes künstlerisches Medium, das die Freiheit in der Erscheinung vor Augen zu führen.486 Darüber hinaus kann auch der Begriff des Schönen im Zusammenhang mit dem Konzept des Pathetischerhabenen betrachtet werden, der mit dem Begriff der Autonomie der

481 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 591; Vgl. Koopmann: »Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen«, S. 789. 482 Vgl. Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«, S. 403. 483 NA 20, S. 199. 484 Ebd., S. 202. 485 Vgl. Zelle, ebd. 486 Vgl. Alt, ebd., S. 95.

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Kunst verbunden ist. Wie Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen, die in den Horen veröffentlicht wurde, erwähnte, ist es die Schönheit der Kunst, die die uneingeschränkte Selbsterfahrung des Menschen veranlasst und sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Freiheit ermöglicht.487 Dafür ist die Autonomie der Kunst Voraussetzung.488 Die Kunst sei zweckfrei und in sich selbst vollendet. Sie habe wie ein schöner Gegenstand in der Natur keinen äußerlichen Zweck oder sei nützlich.489

»Es [Das Theater] soll ein Spiel bleiben, aber ein poetisches. Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte. Jeder Mensch zwar erwartet von den Künsten der Einbildungskraft eine gewisse Befreiung von den Schranken des Wirklichen, er will sich an dem Möglichen ergötzen und seiner Phantasie Raum geben.«490

Schiller beschreibt hier die Autonomie der Kunst, die man im Theater erfahren kann. Theater ist ein freier Ort, an dem man sich von seiner Welt befreit fühlt. Solange man im fiktiven Raum verweilt, den das Theater anbietet, ist man unabhängig von den Pflichten, die man im Alltag ertragen soll. Man kann in der imaginären Kunstwelt als freier Mensch existieren, der dort von allen Zwecken frei ist. Darin liegt die Aufgabe des Theaters bei Schiller: den Menschen durch die Erfahrung der zweckfreien Kunst ihren Selbstwert und Selbstzweck wieder

487 In der Schrift Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen schreibt Schiller: „Ich hoffe, Sie zu überzeugen, daß diese Materie weit weniger dem Bedürfnis als dem Geschmack des Zeitalters fremd ist, ja daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“; NA 20, S. 312. 488 Karl Philipp Moritz betont die Autonomie der Kunst in seinem Text Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785): „In sich selbst vollendet ist das Schöne, etwa ein Kunstwerk, weil es nicht durch etwas Äußeres, also etwas einen Zweck, bestimmt wird. Gegenbegriff zur Schönheit ist damit die Nützlichkeit; denn was einen Nutzen hat, ist wesentlich durch ihn bestimmt.“, zitiert nach Dörr: Weimarer Klassik, S. 60f. 489 Vgl. ebd., S. 61. 490 Über den Gebrach des Chors in der Tragödie; NA 10, S. 8.

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erkennen zu lassen. Diese Autonomie der Kunst soll aber schließlich als Mittel der ästhetischen Erziehung verstanden werden, indem sie einerseits das Publikum von der realen Welt wegführt und in die Bühnengeschehnisse einfühlen lässt, aber anderseits durch die Form die Gemütsfreiheit des Publikums bewahrt, so dass sie das Bühnengeschehnis mit distanzierten Blick anschauen können.491 In diesem Sinne war das Publikum am Weimarer Theater für Schiller die Zielgruppe, an die das ästhetische Projekt der Weimarer Klassik gerichtet wurde.492 Zuerst schafft das Theater dem Publikum einen Ort der Befreiung von den Schranken der sinnlichen Welt, dann bietet es dem Zuschauer einen Ort des Vergessens der Wirklichkeit, zuletzt erweckt eine Kraft im Zuschauer die sinnliche Welt 493 Indem die Fiktionalität und Spielhaftigkeit des Theaters betrachtet werden, betont Schiller die Fähigkeit des Erhabenen, indem er die Wirkung des Pathetischerhabenen als „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“494erklärt. Dieser grundlegende Gedanke des Weimarer Klassizismus wurde in das theatralische Feld übernommen und durch den Darstellungsstil konkretisiert.

(2) Darstellungsweise der Künstlichkeit: Regeln für Schauspieler

Die Grundsätze der zweckfreien Ästhetik, die zu den Grundüberzeugungen und

491 Das ist das Paradox von Schillers Kunstbegriff: Kunst soll autonom sein, aber gleichzeitig als Mittel zur ästhetischen Erziehung dienen. 492 Am Anfang bewertete Goethe das Publikum als Pöbel, da sich die Leute während der Aufführung willkürlich verhalten haben. Trotzdem fand er die Entwicklung des Weimarer Publikums positiv. Das Weimarer Publikum haben sich allmählich an die klassischen Bühnenwerke Schillers gewöhnt. Vgl. Müller-Harang: Weimarer Theater, S. 82 493 Vgl. NA 10, S. 8. Es sind zwei Strömungen der Kunst im dramenpoetologischen Diskurs im 18. Jahrhundert, die Schiller hier erwähnt: das wirkliche ganz verlassen und doch aufs genauesten mit der Natur übereinstimmen. Die Autonomieästhetik von Schlegel und die Nachahmung der Wirklichkeit von Gottsched sind hier vergleichbar, aber Schillers dramentheoretischer Gedanke geht darüber hinaus, indem er den Begriff des Erhabenen in den Mittelpunkt seiner Dramenpoetik und theatralischen Verwirklichung versetzt. Vgl. Helmut Koopman: »Kleinere Schriften«, S. 615. 494 NA 21, S. 51.

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zum programmatischen Charakter des Weimarer Klassizismus gehören, wurden am Weimarer Hoftheater umgesetzt. 495 Entsprechend der Ansicht, dass die Schönheit als selbständige Kategorie autonom sein müsse, wurde die künstliche Darstellungsweise hervorgehoben. Es gab auf der damaligen weimarischen Bühne eine Tendenz der Wiederholung der Realitäten des Lebens, die zwischen den Schauspielern als Person und Figur keinen Unterschied machte.496 Diese Charakteristik der Künstlichkeit unterscheidet das Theater von der Wirklichkeit und der realen Welt und schafft die Autonomie der Kunst, die Menschen eine ästhetische Erfahrung erleben lässt. In diesem Sinne behauptet er im Bericht „Weimarisches Theater“, den Goethe 1802 als Rückschau auf die erste Phase seiner Amtszeit als Intendant verfasst hat, dass der Schauspieler seine Persönlichkeit verleugnen und lernen müsse, seine Individualität unkenntlich zu machen.

»Unter den Grundsätzen, welche man bei dem hiesigen Theater immer vor Augen gehabt, ist einer der vornehmsten, der Schauspieler müsse seine Persönlichkeit verleugnen und dergestalt umbilden lernen, daß es von ihm abhange [sic!], in gewissen Rollen, seine Individualität unkenntlich zu machen.

In früherer Zeit stand dieser Maxime ein falsch verstandner Konversationston, so wie ein unrichtiger Begriff von Natürlichkeit entgegen. Die Erscheinung Ifflands auf unserem Theater löste endlich das Rätsel. Die Weisheit, womit dieser vortreffliche Künstler seine Rollen von einander sondert, aus einer jeden ein Ganzes zu machen weiß und sich, sowohl ins Edle als ins Gemeine, und immer kunstmäßig und schön, zu maskieren versteht, war zu eminent, als daß sie nicht hätte fruchtbar werden sollen.«497

Goethe versuchte zunächst, die damalige ‚naturalistische’ Tendenz der Darstellungsweise auf der Bühne abzuschaffen, die auf die Realitäten des Lebens bezogen ist. 498 In diesem Sinne schätzte Goethe das Gastspiel Ifflands in Weimar hoch und unterschied sogar die Periode des Weimarer Hoftheaters vor

495 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 37f. 496 Vgl. Hans Knudsen: Deutsche Theatergeschichte, 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1970, S. 230. 497 Vgl. Goethe: »Weimarisches Hoftheater«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt 1998, S. 842-850, hier S. 843. 498 Vgl. Knudsen, ebd.

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und nach Ifflands Besuch. Was Goethe bei Iffland fand, war jene Wandlungsfähigkeit des Schauspielers, die seine Individualität unkenntlich macht und eine neue künstliche Figur darstellt.499 Darüber hinaus widmet er sich der Verbesserung des Darstellungsstils durch die Erziehung des Schauspielers. Der Schauspieler wurde im Schauspiel nach dem Motto „kunstmäßig und schön“ zur Schönheit und Gemessenheit aufgefordert: Dazu gehören die schöne Geste, die ästhetische Pose, Eleganz der Bewegungen und Sprache, Grazie, Noblesse in der Körperhaltung. 500 Die Schauspieler sollten ihre Persönlichkeit und Individualität in die neue Form der Rolle verwandeln. Dafür verschriftlichte Goethe eine Richtlinie für Schauspieler, die ihnen dabei helfen sollte, nach den vorgeschlagenen Prinzipien auf der Bühne zu spielen. 501 In diesen „Regeln für Schauspieler“ wurden die theaterpraktischen Erfahrungen aus ersten zwölf Jahren der Tätigkeit Goethes als Theaterdirektor und Regisseur zusammengefasst. 502 Sie beinhalten insgesamt 91 Paragraphen und verstehen sich als Verhaltensrichtlinien für die Schauspieler. Es werden über die verschiedenen Elemente des Schauspiels wie z. B. „Dialekt“, „Aussprache“, „Rezitation und Deklamation“, „Rhythmischer Vortrag“, „Stellung und Bewegung des Körpers auf der Bühne“, „Haltung und Bewegung der Hände und Arme“ und bis zur „Haltung des Schauspielers im gewöhnlichen Leben“ detailliert erläutert.503 Aus ihnen lässt sich ableiten, inwiefern das Weimarer Schauspiel in

499 Vgl. Knudsen: Deutsche Theatergeschichte, S. 231. 500 Vgl. ebd., S. 233f. 501 Vgl. ebd., S. 235; Im Hinblick auf die Ausbildung eines Schauspielers gab es damals noch keine Schauspielschule. Der Schauspieler stammte aus einer Schauspielerfamilie und man ließ sie bereits als Kind im Theater mitspielen. Die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen kamen aus kleinbürgerlichen Familien. Sie hatten vorher meist eine lange Bühnenpraxis in einer Wandertruppe. Dann bekamen sie eine dauerhafte Stelle an einem festen Hoftheater. Goethe hatte Nachwuchsdarsteller ausbilden lassen, denn er dachte, es ist leichter einen neuen Schauspieler sich an seinen Darstellungsstil gewöhnen und in diese selbe Stilrichtung bilden zu lassen, als die alten Schauspieler zu ändern. Christiane Becker-Neumann und Pius Alexander Wolff sind zwei der Schüler Goethes. Vgl. Müller-Harang: Weimarer Theater, S. 75. 502 Es ist zunächst für seine zwei Schüler Pius Alexander Wolff und Karl Franz Grüner geschrieben. Vgl. ebd., S. 60. 503 Vgl. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 857-882; Vgl. Müller-Harang, S. 63-66.

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Bezug auf die Künstlichkeit gestaltet war. Dafür sind in Bezug auf die Darstellungsweise die Paragraphen besonders wichtig, in denen die künstlerischen Mittel des Schauspielers, nämlich Sprache und Körperbewegung dargelegt sind.

»§ 1. Wenn mitten in einer tragischen Rede sich ein Provinzialismus eindrängt, so wird die schönste Dichtung verunstaltet und das Gehör des Zuschauers beleidigt. Das ist das Erste und Notwendigste für den sich bildenden Schauspieler, daß er sich von allen Fehlern des Dialekts befreie und eine vollständige, reine Aussprache zu erlangen suche. [...]

§ 35 Zunächst bedenke der Schauspieler, daß er nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen solle und er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinigen haben (von „Stellung und Bewegung des Körpers auf der Bühne“)

§ 74, [...] Es ist schrecklich, innerhalb eines Kunstprodukts an diese Natürlichkeiten erinnert zu werden. Man halte sich ein kleines Schnupftuch, das ohne dem jetzt Mode ist, um sich damit im Notfalle helfen zu können.«504

Immer wieder wird akzentuiert, dass das Schauspiel deutlich anders als die Wirklichkeit sei. Aus diesem Grund werden die Elemente, die das Publikum an den Alltag erinnern, streng verboten. Stattdessen soll das Schauspiel etwas Idealisches präsentieren, was sich vom alltäglichen Verhalten und Sprache abgrenzt, so dass das Publikum die Wirklichkeit vergisst und in einen autonomen Raum der Kunst hineinführt werden können. Als Beispiel soll der Schauspieler in jedem Gespräch auf der Bühne darauf achten, dass es kein natürliches Gespräch ist. Darüber hinaus wurde dem Schauspieler empfohlen, sogar im Alltag auf die alltägliche körperliche Haltung zu verzichten, so dass er sich an die schauspielerische Haltung gewöhnen kann, was schließlich beim Schauspiel auf der Bühne helfen kann.505

504 ; Vgl. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 860, 871 u. 879. 505 : „Haltung des Schauspielers im gewöhnlichen Leben“ § 75 und § 76; Vgl. ebd., S. 879.

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(3) Deklamation der lyrischen Dramenverse

Die gebundene Sprache des Dramenverses bzw. die Verwandlung der prosaischen Sprache des Alltags in einen poetisch-rhythmischen Vers für die Tragödie können auch in diesem Sinne als das geeignetste Mittel für die weimarische Bühne betrachtet werden. 506 Die gebundene Sprache als Dramenvers ist insofern wichtig, als sich daraus anstatt des natürlichen Gesprächs eine rhythmische Deklamation auf der Bühne ergibt. Durch die rhythmische Deklamation wirkt die Aufführung kunstmäßig, so dass das Theater sich vom alltäglichen Gespräch unterscheidet, so wie auf der Bühne eine Geste oder eine Haltung anders als jene im Alltag dargestellt werden müssen. Darüber hinaus konnte die gebundene Sprache nur in Kombination mit einer passenden artistischen Körpersprache und Mimik wirkungsvoll zum Ausdruck gelangen.507 Es war die Absicht des Intendanten, die aus der deutschen Bühne fast verschwundene rhythmische Deklamation wieder aufzunehmen. Goethe erklärt in seinem Bericht „Weimarisches Hoftheater“, dass die rhythmische Deklamation einen wichtigen Punkt für seine neue künstlerische Darstellungsweise bildet. Der Schauspieler wurde ausgebildet, rednerisch zu deklamieren und die fremdsprachigen Stücke wurden rhythmisch übersetzt und auf die Bühne gebracht.508 Besonders hat Schiller großen Wert auf die Rhetorik und Deklamation der gebundenen Sprache gelegt. 509 Dennoch war es in Wirklichkeit nicht leicht für die Schauspieler, den Rhythmus der Versdramen auf der Bühne auswendig zu verwirklichen,510 obgleich eine Leseprobe stattfand, die den Darstellern den Zugang zu den Dramen, die in Versform geschrieben waren, erleichterte. Erst bei der Maria Stuart erreichte das Weimarer Ensemble die gewünschte Sprachqualität und einen höheren Grad an Stilisierung als bei

506 Vgl. Müller-Harang: Weimarer Theater, S. 50. 507 Vgl. ebd., S. 51. 508 Vgl. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 843f. 509 Die Weimarer Schauspielerin Caroline Jagemann bestätigt es auch. Vgl. Emde: Caroline Jagemann, Bd. 1: Autobiographie, Kritiken, Huldigungen, Göttingen 2004, S. 890. 510 Vgl. Müller-Harang, S. 56.

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Wallensteins Trilogie.511

3. Maria Stuart auf der Bühne zur Zeit des Dramatikers

3.1. Inszenierung unter der Leitung von Schiller am Weimarer Hoftheater

Der Schwerpunkt der Inszenierungsanalyse liegt hier auf der dramaturgischen Umsetzung und theatralischen Darstellung der Konzeption des Erhabenen. Darüber hinaus wird untersucht, wie die Szenen, in denen die Konzeption des Erhabenen literarisch umgesetzt und problematisiert worden war, in der Bühnenfassung bearbeitet wurden. 512 Zunächst wird die erste Phase der Inszenierung abgehandelt, in der die Fertigstellung des Stücks, die Bühnenbearbeitung des Theatermanuskripts, die Konzeption der Figuren und die Einstudierung des Stücks stattfinden. Als nächstes wird anhand des Theaterzettels, der Berichte und des Briefwechsels versucht zu rekonstruieren, wie das Stück auf der Bühne tatsächlich in die szenische Form umgesetzt und aufgeführt wurde. Dabei werden die Aufführungen, die von 1800 bis 1805 vom Weimarer Ensemble in Weimar und in benachbarten Städten gespielt wurden, als eine Inszenierung unter der Leitung Schillers betrachtet.513 Im letzten Teil dieser Untersuchung wird vor allem mittels der Theaterkritiken herausgearbeitet, wie die theatralische Darstellung des Stücks vom Zuschauer rezipiert wurde und welche Wirkung sie auf den Zuschauer hatte.

511 Vgl. Müller-Harang: Weimarer Theater, S. 58. 512 Die literarische Umsetzung der Konzeption des Erhabenen wurde bereits im Kapitel zu Drama untersucht. Im Hinblick darauf wurde besonders die Figurendarstellung der Maria behandelt. Dafür wurde die Szene der Begegnung beider Königinnen im 4. Auftritt des 3. Akts und die Szene zu Mortimers leidenschaftlicher Zugriff auf Maria im 6. Auftritt des 3. Akts untersucht. In Bezug auf die innere Veränderung Maria zur erhabenen Figur wurden die Beicht- und Abendmahlszene im 7. Auftritt des 5. Akts und die Szene des Abschieds von Leicester im 9. Auftritt des 5. Akts abgehandelt. 513 Vgl. Kapitel IV. 2. 1.

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3.1.1. Von der Fertigstellung des Manuskripts bis zum Einstudieren des Stücks

Maria Stuart ist durch eine intensive Kooperation zwischen Schiller und Goethe entstanden, die bereits seit Anbeginn der Abfassung des Stücks bestand. Dieser Austausch zwischen dem Dramatiker und dem Theaterdirektor kann als Teil des Inszenierungsprozesses betrachtet werden, denn er kann über die persönliche Beziehung hinaus im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Weimarer Hoftheater verstanden werden. Die Beiden haben sowohl über grundlegende Gedanken über das Stück als auch über dessen Vorstellung auf der Bühne diskutiert. Besonders zeigt ihr Briefwechsel, welche praktischen und theoretischen Impulse ihr Austausch der Entstehung des Stücks gegeben hat. Z. B. sorgte Goethe am Beginn der Abfassung für die historischen Quelle, um die Schiller gebeten hatte.514 Darüber hinaus wurde auch konkret über die Struktur der Handlung, das Figurenkonzept und die Wirkung des Stücks hin- und hergeschrieben.515

1) Vorstellung des Figurenbildes von Maria Stuart

Am 18. Juni 1799 zu Beginn der Abfassung des Stücks schrieb Schiller an Goethe über seine Vorstellung von der Hauptprotagonistin Maria.

514 Goethe sorgte Schiller am Beginn der Verfassung des Stücks die historischen Materialien zum Studieren der Geschichte Maria Stuarts, um die Schiller gebeten hat.; Schillers Brief an Goethe am 26. April 1799 und Goethes Brief an Schiller am 27. April 1799, Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 1, S. 794ff; Vgl. NA 30, S. 45; NA 38-I, S. 81. 515 Im Jahr 1799, wo Schiller noch in Jena gelebt hatte, ist der Austausch entweder durch den brieflichen Kontakt oder durch den persönlichen Besuch Goethes in Jena eingegangen. Im Zeitraum vom 26. April 1799 bis 15. Juni 1800, zum Tag nach der Uraufführung der Maria Stuart wurde in 28 Briefen Schillers und in 12 Briefen Goethe über das Stück erwähnt. Die persönlichen Gespräche über das Stück zwischen Beiden fanden vom 1. bis 27. Mai und, vom 16. Sept. bis 14. Okt. 1799 in Jena beim häufigen Spaziergang statt. Ab Dez. 1799 nach dem Schillers Umzug nach Weimar gab es z. B. vom 8. bis 31. Dezember fast tägliche Zusammenkünfte und Austausch über das Stück meistens in Goethes Haus am Frauenplan.Vgl. Georg Kurscheidt: »Goethe und Schiller 1794-1805 Daten zum besseren Verständnis ihres Briefwechsels«, in: Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 2: Kommentar, S. 306-358, hier S. 330 u. 333f.

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»Meine Maria wird keine weiche Stimmung erregen, es ist meine Absicht nicht, ich will sie immer als ein physisches Wesen halten, das pathetische muß mehr eine allgemeine tiefe Rührung, als ein persönlich und individuelles Mitgefühl seyn. Sie empfindet und erregt keine Zärtlichkeit, ihr Schicksal ist nur heftige Paßionen zu erfahren und zu entzünden.«516

Schiller stellt Goethe seine Konzeption der Figur und deren Wirkung vor. Die Figur der Maria soll als eine physische Figur dargestellt werden und sie muss „heftige Paßionen“ erfahren. Bei der Darstellung von Maria geht also nicht darum, ein weiches und zärtliches Mitgefühl bei dem Zuschauer hervorzurufen, sondern „allgemeine tiefe Rührung“ durch Pathos. Die Vorstellung der Sinnlichkeit der Figur und deren Wirkung entsprechen dem ersten Schritt der Konzeption des Erhabenen, in der der Protagonist zuerst die heftige Passion erleben muss. Im Hinblick auf die Figurenvorstellung stimmt der Bericht von Amalia von Voigt (1778-1840) über die Präsentation vor dem Weimarer Schauspielerensemble mit Schillers Aussage überein.517 Nachdem Schiller die ersten vier Akte fertig geschrieben hatte, lud er am 11. Mai 1800 die Schauspieler zu sich nach Hause ein und las die fertigen vier Akte der Maria Stuart vor. 518 Voigt berichtet das, was Schiller über die Vorstellung der Maria gesprochen hat.

» […] bloß das gestand er [Schiller] ein, daß er seine Maria nicht schuldlos genommen, weil eine ganz engelreine Heldin ihm untragisch vorkomme. Später bei dem Lesen selbst sagte er, es habe ihm der Sache angemessener geschienen, gleich zu Anfange die Schuld, welche auf Marien laste, kund zu machen; im Verfolg des

516 Schillers Brief an Goethe am 18. Juni 1799, Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd.1, S. 811-813, hier S. 812. 517 Amalie Henriette Caroline von Voigt, geb. Ludecus war die Schwiegertochter von Christian Gottlob Voigt (1743-1819), der Regierungs-und Hofrat und vertrauter Kollege Goethes war. Ihr Mann Christian Gottlob Voigt Junior (1774-1813) war auch Regierungsrat in Weimar. Der Bericht stammt aus dem Aufsatz, der in der Zeitschrift Elegante Welt 1823 veröffentlicht wurde. Der Bericht besteht aus dem späteren Zeitpunkt nach der Uraufführung. Es ist nicht bestätigt, ob sie an dem Abend der Vorlesung anwesend war. Wiederum ist es auch nicht bekannt, ob die Verfasserin von dem Abend durch Jagemann oder sonst jemanden wusste. Vgl. NA 42, S. 627; Vgl. Georg Kurscheidt: »Register. Personen und deren Werke«, in: Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 2, S. 509-589, hier S. 581; Vgl. NA 9-I, S. 327. 518 Schillers Brief an Goethe am 5. Mai 1800, Vgl. ebd., Bd. 1, S. 919f; Schillers Kalender; Vgl. NA 41-1, S. 134.

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Stücks verringere sich dann immer mehr ihr Vergehen, und zuletzt stehe sie fast makellos da, statt daß es eine unziemliche Wirkung tun werde.«519

Hier kann schon deutlich werden, wie die Konzeption des Erhabenen in der Figur der Maria verkörpert sein soll. Es war die Intention des Dramatikers, dass die Figur der Maria in den ersten Akten nicht als übermenschliche Heldin auftritt, sondern sich im Laufe der Handlung innerlich verändert. Die Figur der Maria stellt sich am Anfang des Stücks als ein fehlerhafter Mensch dar. Sie wird dann „immer mehr“ von ihren Sünden befreit und am Ende steht sie als „fast makellos“ da. Das Übergewicht des Sinnlich-Sündigen wird zur Überlegenheit des Geistigen gewandelt, Maria wird durch diesen Prozess zur „fast makellosen“ Figur.

2) Bühnenbearbeitung und Hamburger Theatermanuskript (h3)

Es gibt weder ein Theatermanuskript noch eine Bühnenbearbeitung bzw. deren Abschrift, die für die Weimarer Uraufführung 1800 verwendet wurden.520 Die Urschrift des Stücks, die Schiller am 9. Juni 1800 fertiggestellt hat,521 ist nicht vorhanden. Deren erste Bühnenbearbeitung, die angeblich aufgrund der fürstlichen Zensur entstand und als Theatermanuskript für die Uraufführung in Weimar verwendet wurde, existiert auch nicht. 522 Darüber hinaus ist die

519 NA 42, S. 294; Vgl. Amalie von Voigt: »Erste Aufführung der Maria Stuart in Weimar im Juni 1800«, in: Elegante Welt, 10.-13. März 1823, Nr. 49-51. hier Nr. 49. S. 385ff. 520 Die Reinschrift bzw. Urschrift ist das erste Manuskript, das der Dramatiker verfasst hat und keine Änderung erhält. Eine autorisierte Bühnenfassung ist das Manuskript, das der Dramatiker selbst für eine bestimmte Bühne bearbeitet hat. Erstdruck ist die erste Druckversion des Stückes. Vgl. Christine Hellmich: Die Hamburger Bühnenmanuskripte von Schillers Drama Die Jungfrau von Orleans, Bern 2014, S.85-89; Eine Bühnenbearbeitung ist „zum Zweck einer bestimmten ↗ Aufführung redigierte ↗ Fassung eines Dramentextes.“; Vgl. Andrea Heinz: Art. »Bühnenbearbeitung«, in: Metzler Lexikon Literatur, S. 108: Schiller und Goethe bearbeiteten sowohl ihre eigene als auch fremde Dramen für das Repertoire des Weimarer Hoftheaters sehr viel. 521 Vgl. NA 41-1, S. 135. 522 Goethe teilte Schiller am 12. Juni 1800 zwei Tage vor der Uraufführung über die Vorsorge des Fürsten Carl August über die Abendmahlszene mit und deutet, dass es eine Änderung im Hinblick darauf geben soll. An dem gleichen Tag am Abend haben sie sich darüber unterhalten sollen. Goethes Brief an Schiller am 12. Juni 1800, Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 1, S. 922.

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Abschrift der ersten Bühnenbearbeitung, die Schiller nach der Weimarer UA nach Berlin und Leipzig übersandt hat, auch nicht vorhanden.523 Das heißt, es bleibt kein authentisches Theatermanuskript, das für die ersten Aufführungen des Weimarer Ensembles verwendet worden ist. Dahingegen kann das erste Hamburger Theatermanuskript als alternative Bühnenbearbeitung für die Weimarer Inszenierungsanalyse untersucht werden.524

3) Rollenbesetzung und Einstudieren

Die Rollen der Figur der Maria und der der Elisabeth wurden nach der Figurenkonzeption des Dramatikers aufgeteilt. Es gab einen Streit um die Besetzung der Rolle der Maria zwischen den Schauspielerinnen Caroline Jagemann (1777-1848) und Friederike Vohs (1777-1860).525 Schiller versuchte aber, Caroline Jagemann zum Verzicht zu überreden, indem er sie die Rolle von Elisabeth in der Leseprobe übernehmen ließ und darüber hinaus über die größere künstlerische Leistung hervorhob, die deren Figur im Gegensatz zu der Marias verlange.526 Anton Genast (1763-1831), der die Rolle von Okelly übernahm,

523 Das Berliner Theatermanuskript ist das Manuskript, das Schiller am 22. Juni 1800 dem Berliner Intendant Iffland übersandte. Das Leipzig-Dresdner Theatermanuskript ist welches, das er am 30. Juni 1800 dem Leipziger Intendanten Christian Wilhelm Opitz übersandte. Vgl. NA 9/I, S. 192. 524 h3 ist die glaubwürdige Bühnenbearbeitung von der eingeschränkten Auswahl der gesamten Bühnenfassungen des Dramatikers. Das Berliner Theatermanuskript h1, das Leipzig-Dresdner Theatermanuskript h1 und das zweite Hamburger Theatermanuskript h4 sind nicht vorhanden. Es gibt noch das Mannheimer Theatermanuskript, sogenannte h5. Es könnte als Abschrift des Leipzig-Dresdner Theatermanuskripts angesehen werden, die Schiller am 30. Juni 1800 an Opitz übersandt hat, aber es ist keine autorisierte Fassung vom Dramatiker selbst, sondern wurde von Opitz nach Mannheim geschickt. Vgl. NA 9/I, S. 194; Vgl. Kapitel IV. 1. 2. 525 Jagemann war in einem besonderen Status am Weimarer Hoftheater. Sie gehörte zum Hof und hatte keine Pflicht außerhalb des Herzogtums, sich auf die Bühne darzustellen. Dazu war sie die Geliebte Herzogs außerhalb der Ehe. Zwischen Jagemann und Vohs gab es einen Streit um die Rolle der Maria. Es verschärfte sich wieder im Sommer 1801 und dauerte bis September 1802, als Friederike Vohs nach Stuttgart gewechselt hat und Jagemann die Rolle der Maria übernahm. Vgl. NA 9/I, S. 336f. 526 Am 11. Mai 1800, als Schiller die vier ersten Akte der Maria Stuart den Schauspieler vorgestellte, lud er die Schauspieler zur Leseprobe ein. Schiller ließ zunächst Jagemann die Rolle der Elisabeth für die Leseprobe zu übernehmen. Er wollte sie hier auch bereits absichtlich überreden wollen, indem er äußerte, dass die Rolle der Elisabeth eine größere künstlerische Leistung als die der Maria fordere. Vgl. NA 9/I, S. 327ff; Amalie von Voigt:

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berichtet dabei:

»Bei der Besetzung der beiden Königinnen war man zweifelhaft, ob man der Vohs die Maria und der Jagemann die Elisabeth geben sollte, oder umgekehrt. Endlich entschied der Vohs schlanke, üppige Gestalt für die Maria und der Jagemann geistige Kraft für die Elisabeth. Die letztere war anfänglich höchst ungehalten darüber und sandte die Rolle mit dem Bemerken zurück daß weder ihre Persönlichkeit noch ihr Talent sich für die Elisabeth eigne;

Schiller hatte auch in seiner Ansicht vollkommen Recht: die Vohs war eine sehr schöne Frau und ihr Talent allenfalls ausreichend für die Maria, zur Elisabeth aber fehlte ihr die geistige Fähigkeit.«527

Schiller hatte im Hinblick auf die Rollen von Maria und Elisabeth eine deutliche kontrastvolle Figurenkonzeption und nach dieser Vorstellung wollte er zwei voneinander stark unterschiedenen Schauspielerinnen die Rollen anbieten. Die Figur von Maria wurde als eine sinnliche Figur gedacht und dafür waren die Schönheit und die äußerliche Attraktivität der Schauspielerin wichtige Kriterien. Aus diesem Grund wurde die Rolle der Maria Vohs angeboten, die eine „schlanke, üppige Gestalt“ hatte. Genast rechtfertigte Schillers Entscheidung auch dadurch, dass Vohs zur Rolle der Maria gut passte. Für Elisabeth war es auch wichtig, dass sie auch wie eine junge Frau aussieht, aber viel wichtiger war die geistige Kraft für den Charakter.528 Die Leseproben mit den Schauspielern fanden am 23. und 29. Mai 1800 statt, nachdem Jagemann trotz ihrer anfänglichen Weigerung zugestimmt hatte, Vohs die Titelrolle zu überlassen und die Rolle der Elisabeth zu übernehmen. Jagemann verweigerte am Anfang die Rolle aufzunehmen, da sie die Titelrolle spielen wollte. Diese Vorstellung auf die Rollenbesetzung ist bereit in ihrem Brief Ende April 1800 zu finden.

»Erste Aufführung der Maria Stuart in Weimar im Juni 1800«, in: Elegante Welt, 10. März 1823. Nr. 49. S. 385ff; Vgl. NA 42, S. 295. 527 Genast: Aus dem Tagebuch, Erster Teil, Leipzig 1862, S. 115f. 528 Schillers Vorstellung auf die Darstellung der Figuren ist auch im Brief an Iffland nach der Uraufführung zu finden. Er wünschte, dass die Schauspielerin, die die Rolle der Maria spielen würde, etwa 25 Jahre alt sein sollte, und Elisabeths Schauspielerin höchstens 30 Jahre alt. Vohs und Jagemann waren beide 23 Jahre alt zur Zeit der Uraufführung 1800. Über den Briefwechsel zwischen Schiller und Iffland; Vgl. Kapitel Vl. 3. 2; Über Jagemann und Vohs; Vgl. Georg Kurscheidt: »Register. Personen und deren Werke«, in: Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 2, S. 541 u. 581.

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»Auch muß ich gestehn, daß ich im Schauspiel nur dann gern auftrete, wenn Bestreben und Fleis [sic!] erfordert wird eine wichtige ausgezeichnete Rolle würdig darzustellen, zu welchen Rollen wir iezt [sic!] an unßrem Theater niemanden haben.«529

Hier bat sie Schiller um die Verzeihung, dass sie die angebotene Rolle für die Macbeth-Inszenierung annehmen könne, die Schiller bearbeitet hat. Darüber hinaus meinte sie, dass sie die wichtigen Rollen spielen möge. Jagemann übernahm später die Rolle der Maria – nachdem Vohs ans Stuttgarter Theater gewechselt war. Der weitere Prozess des Einstudierens lief zeitgleich mit der Abfassung des letzten Akts ab. Am 29. Mai lud Schiller die Schauspieler nach Ettersburg ein, wo er sich dem letzten Akt beschäftigte. Dort tauschte er sich mit ihnen über den 5. Akt des Stücks aus. Der Schauspieler Friedrich Haide (1770-1832), der die Rolle des Melvil spielte, berichtet, dass er als Katholik Schiller viel über die katholischen Sakramente der Beichte und Eucharistie mitgeteilt habe.530 Am 2. Juni kehrte Schiller nach Weimar zurück; am 9. Juni stellte er das Stück fertig und leitete die Proben bis zur Uraufführung am 14. Juni 1800.

3.1.2. Darstellung des Stücks auf der Bühne

1) Überblick auf die Vorführung der Weimarer Inszenierung

Am 14. Juni 1800 wurde Maria Stuart mit dem Untertitel „Trauerspiel in fünf Aufzügen von Schiller“ am Weimarer Hoftheater uraufgeführt.531

529 Vgl. Jagemanns Brief an Schiller am 28. Oder 29. April 1800, NA. 38/I, S. 251; Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 495. 530 Vgl. NA 42, S. 298. 531 Vgl. Hof-Theater [Weimarer Theaterzettel] Bd. 1800-1805; Vgl. NA 9/I, S. 439: Die Rolle des Drugeon Drury und Scherif der Grafschaft sind nicht besessen, aber die Rolle eines Edelknaben wurde in der Weimarer Inszenierung hinzugefügt.

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Jahr Datum Ort Elisabeth Maria Mortimer 14. u. 16. Weimar Caroline Friederike Heinrich Vohs Juni Jagemann Vohs 1800 3. u. 12. Juli Lauchstädt Franziska F. Vohs H. Vohs (7) 2. Aug. Caspers Friedrich Haide 20. Aug. Rudolstadt F. Caspers F. Vohs F. Haide 8. Nov. Weimar C. Jagemann F. Vohs F. Haide 10. u. 14. Weimar C. Jagemann F. Vohs F. Haide 1801 Juli (7) 27. Juni, Lauchstädt Amalie F. Vohs F. Haide 13. Juli, Malkolmi 8. Aug. 27. Aug. Rudolstadt - - - 21. Sept. Weimar A. Malkolmi Friederieke F. Haide Unzelmann (Aus Berlin, Gastspiel) 1802 19. Mai Weimar A. Malkolmi F. Vohs F. Haide 1(2) 15. Juli Lauchstädt A. Malkolmi F. Vohs F. Haide 28. Mai Weimar - - - 1803 20. Juni Lauchstädt Friederike Silie C. Jagemann (3) (Erstmals) 5. Nov. Weimar Amalie Becker C. Jagemann F. Haide (geb. Malkolmi) 1804 2. Jan. Weimar A. Becker C. Jagemann F. Haide (2) 19. Juli Lauchstädt F. Silie A. Becker F. Haide 25. Mai Weimar A. Becker C. Jagemann F. Haide 1805 10. Aug. Lauchstädt A. Becker? (3) 7. Dez. Weimar A. Becker C. Jagemann Haide Aufführungen der Maria Stuart von Weimarer Ensemble zwischen 1800-1805532

532 Vgl. Hof-Theater [Weimarer Theaterzettel] Bd. 1800-1805 (HAAB Weimar, Sign.: ZC 120). Die Datierungen der fehlenden Theaterzettel vom 14. Juni 1801, 28. Mai 1803, 20. Juni 1803, und 10. Aug. 1805 werden in der Schrift von Burkhardt bestätigt, dass es die Aufführungen gegeben hatte. Dennoch die Durchfühung der Aufführung am 15. Juli 1802 in Lauchstädt ist noch umstritten. Denn deren Theaterzettel ist in der Anna Amalia Bibliothek vorhanden, aber in der Schrift Burkhardts nicht zu finden. Vgl. Carl August Hugo Burkhardt (Hg.): Das

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Die Aufführung dauerte etwa 3 Stunden und 15 Minuten.533 Das Stück wurde dann bis Ende 1805 insgesamt 23 Mal vom Weimarer Ensemble gespielt.534 Das Weimarer Ensemble gastierte auch in benachbarten Städten, Bad Lauchstädt und Rudolstadt, um das Stück dort aufzuführen. In den ersten Aufführungen in Weimar spielte Caroline Jagemann die Rolle der Elisabeth. Sie spielte in den Aufführungen außerhalb Weimars nicht immer mit, da sie als herzogliche Kammersängerin keine Verpflichtung hatte, bei den Gastspielen außerhalb von Weimar mitzuwirken. 535 Aus diesem Grund übernahmen in Rudolstadt und Lauchstädt andere Schauspielerinnen wie Franziska Caspers (1787-1835) oder Amalie Malkolmi (1780-1852, später Becker) anstelle von Jagemann die Rolle der Elisabeth. Im Jahr 1801 übernahm Malkolmi die Rolle der Elisabeth auch in Weimar während der Abwesenheit von Jagemann.536 Die Rolle der Mortimer spielte zu Beginn Heinrich Vohs, der Ehemann von Friederike Vohs, und später Friedrich Haide.

2) Die Intention des Dramatikers und die Zensur

Im Hinblick auf die szenische Darstellung gibt es zwei Szenen der „Maria

Repertoire des weimarischen Theaters unter Goethes Leitung 1791-1817, Hamburg u. Leipzig 1891, S. 37-58. 533 Schillers Brief an Iffland am 22. Juni 1800; Vgl. NA 30, S. 163f. 534 Vgl. NA 9/I, S. 337; Das Stück wurde bis zum Ende der Goethes Amtszeit als Intendant 36 Mal gespielt. Vgl. Lesley Sharpe: Schiller, Iffland and the German Stage, Bern 2007, S. 194; Die Anzahl der Aufführung der “Maria Stuart” von 1806 bis 1816. „Jahr (Anzahl der Aufführung)“: 1806 (1), 1807 (3), 1808 (0), 1809 (1), 1810 (1), 1811 (1), 1812 (2), 1813 (1), 1814 (1), 1815 (1), 1816 (2). Vgl. Burkhardt (Hg.): Repertoire des weimarischen Theaters, S.140. 535 Vgl. Ernst Pasqué: Goethe's Theaterleitung in Weimar. In Episoden und Urkunden dargestellt, 2 Bde. Bd. 2, Leipzig 1863, S. 173ff, zitiert nach NA 9/I, S. 336; Im Sommer veranstalteten die Weimarer Akteure Gastspiele in Bad Lauchstädt bei Merseburg, um die Einnahmen aufzubessern. Das Lauchstädter Bad wurde nicht nur von Adligen, sondern auch vom Bürgertum frequentiert, so daß hier an Theaterinteressierten kein Mangel herrschte. Auch kamen die Studenten aus dem Halle dazu. Für die dortige Aufführung kam Schiller selten, da die lange Kutschfahrt seine Gesundheit strapazierte. Vgl. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 397. 536 Die Schauspielerin Amalie Malkolmi (1780-1851) bzw. auch als Malcolmi geschrieben ist seit 1791 Schauspielerin in Weimar und heiratete den Schauspieler Heinrich Becker 1803. Nach der Heirat wird ihr Name als Becker bezeichnet. Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, S. 512.

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Stuart“, die in Bezug auf die Intention des Dramatikers und hinsichtlich der Darstellung der Protagonistin eine wichtige Bedeutung haben, aber aus damaliger gesellschaftlicher Hinsicht als provokative Szenen betrachtet wurden. Dabei handelt es sich in jenen Szenen um die Sinnlichkeit Marias, ihren inneren Werdegang vom sinnlichen zum erhabenen Charakter sowie ihre Veränderung als letzte Erscheinung. Diese Szenen, die Schiller zum rein künstlerischen Zweck ins Stück hineingesetzt hat, wurden aber unabhängig von der Intention des Dramatikers aus damaligen gesellschaftlichen Sitten bzw. Moralvorstellungen und politisch-religiösen Gründen abgelehnt. Zum einen handelt es sich hier um die Szene von „Mortimers leidenschaftlichem Zugriff auf Maria“ im 6. Auftritt des 3. Akts. Es wird dargestellt, wie sich der Affekt der Bewunderung zu einem egoistischen Fanatismus verwandeln kann. Hier erreicht die Darstellung Marias als physisches Wesen den Höhepunkt, indem sie als Gegenstand von Mortimers sexueller Begierde betrachtet wird. Zum anderen dreht es sich um die Beicht- und Abendmahlszene im 7. Auftritt des 5. Akts, in der Maria ihre bisherigen Taten, die aus ihrer Sinnlichkeit entstanden, und ihre Leidenschaften hinter sich lässt und an „moralischer Selbstdisziplin“ gewinnt.537 Diese Szene der Beichte und des Abendmahls hat eine Funktion innerhalb des Aufstiegs zum Erhabenen. Maria lässt sich durch die Beichte und den Empfang der Kommunion davon überzeugen, dass Gott ihre Sünden vergeben hat und überwindet dadurch ihre Ängste vor dem Tod.538 Darin liegt die theatralische Bedeutung dieser Szene. a. Szene 3. Akt 6. Auftritt: Mortimers leidenschaftlicher Zugriff auf Maria

Es war für damalige Verhältnisse nicht akzeptabel, dass Maria explizit mit den erotischen Phantasien Mortimers konfrontiert wurde. Amalie von Voigt macht

537 Vgl. Alt: Schiller, Bd.2, S. 505. 538 Darin liegt auch die theatralische Bedeutung dieser Szene. Dem Zuschauer wird auch der Prozess der Verwandlung Marias sichtbar auf der Bühne theatralisch gezeigt, indem die Szene der Beichte und des Abendmahls auf der Bühne dargestellt wird. Vgl. Kapitel III. 1. 2.

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einen ausführlichen Bericht über die Uraufführung der Maria Stuart.539 Sie bewertet diese Szene so, dass die Nötigung Marias durch Mortimer die Bühnendezenz verletzt hat. 540 Die provokative Szene wirkte weniger herausfordernd, da sie ein Ehepaar gespielt hatten.541

»Diese Scene war bei der allerersten Vorstellung des Stücks noch weit mehr ausgeführt und wirklich auf eine so gewagte, übergreifende Weise, daß sie auf der höchsten Spitze stand. Es kam noch dazu, daß die Scene von Mann und Frau, Herrn und Madame Vohs, dargestellt, und Vohs, der übrigens ein überaus trefflicher Mortimer, sowie sie die schönste Maria Stuart war, mal dadurch noch verführt wurde, weniger ängstlich die schicklichen Schranken zu beobachten; denn er hielt Maria fortwährend in engster Umschlingung und zog sie nach den Koulissen hin – kurz, eine bis zur Angst gesteigerte Aufregung theilte sich allen Zuschauern mit, und die Scene wurde dann auch bei den folgenden Vorstellungen sehr gemildert.«542

Heinrich Schmidt (1779-1857), der später Schauspieler und Theaterdirektor wurde, erzählt später in seinem Buch im Hinblick auf seine Erinnerung an die Aufführung, die er früher angeschaut hat.543 Er berichtet hier über die Szene, deren gesamte Aufführung er selbst besichtigt hat.544 Er beschreibt die Szene konkret, wie Mortimer sich an Maria drängte, und berichtet, dass die Szene für viel Aufregung gesorgt habe. Die Szene hätte eigentlich in den weiteren Aufführungen tatsächlich unverändert aufgeführt werden können, da sie kein Gegenstand der fürstlichen Zensur war. Trotzdem wurde sie später nach der Uraufführung bearbeitet und gemildert dargestellt. Ab August 1800 übernahm

539 Vogt stand als Familienmitglied zur Theaterleitung nahe. Sie ist die Nichte Franz Kirms’ (1750-1826), der Hofkammerrat und seit 1791 Mitglied der Hoftheaterintendanz in Weimar, Verwalter der Theaterfinanzen war. Angeblich hat sie den Zugang zum Weimarer Hoftheater durch ihren Onkel Kirms. Vgl. NA 9/I, S. 327; Vgl. Norbert Oellers: »Wallenstein«, S. 122; Mehr Information über Amalie von Voigt; Vgl. Kapitel IV. 3. 1. 1. 540 Vgl. NA 9-I, S. 333. 541 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 495. 542 Schmidt: Erinnerungen eines weimarischen Veteranen, S. 96f. 543 Vgl. Norbert Oellers / Robert Steegers: Treffpunkt Weimar. Literatur und Leben zur Zeit Goethes, Stuttgart 1999, S. 68 u. 357. 544 Vgl. Schmidt, S. 96: Der Bericht besteht aus der Erinnerung an die Ereignisse, die vor etwa 56 Jahren passiert sind. Er nennt die Aufführung der Maria Stuart und die Vorlesung von der Jungfrau von Orleans als zwei theatralische Erfahrungen, die er in seiner Studienzeit zwischen 1797-1800 in Jena gesehen hatte. Er fand die Aufführung der Maria Stuart „außerordentlich“ gut, aber zwei Szenen fand er problematisch.

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Friedrich Haide die Rolle des Mortimers, da Heinrich Vohs aus gesundheitlichen Gründen verhindert war.545 Dies spiegelt wider, dass die Szene mit der Zeit nicht mehr so provokativ dargestellt wurde, so dass es nicht mehr nötig war, sie von einem Ehepaar spielen zu lassen.

b. Szene 5. Akt 7. Auftritt: Beichtszene & Abendmahlszene

Die Szene, in der eine religiöse Liturgie in Form eines Abendmahls auf der Bühne dargestellt wurde, war bereits vor der Uraufführung umstritten. Der Herzog lehnte die Szene ab, da die Anhänger der drei Religionsparteien, die das Theater besuchten, durch diese Szene beleidigt werden könnten.546 Goethe teilte dies Schiller zwei Tage vor der Uraufführung am 12. Juni 1800 mit: Intendant und Theaterdichter mussten sich am gleichen Tag über die Notwendigkeit der Bearbeitung dieser Szene besprechen.547 Es existiert leider weder Dokument über den Inhalt dieses Gesprächs noch Rückblick auf die tatsächliche Darstellung dieser Szene zwischen den beiden. Es ist also nicht prüfbar, inwiefern die Szene bearbeitet wurde und wie sie auf der Bühne tatsächlich dargestellt wurde. Die Quellenlage ist dazu höchst nicht eindeutig: Zum einem wird berichtet, dass die Abendmahlszene bei der UA trotz der Anstößigkeit vollständig umgesetzt wurde, und erst später gemildert wurde.548 Zu anderem

545 Vgl. NA 38/I, S. 293f: Heinrich Beckers berichtet am 14. Juli 1800über die Aufführung der Maria Stuart in Lauchstädt am 12. Juli in seinem Brief an Schiller, der nicht anwesend war. 546 »Es ist mir [Carl August] gestern Abend erzählt worden, daß in der Marie Stuart eine förmliche Communion oder Abendmahl auf den Theater paßiren würde. Vermuthlich soll sie catholisch seyn und sich vielleicht mit der in den Jesuiten entschuldigen:« Vgl. NA 9/I, S. 221; Vgl. Ernst Brandes: »Maria Stuart, ein Trauerspiel von Schiller. Bey Cotta 1801. Octav 15 Bogen«, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen (8. Juni 1801), Stück 92. S. 913-917; zitiert nach Oscar Fambach (Hg.): Die Mitarbeiter der Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1769-1836, Tübingen 1976. Vgl. NA 9/I, S. 186 u. S. 269f. 547 Goethes Brief an Schiller am 12. Juni 1800, Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 1, S. 922: „Der kühne Gedancke, eine Communion aufs Theater zu bringen, ist schon ruchtbar geworden und ich werde veranlaßt Sie zu ersuchen diese Funcktion zu umgehen. […] Mögen Sie mir vielleicht den 5ten Ackt mittheilen? Und mich diesen Morgen nach 10 Uhr besuchen? Damit wir die Sache besprechen könnten.“ 548 Nach den Berichten von Heinrich Schmidt, Anton Genast und Amalie von Voigt. Vgl. NA 9/I,

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wird behauptet, dass die Szene schon von an Beginn verändert dargestellt wurde.

»Dasselbe trat ein in der Abendmahlscene, als Brot und Kelch wirklich gereicht wurden; denn man muß bedenken, daß bei dieser ersten Darstellung das Publikum, noch durch keine Mittheilung darüber vorbereitet, umsomehr davon überrascht werden mußte«549

»Einen großen Anstoß gab die Abendmahlscene, und Herder besonders soll gegen diese Profanierung der Kirch protestiert haben: dennoch wurde sie dargestellt, aber nur einmal denn das Publikum selbst erklärte sich dagegen.«550

Es gibt mehrere Belege dafür, dass die Abendmahlszene bei der ersten Aufführung unverändert dargestellt wurde. 551 Trotz der höheren Zahl der Gegenbelege ist jener Bericht überzeugender, nach dem die Abendmahlszene bereits bei der Uraufführung geändert bzw. gemildert dargestellt wurde.

»er [der Herzog] schrieb Schillern einen ausnehmend artigen eigenhändigen Brief, und bat ihn: die öffentliche Feier einer religiösen Weihe vom Theater wegzulassen, […] Allein er änderte meine Rolle: Ziborium und Kelch blieben weg, und er schloß mit der Absolution.«552

»Sollte man auf dem Berliner Theater nicht so weit gehen dürfen, als ich in der sechsten Scene des fünften Akts gegangen bin, und hier in Weimar gehen durfte, so ist mit einigen Strichen geholfen, die ich Ihnen ganz überlasse.«553

»Ich bemerke nur noch, daß du nicht stutzen darfst, wenn Du an die siebente Scene des fünften Akts kommst. Diese Scene ist bei der Vorstellung abgeändert worden; die Abänderung sende ich Dir, wenn Du das Stück gelesen hast.«554

Das Argument von Haide ist überzeugend, nach dem nur die Beichtszene stattfand. Denn er hat selbst die Rolle des Melvil gespielt und seine Bemerkung stimmt mit dem überlieferten Theatermanuskript h3 überein, 555 in dem die

S. 334f. 549 Schmidt: Erinnerungen eines weimarischen Veteranen, S. 97. 550 Genast: Aus dem Tagebuch, Erster Teil, S. 116. 551 Vgl. NA 9/I, Ebd. 552 Haides Brief an Böttiger am 22. Juni 1812, NA 42, S. 298. 553 Schillers Brief an Iffland am 22. Juni 1800, NA 30, S. 163f. 554 Schillers Brief an Körner am 3. Juli 1800; NA 30, 168. 555 Vgl. NA 9/I, S. 334, nach Robert Boxberger: [Rezension von:] »Wilhelm Fielitz: Studien zu Schillers Dramen«, Leipzig 1876, in: Archiv für Litteraturgeschichte 6, 1877, S. 261-275, hier

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Abendmahlszene gestrichen ist.556 Dazu erzählt Schiller selbst dem Berliner Intendanten Iffland, dass die betroffene Szene aufgeführt wurde, nachdem einige Stellen gestrichen worden waren. Im Brief an seinen Freund Körner erwähnt er noch einmal, dass die Stelle abgeändert aufgeführt wurde.557 Im Hinblick auf die dramatische Intention der Abendmalszene ist es eindeutig, dass der Zweck der Darstellung einer religiösen Szene auf der Bühne bei Schiller nicht in ihrer politischen Kühnheit, sondern in der künstlerischen Bedeutung jener Szene liegt. Dennoch es gab Misstrauen von der Seite des Herzogs gegen die dichterische Tendenz Schillers.

»ich [Carl August] erinnere dich [Goethe] daran, weil ich der prudentia mimica externa Schilleri [Schillers fremdartige schauspielerische Einsicht] nicht recht traue. So ein braver Mann er sonsten ist, so ist doch leider die göttliche Unverschämtheit oder die unverschämte Göttlichkeit, […] dergestalt zum Tone geworden, dass mann [sic!] sich mancherley poetische Auswüchse erwarten kann, wenn es bey neuern Dichtungen darauf ankommt, einen E f f e c k t, wenigstens e i n e n s o g e n a n n t e n [sic!] hervorzubringen, und der Gedancke [sic!], oder der poetische Schwung nicht zureichen wollte, um durch Worte und Gedancken das Herz des Zuhörers zu rühren.«558

Carl August teilte Goethe in seinem Brief am 10. Od. 11. Juni 1800 sein Misstrauen gegen Schiller mit. Er hat die szenische Darstellung des Abendmahls nicht in künstlerischer Hinsicht betrachtet, sondern sie als „die göttliche Unverschämtheit“ wahrgenommen. Darüber hinaus machte er Sorgen damit, solche „poetische Auswüchse“ bei der neuen literarischen Produktion eine feste Methode würde, die nur um einen Effekt willen ausgestattet wird. Für ihn muss

S. 275. 556 Vgl. NA 9/I, S. 375f. Die Beichtszene wurde auch geändert. Melvil hat noch keine Priesterweihe empfangen, aber er legt die Beichte Marias ab. 557 Goethes Aussage nach der Uraufführung weist auch darauf hin, dass die Szene auf der ersten Bühne bearbeitet wurde: „alle Ursache mit der Aufführung sehr zufrieden“. Hier bezieht sich Goethe nicht direkt auf die Szene, aber es ist offensichtlich, dass er hier „zufrieden“ mit der Umarbeitung jener Szene war. Goethes Brief an Schiller am 15. Juni 1800; Vgl. NA 38-1, S. 270. 558 Carl Augusts Brief an Goethe am 10. oder 11. Juni 1800, Vgl. NA 9/I, S. 221; Vgl. Großherzog Karl August Sachsen-Weimar-Eisenach / Johann Wolfgang von Goethe: Briefwechsel des Herzogs-Großherzogs Carl August mit Goethe. Quellen u. Darstellungen zu seiner Geschichte in drei Bänden, hg. v. Hans Wahl, Bd. 1: 1775-1806, Berlin 1915, S. 288f.

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im Theater darum gehen, einfache die Zuhörer zu rühren. Darüber hinaus zeigt die Äußerung Herzogs erweitert, dass Schiller in Bezug auf die Aufführung seiner Dramen am Weimarer Hoftheater keine freie Entscheidungsgewalt hatte und sich unter dem Einfluss Herzog befand.559 Schiller wurde zum Teil wieder als rebellischer Dichter der Räuber betrachtet und seine Kunst mit politischen Gedanken verknüpft, obgleich er sich von der zeitgenössischen politischen Strömung der Französischen Revolution abgelehnt hat.560 Im Gegensatz dazu betrachtete Körner, der Schillers dichterisches Konzept gut kannte, die betroffene Szene in anderer Hinsicht.

»Für eine glücklich gelößte Aufgabe halte ich besonders die 7de Scene des 5ten Acts, und ich muß Minna und Dora das Zeugniß geben, daß keine dadurch gestört worden ist. Es ist kein Grund vorhanden religiöse Gegenstände vom Gebiete der dramatischen Kunst auszuschließen, und daß man so etwas auf dem Theater nicht verträgt, beweißt bloß die noch herrschenden unwürdigen Begriffe von der Schauspielkunst. So lange diese aber noch dauern, ist es recht, eine solche Scene für das Theater abzuändern. Was irgend jemanden heilig ist, hat man jetzt doppelt zu schonen, da es für so wenige Menschen irgend etwas heiliges giebt.«561

Körner bewertet die Szene als unproblematisch und gerechtfertigt. Er unterstützt Schillers Schauspielkunst, indem er sie von den sogenannten zeitgenössischen „herrschenden unwürdigen Begriffe[n]“ des zeitgenössischen Theaters abgrenzt. Er trennt Kunst und Religion und bekräftigt die Autonomie der Kunst. Er weist daraufhin, dass bei Schiller der Sinn der Kunst von den gesellschaftlichen Bedingungen unabhängig ist. Dazu wurde der Text in h3 so bearbeitet, dass Melvil keine Priesterweihe empfangen hat, er übernimmt dennoch die Rolle des Beichtvaters. Das heißt, es geht bei Schiller nicht darum, eine konkrete religiöse

559 Vgl. Himmelseher: Weimarer Hoftheater, S. 104. 560 Vgl. ebd., S. 45ff: Schiller hatte sich seit dem Beginn der Jakobinnerrepublik 1792 eindeutig gegen die Französische Revolution positioniert. Daraufhin beschäftigen sich die beiden Dichter mit der Zeitschrift Horen, die als „theoretische Ausgangspunkt einer Dramenproduktion“ galt. Die grundlegende Idee zu dieser Zeitschrift entstand mit der Zeit der Schreckensherrschaft unter Robespierre 1794. In Bezug auf die Wirkung von Kunst im Allgemeinen wird hier die Veredelung des Charakters behauptet, was den Menschen durch die ästhetische Erziehung zum Weg zu einem Staat der Freiheit führen soll. 561 Körners Brief an Schiller am 9. Juli 1800, Vgl. NA 38-1 287.

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Liturgie zu repräsentieren, sondern ein Mittel herzustellen, das die innere Veränderung Marias ermöglichen kann. Außerdem hat Schiller die Beicht- und Abendmahlszene in die Druckversion, die 1801 publiziert wurde, eingefügt. Dies bestätigt noch einmal, dass Schiller der Szene keinen großen religiösen Wert, sondern nur eine theatralische und psychologische Funktion beimaß.562

3.1.3. Rezeption und Wirkung der theatralischen Darstellung

Die Reaktion auf die ersten Aufführungen der Maria Stuart am Weimarer Hoftheater war positiv. Der Dramatiker und der Intendant, die zur Seite der Produktion zählen, waren mit der Inszenierung zufrieden.563 Schiller drückte dem Schauspieler Heinrich Becker, der die Rolle von Burleigh gespielt hat, seine Begeisterung über die Aufführung aus.564 Er war so stolz darauf, dass er sogar behauptete, dass eine solche Aufführung auf keiner anderen deutschen Bühne so dargestellt werden könne. Das Theaterstück hatte „Succeß, wie ich [Schiller] nur wünschen konnte“565, wie Schiller im Brief an Körner festhielt. Nach der zweiten Aufführung am 16. Juni 1800 berichtete er auch Iffland, dem Intendanten in Berlin, dass die Wirkung des Theaters so war, wie er sich gewünscht hatte.566 Die Vorstellungen in den Nachbarstädten hatten auch Erfolg. Nach der ersten Aufführung in Lauchstädte berichtete Becker, dass sie eine Sensation gewesen sei und das schönste Schauspiel, welches eine Bühne Deutschlands je

562 Vgl. NA 9/I, S. 352. 563 Schiller drückt seine Zufriedenheit mit der Aufführung im Brief an Goethe am 15. Juni 1800 aus, indem er die Schauspieler lobte. Darüber hinaus fragte er die Meinung Goethes auf die Aufführung. Daraufhin beantwortete Goethe im Brief am gleichen Tag, dass er „sehr zufrieden“ sei und das Stück ihn außerordentlich erfreut habe.Vgl. Schiller / Goethe: Briefwechsel, S. 923. 564 Schillers Brief an Becker am 15. Juni 1800: „Die gestrige Vorstellung ist ein vortrefliches Ganzes gewesen und ich kann Ihnen nicht genug sagen, wie anständig, würdig und bedeutungsvoll es sich dargestellt hat. Wir dürfen keck jede andre deutsche Bühne herausfodern, eine solche Vorstellung zu geben als die gestige war. (…) Ihnen bin ich noch ins besondre für die würdige untadelhafte Ausführung Ihrer Rolle verpflichtet,“, NA 30, S. 161f. 565 NA 30, S. 162. 566 Ebd., S. 163f.

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aufgeführt habe.567 Die erste Aufführung in Rudolstadt am 20. August 1800 war auch erfolgreich, wie berichtet wurde:568 „Von allen Orten waren Zuschauer herbeigeströmt und alle Räume des Auditoriums bis auf den letzten Platz besetzt“.569 Das Theater wurde nicht nur von Aristokraten, sondern auch von Bürgerlichen und Volksleuten besucht. „Schillers Ruhm hatte sich nicht nur in den Städten Thüringens, sondern auch auf den Dörfern schon verbreitet, und selbst Bauern sah man im Theater, wenn ein schillersches Stück gegeben wurde.“570

(1) Erscheinung der Figur der Maria auf der Bühne aus verschiedenen Perspektiven

Es existieren zwei verschiedene Kritiken über die Darstellungsweise der Friederike Vohs (1777-1860), die die Figur der Maria Stuart gespielt hat. Auf der einen Seite wird ihre Erscheinung als würdige Königin gesehen. Die Zeitschrift Journal des Luxus und der Moden setzt sich mit der Darstellung von Vohs positiv auseinander.

»Mad. Vohs beschämt als Maria Stuart alle voreiligen Besorgnisse, und befriedigte selbst da in Anstand und Fassung durch den möglichsten Kraftaufwand, wo die höhere Aufgabe des Dichters der Phantasie einen viel weitern Spielraum überließ. Ob nicht durch eine vortheilhaftere und zeitgemäßere Costumirung auch hier einem kleinen Widerspruche mehr zu begegnen gewesen wäre, ist, da hier viel wichtigere Dinge in Untersuchung kommen, eine sehr unbedeutende Nebenfrage.«571

Der Verfasser dieser Kritik bewertete die Darstellung der Maria positiv. Er

567 Beckers Brief an Schiller am 7. Juli 1800, Vgl. NA 38/I, S. 284: Becker berichtet Schiller über den Erfolg der Aufführung in Lauchstädt. Die 450 Plätze waren voll und daher mussten etwa 200 Leute nach Hause gehen; Neben Heinrich Becker berichten auch Karl Morgenstern, Friedrich Carl von Savigny über den Erfolg der Aufführung. Vgl. NA 9/I, S. 336. 568 NA 38, S. 293f; Es gab unter 321 Theaterzuschauer Ludwig Friedrich von Schwarzburg- Rudolstadt, der von dem Theater begeistert war. Vgl. NA 38/2, S. 566. 569 Genast: Aus dem Tagebuch eines alten Schauspielers, Bd. 1, S. 116f. 570 Ebd., S. 193ff. 571 Vgl. [Anonym]: »Schillers Maria Stuart in Weimar«, in: Journal des Luxus und der Moden, 15 (Juli 1800), S. 359-362, hier S 361f.

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meinte, Friederike Vohs habe trotz aller Sorgen ihre Rolle der Maria Stuart als Königin in Anstand und Fassung dargestellt. Ihre schauspielerische Leistung sei so gut gewesen, dass das historisch nicht angemessene Kostüm nicht auffällig geworden sei. Doch Vohs wurde in anderen Theaterkritiken wegen ihrer banalen Darstellungsweise kritisiert.

»Rechnet man alles das ab, was die Natur schon gethan hat, um Madame Vohs zur ersten Schauspielerin unter der Truppe zu machen, Ihre schöne Gestalt und was sie selbst noch dafür tut, die edle Haltung ihres Körpers und ihre jedes Mal so anziehende Kleidung, ferner ihr reines sonores Organ; so mögte wohl wenig übrig bleiben, was sie nur zu einer mittelmäßigen Schauspielerin bilden könnte. Darum ist sie auch nur Schauspielerin, nicht Künstlerin. […] Sie nimmt jede Rolle auf diese Art, ihr Ton ist meist immer derselbe, ihre Deklamazion, ja selbst ihre Gestikulazion ist immer die nehmliche und Alles muß prezieus dargestellt werden. […] einmal die Maria Stuart von Madame Vohs spielen gesehn, heißt sie für immer gesehn.«572

»Madame Vohs als Maria Stuart verfehlte den Geist ihrer Rolle fast ganz, sie war nur die leidende Dulderin, nirgends die gekränkte Königin; sie war viel zu wenig stolz, viel zu weich, und nur den Zug von schwärmerischer Frömmigkeit, der in der Rolle lag, gab sie treulich wieder. […] Sie [die Kritiker] meinten, bei einer so schönen Frau denke man doch eher an weiblichen Reiz, als an königliche Würde, und da schade es so viel nicht, wenn auch die Frau mehr als die Königin hervortrete […] Las man in den rundlichen, zarten Gesichtsformen, in den dunkelen Augen mit dem vollen schwärmerischen Blicke der Maria freundliches Wohlwollen und ein für Liebesglut, Lebensgenuß und frommen Glauben empfängliches Gemüth, so sprachen dagegen die scharf gezeichneten Züge, das regelmäßige antike Profil, die geistvollen großen Augen vom schönsten Blau der Elisabeth Hoheit und Strenge aufs würdigste aus.«573

Trotz der hier negativen Bewertung kann aus beiden Theaterkritiken abgeleitet werden, dass Vohs das sinnliche Figurenbild Marias recht gut dargestellt hat. Die letztzitierten kritischen Bemerkungen über ihre Erscheinung sind insofern interessant, als insgesamt die positive Bewertung der darstellerischen Leistung von Vohs in den Kritiken überwog.574 Vohs wurde kritisiert, da sie nicht eine

572 Vgl. [Anonym]: »Maria Stuart. Auf dem Lauchstädter Theater«, in: Zeitung für die elegante Welt, 98 (15. August 1801), Spaltensatz 789-791, hier Spaltensatz. 789, Spaltensatz später als „Sp.“ bezeichnet. 573 Cäcilie: »Erste Aufführung der Maria Stuart in Weimar, am 14. Juni 1800«, in: Weimars Album zur vierten Säcularfeier der Buchdruckerkunst am 24. Juni 1840, S. 147-155, hier S. 152 u. 154. 574 Madame Vohs, als Maria Stuart, trug den Triumph der ganzen Darstellung davon. So hieß es

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würdige Königin, sondern nur eine leidende, schwärmerische und reizende Frau dargestellt habe. Sie wurde dann mit der Darstellung der Elisabeth durch Jagemann verglichen und vorgeworfen, die eine würdige Königin relativ gut gespielt habe. Die kritischen Beschreibungen über die Darstellung Marias, wie „schwärmerische[n] Blicke“, „Liebesglut“ und „Lebensgenuß“, spiegeln aber paradoxerweise wider, dass Vohs die Erscheinung der Maria in den ersten vier Akten als sinnliche Figur gut repräsentiert habe. Eine bemerkenswerte Theaterkritik wurde in Form einer Briefsammlung von einer unbekannten Person verfasst.575 Dieses Dokument ist zunächst in theatralischer Hinsicht wichtig, da es sich mit der Darstellung der Schauspieler in verschiedenen theatralen Elementen auseinandersetzt.

»Die Elisabeth wurde von Mamsell Jagemann gespielt. […] Sie besitzt überhaupt die sonoreste, lieblichste Stimme, ein offenes, äusserst ausdruckfähiges Gesicht, ein feines schnelles Gefühl, das sich beständig sehr lebhaft äußert. Sie accentuirt in ihrer Deklamation äußert richtig und bestimmt, […] Am vortrefflichsten war ihr Spiel in dem großen Monolog im vierten Act […].«576

Hier wurde das Schauspiel Jagemanns in konkreten Komponenten wie Gestik, Mimik, Gefühlsausdruck und Deklamation erläutert und dazu wurde eine bestimmte Szene genannt, in der nach der Meinung des Verfassers besonders die Schauspielerin sich gut dargestellt hatte. Es ist schon ein großer Unterschied im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Theaterkritiken, die sich nur darauf konzentriert, die Handlung des Stückes vorzustellen und dabei sehr wenig selbst über die Darstellung des Stücks berichtet.577 Des Weiteren ist auch der Bericht

allgemein, und deshalb ist dieser Aussage bedenklich, da hier eine andere Meinung gegen allgemeine Stimme geäußert wurde. Vgl. [Anonym:] »Maria Stuart. Auf dem Lauchstädter Theater«, Ebd. 575 Vgl. [Anonym:] Einige Briefe über Schillers Maria Stuart, und über die Aufführung derselben auf dem Weimarischen Hoftheater, Jena 1800; Reinhard Buchwald vermutet, dass der Verfasser dieser Schrift Böttiger sei. Vgl. Reinhard Buchwald, »Kleine Bausteine zu Schillers Lebensgeschichte«, in: Rechenschaftsbericht des Schwäbischen Schillervereins, 42 (1937/1938), S. 37-70, hier S. 53f; Vgl. NA 42, S. 626f; Vgl. NA 9-I, S. 333. 576 [Anonym:] »10. Brief«, in: [Anonym:], Ebd, S. 94-109, hier 102ff. 577 Vgl. Kapitel IV. 1. 2.

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über das Schauspiel von Friederike Vohs auch in theatralischer Hinsicht insofern wichtig, da es sich hier auf die Wirkung der Figur von Maria auf den Zuschauer bezieht.

»Maria Stuart wurde von Madame Vohs gespielt. […] Sie fühlte, daß sie die Königinn [sic!] des Tages war. Sie verband Zartheit, Sanftheit und Duldung mit königlicher Würde und Anstand. Ihr ganzes Wesen hatte gleich beym ersten Erscheinen etwas hinreißend schwärmerisches [sic!]. Ihr Benehmen bey der Entreißung ihrer letzten theuren Liebespfänder war edel und rührend. Sie erweckte eben so viel Rührung als Ehrfurcht. […] Wie zart war nicht ihr Spiel in der häßlichen, grellen Scene mit dem Mortimer! Wie rührend und schön gab sie uns noch die letzten Scenen, bis sie zu ihrem Tode gieng! Sie mußte in so himmlischer Begeisterung seyn, daß sie in diesem Augenblick wohl recht gern hätte wirklich sterben können.«578

Es wurde hier zunächst die Darstellung der Maria von Friederike Vohs allgemein als positiv bewertet. Es gibt im Vergleich zum Bericht über das Schauspiel Jagemanns keine konkrete Bemerkung über die Darstellung von Vohs je nach der theatralen Komponente.579 Die Wirkung des Schauspiels wird in Bezug auf die Handlung des Stücks erläutert. Stattdessen wurden die wichtigen Szenen in der Reihenfolge genannt, in der Maria sich auftritt. Relevant ist hier, dass es nicht nur darum geht, die Reihenfolge der Handlung zu ermitteln, sondern die Szenen stets in wirkungsästhetischer Hinsicht betrachtet wird, indem es darauf orientiert wird, welcher Affekt bei den Szenen hervorgerufen werden können. Allerdings es ist eine begrenzte Erläuterung, da es die geht. Aber es ist ein zentraler Punkt in diesem Text im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Rezensionen, dass die szenische Darstellung im Hinblick auf deren Wirkung auf die Zuschauer berücksichtigt wird. In Bezug auf die Darstellung der Figur wurde erläutert, ihre erste Erscheinung rufe „etwas hinreißend

578 [Anonym:] »10. Brief«, in: [Anonym:] Einige Briefe über Schillers Maria Stuart, und über die Aufführung derselben auf dem Weimarischen Hoftheater S. 104ff. 579 Die Bemerkung über Caroline Jagemann als Elisabeth ist ein gutes Beispiel dafür. Ihr Schauspiel wurde je nach dem Element, z. B. Stimme, Mimik, Ausdrucksweise des Gefühls und der Deklamation berichtet. Es ist eine detailliertere Bewertung im Vergleich zu anderen Schriften, in denen nur darüber berichtet wurde, ob die Schauspielerin gemäß der Figur ihre Rolle gespielt hat. Vgl. NA 9/I, S. 268.

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schwärmerisches“ hervor. Maria als sinnliche Figur wird hier betont. Diese Aussage bildet einen Kontrast zu ihrer Erscheinung im letzten Akt, die Maria mit der „himmlische(r)[n] Begeisterung“ verknüpft. Die theatralische Umsetzung des Erhabenen in der Figur der Maria ist nach dieser Theaterkritik insgesamt gut gelungen, wie es der Dramatiker vorgesehen hatte. Der Verfasser des letzten Dokuments beschreibt, dass die Darstellung der Figur der Maria am Anfang des Stücks so gewirkt habe, dass der Zuschauer davon emotional berührt worden sei und ihr Spiel im Nachhinein das Gefühl des Erhabenen hervorgerufen habe. Die Wandlung der Figur der Maria entspricht dem, wie es der Dramatiker für seine Konzeption des Erhabenen in der Dramenästhetik erwartet hat.

(2) Wahrnehmung und Wirkung der letzten Szene: 9. Auftritt des 5. Akts

Es ist relevant, wie die theatralische Darstellung im 9. Auftritt des 5. Akts vom Zuschauer wahrgenommen wurde und welche Wirkung sie hervorgebracht hat, da hier Maria als eine erhabene Figur erscheinen sollte. Es ist auch der letzte Auftritt Marias, nachdem sie in der Beichte ihr bisheriges sinnliches Verhalten abgelegt hat. In der Druckfassung wird dargestellt, dass sie vom Blick Leicesters innerlich erschüttert wird, sie sich jedoch wieder fasst und Leicester ihre letzten Worte sagt. Je nach der Darstellung der Maria in der letzten Szene kann sich im Hinblick auf die theatralische Darstellung des Erhabenen eine andere Wirkung ergeben. Heinrich Schmidt, der die erste Aufführung der Maria Stuart besucht hat, berichtet über diese Momente folgendes:

»Es betraf nämlich den Abgang der Maria im fünften Act. Daß sie in jenen Scenen, die des Dichters Absicht, ihren frühern Lebenslauf in beschönigendem Licht erscheinen zu lassen, deutlich machen, sich schon ganz vom Irdischen ab und dem Himmlischen zugewendet hat und nun doch bei Leicester`s Anblick noch ein mal [sic!] in die Scene zurückkehrt, um ihm sein Vergehen mit Bitterkeit vorzuhalten, hatte das jugendliche Gefühl beleidigt. Ein beim Hinausschreiten nach kurzem innern Kampf ihm mit reiner, jeden Rückfall überwindender Erhebung zugerufenes: „Ich vergebe dir“, meinte ich, würde eine bessere Wirkung hervorbringen und Maria's Stimmung und Situation angemessener sein. […] Sehr nachsichtig und gütig sagte er [Schiller] mir in der dadurch veranlaßten Unterredung, daß ich meinem individuellen Gefühl nach nicht ganz Unrecht hätte, daß ihm aber die geschichtliche Maria habe vorschweben müssen, in deren Charakter dieser Rückfall begründet

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sei.«580

Die Kritik Schmidts an dieser Szene beschränkt sich zwar auf sein individuelles Gefühl, aber seine Aussage ist bemerkenswert, da er die szenische Darstellung im Hinblick auf deren Wirkung mit einem kritischen Blick beurteilt. Schmidt weist deutlich darauf hin, dass der Schwerpunkt der Erscheinung Marias im letzten Akt auf ihren inneren Wandel vom Irdischen zum Himmlischen liegt. Nach der Kritik Schmidts wirkte die theatralische Darstellung in der letzten Szene nicht ausreichend, so dass die innere Veränderung Marias veranschaulicht werden könnte. Kritisiert wird die Szene, in der Maria beim Anblick Leicesters kurz innehält und noch einen inneren Kampf wieder erlebt. Interessant ist hier, dass er selbst eine alternative Szene vorschlägt. Er meinte, es würde dabei „eine bessere Wirkung hervorbringen“ und es wäre angemessener gewesen, wenn Maria Leicester ein einfaches Wort der Vergebung gesagt hätte, ohne ihm darauf hinzuweisen, was er falsch gemacht hat. Dazu berichtet er, dass sogar Schiller seiner Meinung zum Teil zugestimmt habe. Die kritische Anmerkung, die Schmidt geäußert hat, kann darüber hinaus mit dem Theatermanuskript verglichen werden, um herauszufinden, nach welcher Version die Weimarer Inszenierung aufgeführt worden ist bzw. näher zum Weimarer Theatermanuskript steht.

(3) Unterschiedliche szenische Darstellung: 9. Auftritt vom 5. Akt

Die betreffende Szene wurde in h3 im Vergleich zur Druckversion von April 1801 zum größten Teil anders dargestellt. In der Druckversion erklärt Maria, von der irdischen Welt befreit worden zu sein. Sie sagt, dass sie „keine irdische Neigung mehr“ habe. Daraufhin spricht sie vor ihrem Geliebten ihre verborgenen Gedanken und Gefühle aus. Sie meinte, dass sie ihr Gefühl gegenüber Leicester, „die besiegte Schwachheit“, wie sie sie benennt, überwunden habe. Sie spricht ihr Abschiedswort aus, kritisiert Leicester aber auch, indem sie sein Verhalten

580 Schmidt: Erinnerungen eines weimarischen Veteranen, S. 97f.

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als „Verrat“ definiert.

E (Erstdruck)581 h3 (Hamburger Theatermanuskript)582

Maria: Maria: Ihr haltet Wort, Graf Leicester – Ihr Ihr haltet Wort, Graf Leicester – Ihr verspracht verspracht Mit Euren Arm, aus diesem Kerker mich Mit Euren Arm, aus diesem Kerker mich Zu führen, und Ihr leihet mir ihn jetzt! Zu führen, und Ihr leihet mir ihn jetzt! (Er steht wie vernichtet. Sie fährt mit sanfter Stimme fort.) Ja, Leicester, und nicht bloß Gekommen ist der lang ersehnte Tag, Die Freiheit wollt ich Eurer Hand Und in Erfüllung geht, was ich mir verdanken. In süßen Träumen gaukelnd vorgebildet. Ihr sollet mir die Freiheit teuer machen, Mylord von Lester, der erwartete, An Eurer Hand, beglückt durch Eure Liebe, Der heiß ersehnte Freund, er ist erschienen Wollt ich des neuen Lebens mich erfreun. Zu Fotheringhayschloß, ich seh ihn mitten Jetzt, da ich auf dem Weg bin, von der Welt In meinem Kerker stehn; alles ist Zu scheiden, und ein sel'ger Geist zu Bereit zum Aufbruch, alle Pforten offen, werden, Ich schreite endlich über diese Schwelle Den keine ird'sche Neigung mehr versucht, An seiner Hand, und hinter mir auf ewig Jetzt, Leicester, darf ich ohne Schamerröten Bleibt dieses traurige Gefängniß. – Alles Euch die besiegte Schwachheit eingestehn- Erfüllet sich, Mylord und Eure Ehre Lebt wohl, und wenn Ihr könnt, so lebt Habt Ihr gelöst. beglückt! Ihr durftet werden um zwei Königinnen, Ein zärtlich liebend Herz habt Ihr verschmäht, Verraten, um ein stolzes zu gewinnen. Kniet zu den Füßen der Elisabeth. Möge Euer Lohn nicht Eure Strafe werden! Lebt wohl! – Jetzt hab' ich nichts mehr auf der Erden! Vergleich der szenischen Darstellung zwischen Erstdruck und h3

Leicester habe sie verlassen, um das Herz von Elisabeth zu gewinnen. Es gibt keine direkten Worte der Vergebung oder Versöhnung mit Leicester, aber sie meint, am Ende ganz von der Welt befreit zu sein, nachdem sie ihre inneren Gedanken und Emotionen ausgedrückt hat. Sie verlässt die Welt trotz ihres unerfüllten Wunsches mit einem bewussten erhabenen Gefühl. Der Fokus des Hamburger Theatermanuskripts liegt auf dem nicht

581 Vgl. V. 3819-3838. 582 Vgl. V. 3819-3821, zitiert nach NA 9/I, S. 376.

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erfüllten Wunsch. Maria beschreibt, was sie sich erhofft hat: Sie habe den Tag erwartet, an dem ihr Geliebter Leicester erscheint und mit ihr die Grenzen des Gefängnisses überwindet. Sie meint am Ende, dass sich alles erfüllt habe, was eigentlich ironisch gemeint ist. Ihr Wunsch war, aus dem Kerker befreit zu werden und mit Leicester zusammen ein neues Leben anzufangen. Es ist auffällig, dass sie Leicester als dritte Person wie „er“, „ihn“ und „an seiner Hand“ anspricht. Dies zeigt, dass es ihr hier nicht wichtig ist, mit Leicester zu kommunizieren. Vielmehr fokussiert sie sich auf ihren eigenen unerfüllten Traum. Erst mit den Worten „Eure Ehre habt Ihr gelöst“ spricht sie wieder Leicester an. Sie wirft ihm vor, dass er ihren Wunsch nicht erfüllt hat. Das Erhabene an der Figur der Maria durch ihre Loslösung von der irdischen Welt ist hier in h3 schwierig zu finden. Es wird nicht ausgesprochen, dass sie sich trotz allem von der irdischen Welt verabschiedet, sondern es bleiben nur ihre unerfüllten Wünsche und ihre Anklage an Leicester. Die szenische Darstellung, über die Schmidt berichtet, ist nah an der Druckfassung. In beiden Versionen aber zeigt Maria ihre Bitterkeit und kein Wort der Versöhnung. In h3 macht Maria Leicester mit ihren letzten Worten auch Vorwürfe. Aber es betrifft nicht sein Vergehen in der Vergangenheit, sondern es ist ein Vorwurf aufgrund ihres unerfüllten Wunsches. Im Erstdruck werden die Taten Leicesters konkret genannt. Maria hält ihm konkret vor, dass er sie verlassen habe, um Elisabeth zu gewinnen. Dies passt zu Schmidts Aussage. Maria drückt aus, dass sie nichts mehr auf der Erde habe, aber ihr Wort an Leicester klingt bitter. Ihr letztes Wort hat auf der Bühne mindestens nach dem Bericht von Schmidt so gewirkt, dass es ihre innere Veränderung vom Irdischen zum Himmlischen stört.

(4) Zusammenfassung der Analyse der Weimarer Inszenierung

Das Stück Maria Stuart ist im engen Kontakt zum Weimarer Hoftheater entstanden. Im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe stellte einerseits der Dramatiker Schiller dem Theaterdirektor Goethe seine Konzeption des Figurenbildes vor und berichtete ihm auch den Prozess der Verfassung.

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Andererseits half Goethe dem Dramatiker, indem er nötige Materialien für ihn besorgte. Dies bezeugt, dass der Dramatiker Schiller hatte bereits in der Phase der Verschriftlichung des Stückes auf dessen Inszenierung am Weimarer Hoftheater berücksichtigt. Die Vorlesung der ersten vier Akten und die Leseprobe mit den Schauspielern fanden vor dem Abschluss des letzten Akts statt. In jener Zeit überlegte Schiller sich schon die Rollenverteilung. Auf der einen Seite wurde die Vorstellung des Dramatikers in Bezug auf die beiden Protagonistinnen Maria und Elisabeth auf die Bühne umgesetzt. Die Rolle der Maria, die eine schöne Figur sein sollte, wurde von Schauspielerin Vohs und der Elisabeth, die eine geistige Kraft besitzen sollte, von künstlerisch begabten Schauspielerin Jagemann übernommen. Auf der anderen Seite mussten die Szenen die Schiller zum rein künstlerischen Zweck ins Stück hineingesetzt hatte, verändert werden. Es sind z. B. die Szene der Nötigung Marias durch Mortimer im 6. Auftritt des 3. Akts und die Abendmahlszene im 7. Auftritt des 5. Akts. Die Bühnenbearbeitung geschah aber nicht aus einem künstlerischen Grund, sondern aus der damaligen Bühnensitte, der gesellschaftlichen Moralvorstellung und dem politisch-religiösen Verhältnis. Trotz der szenischen Änderung wider die ursprüngliche Intention des Dramatikers war der Dramatiker mit der Aufführung des Stücks zufrieden und die Aufführung hat allgemein eine gute Reaktion im Publikum hervorgerufen. In den zeitgenössischen Theaterkritiken wurde über die Darstellung der Maria durch Vohs berichtet. Das Schauspiel Vohs' wurde zunächst in Bezug auf die Sinnlichkeit der Maria gelobt, da sie die Figur der Maria in den ersten vier Akten mit ihrer schönen Figur gut darstellte. Aber sie wurde wegen der Banalität ihres Schauspiels und fehlenden Kraft als Königin im Vergleich zu Jagemanns Elisabeths Darstellung kritisiert. Trotzdem gelingt es in der Aufführung, die gezielten Affekte durch die kontrastive Erscheinung Marias im letzten Akt hervorzurufen.

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3.2. Inszenierung unter der Leitung von Iffland am Berliner Nationaltheater

Die Berliner Inszenierung der Maria Stuart am Königlichen Theater in Berlin (EA 8. Jan. 1801) unter der Leitung von Iffland war die erste Inszenierung, die nicht vom Weimarer Ensemble dargestellt wurde. Die Besonderheit der Berliner Inszenierung liegt zunächst darin, dass es einen Austausch zwischen dem Dramatiker in Weimar und dem Intendanten in Berlin gab. Dieser briefliche Austausch kann als Beginn des Inszenierungsprozesses betrachtet werden. Des Weiteren hat die Berliner Inszenierung einen wichtigen Bezug zur Weimarer Inszenierung, da es Gastspiel-Austausche zwischen dem Weimarer Hoftheater und dem Berliner Nationaltheater gab.583 Die repräsentativen Schauspielerinnen der beiden Theater wurden ausgetauscht und haben jeweils am anderen Theater ihre Rolle gespielt. Außerdem sind die Kostümbilder, die im Heft Das Kostümbild auf dem Königlichen National-Theater in Berlin erschienen sind, auch wichtige Dokumente, an denen die Darstellung der Figur der Maria auf der Bühne nachgewiesen werden kann.

3.2.1. Austausch zwischen Dramatiker und Intendant als Beginn der Inszenierung

1) Verhältnis zwischen Schiller und Iffland

Schiller und Iffland, beide im gleichen Jahr 1759 geboren, sind zwei der prominentesten Theaterleute im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts.

583 Es bestand ein gutes Verhältnis zwischen dem Weimarer Hoftheater und dem Berliner Nationaltheater. Auf der einen Seite förderte Iffland durch seine Gastspiele in Weimar die Vervollkommung der dortigen Schauspieler. Auf der anderen Seite trugen Carl Ausgut, Goethe und Böttiger durch ihre Bewunderung und Teilnahme dazu bei, die Berliner Stimmung außerordentlich umzuschwingen. Darauf entstand ein wahrhaftes freundschftliches Verhältnis zwischen diesen Männern, denen sich Schiller und Kirms auch anschlossen. Vgl. Emde: Caroline Jagemann, Bd 1, S. 902f.

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Sie lernten sich am Mannheimer Nationaltheater kennen. Die erste Begegnung der beiden fand anlässlich der Uraufführung der Räuber am 13. Januar 1782 am Mannheimer Theater statt. Iffland wirkte als Schauspieler bei Schillers Debüt als Dramatiker in der Aufführung der Räuber mit, in der er die Rolle des Franz Moors spielte. Des Weiteren trat er in verschiedenen Schiller-Inszenierungen auf.584 Danach wurde Schiller als Theaterdichter an das Mannheimer Theater am 1. 9. 1783 berufen und dies verursachte eine künstlerische Rivalität mit Iffland um den Vorrang im Theaterkreis.585 Die Konkurrenz bestand darin, dass Iffland sich nicht nur als Schauspieler auf der Bühne, sondern auch als Dramatiker sah. Aber trotzdem gab es eine positive Wechselwirkung zwischen den beiden. Z. B. berieten sie sich dabei gegenseitig, die Titel der Dramen zu bestimmen.586 Die Laufbahn der Beiden entwickelte sich dann in unterschiedliche Richtungen. Schiller wurde zwar am 1. September 1783 von Intendant Dalberg als Theaterdramatiker am Mannheimer Theater angestellt, musste aber nach einem Jahr das Mannheimer Theater verlassen. Eine Weile später nach der Verfassung von Don Karlos (1787) hat Schiller sich von seiner Laufbahn als Dramatiker zurückgezogen und beschäftigte sich mit theoretischen Schriften. Diese sogenannte theoretische Zeit Schillers endete, als er als Dramatiker, Dramaturg und Regisseur am Weimarer Hoftheater teilnahm. Iffland hat sich dagegen weiter als Schauspieler in Mannheim engagiert und wurde als ausgezeichneter Schauspieler seiner Zeit bekannt.587 Ab dem Zeitpunkt, in dem Schiller als Dramatiker am Weimarer

584 Im folgenden Jahr spielte Iffland die Rolle des Verrinas bei der Aufführung des Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) gespielt am 11. Januar 1784. Im Weiteren übernahm er die Rolle des Wurms am 15. April 1784 bei Kabale und Liebe (1784). Vgl. Wilhelm Hermann: »Friedrich Schiller und August Wilhelm Iffland«, in: Baden-Württemberg: Kultur, Leben, Natur 10 (1959), S. 26-27, hier S. 26. 585 Vgl. ebd. 586 Der jetzige Titel Kabale und Liebe geht auf Iffland zurück, der sich damit gegen den von Schiller vorgeschlagenen Titel Luise Millerin durchsetzte. Umgekehrt geht der Titel von Ifflands Stück Verbrechen aus Ehrsucht (UA 1784 Hoftheater Wien, E 1784 Mannheim) auf Schiller zurück. Vgl. ebd. 587 Vgl. ebd.

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Hoftheater aktiv Anteil hatte und Iffland als Intendant am Berliner Königlichen Theater in Berlin tätig war, begann ein kontinuierlicher Austausch zwischen den beiden. Als ersten Auftrag am Weimarer Hoftheater bearbeitete Schiller 1796 Egmont von Goethe für die weimarische Bühne. Diese Aufgabe als Dramaturg war für Schiller insofern relevant, als es eine Vorstufe für die Abfassung eigener Dramen und eine gute Grundlage für seine spätere schriftstellerische Schaffenszeit der Weimarer Epoche war. In dieser bedeutungsvollen Aufführung für Schiller spielte Iffland als Gastspieler die Titelrolle von Egmont. Im selben Jahr wurde Iffland als Intendant an die Spitze des Königlichen Theaters zu Preußen nach Berlin berufen. Die Ernennung Ifflands als neuer Direktor des Berliner Theaters war ein neuer Anlass, den Kontakt zwischen den beiden ermöglicht hat. Die Tätigkeit von Iffland in Berlin kann nicht geringschätzig angesehen werden. Iffland hatte die Verantwortung auf die gesamte Leitung am Berliner Theater. Dort hat er eine Rolle der Multifunktion am Königlichen Theater zu Berlin ausüben können, wie Schiller in Weimar als Dramatiker, Regisseur und Dramaturg und künstlerischer Leitung neben Goethe gewirkt hat. Iffland hat als Direktor des Theaters die meisten Stücke selbst inszeniert, verteilte die Rollen und spielt selbst am Abend eine Rolle auf der Bühne.588 Darüber hinaus hatten Schiller-Inszenierungen einen großen Anteil am gesamten Spielplan in Berlin, was auf einem gegenseitigen Gewinn beruht. Einerseits wollte Schiller seine Stücke auf dem großen Theater in Berlin aufführen lassen und konnte dadurch gleichzeitig auch finanziell deutlich profitieren. Andererseits konnte Iffland als neuer Intendant seinen Ruhm und seine Karriere steigern, indem er die Stücke Schillers an seinem Theater aufführen ließ. 589 Die häufige Aufführungszahl der schillerschen Stücke in Berlin zeigt, wie Iffland Schillers Stücke eingeschätzt hat. Schiller-Inszenierung befindet sich auf dem 2. Platz der am meisten gespielten Stücke nach August von

588 Vgl. Ruth Freydank: »Ifflands Berliner Schiller-Inszenierungen«, in: Theater der Zeit: Zeitschrift für Politik und Theater, 42 (1987), H5, S. 22-25, hier S. 22. 589 Ebd.

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Kotzebue (1761-1819) und es ist mehr als Iffland der Intendant. Die Stücke Schillers wurden während der 18 langjährigen Direktionsjahre Ifflands 1796- 1814 von 13 Stücken 430 Mal aufgeführt. Von 86 Stücken Kotzebues wurde 1226 Mal gespielt und Ifflands 41 Rührstücken wurden 380 vorgestellt.590 Seitdem Schiller und Iffland jeweils in Weimar und Berlin tätig waren, tauschten sie in Bezug auf die Inszenierung von Schillers Dramen brieflich ihre Meinungen aus. Dieser briefliche Kontakt zwischen den beiden begann seit der Berliner Inszenierung der Wallenstein-Trilogie und lief bis zum Tod Schillers im Jahr 1805.591 Es war eher Iffland, von dem die Initiative zu dem lebhaften Briefwechsel mit Schiller ausging.592 Der Briefwechsel zwischen beiden ist im Hinblick auf den Prozess der Berliner Inszenierung nicht weniger wichtig als der zwischen Schiller und Goethe für die Weimarer. Denn es kann dadurch rekonstruiert werden, wie der Prozess bei der Inszenierung von Schillers Stücke am Berliner Theater ablief. Darüber hinaus kann besonders die Konstellation zwischen beiden berücksichtigt werden. Schiller schickte Iffland zwar seine Vorstellungen in Bezug auf die theatralische Darstellung, allerdings nicht als reine zwingende Empfehlung, sondern mit der Hoffnung, dass sie rezipiert würden. Denn er war nur Verfasser des Stücks und hatte keinen offiziellen Titel am Berliner Theater. 593 Iffland war seinerseits als Theaterdirektor nicht verpflichtet, die Vorschläge des Dramatikers umzusetzen und vor allem in Bezug auf die Rollenbesetzung folgte er Schillers Empfehlungen nicht.

590 Vgl. Košenia: »Iffland«, in: Zeitschrift für Germanistik – Neue Folge, 19 (2009), H1, S. 178- 183, hier S. 179. 591 Für die erste Aufführung der Piccolomini am 18. Februar 1799 in Berlin gab es intensiven Austausch über die Rollenbesetzung, die Wahl der Kostüme und die Dekorationen. Vgl. ebd., S. 23 u. 26. 592 Vgl. Knudsen: Deutsche Theatergeschichte, S. 240. 593 Der Status eines Dramatikers und sein Urheberrecht auf das eigene Stück waren damals nicht geschützt. Z. B. war es übrig, dass der Name des Autors im Theaterzettel meist ungenannt bleibt. Vgl. ebd., S. 226; Der Dramatiker konnte das Urheberrecht gegenüber dem Theater nicht behauptet, wenn das Stück schon als Druckversion veröffentlicht wird. Aus diesem Grund hat Schiller besonders darauf geachtet, dass das Manuskript des Stücks nicht der fremden Hand erreicht wird. Vgl. NA 30, S. 163f: Darum bat Schiller Iffland um eine Bestätigung dafür, wenn dieser das Manuskript erhält.

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2) Unterschiedliche Perspektive im Austausch zwischen Dramatiker und Intendant

Es existieren drei Briefe, in denen sich der Dramatiker und der Intendant über die Inszenierung der Maria Stuart austauschten. Es wurde zum größten Teil über die Figurenvorstellung und Rollenbesetzung gesprochen und wenig über die gesamte Intention des Dramatikers oder über die einzelnen Szenen. Trotzdem zeigt der Briefwechsel, worauf die jeweilige Person in Bezug auf die Realisierung des Stücks auf der Bühne geachtet hat. a. Künstlerische Darstellung vs. Diplomatische Konstellation

Die Intention des Dramatikers in Bezug auf die Rollenbesetzung konnte wegen der inneren Situation des Berliner Theaters nicht durchgesetzt werden.

»Es würde mir große Freude machen, zu hören, daß Mad. Fleck die Maria und Mad. Unzelmann die Elisabeth gespielt. Burleigh wünschte ich in keinen andern Händen als den Ihrigen zu sehen, wenn Sie nicht etwa mehr Neigung zu Shrewsbury haben. […] Weil mir alles daran liegt, daß Elisabeth in diesem Stück noch eine junge Frau sey, welche Ansprüche machen darf, so muß sie von einer Schauspielerin, welche Liebhaberinnen zu spielen pflegt, dargestellt werden. Hier habe ich sie der Jagemann gegeben, die sie recht gut darstellte. Marie ist in diesem Stücke etwa 25 und Elisabeth höchstens 30 Jahr alt.«594

»Jedes Theater hat seine diplomatischen Verhältniße. Ich kann Madam Fleck, die Marie um so [sic!] weniger geben, als Madam Unzelmann das Stück zu ihrem Benefice wollte. Es war schon Herrn Fleck versprochen und die Rolle der Maria, konnte ich nun nicht der Madam Unzelmann abschlagen. Doch wißen beide Frauen Ihren Willen. Madam Meier, ehemalige Eünicke, eine schöne Frau und bedeutende Künstlerinn [sic!], wird Elisabeth sein. – Ich kann nicht Burleigh sein. […] Schrewsbury wird Herr Fleck sein, warscheinlich [sic!] ich, Melwill. […] In welchem Alter, soll Mortimer sein? Ich denke ihn 22-24.«595

»Mortimer braucht nicht älter als 21 oder 22 Jahre zu sein«596

594 Schillers Brief an Iffland am 22. Juni 1800, NA 30, S. 164. 595 Ifflands Brief an Schiller am 8. Nov. 1800, NA 38/1, S. 367f. 596 Schillers Brief an Iffland am 19. Nov. 1800, NA 30, S. 211.

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Schiller nennt gemäß seiner Vorstellung vom Drama den Namen der gewünschten Schauspieler. Er kannte das Berliner Ensemble aus der Vorbereitungszeit für die Inszenierung der Wallensteins Trilogie in Berlin.597 Aus diesem Grund konnte er sich auch konkret vorstellen, welche Schauspieler seiner Figurenkonzeption entsprechen könnten. Aber wie später bei der Entscheidung Ifflands zu sehen ist, nahmen die Vorschläge des Dramatikers eher wenig Einfluss auf die konkrete Realisierung des Stückes auf der Berliner Bühne. Nach der Konzeption des Dramatikers sollten die beiden Protagonistinnen als junge Frauen dargestellt werden. Das Alter der Figur der Elisabeth soll höchstens 30 und Maria etwa 25 sein. Vor allem sollte Maria als eine junge attraktive Frau dargestellt werden.598 Elisabeth sollte auch nicht so alt erscheinen, dass sie in der Konkurrenz um Leicester nicht als Gegnerin Marias hätte auftreten können. Es ist Absicht des Dramatikers, hier den Namen der Jagemann ins Spiel zu bringen. Damit wollte er Iffland suggerieren, dass die leitende Schauspielerin in Berlin, Unzelmann, nicht unbedingt die Titelrolle, sondern Elisabeth spielen könne, genau wie es Jagemann in Weimar getan habe.599 Anstelle von Friederike Unzelmann, die 41 Jahre alt wurde, schlug Schiller Louise Sophie Fleck (1777- 1846) für die Rolle der Maria vor, die zu jenem Zeitpunkt 24 Jahre alt war. Für Iffland war aber die diplomatische Konstellation innerhalb Theaters wichtiger als die künstlerische Darstellung, die für Schiller das wichtigste Kriterium für die Inszenierung war. Aus diesem Grund gab er Friederike Unzelmann entgegen der Empfehlung Schillers die Rolle der Maria. Er achtete bei der Rollenbesetzung mehr auf die Meinung des prominenten Schauspielers

597 In Berlin wurde das Stück Piccolomini am 18. Feb. 1799 zum ersten Mal aufgeführt. Iffland berichtete über die Aufführung in seinem Brief am 26. Feb., Vgl. Oellers: »Wallenstein«, S. 124; Schiller wünschte sich, dass Iffland die Rolle des Wallensteins übernimmt, aber Fleck spielte die Titelrolle und Iffland Octavio. Vgl. Julius Petersen (Hg.): Schillers „Piccolomini“ auf dem Königlichen National-Theater in Berlin. Ifflands Regiebuch zur Erstaufführung am 18. Februar 1799, mit einem Geleitwort von Staatsminister Prof. Dr. Johannes Popoitz, Berlin 1941, S. 5. 598 Vgl. Kapitel IV. 2. 2. 599 Caroline Jagemann und Friederike Vohs, die in Weimar jeweils als Elisabeth und Maria gespielt haben, waren beide 23 Jahre alt, als das Stück in Weimar uraufgeführt war.

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Johann Friedrich Ferdinand Flecks (1757-1801)600 und den Ruf Unzelmanns innerhalb des Theaters als auf den Rat Schillers.

Prozess Rollenbesetzung in Schillers Vorschlag für Ifflands Antwort auf Weimar zum Berliner Inszenierung Schillers Vorschlang Rolle Vergleichen

Elisabeth Caroline Jagemann Friederike Unzelmann Johanna Henriette Rosine (1777-1848), 23 (1760-1815), 41 Meyer

(1772-1849), 29 Maria Friederike Vohs Louise Sophie Fleck (1777- F. Unzelmann (1777-1860), 23 1846), 24 (1760-1815), 41 Rollenbesetzung der zwei Protagonistinnen in Weimar und Berlin601

Denn Fleck war eine leitende Figur am Berliner Theater. Er war nicht nur Schauspieler, sondern leitete auch als Regisseur das Berliner Theater seit 1790 bis zur Amtsübernahme Ifflands 1796. Aus diesem Grund konnte Iffland auf das innere Verhältnis am Theater nicht verzichten. Unzelmann hatte auch eine relevante Position am Theater, da sie schon lange Jahre, seit 1788, am Theater tätig war. Außerdem versuchte Iffland, in Bezug auf Schillers Vorstellung für die Figur der Elisabeth eine alternative Lösung zu finden. Für die Rolle der Elisabeth setzte er nach der Vorstellung des Dramatikers Johanna Henriette Rosine Meyer (1772-1849) ein, die zum Zeitpunkt der Inszenierung 29 Jahre alt wurde.602

600 Vgl. Georg Kurscheidt: »Register. Personsn und deren Werke«, in: Schiller / Goethe: Briefwechsel, Bd. 2, S. 528. 601 Der Zahl neben dem Geburtsjahr und dem Todesjahr bedeutet das Alter der Schauspieler im Jahr der Aufführung Vgl. Theaterdatenbank von Berliner Klassik; Quelle: http://berlinerklassik.bbaw.de/BK/personen/index_html (Zugriff am 22. Mai 2017) 602 Die Schauspielerin Meyer (Mayer) geb. Schüler hieß in der 1. Ehe (1788-1797): Eunicke, in der 2. Ehe (1802-1805): Meyer, in der 3. Ehe: Hendel, in der 4. Ehe: Schütz (1811). Sie war 1796-1806 Schauspielerin in Berlin. In der wirklichen Aufführung der Maria Stuart wurde die 29-jährige Meyer von der Schauspielerin Marianne Böheim (1757-1824) abgelöst, die zum Zeitpunkt der Inszenierung 44 Jahre alt wird. Es widerspricht der Vorstellung des Dramatikers auf die Rolle der Elisabeth. Meyer hat später in der Jungfrau von Orleans die Rolle der Johanna übernommen. Vgl. Klaus Gerlach: August Wilhelm Ifflands Berliner Bühne. „Theaterlische Kunstführung und Oekonomie“, Berlin·Boston 2015, S. 350.

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b. Bearbeitung und Darstellung des fünften Akts

Die Gestaltung des fünften Akts wurde von Schiller für wichtig erachtet, um die Aufführung des Stücks seiner Grundintention nach überhaupt gelingen zu lassen. Schiller wusste nach der Erfahrung aus Weimar, dass die religiösen Szenen im fünften Akt provokativ seien. Daher vertraute er im ersten Brief an Iffland in Bezug auf die Darstellung der Beichtszene dem Regisseur die Bühnenbearbeitung vollkommend an und betont die Bedeutung der Rolle von Melvil.

»Sollte man auf dem Berliner Theater nicht so weit gehen dürfen, als ich in der sechsten Scene des fünften Akts gegangen bin, […] so ist mit einigen Strichen geholfen, die ich Ihnen ganz überlasse. […] Daß die Rolle Melvils, so klein sie ist, in sehr guten Händen seyn muß, werden Sie selbst finden. Ja, ich würde Sie selbst bitten, solche zu übernehmen, wenn sich kein anderer Schauspieler mit der gehörigen Würde dazu fände.«603

»Im 5t Ackt, soll alles eingerichtet werden, wie Sie es verlangen und es die Würde des Meisterwercks erheischt.«604

»Daß Sie in der Maria sich den Melvil zugetheilt, macht mir für den fünften Akt dieses Stücks die schönste Hoffnung, und ich erkenne es zugleich für einen der wesentlichsten Dienste, die Sie meinem Stücke leisten konnten. Denn nur das Ansehen und die einfache Würde des Schauspielers, der den Melvil darstellt, kann die gewagte Beichtscene entschuldigen und das Anstößige entfernen.«605

Schiller empfiehlt Iffland, einige problematische Stellen zu streichen. Die Empfehlung zur Kürzung und Milderung der religiösen Szene zeigt, wie wichtig es für den Dramatiker war, das Stück zunächst überhaupt auf der Bühne aufgeführt zu wissen. Mit der sechsten Szene des fünften Akts meinte Schiller nicht die Abschiedsszene, sondern die siebte Szene, die wegen der religiösen Gestaltung in Weimar als problematisch betrachtet worden war. Es ist aber durch den Briefwechsel nicht prüfbar, wie die Bühnenbearbeitung Ifflands auf Schillers Ratschläge einging, da sich Iffland in seinem Antwortbrief über das

603 Schillers Brief an Iffland am 22. Juni 1800, NA 30, S. 163f. 604 Ifflands Brief an Schiller am 8. Nov. 1800, NA 38/I, S. 367f. 605 Schillers Brief an Iffland am 19. Nov. 1800, NA 30, S. 210f.

210

Thema nicht klar ausdrückt. Dafür weist die Bühnenfassung h3 darauf hin, wie das Theatermanuskript mindestens vor der Bearbeitung aussah.

Erstdruck Theatermanuskript h3

MARIA. MARIA. Gott würdigt mich, durch diesen Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod / die frühe schwere unverdienten Tod / die frühe schwere Blutschuld abzubüßen. Blutschuld abzubüßen.

MELVIL MELVIL (macht den Segen über sie) (macht den Segen über sie) So gehe hin, und sterbend büße sie! So gehe hin, und sterbend büße sie. Sink ein ergebnes Opfer am Altare, Du fehltest nur aus weiblichem Gebrechen. Blut kann versöhnen, was das Blut verbrach, Blut kann versöhnen, was das Blut verbrach, Du fehltest nur aus weiblichem Gebrechen, Dem selgen [sic!] Geiste folgen nicht die Dem sel'gen Geiste folgen nicht die Schwächen Schwächen Der Sterblichkeit in die Verklärung nach. Der Sterblichkeit in die Verklärung nach. Sinke als ein ergebnes Opfer am Altar! Ich aber künde dir, kraft der Gewalt, Gib hin dem Staube, was vergänglich war, Die mir verliehen ist, zu lösen und zu binden, Die ird'sche Schönheit und die ird'sche Erlassung an von allen deinen Sünden! Krone! Wie du geglaubet, so geschehe dir! Und als ein schöner Engel schwinge dich (Er reicht ihr die Hostie.) In seines Lichtes Freuden Zone, Nimm hin den Leib, er ist für dich geopfert! Wo keine Schuld mehr seyn wird und kein (Er ergreift den Kelch, der auf dem Tische Weinen, steht, konsekriert ihn mit stillem Gebet, dann Gereinigt in den Schoos des ewig Reinen606 reicht er ihr denselben. Sie zögert, ihn anzunehmen, und weist ihn mit der Hand zurück.) Nimm hin das Blut, es ist für dich vergossen! Nimm hin! Der Papst erzeigt dir diese Gunst! Im Tode noch sollst du das höchste Recht Der Könige, das priesterliche, üben! (Sie empfängt den Kelch.) Und wie du jetzt dich in dem ird'schen Leib Geheimnisvoll mit deinem Gott verbunden, So wirst du dort in seinem Freudenreich, Wo keine Schuld mehr sein wird, und kein Weinen, Ein schön verklärter Engel, dich Auf ewig mit dem Göttlichen vereinen. Vergleich der unterschiedlichen Version der V. 3736-3757

606 NA 9/I, S. 375.

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Zunächst ist der Status Melvils im 7. Auftritt des 5. Akts als Voraussetzung wichtig für den Erstdruck, der im April 1801 veröffentlicht wurde. Hier stellt sich Melvil so vor, dass er bereits extra für Maria zum Priester geweiht worden sei.607 In h3 hat er keine Priesterweihe vor der Beichte empfangen, entschloss sich aber dennoch, die Rolle des Priesters zu übernehmen, damit Maria die Beichte ablegen könne. 608 Darüber hinaus sind in h3 die beiden religiös-liturgischen Szenen enthalten. h3 und Erstdruck bieten bis V. 3736 den identischen Text und beginnen danach voneinander abzuweichen. Im Erstdruck wurden die Absolution und das Sakrament der Eucharistie im Dialog und in der Regieanweisung deutlich dargestellt. Melvil erteilt Maria die Absolution durch die Würden seines Amtes, über die er als Priester verfügt. Darüber hinaus zelebriert er die Eucharistie und reicht Maria Hostie und Kelch. Im h3 wurden im Vergleich zum Erstdruck viele Stellen gestrichen oder gekürzt, die Funktion der Beichtszene wurde geschwächt, aber die Kernidee der Szene wurde bewahrt. Es gibt zudem weder konkrete Worte noch körperliche Gesten, die die Absolution bezeichnen. Die Szene, in der Maria die Eucharistie und den Kelch erhält, findet in h3 nicht statt. Stattdessen wird im Rahmen der Beichte das Verlassen des Irdischen und Sinnlichen fokussiert. Was nicht verändert wird, ist, dass Melvil den Segen über Maria macht. Es wird Maria befohlen, ihre vergängliche Schönheit und königliche Macht als „ein ergebnes Opfer“ abzugeben.

3.2.2. Darstellung des Stücks und Wechsel der Weimarer und Berliner Hauptdarstellerinnen

1) Ausgewählte Informationen über die Aufführung

Etwa sechs Monate später nach der Sendung des Theatermanuskripts an Iffland

607 Vgl. V. 3645-3654. 608 Vgl. NA 9/I, S. 375, V. 3643-3672.

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wurde das Stück am 8. Januar 1801 am Königlichen Nationaltheater zu Berlin zum ersten Mal aufgeführt.609 Die Aufführung fand zu Ehren des Regisseurs Fleck statt, der nach langjährigen Krankheit selber die Rolle des Leicester gespielt hat. Die Bedeutung der Berliner Inszenierung liegt zunächst darin, dass sie die erste Inszenierung war, die nicht vom Weimarer Ensemble gespielt wurde. Das Stück wurde bis zum Todesjahr des Dramatikers 1805 vom Berliner Ensemble 26 Mal gespielt und bis 1814 insgesamt 52 Mal. 610 Die gesamte Anzahl der Aufführungen ist mehr als die derer in Weimar bis 1817 unter der Leitung von Goethe.611 Dazu gibt es doppelt so viele Theaterkritiken über die Berliner als über die Weimarer Inszenierung.612 Außerdem ist die Berliner Inszenierung insofern besonders, als es einen Austausch der Hauptdarstellerinnen zwischen Weimarer und Berliner Theater gab. Die prominente Schauspielerin vom Weimarer Hoftheater, Caroline Jagemann spielte zweimal bei der Inszenierung der Maria Stuart am Berliner Nationaltheater mit dem Berliner Ensemble. Sie hat einmal die Rolle der Elisabeth und ein anderes Mal die Rolle der Maria gespielt. Friederike Unzelmann, die leitende Schauspielerin in Berlin hat auch ihre Rolle der Maria im Weimarer Gastspiel gespielt. Es ist kein Gastspiel des gesamten Ensembles, sondern nur Wechsel der einzelnen Schauspielerinnen. Trotz der Begrenztheit ist das Gastspiel insofern wichtig, als es keinen Austausch des gesamten Theaterensembles zwischen beiden Theatern gab. Dazu hatte der Dramatiker Schiller selbst während seines Aufenthalts in Berlin auch nicht Ifflands Berliner Inszenierung schauen können, da es keine Aufführung der Maria Stuart

609 Vgl. NA 9/I, S. 338; Schiller hat am 23. Juni 1800 gut eine Woche nach der Weimarer Uraufführung eine Abschrift des Stücks nach Berlin geschickt. Vgl. NA 41/I, S. 136. 610 Die Berliner Klassik bietet einen Überblick über die Datierung der Aufführungen der „Maria Stuart“ zwischen 1801 und 1817. Es wurde bis zum Ende von Ifflands Amtszeit als Intendant 1814 52 Mal aufgeführt. Vgl. Berliner Theaterdatenbank; Quelle: http://berlinerklassik.bbaw. de/BK/theater/?selected=1 (Zugriff am 22. Mai 2017). 611 In Weimar wurde das Stück bis 1805 23 Mal gespielt und bis 1817 zum Ende von Goethes Amtszeit als Intendant 36 Mal gespielt. Vgl. NA 9/I, S. 337; Vgl. Burkhardt (Hg.): Repertoire des weimarischen Theaters, S. 140. 612 Schiller Nationalausgabe 9/1 bietet einen Überblick dafür. Vgl. NA 9/I, S. 319f.

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stattfand.613 Es ist das einzige Kriterium, das zeigt, wie die Darstellung der jeweiligen Schauspielerin am jeweils anderen Theaterhaus wahrgenommen und rezipiert wurde. Somit konnte Schiller zumindest die Darstellung der Maria durch Friederike Unzelmann als pars pro toto für die gesamte Berliner Inszenierung erleben.

2) Realisierung des Stücks auf der Bühne a. Tatsächliche Rollenbesetzung im Vergleich zum brieflichen Austausch

Die Rollen für die erste Berliner Aufführung wurden, wie schon erörtert, anders besetzt als der Dramatiker ursprünglich empfohlen hatte.614 Außer der Rolle von Melvil, die von Iffland gespielt wurde, wurden die Rollen nicht dem Wunsch Schillers entsprechend verteilt. Was von der Vorstellung des Dramatikers deutlich abweicht, ist die Rollenbesetzung der beiden Protagonistinnen. Die Vorstellung des Dramatikers, für die Rollen beider Protagonistinnen junge Frauen zu bestimmen, wurde nicht auf der Berliner Bühne verwirklicht. Das Alter von beiden Schauspielerinnen war sehr weit entfernt von dem, was Schiller intendiert hatte. Unzelmann übernahm die Rolle der Maria. Die Rolle der Elisabeth hat Marianne Böheim gespielt, was auch nicht mit Ifflands Vorschlag an Schiller übereinstimmt.

613 Vgl. Michael Bienert: Schiller in Berlin oder Das rege Leben einer großen Stadt, Marbachermagazin 106, Marbach 2004, S. 42-45; Schiller besucht Berlin vom 1. Bis 17. Mai 1804 anlässlich der Einladung Ifflands. Während dieser Zeit gab es die Aufführung der Stücke, Die Räuber am 3. Mai, die Braut von Messina am 4. Mai, die Jungfrau von Orleans am 6. und 12. Mai, und Wallensteins Tod am 14. Mai. Schiller hat davon die Braut von Messina, die Jungfrau von Orleans mit Henriette Meyer in der Titelrolle und Wallensteins Tod mit Iffland in der Titelrolle gesehen. 614 Die gesamte Rollenbesetzung für die jeweilige Aufführung in Berlin kann nicht geprüft werden, da nur wenige Theaterzettel vorhanden sind. Der früheste Theaterzettel, der noch erhalten ist, bezieht sich auf die Aufführung am 13. September 1803. Die erhaltenen Theaterzettel, die von der Datenbank der Berliner Klassik gesammelt wurden, sind von den Aufführungen vom 13. Sept. u. 20. Okt. 1803, 18. Jan. u. 15. März 1804, und 8. Okt. 1806. 1804 wurde die Rolle der Elisabeth nicht von Böheim, sondern von Schick übernommen. Vgl. [Theaterzettel:] http://berlinerklassik.bbaw.de/BK/Theaterscans (Zugriff am 22. Mai 2017).

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Rolle Schillers Ifflands Reaktion616 Realisierung auf der Vorschläge615 Bühne Elisabeth Friederike Johanna Henriette Roine Marianne Böheim Unzelmann Meyer (1772-1849) (1757-1824), Alter: 44 (1760-1815) Maria Louise Sophie F. Unzelmann F. Unzelmann, Fleck (1777-1846), Alter: 41 Alter: 24 „Maria ist etwa 25 Jahre alt“ Leicester Keine Anmerkung Keine Anmerkung Johann Friedrich Ferdinand Fleck (1757- 1801), Alter: 44

Burleigh August Wilhelm „Ich kann nicht Burleigh Johann Ludwig Berger Iffland (1759- sein.“ (1760-1832), Alter 41 1814), 42 Shrewsbury Evtl. Iffland „Schrewsbury wird Herr Stephan Siegmund Fleck sein“ Herdt (1752-1818), 49

Melvil „ich würde Sie „warscheinlich [sic!] ich, Iffland in der UA, selbst bitten, solche Melvill“ danach gewechselt. zu übernehmen,“ Mortimer „Mortimer braucht „In welchem Alter, soll Franz Mattausch nicht älter als 21 Mortimer sein? Ich denke (1767-1833) später Heinrich Eduard oder 22 Jahre zu ihn 22-24“618 Bethmann (1774-1857) sein.“617 Austausch zwischen Schiller u. Iffland und Realisierung auf der Bühne619

615 Schillers Brief an Iffland am 22. Juni 1800, NA 30, S. 164f. 616 Ifflands Brief an Schiller am 8. Nov. 1800, NA 38/I, S. 367f. 617 Schillers Brief an Iffland am 19. Nov. 1800, NA 30, S. 209ff. 618 Ifflands Brief an Schiller am 8. Nov. 1800, NA 38/I, Ebd., S. 368. 619 Die Tabelle zeigt nach dem Modell von Alfred Schnieden für das Stück Wilhelm Tell den Prozess der Entscheidung mit der Rollenbesetzung. Vgl. Alfred Schnieden: Die Bühnengerechten Einrichungen der Schillerschen Drama für das Königliche National- Theater zu Berlin, Berlin 1906; Was in dieser Tabelle neu ist, dass es auch die tatsächliche Rollenbesetzung unter dem Namen „Realisierung auf der Bühne“ hineingefügt wurde. Neben der Angabe des Namens wird das Alter der Schauspieler zum Zeitpunkt der Berliner Aufführung gezeigt.

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Sie war keine junge Schauspielerin, sondern älter als Unzelmann, womöglich wurde die Rolle der Elisabeth mit Marianne Böheim besetzt, um einen Ausgleich mit Unzelmann zu schaffen, die auch bereits 41 Jahre alt war. Die Rolle des Leicester wurde in der Uraufführung von Fleck gespielt. Iffland musste aber bereits nach der ersten Aufführung die Rolle von Leicester übernehmen, da Fleck krank geworden war, aber er spielte die Rolle auch nicht lange.620 Schon am 16. Jan. 1801 hat er statt Fleck seine Rolle gespielt und auch am 9. Juli 1802 die Rolle des Leicester übernommen. Danach hat Karl Wilhelm August Schwadke die Rolle des Leicester weiter gespielt.621 b. Szenische Darstellung und Wirkungsziel

Interessant ist, dass die Szene, in der Mortimer Maria gewalttätig ergreift, in Weimar wegen der hervorgerufenen Erregung im Publikum von einem Ehepaar gespielt wurde, während sie in Berlin anders besetzt wurde. Die Rolle von Maria wurde in Berlin von Unzelmann und die Rolle von Mortimer von Franz Mattausch gespielt, die kein Ehepaar waren. Trotzdem wurde in den Kritiken nichts über die Brisanz dieser Szene gesagt. Dies zeigt, dass die betreffende Szene auf das Berliner Publikum keinen provokativen Eindruck machte. Später wurde die Szene vom Ehepaar Bethmann gespielt, aber nicht aufgrund der Reaktion des Publikums, sondern da der Schauspieler Heinrich Eduard Bethmann (1774-1857), der nach Mattausch die Rolle Mortimers übernommen hatte, 1806 die Schauspielerin Unzelmann geheiratet hatte.622

620 Vgl. [Anonym:] »Am 27sten. Maria Stuart, von Schiller«, in: Brennus. Eine Zeitschrift für das nördliche Teutschland (November 1802), Bd. 2. S. 534-535, hier S. 534: Nach dem Theaterzettel 1803 hat er die Rolle des Graf Aubespine des französischen Gesandten gespielt. Vgl. [Theaterzettel:] http://berlinerklassik.bbaw.de/BK/Theaterscans. (Zugriff am 22. Mai, 2017) 621 Vgl. NA 9-I, S. 339f. 622 Friederieke Auguste Conradine Unzelmann (1760-1815) ließ sich 1803 von ihrem Mann scheiden und heiratete 1806 den Berliner Schauspieler Heinrich Eduard Bethmann (1774- 1857), der bei Maria Stuart die Rolle des Mortimers gespielt hat. Im Theaterzettel vom 15. März 1804 wird noch ihr Name für die Rolle der Maria Stuart als Unzelmann geschrieben. Der früheste vorhandene Theaterzettel mit dem Name Bethmann ist am 8. Oktober, 1806. Vgl. Berliner Klassik Datenbank: http://berlinerklassik.bbaw.de/BK/Theaterscans. (Zugriff am 22. Mai, 2017)

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Für die Gestaltung des fünften Akts wurden, wie überlieferte Theaterkritiken dokumentieren, die religiösen Szenen auf Empfehlung Schillers gegenüber Iffland gestrichen.623

»Man hat im fünften Akte, siebenten Auftritt, die Beichte und das Abendmahl gestrichen, die Absolution aber stehen gelassen; da glaubten nun einige Krittler, das wäre ungereimt. Allein sie haben unrecht; denn wer das Stück gelesen hat, der weiß es ja, daß Melvil ein Priester ist, und heimlich sieben Weihen empfangen hat. Warum soll denn auch alles gesagt werden, und dem Zuschauer nichts übrig bleiben zu denken? Hätte man doch auch das Wiederkauen der Blutschuld in diesem höchst rührenden, und zur Theilnahme auffordernden Moment weggestrichen! Denn der ganze Eindruck, welchen die Abschiedsscene auf ein fühlend [sic!] Herz machen muß, verwandelt sich beiden Worten: Ach! eine frühe Blutschuld ec. In Unwillen.«624

Das Theaterrezensionsorgan Eunomia berichtet, dass Beicht- und Abendmahlszene zum Teil gestrichen wurden. Nach dem Bericht wurden die Momente der Beichte Marias weggestrichen, aber Maria hat doch ihre frühere Sünde bekennt. Die Stelle, die hier kritisiert wird, ist die Szene, in der Maria nach dem Bekenntnis ihrer zwei Sünden eine noch ihre frühere Tat, den Mord an ihrem Gatten, bekennt (vgl. V. 3693-3700). Der Autor der Theaterkritik erwähnt, dass das Mitleid, das in der Szene des sechsten Auftritts des fünften Akts hervorgerufen wird, in der nächsten Szene verhindert wird. Die Funktion der Beichtszene, die die Erregung des Mitleids reduziert, wurde als minder wirksam betrachtet.625 Die Reaktion auf die Beichtszene in der Berliner Aufführung zeigt allerdings, dass der Text, entgegen der Intention des Dramatikers, anders rezipiert wurde. In einigen Theaterkritiken über die Berliner Aufführung ist zu

623 Schiller empfahl Iffland aufgrund der negativen Reaktionen, die Abendmahlszene einzustreichen: „Sollte man auf dem Berliner Theater nicht so weit gehen dürfen, als ich in der sechsten[siebten] Scene des fünften Akts gegangen bin, und hier in Weimar gehen durfte, so ist mit einigen Strichen geholfen, die ich Ihnen ganz überlasse.“, aus dem Schillers Brief an Iffland am 22. Juni 1800, NA 30, S. 163. 624 Vgl. [Anonym:] »Maria Stuart«, in: Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts, 1(Oktober 1801), 2. Bd.: „Julius bis December“, S. 370-373, hier S. 372. 625 „Minder wirksam ist sie im 5. Akt. Die Beichtscene retardirt, obschon sie über Mariens Schuld ein helles Licht verbreitet.“ Vgl. L.: »Marie Stuart. Trauerspiel in fünf Akten von Schiller«, in: Kronos. Ein Archiv der Zeit 1 (Jan. – April 1801), S. 70-73, hier S. 72.

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finden, dass Mitleid und Rührung statt des Erhabenen als Wirkungsziel des Tragischen im Stück vorgestellt und erwartet werden. Das bezieht sich besonders auf die Abschiedsszene im fünften Akt.

»Ihr Unglück soll uns rühren. […] Warum schwächt der Dichter diesen Eindruck durch die eingemischte nicht zur Handlung gehörige Erzählung älterer Thatsachen, wie die Ermordung ihres Gemahls, welche Marie sich hatte zu Schulden kommen lassen, und stellt dadurch ihren Charakter in ein so abscheuliches Licht?«626

Der Rezensent behauptet, dass die Beichtsszene die über Marias Unglück schon erwirkte Rührung im Zuschauer schwäche. Er hat keine Idee davon, dass die Beichte Maria von ihrer bisherigen Haltung der Sinnlichkeit befreien kann. Im Oktober 1801 wurde in der gleichen Zeitschrift auf die gleiche Stelle wieder hingewiesen.

3) Gastspiel und Unterschied der Schauspielkunst zwischen Weimar und Berlin

Schauspielerin des Gastspiels Datum Gespielte Rolle Caroline Jagemann in Berlin 23. u. 24. Okt. 1801 Elisabeth 05. Sept. 1805 Maria Friederike Unzelmann in Weimar 21. Sept. 1801 Maria

C. Jagemann und F. Unzelmann im Gastspiel in Weimar und in Berlin

Das Gastspiel der beiden prominenten Schauspielerinnen ist von Relevanz, denn es zeigt zunächst, wie die Berliner Darstellungsweise von der Seite des Dramatikers in Weimar wahrgenommen wurde, und umgekehrt wie die Weimarer Darstellungsweise, die stark von Schiller geprägt ist, aus der Sicht des Berliner Theaters betrachtet wurde. Weder Schiller noch Iffland konnten sich die Inszenierung des jeweils anderen anschauen.627 Das heißt, das Gastspiel von

626 Vgl. [Anonym:] »Maria Stuart, von Schiller«, in: Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts, 1(April 1801), 1. Bd.: „Januar bis Junius“, S. 349-353, hier S. 351f. 627 Während des Aufenthalts Schiller 1804 gab es keine Aufführung der Maria Stuart. Das Stück wurde am 20. April 1804 in Berlin aufgeführt und Schiller kam in Berlin erst am 26. April

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Unzelmann in Weimar und von Jagemann in Berlin war sowohl für den Dramatiker als auch für Iffland eine Gelegenheit, mit der anderen Inszenierung intensiver in Kenntnis zu geraten. Das Gastspiel bietet darüber hinaus auch die Möglichkeit, die grundlegenden Differenzen in der Inszenierung zwischen dem Berliner Theater und Weimarer Hoftheater herauszuarbeiten.

a. Gastspiel Jagemanns in Berlin 1801 in der Rolle der Elisabeth

Caroline Jagemann spielte als wohl prominenteste Schauspielerin am Weimarer Hoftheater bei allen Schiller-Inszenierungen seiner späteren Dramen die Titelrolle bzw. eine wichtige Rolle.628 In der Berliner Aufführung der Maria Stuart spielte sie zwischen 1800 und 1828 mehrmals mit.629 Das Gastspiel in Berlin wurde aus einem privaten Grund verursacht. Sie hatte eine Beziehung mit Carl August (1757-1828) – und diese wurde im Sommer 1801 kurz unterbrochen. Sie verließ am 12. August 1801 Weimar und fuhr nach Berlin.630 Dort wurde sie von Iffland gastfreundlich empfangen und mit der Unterstützung ihres früheren Schauspiellehrers Ifflands konnte sie als Gast am Königlichen Nationaltheater in Berlin mitspielen.631 Vom 21. August bis 25. Oktober 1801 trat sie in Berlin insgesamt 19 Mal, in 7 Opern und 4 Schauspielen, auf.

1804 und blieb bis Mitte Mai. Vgl. Berliner Klassik Datenbank: http://berlinerklassik.bbaw.de/BK/Theaterscans (Zugriff am 22. Mai, 2017); Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 556-559: Iffland setzte kurzfristig für Schiller, der Berlin besucht hat, Schiller-Stücke auf den Spielplan um. Am 4. Mai 1804 sah Schiller die Braut von Messina, am 6. die Jungfrau von Orleans und am 14. Wallensteins Tod. 628 Thekla bei der Piccolomini, Elisabeth und später Maria Stuart bei Maria Stuart, Johann bei der Jungfrau von Orleans, Beatrice bei der Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder, Bertha von Bruneck bei Wilhelm Tell. 629 Vgl. Emde: Caroline Jagemann, Bd 1, S. 456. Am Anfang hatte sie die Rolle der Elisabeth übernommen, bis Frau Vohs nach Stuttgart gewechselt hat. Vgl. NA 9/I, S. 337. 630 Der Herzog erwähnte ihr wegen des Abschieds von ihr nicht mehr am Weimarer Hoftheater mitzuspielen, aber Kirms, der für die Verwaltung des Hoftheaters verantwortlich war, gewährt ihr einen unbefristeten Urlaub und so dass sie einmal wieder nach Weimar zurückkommen könnte. Tatsächlich haben später Kirms und Iffland dafür gesorgt, dass sie wieder nach Weimar zurückkehrt und am Hoftheater mitspielen kann. Vgl. Emde, ebd., S. 250 u. S. 417. 631 Vgl. ebd, Bd. I, S. 193.

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»Den 23sten u. 24sten erschien sie [Unzelmann] als Marie Stuart und Dem. Jagemann als Königin Elisabeth. Der eigentlichen hiesigen Besitzerin dieser Rolle, Mad. Böheim gebührt unstreitig der Ruhm, in den Charakter der Elisabeth, wie ihn die Geschichte giebt, tief eingedrungen zu seyn, […] Äußerst gnügend [sic!] war der Kontrast zwischen ihr und der Unzelmannischer Marie. Dem J[agemann] dagegen vernichtete den Kontrast, indem sie für diese Rolle zu jung und hübsch war, und durch edele Majestät, selbst durch den gewähltesten ihr vorteilhaftesten Anzug, mit einem Worte, durch wahrhalten Reiz, -die Stellen, wo von Mariens Reizen im Vergleich gegen die ihrigen gesprochen wird, weniger wahr machte. Sonst war ihre Darstellung der Elisabeth allerdings durchdacht und voller Feinheiten.«632

Jagemann hat während ihrer Aufenthalt in Berlin die Rolle der Elisabeth bei der Vorstellung der Maria Stuart am 23. und 24. Oktober 1801 mit dem Berliner Ensemble gespielt. Die Schauspielerin Jagemann erschien dem Rezensenten für die Rolle der Königin Elisabeth „zu jung und hübsch“ – sie bilde dadurch keinen deutlichen Kontrast zu Maria. Diese Wahrnehmung kann aus der Tatsache nachvollzogen werden, dass Jagemann im Vergleich zu den Berliner Schauspielerinnen in der Wirklichkeit deutlich jünger war. Denn eine andere Beobachtung aus dem Weimarer Hoftheater bestätigt auch, dass sie für eine Königin eine jugendliche Figur besaß.633 Durch ihre äußerliche Gestalt habe sich also kein Kontrastbild zur sinnlichen Maria ergeben. In der Zeitschrift Eunomia wurde die Darstellung der beiden Darstellerinnen, Unzelmann und Jagemann, verglichen, aber es wurde nur die Gesamtdarstellung kommentiert.634 Weder die schauspielerische Leistung von Jagemann als Elisabeth noch von Unzelmann als Maria wurde hier positiv bewertet.

632 Sch.: »Berliner Theaternachrichten«, in: Zeitung für die elegante Welt, 137 (14. November 1801), Sp. 1105 (1106), hier Sp. 1105f. 633 Nach der Uraufführung in Weimar wurde über ihre Gestalt berichtet: „Viele glaubten in ihrer nur zu jugendlichen Figur ein etwas geschmeicheltes Portrait der Maiden Queen zu finden“ Vgl. [Anonym:] »Schillers Maria Stuart in Weimar«, in: Journal des Luxus und der Moden, Bd. 15, S. 359-362, hier S. 361. 634 „Demoiselle Jagemann spielte die Elisabeth […] zur allgemeinen Zufriedenheit. Sie berechtigt zu großen Erwartungen, wenn der in ihrem Geiste lebende Kunstsinn entscheidender auf ihre Declamation, Mienen, Gebehrden und Körperhaltung einfließen wird. Madame Unzelmann hat im ersten Auftritt des dritten Aufzuges weder durch ihre Declamation noch durch ihr Spiel befriedigt.“ Vgl. [Anonym]: »Maria Stuart.« in: Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts 1, Bd. 2 (Oktober 1801). S. 370-373, hier S. 371.

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b. Gastspiel Jagemanns in Berlin 1805 in der Rolle der Maria

Das Gastspiel von Caroline Jagemann in der Rolle von Maria fand am 5. Sept. 1805 in Berlin statt. Die Theaterkritik in der Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, die nach dem Tod Schillers veröffentlicht wurde, bietet einen vergleichenden Überblick auf das Schauspiel von Jagemann und Unzelmann in der Titelrolle an.

»Die Kunst wird nie eine Marie hervorbringen. Natur und Gefühl werden sie nur skizzieren; es wird eine gewisse Gemüthsverwandschaft, eine angeborene Annehmlichkeit der Anlagen, eine Seelensympathie erfordert, um sie zu geben, wie sie sich selbst gegeben hat. So habe ich mir immer am leichtesten, und ohne gegen andere verdiente Künstlerinnen ungerecht zu seyn, erklärt, wie Mad. Bethmann in dieser Rolle allein steht. Es ist in ihr das glückliche, seltene, natürliche Zusammentreffen aller Erfordernisse zur Maria, mehr als der Triumph der Kunst. Sie hat die Rolle von jeher mehr empfunden, mehr in sich gefunden, als hineingebracht; ungefähr wie Fleck seinen Wallenstein, wie Iffland seinen Lear, seinen Dominique usw.

Betrachtet man die Maria als eine Kunstrolle, so hat Demois. Jagemann das schwere Problem besser als irgend eine gelöset [sic!], und hätte in der That noch mehr Beifall verdient, als sie wirklich erhalten. Daß sie die Rolle unter Schillers Augen studirt [sic!] und gegeben hat, ist ihr einerseits vortheilshaft, andrerseits nachtheilig geworden. Sie spielt sie [Maria Stuart] in der Schnürbrust, nicht frei, nicht hingegeben genug. Sie, die oft das Abandon so schön kleiden würde, vergißt sich keinen Augenblick. Sie spricht schön und richtig, aber schulgerecht; handelt und zeichnet sich schön, aber kunstmäßig, und erscheint folglich in den meisten Situationen zu kalt, und in einigen, wo sie gelassen und ruhig seyn muß, so sehr zu ihrem Vortheil. Daher gelang ihr das Zuhören in der ersten Szene mit Mortimer, die Mitte der Szene mit der Königin, und der 5te Akt zu überaus wohl. Sie war im ganzen Stücke talentvolle Schauspielerin, aber nicht immer, fast nie, - Maria Stuart.«635

Die Theaterkritik stellt deutlich heraus, worauf das jeweilige Theater ihren Schwerpunkt gelegt hat, indem sie die beiden Schauspielerinnen in der gleichen Rolle bewertet. Der erste Absatz handelt von der Darstellung Unzelmanns, die nach ihrer Heirat den Namen ihres Mannes, Bethmann, angenommen hatte und der zweite Absatz vom Gastspiel von Jagemann in Berlin. Darüber hinaus wird

635 Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, 107tes Stück, Donnerstag den 5ten September 1805, S. 368, zitiert nach Vgl. Emde: Caroline Jagemann, Bd. 1, S. 367f.

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in der Rezension über den Unterschied der Schauspielweise zwischen Weimar und Berlin das Schauspiel Unzelmanns gemäß der künstlerischen Konzeption des Berliner Theaters ganz positiv dargestellt, indessen Jagemann eher kritisch bewertet wird. Im ersten Absatz wird Unzelmann wegen ihres natürlichen Schauspiels gelobt, dass sie „eine Kunstrolle“ als „talentvolle Schauspielerin“ geleistet habe. Im Gegensatz dazu wird im zweiten Absatz die künstliche Art und Weise der Darstellung Jagemanns bewertet, „einerseits vortheilshaft“ gemäß dem Weimarer Hoftheater, in dem sie „unter Schillers Augen“ die Rolle der Maria studiert hat, aber andererseits nachteilig nach den Gewohnheiten des Berliner Theaters. Der Unterschied in der Darstellungsweise an beiden Theatern wird durch die unterschiedliche Bewertung verdeutlicht. Unzelmanns Darstellung wird mit Worten wie „Natur“, „Gefühl“, und „angeborene Annehmlichkeit“ verknüpft, was mehr auf eine ‚naturalistische’ Konzeption des Schauspiels ausgerichtet ist. Im Vergleich dazu wurde Jagemanns Spiel mit den Worten wie „Kunstrolle“, „nicht frei“, „schön“, „kunstmäßig“ und „zu kalt“ beschrieben. Der Kontrast zwischen Natur und Kunst reflektiert jeweils die natürliche bzw. kunstgemäße Konzeption des Schauspiels der Berliner und Weimarer Dramaturgie. c. Gastspiel Unzelmanns in Weimar 1801 in der Rolle der Maria

Mit dem Gastspiel Unzelmanns am 21. Sept. 1801 war Schiller nicht zufrieden, obwohl er gegenüber Iffland seinen positiven Eindruck geäußert hatte.

»Ihrer Güte, mein theurer Freund, danke ich das große Vergnügen, das mir die Darstellung der Maria Stuart durch Mad. Unzelmann vorgestern verschafft hat. […] Die Darstellung war vortreflich [sic!], voll Charakter, Zartheit und Empfindung, in der sinnvollen feinen Deklamation erkannten wir den Meister von dem sie gelernt hat.«636

Seine positive Bemerkung über ihre Darstellung im Brief erhält gewiss einen

636 Schillers Brief an Iffland am 23. Sept. 1801, Vgl. NA 31, S. 60.

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Teil Wahrheit, aber sie kann auch bloß als eine höfliche und diplomatische Geste verstanden werden.637 Denn seinem vertrauten Freund Körner schrieb er an gleichem Tag:

»Die Unzelmann spielt diese Rolle [Maria Stuart] mit Zartheit und großem Verstand; Ihre Deklamation ist schön und sinnvoll, aber man möchte ihr noch etwas mehr Schwung und einen mehr tragischen Stil wünschen. Das Vorurteil des beliebten Natürlichen beherrscht sie noch zu sehr, ihr Vortrag nähert sich dem Conversationen, alles wurde mir [Schiller] zu w i r k l i c h [sic!] in ihrem Mund: das ist Ifflands Schule und es mag in Berlin allgemeiner Ton seyn.«638

Hier äußerte Schiller gegenüber seinem Freund, dass der Deklamationsstil von Unzelmann ihm nicht gefallen hat. Ein anderer Bericht bestätigt auch, dass er mit der Deklamation von Unzelmann nicht zufrieden war.

»Als Frau Bethmann die Maria Stuart in Weimar als Gast gab, wurde Schiller während der Vorstellung gefragt, wie sie ihm gefalle. „Ich höre meine Worte nicht“, gab er unwillig zur Antwort.«639

Die Unzufriedenheit Schillers mit der Darstellung Unzelmanns bezieht sich auf die Deklamation und Sprechweise im Dialog, die er als „zu wirklich“ beschreibt. Es bedeutet aber nicht, das Gastspiel der Unzelmann ihm überhaupt nicht gefallen hat. Im Gegenteil war er insgesamt davon beeindruckt.640 Dennoch es spiegelt sich hier noch einmal die grundliegende Differenz in der Darstellungsweise zwischen Weimarer Hoftheater und Berliner Nationaltheater wider, die jeweils nach der unterschiedlichen künstlerischen Konzeption von der Leitung ausgeprägt ist. Dass Unzelmann sich im Gegensatz zur weimarischen Deklamation in einer natürlichen Sprechweise dargestellt hat, bestätigt auch die Theaterkritik von Böttiger über ihr Gastspiel in Weimar.

637 Anmerkung zu Schillers Brief an Körner am 23. Sept. 1801, Vgl. NA 31, S. 321. 638 Schillers Brief an Körner am 23. Sept. 1801, NA 31, S. 58f. 639 NA 42, S. 331; Schillers Eindruck über das Gastspiel wurde von Unbekannten dem Goethes Hausmusiker Karl Eberwein berichtet. Vgl. ebd., S. 651. 640 Vgl. ebd., S. 321: Schiller schien sogar für kurze Zeit bereit, ihr Deklamationsstil für die eigene dramatische Praxis zu verwenden.

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»Es war nur eine Stimme darüber, daß bei der Ermannung zum Zorn in der Unterredung mit der Elisabeth und in den Abschiedsszenen im letzten Akt keine der gerechten Foderungen [sic!] an eine so verkündete Künstlerin unerfüllt blieb. Nur in den längern Tiraden schien ihr zuweilen die Luft auszugehn, sie bis zum letzten vollendenden Vers durchzuführen. Unsere Ohren sind unter der Leitung großer Meister im Ganzen an eine sehr gehaltene, richtig betonte und doch gefällig gerundete Declamation des Jambus gewöhnt.«641

Die Gesamtheit der Darstellungsweise von Unzelmann wurde zunächst positiv bewertet. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass die Zuschauer in Weimar an die Weimarer Darstellungsweise in Bezug auf die „gehaltene, richtig betonte“ Deklamation des Jambus gewöhnt seien. Wie Goethe über die Entwicklung des Weimarer Hoftheaters bewertet, war es ein wichtiger Punkt für die neue künstlerische Richtung, die rhythmische Deklamation auf die Bühne zu bringen.642 Dabei geht es nicht darum, ein natürliches Gespräch, sondern einen künstlerisch-künstlichen Dialog zu zeigen. d. Unterschied der Schauspielkunst zwischen Weimarer und Berliner Theater

Die Bewertung der wechselseitigen Gastspiele von Unzelmann und Jagemann zeigt, dass im Zentrum der Unterschied bei der Darstellung zwischen Weimar und Berlin steht. Es wurde insgesamt weniger darauf geachtet, ob die theatralische Darstellung die ursprüngliche Intention des Dramatikers realisierte. Die Kriterien für die Bewertung der Darstellung resultieren aus der unterschiedlichen Schauspielkonzeption des jeweiligen Theaters. Der

641 B..r [= Karl August Böttiger]: »Mad. Unzelmann auf dem Weimarischen Hof-Theater«, in: Journal des Luxus und der Moden, 16 (Oktober 1801). S. 565-570, hier S. 565. 642 Vgl. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 843. Es erscheint aber widersprüchlich, da Goethe im Gegensatz zu Schiller keinen negativen Eindruck von der Deklamation Unzelmanns geäußert hat. Vgl. ebd., S. 844: „ihre [Unzelmanns] klare Rezitation, ihre energische und doch gemäßigte Deklamation; kurz das Ganze was Natur an ihr und was sie für die Kunst getan, war dem Weimarischen Theater eine wünschenswerte Erscheinung“. Die unterschiedlichen Bewertungen zwischen Goethe und Schiller bestehen darin, dass jener beim Schauspiel mehr Wert auf die Persönlihckeit verleugnende Darstellungsweise gelegt hat, dagegen dieser besonders auf die jambische Deklamation bei der Konversation auf der Bühne.

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Darstellungsstil Ifflands in Berlin ist mit der „Natürlichkeit“ verbunden, während bei Schiller und Goethe in Weimar die „Künstlichkeit“ für wichtig gehalten wurde.643 Die unterschiedlichen Vorstellungen beider Theatermacher wurden in den Regieauffassungen sichtbar und deutlich. Für Iffland steht im Mittelpunkt, die Bedeutung des dramatischen Vorgangs in der inszenatorischen Umsetzung erkennbar zu machen. Für die Konversation zwischen den Figuren auf der Bühne hat er statt des gebundenen Stils eine natürliche Sprache deklamieren lassen.644 Im Hinblick auf die Darstellung des Erhabenen auf der Bühne hatten Schiller und Iffland unterschiedliche Meinungen. Für Iffland war es wichtig, dass die dramatische Konzeption durch die Gestalt auf der Bühne sichtbar wird. Beispielweise besetzte Iffland – in einer anderen Schiller-Inszenierung – Henriette Meyer für die Rolle der Johanna, da sie mit ihrer Gestalt das Heroische der Rollenfigur deutlich darstellt. 645 Darüber hinaus inszenierte er auch die Szene äußerlich mit großen Bühnenbild, so dass die Zuschauer bereits durch das Ansehen der Szene davon begeistert waren und auch ins Theater gekommen waren, um solche prachtvolle Szene anzuschauen.646 Dagegen war für Schiller nicht wichtig, ob ein Schauspieler äußerlich eine starke Gestalt besitzen muss. Er war der Meinung, dass die Figur nicht durch die körperliche Stärke durch übernatürliche Mittel im Kampf zum Erhabenen erhoben werde.647

3.2.3. Versuch einer Inszenierungsanalyse anhand der Kostümbilder

Die Kostümbilder spielen eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion der szenischen Darstellung. Die bildlichen Materialien geben besonders in diesem Kontext entscheidende Hinweise. In dieser Arbeit werden zwei Kostümbilder von Friederike Unzelmann in der Rolle von Maria betrachtet. Dabei steht im

643 Vgl. Košenia: »Iffland«, S. 179. 644 Vgl. Freydank: »Ifflands Berliner Schiller-Inszenierungen«, hier S. 24. 645 Ebd. 646 Ebd. 647 Ebd.

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Mittelpunkt, wie die innere Veränderung Marias im Kostümbild realisiert wurde und inwiefern das Kostümbild die jeweilige Inszenierung vergegenwärtigen kann. Aus diesem Grund wird das Kostümbild parallel mit dem betreffenden Dramentext verglichen.

1) Bedeutung der Kostümbilder für die Berliner Inszenierung

Die Kunstsammlung der Kostüme auf dem Königlichen National-Theater ist ein repräsentatives Element, das die bürgerliche Charakteristik des Berliner Klassizismus widerspiegelt. 648 Bereits vor 1800 gab es eine Kooperation zwischen der Berliner Kunstakademie und dem Leitungsteam des Berliner Theaters für die Zeichnung der Kostümbilder. Iffland hatte seinerseits keinen offiziellen Kontakt mit der Kunstakademie wie z. B. sein Vorgänger Johann Jakob Engel, aber er betraute verschiedene Künstler mit der Zeichnung der Szene und der Kostüme und ließ die Kostümbilder in einem festen Heft für das Publikum veröffentlichen. Die künstlerische Gabe der Theater-Schneider und die modernsten Techniken der Zeiten wurden somit für die Kostüme verwendet. 649 Viele Künstler wurden für die Realisierung des Kostümbilds eingesetzt, was zeigt, wie relevant das Kostüm für das Berliner Nationaltheater war. Um nur einige Namen zu nennen: Daniel Chodowiecki, Franz Catel,

648 Der Weimarer Klassizismus hat sich aus den theoretischen Werken und Stücken von repräsentativen Persönlichkeiten, wie Goethe und Schiller entwickelt und kann als eine Programmatik der Intellektuellen bezeichnet werden. Der Berliner Klassizismus entstand im Vergleich zum Weimarer Klassizismus aus dem bürgerlichen Pragmatismus, deren Kunstausübung und Theoriebildung mit den Arbeits- und Lebenszusammenhängen verbunden ist. Dies spiegelt sich im Arbeitsprozess des Kostümbilds gut wider, der vom Entwurf für das Kostüm über die Radierung bis hin zur Drucktechnik reicht. Zeichner, Stecher und Illuminatoren haben für das Kostümbild zusammengearbeitet. Es ist eine Komplexität der zeitgenössischen Technik und Stil der Modernität, da verschiedene Künstler und Techniker bei der Entstehung dieser Hefte beteiligt waren. Vgl. Clausdia Sedlarz: »Der Zusammenhang von redender und bildender Kunst. Die Kostüme auf dem Königlichen National-Theater aus kunsthistorischer Sicht«, in: Klaus Gerlach (Hg.): Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland, Berlin 2009, S. 125-153, hier S. 125f. u. S. 144, später als „Sedlarz: »Kostüme auf dem Königlichen National-Theater«“ bezeichnet. 649 Denn Ifflands Theater hat sich als Institution flexibler an moderne Bedürfnisse angepasst, indem sie dem Künstler als Mitarbeiter für das Kostümbild aufgenommen haben, die nicht zum inneren Kreis der Kunstakademie gehören. Vgl. ebd., S. 153.

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Wilhelm und Moritz Henschel. Im 18. Jahrhundert wurde das Kostüm im Allgemeinen nicht im Rahmen der Inszenierung bestimmt, sondern individuell entschieden. Das heißt, das Kostüm oblag keiner fixierten und einheitlichen Konzeption des Regisseurs, sondern jeder Schauspieler hat sein eigenes Kostüm je nach seiner Rolle und seines Geschmacks ausgewählt.650 Insofern ist Ifflands Theater bemerkenswert, als er das Kostüm – im Gegensatz zur allgemeinen Praxis im 18. Jahrhundert – als Teil seiner Inszenierung betrachtete. Allein die Publikation der Kostümbilder zeigt, wie wichtig Iffland das Kostüm für seine Inszenierung hielt, was zu der Zeit eben nicht üblich war.651 Allerdings ist jedoch nicht klar, ob Iffland der erste Regisseur im deutschen Theater war, der das Kostüm innerhalb der Inszenierung bestimmte hat. Es ist zwar offensichtlich, dass er der Bedeutung des Kostüms im Vergleich zu anderen Theaterleitern mehr Gewicht zusprach und dessen Funktion auf seiner Bühne aktiv verwendete.652 In seiner Schrift Ueber das Kostüme erörtert er, welche Bedeutung das Kostüm für sein Theater innehatte.

»Das Kostume [sic!] ist ein Teil des Anstandes. Mehrentheils giebt der Stand es an und das Kostume fordert die besondere Haltung, welche seine Deutung oder die Zeit, wo es als geltend angenommen ward, bestimmt. […] alle diese Kostume fordern körperliche Haltung und eine Gewohnheit, in diesen Kleidern zu verkehren.

Es ist gewiß, daß diese Gewänder und Kleiderformen den, welcher die Gabe hat, sich leicht zu versetzen, selbst ansprechen und ihre Anweisung geben.

Für die Schauspieler von untergeordneten Talenten ist das Kleid oft ein Wegweiser, eine Barriere [für ihr Schauspiel], die sie in den Schranken hält, welche nicht überschritten werden kann, ohne der Wahrheit und dem gefälligen Ansehen zu nahe

650 Vgl. Gerlach: »Ifflands Kostümreform oder Die Überwindung des Natürlichen«, in: Ders. (Hg.): Berliner Theaterkostüm, S. 11-30, hier S. 11. 651 Vgl. ebd., S. 28: „Die über einen Zeitraum von zehn Jahren dem Publikum vorgelegten und auf den Berliner Theaterzetteln angepriesenen 175 handkolorierten Blättern dienten dem Zur- Schau-Stellen eines ästhetischen Programms und waren eine Werbung des Berliner Theaters, das auf diese Weise seine Führungsrolle unterstreichen wollte.“. 652 Sein Interesse für das Kostümbild ist bereits bei der Bearbeitung der Berliner Aufführung der Wallenstein-Trilogie zu finden. Im Brief am 17. November 1798 forderte Iffland von Schiller, ihm die Weimarer Kostümzeichnungen für die Wallenstein-Trilogie zu schicken. Vgl. NA 38, S. 7: Ifflands Brief an Schiller am 17. Nov. 1798.

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zu treten.«653

Iffland formuliert hier die allgemeine Funktion des Kostüms in Bezug auf dessen Einfluss auf den Menschen und setzte diese Bestimmung in seinem Theater direkt um. Das Kostüm drückt den passenden Anstand (also auch: die Standesgemäßheit!) der Person aus und fordert die Person dahingehend, sich körperlich angemessen zu verhalten und nach der bestimmten Gewohnheit zu handeln. Darüber hinaus wird diese Funktion des Kostüms im Schauspiel erweitert umgesetzt. Es hilft auch dabei, sich der Rolle und der Szene entsprechend zu verhalten. Die prominenten Schauspieler können sich dank des Kostüms leichter in ihre Figur hineinversetzen. Für die Schauspieler mit weniger Talent ist stattdessen das Kostüm ein Hilfsmittel, so dass sie sich im Rahmen ihrer Rolle benehmen können, ohne das Ansehen der Rolle zu schädigen. Das Kostüm repräsentiert die Identität und den Status der Person. Ein Schauspieler als lebendige, handelnde und sprechende Person drückt mit seinem Kostüm den Charakter und den inneren Zustand seiner Figur jenseits des reinen Schauspieles aus.

2) Das Kostümbild auf dem Königlichen National-Theater in Berlin

Das Kostümbild auf dem Königlichen National-Theater in Berlin ist eine Sammlung für die Kostümbilder der Dramen, die in Berlin aufgeführt wurden. Iffland ließ Künstler wie die Brüder Henschel die Darstellung auf der Bühne zeichnen lassen, die den sicheren Blick für schauspielerische Können besaßen.654 Darüber hinaus ließ er die Kostümbilder in einem festen Heft für das Publikum veröffentlichen, Abbildungen, die in einer Reihe von Heften zwischen 1802 und 1812 publiziert wurden. Es ist insgesamt 22 Hefte mit 175 Radierungen entstanden. Die Bedeutung dieser Ausgabe besteht aber vor allem darin, dass sie zeitgenössische Schauspiel- und Kostümkunst sowie das

653 Vgl. Iffland: »Ueber das Kostume«, in: Gerlach (Hg.): ebd., S. 9-10, hier S. 9f. 654 Vgl. Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne, S. 356.

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Repertoire des Berliner Theaters visuell darstellt.655 Die Hefte wurden nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten wie Dresden und Leipzig veröffentlicht. In der Zeitschrift Journal des Luxus und der Moden wurde berichtet, dass die Anzahl solcher Kostümsammlungen durch die Konkurrenz mit ähnlichen Ausgaben anderer Theater zunahm und die Kunst des Kostümbilds sich dadurch weiter entwickelte.656 Das Kostümbild kann als mehr als ein bloßes Abbild des Theaterkostüms betrachtet werden, denn es ist ein Kunstwerk, das aus der wechselseitigen Arbeit, aus einer Begegnung und Anregung zwischen Theater und der bildenden Kunst, entstand.657 Für die Zeichnung des Kostümbilds wurden die Schauspieler dem Künstler als Modell zur Verfügung gestellt und die Szene wurde während der Probenzeit gezeichnet. 658 Im Mittelpunkt stehen die Gewänder „als eigenständiger Invention und als Rollenattribut“,659 worauf die Aufmerksamkeit des Kostümbilds gelegt wird. Der Charakter einer Figur wird im Kostümbild nur durch die visuelle Darstellung ermöglicht. 660 Die Kleidung verstärkt die Identität der Person und zeigt auch deren Status an, indem die Figur mit dem Kostüm als lebendige, handelnde und sprechende Person veranschaulicht wird. Das Kostümbild konnte sogar teilweise als Portrait erscheinen, wo der Schauspieler eine für seine Figur charakterisierende Pose annahm. 661 Der Hintergrund bleibt leer mit weißer Farbe. 662 Im Ganzen werden nicht die Emotion der Figur, sondern die einzelnen Momente der Handlung akzentuiert.663

655 Vgl. Gerlach: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.): Berliner Theaterkostüm, S. 7; mehr Information über die Entstehungsgeschichte und den Bestandort der Kostümbilder auf dem Königlichen National-Theater in Berlin; Vgl. ders.: »Zur Entstehungsgeschichte und Überlieferung des Kostümwerks«, in: Ebd., S. 155-158. 656 [Anonym:] »Kostum auf dem königlichen Nationaltheater in Berlin. [Betr. das 3. Heft der "Kostüme auf dem Nationaltheater in Berlin"«, in: Journal des Luxus und der Moden, 18. 1803. S. 301-307, hier S. 308. 657 Vgl. Sedlarz: »Kostüme auf dem Königlichen National-Theater«, S.153. 658 Vgl. ebd., S. 139. 659 Vgl. ebd., S. 146. 660 Vgl. ebd., S. 126. 661 Vgl. ebd., S. 152. 662 Vgl. ebd., S. 142. 663 Die Mimik der dargestellten Person ist nicht ablesbar und der Blick der Figur richtet sich nicht auf die Mitte, sondern zeigt hinweg oder in die Richtung zur Seite.Vgl. ebd., S. 144 u.

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3) Szenische Darstellung der inneren Änderung von Maria im Kostümbild

Das 3. Heft der Reihe der „Kostüme auf dem Königlichen National-Theater in Berlin“ (1803) erhält insgesamt acht kolorierte Figurenzeichnungen. Von Maria Stuart werden vier Bilder dargestellt, die von Ulrich Ludwig Friedrich Wolf gezeichnet wurden.664 In dieser Arbeit werden zwei Bilder von Maria gezeigt. Das Kostümbild 1 zeigt Maria im ersten Auftritt des dritten Akts und das Kostümbild 2 zeigt Maria in ihrer letzten Szene des fünften Akts. Die beiden Bilder aus dem Heft vergegenwärtigen deutlich die innere Änderung von Maria. Sie bilden einen deutlichen Kontrast und visualisieren die ambivalenten Seiten der Maria, nämlich ihre Sinnlichkeit im ersten und dritten Akt und ihre Erscheinung als eine erhabene Figur im fünften Akt.

146. 664 In zwei Abbildungen tritt die Schauspielerin Friederike Unzelmann als Maria Stuart auf, in den anderen Figurenzeichnungen werden die Figur der Mortimer und Amias Paulet dargestellt. Der Schauspieler des Mortimers ist angeblich Herr Bethmann, der im Theaterzettel seit 1803 dessen Namen zu finden ist. Vgl. Journal des Luxus und der Moden, 18. 1803, S. 308-309.

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a. Die Darstellung der Maria im Berliner Kostümbild: 3. Akt

< Kostümbild 1> Unzelmann in der Rolle der Maria im 3. Akt der Maria Stuart665

665 Stiftung Stadtmuseum Berlin (Signatur: GDR 83/42,17).

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Das erste Bild zeigt die Szene im ersten Auftritt des dritten Aktes, in der Maria aus dem Kerker herauskommt und mit ihrer Amme einen Spaziergang im Garten des Schlosses macht. Marias Blick und ihre körperliche Haltung im Kostümbild Nr. 3. stellen die betreffende Szene realistisch dar.

»Maria tritt in schnellem Lauf hinter Bäumen hervor. Hanna Kennedy folgt langsam.

KENNEDY. Ihr eilet ja, als wenn Ihr Flügel hättet, So kann ich Euch nicht folgen, wartet doch!

MARIA. Laß mich der neuen Freiheit genießen, Laß mich ein Kind sein, sei es mit! Und auf dem grünen Teppich der Wiesen Prüfen den leichten, geflügelten Schritt. Bin ich dem finstern Gefängnis entstiegen, Hält sie mich nicht mehr, die traurige Gruft? Laß mich in vollen, in durstigen Zügen Trinken die freie, die himmlische Luft.

[…]

O Dank, Dank diesen freundlichen grünen Bäumen Die meines Kerkers Mauern mir verstecken! Ich will mich frei und glücklich träumen, Warum aus meinem süßen Wahn mich wecken? Umfängt mich nicht der weite Himmelsschoos? Die Blicke, frei und fessellos, Ergehen sich in ungemeßnen Räumen.«666

Die bewegte Haltung Marias zeigt, dass sie mit „geflügelten Schritt“ „in schnellen Lauf“ tritt. Die Arme sind weit offen und gestreckt, „als wenn Ihr Flügel hättet“. Sie bewegt sich, als ob sie „die freie, die himmlische Luft“ trinken wollte und zeigt gleichzeitig, dass sie sich nach Freiheit sehnt und von der Gefangenschaft aus hofft, dass „der weite Himmelsschoos“ sie umfängt für ihre Erlösung. Ihr Blick richtet sich „frei und fessellos“ an den Himmel.

666 V. 2073-2093.

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Die im Kontrast stehende Farbenkonstellation und die Form des Kostüms veranschaulichen Marias inneren und äußerlichen Zustand und ihre Charakteristik im ersten und dritten Akt. Maria ist vom Kopf bis zu Fuß in schwarze Farbe gekleidet. Die schwarze Farbe des Gewands und die Abwesenheit von Schmuck verweisen auf ihre Trauer und spiegeln ihren Status als Gefangene wider. Neben dem Ausdruck der Traurigkeit wird aber auch die Sinnlichkeit Marias durch das tiefe Dekolletee aus weißem Stoff mit goldenem Band auffällig gemacht. Im Gegensatz zur schwarzen Kleidung, die den ganzen Körper bedeckt, stellt der vordere Teil des Oberkörpers einen deutlichen Kontrast dar. Der vordere Teil des Oberkörpers an der Brust ist sehr offen, was erotische Konnotationen hat. Dies erinnert an die Szene des sechsten Auftritts des ersten Akts, in der Maria ein Papier aus ihrem Busen herausholt und es Mortimer reicht.667 Außerdem bilden ihre weißen Handschuhe einen Kontrast zum langen schwarzen Gewand. Der lange Rosenkranz hängt an der Hüfte frei herunter. b. Die Darstellung der Maria im Berliner Kostümbild: 5. Akt

Das Kostümbild Nr. 4. zeigt Maria im fünften Akt, in dem sie im königlichen Gewand auftritt. Marias Kostüm entspricht der Regieanweisung zu ihrem Kostüm im fünften Akt.

»Sie ist weiß und festlich gekleidet, am Hals trägt sie an einer Kette von kleinen Kugeln ein Agnus Dei, ein Rosenkranz hängt am Gürtel herab, sie hat ein Kruzifix in der Hand, und ein Diadem in den Haaren, ihr großer schwarzer Schleier ist zurückgeschlagen. […]«668

667 Regieanweisung nach V. 674. 668 Regieanweisung vor V. 3480.

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< Kostümbild 2> Unzelmann in der Rolle der Maria im 5. Akt der Maria Stuart669

669 Stiftung Stadtmuseum Berlin (Signatur: GDR 83/42,18).

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Das Kostümbild bildet einen deutlichen Kontrast zum ersten Bild und visualisiert die innere Veränderung Marias zur erhabenen Figur. Es werden anstatt der Sinnlichkeit die erhabene Würde und der Anstand einer Königin dargestellt. Die Farbe und Form des Kostüms bildet einen deutlichen Kontrast zum schwarzen Kostüm im vorderen Bild. Maria ist hier „weiß und festlich gekleidet“ und trägt viel Schmuck. Auf dem Kopf trägt sie ein „Diadem“, das auch mit Edelsteinen oder Perlen besetzt ist. Statt dem Schleier trägt sie ein weißes Gewand, die auf die Würde einer Königin verweist. Der obere Körperteil ist im Gegensatz zum ersten Kostüm, das tief ausgestellt war, bis zum Hals hochgeschlossen und mit vielfachen Schmuckketten bedeckt. Das Gewand bedeckt ihren ganzen Körper. Sie hat auf beiden Händen ein Kreuz und trägt ein Bild des Lamms Christi auf dem vorderen Teil des Körpers. Des Weiteren kann das Bild mit einer konkreten Szene aus dem neunten Auftritt des fünften Akts betrachtet werden.

»PAULET (zu Burleigh). Lasst es geschehn.

BURLEIGH. Es sei,

MARIA. Nun hab' ich nichts mehr Auf dieser Welt – (Sie nimmt das Kruzifix, und küsst es.) Mein Heiland! Mein Erlöser! Wie du am Kreuz die Arme ausgespannt, So breite sie jetzt aus, mich zu empfangen. (Sie wendet sich zu gehen, […]«670

Das Kostümbild stellt den letzten Moment Marias dar, nachdem sie den englischen Hofleuten das letzte Zeugnis abgelegt hat. Ihre gesamte Haltung stellt weder Furcht noch Angst, sondern ihre innere Entschlossenheit, Standhaftigkeit und Erhabenheit dar. Ihre Lippen sind geschlossen, wie es in damaligen

670 V. 3815-3818 u. folgende Regieanweisung.

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Kostümbildern üblich war.671 Der Blick der Maria richtet sich im ersten Bild in die freie Luft, während er hier auf das Kreuz fixiert ist, das sie mit der rechten Hand hält. Ihre Haltung ist regungslos und strahlt Ruhe und Konzentration auf das Himmlische (in Form des Kreuzes) aus. Mit dem Fokus auf das Kreuz zeigt sie, dass sie nicht mehr auf der irdischen Welt weilt. Die linke Hand hält das zweite Kreuz, von dessen Ende die Rosenkranzkette hängt. Maria steht im Bild nicht gerade zum Betrachter, was ihre gegenwärtige Bewegung gut darstellt. Sie macht tatsächlich einen Schritt vorwärts mit rechten Fuß. Darüber hinaus zeigt sie ihre Bereitschaft, den letzten Weg zum Himmlischen mit ganzem Herzen zu gehen, den sie als freien Willen gewählt hat. c. Resümee

Die beiden Kostümbilder der Unzelmann in der Rolle der Maria zeigen, wie die Figur der Maria in der Berliner Aufführung auf der Bühne dargestellt wurde. Es kann dadurch als bestätigt angesehen werden, dass das Figurenbild Mariens durch das Kostüm sowohl als sinnliche Figur im ersten und dritten Akt als auch als innerlich geläuterte, erhabene Figur (5. Akt) in der Wirklichkeit auf der Bühne veranschaulicht wurde. Die sichtbare Darstellung Marias entspricht auch den betreffenden Stellen des Dramas. Dies zeigt, dass die Berliner Inszenierung die theatralische Darstellung der Konzeption des Erhabenen durchaus erfüllt hat, obgleich es eine Dissonanz im brieflichen Austausch zwischen Schiller und Iffland gab, und die beiden Theater jeweils den Fokus auf die unterschiedliche Darstellungsweise gelegt haben.

671 Vgl. Sedlarz: »Kostüme auf dem Königlichen National-Theater«, S. 144.

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4. Rück- und Nachwirkung von der Inszenierung auf Dramentheorie und Drama

(1) Eine Vorrede mit dem Status einer theoretischen Schrift

Die 1803 veröffentlichte Abhandlung, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, kann als eine theoretische Schrift betrachtet werden, in der eine Rückwirkung vonseiten der Inszenierung auf die dramentheoretischen Überlegungen nachgewiesen werden können. Die Behauptung könnte zunächst aus den folgenden Gründen als eine übertriebene Behauptung betrachtet werden. Erstens, diese Schrift ist keine reine theoretische Schrift, sondern nur eine einleitende Schrift von Schillers achtem Dramenstück Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder (1803). 672 Zweitens, es sind bereits zahlreiche theoretische Schriften vorhanden, die sich mit dem Begriff des Erhabenen als Gegenstand der Forschung auseinandersetzen. Diese Tatsachen können jedoch neu interpretiert werden, wenn die oben genannten Gegenargumente spezifischer angeschaut werden. Es gibt nach der Rückkehr des Dramatikers in die dramatische und theatralische Laufbahn keine weitere theoretische Schrift, bei der es um die Tragödientheorie des Erhabenen geht – außer dieser Vorrede. Es sind insgesamt drei theoretische Schriften über das Erhabene vorhanden, aber sie sind zwischen 1793 und spätestens 1796 entstanden. 673 Zunächst sind die Aufsätze Vom Erhabenen (1793) und Fortgesetzte Entwicklung des Erhabenen (1793) jeweils 1793 im dritten und vierten Stück der Neuen Thalia herausgegeben. Der Aufsatz Ueber das Pathetische (1801) kann jedoch als der Wiederabdruck der 1793

672 Die Vorrede spielt mehr als eine Funktion der freundlichen Einführung über das Stück. Der Dramatiker hat absichtlich nach der UA am 2. April 1803 diesen Text in die Druckversion hinzugefügt. Das heißt, er macht hier seinem Publikum seine eigenen Ansichten von Kunst und Theater deutlich bekannt. Darüber hinaus versucht er, die geeignete Wirkung des Stücks in die geplante Richtung zu lenken und auf das dramentheoretische Konzept hinzuweisen. Vgl. Himmelseher: Weimarer Hoftheater, S. 54. 673 Vgl. Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«, S. 398: Schiller „übernimmt jedoch nur die letzten zwei Fünftel […] von Vom Erhabenen und fügte dieses mit [...] Fortgesetzte Entwicklung des Erhabenen“ in den Aufsatz Ueber das Pathetische.

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veröffentlichen Vom Erhabenen und Fortgesetzte Entwicklung des Erhabenen betrachtet werden, da sie jene zwei Aufsätze „so gut wie ohne weitere Redaktion“674 unter dem neuen Titel zusammengestellt hat. Der Aufsatz Ueber das Erhabene, der 1801 zum ersten Mal als erster Teil der Sammlung Kleine prosaische Schriften veröffentlicht wurde, wurde auch bereits zwischen 1794 und 1796 verfasst.675 Das heißt, alle Schriften sind in der theoretischen Zeit des Dramatikers entstanden, bevor er sich wieder am Theater beteiligte. Das heißt, die Vorrede der Druckfassung der Braut von Messina kann als eine nach etwa sieben bis neun Jahren entstandene theoretische Äußerung des Dramatikers über die Konzeption des Erhabenen betrachtet werden, da Schiller seine letzte theoretische Schrift ca. 1794-96 verfasst hatte. Darin liegt die Besonderheit der Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. Im weiteren Sinne erhält die Vorrede den Status einer theoretischen Schrift. Es werden hier die bisherigen dramentheoretischen Überlegungen des Dramatikers zusammengefasst, in deren Mitte die Konzeption des Erhabenen steht. Dabei bezieht der Dramatiker seine Tragödientheorie nicht nur auf rein theoretische Gedanken, sondern auch auf die praktische theatralische Darstellung, womit er durch die Erfahrung am Theater überzeugt wurde.

(2) Fortsetzung der Theorie des Erhabenen nach der praktischen Zeit am Theater

In der Vorrede von Die Braut von Messina handelt es sich nicht nur um die Wiederholung oder Repräsentation seiner Tragödientheorie. Schiller setzt seine theoretische Überlegung mit der Perspektive des Praktikers, auf dem Hintergrund der praktischen Zeit am Theater fort. Die Schrift beginnt in der Tat mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Aufführung eines Stücks.

»Ein poetisches Werk muß sich selbst rechtfertigen, und wo die Tat nicht spricht, da wird das Wort nicht viel helfen. Man könnte es also gar wohl dem Chor überlassen, sein eigener Sprecher zu sein, wenn er nur erst selbst auf die gehörige Art zur

674 Vgl. Zelle: »Vom Erhabenen / Über das Pathetische«, S. 398. 675 Vgl. Koopmann: »Kleinere Schriften«, S. 617.

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Darstellung gebracht wäre. Aber das tragische Dichterwerk wird erst durch die theatralische Vorstellung zu einem Ganzen: nur die Worte gibt der Dichter, Musik und Tanz müssen hinzu kommen, sie zu beleben.«676

Schiller akzentuiert hier die Bedeutung der theatralischen Umsetzung eines Dramas. Die Worte des Stücks würden erst dann wirken, wenn sie durch die Tat, Musik und Tanz auf der Bühne verkörpert werden. Die Aussage, dass die Aufführung das dramatische Werk zu seiner Vollkommenheit bringe, zeigt zunächst, wie stark ihm die Bedeutung des Theaters für seine dramentheoretischen und dramatischen Aufgaben durch die Zusammenarbeit mit dem Theater bekannt war. Der Fokus auf die theatralische Darstellung des Stücks zeigt, wie bereichernd die wechselseitige Wirkung zwischen Theorie, Drama und Inszenierung durch die Kooperation mit dem Theater entstanden ist. Die Teilnahme Schillers an den Inszenierungen am Weimarer Hoftheater hatte demgemäß eine positive Auswirkung auf seine weitere Arbeit mit den dramentheoretischen Überlegungen und dramatischen Werke. Die dramaturgische Arbeit an Goethes Egmont 1796 führte ihn dazu, wieder eigene Dramen zu verfassen.677 Je mehr Erfahrungen er mit dem Theater macht, desto angemessener schrieb er seine Dramen im Hinblick auf die Aufführung des Stücks hin.678 Schiller profitierte von den dramaturgischen und theatralischen Arbeiten am Weimarer Hoftheater, indem er sich für seine dramatische Beschäftigung inspirieren ließ. Wie er Körner schreibt, wurde seine dramatische Arbeit durch die Beschäftigung am Theater sehr erleichtert, indem seine Einbildungskraft angeregt wurde.679 In der Tat fing der Dramatiker damit an,

676 NA 10, S. 7. 677 Die Erkenntnis der Bedeutung des Theaters, die er von der Inszenierung der Wallensteins Trilogie gewonnen hat, veranlasste 1799 den Umzug nach Weimar, um sich näher zum Theater zu kommen. Dies eröffnete dem Dramatiker mehr die Bedeutung der Zusammenarbeit mit dem Theater für seine dichterische Arbeit zu erkennen. Vgl. Kapitel 1.1. 678 Vgl. Rudloff-Hille: Schiller auf dem deutschen Theater, S. 183. 679 Schillers Brief an Körner am 9. Aug. 1799, Vgl. NA 30, S. 80: „Weil ich mich für die nächsten 6 Jahre ganz ausschließend an das dramatische halten werde, so kann ich es nicht umgehen, den Winter in Weimar zuzubringen um die Anschauung des Theaters zu haben. Dadurch wird meine Arbeit um vieles erleichtert werden, und die Phantasie erhält eine zweckmäßige Anregung von aussen, [...]“.

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seine späteren Werke eines nach dem anderem zu verfassen. 680 Die Inszenierungen des Stücks haben direkt und indirekt auf die Dramentheorie und Drama nach- und rückgewirkt. Des Weiteren kann die Schrift Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie als eine Bestätigung mit seiner eigenen früheren Theorie der Tragödie betrachtet werden, da Schiller den Wirkungsmechanismus und den Zweck seiner Tragödien, die er in seinen früheren Schriften erklärt hat, wieder erläutert. Es wird hier die Konzeption des Erhabenen als die Kernidee für seine Theorie der Tragödie gestellt. 681 Nach dem Abschied von der Theoriephase sind die Wallenstein-Trilogie, Maria Stuart und die Jungfrau von Orleans entstanden. Nach seiner Beschäftigung im dramatischen und dramaturgischen bzw. theatralischen Bereich behielt Schiller seine früheren theoretischen Gedanken grundliegend bei und entwickelte sie weiter, indem er deutlicher auf die praktische Seite des Theaters achtgab.682 Die theoretische Konzeption in dieser Abhandlung kann als ein erneuerter Gedanken von Schiller bewertet werden.

(3) Das Pathetischerhabene, eine Konzeption für „die wahre Kunst“

Schiller charakterisiert die Kunst mit dem Begriff des Genusses und erklärt die Freiheit als den höchsten Genuss. Darüber hinaus unterscheidet er die wahre Kunst von der Kunst, die den Menschen nur in einen einmaligen Genuss hinführt.

»Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen,

680 Z. B. hat Schiller die Maria-Stoffe am 26. April 1799 direkt nach der UA der Wallensteins Tod (UA 20. April 1799) angefangen zu studieren. Vgl. NA 9/I, S. 209; Vgl. Kapitel 1. 1. Schiller hat in seiner Weimarer Zeit begonnen, sein Stück direkt eins nach anderem zu verfassen: Wallensteins Trilogie 1796-1799, Maria Stuart 1799-1800, die Jungfrau von Orleans 1800-1801, die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder, 1801-1803. Wilhelm Tell 1802-1804, und das unvollendete Stück Demetrius 1804-1805 Vgl. Peter Andre-Alt: Schiller, Bd. 2, S. 713ff; Vgl. Luserke-Jaqui: Schiller-Handbuch, S.113-242. 681 Vgl. Georg-Michael Schulz: »Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören (1803)«, in: Luserke-Jaqui (Hg.), ebd., S. 195-214, hier S. 204, später als »Schulz: Braut von Messina« bezeichnet. 682 In der Vorrede Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie akzentuiert Schiller die Relevanz der theatralischen Darstellung des Stücks. Der Sinn eines Theaterstücks werde erst durch die theatralische Vorstellung zu einem Ganzen. Vgl. NA 10, S. 7.

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es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen.«683

Schiller benennt hier den Begriff des Erhabenen nicht wörtlich, aber die Art und Weise, wie die wahre Kunst den Menschen zur wirklichen Freiheit führen soll, entspricht dem Wirkungsmechanismus des Pathetischerhabenen. Wie man durch ein künstliches Unglück einerseits das Pathetische erlebt, andererseits von seiner sinnlichen Natur unabhängigen vernünftigen Natur erkennt und dadurch die Kraft des Widerstands gegen das Unglück erlernen kann, lässt die wahre Kunst uns genauso frei, indem sie in uns die Kraft erweckt, mit der man sich von der sinnlichen Welt nicht überwältigen lässt. Darüber hinaus wird hier auf die Vorstellungen über das Pathetischerhabene als Inokulation des unvermeidlichen Schicksals ein besonderer Akzent gesetzt, wie in den früheren Schriften Schillers erläutert ist.684 Durch die wahre Kunst wird nicht nur die Kraft des Erhabenen erweckt, sondern man erlernt auch diese Fähigkeit, das Pathetischerhabene wahrzunehmen, damit er das wirkliche Unglück in einen objektiven Gegenstand verwandelt und ihn durch die Kraft der Idee beherrschen kann. Für die Wirkung des Pathetischerhabenen ist wichtig, dass der Zuschauer in eine Distanz zum Bühnengeschehnis gebracht werde, durch die die Gemütsfreiheit bewahrt oder erst hergestellt werden kann.685 Die Freiheit des Gemüts ist insofern relevant, als man nur im Zustand der vollkommenen Freiheit seine höchste Tätigkeit des Widerstands ausdrücken kann.686 Daraufhin ist es nicht der stoffliche Impuls, sondern die Form der tragischen Kunst, die es ermöglicht, die Gemütsfreiheit des Zuschauers zu bewahren.687 Der Chor ist ein konkretes Beispiel für eine

683 NA 10, S. 8f. 684 Vgl. Schulz: »Braut von Messina«, S. 204. 685 Vgl. NA 20, S. 169. 686 Vgl. NA 20, S. 153: “Nur im Zustand [der](seiner) vollkommenen Fre[i](y)heit, nur im Bewußtse[i](y)n seiner vernünftigen Natur äu(ss)[ß]ert das Gemüt[h] seine höchste T(h)ätigkeit, weil es da allein eine Kraft anwendet, die jedem Widerstand überlegen ist.” 687 Vgl. Dörr: Weimarer Klassik, S. 69.

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ästhetische Form, mit der man die Gemütsfreiheit bewahren kann. Der Chor führt als dramatisches Instrument ästhetischer Autonomie wirkungsästhetisch den Weg über das Pathetische zum Erhabenen,688 indem er dazu beiträgt, die Gemütsfreiheit des Zuschauers zu bewahren, die als Voraussetzung für die Konzeption des Erhabenen wirkt.

»So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung – aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edeln Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten, [...] Dadurch, daß der Chor die Teile aus einander hält, und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsre Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde. Auch die tragischen Personen selbst bedürfen dieses Anhalts, dieser Ruhe, um sich zu sammeln;«689

Der Chor übernimmt die Aufgabe, „die gegebene Wirklichkeit mit ästhetischen Mittel zu überhöhen“. 690 Auf der einen Seite erweitert der Chor das ganze Gemüt, indem die lyrische Sprache des Chors die ganze Sprache des Gedichts erhebt und dadurch die sinnliche Gewalt des Ausdrucks verstärkt.691 Auf der anderen Seite reinigt er die Affekte und bewahrt die Gemütsfreiheit, indem er die Illusion auf der Bühne bricht und dadurch dem Publikum zeigt, dass es sich bei der Bühnenwelt nicht um die wirkliche Welt handelt, sondern um eine poetische Welt. 692 Der Chor stellt sich auf der Bühne als distanziert räsonierender Betrachter dar und lenkt dadurch auch die Reaktion des Zuschauers.693 Der Zuschauer kann dadurch die Gemütsfreiheit behalten694 und mit distanzierten Blick das Bühnengeschehnis reflektieren.695

688 Vgl. Jeßing: »Braut von Messina«, S. 374. 689 Vgl. NA 10, S. 14. 690 Vgl. Alt: Schiller, Bd.2, S. 543 691 Vgl. ebd. 692 Vgl. Schulz: »Braut von Messina«, S. 203f. 693 Vgl. ebd., S. 205. 694 Vgl. NA 10, S. 14. 695 Vgl. Karl S. Gutheke: »Die Braut von Messina«, in: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 494-514, hier S. 500f.

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(4) Rückwirkung nach der Inszenierung auf das Drama der Maria Stuart

Die Veröffentlichung des Stückes der Maria Stuart geschah wie andere Stücke erst nach der Uraufführungen bzw. Erstaufführung in manchen Städten.696 Denn der Dramatiker konnte die Honorare für die unveröffentlichten Bühnenmanuskripte erhalten, solange das Stück nicht veröffentlicht wird. 697 Aus diesem Grund ließ Schiller zunächst das Stück aufführen und erst später, im April 1801, bei Cotta publizieren.698 Der Erstdruck des Stückes Maria Stuart erschien erst April 1801, zehn Monate nach der Uraufführung des Stückes. Aus diesem Grund gab es keine Änderung der Druckversion nach der Inszenierung des Stücks. Die Bearbeitung des Stücks geschah nur dann, wenn es wegen der Zensur oder, wenn die Primitivität der bühnentechnischen Mittel es unbedingt notwendig machte oder auf Personen und Ereignisse Rücksichten genommen werden mussten.699 Bei der Bearbeitung des Theatermanuskripts, worauf der Dramatiker selbst Iffland und die anderen Intendanten hinweist, wurde empfohlen, die Abendmahlszene zu streichen. 700 Nach der Publikation der ersten Auflage im April 1801 sind die 2. Auflage im Herbst 1801 und die 3. Auflage 1802 erschienen, ohne vom Dramatiker autorisiert zu werden.701 Das heißt, es gibt keine direkte Rückwirkung nach der Inszenierung auf das Drama, sondern das Theatermanuskript wurde für die jeweilige Inszenierung bearbeitet

696 Nach der Uraufführung in Weimar wurde das Stück in Berlin am 8. Januar 1801 (unter der Leitung Ifflands), in Schwerin am 1. Mai 1801, in Leipzig am 16. Juni 1801 (unter der Leitung von Opitz), in Breslau am 15. August 1801, in Hamburg am 16. Bzw. 17. Oktober 1801, in Magdeburg am 6. November 1801, in Köln am 5. Februar 1802, in Stuttgart am 25. März 1802, in Frankfurt a. M. am 18. April 1802, und in Mannheim 22. April 1804 aufgeführt. Vgl. NA 9/I, S. 341-350. 697 Vgl. ebd., S. 331. Der Dramatiker kontaktierte selbst die Intendanten vor Ort und sandte ihnen das Manuskript der Maria Stuart zu, oder wurde andersherum vom Intendanten um die Sendung des Manuskripts zur Inszenierung des Stücks gebeten. 698 In Leipzig hat die Aufführung am 16. Juni 1801 nach der Publikation stattgefunden, aber das Theatermanuskript (h2) wurde bereits nach Leipzig an Christian Wilhelm Opitz am 30. Juni 1800 übersandt. Für die Inszenierung in Hamburg wurde das Theatermanuskript am 28. Juni 1801 nach der Veröffentlichung nach Hamburg an Jakob Herzfeld übersandt, da es damals schwierig war, die Druckausgabe über die Länder zu erhalten. Vgl. ebd., S. 341-344. 699 Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne, S. 183. 700 Vgl. NA 9/I, S. 338. 701 Vgl. NA 9/I, S. 195.

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und entstand nach einer Reihe von Inszenierungen in verschiedenen Städten als Druckfassung, in der Form, die der Dramatiker, ohne auf die Zensur achten zu müssen, autorisieren konnte.

5. Auf der Bühne der Gegenwart: ausgewählte Aspekte der 16. Internationalen Schillertage Nationaltheater Mannheim

Die Inszenierung der Maria Stuart unter der Leitung von Michael Thalheimer (EA: 12. März 2011, Schauspiel Frankfurt) wurde am 4. Juni 2011 im Schauspielhaus Nationaltheater Mannheim im Rahmen der 16. Internationalen Schillertage aufgeführt und vom Verfasser dieser Studie selbst angeschaut. Der Zweck dieser Analyse liegt darin, einen Blick darauf zu werfen, wie die dramentheoretischen Überlegungen, dramatische und theatralische Intention des Dramatikers in eine heutige Sicht von Stoff und Drama möglicherweise eingegangen sind. Zur Methode der Analyse wird die Inszenierung sowohl als Gegenstand der Aufführungsanalyse als auch der Inszenierungsanalyse untersucht. Einerseits kann die Methode der Aufführungsanalyse nach Erika Fischer-Lichte verwendet werden, da der Analytiker gegenwärtig die Aufführung vor Ort angeschaut hat. Andererseits kann auch die Inszenierungsanalyse nach dem Aspekt von Balme gebraucht werden, die verschiedene Aufführungen im Rahmen des „deutschen Repertoiresystems“ als eine Inszenierung betrachtet. Daraufhin können bei der Analyse sowohl die Filmaufzeichnung als auch die Theaterkritik erweitert untersucht werden. Als Richtlinie für die Inszenierungsanalyse wurde auf das Schaubild von Tadeusz Kowzans und der Fragenkatalog nach Patrice Pavis hingewiesen.702 Die beiden Modelle zeigen konkrete Kriterien, worauf bei der

702 Vgl. Das Schaubild von Kowzans stellt konzeptualisiert die erprobte Theatersemiotik dar, die alles Wahrnehmbare in theatralischen Zeichenebenen umorganisiert und hermeneutisch zu deuten strebt. Es ist ein integratives Modell, das sich der Stärken semiotisch-strukturaler Analyse bedient. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft: Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs, Tübingen 2009, S. 85; Patrice Pavis sollte auch bei Aufführungs- und Inszenierungsanalysen konsultiert werden. Sein Fragenkatalog befasst sich nicht nur mit der

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Aufführungs- und Inszenierungsanalyse geachtet werden kann.

(1) Allgemeine Information über die Aufführung und die Internationale Schillertage

Maria Stuart wurde von Michael Thalheimer im Rahmen der Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen inszeniert und vom Schauspiel Frankfurt am Main am 12. März 2011 am dortigen Theater als Repertoire-Stück der Spielzeit 2010/11 zum ersten Mal aufgeführt. Diese Inszenierung wurde dann als Gastspiel zu den 16. Internationalen Schillertagen eingeladen und das Schauspiel Frankfurt führte es im Rahmen des Programms am 4. Juni 2011 am Nationaltheater Mannheim 2. bis 10. Juni 2011 auf. Die Internationalen Schillertage Mannheim sind das einzige Theaterfestival in der deutschen Theaterlandschaft, das sich dem dramatischen Werk Schillers und den vielfältigen Formen seiner Bearbeitungen und Rezeptionen widmet. 703 Die Bedeutung des Spielorts des Mannheimer Nationaltheaters geht auf die Tatsache zurück, dass Schillers Debüt mit dem Stück Die Räuber 1782 in Mannheim uraufgeführt wurde. Aus diesem Grund veranstaltet die Stadt regelmäßig zu Ehren Schillers die internationalen Schillertage.704 Die Schillertage finden alle zwei Jahre unter unterschiedlichem Motto statt und bestehen aus den verschiedenen Veranstaltungen, wie z. B. die Gastspiele aus dem In- und Ausland, Stipendiaten-Programm, Publikation der Festivalzeitung, Radioforum usw. 705 Die Inszenierung des Schillers Geschichtsdrama Maria Stuart durch das Schauspiel Frankfurt entspricht besonders gut dem Motto jenes Jahres „Macht Geschichte!“.

theatersemiotische, sondern auch phänomenologische Kriterien. Vgl. Nils Lehnert: Oberfläche-Hallraum-Referenzhölle, S. 134f. 703 Vgl. Nationaltheater Mannheim Theaterbroschüre für die Schillertage 2011, S. 4. 704 Ebd., S. 5 705 Der Verfasser dieser Arbeit wurde als Stipendiat der Schillertage 2011 erwählt und hat sich an das gesamte Programm teilgenommen, indem man das Seminar von Theatertheoretiker, Hans-Thies Lehmann besucht, jeden Abend die Theateraufführung anschaut hat. Vgl. Hans- Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, 4. Auflage, Frankfurt am Main 2008.

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(2) Figurenkonstellation, Schwerpunkt der Inszenierung

Michael Thalheimer bzw. sein Dramaturgenteam reduzierten die Anzahl der Schillerschen Figuren stark, indem viele Nebenfiguren gestrichen wurden. Auf der Seite des schottischen Hofs steht Maria Stuart allein und die Figuren ihrer Diener sind alle gestrichen. Das heißt, eine wichtige Nebenfigur wie z. B die Amme Hanna Kennedy, die ihr von Beginn des Stücks bis zur Hinrichtung beisteht, tritt nicht auf, und die Figur des Melvil, der im fünften Akt die Rolle des Priesters spielt, ist ebenfalls gestrichen. Aus diesem Grund wurden die Szenen, in denen Maria mit ihrer Amme erscheint und die ersten bis fünften Szene des fünften Akts entweder gestrichen, oder Maria erschien allein.706 Im Gegensatz dazu sind die wichtigen Hofleute auf der Seite des englischen Hofs beibehalten worden: Robert Dudley (Leicester), Georg Talbot (Shrewsbury), Wilhelm Cecil (Burleigh), Wilhelm Davison (Staatssekretär), Amias Paulet (Hüter) und Mortimer. Die Figurenkonstellation dieser Inszenierung weist bereits darauf hin, dass der Schwerpunkt der Inszenierung auf die Figur der Elisabeth gelegt wurde.

(3) Darstellung der beiden Figuren der Königinnen: Kostüme, Kosmetik, Bewegung

An dieser Inszenierung ist auffällig, dass Elisabeth und Maria sich stets in fast allen Szenen auf der Bühne aufhalten. Sie bleiben stumm beiseite auch in der Szene stehen, in der sie nach dem dramatischen Text keinen Auftritt haben. Bereits am Anfang des Stücks steht Elisabeth wortlos auf der anderen Seite der Bühne allein in einem winzigen Raum, durch eine Wand von dem Raum getrennt, in dem sich Maria mit Burleigh und Paulet unterhält. Jede Königin wird zur stummen Zeugin des Schicksals der Anderen und hört, was auf der anderen Seite

706 Vgl. Schauspiel Frankfurt: Theaterprogramm, Maria Stuart Friedrich Schiller, Regie: Michael Thalheimer, EA am 12. März 2011 im Schauspielhaus Frankfurt a. M., S. 1.

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der Wand geschieht. 707 Diese simultane Erscheinung der beiden Figuren ermöglicht, schon am Beginn des Stücks den Kontrast beider Figuren sichtbar zu machen. Maria wird weder als eine Figur der Sinnlichkeit noch als eine verführerische Weiblichkeit dargestellt. Das Kostüm Marias verändert sich nicht von Anfang bis zum Ende des Stücks. Sie trägt eine banale lange Suite von hellgrauer Farbe, die ihren Körper vollständig bedeckt. In der Figurencharakterisierung wird sie nirgends als sinnliches Wesen betrachtet. Im Verhältnis zu den höfischen Männern auf Seiten Elisabeths hat sie Abstand von ihnen und von ihrer Seite findet keine physische Annäherung statt. Die problematische Szene des sechsten Auftritts des dritten Akts, in der sie aus dem sexuellen Angriff durch Mortimer am höchsten als Sinnbild dargestellt werden sollte, veranschaulicht dies auch nicht. Mortimer greift sie am Hals und hebt sie auf seine Schulter und legt sie auf den Boden. Aber sie wird nicht von ihm ausgezogen, sondern es ist Mortimer, der in dieser Szene seinen Oberkörper entkleidet. Durch die körperliche Bewegung Mortimers gegenüber der am Boden liegenden Maria wird angedeutet, dass sie als Opfer von ihm vergewaltigt wird. Die Darstellung der beiden Figuren der Königinnen bildet einen großen Kontrast zu der Vorstellung der Figuren im Drama. Die Figur der Elisabeth hat in dieser Inszenierung viele Eigenschaften Marias übernommen. In den verschiedenen Theaterkritiken zu dieser Inszenierung wurde sie auch als Hauptprotagonistin anstelle von Maria betrachtet. Einerseits wirkt die Darstellung der Elisabeth als eine sinnliche Figur, da ihre Kleidung des oberen Körperteils tief ausgeschnitten ist. Sie trägt ein großförmiges gelbes Kostüm, dessen Teil von Hüften eine breite Form hat, wodurch ihre Gestalt grotesk wirkt. Dies stärkt auch das lange Gewand ihres Kostüms, das bis auf den Boden geht. Es wirkt verführerisch, da sie beim Gehen andere Figuren damit, wie der

707 Vgl. Esther Boldt: Art. »Die unabwendbare Fratze der Gewalt«, in: Nachtkritik, 12.03.2011; Quelle: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5385:ma ria-stuart-in-frankfurt-skelettiert-michael-thalheimer-schiller&catid=38:die-nachtkritik&Itemid =40. (Zugriff am 22. Mai 2017), später als „Boldt: »unabwendbare Fratze der Gewalt«“ bezeichnet.

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Schwanz einer Schlange ihr Opfer, umschlingt.708 Als weiteres Beispiel für die sinnliche Darstellung der Elisabeth ist zu nennen, dass sie, als sie im fünften Auftritt des zweiten Akts Mortimer um die Ermordung der Maria bittet, nahe an seinem Mund flüstert, sich mit dem ganzen Körper anlehnt und ihn mit ihrem Arm berührt. Beim Gespräch mit Leicester im neunten Auftritt des zweiten Akts wird eine erotische Szene dargestellt, in der ihr Körper von Leicester einseitig betastet wird. Andererseits erscheint die Figur der Elisabeth wie eine Puppe, die von ihren Hofleuten gesteuert wird. 709 Sie wirkt wie eine Witzfigur, 710 da ihr Gesicht sehr blass und ihr Mund rot geschminkt ist, mit langen karottenroten Strähnen und in einer starren, fahlgelben Robe. 711 Ihr Kleid hat eine lange Schleppe und einen großen Reifrock.712 Sie kann manchmal nicht recht stehen, sondern beugt sich wie eine leblose Puppe mit lang gestrecktem Arm zur Seite und bleibt stumm liegen. Ihr nach vorn geklappte Oberkörper und ihr markenerschütternder Schrei bezeichnen ihre Ohnmacht und den Verlust der Freiheit, die sie in der männlichen Machtwelt erleiden muss.713 Sie ist nicht unabhängig sowohl von der Gunst des Volkes als auch von ihren Hofleuten, die um sie herumstehen, aber am eigenen Profit orientiert sind.714

708 Als Beispiel dafür wird gezeigt, als sie ihren Sektretär Davison im elfen Auftritt des vierten Akts. 709 Vgl. Hans-Klaus Jungheinrich: Art. »Der Preis der Größe. Michael Thalheimers plunderfreier Zugriff auf Schillers „Maria Stuart“ in Frankfurt«, in: Frankfurter Rundschau, 14.03.2011: „ein Puppe, kurz vorm Zerbrechen“; Quelle: http://www.fr.de/kultur/theater/der-preis-der- groesse-a-936430 (Zugriff am 22. Mai 2017). 710 Vgl. Boldt: »unabwendbare Fratze der Gewalt«. 711 Vgl. Dieter Bartetzko: »Maria Stuart am Schauspiel Frankfurt. Mit „ich“ macht man keinen Staat«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.03.2011; Quelle: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleten/buehne-und-konzert/maria-stuart-am-schauspiel-frankfurt-mit-ich-macht-man-kein en-staat-1607087.html (Zugriff am 22. Mai 2017), später als „Bartetzko: »Maria Stuart Frankfurt«“ bezeichnet. 712 Vgl. Boldt, ebd.: „sie trägt ein hellgelbes Kleid mit langer Schleppe und einem Reifrock, der vielmehr als Abstandhalter dient und zur Stütze der regierungsmüden Hand“. 713 Vgl. ebd. 714 Vgl. ebd.

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(4) Realisierung der Beicht- und Abendmahlszene bis zur Begegnung mit Leicester

Die Beicht- und Abendmahlszene und die Begegnung mit Leicester sind im Stück zwei wichtige Momente, da Maria ihre inneren Wandel erlebt. In der Inszenierung von Michael Thalheimer werden die beiden Szenen einzigartig dargestellt. Die Szene wird zunächst trotz der Abwesenheit der Figur Melvils gespielt, indem Maria auch seine Redeanteile übernimmt. Maria steht auf der rechten und vorderen Seite der Bühne zwischen der großen Wand, die als Bühnenbild wirkt, und dem Bühnenrand, als ob sie sich in einem eng beschränkten Raum befände. Sie fängt an, selbst die Beichte einzuführen. Diese Szene wirkt grotesk wie ein Psycho-Monolog, da sie die beiden Stimmen der Figuren nacheinander ausspricht. Sie senkt ihren Kopf, wenn sie die Worte Melvils vorträgt. Ihre Stimme ist stark, dunkel und voller Affekte. Nachdem sie eine Frage des (hier) imaginären Beichtvaters stellt, beginnt sie sofort mit ihrer normalen Stimme auf die Frage zu antworten. Dabei erhebt sie ihren Kopf und schaut nach vorn. Dieses Doppelspiel von Melvil und Maria durch die Figur der Maria lässt Maria als Doppelcharakter mit psychischer Störung erscheinen. Hier geht es überhaupt nicht um die Darstellung des Erhabenen, sondern um eine psychische Spaltung einer Person. Anstatt des wechselseitigen Gesprächs mit Melvil lässt sie sich ihre Schuld bekennen. Nach der Beichtszene folgt auch die Abendmahlszene weder mit Eucharistie noch mit Kelch. Es wird nur aus dem Mund Marias ausgesprochen, dass Kommunion und Kelch Maria gereicht werden solle, ohne dass eine entsprechende körperliche Gestik gezeigt wird. Die Szene wird beendet, indem sie sagt, „Nun hab' ich nichts mehr / auf dieser Welt“ (V. 3815)“ Darüber hinaus öffnet Leicester den Raum, in dem Maria sich befindet, indem er die Wand von rechts nach links zieht. Leicester hält in der Mitte der Bühne an, mit gestreckten Armen in der Position, in der er die Wand gezogen hat. Er bewegt sich nicht und steht weiter in der Mitte, während Maria auch auf dem gleichen Punkt auf der rechten Seite der Bühne entfernt von Leicester spricht. Nach den Worten „Ihr verspracht / Mit Euren Arm, aus diesem Kerker

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mich / Zu führen, und Ihr leihet mir ihn jetzt!“ (V. 3819ff) nähert sich Maria Leicester und spricht ihre letzten Worte an ihn, indem sie sich an seinen Rücken anlehnt. Mit den Worten, „Lebt wohl, und wenn Ihr könnt, so lebt beglückt!“ (V. 3832) verlässt Maria ihren Geliebten und macht sich auf den Weg in den Hintergrund der Bühne. Das Schlusswort im Stück, „Lebt wohl! – Jetzt hab' ich nichts mehr auf der Erden!“ (V. 3838), das ihre innere Freiheit von irdischen Welt bezeichnet, wurde gestrichen. Sowohl ihr unverändertes Kostüm als auch die von ihr selbst dargestellte Beicht- und Abendmahlszene zeigen, dass es Thalheimer weder um Marias innere Änderung noch um Läuterung geht.

(5) Deklamation und Körperbewegung

Die Sprache der Schauspieler wird abweichend von alltägliche Rede deklamiert. Ein Satz bzw. ein Vers wird entweder Wort von Wort trennend gesprochen, oder der Schauspieler schreit affektiert in hohem Ton, statt zu sprechen. Dies unterscheidet die theatralische Darstellung von der Wirklichkeit, was auch im Zusammenhang mit dem Weimarer Darstellungsstil gesehen werden kann. Wie die Weimarer Inszenierung unter der Leitung von Schiller kunstmäßig gewirkt hat, indem die Schauspieler die lyrischen Verse der Schillers Dramen rhythmisch deklamiert haben, so ist auch die aktuelle Inszenierung durch jene Deklamation in anderem Sinne kunstmäßig dargestellt. Die mimischen und gestischen Zeichen der Figuren zeigen auch, dass das Bühnengeschehen in klarer Trennung von der Wirklichkeit steht. Ein gutes Beispiel dafür bietet die körperliche Haltung Mortimers. Bereits im ersten Akt beim ersten Auftritt spricht er in einzigartiger Weise, indem er wiederholt das Wort „Ich“ ausspricht. Dabei steht er nicht gerade, sondern beugt seinen Rücken und in einer krummen Haltung spricht er weiter. Dies veranschaulicht, dass er egozentrisch ist und daher seine Zuneigung an Maria auch egoistischen Zweck hat.

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(6) Resümee: Unerfüllte Darstellung des Pathetischerhabenen

Die Inszenierung der „Maria Stuart“ von Thalheimer stellt „die unabwendbare Fratze der Gewalt“715 dar. Die Bühnenwelt ist eine Welt, in der Misstrauen und Verrat herrschen. Alles dreht sich um die widerlichen Geschäfte der Macht und die folgenden Verheerungen.716 Es gibt keinen Helden in dieser Inszenierung, sondern nur leidende Menschen. Das Pathetische wird in gewissem Sinne in der grotesken Körperhaltung veranschaulicht. In diesem Sinne realisiert die Inszenierung zu einem gewissen Anteil Schillers Tragödientheorie des Pathetischerhabenen. Die Darstellung der leidenden Menschen ist vorhanden, aber es werden keine Möglichkeiten des absoluten freien Willens gezeigt bzw. kein Widerstand gegen das Leiden im schillerschen Sinnen wird sichtbar. Schillers Fokus auf die Figur der Maria wurde in dieser Inszenierung auf die Figur der Elisabeth verschoben. Das heißt, es ist Elisabeth, die an der fürchterlichen Welt leidet. Thalheimer lässt sie durch die expressive und verzerrte Körpersprache ihre tiefsten Gefühle und das Pathos ausdrücken.717 In der Konstellation von Zwangslagen und Gewaltakten verbiegt sich ihre Leib und scheint von innen auseinanderzubrechen. 718 Mortimer, der sich selbst zum Helden ernennt, erscheint auch nicht als Held. Seine körperliche Haltung, „mit gebeugten Knien und gekrümmtem Rücken“ 719 , und die Sprachbehandlung durch die Wiederholung des Worts „ich“ markieren seine dezidiert egozentrische Perspektive. Das gesamte Figurenbild Mortimers zeigt keinen Widerstand des Vernunftwesens gegen das sinnliche Leiden. Die szenische Darstellung der Beicht- und Abendmahlszene durch den Monolog der Figur der Maria zeigt weder Überlegenheit der Vernunft gegenüber dem Sinnlichen noch einen

715 Vgl. Boldt: »unabwendbare Fratze der Gewalt«. 716 Vgl. Bartetzko: »Maria Stuart Frankfurt«. 717 Vgl. Nora-Henriette Friedel: Art. »Puppen in der Spieluhr der Macht«, in: Festivalzeitung / Gedanken Freiheit, No 4, am 6. Juni 2011, S. 11; Vgl. Ulrich Weinzierl: Art. »Gewalt ist die einz'ge Sicherheit«, in: Die Welt, 14.03.2011; Quelle: https://www.welt.de/print/die_welt/kul tur/article12810012/Gewalt-ist-die-einz-ge-Sicherheit.html (Zugriff am 21. Mai 2017). 718 Vgl. Boldt, ebd. 719 Vgl. ebd.

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Übergang vom Sinnlichen zum Vernünftigen. Die Konzeption des Pathetischerhabenen, die insbesondere in der Wandlung der Maria sichtbar werden kann, wird nicht umgesetzt; die sichtbare Möglichkeit des freien Willens, der von jener Welt unabhängig durchgesetzt werden kann, wird nicht gezeigt. Es gibt nur Pathos durch die Darstellung des leidenden Menschen ohne das Erhabene.

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V. Fazit

1. Gesamtzusammenfassung der Analyseergebnisse

Spezifische Aspekte der Biographie Schillers bildeten den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Schiller beteiligte sich in seiner Weimarer Zeit vielfältig im literarischen und theaterpraktischen Bereich. Einerseits verfasste er seine Dramen mit Rücksicht auf seine Theorie. Andererseits nahm er sein Drama als ein Material für zukünftige Theateraufführungen wahr. Aus diesem Grund stehen Dramentheorie, Drama und Inszenierung bei Schiller in einem engen Zusammenhang. Der Hauptgegenstand dieser Studie war das Konzept des Erhabenen, welches von der Dramentheorie über das Drama bis in die Inszenierung eingegangen ist. Dabei wurde konkreter auf den Prozess der Umsetzung zwischen den drei Komponenten und ihre wechselseitige Beeinflussung eingegangen. Die Arbeit konnte dadurch das Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung in Schillers Konzeption des Erhabenen zeigen. Angesichts der Dramenpoetik von Gottsched, J. E. Schlegel und Lessing als drei Vorgängern Schillers wurde herausgearbeitet, wie Schillers Tragödientheorie des Erhabenen im dramenpoetologischen Kontext des 18. Jahrhunderts zu verstehen ist. Gottsched schafft zunächst den vorherigen barocken Stil und die unrealistischen Elemente im Theater ab. Stattdessen begründet er die auf Vernunft basierte Regelpoetik, indem er das aristotelische Nachahmungsprinzip der Wahrscheinlichkeit als die rationalistische Kausalität interpretiert. Darüber hinaus gibt er der Tragödie die Funktion, dem Zuschauer durch das Theater moralische Werte zu vermitteln. Dennoch sind trotz der aufklärerischen Orientierung seiner Dramenpoetik die Elemente der barocken Dramenpoetik noch zu finden, die aus dem Franzäsicher Klassizismusübernommen wurden. Die Inkonsistenz zweier unterschiedlicher Wirkungsimpulse der Dramenpoetik Gottscheds zeigt, dass sie sich im Übergang vom barocken Stil zur aufklärerischen Poetik befindet. Im Gegensatz zu

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Gottsched hebt Schlegel einerseits den Rang des Charakteristischen in der Dramenästhetik hervor und betont andererseits die Bedeutung nationaler Bedingtheiten literarischer Kultur. Wichtig ist bei Schlegel, dass die Kunst nicht unbedingt eine moralische Funktion hat. Er erkannte die Künstlichkeit bzw. Unähnlichkeit der Nachahmung an und sah in dieser die Ursache für das Vergnügen am Kunstwerk. 720 Bei Lessing wurden viele Elemente der Dramenpoetik Gottscheds vermieden bzw. als nebensächlich betrachtet. 721 Dazu gehören z. B. die Ständeklausel und Fallhöhe, die sich noch auf den Franzäsicher Klassizismusbezogen hatten. Der Schwerpunkt seiner Tragödientheorie, die Konzeption des bürgerlichen Trauerspiels, basiert stark auf der Identifikation zwischen der Bühnenfigur und dem Zuschauer. Seine Tragödie zielt darauf, beim Zuschauer den Affekt des Mitleids zu erregen.722 Schiller nimmt das Verhältnis zwischen Gegenstand und Betrachter aus Kants Interpretation des Erhabenen auf. Er setzt dies in der Konstellation zwischen dem Bühnengeschehnis und dem Zuschauer um. Darüber hinaus ergibt sich eine wesentliche Erneuerung in der Dramenpoetik Schillers. Der Fokus wurde dabei von der objektiven Darstellung des Heroisch-Erhabenen zur subjektiven Darstellung des Pathetisch-Erhabenen verlegt, das als zentraler Begriff seiner Tragödientheorie gilt. Schillers Dramatik befreit sich von der moralischen Pflicht seiner Vorgänger, indem er unter dem Einfluss von Sulzer das ästhetische Urteil vom moralischen abgrenzte. In diesem Sinne befindet sich Schillers Verständnis der Kunst zum einen im Kontrast zur Dramenpoetik Gottscheds, der die moralische Funktion der Kunst betonte. Zum anderen schließt er an Schlegel an, da er die dortige Vorstellung einer Autonomie der Kunst weiterentwickelte. 723 Schiller rückt diesen Aspekt noch mehr in den

720 Vgl. Kapitel II. 1. 2. 1. 721 Vgl. Kapitel II. 1. 2. 3. 722 Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 184. Dafür muss das Theater als Voraussetzung ein Illusionstheater sein, denn die Wirkung der Identifikation und des Mitleids kann gelingen, erst wenn der Zuschauer sich in die Lage der Bühnenfigur versetzen kann. 723 Schillers Dramenpoetik teilt gemeinsam mit der Regelpoetik Gottscheds die Elemente wie mittleren Charakter und die Fallhöhe. Der Unterschied liegt darin, dass der Zweck der Tragödie bei Gottsched außerhalb des Subjekts aus der moralischen Belehrung besteht, aber dagegen bei Schiller in Bezug auf das Erhabene auf die Möglichkeit des subjektiven Willens

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Mittelpunkt. In Bezug auf die Dramenpoetik liegt der Akzent bei Schlegel auf dem Charakter, der unabhängig von Moral, aus eigenem Willen und nach seinem individuellen Gesetz handelt. Schiller sieht wie Gottsched die Handlung als wichtigstes Element an, aber seine Betonung der „Möglichkeit des absoluten freien Willens“ 724 kann hinsichtlich des Charakters verstanden werden. Die Mitleidspoetik Lessings, die sich auf die Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur bezieht, steht im Zusammenhang mit Schillers Begriff des Erhabenen. Schiller stellt das menschliche Leiden als ein erster Schritt im Prozess des Pathetisch-Erhabenen dar. Bei Lessing sollte das Mitleid den Zuschauer zur Tugendhaftigkeit führen. Bei Schiller hingegen leidet der Zuschauer durch das Bühnengeschehen auch, aber durch die durch Distanz gesicherte Gemütsfreiheit bleibt man nicht abhängig davon, sondern erkennt das innere Vermögen des Geistes. Diese innere Kraft des Pathetisch-Erhabenen, mit der man von der Sinnlichkeit unabhängig frei handeln kann, kann man durch die Erfahrung der Tragödie erlernen. Schillers Drama Maria Stuart präsentiert die konkrete literarische Umsetzung des Erhabenen. Das vielseitige Menschenbild der Figur Marias zeigt einerseits, dass Schiller sich von der Darstellung des Übermenschlichen und einer darauf basierenden Bewunderungsästhetik Gottscheds distanziert, andererseits grenzt er sich durch die Präsentation Marias als würdiger Königin im letzten Akt auch von der Mitleidsästhetik Lessings ab. Dazu wird anhand der Figur Mortimers die Gefahr- und die Irritationsmöglichkeit der Bewunderungsästhetik kritisch dargestellt. Maria, die zunächst von Mortimer als der Gegenstand der Verehrung gelobt wird, wird später von ihm zum sinnlichen Gegenstand des Besitzes und des Vergnügens reduziert wahrgenommen. Innerhalb der Beichtszene beginnt die innere Veränderung Marias, und durch sie wird die potenzielle Kraft des Erhabenen aufgezeigt. Die offene Konstellation der Beichtszene auf der Bühne dient in theatralischer Hinsicht dazu, einerseits die Unschuld der Maria zu beweisen, andererseits den Prozess

liegt. 724 NA 20, S. 221: „die Möglickeit des absolut freyen Wollens“.

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der inneren Änderung zu veranschaulichen. In diesem Sinne geschieht in der Beichtszene ein Wandlungsprozess vom Sinnlichen zum Formhaften. Indem Maria durch die Beichte ihre früheren Taten zugibt, in denen sie sich von sinnlicher Kraft leiten ließ, gewinnt sie die Gemütsfreiheit und entscheidet sich trotz ihrer Unschuld aus freiem Willen den Tod zu erleiden. Dennoch wird die Konzeption des Erhabenen nicht exakt gemäß der Dramentheorie, wie Schiller sie in seinen theoretischen Schriften entwickelte, exemplifiziert. Vielmehr wird die Konzeption des Erhabenen an der Hauptprotagonistin Maria problematisiert, indem sie ihre Existenz als physisches Wesen trotz ihres Entschlusses, darauf zu verzichten bis zum letzten Auftritt vor ihrer Hinrichtung ausdrückt. Die Begegnungsszene Marias mit ihrem Geliebten Leicester zeigt, dass der Weg zum Erhabenen keine einmalige Erscheinung, sondern ein langer Werdegang ist. Maria bleibt trotz ihres Entschlusses, auf das Physische zu verzichten, bis zuletzt ein fühlender Mensch aus Körper und Geist, solange sie einen Körper besitzt. Schiller akzentuiert mehr die anthropologische Vorstellung des Menschen aus Körper und Vernunft als dass er eine reine „ethisch-religiöse“ Figur darstellt, indem Maria nach dem Entschluss zum Verzicht auf das Irdische wieder zum physischen Wesen zurückkehrt. Vielmehr wird neben der Möglichkeit des Verhaltens nach dem freien Willen die unvergängliche physische Seite des Menschen dargestellt. Eine historische Inszenierung einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich zu machen, ist immer problematisch. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung der Begriffe Inszenierung und Aufführung ein zentraler Punkt, da letzterer sich auf die einmalige Darstellung auf der Bühne bezieht, ersterer sich dagegen auf den gesamten Prozess der Herstellung des Theaterstücks als Kunstwerk fokussiert. Darüber hinaus eignet sich die Inszenierungsanalyse nach dem Modell von Balme zur Untersuchung einer historischen Inszenierung. Denn der Mangel an Dokumenten über die historische Inszenierung kann dadurch behoben werden. Hier werden die verschiedenen Aufführungen im Rahmen des Repertoires als eine unveränderte Inszenierung betrachtet. Alle theatralischen Merkmale in Bezug auf die Aufführung trotz ihres unterschiedlichen Ursprungs können auch als einheitliche Materialien aus einer

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Inszenierung anerkannt und zur Inszenierungsanalyse verwendet werden. Ein erster Schritt der Rekonstruktion der Inszenierung ist nach der Methodik von Alan Woods die Bedeutung des gesellschaftlichen Umfelds. Das Weimarer Hoftheater ist nicht nur ein Ort der Aufführung, sondern ein kulturpolitisches Zentrum, in dem Schiller mit Goethe das ästhetische Projekt des Weimarer Klassizismus umgesetzt hat. Dieser grundlegende Gedanke wurde auch in das theatralische Feld übernommen. Das Publikum wurde in diesem Sinne von Schiller als Zielgruppe seiner ästhetischen Erziehung verstanden und die theatralische Darstellungsweise wurde auch nach diesem ästhetischen Konzept konkretisiert, indem die Künstlichkeit als Natürlichkeit bevorzugt wurde. In der Weimarer Inszenierung wurde die Figur der Maria zum großen Teil nach der Vorstellung des Dramatikers verwirklicht, der ihre Sinnlichkeit für wichtig hielt. Die Rolle der Maria wurde der Schauspielerin Friederike Vohs angeboten, die eine „schlanke, üppige Gestalt“ 725 hatte. Für die Rolle der Elisabeth war zwar es auch wichtig, dass sie wie eine junge Frau aussieht, aber entscheidender war die geistige Kraft für den Charakter. 726 Die ersten Aufführungen hat die Erwartung des Dramatikers im Allgemeinen erfüllt. Dazu wurde in den Theaterkritiken ausgedrückt, dass Vohs das sinnliche Figurenbild Marias recht gut dargestellt habe. Darüber hinaus werden durch den Bericht und briefliche Theaterkritik bestätigt, dass die gezielten Affekte durch die Erscheinung Marias als erhabene Figur im letzten Akt gelungen waren. Die Szenen, die Schiller zum rein künstlerischen Zweck ins Stück hineingesetzt hatte, wurden aber unabhängig von der Intention des Dramatikers aus damaligen gesellschaftlichen Sitten bzw. Moralvorstellungen und politisch-religiösen Gründen abgelehnt: Mortimers Angriff auf Maria, Beicht- und Abendmahlszene. (Gottfried) Körner unterstützte aber die Schauspielkonzeption seines lebenslangen Freunds, indem er daraufhin hinwies, dass der Sinn der Kunst bei Schiller von den gesellschaftlichen Bedingungen unabhängig sei, und die

725 Vgl. Genast: Aus dem Tagebuch, Erster teil, S. 115f. 726 Vgl. Kapitel IV. 3. 1. 1.

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Autonomie der Kunst bekräftigte. In der Berliner Inszenierung berücksichtigte der Intendant Iffland bei der Rollenverteilung mehr den bisherigen Ruf der Schauspieler innerhalb des Theaters, wohingegen der Dramatiker Schiller gemäß dem künstlerischen Konzept konkrete Vorschläge für die Rollenbesetzung machte. Außer der Rolle von Melvil, die von Iffland gespielt wurde, wurden die Rollen nicht dem Wunsch Schillers nach entschieden. Im Gastspiel wurde die jeweilige Schauspielerin aus der Perspektive des anderen Theaterhauses kritisiert. Die Kostümbilder, die für Iffland als Teil seiner Inszenierung betrachtet wurden, zeigen, dass die Berliner Inszenierung die theatralische Darstellung des Erhabenen durchaus erfüllt hat, obgleich es eine Dissonanz im brieflichen Austausch zwischen Schiller und Iffland gab, und die beiden Theater jeweils den Fokus auf die unterschiedliche Darstellungsweise gelegt haben. In diesem Sinne kann die Berliner Inszenierung trotz des selbständigen Inszenierungsprozesses als werktreue Inszenierung betrachtet werden. In der modernen Inszenierung von Maria Stuart wurde die ursprüngliche Intention des Dramatikers stark verändert. Die beiden Figuren der Königinnen bilden einen großen Kontrast zu der Vorstellung der Figuren im Drama. Die Figur der Elisabeth hat in dieser Inszenierung die Eigenschaft Marias übernommen, indem sie die Sinnlichkeit verkörpert. Die szenische Darstellung der Beicht- und Abendmahlszene durch den Monolog der Figur der Maria zeigt weder Überlegenheit der Vernunft gegenüber dem Sinnlichen noch einen Übergang vom Sinnlichen zum Vernünftigen. Die Konzeption des Pathetischerhabenen wurde nur halb erfüllt dargestellt, indem die fürchterliche Welt auf der Bühne gezeigt wurde. Die sichtbare Möglichkeit des freien Willens, der von jener Welt unabhängig durchgesetzt werden kann, wurde nicht gezeigt. Sowohl ihr unverändertes Kostüm als auch die von ihr selbst dargestellte Beicht- und Abendmahlszene zeigen, dass es hier weder um ihre innere Änderung, noch um Läuterung geht. Die Kategoride des Erhabenen wurde nach der neuen Idee des Regisseurs stark reduziert und verwandelt, indem ohne das Erhabene nur das Pathos durch die Darstellung des leidenden Menschen auf die Bühne dargestellt wurde.

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In Bezug auf die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung kann abgeleitet werden, dass Schillers literarische Tätigkeit und seine Teilnahme an der Inszenierung am Weimarer Hoftheater positive Auswirkungen auf seine weitere Arbeit mit dramentheoretischen Überlegungen und dramatischen Werken hatten. Die Veröffentlichung des dritten Bands der kleineren prosaischen Schriften im Mai 1801, zu dem die drei Schriften Über das Erhabene, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, und Über das Pathetische gehören, kann als eine Rückwirkung des Dramas auf die Dramentheorie betrachtet werden. Der Begriff des Erhabenen wird hier nicht nur als stehender Begriff verstanden, sondern konstruiert darüber hinaus mit dem Begriff des Schönen das ästhetische Programm, indem die beiden Begriffe sich ergänzen, um die ästhetische Erziehung vollständig zu erreichen. Außerdem hat die Teilnahme Schillers an der Inszenierung am Weimarer Hoftheater positive Auswirkung auf seine weitere Arbeit mit dramentheoretischen Überlegungen und dramatischen Werken gebracht. Die Schrift Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie kann als eine Erweiterung seiner eigenen früheren Theorie der Tragödie betrachtet werden.

2. Schlussbemerkungen: Bewertung der Arbeitsergebnisse

In dieser Arbeit wurde untersucht, wie Schillers Konzeption des Erhabenen auf dem Weg von Dramentheorie über Drama bis zur Theaterinszenierung umgesetzt und verwandelt wurde. Es sollte dadurch plausibel nachgewiesen werden, dass die Konzeption des Erhabenen einerseits gemäß dem ursprünglichen Konzept sowohl im dramatischen als auch im theatralischen Feld dargestellt wurde, aber andererseits jeweils verändert gestaltet wurde: einerseits im Drama und anderseits in der Inszenierung. Im Stück Maria Stuart wurde das Erhabene in der Figur der Maria veranschaulicht. Die Darstellung Marias als leidende Figur in den ersten vier Akten und ihre den Tod nicht befürchtende Gestalt am Beginn

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des fünften Akts veranschaulichen zwei Gesetze seiner tragischen Kunst. 727 Dennoch entspricht die Darstellung des Erhabenen nicht exakt der Tragödientheorie. Marias Erschütterung bei der Begegnung mit ihrem Geliebten in ihrem letzten Auftritt zeigt, dass das Erhabene kein rein theoretischer Zustand ist. Die Überlegenheit der menschlichen Vernunft gegenüber seiner physischen Begrenztheit kann weder permanent bewahrt werden noch sie aufheben. In der dramatischen Darstellung des Erhabenen geht es nicht darum, eine makellose Heldenfigur, die nur nach der Idee, dem Gesetz und aus Vernunft handelt, zu zeigen. Vielmehr wird hier ein Menschenbild exemplifiziert, das stets unter seiner physischen Begrenztheit leidet, sich aber immer aus freiem Willen entscheiden und handeln kann. In diesem Sinne bedeutet die Erscheinung Marias kein Scheitern des Erhabenen, sondern verdeutlicht damit, dass bei Schiller die Darstellung des authentischen Menschen bevorzugt fokussiert wird als Verkörperung der rein theoretischen Idee. Dadurch konnte die Frage nach der Umsetzung des Erhabenen in den dramatischen Werken und dessen Problematisierung vertieft und präziser untersucht werden. Die Arbeit an den historischen Inszenierungen untersuchte schließlich, wie die Konzeption des Erhabenen über die literarische Darstellung im Stück konkret in Bezug auf die ursprüngliche Intention des Dramatikers auf der Bühne realisiert wurde. Es wurde anhand der Weimarer Uraufführung des Dramas unter der Leitung des Dramatikers selbst und der fast zeitgleiche Berliner Inszenierung durch Iffland der Werdegang eines dramatischen Texts in die theatralische Darstellung auf der Bühne in einer Form der Inszenierung ‒ immer mit Blick auf die Verwandlungs- oder Modifikationsprozesse, die die Konzeption des Erhabenen betreffen – untersucht. Im Vergleich zur dramatischen Darstellung, in der die Änderung bei der Umsetzung innerhalb des Stücks gegeben ist, haben in der theatralischen Darstellung die Elemente außerhalb des Stücks eine relevante Rolle gespielt. Die wichtigen Szenen im Hinblick auf die Konzeption des Erhabenen mussten wegen der zeitgenössischen gesellschaftlichen Bedingungen

727 „Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“ Vgl. NA 20, S. 199.

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verändert werden. Bei der Einteilung der Rollen wurde in der Berliner Inszenierung auch der Ruf der Schauspieler am Theater in einem höheren Maß berücksichtigt als der Faktor, ob sie dem Konzept des Dramatikers entsprechen. Dennoch beweisen die Kostümbilder der Berliner Inszenierung, die im Kontrast zueinanderstehen, deutlich, dass der theatralischen Darstellung zum großen Teil gelungen ist, das Erhabene mit theatralischen Mittel äußerlich sichtbar zu machen.

3. Ausblick: die Möglichkeiten für weitere Forschung

Im erweiterten Sinne wurden in dieser Arbeit essentielle Fragen für eine alternative wissenschaftliche Möglichkeit der Schiller-Forschung sowie für die Erforschung der Weimarer Klassik gestellt. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung überschritt die Untersuchung die Grenze des literaturwissenschaftlichen Bereichs, indem die Umsetzung der Theorie im dramatischen Werk als Gegenstand der Untersuchung analysiert wurde. Der sowohl Literatur- als auch Theaterwissenschaft einschließende Gegenstand dieser Dissertation deutet die Möglichkeiten zu einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Gegenstand der Weimarer Klassik an. Zum einen könnte sich die Frage der literarischen und theaterpraktischen Umsetzung der Konzeption des Erhabenen ebenso an weitere Stücke Schillers anschließen. Je nach den unterschiedlichen Bedingungen und dem Prozess der Inszenierung, wie das Stück in eine Bühnenform umgesetzt wurde, können verschiedene Ergebnisse dabei erwartet werden. Beispielweise kann die Untersuchung der Jungfrau von Orleans einen neuen Aspekt im Vergleich zu Maria Stuart anbieten, da es in einer völlig anderen Konstellation als Theaterprodukt entstanden ist und bei dessen Berliner Inszenierung der Dramatiker selbst anwesend war. 728 Zum anderen kann die zeitgenössische

728 Die Aufführung des Stücks in Weimar wurde wegen der Ablehnung von Herzog Karl August verzögert, denn er befürchtete, dass seine Geliebte Caroline Jagemann wegen des Stücks

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Inszenierung des Weimarer Hoftheaters bzw. des gleichzeitigen Theaters wie unter der Leitung von Iffland mit der modernen Schiller-Inszenierung verglichen werden. Dabei wird darauf fokussiert, wie die künstlerischen und nicht- künstlerischen Bedingungen innerhalb und außerhalb des Theaters den Prozess der Inszenierung beeinflussen. Damit ist die Frage verbunden, was für einen Sinn ein klassisches Stück und die theatralische Darstellung als dessen Interpretation in der heutigen Sichtweise haben kann. Dies bedeutet nicht nur, den Unterschied zwischen den ursprünglichen und den modernen Inszenierungen abzuleiten, sondern vielmehr sich damit zu beschäftigen, wie ein Stück durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen und künstlerischen Tendenzen in ein neues modernes Kunstwerk umgesetzt werden kann. Darüber hinaus kann die Bedeutung von Schillers Dramenpoetik in heutigen Inszenierungen berücksichtigt werden. Es kann auch in Frage gestellt werden, ob die dramentheoretischen Gedanken Schillers in den modernen Bühnenfassungen überhaupt noch vorhanden ist. Die Abhandlung von Jacques Rancière gibt Hinweis darauf, was für einen Sinn Schillers Dramatik heute im Zeitalter des postdramatischen Theaters besitzen kann.729

»Die Klassik ist nun das, was nicht länger imitiert wird, sondern unmittelbar in die Gegenwart versetzt werden kann, sich wieder abspielen, sich unendlich wiederholen kann und im Stande ist, eine unendliche Vielzahl von Verwandlungen zu erzeugen, die letzten Endes das Neue und das Alte ununterscheidbar machen.«730

lächerlich angesehen würde, wenn sie die Hauptrolle die Johanna spielen würde. Daher wurde das Stück zunächst in Leipzig am 11. Sept. 1801 uraufführt und in den weiteren Städten (in Berlin, Hamburg, Wien, Schwerin usw.). Erst am 23. April 1803 wurde es in Weimar zum ersten Mal aufgeführt. Vgl. Martin: »Jungfrau von Orleans«, S. 180-188. 729 In Bezug auf die Frage der authentischen Umsetzung eines Dramenstücks herrscht es heute vielmehr eine Tendenz, dass ein klassisches Stück je nach der Intention des Regisseurs frei interpretiert wird. Der Begriff des „Postdramatischen Theater“s, den Lehmann in seinem gleichnamigen Buch als Gegenbegriff zur klassischen „Dramatisches Theater“ darstellt, spiegelt das neue Status des Theaters wider. Darüber hinaus wird das Kontrast zwischen dem Drama als literarische Gattung und dem Theater als selbständiger Kunstwesen deutlich kennzeichnet. Vgl. Jeßing: Dramenanalyse, S. 253. 730 Jacques Rancière: »Was bringt die Klassik auf die Bühne?«, in: Ensslin, Felix (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, Berlin 2006. S. 23- 38, hier S. 24.

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Rancière versucht hier, den Charakter der Klassik – eine Erfindung der Romantik – mit ihrer potenziellen Umsetzungs- bzw. Verwandlungsfähigkeit zu bestimmen. Der Sinn der Klassik wird nicht dadurch bewahrt, dass sie stets in ihrer alten Form nachgeahmt wird. Sie wird als Klassik definiert, indem sie sich in eine neue Form verwandeln lässt, sogar bis zu dem Zustand, in dem sich die ursprünglichen und neuen Interpretationen nicht mehr voneinander unterscheiden können. In dieser Offenheit und Potenzialität liege die Kernidee der Klassik, die sie als ein unendliches Feld der Möglichkeiten und der unbegrenzten Verwandlungsfähigkeit kennzeichne. In diesem Sinne ist die neue Interpretation in Schiller-Inszenierungen im 21. Jahrhundert weder ein Scheitern des alten Konzepts noch ein Bruch mit der historischen Aufführung um 1800 in Weimar und Berlin. Vielmehr behält Schillers Dramatik ihren Status als Klassiker fester, indem sie sich in eine neue Form verwandeln lässt und sogar äußerlich zerstört erscheint. So wie es in dieser Arbeit untersucht wurde, wie die Konzeption des Erhabenen im Prozess der Umsetzung je nach dem Charakter der Kunst in eine neue Form mit Verwandlung umgesetzt wurde, kann Schillers Dramatik je nach der Interpretation unabhängig von der ursprünglichen Intention des Dramatikers in eine neue Bühnenfassung umgesetzt werden. Dies entspricht den grundlegenden Grundgedanken der Weimarischen Projekte von Schiller und Goethe, dass die Kunst unabhängig von ihrem Zweck ihre Autonomie behaupten kann. Aus diesem Grund wird der Sinn von Schillers Dramatik und Dramenpoetik weitergeführt und wird als Klassik bestehen bleiben, solange die Regisseure in ihren Inszenierungen gegenüber Schillers Dramenpoetik eigene Interpretationen umsetzen.

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Anhang

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Verzeichnis der Schemen, Tabellen und Kostümbilder

Umsetzung von Dramentheorie über Drama bis zur Inszenierung……………………………………………….. 17 Wechselwirkung zwischen Dramentheorie, Drama und Inszenierung……………………………………………….. 20 Beichtraum……...….…..…………………………………. 114 Konstellation der Beichtszene in Maria Stuart .……...…… 115 Beispiele Materialien für die Rekonstruktion einer historischen Inszenierung…………..…………………………..………153

Aufführungen der Maria Stuart von Weimarer Ensemble zwischen 1800–1805………………………...…………………………... 184 Vergleich der szenischen Darstellung zwischen Erstdruck und h3………………………………………………………….… 199 Rollenbesetzung der zwei Protagonistinnen in Weimar und Berlin…………………………………………………….…. 208 Vergleich der unterschiedlichen Version der V. 3736–3757…… 210 Austausch zwischen Schiller und Iffland, und Realisierung auf der Bühne………………………………………………………….. 214 Jagemann und Unzelmann im Gastspiel in Weimar und Berlin .. 217

Unzelmann in der Rolle der Maria im 3. Akt der Maria Stuart……………………………………………………. 230 Unzelmann in der Rolle der Maria im 5. Akt der Maria Stuart…………………………………………………..... 233

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Bildnachweis

Abb. 1: Kostümfigurine Maria Stuart, gezeichnet von Ulrich Ludwig Friedrich Wolf, hg. v. August Wilhelm Iffland, 1805, handkolorierte Radierung Inv. –Nr. GDR 83/42,17 (Standort: Stiftung Stadtmuseum Berlin in Berlin Spandau)

Abb. 2: Kostümfigurine Maria Stuart, gezeichnet von Ulrich Ludwig Friedrich Wolf, hg. v. August Wilhelm Iffland, 1805, handkolorierte Radierung Inv. –Nr. GDR 83/42,18 (Standort: Stiftung Stadtmuseum Berlin in Berlin Spandau)

Die Bildtafeln mit Kostümfigurinen stammen aus dem Werk Kostüme auf den Königlichen National-Theater, das 1802 bis 1812 in 21 Heften erschienen und wozu verschiedene Künstler Zeichnungen und Stiche geliefert haben: Aus dem Trauerspiel: Maria Stuart: Nr. 19. u. 20 Maria Stuart.

Die Abbildungen der Kostümfiguren wurden von den originalen mit der Genehmigung aus der folgenden Sammlung angefertigt. (Standort: Stiftung Stadtmuseum Berlin in Berlin Spandau)

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Lebenslauf

Herr Dong Hun KIM

Geb. 1982 in Jeonju, Südkorea. 2019 Forschungsaufenthalt an der ENS (École Normale Supérieure de Lyon), mit Gateway Fellowship von RUB Research School PLUS, gefördert von DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft), Kollaborationspartner: Prof. Dr. Anne Langy (ENS), Dr. Laurent Cassagnua (ENS), Prof. Dr. Annette Wieviorka, emeritus director (Centre national de la recherche scientifique in Paris). 2018 Promotion, Germanistik an der Ruhr Universität Bochum bei Prof. Dr. Benedikt Jeßing gefördert von Konrad-Adenauer-Stiftung (Dissertation: Umsetzung und Verwandlung der Konzeption des Erhabenen bei Schiller) 2011 Auslandssemester an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit DAAD Stipendium 2010 Masterstudium, Germanistik an der Seoul National University (Abschlussarbeit: Die Freiheitsidee und die Kritik an der absoluten Monarchie in Schillers Geschichtsdrama Don Karlos) 2008 Bachelorstudium, Germanistik an der Seoul National University 2003/04 Auslandssemester an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit ASEM-DUO Stipendium