Wirtschaft

WIRTSCHAFTSPOLITIK „Wir überführen Eichel“ Pünktlich zum Start des Lügenausschusses gerät die Bundesregierung erneut in Erklärungsnot: Die Arbeitslosigkeit steigt, im Etat 2003 drohen neue Milliarden-Löcher. Noch versuchen Kanzler und Minister, die Probleme mit optimistischen Prognosen zu übermalen.

ie bei allem, was er anpackt, gibt ihm keine großen Sorgen. Ob Deutschland Doch der Kanzler und seine Minister auch die Rol- das Defizitkriterium der Europäischen mögen von den düsteren Botschaften Wle des Optimisten mit Inbrunst Union einhalten werde, die magische Drei- nichts wissen. Noch nicht. und Hingabe. Das Land braucht schließlich Prozent-Grenze, wurde Clement am Don- Die EU-Kommission, die im vergange- „Mutmacher und nicht Miesmacher“. nerstag voriger Woche gefragt. „Wir gehen nen Jahr einschlägige Erfahrungen mit der Unverdrossen hielt Gerhard Schröders davon aus, ja“, lautete seine Antwort. Haltbarkeit Berliner Prognosen gemacht Mann für gute Stimmung deshalb an der Schön wär’s. hat, betrachtet die rot-grünen Ankündi- Wachstumsprognose der Regierung von 1,5 Alle Konjunkturinstitute sagen anderes gungen denn auch mit Argwohn. „Die An- Prozent fest. Erst Ende vergangener Woche voraus. Nicht knapp vier Millionen Ar- nahmen erscheinen mir etwas zu optimis- zeigte er leichte Zweifel. Er werde den beitslose werden sich in den Gängen der tisch“, gab Währungskommissar Pedro Sol- Wert wohl ein bisschen nach unten korri- Arbeitsämter drängeln, sondern mindes- bes vergangene Woche zu bedenken und gieren müssen. tens 4,2 Millionen. Selbst eine Rezession sei forderte auf, bis Mitte Mai ein Sa- Doch die Zahl der Jobsuchenden, da ist möglich. Und weil all dies die öffentlichen nierungsprogramm vorzulegen. Clement sich nach wie vor sicher, werde in Kassen belastet, dürfte auch das staatliche Aber Clement und Finanzminister Hans diesem Jahr wieder fallen – auf unter vier Defizit höher liegen – bei bis zu 3,2 Prozent Eichel spielen auf Zeit. Nach wie vor hal- Millionen. Und auch die Schulden machen des Bruttoinlandsprodukts. ten sie an jenen Daten fest, auf denen ihre ALEXANDRA WINKLER / REUTERS WINKLER ALEXANDRA Minister Eichel, Clement: „Noch in diesem Jahrzehnt die Rückkehr zur Vollbeschäftigung schaffen“

70 der spiegel 3/2003 Dazu will der Minister eine wartenden 4,2 Millionen Arbeitslosen mit „Allianz für Erneuerung“ ins der Ankündigung ihres Ministers in Ein- Leben rufen, ein aufgepepptes klang bringen, die Zahl werde unter vier Bündnis für Arbeit also, in dem Millionen sinken. Clement setzt dabei vor nicht nur Politik, Arbeitgeber allem auf die Wirkung der Mini-Jobs. und Gewerkschaften vertreten Bei einer internen Anhörung zum Jah- sind, sondern „alle gesellschaft- reswirtschaftsbericht dämpften die Präsi- lichen Gruppen und gesamt- denten einiger Forschungsinstitute in der wirtschaftlichen Akteure“. Cle- vergangenen Woche diese Hoffnungen. Die ment erhofft sich dadurch „eine Regierung solle sich nicht zu viel von den neue, lang anhaltende Wachs- Billig-Jobs versprechen, warnte DIW-Chef tumsdynamik“ als „wichtigste Klaus Zimmermann. Die Mini-Stellen kä- Voraussetzung für die Schaffung men vor allem Menschen aus der „Stillen von deutlich mehr Arbeitsplät- Reserve“ zugute, die bislang in keiner Sta- zen und den Abbau der Staats- tistik auftauchten. Deshalb werde die Ar- verschuldung“. beitslosenrate kaum sinken.

MONASSE / MODUSPHOTO.COM MONASSE Derzeit hoffen die Beamten Was für Clement noch eine neue Erfah- EU-Kommissar Solbes: Argwohn in Brüssel der Regierung, dass sie wenigs- rung ist, stürzt Finanzminister Eichel in ein tens den Prognose-Part des Be- altbekanntes Dilemma. Angesichts der gesamte Wirtschaftspolitik beruht: das richts nicht auch noch schönen müssen, schlappen Konjunktur ist sein Etat nicht Hartz-Konzept ebenso wie der Etat für die der in dieser Woche zwischen den Minis- zu halten, seine Defizitprognose überholt. Arbeitslosenhilfe oder die Höhe der Neu- terien und dem Kanzleramt verhandelt Die vorerst letzte hat er erst kurz vor Weih- verschuldung. wird. Schon jetzt steht fest, dass die An- nachten nach Brüssel gemeldet: Das Minus Pünktlich zum Start des Lügenausschus- nahme von 1,5-prozentigem Wachstum in den öffentlichen Kassen werde 2003 bei ses, der diese Woche in Berlin zusammen- nicht mehr zu halten ist. Geht es nach den rund 2,75 Prozent des Bruttoinlandspro- kommt, gerät die Regierung damit erneut in Konjunkturexperten der Regierung, müsste dukts liegen. 2006 solle ein ausgeglichener Gewissensnot: Soll sie schnell mit der vol- die Prognose auf 1,0 Prozent zurückge- Haushalt präsentiert werden. len Wahrheit herausrücken? Soll sie vor nommen werden. Beide Ankündigungen stimmen nicht den Wahlen in Hessen und Niedersachsen Größtes Kopfzerbrechen bereitet den mehr. Das Defizit für dieses Jahr wird bei einräumen, dass die Etatplanungen für 2003 Beamten derzeit, wie sie die dann zu er- drei Prozent, wahrscheinlich darüber lie- Makulatur sein könnten? Oder ignorieren gen, haben Eichels Beamte aus- der Kanzler und seine Minister erneut die gerechnet. Und 2006 wird noch Mahnungen der Experten? Optimistische Ziele ... immer ein Minus zu verzeich- „Das Wesentliche in Schröders Politik nen sein. Dennoch hat sich Ei- der letzten Jahre ist doch gerade, dass er bisherige Eckdaten der Bundesregierung für 2003 chel entschlossen, die wahre nicht tut, was er sagt“, schimpft Hessens WIRTSCHAFTSWACHSTUM in Prozent ARBEITSLOSE Lage in Brüssel allenfalls mit Ministerpräsident , der Mitte 1,5 unter 4 Mio. knappen Worten anzudeuten. November die Idee zum Lügenausschuss erinnert die- Prognosen der Institute hatte (siehe Seite 40). „Rot-Grün versucht ses Verhalten fatal an die Wo- schon wieder, die Wähler zu täuschen“, RWI 1,0 bis 1,4 chen vor der Bundestagswahl. kritisiert auch Peter Altmaier, Unionsob- IWH 1,1 „Das läuft nach dem gleichen mann im Untersuchungsausschuss. ARBEITSLOSE Strickmuster ab“, empört sich Ifo Anders als im Sommer dürfte es der Re- 1,1 4,2 Mio. der CDU-Aufklärer. gierung aber nicht so leicht fallen, sich bis IfW 1,0 In den nächsten Monaten zum Wahltermin durchzumogeln. Gleich will er haarklein untersuchen, zweimal kommt es in den nächsten drei HWWA 0,7 „ob und in welchem Umfang“ Wochen zum Schwur: Am 21. Januar muss Mitglieder der Bundesregie- DIW 0,6 Finanzminister Eichel in Brüssel Rede und rung die Öffentlichkeit und den Antwort stehen. Nur eine Woche später, vor dem 22. Sep- am 29. Januar, legt Clement den Jahres- ... böses Erwachen? tember vergangenen Jahres wirtschaftsbericht der Regierung vor. STAATSDEFIZIT über die Kassenlage „falsch Das Werk beschreibt detailliert die in Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder unvollständig informiert Grundzüge der rot-grünen Politik – im op- haben“. Altmaier ist fest davon timistischen Grundton des Kabinettsneu- 1999 2000 überzeugt, dass der Nachweis 2001 2002* lings Clement. Einen ersten Entwurf, der 2003** des Wahlbetrugs gelingen wird: die jüngsten Abgabenerhöhungen der Re- „Wir werden Hans Eichel bis gierung sehr kritisch beurteilte, ließ sein zum Sommer der Lüge über- Staatssekretär Alfred Tacke so lange um- –1,5 –1,4 führen. Alle Indizien sprechen schreiben, bis das Werk den Ansprüchen gegen ihn.“ des neuen Dienstherrn entsprach. Die Strategie des Show- nach den So beginnt das zweite Kapitel mit dem bisherigen Prozesses ist klar: Systema- kühnen Versprechen, „die Arbeitslosigkeit Eckdaten tisch will die Union die deutlich abzubauen und noch in diesem der Bundes- Wahlkampfaussagen des Fi- –2,8 –2,75 regierung Jahrzehnt die Rückkehr zur Vollbeschäfti- laut nanzministers mit den Er- gung zu schaffen“. Das sei „die Aufgabe, kenntnissen aus den inter- Maastricht-Vertrag bei der sich die Bundesregierung stellt“. Im erlaubt: –3Prozent einem nen Dokumenten der Regie- Klartext: Die 4,2 Millionen Arbeitslosen –3,8 Wachstum rung vergleichen. Allein 19 sollen in nur sieben Jahren wieder in Lohn *vorläufig von nur Beweisanträge will Altmaier und Brot gebracht werden. **geschätzt –3,2 0,7 Prozent am Donnerstag stellen – und

der spiegel 3/2003 71 dabei besonders viele Papiere aus dem Fi- nanzministerium anfordern. Dazu gehört der komplette Bestand an Akten und sons- tigen Unterlagen von Referaten wie II A 1 (Generalreferat für die Aufstellung des Haushalts und des Finanzplans), I B 5 (Ana- lysen und Projektionen der kurzfristigen Wirtschaftsentwicklung) und I A 6 (Steuer- aufkommensschätzungen). Außerdem will die Union bis zu 59 Zeu- gen laden: Auf der Liste stehen und ebenso wie Ei- chels Chefhaushälter Manfred Overhaus, Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, Regierungssprecher Béla Anda, dessen Vorgänger Uwe-Karsten Heye und Oswald Metzger. Die Aussagen des Grünen-Politi- kers über die Ehrlichkeit der Regierung brachte den Ausschuss einst ins Rollen.

Doch als Erstes möchte Altmaier am 30. / VISUM JÖRG MÜLLER Januar, also noch vor den Landtagswahlen, Saturn-Elektromarkt: „Da weiß man, was die Stunde geschlagen hat“ Eichel und Gerhard Schröder befragen, was die SPD mit ihrer Ausschussmehrheit zu verhindern sucht. „Wir werden nicht HANDEL zulassen“, sagt SPD-Obmann Dieter Wie- felspütz, „dass der Ausschuss zu Wahl- kampfzwecken missbraucht wird.“ Geiz ist gefährlich Der Rechtsexperte der Genossen fordert, dass die Abgeordneten sich in den ersten Durch anhaltende Rabattschlachten versucht der geplagte vier Wochen erst mal einen Überblick über Zahlen und deren Zustandekommen ver- deutsche Einzelhandel, seine eigene Krise schaffen. Zunächst will die SPD fünf Sach- zu bewältigen – und schadet damit nicht nur sich selbst. verständige laden, darunter den unions- nahen Wirtschaftsforscher Meinhard Mie- ürs Geschäft stellt Peter Schütte gern der Einzelhandel einen Umsatzrückgang gel. „Die Reihenfolge der Untersuchung alles auf den Kopf – auch sich selbst. von sechs Prozent. „Damit war der No- muss stimmen“, sagt der Ausschussvor- FDem Inhaber eines Modehauses für vember der schlechteste Monat in einem sitzende (SPD). „Wir Damenoberbekleidung in Oldenburg kam ohnehin miserablen Jahr“, sagt Hubertus werden uns von unten nach oben durch- die Idee, seine Kunden mit einem Kopf- Pellengahr vom Hauptverband des Deut- arbeiten, nicht umgekehrt.“ stand zu begeistern. Und jeden, der es ihm schen Einzelhandels (HDE). Der Verlust Das Gezerre um den Zeitplan dürfte die gleichtat, belohnte Schütte mit einem Ra- schmerzt umso mehr, als das Weihnachts- nächsten Wochen beherrschen. Offiziell batt von 20 Euro. Egal was er kaufte, egal geschäft bis zu 90 Prozent des Jahresge- setzen die Obleute zwar auf die Koopera- wie viel er kaufte. winns ausmachen kann – etwa beim Han- tion der jeweils anderen Seite, doch sollte Innerhalb von zehn Tagen lockte Schüt- delskonzern Douglas. es zum „vertieften Streit“ (Wiefelspütz) te mit der Akrobatik-Aktion mehr als 200 „Die goldenen Jahre sind für alle Zeiten kommen, erwägen sowohl SPD als auch Menschen in seinen Laden, die sich das vorbei“, sagt Pellengahr. Schon im ver- Union den Gang nach Karlsruhe: Nach Kunststückchen zutrauten. Sogar eine drei- gangenen Jahr strich die Branche mehr als dem neuen Gesetz für Untersuchungsaus- köpfige Familie rückte an und kassierte auf 30000 Stellen, über 10000 Geschäfte gingen schüsse entscheidet ein Ermittlungsrichter einen Schlag 60 Euro Nachlass. Um 28 Pro- Pleite. Der Trend setzt sich fort. Rund 80 beim Bundesgerichtshof über strittige Ver- zent konnte der Manager seinen Umsatz Prozent der westdeutschen Bundesbürger fahrensfragen – notfalls in 24 Stunden. steigern. „Durch die gute Stimmung im La- wollen einer Forsa-Umfrage zufolge in die- Eichel lässt derweil schon mal seine Ver- den haben die Leute wie verrückt gekauft. sem Jahr noch weniger Geld für Einkäufe teidigungsstrategie vorbereiten. Eine Task- Manche haben hier über 1000 Euro liegen und Reisen ausgeben als 2002. Fast zwei Force unter Leitung von Abteilungsleiter lassen“, sagt er. Drittel aller Deutschen beabsichtigen, ihr Rainer Türmer, zuständig für Rechtsfra- Doch sein Erfolg kann nicht darüber hin- Budget für Urlaub und Reisen drastisch gen, hat bereits mit der Arbeit begonnen. wegtäuschen, dass es seiner Branche so zu kappen – obwohl die Preise zwischen Gleichzeitig denkt der Finanzminister dar- schlecht geht wie selten zuvor. Noch nie 8 und 20 Prozent gesunken sind. über nach, genau jene Institutionen abzu- haben die Deutschen so lustlos geshoppt. Die Deutschen tragen ihr Geld lieber strafen, die mit ihren kritischen Zahlen Das Thema Kaufzurückhaltung beschäftigt aufs Konto. Lag die Sparquote am verfüg- auch jetzt der Regierung wieder so große mittlerweile sogar die deutschen Feuille- baren Einkommen 1999 noch bei 9,8 Pro- Schwierigkeiten bereiten: die sechs großen tons, die ausgiebig über das Ende des zent, so stieg sie in den ersten drei Quar- Wirtschaftsforschungsinstitute. „Konsumismus“ philosophieren und eine talen 2002 auf 10,7 Prozent. „Es herrscht Im Etat 2004, überlegt der Finanzminis- ernsthafte Störung der „jahrhundertealten einfach nicht die richtige Grundstimmung ter ernsthaft, könnte er den staatlichen Zu- Liebesbeziehung Ware/Käufer“ wittern. für zügelloses Konsumieren“, sagt Rainer schuss für die unabhängigen Institute kom- Seit zehn Jahren ist der Umsatz im hie- Wezel vom Institut für angewandte Ver- plett streichen. „Wir wären doch dumm“, sigen Einzelhandel nicht mehr so stark ein- braucherforschung. sagt ein hochrangiger Beamter der Regie- gebrochen wie 2002. Ein Minus von 2,5 Die Gründe sind so vielfältig wie nahe rung, „wenn wir weiterhin unsere größten Prozent musste die Branche verkraften. Al- liegend. „Bei aktuell 4,22 Millionen Ar- Kritiker finanzierten.“ lein im November – der bereits dem Weih- beitslosen und der Ungewissheit, wie sich Christian Reiermann, Ulrich Schäfer nachtsgeschäft zugerechnet wird – erlitt die Steuer- und Abgabenbeschlüsse der

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