Seite 14 Beiträge zur Wettlauf zur Unesco deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Seite 7 Seite 16 Salomon Ludwig Svevo in Trieste Rhäzüns am Wickel Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen

14. Jahrgang 2011 Heft 4

... nahm in Hauptsachen so entschieden das Wort Ludwig Philippson – Rabbiner und Publizist (1811–1889) Harald Lordick und Beata Mache

ar das in den vergangenen fünf Jahrzehnten Kindheit, Jugend und Studienjahre Wüberhaupt schon einmal vorgekommen ? In In seinen Erinnerungen beschreibt Philippson seine der ersten Januarwoche 1890 warteten die Abon- Geburtsstadt Dessau – wo er am 28. Dezember 1811 nenten vergeblich auf ihre Zeitung. Und auch die zur Welt kam – als einen Ort mit 10.000 Einwoh- zweite Woche verstrich. Endlich, am 16. Januar, gab nern, davon beinahe zehn Prozent Juden „von ge- es eine neue Ausgabe – nein, ganz neu war sie ei- mäßigt moderner Mentalität“. Zu feierlichen Anläs- gentlich nicht – die Nachrichten, sonst immer so ak- sen besuchten auch Christen die „schöne, gewölbte, tuell, waren noch von Dezember. Eine Erklärung lichthelle“ Synagoge, doch die Juden unterlagen der Verspätung fand man nicht. Auf dem Titelblatt drückenden Beschränkungen und durften nur im stand wie üblich: „in redaktionellen Angelegen- südlichen Stadtteil „auf dem Sande“ wohnen. Der heiten wende man sich an Doktor Philippson in relativ große Bevölkerungsanteil hatte seinen Grund Bonn direkt …“ Nur wer genau hinsah, bemerkte in der Nähe zur Messestadt Leipzig, wo Juden gar die kleine Veränderung: „von Ludwig Philippson nicht siedeln durften. So wurden auch Juden, die begründet“, statt „herausgegeben“. Erst am 19. Ja- während der Messe verstarben, in Dessau beerdigt. nuar erfuhren die Leser den Grund der Verspätung: Philippsons Vater Moses hatte eine hebräische Noch im Dezember war Philippson gestürzt, an je- Druckerei ins Leben gerufen und war Oberlehrer „Mein Vater war hochgewachsen, nem Tag hatte er noch diktiert, über Treitschkes an der als Freyschule für arme jüdische Knaben ge- schlank, von gerader, imponie- dritten Band der deutschen Geschichte diskutiert, gründeten und später von Fürst Franz genehmigten render Haltung – da er infolge einen Vortrag über Sizilien angehört und, wie jeden israelitischen Hauptschule. Er starb, als Ludwig seines Augenleidens nicht viel Freitagabend, seine Familie gesegnet. Er gelangte zwei Jahre alt war. Die Mutter musste darauf die gebückt am Schreibtisch saß, son- nicht wieder zu Bewusstsein und verstarb zwei Tage Familie allein ernähren, durch Verkauf von Bü- dern diktierend oder überlegend später, am 29. Dezember 1889. chern, die noch ihr Mann gedruckt hatte, und nicht im Zimmer auf und ab zu gehen Ludwig Philippsons Werk ist bekannt, kaum je- selten, indem sie Stücke aus seiner Bibliothek ver- pflegte. Seine Gesichtszüge wa- doch sein Leben. Die im Konzentrationslager The- äußerte. Trotz bitterster Not versuchte sie, ihren ren scharf geschnitten und edel. resienstadt etliche Jahrzehnte später aufgezeichne- Söhnen den Weg zu einer ordentlichen Ausbildung Die von Natur großen und strah- ten Erinnerungen seines (dort achtzigjährigen !) zu ebnen: „Die Söhne meines Moses sollen nicht lenden dunklen Augen waren im Sohnes Alfred, der mit knapper Not überlebte, ent- mit dem Packen auf dem Rücken über Land gehen; Alter durch eine blaue Brille ver- halten um so wertvollere Passagen, dank derer wir wie sollte ich das vor ihm verantworten, wenn wir deckt. Er konnte zwar kurze Briefe 1 uns das Leben der Familie vorstellen können. Man uns wiedersehen ?“ antwortete sie auf Ratschläge, lesen und schreiben, auch Buch- lebte im bildungsbürgerlichen Stil, allerdings recht die Söhne nicht zu einem Studium zu ermuntern, druck eine Weile lesen, aber seine zurückgezogen, und den in materieller Hinsicht sondern sie zum Kleinhandel anzuhalten. So kam Arbeiten musste er diktieren, und sorgenfreien Lebensabend in Bonn verdankte das Ludwig schon im vierten Lebensjahr an die Franz- was er an längeren Drucksachen Ehepaar Philippson dem Vermögen des Sohnes schule. „Dem Hebräischen waren wöchentlich elf aufnehmen wollte, musste ihm Franz: Bankier, Generalkonsul für Italien in Brüssel Stunden“ gewidmet, erinnerte er sich später. 1825 vorgelesen werden. Als Schreiber und Vizepräsident der Jewish Colonization Associa- besuchte er das Dessauer Bet Midrasch. Als die Fa- und Vorleser dienten ihm die tion. Materiell sorgenfrei, so war es freilich nicht milie 1826 nach Halle zog, gelang es Ludwig als Familienmitglieder, vor allem mei- immer gewesen. erstem Juden überhaupt, das als ausgezeichnet gel- ne Mutter.“ Franzschule in Dessau „Wir machten die besten Fortschritte in Hebräisch, Französisch, Rechnen und Schönschreiben. Dem Hebrä- ischen waren wöchentlich elf Stunden, dem Französischen sechs ge- widmet. Wir brachten es im Übersetzen der heiligen Schrift recht weit, in Mischna und Schulchan-Aruch kamen nur Einige vorwärts. Und wie geringfügig war das Lehrmaterial, wie wenige gedruckte Schulbücher wurden uns in die Hand gegeben ! Und doch bewiesen die zahlreichen öffentlichen Prüfungen, wie bedeutend die Resultate des Unterrichts waren.“

tende Gymnasium der Großen Franckeschen Stif- genau meine Papiere, die ich zur Legitimation mei- tung zu besuchen – allerdings erst auf Intervention ner Person vorzulegen hatte. Dann sprach er: „Sie des Stiftungdirektors Hermann August Niemeyer, sind doch Jude ?“ Ich bejahte dies. „Wie kommen Sie der kurzerhand die Schulleitung anwies: „Der Kna- dazu einen Preis aus einer christlichen Konsistorial- be L. Ph. ist sofort in die Schule aufzunehmen“. Zu kasse beziehen zu wollen?“ Meine Antwort lautete: seinem Unterhalt trug er selbst bei, indem er priva- „Durch nichts Anderes als das Urteil der Fakultät ten Unterricht in Religion und Hebräisch gab. Er und die mir von dieser gewordene Anweisung.“ Der hoffte schon damals, den „Sinn für ihre altertüm- kleine Mann geriet in Zorn, schlug auf das Pult und lichen Schriften und ihre ehrwürdige ehemalige schrie: „Das muß erst noch weiter untersucht wer- Muttersprache“ bei seinen Schülern zu wecken.2 den!“ Ich wanderte sofort zum Dekan und berichte- Mit 16 Jahren brachte er seine erste Veröffentli- te ihm über den Vorgang, worauf dieser ausrief: chung heraus, unter dem Namen seines älteren Bru- „Will solch ein Rendant sich das Richteramt über die ders Phöbus: Die Propheten Hosea, Joel, Jonah, Ob- Fakultät anmaßen ?“ Sofort schrieb er auf ein Blatt adjah und Nahum. In metrisch-deutscher Überset- Papier: „Die 30 Taler sind augenblicklich dem Stu- zung (Halle: Ruff 1827). 1829 nahm er das Studium diosus Philippson auszuzahlen“ und versah dies mit der klassischen Philologie in Halle auf, mit den Ne- Unterschrift und Siegel. Der Herr Rendant brummte benfächern Philosophie, Geschichte, Recht und Na- gewaltig, mußte sich aber fügen.4 turwissenschaften. Sein Studium, das er nach kurzer Solche Vorfälle sprechen für sich, und wirklich Zeit in Berlin fortsetzte, musste er selbst finanzie- gut war die Sache nicht ausgegangen. Denn fortan ren, da auch sein älterer Bruder die medizinische wurde, um solche ‚Probleme‘ zu vermeiden, der Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte. Preis nur für Kommilitonen „christlichen Glau- Bedrängnis erlebte Ludwig nicht nur durch die bens“ ausgeschrieben ! So war es nur folgerichtig, materielle Lage seiner Familie. Juden hatten keine dass Philippson sich auch politischeren Themen zu- Bürgerrechte, waren in allen politischen, wirtschaft- wandte. Mit 21 kam er, offensichtlich von Hegel lichen und gesellschaftlichen Bereichen benachteili- inspiriert, auf die pfiffige Idee, nicht zu fragen, wie gt. In Dessau war er noch als Sohn eines ‚Schutzju- die Juden das Bürgerrecht erlangen könnten, son- den‘ geboren, ein Handwerk hätte er dort nicht er- dern erst einmal, warum sie es überhaupt verloren greifen können. Lange Jahre kämpfte die Gemeinde hatten: Wie verloren die Juden das Bürgerrecht im vergeblich darum, dass die Innungen auch den jü- west- und oströmischen Reiche ? Eine indirekte Be- dischen Nachwuchs in die Lehre nahmen. Und trotz antwortung der Frage: Sollen die Juden das Bürger- seiner offensichtlichen Begabung und seines Ein- recht erlangen? Beantwortet von Ludwig Schragge, satzes war klar, dass die naheliegende und ange- seinem Pseudonym (Berlin: Fröhlich 1832). strebte wissenschaftliche Karriere als Philologe ihm Seine bald darauf vorgelegte Dissertation wid- in Deutschland nicht möglich sein würde. Ins Aus- mete er allerdings, das wäre wohl auch nicht för- land zu gehen, nach Frankreich etwa, dafür reichten derlich gewesen, nicht diesem Thema. seine Mittel nicht. Fünfzehn Jahre später schrieb er in der AZJ: Man hatte den Juden alle Pforten, die in Rabbinat in den Tempel der Wissenschaft und der geistigen Aus- Ein Zufall entschied über Philippsons weiteren Le- bildung führen, geöffnet, aber alle Pforten, die aus bensweg: Von seiner Familie überredet, hielt er ei- diesem Tempel in das Leben führen zu gedeihlicher ne Traurede in Osterburg – auf Deutsch, und beein- Wirksamkeit und fröhlicher Anerkennung, verschlos- druckte damit den Bräutigam so sehr, dass der sie sen, dicht verschlossen.“ 3 drucken ließ – was wiederum die Magdeburger Ge- Auch in Berlin stieß Philippson unvermittelt an meinde auf Philippson aufmerksam machte. Zu Grenzen, als er für seine Arbeit über das Leben des dieser Zeit war die deutschsprachige Predigt noch italienischen Humanisten Lorenzo Valla in latei- selten. Man bat ihn, zu Rosch haSchana, dann zu nischer Sprache einen Preis erhielt. Als ich in der Jom Kippur und Sukkot zu predigen, und bald Rendantur des Konsistoriums erschien (mit der An- schon tat er das regelmäßig. So übernahm er in weisung des Dekans über 30 Taler), faßte mich der Magdeburg an seinem 22. Geburtstag die Aufgaben Rendant, ein kleiner schmächtiger Mann mit großer eines Predigers. Dieser Arbeit widmete er sich sehr 2 Hornbrille auf der Nase, scharf ins Auge und prüfte engagiert: Er predigte und unterrichtete mit gro- Das Arbeitszimmer Philippsons in Bonn „Die abendlichen Stunden um Vaters Tisch waren die traulichsten des Tages. Einer von uns las vor, sei es die Zeitung – wir hielten die Kölnische, die Bonner, zeitweise auch die Vossische Zeitung und die Wiener Neue Freie Presse, außerdem mehrere jüdische Zeitschriften – sei es aus einem belletristischen oder aus einem populärwissenschaftlichen Werk. Sehr beliebt war auch der Kladdera- datsch, der in den siebziger Jahren auf seiner Höhe war. Seine politische Satire, seine unsterblichen Figuren Müller und Schulze, sein Briefkasten (eine Sammlung unfreiwilliger Komik) lösten, vorgelesen, oft Lachsalven im Familienkreise aus.“

ßem Erfolg und bald schon auch staatlich geprüft: Handwerkerblatt und in der Zeitung für die Gewer- Am 10. März 1834 bestand er die preußische beräte in den preußischen Staaten. Dienstprüfung als „geistlicher Lehrer“ mit dem Das eigentliche politische Thema, der rote Fa- Prädikat „vorzüglich“. Seine Rabbinerausbildung den aber war der Kampf um die bürgerliche absolvierte er bei Privatlehrern in Berlin, Vertretern Gleichstellung der Juden. So war seine Streitbarkeit des östlichen Judentums. Philippson selbst war zu gefragt, als 1862 einem jüdischen Lehrer an der dieser Zeit eher von Gabriel Riesser beeinflusst und städtischen Schule in Posen die Anstellung verwei- dem Reform-Judentum zugeneigt. Die Lehrbefug- gert wurde. Als der zuständige Minister dies auch nis erhielt er 1839 von dem reformnahen, preu- noch im Abgeordnetenhaus verteidigte und dem ßisch-westfälischen Landesrabbiner in Brilon, Jo- Judentum Intoleranz vorwarf, intervenierte Phillip- seph Friedländer. Im selben Jahr noch übernahm er son mit einem offenen Brief, den etliche Zeitungen das Magdeburger Rabbinat. Die Gemeinde ließ ihm druckten.6 In der Debatte hatte der Minister aller- große Freiheiten: Seine politischen und publizisti- dings einen einsamen Stand, und vier Tage später schen Ambitionen erforderten viel Zeit, dazu ka- musste er wegen Budgetfragen zurücktreten. men notwendige Kuraufenthalte, die ihn von seiner Anlässe sich einzumischen gab es genug: Wie- Arbeitsstätte lange fernhielten. derholt petitionierte er in Fragen der Gleichberech- Schließlich erzwang seine angegriffene Gesund- tigung und der jüdischen Gemeindeverfassung, ge- heit eine drastische Veränderung: „Der Zustand gen den entwürdigenden ‚Judeneid‘ und für den meiner Augen und meines ganzen Organismus nö- Militärdienst der Juden. So blieb er im preußischen tigt mich, mein Amt aufzugeben“, schrieb er 1861 Abgeordnetenhaus oder im Parlament des Nord- an Moses Hess. Sein Sohn erinnert sich: er war in deutschen Bundes kein Unbekannter. Sicher sah der damals sehr engen und ungesunden Festungs- Philippson darin eine Vorbildfunktion: errungene stadt Magdeburg von wiederholten typhösen Er- politische und bürgerliche Rechte galt es auch krankungen sehr mitgenommen, verlor ausserdem selbstbewusst wahrzunehmen, und er hielt es für sein Augenlicht fast ganz, sodass er auf dringenden wichtig, gerade von jüdischer Seite bürgerliches En- Rat der Ärzte im Jahre 1862, also im Alter von 50 gagement in und für die Gesellschaft zu zeigen. Jahren, sich pensionieren ließ und nach Bonn in ein Das blieb immer auch ein Spagat. Die Kaiserpro- gesünderes Klima und in eine schönere und heiterere klamation von 1871 nahm er zum Anlass für einen Umgebung übersiedelte.5 An seinem publizistischen patriotischen, aber auch aus süddeutsch-jüdischer Eifer änderte das nichts. Sicht gehörige Skepsis vermittelnden Artikel: weil aus der fortschrittlicheren Sicht von Preußens Regie- Politisches Engagement rung noch immer gegen alles, was die Pflege des Ju- Philippson war nicht nur in jüdischen Belangen po- denthums und des jüdischen Cultus betrifft, eine litisch engagiert, und unternahm mehrfach Anläufe, Apathie und Geringschätzung manifestiert wird, in die allgemeine Politik zu gehen, insbesondere in welche eine Verläugnung des Princips der Gleichbe- der Revolutionszeit. Er galt als gemäßigt liberal, rechtigung involviert … So sehr man also „freudig“ war 1848 Ersatzmann im konstituierenden preu- den „Neubau des Vaterlands“ begrüßte, so sehr war ßischen Landtag sowie stellvertretender sächsischer man aus gutem Grund (und schlechter Erfahrung) Abgeordneter der Frankfurter Nationalversamm- bang um das Errungene. „Doch wo viel erreicht ist, lung. 1863 kandidierte er erfolglos im Posener kann auch der Fortgang nicht ausbleiben“, ließ Wahlkreis Schwersenz für den preußischen Land- Philippson seinen Optimismus nicht sich nehmen.7 tag. Seit 1850 saß er im Magdeburger Gemeinderat. Vielleicht waren es ja die in der Jugend erlebten Die Zukunft im Auge haben, auf dem Boden der Vergangen- Hemmnisse, die ihn bewogen, sich mit der Grün- heit stehen: Die Allgemeine Zeitung des Judenthums dung eines Hilfsvereins für die Handwerker zu en- Ein halbes Jahrhundert hatte Philippson die AZJ gagieren. Ob man ihn deshalb 1849 in den Gewer- praktisch allein redigiert; kein Wunder, dass die berat entsandte ? Denn eigentlich war dies Gremi- Zeitung nach seinem Tod einige Wochen aus dem um mit Händlern, Handwerkern, Fabrikanten und Takt kam. Sie war 1837, er war gerade 26 Jahre alt, Technikern besetzt. Natürlich hinterließ auch diese als unpartheiisches Organ für alles jüdische Interes- Initiative publizistische Spuren, im sächsischen se gegründet worden. 3 Die Bonner Villa um 1920 „Der Garten war für meinen Vater, man kann sagen, ein Lebensverlängerer. Wenn das Wetter es erlaubte, sah man wohl seine hohe Gestalt auf den etwas geschlängelten, kiesbestreuten Wegen auf- und abwandeln, seine Arbeiten überdenkend oder in seinen Mußestunden sich erfrischend.“

Der junge Herausgeber verfolgte ein höchst dentum wichtig, vielmehr wollte er die Solidarität ehrgeiziges Ziel: „dem jüdischen Publikum, wie der unter allen Juden stärken. So berichtete er aus Russ- gesamten gebildeten Welt mit wissenschaftlicher land, Rumänien, Palästina, aus der Türkei und Kraft und sittlichem Ernst den Gedanken der religi- brachte mehrere Artikel zu den Verhältnissen in ösen Aufklärung und bürgerlichen Gleichstellung Rom, um das letzte damals noch bestehende Ghetto zur Aussprache [zu] bringen”, formulierte er nicht Europas endlich Vergangenheit werden zu lassen. ohne Pathos. 8 An seinen Bruder schrieb er am 1856 veröffentlichte die AZJ in Fortsetzungen 4. März: Etwas Wichtiges habe ich Dir zu melden, einen Text, der auch selbständig erschien und in ich habe den Plan gefasst, eine „Allgemeine Zeitung mehrere Sprachen übersetzt wurde: Haben wirklich für das Judenthum“ herauszugeben. Ich habe das die Juden Jesum gekreuzigt ? Nicht nur als Jude, son- Ding energisch angegriffen und schon von zwei dern auch als Altphilologe antwortet Philippson klar Titelblatt der ersten Ausgabe Buchhändlern bejahende Antwort. Ich werde mich und eindeutig: Nein, nicht die Juden, die Römer. 9 der Allgemeinen Zeitung des mit Baumgärtner in Leipzig darüber einigen. Der Hundert Jahre nach der kühnen Idee einer All- Judenthums. Unpartheiisches praktisch denkende Philippson wählte Leipzig als gemeinen Zeitung des Judentums stellte sich die Zei- Organ für alles jüdische Inter- Verlagsort, weil er dort die preußische Zensur um- tung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdi- esse in Betreff von Politik, Reli- gehen konnte und in der Messestadt die Verbrei- schen Glaubens nicht nur im Untertitel ganz in de- gion, Literatur, Geschichte, tungsaussichten der Zeitschriften günstig waren. ren Tradition und zitierte Philippson: Wir haben Sprachkunde und Belletristik. Die erste Ausgabe erschien am 2. Mai 1837, und während unserer ganzen Wirksamkeit den Grundsatz Redacteur: Dr. Ludwig Philipp- das Projekt wurde ein Erfolg. Schon im ersten Jahr befolgt, dass, wo irgend innerhalb des Judentums son, israelitischer Prediger in soll es Tausende Abonnenten gegeben haben. Zu- sich Leben regte, eine Kraftäußerung zutage strebte, Magdeburg. Verlag von Baum- erst erschien sie dreimal pro Woche, seit dem drit- ein Gedanke die Geister zu beleben und zur Beteili- gärtners Buchhandlung zu ten Jahr dann wöchentlich und mit größerem Um- gung des Interesses führen könnte, dies mit aller Kraft 11 Leipzig. fang. Philippson hat die AZJ allein aufgebaut, als zu fördern ist. In schwierigster Lage würdigten die Autor, Verleger und Vertriebsleiter. Journalisten der CVZ 1937 Philippsons wissen- Dass eine jüdische Zeitschrift auf Deutsch er- schaftliches Denken, seine „klare, edle und reine schien, war zu dieser Zeit längst nicht mehr unge- Sprache“ und seinen, ehedem so kritisierten, „be- wöhnlich, dass sie aber alle deutschen Juden errei- sonderen Sinn für das Organisatorisch-Praktische“. chen wollte, war neu. Geradezu revolutionär war ihr Interesse an Politik: überparteilich, die jüdische Gemäßigte Reform: die Rabbinerversammlungen Identität stärkend, zugleich patriotisch. Die Haupt- Zu den Zielen Philippsons gehörte auch die Re- rubriken galten Politik, Religion, Literatur, Ge- form des Kultus: Auf den Seiten der AZJ entstand schichte und Sprachforschung. Sehr wichtig waren die Idee einer Zeitschrift für die liturgische Musik. ihm die Korrespondenzen aus allen Gemeinden, In Magdeburg führte er Orgel, Chorgesang und denn auch dies betonte das Interesse an der Vielfalt „Konfirmationen“ ein und komponierte einstim- des Judentums. mige Gesänge. Er strebte nach Vereinheitlichung, Innerjüdisch wollte die AZJ Reformfreunden die – gemeinsam abgestimmt – von den Gemeinden wie auch Reformgegnern eine Plattform bieten, zu übernommen werden sollte. Dementsprechend ge- Kompromissen beitragen. So schrieben hier sowohl hörte Philippson zu den ersten Organisatoren der Orthodoxe wie Samson Raphael Hirsch als auch ra- Rabbinerversammlungen in Braunschweig 1844, dikale Reformer wie Michael Creizenach, Abraham Frankfurt 1845 und Breslau 1846. Gegen seine Er- Geiger oder Samuel Holdheim. wartungen allerdings blieben die älteren, gemä- Anfangs durchaus umstritten, blieb die AZJ bis ßigten Rabbiner fern, das Wort übernahmen die zur Reichsgründung die wichtigste meinungsbilden- „jungen Wilden“, radikale Reformer. So gingen de jüdische Zeitschrift. Ihre Leser fand sie nicht nur dann die Vorschläge dem eher gemäßigten Philipp- in Deutschland, sondern europaweit, insbesondere son zu weit. Seine Position, sich nicht einem der auch unter den gebildeten Juden Osteuropas. „In Lager anzuschließen, sondern auf Kompromiss ge- den russischen Ostprovinzen bin ich jetzt für die Ju- stützte, versöhnende, die Einheit des Judentums den die intellektuelle und politische Stütze“, stellte wahrende Schritte zu setzen, fand weder hüben Philippson fest.10 Das ist auch nicht verwunderlich. noch drüben Verständnis. Er, grundsätzlich Refor- 4 Für Philippson war eben nicht nur das deutsche Ju- mer, wollte jedenfalls in Kultusfragen keineswegs AZJ 15. Januar 1844

eine Anpassung an die christliche Mehrheit. Auslegung gepflegt“ wurde, und dass „im Judent- Also hielt er in der Frankfurter Rabbinerver- hume niemals irgend eine Uebersetzung oder ir- sammlung ein Plädoyer für das Hebräische: Weil es gend eine Auslegung eine unbedingte, gewisserma- die universelle Sprache aller Juden sei, sei es auch ßen officielle Autorität erlangt“ habe.16 Hauptsprache in der Synagoge und Deutsch dort nur begrenzt einzuführen. Als die Mehrheit der De- „Keine Politik und keine Polemik“: Das Institut legierten aber anders votierte, schied Philippson zur Förderung der israelitischen Literatur aus diesem Gremium aus. An seinen Bruder schrieb Am 19. Februar 1855 erschien in der AZJ die Auf- er jedoch: „Ich nahm in den Hauptsachen so ent- forderung an alle deutsch-lesenden Israeliten zur schieden das Wort und mit solcher Kraft, daß ich Gründung einer israelitischen Literatur-Gesell- als Redner die erste Stellung in der Versammlung schaft. Zusammen mit Isaak Markus Jost und eingenommen und mir eine fast überwiegende Stel- Adolph Jellinek schuf Philippson ein Institut, das lung erobert habe.“ 12 Womöglich überschätzte er „fern jeder Parteilichkeit“ jüdisches Schrifttum för- hier seine Rolle, sein herausragendes Engagement dern wollte, ein dringendes Bedürfnis, weil „viele blieb aber unumstritten. der würdigsten und tüchtigsten Geistesproducte jü- discher Schriftsteller in den Pulten derselben verge- „Das besondere Eigenthum des israelitischen Stammes“ bens die Veröffentlichung erwarten.17 Jellinek Kaum hatte die AZJ die Gründungsphase überstan- schied schon 1856 wieder aus: Er übernahm das den, startete Philippson schon das nächste Projekt. Rabbinat in Wien, in Österreich war das Institut Gemeinsam mit seinem Bruder Phöbus entschloss aber zu dieser Zeit wegen angeblich staatsgefähr- er sich, ein Werk anzugehen, das schon seinen Vater dender Tendenz verboten. Jost engagierte sich bis umgetrieben hatte, das er aber nicht vollenden zu seinem Tod 1860. Als Nachfolger standen konnte: eine Bibelübersetzung. Zudem beunruhigte Philippson Abraham Meyer Goldschmidt und Levi die wachsende Aktivität sogenannter christlicher Herzfeld zur Seite. Schon im Mai gab es 1200 Bibelgesellschaften und die weite Verbreitung von Abonnenten, also konnte Autoren ein „angemes- Missionsbibeln unter den Juden. Eine geeignete jü- senes Honorar“ angeboten werden. Am 7. Mai dische Bibel sollte her ! Die kam zwischen 1839 und 1855 rief Philippson dazu auf, Texte bei ihm einzu- 1854 zuerst in 96 Lieferungen, dann in drei Bän- reichen und zwar anonym. Erst nach der Überprü- den, zweisprachig, mit Kommentaren, „möglichst fung sollten die Autoren – durch die AZJ infor- wortgetreu, jedoch zugleich überall dem deutschen miert – sich namentlich melden. So betonte er im- Sprachgenius entsprechend“.13 Mit ihren 500 mer wieder die angestrebte Objektivität der Aus- Holz- und Stahlstichen („ethnographische, natur- wahl, auch weil ihm daran lag, den Vorwurf, er historische, antiquarische Gegenstände und Land- wolle nur eigene Publikationen fördern, zu entkräf- schaften“)14 belief sie sich bis 1866, so heißt es, auf tigen. Nur ein Auswahlkriterium wurde genannt: 100.000 verkaufte Exemplare – ein großer Erfolg. keine Politik und keine Polemik. Selbstverständlich Parallel erschien eine unkommentierte, nicht be- dachte Philippson an den wirtschaftlichen Erfolg bilderte zweisprachige „Volksausgabe“. 1874 folgte des Instituts und nicht allein an die Förderung von noch eine „Prachtausgabe“ mit 154 Illustrationen Wissenschaft und Aufklärung: Das Institut musste von Gustave Doré. Doch es hagelte auch Kritik so- sich auch finanziell tragen, Leser befriedigt werden. wohl von Orthodoxen wie von Reformern. Diese Trotzdem wagte es, viele Werke zu publizieren, die warfen ihm unwissenschaftliches Vorgehen, jene nicht sofort Erfolg versprachen. Man entwarf 1856 Verstöße gegen die Tradition und Relativierung der den Plan einer Real-Encyclopädie oder Conversati- Autorschaft Moses’ vor. Philippson hielt dagegen: ons-Lexikon des Judenthums. Dessen Motivation Seine Übersetzung sei weniger Product ausführlicher bewegt bis heute jüdische Bildungseinrichtungen: Kritik und ein Sammelwerk erschöpfender Gelehr- Das Wissen der Juden selbst zu vertiefen, „damit samkeit, als vielmehr darauf gerichtet, den positiven die Kenntniß des Judenthums die Masse derselben Inhalt der heiligen Schrift zu zeichnen, dessen Er- von Neuem durchdringe“, der Unwissenheit der kenntniß und Verständniß zu mehren.15 Den Ortho- Mehrheit entgegenzuwirken, „herrschende Vorurt- doxen entgegnete er, dass schon in der Zeit von heile zu zerstreuen.“ Die Idee war nicht neu, Talmud und Midrasch „die freieste Bewegung der Philippson verfolgte sie schon seit zwanzig Jahren. 5 Anmerkungen Gerne hätte man, einen Band pro Jahr geliefert, einen Buchhändler französische Romane übersetze. 1. Paula Ph., S. 136 doch der ambitionierte Plan scheiterte, wohl aus fi- Ebenso zerbrach kurz nach Philippsons Umzug 2. Ost und West 1904, Sp. 820 nanziellen Günden. Das Institut, das bis zu 3.500 nach Bonn das gute Verhältnis zu Moses Hess. Er 3. AZJ, 16.10.1848 Abonnenten zählte, gab in achtzehn Jahren fast setzte sich in heftige Gegnerschaft zu der von Hess 4. Josef Bass, S. 12 achtzig Titel von fünfzig Autoren heraus, 120–135 propagierten Erneuerung des traditionellen Juden- 5. Alfred Ph., S. 11 6. Schreiben an Se. Excellenz den Mi- Druckbögen pro Jahr. Darunter finden sich auch tums und der Wiederherstellung der jüdischen Na- nister der geistlichen und Unterrichts- bekannt gewordene Werke wie die Geschichte der tionalität, woraufhin Hess ihn als „edlen Preußen Angelegenheiten Herrn v. Bethmann- Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart israelitischer Konfession“ abtat. Hollweg, Magdeburg, 7. März, in: AZJ, von (die letzten Lieferungen nicht Zar Nikolaus I. zeichnete Philippson für seine 18.3.1862 mehr, weil sich Philippson und Graetz über die Bibelübersetzung und „Verdienste um die Bildung 7. AZJ, 17.1.1871 Auffassung der Frühgeschichte zerstritten); Ge- seiner Glaubensgenosssen“ aus, und auch Alexan- 8. Beilage zur AZJ, 1.4.1887 schichte des Judentums und seiner Sekten von Isaak der I. wusste ihn zu schätzen, was den Bonner 9. Brief an Phöbus Ph., Ludwig Philipp- Markus Jost, viele Schriften von Philippson selbst, Oberbürgermeister Doetsch auf die Idee brachte, son Family Collection im LBI Archiv (online) aber auch von – Jellinek hatte ihn überredet – Ab- Philippson müsste doch ebenso eine deutsche Aus- 10. 1867 an Martin Ph., Family Collec- raham Geiger. Philippson veröffentlichte in der zeichnung bekommen, wollte man denn dem Zaren tion Reihe Israelitische Volksbibliothek auch literarische nachstehen ? So wurde Philippson 1878 der Preußi- 11. CVZ, 6.5.1937 Texte. Er sah in dieser Gattung ein Medium zur sche Rote Adlerorden IV. Klasse verliehen. 12. Family Collection Verbreitung jüdischen Wissens und wollte damit Und auch innerjüdisch wurde ihm manche 13. AZJ, 5.5.1874 auch das wachsende Unterhaltungsbedürfnis seiner Würdigung zuteil: Zu seinem siebzigsten Geburts- 14. AZJ, 10.7.1854 Leser befriedigen. tag rief der Deutsch-israelitische Gemeindebund, zu 15. AZJ, 10.7.1854 16. AZJ, 5.5.1874 Nach knapp zwanzig Jahren jedoch, am 7. Juli dessen Gründern er ja gehört hatte, die Philippson- 17. AZJ, 19.02.1855 1874, gab Philippson in der AZJ die Schließung des Stiftung für in Not geratene Gemeindebeamten ins 18 Vgl. Elbogen, S. 16ff. Instituts bekannt und führte das nicht nur auf wirt- Leben. In Baltimore 1869 und Bonn 1935 entstan- Zitate in den Bildunterschriften: schaftliche Gründe zurück: zwar vermochte der den Ludwig-Philippson-Logen des B'nai B'rith. Und AZJ 1.12.1887 sowie A. Philippson, Abonnementspreis die verdoppelten Herstellungs- als 1872 endlich die Hochschule für die Wissen- S. 13, 14, 20, 51 und Versandkosten nicht mehr zu decken, und war schaft des Judentums in Berlin eröffnet werden die Abonnentenzahl auf (immerhin noch) 1400 ge- konnte, da hielt Philippson, der so lange für diese Quellen sunken, das eigentliche Problem sah er jedoch in Idee gekämpft hatte, den Festvortrag. Andreas Gotzmann: Die Brillanz des der „wachsenden Unfruchtbarkeit seitens jüdischer Philippson setzte sich eindringlich für eine jü- Mittelmaßes. Ludwig Philippsons bür- Autoren“ ! disch-theologische Fakultät an der Universität ein. gerliches Judentum. In: Jüdische Bil- Dies scheiterte nicht zuletzt an dem tiefen religiösen dung und Kultur in Sachsen-Anhalt Eine Würdigung: „Edler Preuße israelitischer Konfession” ? Zwiespalt in den Gemeinden. Es war ein Kultur- von der Aufklärung bis zum National- sozialismus (minima judaica 7). Hg. v. Philippsons Leistungen mangelte es nicht an Kriti- kampf auszutragen zwischen der Religionsausübung G. Veltri und Ch. Wiese. Berlin 2009. kern. Gleich nach Gründung der AZJ urteilte Abra- in hergebrachter Form und den Ansprüchen der S. 147–174 ham Geiger, sie sei ohne Richtung, gefällig und Zeit: Geiger rief zur Reform, zu einer Umwertung : Wie ich zum Geo- oberflächlich, wolle „mehr befriedigen als anre- aller Werte auf, Samson Raphael Hirsch hingegen graphen wurde. Aufgezeichnet im gen“. An M. A. Stern schrieb er 1839: „Ph. ist an- forderte Erhaltung der Überlieferung in vollem Um- Konzentrationslager Theresienstadt maßend wie ein Zeitungsschreiber, wie einer von fang. Der heftige Streit ließ ein Schisma befürchten. zwischen 1942 und 1945. Hg. v. H. den belletristischen Allerweltswissern“, ihm fehle Philippson wählte in der Krisis seinen eigenen Weg, Böhme und A. Mehmel. Bonn 2000. „die Tüchtigkeit und Reinheit der Gesinnung“. Gei- den des geschichtlichen Judentums. Wesentlich war Erik Lindner: Presse und Obrigkeit. Trumah 1992. S 175–187 ger warf Philippson auch vor, über seine Kontrover- für ihn: die ewigen Lehren in der geschichtlichen Karl Gutzmer: Die Philippsons in Bonn. se mit dem orthodoxen Rabbiner Tiktin in Breslau Entwicklung zu erhalten. Als „historischer Israelit“ Deutsch-jüdische Schicksalslinien nicht ausreichend und nicht objektiv in der AZJ zu hielt er fest an der Tradition des einheitlichen Ju- 1862–1980. Bonn 1991. berichten, durch die er ohnehin einen zu großen dentums, auch dem orthodoxen Judentum versagte Hans O. Horch: Allgemeine Zeitung Einfluss auf die Meinungsbildung habe. Zudem ha- er seine Anerkennung nicht. Nicht Reform, sondern des Judentums. Auswahl-Bibliogra- be er sich Geigers Ideen, der Gründung eines Insti- Regeneration lautete seine Parole.18 phie. In: Auf der Suche nach der jü- tuts für Literatur und einer jüdisch-theologischen Neben seinem Engagement in den kontroversen dischen Erzählliteratur. Frankfurt/M. Fakultät bemächtigt. Nun, Geiger mag die Ideen zu- Kultus- und Wissenschaftsfragen bleiben seine Ver- 1985. S. 325–446 Johanna Philippson: Ludwig Philipp- erst gehabt haben, doch Philippson wusste sie zu dienste um die deutsch-jüdische Publizistik, sein son und die Allgemeine Zeitung des verwirklichen. Kein Wunder, dass es während der Eintreten für jüdisches Selbstbewusstsein, gesell- Judentums. In: Das Judentum in der Rabbinerversammlungen zu Streitigkeiten zwischen schaftliche Teilhabe und selbstverständliche Gleich- deutschen Umwelt 1800–1850. Hg. ihnen kam. Auch Julius Fürst griff 1842 im Orient berechtigung. Nicht zuletzt ist die AZJ, insbesonde- v. H. Liebeschütz und A. Paucker. Tü- Philippson und die AZJ an: Er sei kein Rabbiner, re auch durch ihre Fülle kleiner und unscheinbarer bingen 1977. S. 243–291 höchstens Rabbiner-Kandidat, er sei des Hebrä- Lokalnachrichten von nah und fern, bis heute eine Ismar Elbogen: Ludwig Philippson. ischen nicht mächtig, könne nicht im Talmud arbei- unverzichtbare Quelle für Historiker der deutsch- Leipzig 1912. ten; „Lächerlichkeit, Arroganz, Wichtigthuerei“ jüdischen Regional- und Lokalgeschichte (online Josef Bass: Ludwig Philippson. MGWJ (1) 1912. S. 1–32 zeichneten ihn aus, die AZJ würde „durch einen po- auf compactmemory). Zuweilen ist eine Notiz darin B. Saphra: Ludwig Philippson (Unsere Er- pulären klatschenden Ton einschläfern“; auch sei es die einzige Spur, die wir von einem Ereignis haben, 6zähler). Ost und West 1904. S. 819–30 unehrenhaft, dass Philippson des Geldes wegen für das heute noch oder wieder interessiert. Italo Svevo zum 150. Geburtstag Vom gar nicht italienischen Umgang mit der malattia (die einmal eine englische war) Bert Sommer

n Triest 1883 geboren zu werden, galt Umberto zugt als bekennender Freigeist mit bürgerlich phil- Denn dieses Schlimme hat doch ISaba, dem anderen, eine Generation jüngeren anthropisch-sozialistischem Einschlag. Die Politik die Schrift, Phaidros, und ist großen Sohn der Stadt, wie eine Geburt anderswo jedoch hielt er (im großen Ganzen, wie auch die darin ganz eigentlich der Male- im Jahr 1850 1. Wer also unter Verzicht auf die un- Religion) aus seinem literarischen Werk heraus. rei ähnlich: Denn auch diese bedachte Gleichsetzung der triestiner mit der mit- Materiell war er in den ersten Lebensjahren be- stellt ihre Ausgeburten hin als teleuropäischen Chronologie den 150. Geburtstag scheiden, nach einer Durststrecke jedoch durch an- lebend, wenn man sie aber et- Italo Svevos zum Anlaß nimmt, sich mit den Wur- geheirateten, beträchtlichen Wohlstand rundum was fragt so schweigen sie gar zeln seiner Modernität auseinanderzusetzen – Sve- sorgenfrei abgesichert. Sein Instrument war die ehrwürdig still. Ebenso auch die vo war der älteste einer Reihe von Autoren, die klassische Violine, die ihm über emotionale Krisen, Schriften. nach landläufiger Ansicht den modernen Roman auch über den selbstauferlegten Verzicht auf das Platon begründeten 2 – darf also noch um einiges mehr er- Schreiben, hinweghelfen sollte. Er starb als katho- staunen: Wie konnte ein 1861 im k. k. Triest gebo- lischer Industrieller, der auf dem jüdischen3 Fried- Tatsächlich konnte ich ja sagen, rener Autor – nach Sabas Zählung entspräche das hof Triests bestattet wurde. er war zwar unglücklich in sei- dem Jahr 1828 – zu einem derart in die Zukunft Wir blicken also auf die Konstruktion einer für nem Unglück, aber er wäre weisenden Lebensroman finden? die Jahrhundertschwelle nicht untypischen, noch noch unglücklicher gewesen, Aron Hector Schmitz, so der Geburtsname Sve- weit ins 20. Jahrhundert hineinweisenden Existenz, hätte er über Nacht sein Un- vos, wurde zum Intellektuellen in permanenter Le- wenn wir von – ja von wem sprechen wir? Von Ze- glück verloren, wäre es ihm von benskrise mit einem frühen Hang zur Bühne. Erst no Cosini, alias Emilio Brentani alias Alfonso Nitti? einem Augenblick auf den ande- auf dem Umweg über den Journalismus erkennt er Oder von ihrem Schöpfer Italo Svevo, der sich in ren weggenommen worden, was die Prosa als sein eigentliches Metier. Sein künstle- ihnen mit reichlicher Selbststilisierung nachzeich- wiederum ein Beweis dafür wä- risches Werk dient ihm nun unverhohlen zur Be- nete? Und ja auch nicht Italo Svevo hieß, ist dieser re, daß er im Grunde gar nicht schäftigung mit sich selbst. Ausgezeichnet mit ego- Kunstname doch nur das vierte der Pseudonyme unglücklich gewesen ist, son- zentrischem Überlegenheitsgefühl, das er mit sei- des schreibenden Bankangestellten und Fabrikdi- dern glücklich und sei es durch nen kulturellen Ambitionen noch untermauerte, rektors Ettore Schmitz. Über seinen letzten Roman, und mit seinem Unglück, dach- sah er sich doch zugleich auch als lebensuntüchtig, die „Bekenntnisse des Zeno Cosini“, sagte er in te ich. Viele sind ja, weil sie tief ja als krank. Und so kreisen seine Gedanken wie die einem berühmten Brief an Eugenio Montale: „Es im Unglück stecken, im Grunde seiner Helden, zunehmend neurotisch unter bereits ist eine Autobiographie, und nicht die meine.“4 Sei- glücklich, dachte ich und ich gelichtetem Haupthaar, unverändert um sich selbst, ne Arbeitstechnik beschreibt er im Anschluss daran sagte mir, daß Wertheimer um das Altern und den Tod, aber auch um schöne so: „Wenn man mich allein ließ, suchte ich mich da- wahrscheinlich tatsächlich Frauen – die Alliancen des Lebens werden jedoch von zu überzeugen, selbst Zeno zu sein. Ich lief wie glücklich gewesen ist, weil er stets von der Realität, nicht aber von den Bemü- er, rauchte wie er und fischte aus meiner Vergan- sich seines Unglücks fortwäh- hungen um sie bestimmt. Seiner Selbsteinschätzung genheit alle seine Geschichten, die den meinen nur rend bewußt gewesen ist, sich begegnete er mit einem in klinischer Hinsicht aller- deshalb ähneln können, weil jede Erinnerung eige- an seinem Unglück erfreuen dings eher folgenlosen Interesse an der „psicanali- ner Erlebnisse immer nur eine Rekonstruktion ist, konnte. si“. Sie war in seinen Kreisen längst Mode gewor- die leicht zur völligen Neukonstruktion werden Th. Bernhard, den, in einer Hafenstadt – einzig die Stadt ist sein kann, sobald es gelingt, sie in eine neue Atmosphä- Der Untergeher Revier – die die höchste Selbstmordrate Europas re zu tauchen.“ aufzuweisen hatte, die als Schmelztiegel verschie- Völlig neu erfinden mussten sich diese Kunstfi- denster Einwanderergruppen ihre Bevölkerungs- guren allerdings nicht. Längst waren auf die Bühne zahl zu Lebzeiten des Autors verdoppelte, und ih- der europäischen Tragicommedia dell'Arte an die rem Land zum Einfallstor und Sprungbrett der Stelle der „Zanni“ und ihrer Abkömmlinge die neu- Lehren Sigmund Freuds wurde. en, ihren Trieben nicht mehr unbefangen folgenden Seine erste, nur adoptierte Hochsprache, in der Figuren der „inetti“, „contemplativi“ und „malati“ er jedoch nie schreiben wird, ist Deutsch. Bereits getreten. Die unmittelbaren Vorläufer der moder- sein Elternhaus, in dem man unter sich einen mit nen „inetti“, Antihelden allesamt, da eben „untaug- der Zeit geradezu international gewordenen loka- lich“ gegenüber dem Leben, waren vor allem die len Dialekt sprach, hielt es bürgerlich ruhig mit der deutschen Sonderlinge und ihre russischen Ab- Religion. In Fragen wie Schulbesuch oder Verheira- kömmlinge, deren Ahnenreihe über die svevia- tung blieb man noch wie selbstverständlich „unter nischen Leitsterne Jean Paul und Schopenhauer ins sich“. Demgegenüber äußerte er selbst sich bevor- Dunkel der melancolia führt. In einer merkwür- 7 digen Mischung aus Je mehr Zeit daraufhin vergeht, desto schwieriger Weltläufigkeit und Pro- ‚kommt man damit zurecht‘ und desto größer er- vinzialismus suchte Et- scheint die Verantwortung. Die Belastung des eige- tore Schmitz, hier ganz nen Gewissens steigt mit zunehmendem zeitlichen Triestiner, Modernität in Abstand. Damit ist ein weiteres Kriterium genannt, den deutschen Klassi- das Schuldgefühl“7 – das Gefühl einer Schuld ge- kern. Seine Begeisterung genüber dem Leben, also der Schuld, ihm nicht tä- für deutsche, aber auch tig gerecht zu werden. Überdies fordert die von den russische Schriftsteller, nicht nur lesenden, sondern auch schreibenden in- die er gleichfalls in deut- etti verlangte Medizin, also die Abfassung des Ro- scher Sprache las, ist gut mans als erlösende, ins Leben zurückführende Tat, belegt. Ob er sich dabei zugleich das Opfer eben des Lebens, das sie retten auch mit Henri-Frédéric helfen soll8, die Medizin verstärkt damit immer Amiel beschäftigt hatte, weiter die Krankheit. dessen 1884 postum ver- Ein aufschlussreiches Gedankenspiel entwickelt öffentlichten Tagebuch- der Autor, der einmal Italo Svevo werden sollte – Italo Svevo 1892, mit den auszüge in Europa be- derzeit nennt er sich noch Samigli – in seiner 1890 Druckfahnen des „Inetto“, trächtliches Aufsehen erregten? „Meine Sünde ist in Fortsetzungen erschienenen Novelle „L'assassi- umbenannt in „Una vita“ die Entmutigung, mein Unglück die Unentschlos- nio di via Belpoggio“, die bereits eine Fülle später senheit, meine Göttin die Freiheit, meine Fessel der im Werk wiederkehrender Motive enthält. Der Zweifel, mein ewiger Fehler das Aufschieben, mein Mörder, als poco energico, inerte, ausdrücklich zur Idol die unfruchtbare Beschaulichkeit, mein üb- Familie der Antihelden svevianischer Ausprägung licher Irrtum das Verkennen der Gelegenheit ...“, gehörig, hat ganz gegen diese seine Veranlagung, schrieb Amiel, „le plus grand liseur de Genève“, in quasi aus Versehen, seine Tat, und zwar gleich die sein Journal intime, dem monumentalsten Zeugnis schrecklichste aller Taten begangen: seine Gedan- der hier beschriebenen Haltung, die Welt im Ich ken kreisen nun aber nicht um die moralische unter der zitierten Perspektive reflektiert, ohne Schuld, hat er den Mord doch praktisch als ein an- dass es dem Autor aus seiner Sicht gelang, sich zum derer begangen, sondern allein um die Flucht. Auf literarischen Werk durchzuringen. Übrigens sah dieser widerfahren ihm all die gedanklichen Ver- sich auch er, der französisch schreibende, gelegent- strickungen, die sich von ihrem gewöhnlichen lich „deutsch bis ins Mark“5. Zweck – der Anleitung zum Handeln – immer wei- Menschlich betrachtet wird den meisten von ter entfernen und die gerade dadurch für das Perso- uns die traurige Gestalt 6 des an seiner Untätigkeit nal Svevos ach so charakteristisch sind. Je mehr leidenden inetto heute sympathischer sein als der sich Giorgio, Antiheld der Novelle, nun darum be- gleichzeitig in Mode kommende, später auch zur müht, desto weniger gelingt es ihm, „natürlich“ zu außerliterarischen Tat drängende superuomo, der erscheinen; sogar normales Gehen wird ihm stre- anfangs auch als protestierender Gegenentwurf zu ckenweise unmöglich. Er wird unweigerlich in die jenem ersteren zu sehen ist. Denn der psycholo- Hände der Häscher fallen. Ein Zuviel an Reflexion gische Mechanismus der inettudine ist für den verkehrt die Flucht ins Gegenteil, ungewollt wird Vielleser fatal – in der Regel lesen die inetti zu viel, sie zur Selbstauslieferung. In ihrer Düsternis musste sehen ihr Leiden oft auch darin begründet – führt die Novelle auf den ersten Blick dostojewskisch doch zuviel Möglichkeitssinn nicht nur zum Verlust oder kafkaesk anmuten, ist so aber nicht gemeint: der Wirklichkeit, sondern zum schmerzhaft emp- Da der Mörder im Moment der Tat nicht nachge- fundenen Stillstand des Ichs, bis hin zur Selbstauf- dacht hat, Schuld aber nur aus Nachdenken entste- gabe. Der Held von Svevos erstem Roman der inet- hen kann, stellt es sich für Giorgios Selbstmitleid to-Trilogie, bringt sich am Ende tatsächlich noch schnell heraus, dass die Zeitungen, seine Mit- selbst um: „Kommt es nicht gleich zu einem ins- menschen überhaupt, ihm Unrecht tun, eher noch tinktiven Agieren bzw. Handeln und zu einer er- ist der Ermordete für die Tat verantwortlich. Eine folgreichen Auseinandersetzung mit einer gege- undeutliche Schuld fühlt er höchstens gegenüber 8 benen Situation, steigt der Bewältigungsaufwand. den seit langem schon enttäuschten Hoffnungen, die seine Mutter einst in ihn setzte: Wen wundert's, zu verstehen: Der Autor entwirft in unablässiger dass der Mörder, um sich ein doppeltes Netz zu Folge Geschehnisse um eine als „krank“ beschrie- spinnen, das dann aber doch nur das seiner Hä- bene, wohl auch erlebte Seelenkonstellation herum, scher wird – seine Tat nachträglich als Abbau eben die nicht im Roman, sondern höchstens durch ihre dieser Schuld zu motivieren sucht. Die Leiden des Fixierung im Akt des Schreibens geheilt werden Täters nach der Tat waren zwar unerträglich, aber soll. nicht an die Schuld, sondern an die inettitudine ge- Es konnte nun allerdings nicht ausbleiben, dass genüber ihren Konsequenzen geknüpft! die unveränderliche persönliche Verfasstheit der Die Mordgedanken bleiben, bei zunehmend un- Helden Svevos auf die jüdischen Wurzeln Ettore tergeordneter Bedeutung, in den drei Romanen Schmitz' zurückgeführt wurde: im Sinne des Autors Svevos erhalten, zur brachialen Tat selbst aber war dies allerdings nicht. Schmitz hat zu seiner Per- kommt es immer seltener. Vorerst bringt sich der son und damit auch zu seiner jüdischen Herkunft Held im ersten, unter dem Titel „L'Inetto“ (Der geradezu auffällig konsequent geschwiegen – dabei Untaugliche), geplanten Roman, erst einmal selbst war vor dem Hintergrund des österreichischen An- ums Leben. Ob wir ihn, Alfonso Nitti, an diesem tisemitismus eine Auseinandersetzung mit jener Punkt mit Werther in eine Reihe stellen, Svevos Ro- schlechterdings nicht möglich. Svevos Helden blei- man gar als parodistische Brechung des Goethe- ben aber Atheisten, die sich höchstens, soweit es schen Plots begreifen dürfen? In einer von überstei- sich um religiöse Bekenntnisse handelt, dem Chris- gerter Egozentrik geprägten Selbsterforschung tentum und nicht etwa dem Judentum entziehen – schließt eine Seele ihr Innerstes auf, um uns an den Schmitz selbst konvertierte 1897 auf äußeren, fa- Verwicklungen einer Liebesgeschichte teilhaben zu miliären Druck, ohne jegliche innere Beteiligung, lassen, die, allzu einseitig betrieben, schließlich das verwand diesen Schritt aber nie. Eine erste Verqui- ihr unangemessen dramatische Ende findet9. Die ckung der svevianischen Antihelden mit der jü- Unfähigkeit zur Kommunikation, die zum unver- dischen Herkunft ihres Schöpfers stammt von Gia- standenen Monolog führt, verbindet die beiden como Debenedetti, dessen Urteil uns insofern kost- Romane. Erst der Leser, nach dem Tod des schrei- bar sein muß, als er, wenn auch deutlich jünger als benden Protagonisten – durch den Selbstmord Schmitz-Svevo, noch von Zeitgeisterfahrungen zeh- wahrlich nicht zum Helden der Tat geworden, han- ren kann, die der späteren Kritik notwendig fehlen delt es sich hier doch unter Auslassung aller mög- müssen. Es bleibt nun allerdings problematisch, lichen gleich um die letzte aller möglichen Taten – dass sich die These vom unterdrückten, aus Schuld- erst der Leser soll dem im Romanhelden umge- gefühlen heraus verschwiegenen, mit weiblicher brachten Autor das Verständnis entgegenbringen, Passivität unwiderrufbar verknüpften Judentum der das diesem so sehr fehlte. Romanhelden Svevos ihrer Natur nach gerade Auch der zweite Roman, „Senilità“ (Greisenal- durch das Fehlen von Belegen im Text selbst be- ter), wollte ein Erziehungsroman sein. Mit der Ab- weist. fassung der Eingangskapitel hielt Svevo seiner Ge- Ob nun aber tatsächlich Weiningers Selbst-, liebten als Protagonistin und zugleich ersten Lese- Frauen- und Judenhaß die Helden Svevos oder gar rin einen Spiegel vor. Aber mit dieser erklärten Ab- das Selbstbewusstsein Ettore Schmitz' attackiert ha- sicht zeichnet er nicht etwa einen Prozess des ben kann? Im Schlüsseljahr 1903 erstmals erschie- Helden nach, wie die lange gebräuchliche deutsche nen, wurde Otto Weiningers „Geschlecht und Cha- Übersetzung des Titels „Ein Mann wird älter“ na- rakter“ zum Bestseller, und in den ersten Jahr- helegt, sondern die fixe psychische Konstellation zehnten des Jahrhunderts war es kaum möglich, eines inetto in den Dreißigern, die in einer wandel- seine Thesen zu ignorieren. Weiningers Theorien baren Welt an ihren Geschicken entlang- und vor- waren aber nicht etwa Auslöser einer neuen Bewe- beidenkt. Hier kann man kaum von einem psycho- gung, sondern nur eine weitere, nun antisemitisch logischen Roman sprechen, wenn man unter Psy- eingefärbte Vulgarisierung und Umwertung eines chologie im wesentlichen die Erforschung der Bil- schon Jahrzehnte andauernden Konflikts um die dung und Verwandlung der Seele verstehen Décadence und ihre romantischen Vorläufer. Aus möchte. Svevos statische Seelen sind auch deshalb der in Jahrzehnten gewachsenen Vertrautheit mit nur eingeschränkt als autobiographische Zeugnisse dieser Diskussion heraus, in der Svevo, noch zu ei- 9 William Blake, Illustration zu Miltons „L’Allegro and il Pen- seroso“ (ca. 1820)

wusstsein gepflegten triestinischen Dialekt. Symp- tomatisch für dessen Stellenwert ist die Szene, in der Zeno Cosini beim Vater um die Hand der Tochter anhalten will und ihn sogleich die Frage verwirrt, ob er auf Triestinisch oder doch eher auf Italienisch den angemessenen Ton treffen wird. So- ner älteren Generation gehörig, für sich ganz offen- weit ist es 1874 für Ettore Schmitz allerdings noch sichtlich elitäres Selbstbewusstsein aus der von ihm lange nicht, er soll erst einmal, so legt es die künf- vielbeschworenen malattia sog10, fiel es ihm nicht tige Karriere als Kaufmann nahe, die deutsche sonderlich schwer, Weiningers Verdrehungen sei- Sprache erlernen; der Vater schickt ihn auf ein In- nerseits zu instrumentalisieren: Im „Zeno“, dem ternat in der Nähe von Würzburg. Doch Svevos dritten der drei Romane Svevos, werden sie dem Verhältnis zur deutschen Sprache bleibt passiv, ihr Gegenspieler des Helden, dem mit Sorge betrachte- unterwirft er sich zwar gern, auch bewundernd – er ten und mit Spott überzogenen Anti-Antihelden, will nun Schriftsteller werden – aber zurück in dem nur vermeintlichen Helden Guido, in den Triest verfasst er seine ersten Kritiken und seine ir- Mund gelegt, während Zeno Cosini sie sich nicht redentistischen Artikel auf Italienisch. Diese zweite so recht zu Herzen nehmen kann: als Vademecum Hochsprache, die er nach eigenem Bekenntnis, vor zwar, auf Frauenjagd, sollen sie ihm angeblich nut- allem aber in den Augen einer verständnislosen Kri- zen können – was an dieser Stelle allerdings höchs- tik ebenfalls nie vollkommen beherrschte, erlaubte tens als ein weiterer witziger Beleg des Auseinan- ihm Abstand und Auflehnung, während er sich zur derfallens von Theorie und Praxis im Leben des sei- Lektüre italienischer Literatur geradezu nötigen ne Phantasien in einer sanften wie steten Erotoma- lassen wollte. In dieser Konstellation erscheint es nie beschäftigenden Protagonisten gelten kann. Zur auf den ersten Blick folgerichtig, wenn der Vielle- im letzten Roman glücklich gefundenen Bewälti- ser Svevo auch seine Romane und Novellen in der gungsstrategie gegenüber der seit nunmehr schon Sprache der Aktion, der Auflehnung und Befreiung Jahrzehnten unverändert prekären Ausgangssituati- verfasst. Nur dass die irredentisti mit ihrem Heros on der svevianischen Protagonisten gehört es im- Carducci – deutsche Leser kennen ihn als Lehrer merhin, auf die eine Scheibe zu zielen und auf einer Settembrinis – sprachlich (und wohl auch politisch) anderen ins Schwarze zu treffen11. im 19. Jahrhundert gefangen blieben: Svevo erspar- Die angetraute Frau des Titelhelden, Augusta, te sich auch diesen Widerspruch nicht, um ihn we- wird im Spiel der fragwürdigen Oppositionen übri- nigstens stilistisch auf eine in Italien bis dahin und gens an ganz anderer Stelle positioniert: als „mora- noch für Jahrzehnte unerhörte Weise zu überwin- lisches Abbild“ von Livia Schmitz verkörpert sie ge- den. genüber dem Ehemann ausdrücklich die unhinter- Die überwältigende Überzahl der inetti bleibt fragbare Gesundheit. unerkannt, und die literarischen Werke, die von ei- Schuldgefühle äußerte Svevo nicht gegenüber nigen unter ihnen geschaffen werden, relativieren seiner Herkunft, allerdings zeit seines Lebens ge- zugleich die tragische Dimension des Charakters genüber der Sprache seiner Kindheit, die ihn, so dieser wenigen Ausnahmen: am Ende wussten sie ja meinte er jedenfalls, fortgesetzt gefangen hielt. Ih- doch, und waren die Hürden noch so hoch, zu rer schroffen Schmucklosigkeit fehlte die Eleganz schreiben, ein Werk zu schaffen, also das Grundü- der weit ausholenden „sintassi germanica“ eines bel wenigstens auf dem Papier zu überwinden! Es Proust – so Svevo selbst mit unverdrossener Bewah- ist auch hier, wie bei so vielen von Svevos schrei- rung seiner deutschen Brille in seinem Profilo auto- benden Kollegen, der Weltkrieg, der die aus dem biografico. Diese seine Sprache war nun aber nicht, 19. Jahrhundert erwachsene Blockade, die Krank- wie in anderen jüdischen Einwanderermilieus, auf heit, überwinden helfen muß. Svevo hatte es zwar das Jiddische der Einwanderer aus Osteuropa zu- bereits zum selbstauferlegten Schreibverbot ge- rückzuführen – die Familie Schmitz verfolgte ihre bracht, konnte dieses aber nun in seinem dritten Familiengeschichte, kaum nachprüfbar, ins Rhei- „Roman“, geschrieben als fiktive, nicht mehr litera- nische zurück. Vielmehr sprach man den unter den risch legitimierte, sondern psychoanalytisch indi- 10 Einheimischen in allen Schichten mit Selbstbe- zierte Lebenserinnerung, endlich aufheben12. Er Triest, Stadtbibliothek, „Hier erwarb Svevo ‚ein wenig italienische Kultur‘“ (Foto: Peter Gaida)

begründet damit die fiktive Autobiographie – man aus offene Klima vor allem der jüdischen Kreise denke etwa an den in Selbstbetrachtungen gefange- Triests liegen einige Zeugnisse vor. Folgt man Gior- nen, ausdrücklich unter seiner „inaction“ leidenden gio Voghera, ließ sich eine ganze Gesellschaft durch Adolphe von Benjamin Constant13 – für die Mo- die Lektüre der Schriften Freuds, besonders auch derne neu. Es ist also nicht der Einfluß der rück- durch das Wirken von dessen Schüler Edoardo wärts gewandten Autoaggression Weiningers, das Weiss in der Stadt, zu einer Teilhabe an den von mit sich selbst ins Unreine gekommene Judentum, Wien ausgehenden Entdeckungen anregen. Dabei das Svevo „modern“ werden ließ: Als Leser zwar verwischten sich die Grenzen zwischen Studium, ebenfalls tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, ver- Therapie und gegenseitiger Beobachtung als aufre- weigert er sich doch den Selbstvergiftungen einer gendes Gesellschaftsspiel beständig. Und auch über in die Décadence mündenden, erst neurotisch, ge- das Verhältnis der Psychoanalyse zu etwaigen jü- legentlich auch psychopathisch gewordenen Vul- dischen Wurzeln weit über die jüdische Autorschaft gärromantik, wie sie noch dem kommenden Jahr- hinaus ist viel, und nicht nur in Triest, spekuliert hundert ihren Stempel aufdrücken sollte, das ihre worden, beginnend mit der Frage nach den Inspira- verdrehten Lehren begierig aufsog. Demgegenüber tionsquellen ihres Entdeckers selbst. Doch auch, ist Svevo seinem unmittelbaren Umfeld mehr ver- wenn es reizvoll erscheint, Freud etwa in einer Li- pflichtet, als ihm lieb sein konnte (schließlich war nie mit der lurianischen Kabbala, dem Chassidis- der der Freiheit zu zahlende Preis, als Schriftsteller mus und Rabbi Nachman von Brazlaw zu sehen, so unbeachtet zu bleiben): das explosionsartig an- wie es Yigal Blumenberg und Andrea Huppke in wachsende, einem kruden Materialismus verschrie- „Jüdische Wurzeln der Psychoanalyse“ (Tübingen bene Triest14 – Svevo schildert nie die Stadt als re- 1997) versuchen, kranken solche und andere An- alen Ort – hält sich dem ästhetischen Idealismus sätze zumindest für den Historiker an derselben fern und lädt so, dem Intellektuellen eine Stadt oh- Schwäche wie die Versuche, das Judentum Svevos ne Väter, zum mutigen Neuanfang ein. für den Charakter seines Werk verantwortlich zu Es verwundert daher nicht, wenn Svevo auch machen. Wo sich strukturelle Übereinstimmungen der Psychoanalyse offen und ihrem Lehrgebäude mit spezifischen jahrhunderte- oder jahrtausendeal- zugleich skeptisch gegenüberstand. Zeit seines Le- ten Texten aufdecken lassen, fehlt der Nachweis, bens lehnte er sie in allen überlieferten Mittei- dass diese dem Autor bekannt waren oder er gar lungen gegenüber Dritten als System und erst recht durch ihr Studium geprägt worden wäre. Wo hin- als Therapie ab, äußerte sich kritisch bis herablas- gegen der nächsten Versuchung, der Aufdeckung send – und konnte doch von ihr nicht lassen. Die eines vermeintlich überzeitlichen Kontinuums, Beschäftigung mit dem Unbewussten und seiner Ar- glücklich widerstanden wurde und eine spezifische beit im Verborgenen ist nicht nur literarisch, sie ist zeitgebundene Gruppenmentalität synthetisiert auch an die Begleitung und Beobachtung von Fäl- wird, mangelt es dann an der Bewahrung der per- len aus dem Bekannten- und Familienkreis ge- sönlichen, nicht mehr aus der Gruppe zu erklären- knüpft. Svevo gibt uns nicht die Lehren der Psycho- den Voraussetzungen des Autors, der nur noch als analyse, er schreibt aber immer neue autobiogra- Repräsentant gesehen wird. phisch anmutende Texte, aus denen viele ihrer As- Einfacher wird es, wenn wir den Zeugnissen der pekte ex novo gezogen werden könnten, er er- Autoren selbst folgen. Nicht, dass die Psyche, die in findet Fallbeschreibungen, in denen er die daraus eigener Sache spricht, sich immer auf dem Königs- zu ziehenden Lehren versteckt, zugleich aber auch weg zur Erkenntnis bewegte. Aus den Antworten verrät. Die schriftstellerische Arbeit, aus der iro- von beiden, von Freud und von Svevo, spricht al- nisch gebrochenen Lehre die empirische Welt her- lerdings eine Bedachtheit, die hier interessieren auszumodellieren, müssen wir uns wohl tatsächlich muß. Beide äußern sich dabei gewissermaßen en so vorstellen, wie Svevo sie im zitierten Brief an aparté, ohne ihre Selbsteinschätzung durch promi- Montale beschrieb, wobei nur noch zu ergänzen nentere Plazierung in ihre offizielle Autobiographie wäre, daß der seinen Helden mimende Autor seine einzufädeln. Freud hatte sich gegenüber dem Wie- eigenen Erinnerungen auch mit dem Wissen um die ner B'nai B'rith anläßlich der ihm 1926 ausgerichte- Freudsche Lehre umfärbt. ten Geburtstagsfeier so ausgedrückt: „Weil ich Jude Über das der Psychoanalyse gegenüber so über- war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die 11 andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, te, richtete sich dabei auch gegen das eigene Werk: als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Oppositi- als unverdrossen insistierende Wertschätzung des on zu gehen und auf das Einvernehmen mit der Details, verbunden mit einer erstaunlichen Fähig- 'kompakten Majorität' zu verzichten“. Mit anderen keit zur Distanz in psychischen Angelegenheiten, Worten: die spezifische Moral der christlichen auch gegen deren das eigene Bewußtsein manipu- Mehrheitsgesellschaft sucht die Umwälzung ihrer lierenden Tendenz. Die Distanz zu sich selbst weiß Vorstellungen von der Sexualität mit Nachdruck zu Svevo schließlich auch gegen sein eigenes Übel zu verhindern, aber wer sich schon zu den Außensei- instrumentalisieren, seine sanfte Waffe war aller- tern zählt, der weiß sich eher dazu in Opposition dings nicht die Analyse, sondern der Humor – mit zu setzen. Svevo fasst den Ursprung dieser Haltung Erfolg. Als letzter Streich der lokalen Chronologie im privaten Gespräch so zusammen: „Nicht die kann die Aufstellung einer Büste Svevos im Stadt- Rasse, das Leben macht den Juden“ 15. park des inzwischen italienisch gewordenen Triest Es ist nicht nur die Nikotinsucht, die Freud mit im Jahr 1931 gelten, im Jahr IX der era fascista – Svevo verbindet 16. Die Skepsis als geistige Hal- doch war die triestiner Zeitrechnung hier auf ein- tung, die Svevo in Freuds Werk wiederfinden konn- mal ihrer Zeit weit voraus.

1. Nach: Italo Svevo, Romanzi e „Continuazioni“, Mailand 2004 dertbeginn und noch lange darüber dieses hinaus nicht etwa mit 2. Den sie alle vereinenden Bruch im Selbstbewusstsein moderner Neid, sondern mit Herablassung – am prominentesten in Thomas Romanhelden zeichnen, ausgehend von einer hegelianischen Kate- Manns „Zauberberg“. gorisierung, Titel der vergleichenden Literaturwissenschaft zum 11. Die glückliche Anwendung des Bildes nach François Bondy, Rag- „unglücklichen Bewußtsein“ nach, etwa Philippe Chardin, Le roman ni Maria Gschwend, Italo Svevo, Reinbek bei Hamburg 1975. – Eine de la conscience malheureuse: Svevo wird hier zum ältesten Autor differenziertere Rückweisung der bis in neuere Zeit zu verfol- einer demselben Zeitgeist verpflichteten Reihe, die dann über Gorki genden Versuche, Svevo zu weiningerisieren, bei Giuliana Minghel- und Proust, Mann und Musil, bis Aragon gezogen wird (1998). li, In the Shadow of the Mammoth, Toronto 2002. 3. So jedenfalls unter Berufung auf P. N. Furbank, Elizabeth Schäch- 12. Enrico Ghidetti, Italo Svevo. La coscienza di un borghese triesti- ter, Origin and Identity. Essays on Svevo and Trieste, Leeds 2000. no, Rom 1992 (dt.: Ein Bürger aus Triest, 2001) 4. Goethe drückte es seinerseits so aus: „er sah ... sein Bild außer 13. Auch Constant stammte aus dem schon erwähnten Milieu: er sich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweites Selbst, sondern wie im schloß sich in Lausanne der von ihm selbst als „pietistisch“ bezeich- Portrait, ein anderes Selbst“, Lehrjahre VIII,1. neten Sekte der Âmes Intérieures an, denen zahlreiche Familien- 5. Journal vom 25.7.1852; wir wissen nur sehr wenig über die zer- mitglieder angehörten: Cécile, Kap. VI, Œuvres, Paris 1957. In jun- störte und zerstreute Bibliothek Svevos, auch wenn im Oktober gen Jahren las er „mit lebenslänglichen Folgen“ bis zu zehn Stun- 2011 eine Ausstellung mit überraschenden und auch für unseren den am Tag (Le Cahier rouge, ebd.). Zusammenhang interessanten Neufunden stattfinden konnte: ht- 14. Giorgio Voghera, Gli anni della psicanalisi, Pordenone 1980, hält tp://ilpiccolo.gelocal.it/cronaca/2011/10/02news/trieste-rispuntano- sich ansonsten, selbst ein Sohn der „città 'bastarda'“ als wohl letzter i-libri-perduti-di-italo-svevo-1.848722. Nachkömmling eines jüdischen Goldenen Zeitalters der triestiner Li- 6. Kein Zufall, dass der Begründer des modernen Romans von teratur, der modischen und doch beklagenswert naiven Ineinsset- einem Vielleser berichtet, dem es auf durchaus komische Weise zung von Lokalflair und Buchatmosphäre so fern wie möglich. Dem- nicht mehr gelingt, objektive Wirklichkeit und subjektive Phantasie gegenüber steht eine Literaturwissenschaft, die die Mythenbildung zur Deckung zu bringen; das Handeln war ihm aber noch nicht ab- nicht ihrem Gegenstand überlassen wollte und die Stilisierung handen gekommen. Zur Charakterisierung: Herman Meyer, Der Triests zu einem Klein-Prag bevorzugt. Wir staunen allerdings über Sonderling in der deutschen Dichtung, 1984 die Verknüpfung von Literatur und genius loci, wenn eine Stadt der- 7. Christian Gerth, Das Phänomen der inettitudine in der italie- art unterschiedliche Autoren wie Italo Svevo und Theodor Däubler nischen Erzählliteratur des frühen 20. Jahrhunderts, Diss. Göttingen hervorbringen kann – auch der ein zweisprachiger Kaufmannssohn, 2008 und sein Vater ein wirklicher „svevo“, Schwabe, aus Augsburg. 8. Jean Starobinski in calvinistischer Interpretation der Melancholie 15. so Ghidetti. (dt.: Geschichte der Melancholiebehandlung, 2011) 16. Glücklicherweise sind die Herausgeber der Werke Freuds noch 9. Werthers Geschichte wird aufgeschrieben, um daraus zu lernen nicht, wie im Falle Svevos, auf die Idee gekommen, die Umschläge – dahinter ist die Tradition der pietistischen Erweckungsschriften zu seiner Buchausgaben oder von Kommentaren dazu mit Zigarren- erkennen, als welche die in ihren Kreisen zirkulierenden Tagebü- kisten oder gefüllten Aschenbechern zu zieren. – Der Blick auf cher der Innenschau zu gelten haben. Freud hier ist Peter Gay verpflichtet: Freud, Juden und andere Deut- 10. Die Gesunden, und zwar gerade ihrer ordinären geradlinigen sche (Hamburg 1986); dort zu Freuds Verwurzelung in der deut- Gesundheit halber, betrachtet der Kranke nicht erst seit Jahrhun- schen Literatur.

12 Buchgestöber

Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf vollständigen Auslöschung der Juden in diesem his- Systematisch angelegt, voller Information über die torischen Grenz -und Vielvölkerland sind die Fried- Schulen, ihre Lehrer und Lehrerinnen. Beginnend höfe Denk- und Mahnmäler. Sie zu erkunden und mit einem historischen Abriss über den politischen diese Region zu bereisen, dazu will der Band nicht Kontext und zur Entwicklung der Institution, zuletzt den Leser und Reisenden einladen. Er ver- Standorte (39 Schulen an 36 Orten), schulische steht sich – so der Verfasser im Vorwort – aus- Einrichtungen, Gründungen und Schließungen. drücklich auch als Zeichen „gegen das Vergessen Simon Geissbühler: Jüdische Nach 14 Kategorien befragt und geordnet, bie- des jüdischen Lebens in Rumänien und in der Ukra- Friedhöfe der Bukowina. tet das Buch zahllose interessante Einzelheiten und ine und gegen das Vergessen des Holocaust, der Bukarest: Noi Media Print. 112 bildet ein wichtiges Nachschlagewerk, zuweilen ist sehr wohl auch eine rumänische und ukrainische Seiten. 109 Abbildungen. es auch ein Lesebuch. Es enthält überdies ein Ver- Realität ist“. jr Gebunden. 69,50 Lei. zeichnis der Fibeln (Schulbücher waren oft Man- gelware ...), eine Gehaltstabelle, die allerdings kei- „… die Welt mein Vaterland“ ne Vergleiche mit den Lebenskosten zulässt, wenn „Der Bericht dieses tätigen Lebens ist spannend wie sie auch zeigt, wie miserabel oft die Gehälter wa- der bewegteste Roman.“ Mit diesen Worten wurde Ende 1933 von einem niederländischen Exilverlag Gisela Miller-Kipp: Zwischen Kaiserbild und Ernst Tollers Autobiographie angekündigt. Ernst Palästinakarte. Die Jüdische Volksschule im Toller (1893–1939), der aus einer deutsch-jü- Regierungsbezirk Düsseldorf (1815–1945). dischen Kaufmannsfamilie in der preußischen Pro- Archive, Dokumente und Geschichte. vinz Posen stammte, war 1914 begeisterter Kriegs- Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2010. 449 Sei- freiwilliger. Die Kriegserlebnisse an der Westfront Ernst Toller. Eine Jugend in ten. Euro 59,90. ISBN 978-3-412-20527-0. machten ihn zum Pazifisten. 1933 gehörte er zu Deutschland. Herausgegeben den ersten Ausgebürgerten. Im Exil hatte der und kommentiert von Wolf- Schriftsteller es zunächst erneut zu internationalem gang Frühwald. 470 Seiten. ren. Die Zusammenfassung wertet die Datenerhe- Ansehen gebracht. Später resignierte er vor der Un- 25 Abb. Stuttgart: Reclam bung aus und gliedert Zeiträume, innerhalb derer einigkeit der deutschen Emigranten („ein wüster 2011. 28,95 Euro. generelle Aussagen möglich sind: 1815–47; 1847– Haufen aus zufällig Verstoßenen, darunter vielen ISBN 978-3-15-0101808-6. 72; 1872–80; 1880–1920; 1920–33; 1933–37/38– jüdisch verhinderten Nazis …“). 1939 nahm er sich 1942. Ein Tafelteil enthält 12 Bild- und 15 Textdo- in New York das Leben. „Eine Jugend in Deutsch- kumente von 1831 bis 1941. Das Ganze ist ein land“ liegt jetzt in einer von Wolfgang Frühwald, hochwichtiger, lebendig geschriebener Beitrag zur einem Kenner der Exilliteratur, herausgegebenen noch kaum beackerten Erforschung der kargen Neuausgabe vor. Sie ist mehr als ein bloßer Nach- Welt der jüdischen Volksschule und ihrer Lehrer druck des Lebensberichts von Toller, der für sich al- und ihrer Schülerinnen und Schüler. lein – auch 80 Jahre nach seinem Erscheinen – Katrin Nele Jansen nichts von seiner Prägnanz und Eindringlichkeit eingebüßt hat. Hinzu kommt der Anhang, der rund Stille Orte der Erinnerung die Hälfte der Ausgabe ausmacht, mit einer aus- Am Anfang stand das Staunen des Autors über zwei führlichen Kommentierung und einem kommentie- nahezu unbekannte Zeugnisse der blühenden jü- renden Personenverzeichnis. Beides erklärt die his- dischen Vergangenheit der Bukowina: Die Synago- torischen Zusammenhänge und die auftretenden ge in Radautz, bis zum Beginn der Deportationen Personen und erschließt so dem heutigen Leser 1941 eine der größten jüdischen Gemeinden in der dieses nicht nur zeitgeschichtlich bedeutsame Werk Bukowina, und der jüdische Friedhof von Siret. An- der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. jr schließend machte sich der Schweizer Diplomat auf die Suche nach jüdischen Friedhöfen in den weni- Vergessener Chronist ger bekannten Regionen außerhalb der städtischen 40 Jahre nach seinem Tod erfährt das fotografische Zentren der Bukowina. Daraus ist ein einzigartiger Werk von Leo Rosenthal (1884–1969) in Ausstel- Bildband entstanden, der eine Auswahl von insge- lungen und mit dem vorliegenden Bildband eine be- samt 15 Friedhöfen mit ihren oftmals besonders eindruckende Würdigung. Der aus Riga stammende kunstvollen Grabsteinen präsentiert. Nach der fast Jurist war von 1920 bis 1933 in Berlin Gerichtsre- 13 porter und Gerichtsfotograf des Vorwärts. Ihn faszi- blik und sind somit eine bedeutende zeitgeschicht- nierte nicht nur das Geschehen in den Berliner Ge- liche Dokumentation. Zugleich führen sie uns den richtssälen, offensichtlich auch das verbotene Foto- Verlust an Wissen und Kultur vor Augen, ganz abge- grafieren in ihnen. Die Gerichtsfotografie steht auch sehen von menschlichem Leid, das Deutschland im Mittelpunkt des Bildbandes, der daneben in zwei durch Verfolgung, Vertreibung und Ermordung ver- Textbeiträgen – neben einem biografischen Teil – übt und erlitten hat. jr Rosenthals Werk in die Geschichte der Gerichtsfo- tografie einordnet. Nach 1933 gerieten Rosenthal Impressum und sein Werk in Vergessenheit. Der Sozialdemokrat Leo Rosenthal. Ein Chronist in der Weimarer und Jude wurde ins Exil getrieben und gelangte Republik. Fotografien 1926–1933. Hg: Lan- Herausgeber desarchiv und Rechtsanwaltskammer Ber- Salomon Ludwig Steinheim-Institut 1942 von Marseille aus in die USA. In New York ar- für deutsch-jüdische Geschichte beitete er als freiberuflicher Fotograf bei den Verein- lin. Mit Texten v. B. Welzing-Bräutigam, J. an der Universität Duisburg-Essen, ten Nationen. Ein Großteil von Rosenthals Berliner Frecot und B. Weise. 160 Seiten. 99 Tafeln. Rabbinerhaus Essen Gerichtsfotografien gelangte noch vor seinem Tod 24 Abb. München: Schirmer/Mosel 2011. ISSN 29,80 Euro. ISBN 978-3-8296-0564-9. 1436–1213 in den Besitz des Landesarchivs Berlin. Sie zeigen Redaktion den Justizalltag im Rechtsstaat der Weimarer Repu- Prof. Dr. Michael Brocke Dipl.-Soz.-Wiss. Harald Lordick Beata Mache M.A., Annette Sommer Redaktions-Assistenz Karina Küser Wird jüdisches Erbe „Welterbe“? Layout Harald Lordick or fast 40 Jahren hat die UNESCO das meinschaft Friedhof und Denkmal-Museum für Se- Postanschrift der Redaktion V„Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und pulkralkultur Kassel, zum Thema „Jüdische Fried- Edmund-Körner-Platz 2 Naturerbes der Welt“ verabschiedet. Damit hat die höfe und Bestattungskultur in Europa“. Im Mittel- 45127 Essen Organisation der Vereinten Nationen für Erzie- punkt stand das Bemühen, den Friedhof Berlin- Telefon +49(0)201-82162900 hung, Wissenschaft und Kultur es sich zur Aufgabe Weissensee (Herbert-Baum-Straße) auf die Vor- Fax gemacht, das kulturelle und natürliche Erbe der schlagsliste zu setzen. Diese 1880 angelegte Stätte, +49(0)201-82162916 Völkergemeinschaft auch auf internationaler Ebene ist mit über 115.000 Grabstellen der flächengrößte E - M a i l zu schützen und die Vertragsstaaten in ihren Bemü- erhaltene jüdische Friedhof in Europa und bietet al- k a l o n y m o s @ s t e i n h e i m - i n s t i t u t . o r g hungen um Erfassung und Erhaltung dieses Erbes lein schon dadurch ein eindrucksvolles Ensemble Internet zu unterstützen. deutsch-jüdischer Sepulkralkultur, mit Mausoleen www.steinheim-institut.de In Deutschland gehören 36 Kultur- und Natur- und Grabtempelchen in fast allen einst modernen Druck güter zu den Welterbestätten, in erster Linie Bau- Stilrichtungen als ein Ausdruck des Selbstbewusst- Brendow Printmedien 47443 Moers denkmäler, von den prähistorischen Pfahlbauten seins und der Finanzkraft des großstädtischen Bür- Versand am Bodensee über den Obergermanisch-Raetischen gertums neben schlicht und nüchtern gestalteten Vierteljährlich im Postzeitungsdienst Limes und den Kölner Dom bis hin zur Zeche Zoll- Reihengrabstätten. Aber auch seine garten- und we- kostenlos für unsere Leser verein in Essen. Es ist auffällig, dass bislang keine gebauliche Grundstruktur, der Bau- und Baumbe- Spendenkonto jüdischen Kulturgüter benannt worden sind. Nun stand, ja sogar Flora und Fauna sind von Bedeu- Kt.-Nr. 238 000 343 Stadtsparkasse Duisburg aber gibt es drei miteinander konkurrierende Initia- tung. Zudem ist dieser heute noch genutzte Fried- BLZ 350 500 00 tiven, endlich auch jüdische Stätten auf die Listen hof Spiegelbild deutscher und jüdischer Geschich- des Weltkulturerbes zu bringen. Zur Vorbereitung te: von Kaiserzeit und Weimarer Republik über die dessen fanden 2011 drei internationale Tagungen NS-Zeit – als der Friedhof untergetauchten Juden statt, auf denen das Steinheim-Institut jeweils mit vorübergehend Schutz bot – über die Zeit der DDR mehreren Vorträgen engagiert war. bis hin zum pulsierenden jüdischen Leben des heu- Anfang April tagte in Berlin die deutsche Abtei- tigen Berlin. lung von ICOMOS (International Council on Mo- Anfang Juni fand im Hamburger Warburg Haus numents and Sites) gemeinsam mit dem Landes- als „exploratory workshop“ die internationale Ta- denkmalamt Berlin und in Zusammenarbeit mit der gung „Jewish Cemeteries as World Cultural Heri- Jüdischen Gemeinde Berlin, der Stiftung Neue Syn- tage“ statt, veranstaltet von der Stiftung Denkmal- agoge Berlin-Centrum Judaicum und der Arbeitsge- pflege und dem Denkmalschutzamt Hamburg in Wir wünschen allen unseren Leserinnen und Lesern und denen, die unser Institut in Treue fördern, frohe, erholsame Festzeiten und ein glückliches, gesundes Jahr 2012

Verbindung mit dem Hamburger Institut für die mehr entdeckt werden. Hinzu kommt die reichhal- Geschichte der deutschen Juden Hamburg und dem tige Sachkultur, mittelalterliche Handschriften und Eduard-Duckesz-Fellow. Hier stand im Mittelpunkt der 28kg schwere „Erfurter Schatz“ aus dem 14. der Friedhof Hamburg-Altona in der Königstrasse Jahrhundert. (dessen fast 6000 aschkenasische Grabsteine das Mitte 2012 beginnen die Beratungen der Kul- Steinheim-Institut in einer online-Edition und in tusministerkonferenz zur Fortschreibung der deut- Buchform dokumentiert und erforscht hat). Sein schen Tentativliste, der Vorschläge zur Aufnahme sefardischer Teil ist in ganz Nordeuropa ein außer- in die Unesco-Liste des Welterbes, für die jedes gewöhnliches Zeugnis der spanischen und portu- Bundesland zwei neue Stätten benennen darf, je ein giesischen Juden, die sich seit dem Ende des 16. Kultur- und ein Naturerbe. Seien wir gespannt, ob Jahrhunderts in Amsterdam, London, Hamburg eine und wenn ja, welche der vorgestellten Initiati- und Glückstadt niederließen. Das Faszinierende ven, die jede für sich ihre Berechtigung hat, dieses Ortes ist aber gerade das Neben- und Mit- schließlich erfolgreich sein wird. Wir tun alles, um einander von sefardischer und aschkenasischer die uns gestellten Aufgaben professionell und ver- Grabkultur auf zwei ursprünglich nah benachbar- lässlich zu bearbeiten. nh/red ten Friedhöfen, die heute eine Einheit bilden, die aschkenasischen Grabsteine mit ihrer aufwändigen Mitteilung Kalligraphie neben den oft zweisprachig in Portu- giesisch/Spanisch und Hebräisch beschrifteten lie- Das Jonas Cohn-Archiv – online präsent Neues und Altes genden Grabplatten der Sefarden, reich ge- In den 1920er Jahren notierte Jo- schmückt mit biblischer wie weltlicher Symbolik nas Cohn in sein philosophisches Altes wird neu gedacht, (Thesis) und Ornamentik. Tagebuch: Nähme einmal ein an- Neues ist alt begründet. Und Ende November lud die Generaldirektion derer seine Aufzeichnungen zur Des Zeitenwandels Macht Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz in Kooperation Hand, so solle er wissen, dass sei- Historie laut verkündet. mit der Hochschule für Jüdische Studien und dem ne Lieblingsbeschäftigung das Institut für Europäische Kunstgeschichte der Uni- Gärtnern sei. Heute präsentiert Nichts gelten Alt und Neu, (Antithesis) versität Heidelberg zu einer Tagung ins Landes- sich sein handschriftlicher Nach- Sie schwinden mit der Zeit. museum: „Die SchUM-Gemeinden Speyer – Worms – lass online (steinheim-institut.de) Der Fromme, still und treu, Mainz. Auf dem Weg zum Welterbe“. Auch hier und bald wird dem Leser bewusst, Schaut Gottes Ewigkeit. wurden die mittelalterlichen Friedhöfe von Mainz dass der Denker beim Schreiben Dem Ewgen zugewandt (Syntithenai) und Worms thematisiert, die die ältesten erhaltenen immer auch den anderen im Blick Sein Recht dem Tage geben, Zeugnisse dieser Art sind und von uns dokumen- hatte. Seine Handschrift ist betont In den wir eingebannt: tiert und erforscht werden: Worms von Michael sorgfältig, jeder Eintrag mit einem Das heisst als Denker leben. (Schlechte Verse – Brocke und Annette Sommer, Mainz von Nathanja Datum versehen, in einem Regis- aber richtig gedacht) Hüttenmeister, sowie die Speyerer Spolien von Dan ter erfasst, die Seiten sind von Bondy. Selbstverständlich wurden zahlreiche wei- Hand durchgezählt. So hat Cohn die klare systema- Jonas Cohn: Tagebuch „Neues tere bedeutende Reste der Kultur dieser weltweit tische Darstellung seines veröffentlichten Werks und Altes“, 1940–1942, berühmten und erinnerten Gemeinden und ihre auch in seinem handschriftlichen Nachlass beibe- 24.10.1940 gründliche Erforschung vorgestellt, der „Synago- halten. Hierauf aufbauend war es uns mit dem gengarten“ in Worms mit Synagoge, Raschi-Haus DFG-Projekt „Qualitative Digitalisierung des hand- und Mikwe, sowie der „Judenhof“ in Speyer mit schriftlichen Nachlasses des Philosophen Jonas Mikwe und den Überresten der Synagoge. Cohn (1869–1947) möglich, das Jonas Cohn-Ar- Neben diesen drei Initiativen strebt auch die chiv zu digitalisieren, eine Sicherungsverfilmung Landeshauptstadt Thüringens den Titel für das herzustellen und die Briefe und Handschriften der reiche jüdische Erbe von Erfurt vom Ende des 11. bis Forschung online anzubieten. Wir sind so zu Gärt- zur Mitte des 14. Jahrhunderts an, mit seinem bau- nern Cohns geworden und können ihn nun hegen lichen Ensemble von alter Synagoge, Mikwe, dem und pflegen, auf dass sein Werk neue Früchte trägt, „steinernen Haus“ aus dem 13. Jahrhundert und die andere ernten wollen. Wir danken der Deut- den Resten des zerstörten mittelalterlichen Fried- schen Forschungsgemeinschaft für die dreijährige hofs, von dessen verschleppten Grabsteinen immer Förderung. Margret Heitmann 15 KALONYMOCHS

Der Esel von Rhäzüns

etrachtet man die unzähligen Weihnachtsdar- Volk versteht’s nicht.“ Weiser als Israel also seien Bstellungen durch die Jahrhunderte, so sind ne- Ochse und Esel, denn sie erkennten – im Gegensatz ben der „Heiligen Familie“, den anbetenden Hirten zu Gottes erwähltem Volk – in dem Kind in der samt den Weisen aus dem Morgenland (Mt 2) im- Krippe den verheißenen Messias. mer auch die zwei treuen Begleiter aus der Tier- Ganz anders, so scheint es, die Weihnachtsdar- welt, Ochse und Esel, an der Krippe in Bethlehems stellung vom Ende des 14. Jahrhunderts aus dem Stall anzutreffen. So selbstverständlich sie aber zu Kirchlein Sogn Gieri zu Rhäzüns im schweize- den dort Versammelten gehören, so erstaunt ist rischen Graubünden. Die dort die Wände bede- man festzustellen, dass sie in der biblischen Weih- ckende „Biblia pauperum“ zeigt einen bei weitem nachtserzählung des Evangelisten Lukas (Kap. 2) nicht so verständigen Esel. Anscheinend unwillig gar nicht erwähnt werden. Wie aber ist die Gegen- darüber, dass er nicht an sein Futter kommt, weil wart von Ochs und Esel auf Weihnachtsdarstellun- irgendein Kleinkind seine Krippe besetzt hält – gen zu erklären? gleicht sie hier nicht verdächtig einem Altar? – Nun ist es ja nicht verwunderlich, dass bei Ge- schnappt er sich die Windel, auf die das Kind ge- schehnissen, die sich in einem Stall mit einer Futter- bettet ist, und zieht diese, ohne Rücksicht und nur krippe ereignen, auch Tiere präsent sind. Da be- das Futter im Blick, unter jenem hinweg. Wo bleibt fremdet schon eher die Anwesenheit gerade entbun- da die Messiaserkenntnis! Das Neugeborene aber dener Mütter, in Windeln gewickelter Kleinkinder rollt ob dieses Manövers auf die Seite und dann, oder gar die von „Königen“, als die die Weisen aus das ahnt man nur noch, aus seiner provisorischen dem Morgenland in einer ebenfalls nirgendwo do- Schlafstatt in die geöffneten Arme seiner wach- kumentierten Dreizahl stets in Erscheinung treten. samen Mutter. Was für ein Glück! Welche Rolle der Aber das ist ja gerade das Außergewöhnliche Ochse bei dieser riskanten Aktion spielt, bleibt al- der Weihnachtsgeschichte, dass sich hier entschei- lerdings zu fragen. Bei näherem Hinsehen nämlich dende menschliche Schicksale in einem Stall abspie- kann man den Eindruck gewinnen, dass auch er len, wobei die still-staunenden Blicke der beiden nicht unbeteiligt an dem Geschehen ist! „Nebendarsteller“ aus der Tierwelt den Eindruck Nun wäre es sicher möglich, das hier so provo- erwecken, als wäre auch ihnen eine tiefe Einsicht in zierend dargestellte Ereignis mit einer theolo- das Geheimnis des Weihnachtswunders offenbart gischen Deutung zu befrachten. Denn es existiert worden. noch eine andere Tradition, die den Ochsen als Wie man nun weiß, reines Tier mit Israel gleichsetzt, den Esel dagegen ist die christliche Kunst die Völkerwelt und damit auch die Christenheit re- leider keineswegs frei präsentieren lässt. Indem diese sich an die Stelle Is- von antijüdischen Ten- raels als Gottesvolk gesetzt hat, hat sie nicht nur Is- denzen. Ob es die rael, sondern auch den Juden Jesus aus ihrer Mitte Schöpfer der unter- verstoßen. schiedlichen Weih- Ohne Zweifel ist der Kirche solch ein Verhalten nachtsdarstellungen in vorzuwerfen. Aber ob das alles in das naiv-schöne dieser Absicht taten Wandgemälde von Sogn Gieri hineinzulesen ist? oder andere es in ihre Doch wenn es tatsächlich so wäre, dann sollte man Altäre und Gemälde den Esel von Rhäzüns vielleicht einmal an seine hineininterpretierten: treue Urahnin, die sprechende Eselin des Sehers Schon bald deutete man Bileam erinnern, die im Gegensatz zu ihrem Herrn die Präsenz von Ochs viel früher erkannte, dass Israel Segen gebührt, wie und Esel in antijü- in Numeri 24 zu lesen ist: „Wie lieblich sind deine discher Weise als einen Zelte, Jakob, und deine Wohnungen, Israel. Geseg- Hinweis auf Jesaja 1,3: net sei, wer dich segnet und verflucht, wer dich ver- „Ein Ochse kennt sei- flucht.“ nen Herrn und ein Esel Was auch immer sich der Maler des Frescos von die Krippe seines Rhäzüns bei seinem eigenwilligen Esel gedacht ha- Herrn, aber Israel ben mag – wir wissen es nicht. Heute darf er uns kennt’s nicht und mein ein leises Schmunzeln entlocken. Annette Sommer 16