Der nordfriesische Weg Wenn Menschen wieder in Arbeit finden Inhaltsverzeichnis Brücken in ein selbstbestimmtes Leben 3 Brücken in ein selbstbestimmtes Leben Grußwort von Sabine Löhner, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt Grußwort von Sabine Löhner, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt beim Jobcenter Kreis 4 15 Jahre nordfriesischer Weg Interview mit Axel Scholz und Renate Fedde vom Jobcenter der Kreisverwaltung Nordfriesland

8 Hier ist immer alles anders Die sieben Sozialzentren des Kreises Nordfriesland Achtung: Diese Broschüre darf nur In dieser Broschüre möchte das Jobcenter Apropos Rollen. So wie die meisten All diese Rollen fülle ich aus mit dem Ziel, von Männern gelesen werden! Nordfriesland neun Menschen vorstellen, Beschäftigten im Jobcenter agiere auch den Arbeitsuchenden eine Brücke zwischen 12 Wenn Sie so etwas sehen, dann denken die mit der Auf­nahme einer Beschäftigung ich in verschiedenen Rollen. Ich bin die Leistungsbezug und selbstbestimmter Exis- Jetzt musste wirklich mal was passieren Sie sicherlich: Moment, hier stimmt doch zurück in ein selbstverantwortliches Leben Nervende, die im Hinblick auf die Chan- tenz zu errichten. Ehemalige Leistungsbeziehende was nicht. Natürlich. Ihr Geschlecht sollte gefunden haben. Denn um in Arbeit zu cengleichheit von Frauen und Männern Die Beschäftigten des Jobcenters erzählen ihre Geschichte niemals darüber entscheiden, was Sie gelangen, reicht das normale Bewer- im SGB-II-Bezug nicht locker lässt. Ich bin Nordfriesland­­ gehen seit 2005 immer lesen, wo Sie arbeiten dürfen oder wie bungsverfahren nicht immer aus. Neue die Einforderin von gleichen Rechten wieder neue, teilweise provokative Wege, 44 Sie Ihr Leben und Ihre berufliche Tätigkeit Wege müssen beschritten, alte Haltungen auf gesellschaftlicher, struktureller und um den Menschen im Leistungsbezug die Wir gucken nicht so ganz auf die Minute zu organisieren haben. Im Gegenteil: Sie über Bord geworfen, die eigenen Antrie- sprachlicher Ebene, um Frauen dieselben bestmöglichen Chancen zur Integration Interview mit Verena Heinsen, sollten stets und überall den Zugang zu be geklärt werden. Dies gilt für diejenigen, Eingliederungschancen zu ermöglichen in die Arbeitswelt zu eröffnen. Sie sind Geschäftsführerin des Senioren-Servicebüros KiSe einer Arbeitsstelle haben, der nur von die Arbeit suchen, genauso wie für die wie Männern. Ich bin die Übersetzerin, die Brückenbauer zwischen der Gesetz­ Ihren Fähigkeiten und Ihrer Motivation Beschäftigten in den Jobcentern und in die Ratsuchenden, Unternehmen und gebung und den Arbeitsuchenden, unab- abhängig gemacht wird. Als Mann sollten den Unternehmen. Doch selbst wenn Institutionen die oft schwierig nachvoll- hängig von deren Geschlecht, ihrer Her- Sie die Kinderbetreuung übernehmen Menschen noch so viel an sich arbeiten, ziehbaren gesetzlichen Vorgaben erklärt kunft, ihrem Bildungsstand. Mein Ziel können, ohne sich dumme Sprüche verhindern gesellschaftliche Strukturen und über Fördermöglichkeiten informiert. als Beauftragte für Chancengleichheit ist anhören zu müssen. Als Elternteil sollten manchmal die Umsetzung eigener Pläne: Ich bin die Botschafterin des Jobcenters, erreicht, wenn die Gleichstellung als Sie bei der Jobsuche nicht gefragt werden, fehlende Kinderbetreuung, schlechtere die Vorurteile gegenüber dessen Arbeit Selbst­verständnis in die DNA eines jeden ob Ihr Kind oft krank wird oder ob Sie Beurteilung von Leistungen bei Frauen, abbaut und auf die Möglichkeiten und Menschen übergegangen ist − dann also, noch mehr Kinder wollen. Aber manch- eingeschränkte Berufswahl durch Rollen- Chancen, die es bietet, hinweist. Und wenn meine Arbeit abgeschafft ist, weil mal muss man ein wenig provozieren, zuschreibungen und anderes. Dies gilt in nicht zuletzt bin ich ein Mensch in Begeg- sie nicht mehr gebraucht wird. Irgend- um die Verhältnisse zu ver­­­­deutlichen. besonderem Maße für Alleinerziehende. nung mit anderen Menschen. wann wird es soweit sein.

3 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN HIER IST IMMER ALLES ANDERS

Hier ist immer alles anders

Die Sozialzentren im Kreis Nordfriesland arbeiten nach dem „sozialräumlichen Ansatz“. Aber was heißt das eigentlich? Ein Panorama im Uhrzeigersinn.

Die neue Ära der nordfriesischen Sozial­ Kreis und Kommunen, ein hohes Maß raumgestaltung begann am 1. Januar an Abstimmung. Die unterschiedlichen 2005. Seitdem sind in den meisten Sozial- Belange und Sichtweisen wollen gehört zentren Jobcenter und Jugendhilfe gleicher- und berücksichtigt werden, damit letztlich maßen beheimatet, man findet dort die alle an einem Strang ziehen. Senioren- und Schuldnerberatung, der Zu diesem Zweck finden in Wohngeldantrag lässt sich genauso ab­ regelmäßig Arbeitsmarktbesprechungen geben wie das Bürgernetzwerk kontak­- statt, auf denen die Sozialzentrumsleite- t­ieren. Der hier verfolgte sozialraum- und rinnen und -leiter die aktuellen Wirt- Nordfriesland ist der nördlichste deutsche Geografisch ist Nordfriesland eine groß- ressourcenorientierte Ansatz stellt den schafts- und Arbeitsmarktdaten analysie- Landkreis, er grenzt an Dänemark und an flächige Region aus Festland, Inseln und Willen und das Können der Arbeit­­ ren sowie inhaltliche Maßnahmen und die Nordsee, die nächstgelegenen Städte Halligen − da ist man durchaus zwei suchenden in den Fokus, das heißt, die Zielgruppenschwerpunkte besprechen. sind Flensburg und Schleswig. Der Kreis Stunden unterwegs vom einen bis zum aktivierende hat Vorrang gegenüber der Schließlich handelt es sich um unter- gehört zu den am dünnsten besiedelten anderen Ende. Das Konstrukt der nord­­ betreuenden Integrationsarbeit. Dies schiedlich große Einzugsbereiche mit ganz Landstrichen der Republik, er lebt vom friesischen Sozialzentren ist deutschland- geschieht in der Zuversicht, dass Men- anders gearteten Arbeitsmarkttypen und Tourismus, vom klein- und mittelstäd­ weit daher wahrscheinlich einzigartig: schen immer dann aktiv werden und -strukturen. Vier der sieben Zentrumsleiter tischen Handwerk, von Landwirtschaft Es garantiert den Menschen kurze Wege bereit sind, Anstrengungen auf sich zu stehen gemeinsam mit dem Fachdienst und Einzelhandel. Und so wie das Wasser und persönliche Ansprechpartner. Mehr nehmen, wenn sie ein konkretes Ziel Arbeit/Jobcenter innerhalb der sogenann- der Nordsee regelmäßig von Tönning, als 20 Kilometer muss kein Nordfriese erreichen möchten. ten Führungsrunde im Erfahrungsaus- Dagebüll und Föhr weg- und wieder zurücklegen, um eine der über den ge- Die verschiedenen sozialrechtlichen tausch. Da werden Vorschläge und Bei- hin­schwappt, gibt es auch in punkto samten Kreis verteilten sieben Einrichtun- Aufgaben liegen für gewöhnlich gebün- spiele gegeben − und wer lernen möchte, Arbeit eine Haupt- und Nebensaison. gen zu erreichen. Weiterer Vorteil: Die delt in der Hand der Kreisverwaltungen. zieht seinen Nutzen daraus. Die Sozial­­- Im Sommer schwärmen Pendler aus der insgesamt 151 Mitarbeiterinnen und Anders in Nordfriesland: Hier ist die Dienst­ z­entren sind in die Entscheidungsfindun- Mitte des Landkreises nach Nord und Süd, Mitarbeiter kennen die lokalen Arbeit­geber aufsicht kommunal, die Fachaufsicht gen des Kreises eingebunden, so dass sich allein nach kommen dann mehr als fast alle beim Namen und wissen genau, erfolgt durch den Landkreis. Das erfor- die Dinge aus mannigfachen Blickwinkeln 4000 Saisonarbeiter. bei wem gerade Jobs im Angebot sind. dert eine enge Kooperation zwischen betrachten lassen.

4 5 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN HIER IST IMMER ALLES ANDERS

Sozialzentren Niebüll und Leck hinsichtlich der Kinderbetreuung und die überregional suchen, müssen in der Im Blickwinkel von Roland Römisch, Leiter anderem“, erklärt Schiller. Es gibt viel Regel ein Personalzimmer oder eine des Sozialzentrums Niebüll, steht vor Kleingewerbe in Leck und Umgebung: Dienstwohnung bereitstellen. Im Juli und allem der Umgang mit den Kunden, das „Unter anderem hat sich die Zahl der August haben die fünf Mitarbeiter auf Vertrauen in die eigenen Mitarbeiter, das Friseure und Pizzaläden enorm erhöht.“ Föhr eher weniger zu tun, trotzdem ist Agieren auf Augenhöhe mit allen Beteilig- Trotzdem arbeiten viele Lecker Bürger in das Sozialzentrum ganzjährig geöffnet. ten. Die beiden Sozialzentren Niebüll und Flensburg. 30 Minuten sind es per Bus Jeden Herbst stapeln sich dann die Anträ- Leck gehören zum größten Amt in Schles- dorthin, die Verkehrsverbindung ist vor- » ge der Sommerkräfte, da kommen schnell wig-Holstein: Südtondern. Infolge ihrer bildlich, ganz im Gegensatz zur Husumer Wenn es sieben Sozialzentren gibt, etliche Fälle dazu. Im Frühjahr kehrt sich Zweiteilung sind sie nicht so groß, die Strecke. Zum Arbeiten zieht es einige dann ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, die Situation um. Distanz zwischen Bürger und Behörde Ortsansässige auch nach Niebüll und Joy Madleine Kassner kennt dieses wird dadurch noch geringer. Auch die − besonders in den Sommermonaten − dass es auch sieben Herangehensweisen gibt. Phänomen. „Hier ist immer alles anders“, Einrichtung mehrerer Bürgerbüros in auf die Inseln. « sagt die Leiterin des Sozialzentrums Sylt kleineren Ortschaften dient diesem Ziel. Kim Jessen-Reimers und meint damit, dass die Inseln oft „Wir sind gut in dem, was wir tun“, Sozialzentrum Mittleres Nordfriesland Speziallösungen parat hätten. Sylt ist die sagt Roland Römisch. Eine hohe Vermitt- „Wenn es sieben Sozialzentren gibt, dann beliebteste Ferieninsel Deutschlands und lungsquote sowohl im SGB II als auch bei ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass in den Medien oft präsent, was mit dazu Geflüchteten sprechen für sich. Betriebs­ es auch sieben Herangehensweisen gibt“, führt, dass sich die Gemeinde stark enga- ausflüge und ein kollegialer Umgang meint Zentrumsleiter Kim Jessen-Reimers. giert und Angebote erstellt, die über die − „ein Moin und ein Schnack“ − sorgen „Weil die Umstände und Gegebenheiten Sozialzentrum Husum und Umland als die anderen Sozialzentren. Die städti- Sozialzentrum Südliches Nordfriesland der Arbeitsvermittlung. „Es geht nicht nur Sozialzentren Föhr-Amrum und Sylt gesetzlichen Mindeststandards hinausge- für ein gutes Binnenklima in seinem 24 überall unterschiedlich sind: auf den Henning Carstensen wirkt ähnlich zufrie- sche Situation erzeugt eine Sogwirkung Der Süden Nordfrieslands weist einen um die Arbeitsinhalte, sondern es ist auch Gesund lebt es sich auch auf den Inseln. hen. Im Projekt „Festmachen auf Sylt“ Fachkräfte zählenden Team. Römisch Inseln, in der Stadt, auf dem Land.“ Das den. „Ich erlebe die Zusammenarbeit als für den ländlichen Raum und zieht auch saisonal geprägten Arbeitsmarkt auf wichtig: Was passiert links und rechts In Wyk auf Föhr steht das kleinste der wurden zusammen mit Hotelgewerbe findet innerbetriebliche Kommunikation mittelgroße Sozialzentrum mit 21 Mitar- gewinnbringend“, sagt der Leiter des sozial Benachteiligte an. Carstensens − Handwerk und Gastronomie boomen, von mir, wie geht man miteinander um.“ nordfriesischen Sozialzentren. Uwe Fester und Unternehmensverbänden Auszubil- wichtig: Kontaktpflege, Rückendeckung beitern wurde aus ehemals drei Sozial­ Sozialzentrums Husum und Umland. „Wir 59-köpfiges Teambetreut die größte große Arbeitgeber indes fehlen. Die Brenk ist stolz auf die innere Ablauforga- fährt zwei Minuten mit dem Rad zur dende akquiriert, die Maßnahme „Azubi- und Rückmeldung. Er ist seit 26 Jahren im ämtern gebildet, sein Wirkbereich deckt haben hier in Nordfriesland sehr unter- Anzahl von Wohnungslosen im Landkreis, Fluktuation ist ähnlich hoch wie auf den nisation, auf das gute Kollegium, in dem Arbeit, trifft dabei immer mal auf Kunden Lotse“ schuf Nachhilfe für den Berufs- Geschäft, es macht immer noch Spaß: sich mit dem Amtsgebiet. Die Gegend schiedliche Regionen, sei es die Insel Sylt, es gibt einen hohen Anteil Migranten mit Inseln. Qualifizierungsmaßnahmen kön- Haltung und Werte stimmen und das das − ein bunter Strauß an Menschen aller schulunterricht, was junge Geflüchtete „Wenn man durch die Straßen gehen kann, ist geprägt von Mittelstand und Wind- sei es die 22000-Einwohner-Stadt Husum, Sprachlernbedarf, daher wurde im Fall­ nen oft nicht voll belegt werden, weil zu gemeinsame Wollen auch nach außen Altersstufen und Herkünfte. „Der Arbeits- direkt in Ausbildung brachte. Zu Beginn und die Leute einen grüßen, dann finde ­en­ergie, weniger vom Tourismus, die seien es die eher ländlichen Gebiete. Und management ein extra Mitarbeiterin- wenige Teilnehmer zusammenkommen trägt. Der Vorteil von so kleinen Einheiten markt ist überschaubar, aber aufnahme­ der Saison im Frühjahr richtet sich der ich das eine tolle Sache.“ Infrastruktur ist eher mangelhaft. Es gibt auch wenn wir uns in einzelnen Punkten nen-Team für Migration aufgestellt. Ein oder kein Nahverkehr existiert. Eine inter- − 22 Mitarbeiter sind es gegenwärtig − sei, fähig“, umreißt der Zentrumschef die Fokus auf die Vermittlung der Kunden in Römischs Amtskollegin in Leck heißt mehrere DIAKO-Fachkliniken für Sucht- nicht immer einig sind: am Ende finden Kollege kümmert sich um wohnungslose ne Herausforderung sieht Behördenleiter dass die Kolleginnen und Kollegen sich Lage. Helfer in Reinigung und Gastrono- den ersten Arbeitsmarkt. Im Sommer Eva Schiller. Ihr 18-köpfiges Team verwal- kranke in , was eine entspre­ wir entweder einen gemeinsamen Nenner, oder von Wohnraumverlust bedrohte Alexander Brenk in der Personalgewin- umeinander kümmern. mie werden ständig gesucht, aber auch nehmen Kassner und ihre sieben Mitar- tet die kleinere Region, betreut hier aber chende Kundengruppe hervorbringt. oder wir entscheiden punktuell auf In- Bürger. Das Sozialzentrum berät auch die nung und langfristigen Bindung der Mit- Einen nützlichen Mehrwert für seine Handwerker fehlen. Es sei eben nicht beiter dann die Langzeitarbeitslosen in mehr Bewohner. Weil die Mieten in den „Menschen mit Drogenproblemen und sellösungen.“ Weil Carstensen in Husum Gruppe der Selbständigen im Landkreis. ­ar­beiter. „Wir Sozialzentren sind ja alle ein Belegschaft sieht er in der Lage der jedermanns Sache, im Winter auf einer den Blick und laden viele von ihnen Blockwohnungen für Familien noch er­ Spielsucht kommen aus dem ganzen sitzt, ist es für Außenstehende manchmal Stück weit in Konkurrenz miteinander Einrichtung mitten in der Innenstadt: recht einsamen Insel zu hocken. In dieser nochmal zum Gespräch. Für Kassner ist schwing­lich sind, finden sich übermäßig Bundesgebiet her, und ab und zu lassen schwierig, die Zuständigkeiten zu durch- und müssen aufpassen, dass wir uns nicht „Nirgendwo lässt sich besser Pause ma- Jahreszeit wirken zwei Drittel der Häuser der nordfriesische Weg auf Zusammenhalt viele geringfügig Beschäftigte und Allein- sie sich hier nieder.“ Wenn man Jessen- schauen: „Ich werde von Anrufern gern gegenseitig unter- oder überbieten, da chen. Man ist in fünf Minuten am Deich wie ausgestorben. „Alles dunkel, düster und gute Kommunikation aller Beteiligten erziehende in den Bedarfsgemeinschaften. Reimers nach der Zukunft befragt, sagt mal für den Jobcenterleiter fürs gesamte ist viel Abstimmung nötig.“ Er hebt die und kann den freien Ausblick und den und neblig.“ Zudem kommt der Fähr­ ausgelegt. „Das trägt entscheidend dazu „Für diese Kundengruppe haben wir uns er: „Ich bin fast wunschlos glücklich. Die Kreisgebiet gehalten.“ Husum besitzt im weichen Werte hervor − sein Team arbeite frischen Wind genießen.“ verkehr wegen Sturms manchmal zum bei, dass wir uns trotz der räumlichen 2019 nochmal speziell ein paar Dinge Rahmenbedingungen stimmen. So kann Landkreis die beste Infrastruktur und mehr gern zusammen, was ein großer Vorzug Erliegen. Auch der Wohnraum ist ein Distanz und unterschiedlichen Größen als überlegt, um die Beratung zu verbessern es weitergehen.“ Standorte für Qualifizierungsmaßnahmen sei in einem so schwierigen Bereich wie Dauerproblem auf den Inseln; Arbeitgeber, ein Gefüge sehen.“

6 7 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN 15 JAHRE NORDFRIESISCHER WEG

15 Jahre nordfriesischer Weg

Axel Scholz leitet in der Kreisverwaltung Nordfriesland den Fachdienst Arbeit und ist Geschäftsführer des Jobcenters, Renate Fedde betreut den Geschäftsbereich Integration. Beide sprechen darüber, wie der nordfriesische Weg der Arbeitsvermittlung aussieht und was er den Menschen in der Region gebracht hat.

Herr Scholz, Frau Fedde, woher kommt Renate Fedde: Das war zum ersten Was unterscheidet denn den nordfriesi- Renate Fedde: Ich habe damit auch eigentlich die Bezeichnung „nordfriesi- Mal 2008, 2009. Wir waren ja relativ schen vom thüringischen oder hessi- immer ein bisschen verbunden, stolz zu scher Weg“? Hat sie sich von selbst spät mit unseren Gedanken zum Thema schen Weg? Sind Sie in der Lage sich sein und selbstbewusst aufzutreten mit eingeschlichen oder gab es ein Hand- Marketing und Identität, zu der Frage: abzugrenzen mit dem Wissen, was die dem, was wir geschaffen haben. Seit wir lungskonzept, das dann so benannt Wer sind wir eigentlich? Wir hatten da Kollegen im Land machen? die Aufgabe übernahmen, haben wir wurde? den Punkt, dass wir die fünf Jahre Probe- Axel Scholz: Es steht mir gar nicht an, unglaublich gekämpft, auch mit der Axel Scholz: Nein, dahinter steht kein zeit vom Bund überstanden hatten. Damit darüber zu sprechen, wie es die anderen Bundesagentur für Arbeit, weil die sehr Konzept, sondern es hat sich sukzessive waren wir eine dauerhafte Struktur am machen. Ich kann nur sagen, dass wir skeptisch hinsichtlich kommunaler Beteili- so ergeben. Wir haben festgestellt: Wie Markt, und in diesem Zusammenhang uns im Umgang mit geteilter Dienst- und gung war. Wir haben oft davon gespro- wir die Dinge umsetzen, das ist oft sehr haben wir versucht, unser Tun in einen Fachaufsicht auf den Weg gemacht haben, chen, dass wir das kleine gallische Dorf eigentümlich, sehr speziell. Und dann gab Titel zu packen. die Einbindung der anderen kommunalen sind. Wir sind da sehr selbstbewusst und es jemanden, der gesagt hat: Ist das nicht Bereiche wie Jugendhilfe, Seniorenhilfe, streitbar aufgetreten. Wir haben uns über eigentlich der nordfriesische Weg im Schuldnerberatung, Grundsicherung im rechtliche Fragen und Haltungen gestrit- Umgang mit dem Sozialgesetzbuch II? Alter nicht weiter isoliert zu denken, ten, und wir mussten lange dafür kämp- Das haben wir alle gemeinsam bejaht, sondern in Form der Sozialzentren unter fen, gesehen zu werden. und dann ist das eingemündet in mehrere einem Dach gemeinsam zu organisieren. Publikationen, die wir auch so genannt Das war und ist für uns Alleinstellungs- haben. merkmal in der nordfriesischen Umset- zung von SGB II. Also bei multiplen Problemlagen von Familien oder Bedarfs­ gemein­schaften ganzheitlich denken.

8 9 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN 15 JAHRE NORDFRIESISCHER WEG

Axel Scholz: Man muss vielleicht Renate Fedde: Die Mitarbeiter vor Ort Wenn ich mir für die nächsten zehn Jahre Axel Scholz: Dadurch ist die Freiheit, hinzufügen, dass wir einen Schritt vor der müssen ja fachlich und dienstlich das was wünschen dürfte, würde ich sagen: die am Anfang da war, im Laufe der Jahre Gründung des SGB II in den Jahren 2003/ umsetzen, was die jeweiligen Führungs- Das darf gerne wieder mehr werden. Ich wieder zurückgegangen. Wo ist der Mut 2004 schon Vorbereitungsarbeiten hatten. kräfte beschließen, und das sollte nicht weiß aber auch, dass man eine Begeiste- geblieben, in dieser Freiheit zu denken Das heißt, wir haben aus 26 Sozialämtern auseinandergehen. Manchmal ist es aber rung nicht unendlich hoch und unendlich und nicht nur Paragrafen einzuführen, im Kreisgebiet sieben Standorte, sieben doch passiert, dass beispielsweise Dinge, lange halten kann. die letztendlich nur existieren, damit man Sozialzentren gebildet. Weil klar war, dass die wir als Steuerungseinheit besprochen evaluieren kann, was am besten funktio- 26 kleine Einheiten nicht stark genug sind, haben, in den Regionen gar nicht um­ Soweit die Herausforderungen. Was hat niert. Das ist ein bisschen unsere deutsche um Leistungssachbearbeitung und Fallma- gesetzt wurden. Das passiert scheinbar der nordfriesische Weg den Menschen im Gründlichkeit, dass man immer wissen nagement zu bewältigen. Sie waren im zyklisch in Organisationen, dass man alle Landkreis gebracht, was hat sich verbes- will: Was war schlecht, was war erfolg- Grunde auch nicht stark genug, um die drei bis fünf Jahre auf die Strukturen sert im Vergleich zu 2005? reich? Alle wollen da mitsprechen. Die alte Sozialhilfe nach dem Bundessozial­ gucken muss, weil sie sich verselbständigen. Axel Scholz: Im Zuge der Reorgani­ Grundsicherung ist eine Bundesausgabe, hilfegesetz zu erbringen. Wir waren also sationen von 26 Sozialämtern in sieben und deswegen fängt man auch zentralis- 2005 gut aufgestellt, hatten die Standorte Gab und gibt es noch andere Baustellen? Sozialzentren ist das Für und Wider inten- tisch wieder an, Vorgaben zu machen schon klar. Hinzu kam unser Anspruch, Axel Scholz: In den ersten Jahren war siv diskutiert worden. Das beste Beispiel und Einschränkungen vorzunehmen. Da dass wir kommunale Daseinsvorsorge für uns spürbar, dass viele Menschen ist vielleicht Amrum, weil man dort ein könnte man durchaus das ein oder andere ernst nehmen. Der Kreistag hat im Jahr − Ehrenamtler, Bürgermeister, Akteure aus eigenes Sozialamt hatte mit einem Sach- freier gestalten. 2004 einstimmig gesagt, die Kreisverwal- der Region − das Thema SGB II spannend bearbeiter, der mit einer Viertelstelle tung möge den Antrag auf Zulassung Zeigen die letzten 15 Jahre eine harmo- Am 1. Februar 2005 liefen schon die fanden. Dass sie sich engagierten, als Leistungsbescheide erstellt hat. Aber mit Renate Fedde: Wir hatten den An- Was wünschen Sie sich beide für den stellen. Das heißt, wir hatten eine breite nisch aufsteigende Kurve, oder gab es ersten Maßnahmen, die ersten Integ­ noch gar nicht vorhersehbar war, ob man den Menschen aktiv sprechen und arbei- spruch, es anders zu machen. Wir hatten künftigen nordfriesischen Weg? politische Mehrheit, und wir wollten auch Ereignisse, die herausstechen? rationsgespräche. Es lief super los, und dieses Engagement zehn oder gar zwan- ten, Integrationsfortschritte feststellen einen guten Plan, der, wie ich finde, größ- Renate Fedde: Ich wünschte mir für verwaltungsseitig das Thema Arbeits- Axel Scholz: Im Jahr 2010 schließlich wir haben gedacht, getrennte Dienst- zig Jahre weitertreiben kann. Wir waren − das schaffte ein kleines Sozialamt der tenteils aufgegangen ist. Was wir versucht unsere Aufgabenumsetzung noch mehr marktpolitik angehen. Die Struktur war zu wissen, dass wir dauerhaft abgesichert und Fachaufsicht ist gar nicht schlimm, breit getragen, wir haben sehr viele Insel Amrum nicht mehr. Wir brauchten haben, war, intensiver herauszufinden, eigene Gestaltungsspielräume. Ich würde gelegt, die Organisation war gelegt, sind, war schon ein markantes Datum. Es wir kriegen das hin. Und dann kamen Erfolge errungen. Wenn jedoch der Alltag größere, leistungsstarke Einheiten, in was die Menschen brauchen. Das haben sogar so weit gehen und sagen, wir beides konnten wir in unseren Antrag auf war eine große Freude und ein hohes diese Stolperfallen des Kletterns, der einkehrt und man merkt, ich kann mich denen nicht nur verwaltet, sondern auch wir später durch den Ansatz der Sozial- brauchen gar nicht so viele Instrumente, Zulassung der kommunalen Trägerschaft Maß an Zufriedenheit zu spüren, weil wir Wellenbewegungen und des Ausbüxens. jetzt nicht weiter kümmern, dann hat der gestaltet, wo nicht nur ausgezahlt, son- raum- und Ressourcenorientierung umge- sondern der Bund darf uns gerne ein einbauen, und das hat dann ja auch dazu bestätigt bekamen: Wir haben unseren Dann verkehrte sich der scheinbare eine oder andere sich wieder zurückgezo- dern auch beraten wird. Und diesen Mehr- setzt, das heißt, indem wir in den Vorder- Ergebnis vorgeben. Wie wir dieses Ergeb- geführt, dass wir am 1. Januar 2005 Job gut gemacht. Als wir dann in die schnelle Vorteil ins Gegenteil. Und jetzt gen. Ich glaube, dass für die Umsetzung wert hat die Öffentlichkeit sehr schnell grund stellen, was ein Mensch, der Arbeit nis erzielen, das möge dann unsere Sache starten durften. Verstetigungsphase eintraten, gab es auch könnte man sagen: Nordfriesische Stärke einer so großen arbeitsmarktpolitischen wahrgenommen. sucht, kann und will − und nicht das, was sein. Derzeit gibt es einen rechtlichen Situationen, wo wir mit der eigenen ist, dass wir das gut managen können. Reform, wie es damals der Fall war, alle ich als Fachkraft meine. Das wäre natür- Rahmen, den ich als sehr eng empfinde, Organisation immer wieder nachjustieren Wenn wir alle an einem Strang ziehen, gut beraten wären, dieses Engagement lich das schnellere Geschäft: Wenn ich als mit vielen Bedingungen, Grundlagen und mussten, was die Besonderheit von dann ist diese doppelte Amtsführung hochzuhalten. Denn Menschen, die eine Fallmanagerin jemanden in eine Maßnah- Anforderungen, die sich teilweise auch getrennter Dienst- und Fachaufsicht so sogar förderlich. Grundsicherung bekommen, die brau- me schicke, dann ist er oder sie nicht mehr widersprechen. mit sich bringt. Zu schauen, wo knirscht chen eine Lobby, die brauchen Unterstüt- in der Arbeitslosenquote und erst einmal es im Gebälk, wo stecken die neural­ zung, die müssen gesehen und die dürfen weg vom Schreibtisch. Der andere Weg ist gischen Punkte, da anzusetzen und die nicht stigmatisiert oder ausgegrenzt zeitaufwendiger, das ist anspruchsvoll Kommunikation so zu gestalten, dass werden. Und das funktioniert am aller- auch für unsere Mitarbeiter. Aber für mich wir als ein Jobcenter stark sind und stark besten, wenn Haupt- und Ehrenamtler, kann das nur so laufen, eigentlich in allen bleiben. Ein Beispiel: Im Januar 2005 waren wenn alle Akteure rund um den Arbeits- Rechtskreisen, in denen es um Hilfen für alle Mitarbeitenden geschult worden. markt sich immer wieder einbringen. bedürftige Menschen geht.

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Überfahren werden kann ich auch als Fußgängerin

Anders als viele Menschen denkt Melanie Petersen gern über das Leben hinaus. Und hat auf diese Weise ihre berufliche Bestimmung gefunden.

Melanie Petersen hegte schon immer Die Nordfriesin schloss 1999 ihr Examen Melanie Petersen andere Pläne für die Zukunft als die als Altenpflegerin in Treia ab. Kurz darauf Bestatterin 41 Jahre meisten ihrer Altersgenossinnen. Sie wurde ihr erster Sohn geboren, ein halbes wollte nie TV-Star, Model oder Ärztin Jahr später geheiratet. 2001 brach sie den werden. Stattdessen hatte sie den Kontakt zur Mutter wegen körperlicher Wunsch, anderen „das letzte Geleit zu Gewalt gegen den Enkel ganz ab. „Das geben“. Vielleicht spielte dabei ihr eige- hat sie früher mit uns gemacht, mit mei- nes Leben eine Rolle. Petersen − geboren nem Kind macht sie das nicht!” Und in Husum als mittleres von drei Kindern obwohl sie zu Hause den Großvater bis − wurde mit 15 vor die harte Wahl gestellt, zum Tod gepflegt hatte, war das für sie entweder die Ausbildung zur Alten­ kein Wunschberuf. Es folgten etliche Jahre pflegerin abzubrechen und mit umzuzie- in der Altenpflege, aber die Arbeit machte hen, oder sich eine eigene Wohnung zu ihr nie wirklich Freude: Probleme mit dem suchen. Der Vater verließ die Familie, als Rücken, wechselnde Arbeitgeber, überwie- sie zwei war; die Mutter war mit sich und gend Nachtwachen; der Zeitstress zehrte ihrem Leben überfordert. Das alles erzählt an ihren Nerven: „Man hat sieben Minu- Petersen in ruhigem, fast sachlichem Ton. ten für eine Grundpflege, das reichtvorn und hinten nicht.“

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2005 die Scheidung. Die Rentenversiche- rung finanzierte ihr eine Umschulung zur Bürokauffrau. Es folgten jede Menge Absagen, da sie nicht „der DIN-Norm der Bürokaufleute“ entsprach. 2007 bekam sie die Chance, als Stationsleitung bei einer Tankstelle zu arbeiten, dort lernte sie ihren zweiten Mann kennen. Anfang » 2010 kam erneut ein Sohn zur Welt. Die Leute reden nicht über den Tod, Dann erlitt sie einen Zusammenbruch. weil sie Angst vor ihm haben. Es war einfach zuviel gewesen: nachts die « Altenpflege, tagsüber dem Mann in den zwei Tankstellen helfen, die beiden Kinder versorgen. Es folgten zehn Wochen Thera- pie, die Ehe wurde geschieden. 2015 verlor sie ein wichtiges Familienmitglied. „Ich habe meinen Onkel als Papa gesehen. Weil er mich immer so akzeptierte, wie ich bin.” Wo andere vielleicht verzweifelt Nach dem Tod ihrer Großmutter im ver­flogen die Sorgen um die Kinderbe- die Angehörigen noch besser zu verste- wären, sah Petersen die Herausforderung Mai 2018 wollte Petersen dem Schicksal treuung schnell. Das Jobcenter beteiligte hen.“ Inzwischen hat Melanie Petersen für sich: „Man wächst ja mit den Aufga- endlich Beine machen. „Ich hab Initiativ- sich mit Eingliederungszuschuss und zwischen Breklum und Niebüll über 100 ben und wird dadurch gestärkt.“ bewerbungen an sämtliche Bestatter in Einstiegsgeld, Geld für Arbeitskleidung Menschen bestattet. „Die Leute reden Privat sieht man Melanie Petersen oft der Region geschickt, die ersten Absagen und Reparaturkosten für den Pkw, mit nicht über den Tod, weil sie Angst vor in Stiefeln und Gothic-Look. „Ich bin, wie kamen schon nach drei Tagen.“ Eine dem sie zur neuen Arbeit fahren würde. ihm haben“, glaubt sie. Einige Bekannte ich bin!“, sagt sie und lässt den Satz ein einzige Bewerbung war noch offen, als Ihren ersten eigenen Trauerfall hatte sie haben sich abgewendet, weil sie mit dem wenig aufmüpfig klingen. Sie hört Musik sie auf ein Gothic-Festival fuhr. Am Diens- in Breklum. Bräuchte man dafür nicht ein Beruf nichts zu tun haben wollen. „Ich von VNV Nation und ASP, fährt Motorrad; tag danach klingelte früh halb neun das Psychologiestudium? Petersen schüttelt gehe mit dem Tod ganz normal um. Ein das letzte − eine 750er Suzuki − verkauf­te Telefon: ein Anruf vom Bestattungsinstitut den Kopf: „Da reicht der Grundkurs für Verstorbener ist für mich ein Mensch wie sie, weil der große Sohn ein Auto brauchte. Martensen & Nissen. Fast zwei Stunden Bestattungen, etwas Fingerspitzengefühl jeder andere, nur ohne Körperfunktionen.“ Ihr Freund sähe es sowieso nicht gern, schnackte sie mit Chef und Chefin. Das und Empathie. Learning by doing, sagt wenn sie damit über die Landstraße Hauptthema dabei war, wie man das der Chef immer.“ Im August 2019 starb brettert, aber sie träumt schon von der mit den Kindern hinbekommen könne. der Vater ihres zweiten Sohnes. „Ich habe nächsten Maschine. „Überfahren werden Am 15. August war ihr erster Arbeits- die Beerdigung mit allem, was dazuge- kann ich auch als Fußgängerin“, sagt die tag. „Es war genau das, was ich mir hört, fast allein geplant und durchgeführt. 41-Jährige und lacht. vorgestellt hatte.“ Durch die Unter­ Es ist schon etwas anderes, mal die Ge- stützung ihres Ex-Mannes, ihres großen genseite kennenzulernen, zudem auch Sohnes und ihrer kleinen Schwester hilfreich für die Trauerarbeit und dafür,

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Ich muss gefragt werden, damit ich antworten kann

Der Kurde Bassel Hussain, geboren im Nordosten Syriens, floh 2015 aus dem kriegsgezeichneten Land und baut sich seitdem in Deutschland ein neues Leben auf.

Bassel Hussain wollte immer Apotheker Balkanroute bis nach Budapest. Anfang Bassel Hussain werden. Er lernte zwölf Jahre in der September 2015 fuhr er von dort mit dem Apotheker 30 Jahre Schule, machte Abitur, studierte Pharma- Zug bis Dortmund. Über die Stationen zie an der Universität von Aleppo und Lengerich, Neumünster, Kellinghusen und arbeitete anschließend drei Jahre im Leck gelangte er im November nach Medizinbereich. Alles war so, wie er es Klixbüll. Als das Schwerste empfand er in sich als Kind erträumt hatte. Dann holte jener Zeit seinen ungeklärten Flüchtlings- ihn der Krieg ein. status. „Das hat mich immer wieder sehr Hussain, ein hoch gewachsener Mann beunruhigt“, sagt er, und man sieht dem mit freundlichen Augen, stand im Som- 30-Jährigen die Angst, zurück in den mer 2015 vor drei abschreckenden Optio- Krieg geschickt zu werden, noch heute an. nen: von der syrischen Armee oder den In Klixbüll traf Hussain auf Sieghard kurdischen Milizen rekrutiert zu werden, Rathke. Der Ex-Bundeswehroffizier küm- oder in die Hände des Islamischen Staates mert sich als Pate ehrenamtlich um Ge- zu fallen. Seine einzige Alternative: die flüchtete. Im eigenen Auto fuhr er den Flucht. Mit einem Rucksack auf dem Syrer zur Ausländerbehörde, organisierte Rücken kämpfte er sich durch den Liba- Impftermine beim Hausarzt und Deutsch- non, die Türkei, Griechenland, über die stunden. Zwar existiert für eine solche

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» Was meine Mutter gekocht hat, das war immer was Besonderes. «

Phase keine gesetzliche Integrationsvor- gabe, trotzdem führte das Sozialzentrum bereits jetzt erste Orientierungsgespräche mit Hussain. Im April 2017 erhielt er durch das Bundesamt für Migration die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“, durfte nun auch Leistungen durch das Jobcenter Leck in Anspruch nehmen. Daneben musste sich der Neu-Klixbüller und bewilligte einen Aktivierungsgut- zwischen gesetzlichen und privaten wenn er tagsüber nicht essen darf und jedoch auch mit Alltagsproblemen ausein- schein, damit er eine Anpassungsqualifi- Krankenkassen. Nach dem Praktikum daher körperlich weniger belastbar ist, andersetzen: In seiner Wohnung gab es zierung für zugewanderte Apotheker prüfte die Zulassungsbehörde in Kiel seine bemüht er sich, mehr zu sprechen. „Da- weder Bett noch Staubsauger, weder absolvieren konnte. Vom Sommer 2017 eingereichten Akten. Eine Woche später mit die Kollegen nicht merken, dass das Schrank noch Stuhl. Auch hier griff ihm an belegte Hussain über das IQ-Netzwerk erhielt er die Erlaubnis, nun ein ganzes Fasten mich so müde macht.“ Mit seinem das Jobcenter unter die Arme. einen Onlinekurs für ausländische Apo- Jahr und unter Aufsicht in der Apotheke Paten Sieghard Rathke steht er weiterhin Hussain erinnerte sich nun wieder an theker. Für die sechs Vor-Ort-Termine in zu arbeiten. Ein Mini-Job − für Hussain in gutem Kontakt. Wenn man ihn fragt, seinen Traum, als Apotheker zu arbeiten. Weimar übernahm das Jobcenter die ein maximaler Erfolg. Im Dezember 2018 was er neben seiner Familie und den In Coaching-Gesprächen mit dem Fallma- Fahrt- und Unterkunftskosten, daneben erhielt er vom Landesamt für soziale syrischen Freunden am meisten vermisst, nager wurden Perspektiven erarbeitet, bezahlte es notwendige Beglaubigungen, Dienste Schleswig-Holstein schließlich tippt sich Bassel Hussain an die Nase: Hürden bei der Finanzierung der erforder- den Führerschein Klasse B sowie alle die Approbationsurkunde als Apotheker. „Das Essen zu Hause! Es gibt viele kurdi- lichen Qualifikationen erörtert, Lösungen Verwaltungs- und Prüfungsgebühren. Bassel Hussain war überglücklich, in sche Restaurants in Deutschland. Aber gefunden. Das Jobcenter ermöglichte ihm Zusammen mit seinem Fallmanager diesem Moment zeigte sich ein Stückchen was meine Mutter gekocht hat, das war ein sechswöchiges Bewerbungstraining machte sich Hussain zeitgleich auf die seines alten Lebens. immer was Besonderes.“ Suche nach einem Praktikumsplatz in Seit 1. Januar 2019 hat er einen unbe­ einer Apotheke. Sechs Apotheken in fristeten Arbeitsvertrag mit der Flora-Apo- der Gegend suchte er auf, eine einzige theke. Hier fühlt er sich wohl, geschätzt reagierte positiv: die Flora-Apotheke in und gemocht. „Die sagen immer, ich rede Niebüll. Hier absolvierte er ein vierwöchi- so wenig“, lacht er. „Aber ich muss ges Praktikum, staunte über die deutsche immer gefragt werden, damit ich antwor- Genauigkeit, begriff den Unterschied ten kann.“ Besonders in der Fastenzeit,

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Ich hab den ganzen Rückweg geweint

Der Deutsche Marcel Komarek und die Afghanin Fahime Afshar leben nur weniger Kilometer voneinander entfernt in Husum. Beide sind jünger als 25 und haben nach völlig verschiedenen Problemlagen beruflich Fuß gefasst.

„Ich hatte kein Lieblingsfach, ich mochte Umso erstaunlicher, wie es danach weiter­ Marcel Komarek da gar nichts.“ Marcel Komarek sitzt mit ging: Im Frühjahr 2018 marschierte Kfz-Mechatroniker in Ausbildung 22 Jahre Basecap am elterlichen Wohnzimmertisch Komarek zum Jobcenter und verkündete und schüttelt den Kopf bei den Erinnerun- seiner Fallmanagerin: „Ich hab keinen gen an seine Schulzeit. Still sitzen, auf­ Bock mehr, zu Hause rumzusitzen. Geben passen, sich konzentrieren − das waren Sie mir was, wo ich was zu tun habe.“ nicht seine Golddisziplinen. Drei Anläufe Seine Ernte: ein Bewerbungstraining und Fahime Afshar brauchte der Husumer für den Haupt- ein Zusatzjob bei den Landungsbrücken, Friseurin 24 Jahre schulabschluss. Dann absolvierte er zwei wo er mithalf, Holzboote zu restaurieren. Jobcenter-Maßnahmen und eine Einstiegs- Ein halbes Jahr später erreichte ihn eine qualifizierung bei einer Kfz-Firma, die ihn vielversprechende Jobcenter-Mail: Das jedoch trotz guter Leistungen am Ende Autohaus Jensen suche einen Azubi. der Probezeit abservierte. Ein Moment Komarek sandte sofort eine Bewerbung in Komareks Leben, der ihm den Boden ab, am nächsten Tag wurde er zum unter den Füßen wegriss. „Ich mach jetzt Gespräch eingeladen. Es folgte ein zwei­ gar nichts mehr!“, war damals sein Impuls. wöchiges Praktikum, danach erneut ein Wie zum Trotz hörte er noch lauter harten Gespräch − diesmal gemeinsam mit den Metal Rock und beschallte die Straße Eltern. Das Ergebnis: Seit August 2019 ist gleich mit, was Nachbarn und Polizei auf Marcel Komarek Auszubildender, gleich- den Plan rief. zeitig büffelt er Deutsch und Mathe im Projekt Azubi-Lotse.

24 25 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

» Ich bin keiner, der daheim vor der Konsole hängt. « Marcel Komarek

» Dass die Lehre im Gegensatz zur Schulzeit Ich wollte nicht zu Hause bleiben viel besser läuft, hängt mit einem simplen und nichts machen. Umstand zusammen: „Ich hab mir das « ausgesucht, ich will ja Kfz-Mechatroniker Fahime Afshar werden!“ Dem Jobcenter ist Komarek sehr dankbar, die Fallmanagerin habe sich „endlos eingesetzt“, war immer ansprech- bar und hat ihm Mut gemacht. Richtig ermessen kann man seine Glücksge­fühle, wenn man weiß, was der 22-Jährige Fahime Afshar steuert ebenfalls keinen Berufsschule − die Freundin durfte einen Jobcenter einen Führerschein. 2016 in seiner Freizeit am liebsten tut: Autos Luxuswagen, sondern einen gebrauchten Deutschkurs besuchen, sie nicht. Tod­ be­gann Afshar einen Beruf zu lernen, reparieren und aufbereiten. „Ich bin Mazda, und auch den Azubi-Lotsen unglücklich sei sie gewesen. „Ich hab ohne je einen Sprachkurs besucht zu keiner,­ der daheim vor der Konsole besucht sie regelmäßig. Die schwarzen den ganzen Rückweg geweint. Ich wollte haben. Größte Hürde: die Theorie. hängt.“ Jede freie Minute verbringt er in Haare der 24-jährigen Afghanin sind auch selber bezahlen, dafür weniger „Es war so schlimm“, erinnert sie sich. der Schrauberhalle, wo er privat an den perfekt gestylt. Kein Wunder, sie arbeitet essen, weniger shoppen. Ich wollte nicht „Ich habe überhaupt nichts verstanden!“ Fahrzeugen von Bekannten werkelt. Am als Gesellin in einem Friseursalon. Hier in zu Hause bleiben und nichts machen.“ All das Schnee von gestern. Heute Lenkrad indes bäckt er kleine Brötchen: erfüllte sich im letzten August Dann hatte Afshar großes Glück. Die spricht Afshar fließend Deutsch, dreimal Er besitzt einen Polo 86C, Baujahr 1994. ihr Traum, als sie ihre Friseur-Ausbildung Ausländerbehörde fragte in einem Friseur- die Woche steht sie mit der Schere im mit der Praxisnote 1 abschloss. Jetzt salon an. Eigentlich hatte Besitzer Andreas Salon: „Ich liebe meinen Job.“ Daneben ar­beitet sie Teilzeit und ist nach Ansicht Gasko innerlich damit abgeschlossen schätzt sie die Sicherheit in Deutschland. ihres Chefs ein Ass an der Schere. aus­­zubilden, trotzdem lud er die junge „Wenn du abends allein nach Hause gehst 2014 floh Afshar mit den Eltern und Frau ein, ließ sich zeigen, was sie konnte. mit einem guten Gefühl, das ge­fällt mir.“ sechs Geschwistern vor den Taliban, es Ihr Engagement und ihr Wesen begeister- Im Herbst hat sie sich verlobt − mit einem wurde eine dreimonatige Odyssee − meist ten ihn. Afshar durfte nun jeden Montag Landsmann, den sie an der Berufsschule zu Fuß − von Herat über den Iran, die aushelfen, zwischen den Kundentermi- Niebüll kennenlernte. Fahime Afshar ist Türkei, Bulgarien und Serbien. Das Ziel nen lernte sie mit dem Chef Deutsch. angekommen in Deutschland. In ihrem war unbestimmt, irgendwann wurde es Aus der Aushilfe wurde ein dreimonatiges zweiten Leben. Deutschland: München, Hamburg, Niebüll, Praktikum. Dann kam von der Hand- Husum. Dort hieß es erstmal warten. Mit werkskammer die Genehmigung für eine einer iranischen Freundin ging sie zur Ausbildung, zusätzlich bewilligte das

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Durch Arbeit bestimmt sich ja das ganze Leben

Wolf Schumacher mussten nach einer schweren Krankheit beide Vorderfüße amputiert werden. Inzwischen ist er in einem nahezu normalen Leben angekommen.

Wolf Schumacher war mal Judo-Landes- 2014 passierte ihm, was man keinem Wolf Schumacher meister von Schleswig-Holstein und trug Menschen wünscht: Wolf Schumacher Montagehelfer 54 Jahre einen Braunen Gürtel. Da war er 17 und wurde mit einer schweren Lungenentzün- die Welt voller Möglichkeiten. Das Judo dung ins Krankenhaus geflogen, fiel zeit- machte bald einer Freundin und der weise ins Koma, sein Herz versorgte die ersten Suzuki Platz, dem Hauptschulab- Beine nicht mehr ausreichend mit Blut, die schluss folgte eine Lehre zum Schlosser. Zehen verfärbten sich schwarz. Am Ende Sein Vater hatte ein Leben lang als Tisch- mussten ihm die Ärzte beide Vorderfüße ler gearbeitet und dem Sohn einen Fi- amputieren. Seitdem trägt er schwere schertechnik-Baukasten und den Sinn fürs Stützschuhe, mit denen er stehen und sich Handwerkliche mitgegeben. „Für meinen leidlich gut fortbewegen kann − dasselbe Vater war Holz der Werkstoff, für mich ist Paar Schuhe für drinnen und draußen. es Metall“, erinnert sich der geborene Manchmal, wenn er abends auf dem Sofa Husumer schmunzelnd. Schumacher sitzt, plagen ihn Phantomschmerzen, oder junior war als Schlosser in der Landwirt- eine Stelle juckt. „Man guckt dort hin und schaft tätig, stellte in der Region Wind- sagt sich: Da ist doch gar nichts, was mühlen auf. Die längste Zeit − ein Dut- wehtun könnte!“ Dann versucht er, sich zend Jahre − arbeitete er in Mildstedt für innerlich zu entspannen, und meistens hilft die Technikfirma Taylor-Wharton. das auch ganz gut.

28 29 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

» Das ist eigentlich nur eine Sache des Willens. «

Hatte er nach dem Unglück Zweifel daran, Als Mensch mit Schwerbehinderung und Inzwischen arbeitet Schumacher im Schumacher ist Single und bewohnt ein im wahrsten Sinne des Wortes wieder einem Alter über 50 hatte Schumacher Werk als fest angestellter Montagehelfer, Haus in Oldersbek. Seine Eltern sind tot, auf die Beine zu kommen? Schumacher erhebliche Probleme, eine Stelle zu finden. bewältigt ohne Probleme eine 40-Stun- sein jüngerer Bruder lebt im fernen Berlin. schüttelt den Kopf. „Das ist eigentlich Hinzu kam, dass er aufgrund seiner Ein- den-Woche. Er hilft, die dort gefertigten Privat schnackt er gerne bei einem Bier mit nur eine Sache des Willens“, erklärt er. schränkung nur einen sehr speziellen Baken weiterzubearbeiten, beklebt sie mit den Kollegen. „Ich hab einen großen „Am Anfang hatte ich schon meine Beden- Arbeitsplatz ausfüllen kann. Um seine rot-weißen Folien. „Montieren, kleben, Bekanntenkreis, und irgendwer hat immer ken, ob ich das jeden Tag hinkriege mit Eignung genauer einzuschätzen, ermög- polieren“, umschreibt er seine Tätigkeit, irgendwas zu flicken“, sagt er. Traut er der Arbeit. Aber es geht.“ Der größte lichte ihm das Jobcenter im Frühling 2017 die weniger anspruchsvoll und körperlich sich zu, alles zu reparieren, was aus Metall Ansporn, nach der Operation wieder ins ein vierwöchiges Praktikum in den Husu- leichter ist als früher das Schlossern. ist? „Grundsätzlich ja“, sagt er und lacht. Leben zu gehen, sei für ihn die Aussicht mer Werkstätten, ein Kooperationspartner Immerhin: Bohrmaschine und Schrauben- „Außer es ist zu groß oder zu schwer.“ Im auf Arbeit gewesen; aufgrund der der Firma Nissen Plast, Tochterfirma von schlüssel sind Werkzeuge, die er auch letzten Sommer reiste er mit seinem Auto wochen­langen Fehlzeit hatte er seine Adolf Nissen Elektrobau in Tönning. Der jetzt noch benutzt. Ob er im Sitzen oder und einer Landkarte durchs halbe Land, Stelle verloren. „Ich wollte nicht den Inklusionsbetrieb beschäftigt zur Hälfte Stehen tätig ist, kann er sich frei einteilen. Höhepunkt war ein Besuch der Zugspitze. Rest meines Lebens behindert zu Hause Menschen mit Handicaps, fertigt Baken, Der 54-Jährige hat nach seinem Schick- Im Moment wirkt er sehr mit sich im sitzen und nichts tun“, erklärt er und Kegel, Blinklichter − alles, was auf deut- salsschlag wieder einen Lebensinhalt Reinen, er genießt die Regelmäßigkeit in hebt die Hände bei dem bloßen Gedan- schen Wanderbaustellen so gebraucht ge­funden, verdient genug Geld, muss seinem Leben. Die Arbeit ist sein Fixpunkt, ken. „Durch Arbeit bestimmt sich ja das wird. Das Praktikum gab Wolf Schumacher sich nicht ums Überleben sorgen. man kann sagen, sie zentriert ihn. Was ganze Leben.“ neuen Mut: Er fühlte sich im Team wohl, er sich für die Zukunft wünscht? Wolf die Arbeit verschaffte ihm Auftrieb. Schumachers Antwort kommt wie aus der Endlich etwas Sinnvolleres, als zu Hause Pistole geschossen: „Gesundheit. Alles die Wände anzustarren. andere funktioniert gerade.“

30 31 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

Ich fühlte mich eingesperrt

Jessica Cornils träumte bereits als Kind davon, am Lenkrad eines Lasters zu sitzen. Drei Jahrzehnte später hat sich ihr Wunsch endlich erfüllt.

Straßen und Autos lockten sie schon im- „Ich habe dann Bewerbungstrainings Jessica Cornils ­mer. „Seit ich vier Jahre alt bin, behauptet gemacht, ich weiß aber nicht wie oft, ich Berufskraftfahrerin 38 Jahre meine Mutter.“ Jessica Cornils schüttelt glaube fünfmal oder so. Ja, und dann kam den Kopf und lacht. So ganz kann sie sich ich nach Nordfriesland.“ nicht daran erinnern, aber Bruchstücke 2011 begann sie wieder zu arbeiten, sind da. Zum Beispiel, wie sie mit ihrem als es sie knüppeldick erwischte: Sie Papa nach Schweden mitgefahren ist. Die wurde mit einer Lungenentzündung Reise dauerte mehrere Tage, sie übernach- schwer krank, lag drei Wochen im Kran- tete hinterm Fahrersitz − ein großes Aben- kenhaus. Nach ihrer Genesung versuchte teuer für ein kleines Mädchen. Und so ein sie, eine Hauswirtschaftslehre zu machen, Mädchen soll später bei Rossmann Regale doch auch die brach sie ab, „weil das einsortieren oder Hauswirtschaft lernen? einfach nicht meins gewesen ist“. Der Cornils schüttelt erneut den Kopf. Gedanke, nur noch in geschlossenen Jessica Cornils wurde vor 38 Jahren in Räumen zu arbeiten − in Privathaushalten, Heide geboren. Die Mutter war Verkäufe- im Kindergarten oder Seniorenheim rin, der Vater Lkw-Fahrer. Mit 20 heiratete − erschreckte sie. „Ich habe noch ein sie, mit 25 war sie geschieden. In der Zeit halbes Jahr im Hotel gearbeitet, in Fried- bekam sie drei Töchter, die sind jetzt 17, richstadt, als Zimmermädchen, aber da 16 und 14. „Ich habe damals Verkäuferin habe ich mich eingesperrt gefühlt und gelernt, aber das wegen der ersten Geburt bin wieder krank geworden, das ging abgebrochen, später kamen die beiden auch nicht mehr. Jetzt musste wirklich anderen Kinder dazu. Ich bin also Mama mal was passieren.“ und Hausfrau gewesen.“ Das war in Lunden, nach der Trennung vom Mann.

32 33 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

» Meine letzte Fallmanagerin war die beste, die ich je hatte. « 2015 und 2016 ermöglichte ihr das Jobcenter insgesamt drei Coachings für Erziehende, aber erst die Weiterbildung bei der Fahrschule Bolzenius in Heide stell- te die Weichen dahin, wo sie eigentlich hinwollte: auf die Landstraße. Cornils begann eine Ausbildung zur Berufskraft- Cornils fing nicht bei null an, regelmäßig An der Straße zwischen Heide und Wenn mal nichts zu tun ist, sitzt die fahrerin. „Meine Theorie-Ausbildung lief chauffiert sie ihre Töchter zur Schule − Rendsburg liegt die Spedition Matthies- Friedrichstädterin gern auf dem Sofa, 2018 mit täglich vier Stunden Ausbildung. 25 Kilometer hin und zurück. Nur beruf- sen, bei der ihr Vater arbeitet. Im letzten genießt die Ruhe, geht mit dem Hund Insgesamt 140 Stunden. Zum Glück lich war ihr das Fahren bislang verbaut, Frühjahr waren beide zusammen dort. spazieren. Sie ist mit der Heimaterde haben sie es nicht so trocken gemacht.“ die familiäre Situation stand im Weg. „Der Papa geht bald in Rente, und die verwurzelt, dem Kreis Dithmarschen. Sie fühlte sich sofort wie ein Fisch im „Weil meine Kinder klein waren und meine Chefin sagte schon, dass ich ihn dann Auch die Kinder sind im Geiste stolze Wasser. „Ich kenne die Fahrschule von Mutter immer gearbeitet hat.“ Jetzt aber ablösen soll.“ Cornils strahlt. Irgendwie Dithmarscher. „Ich denke mal, wenn die klein auf. Wir hatten damals eine Spe­ sind die Kinder aus dem Gröbsten heraus war es vorbestimmt: der Opa war Kraft- Mädchen mitspielen und alles klappt, dition gehabt, und mein Papa hat da und schmulen selber schon ins Fahrge- fahrer, der Uropa war es, der Stiefvater dann können wir später alle wieder ge­arbeitet. Die wussten schon, wer da werbe. „Meine mittlere Tochter, die macht und der aktuelle Freund sind es. Und nun, zurück nach Heide ziehen“, sagt Jessica kommt.“ eine Ausbildung in diesem Bereich, und im Jahr 2020, auch sie selber. Cornils. „Das wäre das Ziel.“ die Große steuert auch so ein bisschen Dem Jobcenter ist sie unendlich darauf zu. Wahrscheinlich wird sie Einzel- dankbar. „Dass ich meine Führerscheine handelskauffrau machen und danach bezahlt bekommen habe. Meinen Pkw- Automobil-Verkäuferin.“ Führerschein und auch Lkw. Ich hab Im Sommer 2019 bestand Cornils bei Unterstützung bekommen für die Kinder, der IHK in Kiel die Führerscheinprüfung die eine Betreuung gekriegt haben, und für Anhänger. „Ich fand, Anhänger ist ein dass man eigentlich immer fragen kann. bisschen schwieriger, aber wenn man übt, Meine letzte Fallmanagerin war die beste, dann kriegt man das auch hin.“ Das alte die ich je hatte.“ Wissen vom Papa nützte dabei wenig: „Heute ist ja alles Automatik.“ Cornils wirkt zufrieden, endlich hat sie ein Ziel vor Augen.

34 35 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

Ich liebe die deutsche Sprache

Der Tschetschene Sayd-Akhmed Israilov hat eine genaue Vorstellung davon, wie er in Deutschland leben möchte. Seine Heimat vermisst er dennoch.

Es ist halb acht, durch die Fenster der über das Internet in Kontakt mit seinen Sayd-Akhmed Israilov Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein Verwandten und Freunden, die in Russ- Deutschlehrer 51 Jahre in Husum leuchtet die Morgensonne. land leben. Die Familie landete zunächst Sayd-Akhmed Israilov trifft gleich seine in Hamburg, dort wurde ihr eine Woh- Schüler. „Ich liebe die deutsche Sprache“, nung in Niebüll angeboten. Drei Jahre sagt der 51-Jährige. „Sie war mir lange dauerte es, bis Israilov den Status Aner- fremd, und nun ist sie fast meine eigene kannter Flüchtling erhielt. Sprache.“ Seinen ersten deutschen Satz Beruflich hatte er eine klare Vorstel- lernte Israilov aus einem sowjetischen lung. Sein Abschluss als Lebensmitteltech- Kriegsfilm: „Hände hoch!“ Da war er nologe wurde in Deutschland anerkannt, noch ein Kind, und die Kriegswelt spielte aber alle Bewerbungen liefen ins Leere. sich nur im Fernsehen ab. Heute lebt er Für einfache Arbeiten war er überqualifi- 3000 Kilometer von Zuhause entfernt und ziert. Schritt für Schritt lernte er Deutsch. unterrichtet selber Deutsch. Von Oktober bis Dezember 2014 nahm er Israilov stammt aus Tschetschenien. Im an einer Schulungsreihe zum Multiplika- September 2013 kam er mit Frau und toren eines Teilhabeprojekts bei der AWO zwei kleinen Kindern nach Deutschland, Schleswig-Holstein teil. „Da konnte ich die politischen Zustände in der Heimat sehen, wie das alles in Deutschland so trieben ihn in den Westen. Seitdem hat er funktioniert.“ sein Land nicht wiedergesehen, steht nur

36 37 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

» Mir macht das Spaß, was ich mache, und ich denke, mein Arbeitgeber ist auch zufrieden. «

Die Informationen konnte er an russisch- entsprechenden Kurs belegt, den das An Wochentagen steht Israilov halb sechs und tschetschenischsprachige Geflüchtete Mini­sterium für Forschung und Bildung auf und pendelt mehr als 100 Kilometer weitergeben. Sein Deutsch war mittler- zu 50 Prozent finanziell unterstützte. durch den Landkreis. Seine Frau arbeitet weile so gut, dass er es als Zweitsprache Nebenher dolmetscht er ehrenamtlich bei in Teilzeit, da sie sich um die Kinder unterrichten konnte. Dafür brauchte er der AWO in Leck und beim Diakonischen kümmert. Beide sprechen Tschetschenisch jedoch eine offizielle Zulassung von der Werk in Husum. mit Dina, Yusuf und Daniel, sie wollen die Migrationsbehörde. „Die Voraussetzung Fortan unterstütze er eingereiste Lands- In der Sprachwelt fühlt sich Sayd- Muttersprache weitergeben. In der Frei- war, dass ich eine Zusatzqualifikation­ leute, die in Behörden oder bei gesund- Akhmed Israilov sicher und kompetent. zeit fahren sie Inliner und Rad, im letzten mache.“ Die Gebühren dafür übernahm heitlichen Problemen sprachlich nicht Ihn begeistert es, grammatische Struktu- Mai nahmen sie am Stadtlauf Niebüll teil. das Jobcenter. Israilov musste sich mehrere zurechtkamen. Außerdem nahm er eine ren zu durchschauen und daraus ihre Deutschland ist Israilov eine zweite Hei- Monate gedulden, denn die Warteliste Dozententätigkeit an der Wirtschafts­ Vermittlung abzuleiten. In Kapitel 9 des mat geworden, er möchte in Nordfries- war voll. Aber schließlich klappte es, und akademie auf. Lehrbuches geht es derzeit um gesunde land bleiben, die gute Luft bereitet ihm im Herbst 2018 hielt er das Zertifikat in Israilov denkt gern strategisch: Die Ernährung − da fühlt sich der studierte Wohlbehagen. Auch dass die Leute immer der Hand. Integrationskurse werden leerer, wo Lebensmitteltechnologe in seinem Ele- Moin sagen, gefällt ihm. Gleichwohl wird „Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich könnte er sein Sprachtalent in Zukunft ment. „Mir macht das Spaß, was ich abends meist tschetschenisch gekocht, da erstmal freiberuflich als Dolmetscher noch einsetzen? Auch hier griff ihm das mache, und ich denke, mein Arbeitgeber ist dann eher Reis als Kartoffelbrei im unterwegs gewesen. Jedoch konnte ich Jobcenter durch Bewerbungscoaching ist auch zufrieden“, sagt Israilov mit Topf. Deutsches Bier steht nicht auf dem als Selbständiger nicht genug für die und „Förderung der Mobilität“ unter die sanfter Stimme. Er liebt Goethe, und den Tisch. „Ich bin auch ohne Alkohol ver- ganze Familie verdienen“, erinnert er sich. Arme. 2018 unterstützte es ihn durch großen Dichter nicht mehr in Übersetzung rückt", lacht Sayd-Akhmed Israilov leise. eine „Zusatzqualifizierung für Lehrkräfte lesen zu müssen, macht ihn glücklich. Er in Alphabetisierungskursen“ sowie die rezitiert dessen Gedicht „Wandrers Nacht- „Zusatzqualifikation für Lehrkräfte im lied“ vollständig, seine Augen schimmern Bereich Deutsch“. Im April 2019 erwarb feucht dabei. er noch ein weiteres Zertifikat: „Rechts- sprache Deutsch“. Vorher hatte er einen

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Eine bessere Firma kannst du nicht finden

Bärbel und Ingo Schachtschneider sind seit 32 Jahren verheiratet. Auch beruflich gingen sie lange Zeit gemeinsame Wege − und tun es jetzt wieder.

Die zwei Norddeutschen hatten schon Bärbel Schachtschneider erinnert sich: Bärbel Schachtschneider einiges durch im Leben, als sie sich ken- „Er hat immer seine Mutter angerufen, 59 Sozialarbeiterin nenlernten. Der gebürtige Itzehoer Ingo und ich sag zu der Dame: Der hat aber Schachtschneider war beruflich lange auf eine schöne Stimme, den möchte ich gern Wanderschaft gewesen − angefangene mal treffen.“ Es funkte sofort, ein Jahr Kochlehre, Jobs auf dem Bau und im drauf wurde die erste gemeinsame Hamburger Hafen, mehrere Jahre in der Tochter geboren, Anfang 1988 auf dem Ingo Schachtschneider Gebäudereinigung − und verdiente sein Standesamt Itzehoe geheiratet. Ingo 60 Sozialarbeiter Geld als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Schachtschneider fuhr seine versammelte Gesundheitliche Probleme zogen sich wie Truppe auf: „Das war das Standesamt mit ein roter Faden durch sein Leben. Bärbel der Wendeltreppe, draußen standen die Schachtschneider − geboren in Kameraden Spalier!“ − hatte zu diesem Zeitpunkt schon drei Für beide war es die zweite Ehe, drei Kinder zur Welt gebracht, im Altenheim weitere Kinder folgten, am Ende wür­den gearbeitet, einen Imbisswagen betreut, es sechs Töchter und ein Sohn sein. Waren auf dem Wochenmarkt verkauft. Das Ehepaar ließ sich in Heide nieder Beide sehnten sich nach etwas Festem. und erlebte eine lange stabile Jobphase: Die zwei trafen 1986 in Itzehoe bei einem Beide arbeiteten als Gebäudereiniger, Tanzabend aufeinander, der Liebe auslö- zwei Jahre selbständig, 18 Jahre als sende Faktor war seine Stimme. Angestellte. Doch dann gab es, wie Ingo Schachtschneider es nennt, „Differenzen im Sicherheitsbereich“ − beide wurden 2016 entlassen.

40 41 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN JETZT MUSSTE WIRKLICH MAL WAS PASSIEREN

» » Das war das Standesamt mit der Wendeltreppe, Immer wenn wir in Heide sind, fragen uns die Leute: draußen standen die Kameraden Spalier. Wann kommt ihr wieder? « « Ingo Schachtschneider Bärbel Schachtschneider

Die Jobsuche gestaltete sich schwierig, Wer sieben Kinder durchs Leben bringt, Trotzdem ist der Schachtschneidersche Welche Wünsche haben die beiden für denn die beiden Verheirateten wollten muss ein Händchen für Menschen haben. Terminkalender randvoll, sie können gar die Zukunft? Bärbel Schachtschneider gern weiter zusammen arbeiten. Vom „Unsere Goldstückchen“ werden die nicht mehr alle Interessenten annehmen. überlegt nur kurz: „Weiterhin Freude an Jobcenter Niebüll wurden sie als Bedarfs- Schachtschneiders bei KiSe inzwischen Täglich pendeln sie von Risum-Lindholm der tollen Arbeit.“ Ihr Mann nickt: „Eine gemeinschaft betreut, Maßnahmen und genannt. Dort übernehmen sie sogenann- aus durch die Region. Ingo Schachtschnei- bessere Firma kannst du nicht finden.“ Gespräche meist zeitgleich geführt. Auf- te Entlastungstätigkeiten für Senioren: die der hat einen Führerschein, Bärbel nicht. Man muss es ihnen glauben: Für kein grund der Krankenanamnese erfolgte älteren Herrschaften auf Amtsgängen Also nimmt der 60-Jährige seine Frau im Geld der Welt würden sie ihren Job bei im August 2018 eine arbeitsmedizinische begleiten, saubermachen, Einkäufe und Auto mit und holt sie später wieder ab. KiSe eintauschen wollen, da sind sich Untersuchung. Im Jobcenter hörten die Besorgungen erledigen. Oft tauchen die Zum Glück bezahlte das Jobcenter einen die Schachtschneiders einig. Schachtschneiders auch das erste Mal beiden zu zweit auf, weil die Kunden sie neuen Pkw − der alte war hoffnungslos von einem Arbeitgeber namens KiSe. gern als Duo anfragen. Unter den Betreu- verschlissen. Das interessierte sie brennend, die zwei ten ist auch eine Familie mit sieben Pflege- Im Rückblick auf ihr bisheriges Arbeits- hatten in den 80er Jahren schon einmal kindern − bekanntes Terrain für die bei- leben halten sich Nostalgie und Ernüch­ über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme den: bemuttern, bespaßen, beköstigen. terung die Waage: Die zwanzig Jahre in die Altenbetreuung hineingeschnup- Die Einsatzzeiten werden mit den Kunden Gebäude­ ­reinigung waren ihnen lieb und pert. Das Kennlerngespräch mit der individuell abgesprochen, dabei entstehen teuer, aber, so Bärbel Schachtschneider: KiSe-Chefin verlief für beide Seiten viel- auch Freiräume. Am 14. August war „Es war auch sehr anstrengend. Das versprechend. Im Februar 2019 wurde Ein­­schulung einer Enkeltochter, den Tag Witzige ist“, fügt die 59-Jährige hinzu, das Ehepaar eingestellt − Bärbel mit organisierten sie sich frei. „immer wenn wir in Heide sind, fragen einer vollen Stelle, Ingo zunächst als uns die Leute: Wann kommt ihr wieder?“ geringfügig Beschäftigter. Drei Monate später schloss er arbeitszeitlich zu seiner Frau auf, damit honorierte die neue Arbeit­geberin seine motivierte Einstellung.

42 43 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN WIR GUCKEN NICHT SO GANZ AUF DIE MINUTE

Wir gucken nicht so ganz auf die Minute

Verena Heinsen unterstützt mit ihrem Servicebüro Senioren, die sich möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in ihrem Zuhause wünschen. Gleichzeitig bringt sie andere Menschen dadurch in Arbeit.

Frau Heinsen, wie kam es zum Senioren- Wieviele Menschen betreuen Sie, Servicebüro, und was genau ist das? und wobei helfen Sie ihnen? Verena Heinsen: Mein Servicebüro für Verena Heinsen: Viele. Ich habe Ko­ ältere Menschen habe ich im September operations­­verträge mit den Pflegediens- 2007 gegründet, später betreuten wir ten − selber machen wir ja keine Pflege −, dort auch Kinder. Als sich dann die Geset- und wir haben mittlerweile einen riesigen zeslage änderte, konzentrierten wir uns Kundenstamm. Ich habe 18 Mitarbeiter, wieder auf Senioren. Aber weil KiSe aber ich vermittle auch an Selbständige, als Begriff so gefestigt war, haben wir zum Beispiel wenn es um Gärten geht. Ich ihn beibehalten, zumal wir nach wie vor vermittle Fußpflege oder einen Friseur, der Kinder bei Erkrankung der Mutter im ins Haus kommt, weil viele alte Menschen, Haus versorgen. Die Leit­linie der Firma wenn sie zu Hause leben, einfach mit der ist die „Hilfe zum selbstbestimmten Leben Organisation über­fordert sind. Und wenn zu Hause“. Vermittelt und geleistet wird jemand sagt: Könnt ihr mir beim Johannis­ alles, was das Leben dort erleichtert. beerenpflücken­ helfen?, dann wird das Dafür haben wir ein sehr großes Netzwerk auch gemacht. Wir übernehmen aber keine auf­­gebaut. Wir arbeiten unter anderem körperlich schweren Sachen. Da wird kein mit dem Sozialen Dienst des Kranken­ Dachboden entrümpelt oder so, dafür hauses zusammen, und wir kooperieren gibt es Firmen. mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Kreises Nordfriesland. Auch Senioren ohne Pflegegrad gehören zu unserem Kundenstamm.

44 45 DER NORDFRIESISCHE WEG – WENN MENSCHEN WIEDER IN ARBEIT FINDEN

Wie setzt sich Ihr Personal zusammen? Was hat Sie eigentlich zu dem gemacht, Verena Heinsen: Als Arbeitgeber suche was Sie heute sind? ich Leute, die erfahren sind in Haushalt Verena Heinsen: Ich habe in Niebüll und Reinigung, und die andere Menschen am Gymnasium Abi gemacht, später in gut umsorgen können. Wir sind ein sehr Kiel Germanistik, Nordistik und Pädagogik fröhliches, freundliches Team mit unheim- studiert. Hauptziel war ja mal Lehramt, lich viel Empathie für die Senioren, aber aber zu der Zeit gab es wenig Referenda- auch für Familien mit Kindern. Unsere riatsstellen. Dann habe ich meinen Mann Mitarbeiter müssen selbständig agieren, kennengelernt und auf einen Bauernhof alle Einzelheiten mit den Kunden selber eingeheiratet. Begleitend zur Familie und besprechen. Die meisten kommen durch Arbeit zu Hause habe ich eine Ausbildung Mundpropaganda zu uns. Und wenn wir zur Pflege und Betreuung alter Menschen sehr viele Aufträge auf einmal reinbekom- Wie regeln Ihre Mitarbeiter die Einsätze Wie erreichen Sie, dass Mitarbeiter und später eine Ausbildung zur Hauswirt- men, rufen wir auch selber beim Jobcenter mit den Senioren? und Senioren sich gut verstehen? schaftsmeisterin gemacht. Während der in Niebüll oder Leck an, die Mitarbeiter Verena Heinsen: Es gibt für viele Senio- Verena Heinsen: Wir haben Mitarbeiter Arbeit in einem Pflegeheim reifte in mir geben die Anfrage dann dort in die Runde. ren die sogenannten Entlastungsleistun- in vielen Altersgruppen. Einige Senioren die Idee zur Firmengründung. Auch durch Auf die Art haben wir schon sehr gute gen. Dafür stehen 125 Euro im Monat zur mögen lieber Ältere im Haus haben, meine ehrenamtlichen Tätigkeiten als Leute gefunden. Denn im Jobcenter kennt Verfügung. Davon können sie die Einsätze andere wollen lieber Jüngere. Das muss Bezirkslandfrauen-Vorsitzende und stell- man ja unser Profil und weiß, wer zu uns mit unseren Mitarbeitern frei abstimmen, man vorher erfragen und rausfinden. vertretende Kreisvorsitzende hatte ich passt und wer nicht. Das ist eine sehr beispielsweise 14-tägig zwei Stunden, Die Chemie muss stimmen für beide ein großes Netzwerk. Da beschloss ich, schöne Zusammenarbeit. oder wie sie es auch immer gerne hätten. Seiten, schließlich geht es in den sensiblen etwas Neues zu gründen, nämlich das Und viele haben auch noch Guthaben, Bereich einer Familie. Es soll keiner mit Senioren-Servicebüro, um alten Leuten dann können sie mit uns absprechen, Bauchschmerzen zur Arbeit gehen, aber zu helfen. wie es zeitlich für alle passt. Häufig be­ auch der Senior soll sich wohlfühlen. Und gleiten unsere Leute sie zum Einkaufen, wenn es wirklich mal so sein sollte, dass Stammen Sie hier aus der Gegend,

oder wir haben auch Senioren, die sagen: es nicht passt, dann tauschen wir. wo ist Ihre Heimat? IMPRESSUM Ich möchte so gerne mal ein Eis essen Verena Heinsen: Ich bin in Eckernförde gehen, die kriegen dann eine Begleitung. geboren. Mein Vater war Berufssoldat, Redaktion Kreis Nordfriesland | Der Landrat Das ist ganz flexibel, und Zeitdruck ist deswegen sind wir häufig umgezogen, Fachbereich Arbeit und Soziales eigentlich nicht da. Wir gucken nicht so zeitweise lebten wir in Bayern. Jetzt wohne Marktstraße 6 | 25813 Husum nordfriesland.de ganz auf die Minute. ich in . Ich sehe das so: Meine Text Ingo Meyer | meyer-schreibt.de Heimat ist da, wo meine Familie ist. Ich Foto Andreas Birresborn | andreas-birresborn.de hänge nicht an einem Haus. Wenn meine Gestaltung terz Agentur für nachhaltige Kommunikation | terz.de Familie da ist, ist das meine Heimat. Druck Spreedruck, Berlin © 2020 Kreis Nordfriesland

46 Sozialzentrum Föhr-Amrum Feldstraße 36 25938 Wyk auf Föhr Telefon: 04681 7467–83 [email protected]

Sozialzentrum Husum und Umland Zingel 10 25813 Husum Telefon: 04841 666–0 [email protected] Sozialzentrum Südliches Nordfriesland Am Markt 1 Sozialzentrum Leck 25832 Tönning Klixbüller Chaussee 10 Telefon: 04861 614–567 25917 Leck [email protected] Telefon: 04661 601–601 [email protected] Sozialzentrum Sylt Maybachstraße 2 Sozialzentrum Mittleres Nordfriesland 25980 Sylt Norderende 2 Telefon: 04651 851–710 25821 Breklum [email protected] Telefon: 04671 9192–112 [email protected] Kreis Nordfriesland Fachdienst Arbeit/Jobcenter Sozialzentrum Niebüll Marktstr. 6 Hauptstraße 44 25813 Husum 25899 Niebüll Telefon: 04841 67-290 Telefon: 04661 601–501 [email protected] [email protected] www.nordfriesland.de/jobcenter