Plenarprotokoll 15/53

Deutscher

Stenografischer Bericht

53. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Inhalt:

Berufung der Abgeordneten Gabriele c) Erste Beratung des von den Abgeord- Lösekrug-Möller in das Amt der Schriftfüh- neten , Sabine rerin der Fraktion der SPD ...... 4305 A Leutheusser-Schnarrenberger, weiteren Berufung der Abgeordneten Ulrike Höfken Abgeordneten und der Fraktion der als stellvertretendes Mitglied im Beirat der FDP eingebrachten Entwurfs eines Regulierungsbehörde für Telekommunikation Gesetzes zur Änderung des Grund- und Post ...... 4305 B gesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine Erweiterung der Tagesordnung ...... 4305 B europäische Verfassung (Drucksache 15/1112) ...... 4311 B Zur Geschäftsordnung: d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 4307 A der Europäischen Union zu dem An- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD ...... 4308 A trag der Abgeordneten Peter Hintze, , weiterer Abgeordneter CDU/CSU ...... 4309 A und der Fraktion der CDU/CSU: Ein (Köln) BÜNDNIS 90/ Verfassungsvertrag für eine bürger- DIE GRÜNEN ...... 4309 D nahe, demokratische und hand- lungsfähige Europäische Union (Drucksachen 15/918, 15/1138) . . . . . 4311 C Tagesordnungspunkt 3: e) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Abgabe einer Erklärung durch die Ausschusses für die Angelegenheiten Bundesregierung zu den Ergebnissen der Europäischen Union zu dem Antrag des Europäischen Rates in Thessalo- der Abgeordneten Dr. , niki am 20./21. Juni 2003...... 4311 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, b) Erste Beratung des von der Bundes- weiterer Abgeordneter und der Frak- regierung eingebrachten Entwurfs ei- tion der FDP: Initiativen des Brüs- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom seler Vierergipfels zur Europäischen 16. April 2003 über den Beitritt der Sicherheits- und Verteidigungsunion Tschechischen Republik, der Repu- (ESVU) über den Europäischen Ver- blik Estland, der Republik Zypern, fassungskonvent vorantreiben der Republik Lettland, der Republik (Drucksachen 15/942, 15/1139) . . . . . 4311 C Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Po- f) Bericht des Ausschusses für die Ange- len, der Republik Slowenien und der legenheiten der Europäischen Union Slowakischen Republik zur Euro- gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsord- päischen Union nung zu der Unterrichtung durch die (Drucksachen 15/1100, 15/1200) . . . . 4311 B Bundesregierung: II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Vermerk des Präsidiums für den Peter Hintze CDU/CSU ...... 4345 B Konvent Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 4346 B Organe Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 4346 D – Entwurf von Artikeln für Titel IV Dr. Christoph Zöpel SPD ...... 4348 A des Teils 1 der Verfassung – CONV691/03 Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 4349 D (Drucksachen 15/1041 Nr. 3.1, 15/1163) 4311 D Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 4350 C Dr. Christoph Zöpel SPD ...... 4351 B in Verbindung mit CDU/CSU ...... 4352 B SPD ...... 4353 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter Zusatztagesordnungspunkt 3: und der Fraktion der CDU/CSU: Zum Erste Beratung des von der Fraktion der Stand der Beratungen des EU-Verfas- CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines sungs-Vertrages Gesetzes zur Modernisierung des Ar- (Drucksache 15/1207) ...... 4312 A beitsrechts (ArbRModG) Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 4312 B (Drucksache 15/1182) ...... 4354 D

Erwin Teufel, Ministerpräsident in Verbindung mit (Baden-Württemberg) ...... 4315 C Günter Gloser SPD ...... 4318 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 4320 C Erste Beratung des von den Fraktionen der Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN ...... 4322 A GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Peter Hintze CDU/CSU ...... 4324 A Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt (Drucksache 15/1204) ...... 4355 A Michael Roth (Heringen) SPD ...... 4326 D Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 4328 A in Verbindung mit Dr. CDU/CSU ...... 4328 C Dr. Werner Hoyer FDP ...... 4330 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN ...... 4331 D Rainer Brüderle, , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP Peter Altmaier CDU/CSU ...... 4333 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes SPD ...... 4335 C zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 4336 B (Drucksache 15/1225) ...... 4355 A Otto Schily SPD ...... 4336 C in Verbindung mit Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa 4337 A Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 4338 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 4339 A Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter DIE GRÜNEN ...... 4339 B und der Fraktion der FDP: Rahmenbedin- gungen für einen funktionsfähigen Ar- Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ beitsmarkt schaffen DIE GRÜNEN ...... 4341 A (Drucksache 15/590) ...... 4355 B Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 4341 B Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 4355 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4341 D CDU/CSU ...... 4359 A Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 4343 C Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4344 A DIE GRÜNEN ...... 4362 C Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 4344 B Dirk Niebel FDP ...... 4364 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 III

Klaus Brandner SPD ...... 4366 A g) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 4368 A nes Gesetzes zu dem Abkommen Markus Kurth BÜNDNIS 90/ vom 17. August 2002 zwischen der DIE GRÜNEN ...... 4369 D Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Iran über Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 4370 B die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapital- fraktionslos ...... 4371 A anlagen Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU ...... 4372 A (Drucksache 15/1055) ...... 4375 D SPD ...... 4373 C h) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Übereinkom- men vom 9. September 1996 über Tagesordnungspunkt 23: die Sammlung, Abgabe und An- a) Erste Beratung des von der Bundes- nahme von Abfällen in der Rhein- regierung eingebrachten Entwurfs eines und Binnenschifffahrt Gesetzes zur Änderung und Ergän- (Drucksache 15/1056) ...... 4375 D zung des Entschädigungsgesetzes i) Erste Beratung des von der Bundes- und anderer Vorschriften (Ent- regierung eingebrachten Entwurfs ei- schädigungsrechtsänderungsgesetz – nes Ausführungsgesetzes zu dem EntschRÄndG) Übereinkommen vom 9. September (Drucksache 15/1180) ...... 4375 B 1996 über die Sammlung, Abgabe b) Erste Beratung des von der Bundes- und Annahme von Abfällen in der regierung eingebrachten Entwurfs ei- Rhein- und Binnenschifffahrt nes Zweiten Gesetzes zur Änderung (Drucksache 15/1061) ...... 4376 A des Zollverwaltungsgesetzes und an- j) Erste Beratung des von der Bundes- derer Gesetze regierung eingebrachten Entwurfs ei- (Drucksache 15/1060) ...... 4375 B nes Gesetzes zu dem Abkommen c) Erste Beratung des von der Bundes- vom 30. März 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und regierung eingebrachten Entwurfs ei- Brunei Darussalam über die Förde- nes Gesetzes zur Abwicklung der rung und den gegenseitigen Schutz Bundesanstalt für vereinigungs- von Kapitalanlagen bedingte Sonderaufgaben (BvSAb- (Drucksache 15/1057) ...... 4376 A wicklungsgesetz – BvSAbwG) (Drucksache 15/1181) ...... 4375 B k) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ d) Erste Beratung des von der Bundes- DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- regierung eingebrachten Entwurfs ei- wurfs eines Vierten Gesetzes zur Än- nes Gesetzes zur Anpassung von Zu- derung des Europawahlgesetzes und ständigkeiten im Gentechnikrecht eines Neunzehnten Gesetzes zur Än- (Drucksache 15/1222) ...... 4375 C derung des Europaabgeordneten- e) Erste Beratung des von der Bundes- gesetzes regierung eingebrachten Entwurfs ei- (Drucksache 15/1205) ...... 4376 A nes Gesetzes zu dem Vertrag vom l) Erste Beratung des von der Bundes- 25. Februar 2002 über die Änderung regierung eingebrachten Entwurfs ei- des Grenzvertrages vom 8. April nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 1960 zwischen der Bundesrepublik 5. März 2002 zwischen der Bundes- Deutschland und dem Königreich republik Deutschland und der der Niederlande Schweizerischen Eidgenossenschaft (Drucksache 15/1053) ...... 4375 C über den Verlauf der Staatsgrenze in den Grenzabschnitten Bargen/ f) Erste Beratung des von der Bundes- Blumberg, Barzheim/Hilzingen, regierung eingebrachten Entwurfs ei- Dörflingen/Büsingen, Hüntwangen/ nes Gesetzes zu dem Vertrag vom Hohentengen und Wasterkingen/ 24. Juni 2002 zwischen der Bundes- Hohentengen republik Deutschland und dem Kö- (Drucksache 15/1187) ...... 4376 B nigreich Thailand über die Förde- rung und den gegenseitigen Schutz m) Erste Beratung des von der Bundes- von Kapitalanlagen regierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 15/1054) ...... 4375 D Gesetzes zu dem Zusatzabkommen IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

vom 5. November 2002 zum Abkom- c) Beschlussempfehlung und Bericht des men vom 11. April 1967 zwischen Ausschusses für Umwelt, Naturschutz der Bundesrepublik Deutschland und Reaktorsicherheit zu der Verord- und dem Königreich Belgien zur nung der Bundesregierung: Verord- Vermeidung der Doppelbesteuerun- nung zur Änderung der Verordnung gen und zur Regelung verschiedener über Verbrennungsanlagen für Ab- anderer Fragen auf dem Gebiete der fälle und ähnliche brennbare Stoffe Steuern vom Einkommen und vom und weiterer Verordnungen zur Vermögen einschließlich der Gewer- Durchführung des Bundes-Immis- besteuer und der Grundsteuern sionsschutzgesetzes (Drucksache 15/1188) ...... 4376 B (Drucksachen 15/947, 15/1038 Nr. 2.1, n) Antrag der Abgeordneten Heidi 15/1173) ...... 4377 B Wright, Reinhard Weis (Stendal), wei- d) Erste Beschlussempfehlung des Wahl- terer Abgeordneter und der Fraktion prüfungsausschusses zu 444 gegen die der SPD sowie der Abgeordneten Gültigkeit der Wahl zum 15. Deut- Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker schen Bundestag eingegangenen Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Wahleinsprüchen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksache 15/1150) ...... 4377 C GRÜNEN: Ergänzung der Fahr- erlaubnisverordnung e) Beschlussempfehlung des Petitions- (Drucksache 15/1093) ...... 4376 C ausschusses: Sammelübersicht 44 zu Petitionen o) Antrag der Abgeordneten Hans- (Drucksache 15/1131) ...... 4377 C Michael Goldmann, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak- in Verbindung mit tion der FDP: ILO-Arbeiten an ei- nem internationalen Ausweis für Seeleute unterstützen Zusatztagesordnungspunkt 8: (Drucksache 15/939) ...... 4376 C Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- in Verbindung mit ses: Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht Zusatztagesordnungspunkt 7: (Drucksache 15/1161) ...... 4377 D a) Antrag der Abgeordneten Julia Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, Zusatztagesordnungspunkt 9: weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Kennzeichnung Aktuelle Stunde auf Verlangen der CDU/ allergener Stoffe in Lebensmitteln CSU und der FDP: Haltung der Bundes- vernünftig regeln regierung zu den Streiks in den neuen (Drucksache 15/1227) ...... 4376 D Bundesländern und deren Auswirkun- gen auf den Wirtschaftsstandort b) Antrag der Abgeordneten Hans- Deutschland Michael Goldmann, , weiterer Abgeordneter und der Frak- CDU/CSU ...... 4378 A tion der FDP: Neue Chancen für die SPD ...... 4379 B Binnenschifffahrt (Drucksache 15/311) ...... 4376 D Rainer Brüderle FDP ...... 4380 B (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4381 D Tagesordnungspunkt 24: CDU/CSU ...... 4383 A b) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung Dr. SPD ...... 4384 A eingebrachten Entwurfs eines Geset- Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 4385 B zes zu dem Abkommen vom 4. Juli 2001 zwischen der Bundesrepublik Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4386 B Deutschland und Rumänien zur CDU/CSU ...... 4387 A Vermeidung der Doppelbesteue- rung auf dem Gebiet der Steuern , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 4388 B vom Einkommen und vom Vermö- Dr. Michael Luther CDU/CSU ...... 4390 A gen (Drucksachen 15/880, 15/1220) . . . . . 4377 A Wilfried Schreck SPD ...... 4391 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 V

Petra Pau fraktionslos ...... 4392 A Dr. CDU/CSU ...... 4407 C CDU/CSU ...... 4392 D Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 4409 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 4394 A Dr. Norbert Lammert CDU/CSU ...... 4409 C

Tagesordnungspunkt 5: Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Monika Vereinbarte Debatte zur Änderung der Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), wei- Verpackungsverordnung terer Abgeordneter und der Fraktion der Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 4410 A SPD sowie der Abgeordneten Dr. , (Augsburg), weite- Tanja Gönner CDU/CSU ...... 4411 A rer Abgeordneter und der Fraktion des Gerd Friedrich Bollmann SPD ...... 4413 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 50 Jahre Deutsche Welle – Zukunft und Birgit Homburger FDP ...... 4416 A Modernisierung des Deutschen Aus- landsrundfunks (Drucksache 15/1214) ...... 4395 B Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Christoph in Verbindung mit Hartmann (Homburg), Gudrun Kopp, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bergschäden regulieren – kohle- Zusatztagesordnungspunkt 10: politische Weichenstellung vornehmen Antrag der Abgeordneten (Drucksache 15/475) ...... 4416 D (Bremen), Günter Nooke, weiterer Abge- (Homburg) FDP ...... 4417 A ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: 50 Jahre Deutsche Welle – Perspektiven Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4418 A für die Zukunft Christoph Hartmann (Homburg) FDP ...... 4418 C (Drucksache 15/1208) ...... 4395 B Dieter Grasedieck SPD ...... 4418 D SPD ...... 4395 C Dr. CDU/CSU ...... 4419 C Bernd Neumann (Bremen) CDU/CSU . . . . . 4397 C Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4420 D DIE GRÜNEN ...... 4399 D Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 4421 D Dr. Werner Hoyer FDP ...... 4400 D Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4423 A Tagesordnungspunkt 6: Elke Ferner SPD ...... 4423 C a) Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Zusatztagesordnungspunkt 12: tion der CDU/CSU: Fusion der Kul- Zweite und dritte Beratung des von der turstiftung der Länder und der Kul- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs turstiftung des Bundes eines Gesetzes über die Verwendung (Drucksache 15/1099) ...... 4401 C von Verwaltungsdaten für Zwecke der b) Antrag der Abgeordneten Hans- Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungs- Joachim Otto (Frankfurt), Helga Daub, datenverwendungsgesetz – VwDVG) weiterer Abgeordneter und der Frak- (Drucksachen 15/520, 15/1229, 15/1237) 4424 D tion der FDP: Fusion der Kulturstif- Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 4425 B tung des Bundes mit der Kulturstif- tung der Länder Gerd Andres SPD ...... 4425 C (Drucksache 15/1113) ...... 4401 D Günter Nooke CDU/CSU ...... 4402 A Tagesordnungspunkt 7: Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 4403 B a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- FDP ...... 4405 B nes Gesetzes über die Anpassung Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/ von Dienst- und Versorgungsbezü- DIE GRÜNEN ...... 4406 D gen in Bund und Ländern 2003/2004 VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(Bundesbesoldungs- und -versor- Tagesordnungspunkt 13: gungsanpassungsgesetz 2003/2004 – BBVAnpG 2003/2004) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksachen 15/1186, 15/1223) . . . . 4426 B rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Geschmacksmuster- b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- rechts (Geschmacksmusterreform- gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes gesetz) zur Änderung dienstrechtlicher Vor- (Drucksache 15/1075) ...... 4433 D schriften , Bundesministerin BMJ . . . . 4434 A (Drucksache 15/1021) ...... 4426 B Dr. Günter Krings CDU/CSU ...... 4435 A c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Zweiter Versorgungsbericht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4436 C der Bundesregierung FDP ...... 4437 D (Drucksache 14/7220) ...... 4426 B Dirk Manzewski SPD ...... 4438 B Rainer Funke FDP ...... Tagesordnungspunkt 11: 4439 C Kurt Segner CDU/CSU ...... 4440 C Antrag der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Karin Kortmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD so- Tagesordnungspunkt 14: wie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans- Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter Erste Beratung des von den Abgeord- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ neten Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), DIE GRÜNEN: Auf dem Weg zur Errei- Dr. Norbert Röttgen, weiteren Abgeord- chung der Millennium Development neten und der Fraktion der CDU/CSU ein- Goals (MDGs) – Probleme bei der Ziel- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erreichung erkennen und bewältigen Änderung des Opferentschädigungs- (Drucksache 15/1005) ...... 4426 D gesetzes (Drucksache 15/1002) ...... 4441 B Klaus Werner Jonas SPD ...... 4427 A Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 4441 C Dr. CDU/CSU ...... 4428 A Karsten Schönfeld SPD ...... 4443 A Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 4430 C Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Markus Löning FDP ...... 4431 C CDU/CSU ...... 4444 B Siegmund Ehrmann SPD ...... 4432 B FDP ...... 4445 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4445 D Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Helmut Tagesordnungspunkt 15: Heiderich, Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Antrag der Abgeordneten Clemens CSU: Die europäische Biopatentricht- Binninger, , weiterer linie von 1998 umsetzen Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ (Drucksache 15/1024 (neu)) ...... 4433 B CSU: Mehr Sicherheit im Luftverkehr (Drucksache 15/747) ...... 4446 C in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 16: Zusatztagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Katherina Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Reiche, Hubert Hüppe, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und Gentests in Medizin, Arbeitsleben und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit Versicherungen für biotechnologische Erfindungen (Drucksache 15/543) ...... 4446 D durch schnelle Umsetzung der Biopa- tentrichtlinie (Drucksache 15/1219) ...... 4433 C Nächste Sitzung ...... 4447 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 VII

Anlage 1 Anlage 4 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4449 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über die Anträge: – Die europäische Biopatentrichtlinie Anlage 2 von 1998 umsetzen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Rechtssicherheit für biotechnologi- über den Entwurf eines Gesetzes über die sche Erfindungen durch schnelle Verwendung von Verwaltungsdaten für Umsetzung der Biopatentrichtlinie Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Verwal- (Tagesordnungspunkt 12, Zusatztagesord- tungsdatenverwendungsgesetz – VwDVG) nungspunkt 13) ...... 4456 B (Zusatztagesordnungspunkt 12) ...... 4449 C Christoph Strässer SPD ...... 4456 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 4449 C CDU/CSU ...... 4457 B Gisela Piltz FDP ...... 4459 D Dr. Maria Böhmer CDU/CSU ...... 4458 B Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . . 4450 B Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4459 B Ulrike Flach FDP ...... 4460 A Anlage 3 Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 4460 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über: Anlage 5 – Entwurf eines Gesetzes über die An- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung passung von Dienst- und Versor- des Antrags: Mehr Sicherheit im Luftver- gungsbezügen in Bund und Ländern kehr 2003/2004 (Bundesbesoldungs- und (Tagesordnungspunkt 15) ...... 4461 C -versorgungsanpassungsgesetz 2003/ 2004 – BBVAnpG 2003/2004) Frank Hofmann (Volkach) SPD ...... 4461 C – Entwurfs eines ... Gesetzes zur Ände- CDU/CSU ...... 4462 B rung dienstrechtlicher Vorschriften Dr. FDP ...... 4463 A – Unterrichtung: Zweiter Versorgungs- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 4463 C bericht der Bundesregierung

(Tagesordnungspunkt 7 a bis c) ...... 4451 B Anlage 6 Hans-Peter Kemper SPD ...... 4451 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über den Antrag: Gentests in Medizin, Ar- (Altötting) CDU/CSU ...... 4452 B beitsleben und Versicherungen (Tagesordnungspunkt 16) ...... 4465 A Clemens Binninger CDU/CSU ...... 4453 B Dr. SPD ...... 4465 A BÜNDNIS 90/ CDU/CSU ...... 4466 A DIE GRÜNEN ...... 4454 A Jerzy Montag BÜNDNIS 90/ Ernst Burgbacher FDP ...... 4454 D DIE GRÜNEN ...... 4467 B Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 4455 B Detlef Parr FDP ...... 4468 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4305

(A) (C) Redetext

53. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausschuss für Tourismus Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich be- kannt, dass die Kollegin Dr. Erika Ober ihr Amt als 3 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion der SPD Arbeitsrechts (ArbRModG) – Drucksache 15/1182 – benennt als Nachfolgerin die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Innenausschuss Lösekrug-Möller als Schriftführerin gewählt. Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Im Beirat der Regulierungsbehörde für Telekommuni- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung kation und Post ist von der Fraktion des Bündnisses 90/ (B) Haushaltsausschuss (D) Die Grünen die noch offene Position des stellvertreten- 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des den Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird die Kollegin BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- Ulrike Höfken vorgeschlagen. Sind Sie auch damit ein- nes Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt – Druck- verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist sache 15/1204 – die Kollegin Höfken als stellvertretendes Mitglied im Überweisungsvorschlag: Beirat der Regulierungsbehörde bestimmt. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Rechtsausschuss Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Lage auf dem Aus- 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, bildungssektor (siehe 52. Sitzung) Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, weiteren Abgeordneten 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und Gesetzes zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit der Fraktion der CDU/CSU: Stand der Beratungen des EU- – Drucksache 15/1225 – Verfassungs-Vertrages – Drucksache 15/1207 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für die Angelegenheiten Innenausschuss der Europäischen Union (f) Rechtsausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Sportausschuss Haushaltsausschuss Rechtsausschuss 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und der Fraktion der FDP: Rahmenbedingungen für einen funk- Landwirtschaft tionsfähigen Arbeitsmarkt schaffen – Drucksache 15/590 – Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss 4306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia Klöckner, Uda Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (C) Carmen Freia Heller, Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und und der Fraktion der CDU/CSU: Kennzeichnung allergener Landwirtschaft Stoffe in Lebensmitteln vernünftig regeln – Druck- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sache 15/1227 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Kultur und Medien Landwirtschaft (f) 14 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nes Dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksord- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael nung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften – Goldmann, Horst Friedrich, Rainer Brüderle, weiterer Abge- Drucksache 15/1206 – ordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für die Überweisungsvorschlag: Binnenschifffahrt – Drucksache 15/311 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 8 Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (6. Ausschuss) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugelei- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und teten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht Entwicklung – Drucksache 15/1161 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den Streiks Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- in den neuen Bundesländern und deren Auswirkung auf weit erforderlich, abgewichen werden. den Wirtschaftsstandort Deutschland 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Neumann Außerdem sollen folgende Tagesordnungspunkte abge- (Bremen), Günter Nooke, , weiterer Abgeordne- setzt werden: Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c – Agrarpo- ter und der Fraktion der CDU/CSU: 50 Jahre Deutsche Welle litik –, Tagesordnungspunkt 9 – Hochwasservorsorge –, – Perspektiven für die Zukunft – Drucksache 15/1208 – Tagesordnungspunkte 10 a und b – Beitragssätze in der Überweisungsvorschlag: Kranken- und Rentenversicherung –, Tagesordnungs- (B) Ausschuss für Kultur und Medien (f) (D) Auswärtiger Ausschuss punkt 19, Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tagesord- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nungspunkte 7 a bis 7 c – Dienst- und Versorgungsbe- Entwicklung züge – erst nach der Beratung des Zusatzpunktes 12 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Verwaltungsdatenverwendungsgesetz – und den ohne Haushaltsausschuss Aussprache vorgesehenen Tagesordnungspunkt 24 a – 11 Vereinbarte Debatte zur Änderung der Verpackungs- Direktwahlakt – erst am Freitag nach der Beratung der verordnung Novelle zur Handwerksordnung aufzurufen. 12 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisun- Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Ver- waltungsdatenverwendungsgesetz – VwDVG) – Druck- gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: sache 15/520 – (Erste Beratung 31. Sitzung) Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) – Drucksache 15/1229 – dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Berichterstattung: Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden: Abgeordnete Gudrun Kopp Gesetzentwurf der Abgeordneten Wolfgang b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 15/1237 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Berichterstattung: CDU/CSU zur Stärkung der Rechte der Opfer Abgeordnete Volker Kröning im Strafprozess (2. Opferschutzgesetz) Kurt J. Rossmanith – Drucksache 15/814 – Jürgen Koppelin überwiesen: 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrike Rechtsausschuss (f) Flach, (Münster), weiterer Abgeordneter und der Innenausschuss Fraktion der FDP: Rechtssicherheit für biotechnologische Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatent- Haushaltsausschuss richtlinie – Drucksache 15/1219 – Überweisungsvorschlag: Der in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages Rechtsausschuss (f) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4307

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Das ist der Grund dafür, dass wir diese Debatte fordern. (C) Mitberatung überwiesen werden. Hätte Rot-Grün einen solchen Antrag eingebracht, Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, wäre er selbstverständlich behandelt worden. Warum ge- Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abge- währt man nicht auch der FDP das Recht, dass ein sol- ordneter und der Fraktion der FDP: Altersgrenze cher Antrag von ihr hier und heute behandelt wird, wo er für Vertragsärzte beseitigen behandelt werden muss und wohin er gehört? – Drucksache 15/940 – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten überwiesen: der CDU/CSU) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Die Stimmung und die Lage in Deutschland sind lei- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – der verheerend. Die Zahl der Arbeitslosen steigt vermut- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. lich auf ein Rekordniveau von fast fünf Millionen. Die Zahl der Insolvenzen steigt. Die Lohnnebenkosten stei- Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir gen auf ein Rekordniveau. Die Neuverschuldung wird in einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die diesem Jahr vermutlich auf 40 Milliarden Euro oder hö- Fraktion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige her steigen. Im Gegenzug sinken die Zahl der Arbeits- Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags mit dem plätze, das Wachstum und leider auch das Vertrauen in Titel „Steuersenkung vorziehen“ zu erweitern. die Zukunft. Das Vertrauen in eine verlässliche Politik, Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Carl- die Planungssicherheit ermöglicht, ist durch den Zick- Ludwig Thiele, FDP-Fraktion. zackkurs, den wir in den letzten Monaten erleben durf- ten, endgültig verloren gegangen. Carl-Ludwig Thiele (FDP): (Beifall bei der FDP) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Deshalb müssen wir leider feststellen, dass Deutschland Kolleginnen und Kollegen! Das ganze Land debattiert wirtschafts- und finanzpolitisch vor einem Scherbenhau- darüber, ob die dritte Stufe der Steuerreform auf das Jahr fen steht. 2004 vorgezogen wird. Fernsehen, Zeitungen und Talk- shows befassen sich mit diesem Thema – nur der Deut- Neun Monate nach der Bundestagswahl ist von der sche Bundestag tut es nicht. Agenda 2010, die eine strukturelle Wende in unserem Land einleiten soll, lediglich die Gesundheitsreform in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten erster Lesung im Deutschen Bundestag behandelt wor- der CDU/CSU) den. Wir haben in unserem Land aber keine Zeit zu ver- (B) (D) Die Menschen sind durch den Streit in der Koalition lieren. Wir brauchen Wachstum. Trotz Rot-Grün brau- und durch den Streit zwischen Bund und Ländern über chen wir dringend ein positives Signal für die die weitere Entwicklung zutiefst verunsichert. Die Men- Entwicklung unseres Landes. Das Vorziehen der Steuer- schen haben ein Recht darauf, zu erfahren, welche Steu- reform könnte zumindest ein erstes solches Signal sein. ern sie auch im nächsten Jahr zahlen müssen. Es ist ein (Beifall bei der FDP) Skandal, dass dieses Recht der Bürger ignoriert wird. Deshalb beantragt die FDP, die Tagesordnung der heuti- Die FDP ist dagegen, dass das durch Neuverschul- gen Sitzung um die Beratung des Antrags „Steuersen- dung finanziert wird. Deshalb fordern wir in unserem kung vorziehen“ zu erweitern. Antrag, die Staatsausgaben zu reduzieren. Wir schlagen hierzu einen linearen Subventionsabbau um 20 Prozent (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo vor. Ferner benötigen wir dringend ein Haushaltssiche- Dautzenberg [CDU/CSU]) rungsgesetz, damit auch gesetzlich gebundene Leistun- Uns ist absolut unverständlich, warum sich die rot- gen eingeschränkt werden können. Zudem ist nach wie grüne Koalition und die Union – ich habe gehört, auch vor nicht einzusehen, warum der Bund mehr als 450 Un- Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der ternehmen privatwirtschaftlich betreibt. Es ist nicht die Union, wollen dem nicht zustimmen; ich kann es noch Aufgabe des Staates, diese Unternehmen zu betreiben. nicht glauben, aber wir werden es nachher sehen – wei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gern, der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes, der der CDU/CSU) alle Menschen in unserem Lande bewegt, zuzustimmen. Ist der Grund etwa, dass Finanzminister Eichel noch kei- Diese Unternehmen können privatisiert werden. Das ist nen Haushaltsentwurf 2004 vorgelegt hat? Oder ist der ordnungspolitisch vernünftig und so bekommen wir Grund, dass immer noch kein Nachtragshaushalt 2003 auch dringend notwendiges Geld in die Kasse. eingebracht wurde? Oder ist der Grund, dass der Kanzler Zudem haben wir eine Diskussion über die Arbeits- in seiner Inszenierungsliebe dies selbst erst am Wochen- zeit in unserem Land. Die 35-Stunden-Woche in den ende nach der Kabinettsklausur verkünden will? Wir neuen Bundesländern ist in dieser Situation absurd. Des- wissen es nicht. Niemand weiß es. Jeder möchte es wis- halb appellieren wir an Arbeitnehmer und an Arbeitge- sen, auch die FDP möchte wissen, wie es mit unserem ber, durch eine Verlängerung der bezahlten Arbeitszeit Land weitergeht und wie die Entwicklung unseres Lan- zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts beizutragen. des weiter gestaltet wird. Alles, was das Bruttoinlandsprodukt stärkt, stärkt unser (Beifall bei der FDP) Land und stärkt auch die Finanzkraft der öffentlichen 4308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Carl-Ludwig Thiele (A) Kassen. Deshalb müssen wir alles dazu Notwendige bei- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Darum geht es (C) tragen. nicht!) (Beifall bei der FDP – Katrin Dagmar Göring- einfach so aus dem Handgelenk geschüttelt werden kann Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der an einem Tag wie diesem ohne jede Vorbereitung bei Ih- Witz ist nur, dass Sie nichts dazu beitragen!) nen und auch bei anderen hier im Haus? Das geht doch nicht zusammen! Mit diesen mutigen Schritten wäre das Vorziehen der Steuerreform gegenfinanziert und wäre die Entlastung (Dr. [FDP]: Wann soll es für die Bürger auch tatsächlich spürbar. Lassen Sie uns denn beraten werden?) doch bitte alle daran arbeiten, dass zumindest dieses Zei- Ich will Ihnen einmal die Widersprüchlichkeit Ihres chen kurzfristig gesetzt wird, ohne dass die Neuver- Antrags aufzeigen: Auf der einen Seite schreiben Sie, schuldung erhöht wird oder den Bürgern an anderer Sie hätten zu Recht gegen das Steuervergünstigungsab- Stelle in die Tasche gegriffen wird! Ich bitte Sie, dem baugesetz gestimmt, weil so Steuererhöhungen hätten Geschäftsordnungsantrag der FDP zuzustimmen, damit vermieden werden können. Auf der anderen Seite schla- diese Diskussion heute im Deutschen Bundestag stattfin- gen Sie aber vor, die Subventionen pauschal um den kann. Hier müssen wir später darüber entscheiden. 20 Prozent zu kürzen. Das ist doch auch eine Steuererhö- Deshalb sollten wir dieses Thema heute auch hier disku- hung in dem Sinne, wie Sie sie verstehen. Das passt tieren. doch alles nicht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Das ist also ein Schnellschuss, wie er gerade diesem Thema nicht angemessen ist. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich erteile dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fraktion, das Wort. Wir meinen, dass sorgfältige Beratungen nötig sind und wir uns darüber auf andere Weise unterhalten sollten. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Um auch noch auf den Zeitfaktor einzugehen, Herr Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wieder Thiele: Was hat denn die FDP in dieser Woche zustande (B) einmal Zeit für eine Geschäftsordnungsdebatte, bean- gebracht? Auf der Tagesordnung steht ein Antrag, die (D) tragt von der FDP, unsinnig wie immer und überflüssig Waldbesitzer in Deutschland zu schützen und die mittel- wie ein Kropf. ständische Holzwirtschaft zu schonen. Das ist das Ein- zige, was von Ihrer Seite in dieser Woche auf die Tages- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordnung gesetzt wurde. Wenn Sie das, was Sie heute DIE GRÜNEN) Morgen in der Geschäftsordnungsdebatte fordern, selber ernst nehmen würden, hätten Sie einen entsprechenden Sie versuchen, uns hier mit solchen Dingen in einer Antrag vor drei Wochen formulieren können. Dann wäre Weise zu überziehen, die der Sache nicht angemesssen heute bzw. in dieser Woche eine ernsthafte Debatte da- ist. rüber möglich. Sie sind nicht in der Lage, solche Dinge (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des auf den Weg zu bringen. Deswegen lassen wir uns auch BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Carl- nicht mit einem Schnellschuss von Ihnen traktieren, um Ludwig Thiele [FDP]: Das Thema ist kein irgendetwas aus dem Handgelenk heraus zu beraten. Thema?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Thiele, ich nehme Ihren Hinweis, dass ganz DIE GRÜNEN) Deutschland über das Vorziehen der Steuerreform redet, Ich will gar nicht weitere Vokabeln wie „lächerlicher (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig! Dann Aktionismus“ oder Ähnliches verwenden, womit die sollten wir es auch tun!) Zeitungen so etwas ab und zu beschreiben, sondern ap- pelliere an Sie: Nehmen Sie die Sache so ernst, wie Sie gern auf. Aber das verlangt gleichzeitig ein solides Um- es hier eben dargestellt haben, gehen mit diesem Thema. Das ist bei Ihnen nun wahr- haftig nicht zu erkennen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir tun das!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und versuchen Sie mit uns zu einem Einvernehmen über DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: den Weg zu kommen, über den wir ja in den nächsten Das ist bei Ihnen nicht zu erwarten!) Tagen beraten werden! Sie wissen ganz genau, dass das Kabinett am Wochenende in Klausur geht. Am Ende Glauben Sie denn, dass die Gegenfinanzierung für werden Vorschläge unterbreitet werden, wie man mit das, was hierdurch hervorgerufen würde, nämlich ein diesem Thema umgeht. Das ist der angemessene Weg. weiterer Steuerausfall in Höhe von 18 Milliarden Euro Geben Sie doch allen Beteiligten erst einmal die Mög- für den Haushalt 2004, lichkeit, sich mit den Dingen auseinander zu setzen und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4309

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (A) eine solide Finanzierung auf den Weg zu bringen! Damit Thema Steuer befasst, für nächste Woche auf die Tages- (C) sorgen Sie dafür, dass wir darüber hier im Deutschen ordnung gesetzt, Herr Kollege Schmidt, damit die Regie- Bundestag angemessen diskutieren können. rung dann vorlegen kann, was sie machen will. Wir tragen diesen Antrag aus den eben genannten Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was wir erwarten: Gründen nicht mit und bewahren Sie davor, eine Erstens. Wir sind für ein Vorziehen der Steuerreform. Schnellschusspolitik zu betreiben, indem wir diesen An- Damit aber wieder Vertrauen in diesem Land herrscht, trag ablehnen. müssen zunächst einmal die notwendigen Strukturrefor- men am Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik und in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Rentenpolitik vorgenommen werden. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Wir wollen, dass hierzu erste Vorlagen erarbeitet wer- Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Kauder, den. CDU/CSU-Fraktion. Zweitens erwarten wir, dass die Bundesregierung, wenn sie einen Vorschlag macht, wie eine solche Steuer- Volker Kauder (CDU/CSU): reform umgesetzt werden kann, nicht wie in den letzten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Jahren nur an sich denkt, Herr Eichel, sondern auch an Herren! Die Intention des Antrages der FDP ist ja völlig die Finanzsituation der Kommunen und der Länder, die richtig. dies mit finanzieren müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Beifall bei der CDU/CSU) wie Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Aber?) In diesem Zusammenhang, Herr Finanzminister, wäre es ausgesprochen hilfreich gewesen, wenn Sie endlich ein- Auch wir sagen: Steuererhöhungen sind in der jetzigen mal mit der Gemeindefinanzreform vorangekommen Situation Gift und Steuersenkungen können helfen, den wären, einem Projekt, auf dem Sie brüten und bei dem Standort Deutschland wieder voranzubringen. dennoch kein Ergebnis herauskommt. Dies macht die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesamte Diskussion um die Steuerreform so schwierig. Trotzdem unterstützen wir den Antrag der FDP, die- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben ses Thema auf die heutige Tagesordnung zu setzen, also allen Grund, uns nächste Woche in einer Debatte nicht, über die Zukunft Deutschlands intensiv zu unterhalten. (B) Wir fordern von der Bundesregierung ein klares Konzept (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zur Steuersenkung, Vorschläge, wie es finanziert werden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- kann, und vor allem eine klare Aussage, was am Arbeits- spruch bei der FDP) markt zu geschehen hat. Auch dazu haben wir konkrete und zwar aus einem einzigen Grund: Wir wissen, dass Vorlagen gemacht; darüber werden wir heute noch dis- die Regierung in Klausur geht. Das ist normalerweise kutieren. eine Maßnahme, die in Deutschland als Bedrohung emp- Ich nenne ein Beispiel für einen Bereich, bei dem Sie funden wird, wenn man bedenkt, was dabei bisher her- ebenfalls nicht vorankommen. Auch der Bundeskanzler auskam. sagt: Was jetzt in den neuen Ländern passiert – der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Streik, die Diskussion um eine Verkürzung der Arbeits- neten der FDP) zeit, obwohl eine Verlängerung notwendig wäre –, ist nicht hilfreich. Wir haben darauf eine Antwort: betriebli- Wir sind aber der Auffassung, dass wir einmal abwarten che Bündnisse für Arbeit. Machen Sie mit bei diesem sollten, was an diesem Wochenende herauskommt, Herr Thema! Dann kommen wir in unserem Land voran. Finanzminister. Wir sind auch der Auffassung, dass die- jenigen, die ständig herumtönen, was gemacht werden (Beifall bei der CDU/CSU) soll, wie der Bundeskanzler, der nach dem Motto ver- fährt: „Man kann es so oder so machen, ich bin für so“, Präsident Wolfgang Thierse: sagen sollen, wie sie es machen wollen. Sie sollen in Ich erteile das Wort den Kollegen Volker Beck, Bünd- Vorlage treten. Das erwarte ich. nis 90/Die Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Finanzminister, ich freue mich sehr, dass Sie Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch lächeln. Ich habe nämlich in den letzten Tagen in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ge- der Zeitung nur noch Bilder gesehen, wo Ihnen das La- schätzte Kollegen von der FDP! Sie müssen wirklich in chen vergangen war. Lachen Sie heute noch! Am Wo- einer tiefen Sinnkrise stecken, wenn Sie diese Geschäfts- chenende wird es wohl für Sie angesichts des Drucks, ordnungsdebatte brauchen, um ein bisschen Aufmerk- den man auf Sie ausübt, nicht so angenehm. samkeit für Ihre Fraktion zu erheischen. Wir erwarten nächste Woche eine klare Vorlage. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben deswegen unseren Antrag, der sich mit dem und bei der SPD) 4310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Volker Beck (Köln) (A) Besonders erklärungsbedürftig ist – dafür habe ich lung weiterhelfen. Aber wir sollten nicht an der falschen (C) von Ihnen, Herr Thiele, keinen guten Grund gehört –, Stelle jammern, sondern die Probleme bei den Hörnern warum wir uns jetzt mit diesem Antrag beschäftigen sol- packen. Das tun wir mit der Agenda 2010. len. Das Kabinett wird sich am Wochenende mit dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frage beschäftigen und dann nächste Woche unsere Vor- und bei der SPD) stellungen zur Finanzierung des Vorziehens der Steuer- reform präsentieren. Meine Damen und Herren, das Entscheidende beim (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Hier im Parla- Vorziehen der Steuerreform ist die Frage der Finanzie- ment oder in der Pressekonferenz?) rung. Wenn diejenigen, die das Steuersubventionsabbau- gesetz ausgebremst und gerupft haben, nun als Helden Wir haben gestern in der Geschäftsführerrunde verein- des Subventionsabbaus durch die Lande ziehen, nimmt bart – hören Sie einmal zu, Herr Gerhardt; vielleicht hat ihnen das wirklich niemand ab: niemand im Haus, nie- Herr van Essen Ihnen dies nicht erzählt –, dass wir über mand bei der Presse und niemand in der Bevölkerung. dieses Thema am nächsten Freitag im Deutschen Bun- destag debattieren werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Donner- wetter!) Herr Steinbrück und Herr Koch haben in diesem Pro- zess von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat die Warum es dann heute so eilbedürftig ist, das müssten Sie große Verantwortung übertragen bekommen, ein schlüs- jetzt doch einmal erklären. Sie schreien so laut, weil Sie siges sowie in Bundesrat und Bundestag mehrheitsfähi- es nicht erklären können. ges Konzept vorzulegen. Ich bin sehr gespannt, was da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei herauskommt. und bei der SPD) Aber der Vorschlag der FDP, alle Zuwendungen, alle Ich möchte aber auch den Erkenntnisgewinn der Op- Subventionen des Staates mit dem Rasenmäher gleicher- position, und zwar beider Fraktionen, durchaus würdi- maßen um 20 Prozent zu kürzen, ist so simpel wie gen. Wir haben gehört, dass die Opposition das Vorzie- dumm und verkehrt. hen der Steuerreform solide finanzieren will. Das finden (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDISSES wir auch in beiden Anträgen, bei der CDU/CSU als 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Wunsch, während die FDP sogar einen Vorschlag ge- macht hat. Im Wahlkampf haben wir immer noch gehört, Sie würden auf diese Weise wichtige Mittel für die For- das finanziere sich alles selbst, wir müssten Steuern sen- schung, zum Beispiel Zuwendungen an die Deutsche (B) (D) ken, Steuern senken, Steuern senken, koste es, was es Forschungsgemeinschaft, wolle. Ich meine, in einer solchen Debatte sollte man (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was hat das den Fortschritt durchaus würdigen und feststellen. Das mit der Geschäftsordnung zu tun, Herr Präsi- hilft den weiteren Diskussionen hier im Land. dent?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in gleichem Maße streichen wie die Eigenheimzulage. und bei der SPD) Ich finde, wir müssen zeigen, dass wir auch beim Sub- Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ventionsabbau gestalten, dass wir die Zukunftspoten- Ihr Antrag ist weder in der Sache glaubwürdig noch kon- ziale unserer Gesellschaft weiter entwickeln und scho- zeptionell überzeugend. Sie bejammern die viel zu hohe nen Steuerbelastung. Dazu ist zunächst einmal festzustellen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gegenwärtig ist unser entscheidendes Problem die viel zu hohe Abgabenbelastung des Faktors Arbeit. Da müs- und dass wir das, was von gestern und vorgestern ist, sen wir ran; das tun wir mit den Strukturreformen im was umweltschädlich und veraltet ist, energisch anpa- Rahmen der Agenda 2010, die wir auch heute und mor- cken und abbauen. gen hier im Deutschen Bundestag beraten und wozu die Zum Thema Eigenheimzulage will ich Ihnen eines sa- nächsten Gesetzentwürfe in der kommenden Woche hier gen: behandelt werden. Deshalb sind wir auf einem guten Weg. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt gar nicht das Thema!) Ein Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform kann einen wichtigen wirtschaftlichen Impuls setzen, Deutschland ist in weiten Teilen des Landes mit ausrei- obwohl wir sagen müssen: Durch die Steuerreform die- chendem Wohnraum versorgt. Dass wir die Menschen ser Koalition ist Deutschland hinsichtlich der Steuerbe- antreiben, weiter Immobilien anzuschaffen, indem wir lastung in Europa relativ gut platziert. das staatlich subventionieren, bedeutet eine große Fehl- lenkung von staatlichen Mitteln. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja Unsinn!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden ja einen Quatsch daher!) Das haben wir in den letzten Jahren erreicht. Wenn wir bei diesen Schritten jetzt noch etwas an Geschwindigkeit Wir müssen der Bevölkerung auch angesichts des demo- zulegen, wird uns das bei der wirtschaftlichen Entwick- graphischen Wandels sagen, dass es nicht gesichert ist, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4311

Volker Beck (Köln) (A) dass die Immobilien die Wertsteigerung bringen, die ihr gesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volks- (C) eine Alterssicherung garantiert. entscheids über eine europäische Verfassung Deshalb müssen wir dieses Thema angehen. Wir – Drucksache 15/1112 – brauchen wahrscheinlich einen linearen Subventionsab- Überweisungsvorschlag: bau. Wir brauchen aber gleichermaßen einen energi- Rechtsausschuss (f) schen Zugriff auf das, was veraltet und nicht mehr zeit- Innenausschuss gemäß ist. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Noch einen letzten kollegialen Hinweis an die Kolle- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gen von der FDP. Wenn es Ihnen mit der Aktualität die- richts des Ausschusses für die Angelegenheiten ses Themas wirklich ernst gewesen wäre, dann hätten der Europäischen Union (20. Ausschuss) zu dem Sie das Instrument der Aktuellen Stunde nutzen können. Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Sie haben vorgezogen, heute eine Aktuelle Stunde zum Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordne- Thema Tarifautonomie und Streiks in den neuen Län- ter und der Fraktion der CDU/CSU dern zu beantragen. Auf diese Weise haben Sie Ihre Mu- Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, nition verschossen und beweisen, dass es Ihnen mit der demokratische und handlungsfähige Europäi- Dringlichkeit dieses Debattenpunktes nicht wirklich sche Union ernst ist, – Drucksachen 15/918, 15/1138 – (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Oh Gott! Das ist aber weit hergeholt!) Berichterstattung: sondern dass es Ihnen um Klamauk geht. Offensichtlich Abgeordnete Michael Roth (Heringen) kommen Sie aus der Rolle des Klamaukmachens einfach Peter Altmaier nicht mehr heraus. Anna Lührmann Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) zu dem Präsident Wolfgang Thierse: Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Geschäftsordnungsantrag der Fraktion der FDP? – Wer Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der (B) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist ge- Fraktion der FDP (D) gen die Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt. Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f sowie Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs- Zusatzpunkt 2 auf: union (ESVU) über den Europäischen Verfas- 3 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- sungskonvent vorantreiben rung zu den Ergebnissen des Europäischen Ra- – Drucksachen 15/942, 15/1139 – tes in Thessaloniki am 20./21. Juni 2003 Berichterstattung: b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Abgeordnete Hedi Wegener gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Peter Hintze trag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Rainder Steenblock Tschechischen Republik, der Republik Est- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger land, der Republik Zypern, der Republik Lett- land, der Republik Litauen, der Republik Un- f) Beratung des Berichts des Ausschusses für die garn, der Republik Malta, der Republik Polen, Angelegenheiten der Europäischen Union der Republik Slowenien und der Slowakischen (20. Ausschuss) gemäß § 93 a Abs. 4 der Ge- Republik zur Europäischen Union schäftsordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksachen 15/1100, 15/1200 – Überweisungsvorschlag: Vermerk des Präsidiums für den Konvent Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Organe – Entwurf von Artikeln für Titel IV Auswärtiger Ausschuss des Teils 1 der Verfassung – Innenausschuss Rechtsausschuss CONV691/03 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO – Drucksachen 15/1041 Nr. 3.1, 15/1163 – c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Berichterstattung: Burgbacher, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Abgeordnete Michael Roth (Heringen) Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten Peter Altmaier und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Anna Lührmann wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger 4312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter weiterte Union – das gilt für den Konvent genauso wie (C) Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weite- für den Europäischen Rat – keine Unterscheidung zwi- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU schen einem neuen und einem alten Europa. Es gibt nur ein gemeinsames Europa. Zum Stand der Beratungen des EU-Verfas- sungsvertrages (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) – Drucksache 15/1207 – Überweisungsvorschlag: Man kann jetzt mit Fug und Recht sagen, dass sich Ausschuss für die Angelegenheiten unter der griechischen Präsidentschaft die EU nach der Europäischen Union (f) vorne bewegt hat. Der Rat von Thessaloniki verlief für Auswärtiger Ausschuss Europa sehr erfolgreich. Gerade in Deutschland können Innenausschuss Sportausschuss wir mit den Ergebnissen zufrieden sein. Viele unserer Rechtsausschuss Anliegen wurden berücksichtigt und zahlreiche unserer Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Positionen durch den Europäischen Rat in den Schluss- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und folgerungen bestätigt. Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Valéry Giscard d'Estaing, der Präsident des Konvents Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für eine europäische Verfassung, hat nach 16 Monaten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Arbeit der griechischen Ratspräsidentschaft den Verfas- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sungsentwurf übergeben. Was noch vor wenigen Jahren Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe utopisch zu sein schien, ist heute Realität: der Entwurf Ausschuss für Bildung, Forschung und einer Verfassung für Europa, erarbeitet von einem euro- Technikfolgenabschätzung päischen Konvent, der zu mehr als zwei Dritteln aus Par- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung lamentariern bestand. Ausschuss für Tourismus Auf dem Weg zum Jahrhundertprojekt einer europäi- Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss schen Verfassung sind wir durch den Konvent einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Einen solchen Zur Regierungserklärung liegen zwei Entschließungs- Konvent – zusammengesetzt aus Mitgliedern des Euro- anträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ päischen Parlaments, der Nationalparlamente, der natio- Die Grünen vor. nalen Regierungen und der Europäischen Kommission – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für hat es noch nie gegeben. Ich denke, allein diese Zusam- mensetzung spricht schon für sich. Dass dieser Konvent (B) die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- (D) rung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen noch ein erfolgreiches Ergebnis hervorgebracht hat, ist Widerspruch. Dann ist so beschlossen. meines Erachtens in der Tat eine historische Leistung. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer. und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Ein Dank für diese Leistung gebührt an erster Stelle Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Euro- selbstverständlich dem Präsidenten des Konvents, päische Union steht vor einer der wichtigsten Weichen- Valéry Giscard d’Estaing, aber auch allen anderen Betei- stellungen ihrer Geschichte. In nur knapp einem Jahr ligten. werden zehn neue Mitglieder aufgenommen. Damit wird 16 Monate wurde hart miteinander gerungen; Monate die Teilung unseres Kontinents endgültig aufgehoben. intensiver Verhandlungen und Arbeit liegen hinter uns. Der Konvent für eine europäische Verfassung hat seine Bei 28 beteiligten Staaten und noch vielen weiteren Ak- Arbeiten vor wenigen Tagen weitestgehend abgeschlos- teuren ist jedoch klar: Ein Ergebnis, das gleichermaßen sen. Der Weg hin zur Erweiterung und zu einem nötigen alle Wünsche und Vorstellungen berücksichtigt, ist per und grundlegenden Integrationsfortschritt in der Euro- se nicht denkbar. Das Ergebnis muss vielmehr ein Kom- päischen Union ist somit vorgezeichnet. promiss sein. Meines Erachtens ist der vorliegende Ent- wurf ein sehr gut ausbalancierter Kompromiss; denn es Vor diesem Hintergrund war der Europäische Rat in handelt sich keinesfalls um ein Minimalergebnis auf Porto Carras bei Thessaloniki vom 19. bis 21. Juni ein kleinstem gemeinsamen Nenner. Es handelt sich viel- wichtiges Ereignis. Erstmals nach der Unterzeichnung mehr um einen fairen Interessenausgleich, der vor allen der Beitrittsverträge saßen die zehn künftigen Mitglieder Dingen – das war der schwierigste Punkt – bis zum mit am Tisch und waren an den Verhandlungen beteiligt. Schluss die Belange der kleinen wie der großen Mit- Die Erweiterung wird damit immer sichtbarer zur Reali- gliedstaaten in Betracht zieht. tät. Die letzte Etappe auf dem Weg zu einer Europäi- schen Verfassung wurde in Thessaloniki eingeleitet. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sowohl im Konvent als auch beim Europäischen Rat – das war keine Selbstverständlichkeit – haben die künf- Bei der künftigen europäischen Verfassung geht es tigen Mitglieder schon vollkommen gleichberechtigt um zwei zentrale Aspekte. Zum einen geht es um ein mitgearbeitet. Dies zeigt: Es gibt zumindest für die er- Mehr an Transparenz, an Bürgernähe und an Demokratie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4313

Bundesminister Joseph Fischer (A) in Europa. Hier sieht der Entwurf unter anderem eine Zustimmung. Die Staats- und Regierungschefs der EU- (C) klare Kompetenzordnung vor. Lassen Sie mich an dieser Staaten und der künftigen Mitglieder haben das Doku- Stelle die Subsidiaritätsklausel erwähnen. In der Subsi- ment als gute Grundlage für die Regierungskonferenz diaritätsklausel wird gleichzeitig ein Verfahren definiert, bezeichnet. Das heißt nicht, dass es bei einigen Mitglied- in dem die Kontrollfunktionen der nationalen Parla- staaten keine Vorbehalte zu dem einen oder anderen mente im europäischen Gesetzgebungsverfahren fest- Punkt gibt. Aber wir dürfen jetzt nicht zulassen, dass die geschrieben sind. Das heißt, es liegt in den Händen der in der Öffentlichkeit ausgehandelten Ergebnisse des europäischen Nationalparlamente, mit dem Subsidiari- Konvents hinter den verschlossenen Türen der Regie- tätsgebot im Gesetzgebungsverfahren tatsächlich ernst rungskonferenz wieder infrage gestellt werden. zu machen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Neben der klaren Kompetenzordnung, die ich gerade SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) erwähnt habe, will ich noch die Gewährleistung bürger- Kurz, intensiv und ergebnisorientiert, so sollte der naher Entscheidungen, ein neues Bürgerbegehren, das es Verlauf der Regierungsberatungen sein. Es ist daher fol- EU-Bürgern ermöglicht, die Kommission zu einem Ge- gerichtig, dass die Konferenz nur auf politischer Ebene setzesvorschlag aufzufordern, die enge Einbeziehung durchgeführt wird. Der Kompromiss, der im Konvent als der nationalen Parlamente, die Stärkung der Rechte und Paketkonsens erzielt wurde, muss als Ganzes Bestand damit – ich will das hinzufügen – die größere Verantwor- haben. Lassen Sie mich auch das klarstellen: Wer den tung des Europäischen Parlaments sowie die Festigung Konsens in einem Punkt öffnet, trägt die Verantwortung der Europäischen Union als Wertegemeinschaft nennen. dafür, einen neuen Konsens herbeizuführen. Ich wage Zum anderen geht es um die Verbesserung der die Prophezeiung: Das wird alles andere als einfach wer- Handlungsfähigkeit der Union. Das institutionelle den. Dreieck in der erweiterten Union der 25 und mehr wird Wir haben in Thessaloniki beschlossen, die Regie- insgesamt gestärkt, dabei vor allen Dingen diejenigen rungskonferenz im Oktober dieses Jahres einzuberufen. Institutionen, die das Gemeinschaftsinteresse vertreten: Sie soll ihre Arbeiten sobald wie möglich abschließen. das Europäische Parlament und die Kommission. Denn wir müssen den europäischen Bürgerinnen und Darüber hinaus werden vorgeschlagen: Instrumente Bürgern vor den Wahlen zum Europäischen Parlament für eine handlungsfähigere Außen- und Sicherheitspoli- im Juni 2004 genügend Zeit lassen, sich mit den Ergeb- tik unter Einschluss eines europäischen Außenministers, nissen vertraut zu machen. Wir haben weiter beschlos- sodass es eine klarere europäische Stimme nach außen sen, dass die zehn neuen Mitgliedstaaten gleichberech- geben wird, die Ausweitung der Entscheidungen mit tigt an der Regierungskonferenz teilnehmen werden. Die (B) qualifizierter Mehrheit und nicht zuletzt die spürbare Beitrittskandidaten Rumänien, Bulgarien und die Türkei (D) Vereinfachung aller Instrumente und Verfahren. werden einen Beobachterstatus besitzen. Beides, mehr Bürgernähe und Demokratie sowie Wir sind überzeugt, dass die Regierungskonferenz zu eine größere Handlungsfähigkeit, waren Kernanliegen einem schnellen und zufrieden stellenden Abschluss Deutschlands bei den Verhandlungen. Daher können wir kommt. Die europäische Verfassung, unsere europäische mit dem jetzt offiziell vorliegenden Resultat zufrieden Verfassung, ist ein Jahrhundertprojekt. Sie muss den sein. Deutschland kann über das Ergebnis nur schwer- Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile Europas verdeutli- lich klagen. Das zeigen auch die positiven Reaktionen chen, ihnen Vertrauen in die Europäische Union vermit- bei uns im Land. Wir freuen uns, dass der Konventsent- teln und die Europäische Union insgesamt nach innen wurf – mit wenigen Ausnahmen – auf allgemeine Zu- und außen handlungsfähiger machen. stimmung trifft. Der Gipfel von Thessaloniki hat gezeigt: Die von den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Skeptikern immer wieder totgesagte Gemeinsame Au- und bei der SPD) ßen- und Sicherheitspolitik der EU ist sehr lebendig. Auf dem Rat wurde eine Vielzahl von außenpolitischen Ich möchte hier ganz besonders betonen, wie gut die Themen behandelt. Wir konnten dabei beachtliche Fort- parteiübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der deut- schritte verzeichnen. schen Delegation und auch zwischen Bund, Ländern und den Regionalvertretern gewesen ist. Ganz besonders Ein Kernpunkt dabei war die Sicherheitsstrategie möchte ich hervorheben, dass Ministerpräsident Teufel der Europäischen Union. Die Außenminister hatten dazu als Konventsvertreter des Bundesrates und die übergroße schon im Mai die Initiative ergriffen und den Hohen Be- Mehrheit der deutschen Länder das Ergebnis sehr positiv auftragten für Außen- und Sicherheitspolitik beauftragt, aufgenommen haben. Wir haben im Konvent mit ihnen eine solche Strategie zu erarbeiten. In Thessaloniki hat ebenso wie mit den Vertretern des Bundestages, Profes- Javier Solana dem Rat einen ersten Entwurf mit dem sor Jürgen Meyer und Peter Altmaier, eng und, wie ich Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ vor- finde, sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Ich möchte gestellt. Wir waren uns alle einig: Es ist ein viel verspre- ihnen allen dafür danken. chendes Dokument geworden; Solana hat eine hervorra- gende Arbeit geleistet. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Meine Damen und Herren, der Entwurf der europäi- bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord- schen Verfassung fand auch in Thessaloniki große neten der CDU/CSU) 4314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Zugrunde liegt diesem Dokument ein umfassender Si- ihre Leistungsfähigkeit bereits heute so schlecht nicht. (C) cherheitsbegriff, der die ganze Bandbreite möglicher Ri- Umso wichtiger ist es, dass wir sie weiter verbessern. siken und Gefahren für die europäische Sicherheit und Stabilität beschreibt. Die neuen Bedrohungen sind nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rein militärischer Natur. Deshalb kann gegen sie auch und bei der SPD) nicht rein militärisch vorgegangen werden. Diese Erfah- Die so genannte Nahost-Roadmap hätte es ohne die rung machen wir ja gegenwärtig. europäische Initiative nicht gegeben. Die Reform der pa- lästinensischen Behörde und damit die neue Regierung Diesem umfassenden Sicherheitsbegriff entspricht da- hätte es ohne den nimmermüden Einsatz vor allen Din- her ein breites Spektrum von Mitteln zum Krisenma- gen des jetzt ausscheidenden Sonderbeauftragten Miguel nagement und vor allen Dingen auch zur Prävention. Moratinos nie gegeben, genauso wenig den neuen Pre- Auf diesen Ansatz haben wir besonderen Wert gelegt. Es mierminister. Deswegen möchte ich auch von dieser kommt darauf an, Konflikte und Krisen durch geeignete Stelle aus Miguel Moratinos, dem Nahostbeauftragten, Maßnahmen schon im Vorfeld zu entschärfen oder gar recht herzlich für die vielen Jahre nie ermüdenden Ein- zu verhindern. satzes und nie ermüdender Arbeit danken. Er hat ganz (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Entscheidendes geleistet. 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ziel der Europäischen Union muss bleiben, noch vor und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Friedbert Krisenbeginn angemessen zu reagieren. Der diplomati- Pflüger [CDU/CSU] und Ulrich Heinrich schen Prävention muss daher höchster Stellenwert einge- [FDP]) räumt werden. Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für die He- ranführungsstrategie für die Türkei und für die Assozia- Die Bedrohungsanalyse der Sicherheitsstrategie tionsabkommen, die wir mit Ausnahme von Syrien mit Solanas macht drei Hauptgefahren fest: Terrorismus, allen arabischen Anrainerstaaten, aber auch mit Israel Massenvernichtungswaffen und die aus gescheiterten abgeschlossen haben. Das gilt für den Mittelmeerprozess Staaten resultierenden Gefahren sind die zentralen Be- mit den südlichen Anrainerstaaten – das einzige Format drohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen. Diesen He- übrigens, wo sich selbst in den krisenhaftesten Zeiten Is- rausforderungen muss durch eine reaktionsfähigere raelis und Araber getroffen haben. Das darf man nicht Europäische Union begegnet werden, die aktiver und ko- vergessen. Erst wenn dieser Prozess nicht mehr durch härenter handelt. den Konflikt im Nahen Osten blockiert wird, wird er (B) In Zukunft muss die EU bei Fehlentwicklungen frü- seine eigentliche Dynamik entfalten und das Mittelmeer (D) her und entschiedener aktiv werden. Aber an dieser zu einem Raum des wirtschaftlichen Wachstums, der so- Stelle sei erneut deutlich gemacht: Auch wenn wir unter zialen Sicherheit, des Friedens und des Wohlstandes ent- den Zwangsmaßnahmen militärische im Grundsatz nicht wickeln können. ausschließen können, müssen sie letztes, müssen sie al- Der Golf-Kooperationsrat, aber auch – das stellen wir lerletztes Mittel bleiben. Sie dürfen nur in Übereinstim- jetzt fest – die Verhandlungen mit dem Iran sind gerade mung mit Art. 51 und Kap. VII der Charta der Vereinten in dieser kritischen Situation, in der es zu Recht eine De- Nationen erfolgen – und nur dann, wenn andere Maß- batte über das iranische Atomprogramm gibt, Instru- nahmen nicht zum Ziel geführt haben. Dies war und ist mente europäischer Außenpolitik. Die Tatsache, dass wir auch die Position der Bundesregierung. durch die Verfassung neue institutionelle Zusammen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlüsse und eine entsprechende Repräsentanz schaffen, und bei der SPD) verdeutlicht, welche Bedeutung diese Politik für unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert tatsächlich gewinnen Javier Solana wurde in Thessaloniki von den Staats- kann. und Regierungschefs beauftragt, die Strategie auszuar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beiten und weiterzuentwickeln, und zwar in enger Ab- und bei der SPD) stimmung mit den Mitgliedstaaten und der Kommission. Bis zum kommenden Gipfel Ende des Jahres in Rom Zurück zum Nahostkonflikt. Die Staats- und Regie- sollen die Arbeiten dazu abgeschlossen werden. Nach rungschefs waren sich in Thessaloniki einig, dass die der ermutigenden Aufnahme, die das Dokument in Thes- Roadmap eine neue und wichtige Chance darstellt, den saloniki fand, sind wir zuversichtlich, dass dem Hohen Frieden in dieser Region herbeizuführen. Damit diese Repräsentanten der Europäischen Union dies gelingen Chance nicht verpasst wird, muss die Roadmap inner- wird. halb ihrer klaren zeitlichen Vorgaben umgesetzt werden. Die Umsetzung ist der entscheidende Punkt. Darüber Meine Damen und Herren, in Thessaloniki haben wir war man sich in Thessaloniki einig. Andauernde Gewalt uns auch mit dem Konflikt im Nahen Osten befasst. Die vor Ort darf die Umsetzung nicht gefährden. EU ist ein Teil des Quartetts und war an der Abfassung der Roadmap ganz wesentlich beteiligt. Lassen Sie Der Rat begrüßte zudem ausdrücklich das persönliche mich das sagen: Angesichts dessen, was die viel ge- Engagement von Präsident Bush für die Roadmap und scholtene Außenpolitik der Europäischen Union in der unterstrich die Bereitschaft der Europäischen Union, zu jüngsten Vergangenheit im Nahen Osten geleistet hat, ist ihrer Umsetzung umfassend beizutragen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4315

Bundesminister Joseph Fischer (A) Die Erweiterung der Europäischen Union – wie oft Präsident Wolfgang Thierse: (C) haben wir in diesem Hause darüber gestritten; nicht über Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des die Sache als solche, sondern eher über die Zeitpläne, die Landes Baden-Württemberg, Erwin Teufel. Ernsthaftigkeit und Ähnliches? – wird mit der Aufnahme der zehn neuen Länder im nächsten Jahr noch nicht ab- (Beifall bei der CDU/CSU) geschlossen sein. In Thessaloniki haben wir Rumänien und Bulgarien nochmals bestätigt, dass unser Ziel, sie Erwin Teufel, Ministerpräsident (Baden-Württem- 2007 in die Union aufzunehmen, weiterhin Bestand hat. berg): Jetzt sind diese beiden Länder am Zuge. Sie bestimmen mit ihren Reformen und – das ist noch wichtiger – mit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ihren innerstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen selbst Herren! Aus der Sicht des Landes Baden-Württemberg, das Tempo ihres Beitrittsprozesses. Wir glauben, dass sie das in seiner Geschichte unter den deutsch-französischen es bis zu dem geplanten Aufnahmetermin tatsächlich Kriegen und den europäischen Bürgerkriegen ganz be- schaffen können, die Voraussetzungen für eine Auf- sonders gelitten hat, bin ich ein überzeugter Europäer. nahme zu erfüllen, wenn sie sich ernsthaft engagieren. Europa ist für mich zuerst eine Friedensordnung. Weil ich will, dass das 21. Jahrhundert so aussieht wie die Auf dem Westbalkangipfel, der im Anschluss an den zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht wie die Rat stattgefunden hat, bekräftigten die Staats- und Re- erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, setze ich mich aus gan- gierungschefs der EU nochmals die europäische Per- zer Überzeugung für Europa ein. spektive aller Länder in dieser Region: Es liegt in der Hand dieser Staaten, die Kriterien zu erfüllen, die ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Perspektive eines Beitritts eröffnen. Politische bei Abgeordneten der SPD) Preise, politische Kulanzentscheidungen, darf und wird In diesem Zusammenhang ist die Erweiterung der Euro- es dabei aber nicht geben; denn es handelt sich um ob- päischen Union um zehn osteuropäische und südosteuro- jektive Kriterien, die erfüllt werden müssen. Das wurde päische Länder ein großer Fortschritt für eine umfas- im Beschluss von Helsinki für den Beitrittsprozess ins- sende Friedensordnung. gesamt fixiert. Ich finde, das war ein sehr kluger und zu- kunftsweisender Beschluss. Das europäische Projekt darf nicht scheitern. Es muss doch jedem Europäer zu denken geben, dass Volksab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmungen in einigen Ländern gescheitert sind und in und bei der SPD) vielen Ländern, auch in Deutschland, die Akzeptanz der (B) Europäischen Union in den monatlichen Umfragen kon- (D) Wir wollen die Beziehungen der Länder des westli- tinuierlich auf unter 50 Prozent gesunken ist. Aus meiner chen Balkans zur EU weiter intensivieren, bis hin zur Sicht gibt es dafür einen Hauptgrund: Die Bürgerinnen Perspektive einer späteren Mitgliedschaft. Die Europäi- und Bürger übersehen die europäischen Angelegenhei- sche Union ist bereit, einen substanziellen Beitrag zur ten nicht mehr. Sie sind zu wenig transparent, zu weit Stabilisierung auf dem Balkan zu leisten. Dabei gilt für weg, zu unübersichtlich und die Bürger haben den die Länder dieser Region: Eine erfolgreiche Reformpoli- Eindruck, die Europäische Union kümmere sich um tau- tik im Inneren ist die Voraussetzung für eine engere Ko- senderlei Dinge, die auf kommunaler Ebene oder Län- operation mit den Staaten der Europäischen Union. derebene weit bürgernäher, besser, effizienter und trans- parenter gelöst werden könnten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Europa muss also vom Kopf auf die Füße gestellt Die Schaffung eines starken und handlungsfähigen werden. Nach dem Subsidiaritätsprinzip muss Europa Europas entspricht eindeutig unseren nationalen Interes- von unten nach oben gebaut werden mit dem Vorrang für sen; denn einzelne europäische Staaten, selbst die größ- die jeweils kleinere Einheit. Ich bin für ein starkes Eu- ten, können weder für sich alleine noch in wechselnder ropa, aber Europa ist doch nicht dann stark, wenn es sich Allianz ihre Interessen auf Dauer wirksam vertreten. Nur um tausenderlei Dinge kümmert, sondern es ist stark, gemeinsam, als Europäische Union, haben die europäi- wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert. schen Staaten die Chance, das 21. Jahrhundert nachhal- tig mit zu gestalten. Gerade die Krisen der jüngsten Zeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben gezeigt, dass dies die machtpolitische Wirklich- Die richtigen Aufgaben lassen sich ganz genau defi- keit des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmacht. nieren. Es sind die Aufgaben, deren Bewältigung über Thessaloniki war ein wichtiger Schritt hin zu diesem die Kraft des Nationalstaates hinausgehen, also Fragen starken und handlungsfähigen Europa. Wir sind zuver- der Außen- und Sicherheitspolitik, der Verteidigungspo- sichtlich, dass wir auf diesem Weg weiter voranschreiten litik, selbstverständlich Fragen der Währungspolitik, werden. wenn man eine gemeinsame Währung hat, Fragen des Binnenmarktes, wenn man einen gemeinsamen Markt Ich danke Ihnen. hat, Fragen der Außenhandelspolitik, Fragen der grenz- überschreitenden Umweltpolitik, Fragen der Großfor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schungspolitik. All das sind klassische europäische Auf- und bei der SPD) gaben. 4316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) (A) Diese Zielsetzungen waren die Leitlinien für die Be- Diese Analyse über die bisher bestehenden Einfallstore (C) schlüsse des Bundesrates und der Ministerpräsidenten- musste man im Auge haben, wenn man Verbesserungen konferenz, das spiegelte sich in den vergangenen zehn erreichen wollte. oder 15 Jahren nicht nur in hoher, sondern in umfassen- der Übereinstimmung aller 16 deutschen Länder wider. Nun das Ergebnis: Allgemeine Ziele sind nicht mehr kompetenzbegründend. Es ist ein hohes Gut, dass wir eine übereinstimmende Auffassung über die Zukunft der Europäischen Union (Beifall des Abg. Albert Deß [CDU/CSU] – haben. Das hat uns in den letzten 15 Jahren im Verhältnis Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: zum Bund geholfen und das hat uns jetzt bei den Bera- Genau das ist es!) tungen im Europäischen Konvent sehr geholfen. Für diese gemeinsame Zielsetzung habe ich mich aus Über- Das ist ein ganz zentraler Punkt. Wir haben die klare zeugung eingesetzt. Ich erhielt dabei vielfältige Unter- Kompetenzordnung – übrigens durchaus nach dem Mus- stützung von deutschen Konventsteilnehmern, beispiels- ter unseres Grundgesetzes – mit ausschließlicher Zustän- weise von den Vertretern der Bundesregierung, digkeit der Europäischen Union, geteilten Zuständigkei- Professor Glotz und Außenminister Fischer, von den ten und ergänzenden Zuständigkeiten. Vertretern des Bundestages, Professor Meyer und Peter Genauso wichtig wie diese Kompetenzkategorien ist, Altmaier, und von den Vertretern des Bundesrates, Mi- dass die Europäische Union künftig bei alle Aufgaben, nister Senff und später Minister Gerhards. Dafür möchte die sie haben wird, drei Prinzipien beachten muss: ers- ich mich ausdrücklich bedanken. tens die begrenzte Einzelfallermächtigung – das ist das Gegenmodell zu den allgemeinen Zielen –, zweitens den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und drittens das Sub- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- sidiaritätsprinzip. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Prinzipien stehen – das ist außerordentlich An diesen Zielen messe ich jetzt auch das Ergebnis wichtig – nicht als hehre Ziele im Vertrag, so wie bei- des Konvents mit der Überschrift „Viel erreicht, aus der spielsweise das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Sicht der deutschen Länder aber noch einige wichtige Amsterdam und – schon früher – im Vertrag von Fragen offen“. Aus der Sicht der Länder möchte ich zu- Maastricht, wodurch sich allerdings überhaupt nichts ge- nächst einmal sagen, dass wir einige wesentliche Ergeb- ändert hat; diese Ziele sind vielmehr zum ersten Mal be- nisse nur durch die direkte Unterstützung von Präsident wehrt. Zum ersten Mal werden die nationalen Parla- Giscard d’Estaing erreicht haben, was ich ganz beson- mente zum Zeitpunkt einer Gesetzesinitiative der (B) ders dankbar vermerken möchte. Kommission sozusagen in einem Frühwarnsystem ein- (D) geschaltet. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Fort- Meine Damen und Herren, es wurde viel erreicht. Da- schritt für Bundestag und Bundesrat. Es kommt jetzt da- für möchte ich einige Beispiele nennen. Es gibt in der rauf an, dass wir diese Möglichkeit auch nutzen. Verfassung eine klare Kompetenzordnung. Das hätte vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr nie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie mand für möglich gehalten. Bisher hat Europa jede Auf- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- gabe an sich gezogen, die es bekommen konnte. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Was waren die großen Einfallstore für immer neue Bundestag und Bundesrat können im Rahmen ihrer Aufgabenverlagerungen auf die europäische Ebene? Das Zuständigkeit Einwände wegen Verletzung des Subsidia- erste Einfallstor war der Artikel zum Binnenmarkt, der ritätsprinzips einbringen. Zum ersten Mal bekommen sie den Wettbewerb regelt. Ich muss mich fragen, was ei- ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof, wenn sie gentlich nicht zum Wettbewerb gehört. Auf diesem Weg das Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung hat sich die EU in alle Bereiche eingemischt, von der verletzt sehen. Durch eine entsprechende innerstaatliche kommunalen Daseinsvorsorge über die Sparkassen bis Regelung kann auch das Klagerecht jedes deutschen hin zur Kultur und zu den Medien. Bundeslandes begründet werden. Wir sind hier auf gu- tem Weg, und zwar einvernehmlich mit der Bundesre- Das zweite Einfallstor ist die Generalermächtigung gierung. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken. aus Art. 308. Mir sagten zwei Kommissare ganz offen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wenn wir in den Verträgen keine Kompetenz gefunden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben, dann haben wir uns auf Art. 308 gestützt. All dies ist für den Bundestag und den Bundesrat, aber Das dritte Einfallstor stellen die allgemeinen Ziele auch für die Bürgernähe, für ein Europa von unten nach dar. Jeder europäische Vertrag beginnt auf zwei bis vier oben von entscheidender Bedeutung. DIN-A4-Seiten mit allgemeinen Zielen. Das ist Lyrik. Wenn man diese allgemeinen Ziele als Kompetenzbe- Auch in einem anderen Punkt wurde viel erreicht. Die gründung nimmt, dann gibt es kein Halten mehr, dann Grundrechtecharta als Ausdruck der Wertegemein- gibt es keinen Bereich, für den Europa nicht zuständig schaft Europas wird rechtsverbindlich. Alle Teile des ist. Verfassungsvertrags haben die gleiche Rechtsqualität. Das heißt, alle Vertragsänderungen bedürfen der Zustim- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mung aller Mitgliedstaaten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4317

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) (A) Zum ersten Mal wurde das kommunale Selbstverwal- Die Aufnahme des Gottesbezugs oder auch nur eine (C) tungsrecht in einem europäischen Vertrag verankert. direkte Erwähnung des Christentums als eine der wich- tigsten Wurzeln Europas in die Verfassung konnte nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erreicht werden. In der gesamten europäischen Geschichte haben vor al- Erfreulicherweise wurde der Schutz der Kinder auf- lem die Städte und Gemeinden Europa getragen. Bisher genommen. Er hängt aber im luftleeren Raum; denn der sind sie in einem europäischen Vertrag überhaupt nicht Schutz der Kinder wurde ohne jeden Bezug zur Familie vorgekommen. Vor allem dafür, dass das geändert oder zur Ehe verankert. wurde, habe ich mich eingesetzt; denn die Gemeinden und Städte sind das Fundament einer europäischen Ord- (Beifall bei der CDU/CSU) nung. Ein ganz zentraler Punkt ist das Ausländer- und Asyl- (Beifall im ganzen Hause) recht. Wir wollen eine europäische Einwanderungs- politik, welche das Maß der Einwanderung und des Zu- Meine Damen und Herren, es gibt keinen Artikel über gangs zum nationalen Arbeitsmarkt in der Hand der eine offene Koordinierung. Auch das ist ein wichtiger Mitgliedstaaten belässt. Fortschritt. Die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche bleibt Teil der nationalen Identität und (Beifall bei der CDU/CSU) Zuständigkeit. Es gibt künftig einen Legislativrat, der öffentlich tagen muss. Es ist doch ein Ding der Unmög- Hier verlassen wir uns auch auf das entsprechende Wort lichkeit, dass die europäische Gesetzgebung bisher unter des Herrn Bundeskanzlers in Thessaloniki, das ich mit Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen wurde. besonderer Aufmerksamkeit gehört habe. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ( [CDU/CSU]: Das würde ich nie tun! – Gerhard Schröder, Bundeskanzler, zu Es war das einzige demokratische Parlament der Welt, Abg. Michael Glos [CDU/CSU] gewandt: Ih- das nicht öffentlich getagt hat. Dieser Fehler ist behoben nen würde ich auch kein Wort geben!) worden und die Änderung ist nun Teil der Verfassung. Meine Damen und Herren, die Flexibilitätsklausel in (Beifall im ganzen Hause) Art. 17 ist zwar nicht mehr so weit gehend wie im alten Art. 308, aber eine Flexibilitätsklausel ist im Grunde ge- Beim Übergang zu Mehrheitsentscheidungen konnten nommen auch überflüssig, wenn man eine klare Kompe- wir eine doppelte Mehrheit durchsetzen: Mehrheit der tenzordnung hat. Die Flexibilitätsklausel ist auf jeden Staaten und sogar eine 60-prozentige Mehrheit der Bür- Fall zu weit gehend formuliert. (B) ger. Ich glaube, gerade die Bundesrepublik Deutschland (D) – die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundes- Die in den bestehenden EU-Verträgen geltenden Zu- rat – sollte diesen Punkt berücksichtigen und es sich ständigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Koordinie- zehnmal überlegen, bevor sie das Paket wieder auf- rung der Wirtschaftspolitik, der Beschäftigungspolitik schnürt und diese Möglichkeit unter Umständen wieder und der Sozialpolitik müssen erhalten bleiben. Die Bin- aufs Spiel setzt. nenmarktklausel in Art. III-62 des Verfassungsent- wurfs, die noch zu beraten ist, muss aus unserer Sicht (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) präzisiert werden. Die Finanzierung der Europäischen Das Europäische Parlament wurde gestärkt. Auch das Union aus Eigenmitteln muss der Kontrolle durch alle war ein wichtiges Anliegen. Als Bürgerkammer ist es Mitgliedstaaten unterliegen. Die EU-Finanzierung muss künftig ein weitestgehend gleichwertiger Gesetzgeber so ausgestaltet sein, dass finanzielle Risiken für neben dem Legislativrat. Auch das halte ich für einen Deutschland begrenzt bleiben. Eine EU-Steuer wäre der großen Erfolg. falsche Ansatz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schließlich bleiben die Mitwirkungsrechte der Länder Zu all diesen, den Teil III betreffenden Punkten habe im Ministerrat, die wir im Vertrag von Maastricht erst- ich zahlreiche konkrete Änderungsanträge für die fol- mals verankert haben, erhalten. genden drei Sitzungen gestellt. Gestern las ich in einer dpa-Meldung, dass der SPD-Europapolitiker Michael Meine Damen und Herren, nun verhehle ich nicht, Roth Außenminister Fischer kritisiere, weil dieser für dass ich mit einigen wesentlichen Ergebnissen nicht zu- die abschließende Beratung im Konvent 57 Änderungs- frieden bin. Teilweise können sie noch geändert werden, anträge gestellt habe. nämlich dann, wenn sie Teil III betreffen, über den im Juli in drei Sitzungen beraten wird. Sie könnten auch in (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: der Regierungskonferenz geändert werden, falls das Pa- Majestätsbeleidigung!) ket wieder aufgeschnürt wird. Aber wie gesagt: Das soll- ten wir uns überlegen. Gleichzeitig sollten wir bereit Ich frage mich, warum das zu kritisieren ist. Teil III der sein, unsere Änderungswünsche zu allen Teilen der Verfassung wurde bisher nicht nur im Konvent nicht be- Verfassung einzubringen, wenn andere das Paket wieder raten. Er wurde uns überhaupt erst vor zehn Tagen vor- aufschnüren. gelegt. Er ist noch nicht einmal im Präsidium des Kon- vents beraten worden. Es ist deshalb logisch, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU) Änderungswünsche beim Teil III haben und dass wir uns 4318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) (A) alle bis zur letzten Minute dafür einsetzen, unsere Wün- wird, ob wir uns als Europäer im 21. Jahrhundert be- (C) sche tatsächlich durchzusetzen. haupten werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Bundestag – so meine ich – setzt mit der Einlei- tung der Ratifizierung der Beitrittsverträge wenige Wo- Abschließend möchte ich sagen: Wir haben viel er- chen nach dem Treffen in Athen ein wichtiges Signal. reicht und wir wollen noch einiges erreichen. Europa Die SPD-Bundestagsfraktion und auch die SPD-geführte muss eine gute und bürgernahe Verfassung bekommen. Bundesregierung haben von Anfang an, seit 1998, das Europa muss in eine gute Verfassung kommen. Projekt der Erweiterung immer wieder vorangebracht; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit den großen und mit den kleinen Ländern und entge- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE gen mancher Kritik aus der Opposition. GRÜNEN und der FDP) (Lachen der Abg. Sabine Leutheusser- Schnarrenberger [FDP]) Präsident Wolfgang Thierse: Wir haben uns diesem Projekt verschrieben. Wir haben Ich erteile dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Frak- uns dafür eingesetzt und trotz vieler Einwendungen tion, das Wort. – Außenminister Fischer hat das vorhin gesagt – über so genannte Zeitpläne unser Ziel erreicht. Wir werden im Günter Gloser (SPD): nächsten Jahr in einer feierlichen Zeremonie das Doku- ment über den Beitritt zehn weiterer Länder unterzeich- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nen. Herren! „Idee Europa. Entwürfe zum Ewigen Frieden“, so lautet der Titel einer Ausstellung im Historischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Museum. Wer den ersten Teil dieser Ausstellung be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) trachtet, ist auf der einen Seite von den vielen Missionen beeindruckt, die in den letzten Jahrhunderten für dieses Die entsprechende Bewertung des Verfassungskon- Europa entwickelt worden sind. Auf der anderen Seite vents durch uns ist ein wichtiges Signal für die Debatten aber sieht er, welche Realitäten in diesen Jahrhunderten in den Parlamenten der Nachbarländer. Bei der Beurtei- geherrscht haben: Angriffskriege, Kriege, mit denen lung des Verfassungsentwurfs kann nicht das im Vorder- Vereinigungen herbeigeführt werden sollten, Erbfolge- grund stehen, was vielleicht wünschenswert, aber nicht kriege und viele mehr. Kurzum: Kriege, Konflikte, erreichbar war. Im Vordergrund der Bewertung muss menschliches Leid und viele tote Menschen. vielmehr stehen, was erreicht worden ist; und das ist nicht wenig. (B) Der zweite Teil zeigt auf, wie sich Europa heute ent- (D) Wer vor vielen Monaten darüber philosophiert hat, wickelt. Das ist die Verbindung zur aktuellen Debatte im wie der Konvent ausgehen wird, muss heute zugeben, Deutschen Bundestag. Für die SPD kann ich – auch in Anlehnung an diese Ausstellung – sagen: Wir sind dabei, dass sich die Unkenrufe nicht bewahrheitet haben. In der Tat – Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben das ge- vom Europa der Utopien zum Europa der Nationen zu rade auch bestätigt – hat der Konvent gute Arbeit geleis- gelangen. Mehr noch: Wir wollen vom Europa der Nationen zum Europa der Völker und der Bürger ge- tet. langen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der hoch gelobte Verfassungsentwurf ist nach meiner des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Überzeugung geeignet, eine gemeinsame Politik in ei- nem erweiterten Europa zu gestalten, die sich durch Auf diesem Weg – dieser Weg ist nicht immer einfach mehr Demokratie, mehr Bürgernähe und Transparenz gewesen – haben wir Erfolge zu verzeichnen. Diese sowie größere Handlungsfähigkeit auszeichnet. Der er- wichtigen Erfolge sind für Europa und die Zukunft unse- reichte Konsens stellt einen ausgewogenen Kompromiss res Kontinents von ausschlaggebender Bedeutung: die dar und ist eine gute Grundlage für die europäische Ver- Erweiterung der Europäischen Union und die Vertie- fassung. fung des europäischen Integrationsprozesses. Beide große Themen sind zwei Seiten einer Medaille, die sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nur zusammen zu einem Ganzen fügen. Das Erreichte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beruht auf dem Willen, die europäische Teilung endgül- tig zu überwinden, und auf der Einsicht, dass keiner der Viele von uns können sich andere, weiter gehende, in- Nationalstaaten fähig sein wird, die Herausforderungen tegrationsfreundlichere Regelungen vorstellen. Aber es des 21. Jahrhunderts im Alleingang zu meistern. Des- geht nicht einfach darum, all unsere Positionen, die wir halb ist es gut und richtig, heute beide Themen in dieser in Deutschland formuliert haben, durchzusetzen. Es geht Europadebatte zusammenzuführen. darum, auf der europäischen Ebene mit Ländern, die an- dere Verfassungstraditionen haben, eine gemeinsame Die fortschreitende Einigung Europas, die Erweite- Position zu finden. Deshalb bin ich froh darüber, dass rung der EU um zunächst zehn neue Mitglieder, die auch die Opposition und vor allem die Union wieder zu Schaffung des weltgrößten Binnenmarkts und die ge- einem vernünftigen Weg zurückgefunden hat. Denn vor wachsene internationale Verantwortung stellen uns vor wenigen Wochen war im „Kölner Stadtanzeiger“ zu le- neue Aufgaben, von deren Bewältigung es abhängen sen, dass der Landesgruppenchef der CSU gesagt hat Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4319

Günter Gloser (A) – wenn es richtig zitiert ist –, dass die CSU im Grunde wenn die Union Kritik daran übt, ist es dennoch wichtig, (C) keine Verfassung Europas wolle. Aber, wie so häufig, dass die Türkei diesen Beobachterstatus hat. wird Michael Glos einige Tage später von der Wirklich- keit eingeholt; (Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie end- lich die Katze aus dem Sack gelassen!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Ach ja?) Die Konventmethode hat sich bewährt. Zum zweiten denn es heißt in einem Positionspapier von CDU und Mal hat ein Konvent getagt. Seine Arbeit – besser ge- CSU: sagt: seine Methode – wird sicherlich in naher Zukunft Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fort- vonseiten der Wissenschaft bewertet werden, die wohl schritt für die Weiterentwicklung der europäischen auch die eine oder andere Kritik vorbringen wird. Aber Integration und für eine bessere Wahrnehmung der bei aller Kritik war es wichtig und richtig, nach dem Eu- berechtigten Interessen von Bund, Ländern und Ge- ropäischen Rat in Nizza den Weg der herkömmlichen meinden. Regierungskonferenzen zu verlassen. Wir freuen uns auch darüber, dass die Konventmethode immer nach Wie wahr! So schnell können sich die Zeiten ändern, dem Motto „Mehr Demokratie und mehr Parlament wa- Herr Glos. gen“ von der Bundesregierung unterstützt wurde. Heute (Beifall bei der SPD – Michael Glos [CDU/ können wir alle feststellen: Es hat sich gelohnt. CSU]: Wo ist der Widerspruch? Erklären Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das einmal!) DIE GRÜNEN) Wir sollten sorgfältiger mit dem Konventsergebnis Die Akteure, die unser Parlament vertreten haben, umgehen. Herr Ministerpräsident Teufel, es gibt sicher- sind bereits erwähnt worden. Ich möchte auch vonseiten lich große Übereinstimmung über das, was Sie vorhin der SPD Professor Jürgen Meyer, der nach dem Konvent gesagt haben. Sie haben jedoch vorhin gesagt, was die zur Erarbeitung der Europäischen Grundrechte-Charta EU-Kommission so alles macht, ohne dabei zu erwäh- schon den zweiten Konvent mit bestritten hat, für seine nen, dass viele Dinge auf nationale Initiative zurückzu- Arbeit danken. Es gab aber auch – das soll nicht uner- führen sind, die letztendlich von der Europäischen Kom- wähnt bleiben – in der Frage der Ausarbeitung der euro- mission nur umgesetzt worden sind. päischen Verfassung eine gute Zusammenarbeit zwi- Sie haben beispielsweise den leidigen Bankenstreit schen allen Fraktionen im Parlament. Deshalb gilt mein angesprochen. Sie wissen genauso gut wie ich, wie der ausdrücklicher Dank Peter Altmaier für die konstruktive entstanden ist. Der ist nicht auf Initiative der EU-Kom- Zusammenarbeit. (B) mission, sondern durch die Klage des Verbandes der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) deutschen Privatbanken entstanden. Deshalb sollte man DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der klar zwischen berechtigter Kritik an der Europäischen CDU/CSU und der FDP) Kommission und ebensolcher an nationalen Institutionen unterscheiden. Der Europäische Rat von Thessaloniki hat in vielen Bereichen – bei der Einwanderung, in Grenz- und Asyl- Der vereinbarte Fahrplan, so wie ihn Außenminis- fragen, aber auch in der Wirtschafts- und Beschäfti- ter Fischer vorhin dargestellt hat, entspricht unseren gungspolitik – zahlreiche positive Ergebnisse erzielt. Hoffnungen, aber auch unseren Erwartungen. Wichtig ist Diese sind ein Indikator dafür, dass sich allgemein die aus meiner Sicht, dass die Regierungskonferenz auf der Einsicht durchsetzt, dass Politik gerade auch in diesen Ebene der Staats- und Regierungschefs und der Außen- Bereichen nur im gesamteuropäischen Kontext möglich minister stattfindet. Ich sehe darin einen Garanten dafür, ist. dass das im Konvent erzielte Konsenspaket nicht wieder aufgeschnürt wird. Wir wissen, dass Europa gestaltungsfähiger Akteur werden muss, der mehr kann, als nur seine wirtschaftli- Es ist das Schöne an diesem freiheitlichen Europa, chen Interessen zu vertreten. Gleichzeitig ist aber das zu- dass ein frei gewählter Abgeordneter auch einmal etwas sammenwachsende Europa verpflichtet, angesichts der Kritisches anmerken kann, auch wenn der Außenminis- Gefahren des internationalen Terrorismus und der inter- ter vielleicht eine andere Position dazu hat. Wir haben nationalen Kriminalität nicht nur seinen eigenen Bürgern uns schließlich dafür eingesetzt, dies in Europa zu errei- das höchstmögliche Maß an Sicherheit zu gewähren. chen. Deshalb muss die EU bereit sein, einen Teil der Verant- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wortung für die globale Sicherheit zu tragen. Europa des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter muss den ökonomischen, politischen, aber auch ideolo- Hintze [CDU/CSU]: Das müsst ihr eurem gischen Gefahren politisch begegnen. Die Entwicklung Kanzler erzählen!) einer neuen europäischen Sicherheitsstrategie ent- spricht diesen Notwendigkeiten. Vor dem Hintergrund der anstehenden Erweiterung ist es zwar eine Selbstverständlichkeit, aber ich möchte es Der jetzt gebilligte Entwurf legt eine detaillierte Be- trotzdem noch ausdrücklich würdigen, dass die zehn drohungsanalyse vor und definiert die strategischen Ziele Beitrittsländer von Anfang an gleichberechtigt an der der Europäischen Union. Er kommt zu dem Ergebnis, Regierungskonferenz teilnehmen und dass die übrigen dass keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Na- Beitrittsländer einen Beobachterstatus erhalten. Auch tur ist und deshalb auch nicht rein militärisch bekämpft 4320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Günter Gloser (A) werden kann. Dieser umfassende Sicherheitsbegriff ent- Ich glaube, der Gipfel unter griechischer Präsidentschaft, (C) spricht unserem Anliegen. Unsere Vorstellungen decken die vom Konvent erarbeitete Verfassung und der bevor- sich auch mit den strategischen Zielen der Europäischen stehende Beitritt von zehn neuen Ländern zur Europäi- Union. Diese sind auf die Ausdehnung des Sicherheits- schen Union werden dieser Aufgabe gerecht. gürtels in und um Europa, auf die Stärkung der Weltord- nung und die Verrechtlichung der internationalen Bezie- Vielen Dank. hungen ausgerichtet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias Die Schaffung der Beitrittsperspektive für die West- Wissmann [CDU/CSU]) balkanstaaten hat die Befriedung der Region zweifellos gefördert. Der von der Europäischen Union in Gang ge- setzte Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess hat die Präsident Wolfgang Thierse: Rahmenbedingungen für Stabilität und Sicherheit auf Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser- dem Balkan geschaffen. Schnarrenberger, FDP-Fraktion. Der Westbalkangipfel vom 21. Juni 2003 hat konse- quenterweise die Beitrittsperspektive für diese Staaten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): bekräftigt und die materiellen Voraussetzungen für die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Heranführung an die EU verbessert. Dies ist ein wichti- Kollegen! Liberale Außenminister und die FDP-Bundes- ges politisches Signal. Die Balkanländer haben es nun in tagsfraktion haben sich jahrzehntelang für die Einheit der Hand, das Tempo der Annäherung an die Europäi- Europas in Frieden und Freiheit eingesetzt. Wir haben sche Union selbst zu bestimmen. die Osterweiterung gegen heftige Kritik auch aus diesem Die EU pflegt seit geraumer Zeit enge, auf Zusam- Haus immer vorangetrieben und immer auf feste Ter- menarbeit ausgerichtete Beziehungen im Rahmen des mine gedrängt. Heute ist die erste Lesung zur Ratifizie- Barcelonaprozesses. Ich denke, das ist gerade in diesen rung des Beitrittsvertrages. Gerade das ist auch ein Er- Tagen von Bedeutung, in denen eine Parlamentarierdele- folg liberaler Politik der letzten Jahrzehnte in der gation aus Marokko im Deutschen Bundestag zu Gast Bundesrepublik Deutschland. ist. Ich glaube aber, dass wir es nicht allein bei dieser (Beifall bei der FDP) Strategie belassen können. Auch hier müssen wir – dazu hat die Kommission auch Vorschläge unter-breitet – völ- Wir wollten als Liberale immer mehr Europa in den- lig neue Wege beschreiten, die zwar nicht zur Aufnahme jenigen Bereichen, in denen die Nationalstaaten nicht dieser Länder in die Europäische Union führen sollen, mehr in der Lage sind, die globalen und internationalen (B) durch die aber diese Nachbarschaft entsprechend ge- Herausforderungen wirklich anzunehmen und ihnen zu (D) stärkt wird. begegnen. Das sind die Bereiche der Außen-, der Sicher- heits- und der Verteidigungspolitik. Aber natürlich spie- Wir haben es nun in der Hand – der Gesetzentwurf len auch Fragen der inneren Sicherheit, der Innenjustiz liegt uns heute zur ersten Beratung vor –, den Ratifizie- und der Rechtspolitik eine große Rolle. rungsprozess maximal zu beschleunigen und als Deut- scher Bundestag dazu beizutragen, dass der Europäi- Für die FDP-Bundestagsfraktion ist der jetzt vorlie- schen Union zum 1. Mai 2004 zehn neue Mitglieder gende Entwurf einer europäischen Verfassung ein ent- beitreten können. scheidender Schritt für das Zusammenwachsen Europas. Dieser Entwurf bietet die bislang grundlegendste Ant- Damit sprechen wir auch unsere Anerkennung für die wort der Europäischen Union auf die großen Herausfor- erheblichen Transformationsprozesse in den zehn Bei- derungen Erweiterung, Demokratisierung und die drin- trittsländern aus. Die Regierungen, aber auch die Bürge- gend notwendige Bürgernähe. Nur mit den jetzt in einer rinnen und Bürger dieser Länder haben enorme Anstren- Verfassung festgelegten rechtsstaatlichen und demokra- gungen unternommen. Die positiven Ergebnisse der tischen Strukturen und Kompetenzverteilungen kann die bisherigen Volksabstimmungen in den Beitrittsländern Europäische Union mit 25 – und auch mit mehr – Mit- sollten uns ein zusätzlicher Ansporn sein, den Beitritts- gliedstaaten handlungsfähig sein. Nur dann, wenn wir vertrag noch vor der Sommerpause zu ratifizieren. eine wirklich gute Verfassung bekommen, ist ein Gelin- gen der Osterweiterung möglich, die wir alle, glaube ich, Europas Aufgabe liegt nicht mehr darin und wird inzwischen wollen. nie wieder darin liegen, die Welt zu beherrschen, in ihr mit Gewalt seine Vorstellung von Wohlstand (Beifall bei der FDP) und Gut zu verbreiten oder ihr seine Kultur aufzu- zwingen, nicht einmal darin, sie zu belehren. Genscher hat Recht: Thessaloniki wird in die Geschichte der Europäischen Union als ein wichtiges Datum einge- So schreibt Vaclav Havel 1996. Er fährt fort: hen. Die einzige sinnvolle Aufgabe für das Europa des Natürlich gibt es auch berechtigte Kritik. Das muss nächsten Jahrtausends besteht darin, sein bestes sein. Auch der FDP-Bundestagsfraktion geht der Verfas- Selbst zu sein, das heißt, seine besten geistigen Tra- sungsentwurf in einigen wesentlichen Punkten nicht weit ditionen ins Leben zurückzurufen und dadurch auf genug. Aber es darf jetzt nicht aus taktischen oder innen- eine schöpferische Weise eine neue Art des globa- politischen Motiven versucht werden, den vorliegenden len Zusammenlebens mitzugestalten. Kompromiss von über 200 Konventmitgliedern, ordent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4321

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) lichen und stellvertretenden, aus 25 Staaten kleinzure- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter (C) den. Im Gegenteil: Es sollte in den Beratungen über den Hintze [CDU/CSU]) dritten Teil der Verfassung das hervorgehoben werden, Wir von der FDP-Fraktion haben immer gesagt: Der was gelungen ist, und es sollten Chancen zur Verbesse- Bundestag muss diesbezüglich – auch durch ein Klage- rung dort genutzt werden, wo es noch möglich ist; denn recht – die Kontrolle haben, aber auch – entsprechend un- bei diesen Beratungen wird nicht nur über technische serer internen Verfassungsordnung – der Bundesrat und Fragen verhandelt werden. damit die Bundesländer. Wir kritisieren, dass in diesem Die Vorlage eines im Konsens gefundenen Verfas- Zusammenhang die Landtage nach wie vor keine Rolle sungsentwurfs ohne Optionen ist für die Regierungskon- spielen; aber wir werden durch eine Debatte über eine eu- ferenz Verpflichtung, die ersten beiden Teile nicht gene- ropäische Verfassung nicht auch noch die Verfassungs- rell wieder aufzuschnüren; denn dann kommt im ordnung in Deutschland verbessern und ändern können. Zweifelsfall weniger an Demokratie, Transparenz und In einer erweiterten Europäischen Union ist es drin- Effizienz für Europa heraus, als wir wollen. Dann kann gend notwendig, Mehrheitsentscheidungen zuzulassen, auch das Gelingen der Osterweiterung wieder gefährdet um mehr Effizienz zu erreichen. In diesem Bereich geht sein. uns der Verfassungsentwurf eindeutig nicht weit genug. (Beifall bei der FDP) Gerade auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sehen wir die große Gefahr, dass Wir wollen, dass gerade die Grundrechte-Charta so Initiativen durch einen europäischen Außenminister schnell wie möglich Wirkung für die Bürgerinnen und zwar eingebracht werden können, aber dass es letztend- Bürger entfaltet; denn sie stellt eine Wertebasis dar, auf lich sehr schwer sein wird, hier zu einem stärkeren ge- der Identität und Identifikation mit der Europäischen meinsamen Handeln Europas zu kommen. Wir wün- Union von unten her, von den Bürgern, entwickelt und schen uns natürlich, dass bei den noch anstehenden verbessert werden können. Verhandlungen zum dritten Teil der Verfassung diesbe- Für uns hat immer im Mittelpunkt gestanden, die De- züglich Verbesserungen erreicht werden. Wir wollen na- mokratiedefizite in der Europäischen Union – sie sind türlich nicht das ganze Paket aufschnüren; aber wir wol- unstreitig vorhanden – zu beseitigen. Das kann natürlich len die Weichen richtig stellen, damit wir uns 2006 nicht nur in einem gewissen Umfang, aber nicht vollkommen gleich mit der ersten Verfassungsänderung befassen gelingen. Das Europäische Parlament soll gestärkt müssen; denn das könnten wir den Bürgerinnen und Bür- werden und in Gesetzgebungsverfahren – sie sollen ein- gern nicht vermitteln. facher werden – endlich das Recht der vollen Mitent- Wir wollen den Bürgerinnen und Bürgern diese euro- (B) scheidung erhalten. Das wäre für uns ein großer Erfolg. päische Verfassung nahe bringen. Deshalb haben wir (D) Wir waren schon immer der festen Überzeugung, dass heute einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Volks- der Präsident der Europäischen Kommission vom Euro- abstimmung über die europäische Verfassung einge- päischen Parlament gewählt werden muss, damit er eine bracht. Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an größere Legitimation, aber auch eine größere Verantwor- dem wir uns nicht mehr damit herausreden können, dass tung und Verpflichtung gegenüber dem Europäischen der Bürger nicht mündig genug sei, dass dies nicht gehe, Parlament erhält. Entsprechende Schritte werden jetzt weil es das Grundgesetz nicht vorsehe. Wir wollen in un- gemacht. Wir begrüßen die Verbesserungen gerade im serer Verfassung die Voraussetzungen dafür schaffen, Bereich der Demokratisierung. dass die Bürgerinnen und Bürger – begrenzt auf diesen Komplex – beteiligt werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP) GRÜNEN) Wir beklagen doch, dass es zu wenig europäische Öf- Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben durch die fentlichkeit und zu wenig Kenntnis über die europäi- ausführliche Bewertung der im derzeitigen Entwurf ent- schen Grundlagen gibt. Umso mehr müssen wir diesen haltenen Kompetenzordnung verdeutlicht, dass die Eu- Prozess, der jetzt, nach dem Vorliegen einer endgültigen ropäische Union durch seine Umsetzung transparenter und umfassenden europäischen Verfassung, beginnt, werden wird. Wir unterstützen das, was Sie durch Ihren durch eine Einbeziehung der Bürger stärken. Einsatz in den Verhandlungen erreicht haben. Wir, die Deshalb fordere ich alle auf, diesen Gesetzentwurf zu Liberalen, wissen, dass es in Ihrer „Familie“ eben nicht unterstützen. Ich kann eigentlich nicht sehen, dass SPD so leicht ist, dies durchzusetzen, weil immer äußerst kri- und Grüne etwas dagegen haben könnten; denn sie ha- tische, sehr einseitige Töne – gerade aus dem Freistaat ben in der Legislaturperiode viel weiter gehende Anträge Bayern von Ministerpräsident Stoiber – kommen. Das vorgelegt. Ich freue mich darüber, dass es doch viele hat Ihnen Ihr Geschäft nicht erleichtert. Wir begrüßen, Stimmen gerade aus dem Süden gegeben hat, unter an- dass diese Kompetenzordnung jetzt deutlich klarer und derem von Ministerpräsident Stoiber, die Bürger zu be- verständlicher ist. Im politischen Geschäft in Europa fragen, und zwar richtig zu befragen und nicht nur eine wird man nämlich merken, dass gerade Ziele nicht mehr konsultative Meinungsbildung herbeizuführen, die letzt- kompetenzbegründend sind. Man wird in Zukunft ganz lich nicht verbindlich ist. Wir haben keine Angst vor der besonders merken, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht Meinung der Bürgerinnen und Bürger. nur auf dem Papier steht, sondern auch wirklich besser eingefordert und durchgesetzt werden kann. (Beifall bei der FDP) 4322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Zweifellos sind wir mit dem Verfassungsentwurf je- ohnehin für nicht wirklich zielführend. Sie sind deshalb (C) ner Vorhersage und Vision George Washingtons, des nicht zielführend, weil wir der jungen Generation und Gründungspräsidenten der Vereinigten Staaten von den künftigen Generationen nicht vorschreiben dürfen, Amerika, ein gutes Stück näher gekommen. Es war die- wie sie Europa eines Tages gestalten. ser große amerikanische Präsident, der vor weit mehr als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 200 Jahren an seinen Freund und Mitstreiter für die ame- sowie bei Abgeordneten der SPD) rikanische Unabhängigkeit, den französischen Marquis de Lafayette, die tröstlichen Worte schrieb – ich Insgesamt war es die Aufgabe des Europäischen Kon- zitiere –: vents, dafür zu sorgen, dass die Europäische Union end- lich auch den grundlegenden Prinzipien entspricht, die in Eines Tages werden sich nach dem Modell der Ver- den vergangenen mehr als 2 000 Jahren in Europa entwi- einigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staa- ckelt wurden, nämlich Demokratie, Gewaltenteilung und ten von Europa bilden... (und) der Gesetzgeber aller Achtung der Menschen- und Bürgerrechte. Mit der Ver- Nationalitäten sein. fassung nähern wir uns diesem Ziel des Europas der Bür- Ich würde mir wünschen, der derzeitige Präsident der gerinnen und Bürger mit einem großen Schritt an. End- Vereinigten Staaten würde sich dieser Worte erinnern, lich ist Europa in guter Verfassung. sie ständig präsent haben und den Prozess der europäi- Die Konventmethode haben meine Vorredner und schen Einigung unterstützen. Vorrednerinnen schon zu Recht gewürdigt. Zum ersten Vielen Dank. Mal hatten alle Menschen in Europa die Möglichkeit, eine Verfassungsdiskussion zu verfolgen und sich aktiv (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten an ihr zu beteiligen. Noch nie wurde die Europäische der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Union in einer so transparenten Art und Weise refor- GRÜNEN) miert. Aber nicht nur das Wie, sondern gerade auch das Was der Reform ist ein großer Schritt für das Europa der Präsident Wolfgang Thierse: Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. Die Stärkung Ich erteile der Kollegin Anna Lührmann, Fraktion des des Europäischen Parlaments ist der zentrale Punkt. Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. Die Wahl des Kommissionspräsidenten oder der Kom- missionspräsidentin und die Ausweitung der Mitent- scheidungsrechte des Europäischen Parlaments sind Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hierbei die wichtigen Punkte. Endlich legt die Verfas- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sung ein Gesetzgebungsverfahren als Regelfall fest, bei (B) Kollegen! „Freude, schöner Götterfunken“ heißt es in dem Parlament und Rat gleichberechtigt entscheiden (D) der „Ode an die Freude“, unserer Europahymne. Als können. Leider gibt es von dieser Regel auch noch ei- Friedrich Schiller diese Zeilen 1786 schrieb, hat er wohl nige Ausnahmen. Trotzdem kann das Europäische Parla- kaum daran gedacht, dass sich Europa einst eine Verfas- ment, wie ich denke, als der große Gewinner der neuen sung geben würde. Trotzdem passen diese Worte exzel- Verfassung angesehen werden. lent auf das, was hier heute zur Debatte steht: die erste (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN europäische Verfassung. und bei der SPD sowie des Abg. Peter Die Verfassung ist ein Meilenstein in der Geschichte Altmaier [CDU/CSU]) der europäischen Integration. Es gibt Skeptiker, die Eine weitere positive Neuerung in der europäischen vom Konvent enttäuscht sind, weil sie den Konvent an Verfassung, die Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern der amerikanischen verfassunggebenden Versammlung näher bringen wird, ist die Einführung des Unions- von Philadelphia messen. Solche Vergleiche, glaube ich, bürgerbegehrens. So können 1 Million Bürgerinnen helfen uns hier jedoch nicht weiter, weil die Europäische und Bürger bei einem ihnen wichtigen Anliegen die Union eine andere Qualität als die Vereinigten Staaten Kommission zum Handeln auffordern. Das ist ein sehr von Amerika hat. Auf die Europäische Union trifft eher guter Schritt hin zu mehr direkter Demokratie, die Sie, das Sprichwort zu, dass auch Rom nicht an einem Tag liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch erbaut wurde. Es ist eben ein Wesensmerkmal der Euro- endlich hier in Deutschland zulassen sollten. päischen Union, dass sie sich schrittweise entwickelt: von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die Zollunion zum Binnenmarkt und zur Währungs- und bei der SPD) union. Jetzt haben wir die europäische Verfassung, die Apropos direkte Demokratie: Damit die Verfassung sich auch in Zukunft sicherlich immer weiter entwickeln die größtmögliche Legitimation erhält, würden wir es wird. uns wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger sie in Das Gleiche kann man auch in der Gemeinsamen Au- einem Referendum annehmen können. ßen- und Sicherheitspolitik beobachten, die sich mithilfe (Jörg van Essen [FDP]: Also Zustimmung zum des europäischen Außenministers – so hoffen wir doch FDP-Vorschlag!) alle – immer weiter integrieren wird. Wir sind also noch lange nicht am Ende der Integration in Europa angekom- Bekanntermaßen fehlen dazu in Deutschland noch die Vo- men. Das finde ich auch nicht schlimm. Die Diskussio- raussetzungen im Grundgesetz. Die rot-grüne Koalition nen über die Finalität der Europäischen Union halte ich hat ja schon in der letzten Legislaturperiode in diesem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4323

Anna Lührmann (A) Hause den Antrag eingebracht, direkte Demokratie im Im Gegensatz zum Euratom-Vertrag hat die neue eu- (C) Grundgesetz zu verankern. Ich denke, Frau Leutheusser- ropäische Transparenz vor dem Rat nicht Halt gemacht. Schnarrenberger, wir dürfen direkte Demokratie nicht Die Verfassung legt fest, dass der Rat bei der Gesetzge- nur auf diesen einen Punkt beschränken. bung künftig öffentlich tagt. Auch die neu eingeführte doppelte Mehrheit ist ein großer Schritt, um die Arbeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Rates für die Bürgerinnen und Bürger verständlicher sowie bei Abgeordneten der SPD – Sabine zu machen. Leider wurde die Möglichkeit zur Be- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Dann schlussfassung mit qualifizierter Mehrheit nicht auf alle kriegen wir gar nichts!) Bereiche ausgedehnt; ausgenommen bleiben Teile der Wir als rot-grüne Koalition wollen immer noch Außen- und Sicherheitspolitik sowie Teile der Justiz- Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid im und Innenpolitik. Grundgesetz verankern. Dazu gehört auch die Möglich- Festhalten möchte ich: Trotz mancher Mängel ist die keit, ein Referendum über die europäische Verfas- europäische Verfassung das beste Fundament, auf dem sung zu veranstalten. Sie können davon ausgehen, dass das europäische Haus je gestanden hat. entsprechende Anträge auch noch kommen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg van Essen [FDP]: Rechtzeitig?) und bei der SPD) – Natürlich rechtzeitig, wir haben ja noch ein bisschen Die Regierungskonferenz ist deshalb gut beraten, den Zeit. – Wir befürchten jedoch leider abermals die Blo- Verfassungsentwurf nicht wieder ganz neu aufzumachen ckade der CDU/CSU. Deshalb wollen wir das sorgfältig und sich schon beim Europäischen Rat in Rom im De- vorbereiten. Ich appelliere nochmals an Sie, liebe Kolle- zember politisch zu einigen. Ich finde es jedoch gut, dass ginnen und Kollegen von der Union: Finden Sie den die Verfassung erst nach dem Beitritt der neuen Mit- Mut, den Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss zu ge- gliedstaaten unterzeichnet werden soll. ben. Lassen Sie uns die Demokratie in Deutschland und in Europa auf eine breitere Grundlage stellen! Ich würde Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von mich freuen, wenn Sie sich in dieser Frage bewegen Thessaloniki legen fest, dass dies „so bald wie möglich würden. nach dem 1. Mai 2004“ geschehen soll. Dafür mache ich Ihnen, Herr Außenminister, jetzt einen konkreten Ter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN minvorschlag: den 9. Mai. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen Sie ein (B) Mehr Europa für die Bürgerinnen und Bürger, das bisschen freundlicher, Herr Minister!) (D) heißt auch, dass die Konstruktion der Europäischen Union endlich transparenter werden muss. Es gibt keinen besseren Tag als den 9. Mai, denn an diesem Tag hat Robert Schuman 1950 seinen Plan zur (Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen Sie Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle doch selber nicht!) und Stahl vorgestellt. An diesem denkwürdigen 9. Mai hat die europäische Integration begonnen. Deshalb ha- Nur wenige Spezialisten haben bislang verstanden, was ben die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel- es mit den verschiedenen Verträgen und den drei Säulen treffen 1985 in Mailand beschlossen, dass der 9. Mai zu- auf sich hat. Jetzt haben wir eine Verfassung aus einem künftig „Europatag“ heißen soll. Welches Datum wäre Guss, die mit diesem Chaos aufräumt. Allerdings gibt es also angemessener für die Unterzeichnung der europäi- noch immer Sonderbestimmungen für die Justiz- und In- schen Verfassung als der 9. Mai? Dann werden wir den nenpolitik sowie im Bereich der Außen- und Sicherheits- 9. Mai nicht nur als den Tag feiern, an dem die Grund- politik, sodass die Säulen immer noch nicht ganz ver- lage für mehr als 50 Jahre Frieden und Wohlstand zu- schwunden sind. mindest im westlichen Teil Europas gelegt wurde, son- Dazu kommt noch der Euratom-Vertrag, den ich hier dern wir werden den 9. Mai auch als den Tag feiern, an einmal als Leftover des verfassungsgebenden Prozesses dem sich das neue, größere Europa eine Verfassung ge- bezeichnen möchte. Dieses Fossil bleibt nach wie vor geben hat. neben der Verfassung bestehen und widerspricht so dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ziel einer einheitlichen Verfassung für Europa. In Anbe- tracht der Tatsache, dass die große Mehrheit der aktuel- Ich bin mir sicher, dass zu einem solchen Feiertag len und der zukünftigen EU-Mitgliedstaaten entweder auch Herr Minister Clement nicht Nein sagen wird. noch nie Atomkraftwerke hatte, wie Deutschland aus der Atomenergie ausgestiegen ist oder zumindest beschlossen (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ hat, keine neuen Atomkraftwerke zu bauen, ist Euratom DIE GRÜNEN und bei der SPD) nicht mehr zeitgemäß. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Wolfgang Thierse: sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hintze, CDU/ CSU-Fraktion. Deshalb sollte dieser Vertrag baldmöglichst nach dem Konvent abgewickelt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 4324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Peter Hintze (CDU/CSU): kommen werden, an der Arbeit des Konventes bereits (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- mitwirken konnten, war ein wichtiges Signal an die ren! Der Bundeswirtschaftsminister scheint von der neuen Mitgliedstaaten: Über die gemeinsame Zukunft Idee, die Frau Kollegin Lührmann hier angesprochen wollen wir auch gemeinsam entscheiden. hat, ganz angetan zu sein; Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche Ver- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fassung einen Kompromiss darstellt – Erwin Teufel hat NEN]: Sie unterstützen das auch!) darüber schon gesprochen –, allerdings einen Kompro- miss, dessen bloße Existenz für mich schon an ein klei- er kann ja dann Festredner für diesen neuen Feiertag nes Wunder grenzt. Was haben wir vor Beginn des werden. Die Opposition wird diesen Vorschlag kritisch Konventes nicht alles gehört! Es sei unmöglich, die di- würdigen, liebe Frau Kollegin. vergierenden Interessen zusammenzuführen. Was haben Meine Damen und Herren, es war ein Akt der politi- wir in früheren Regierungskonferenzen erlebt! Man hat schen Klugheit, dass wir die neue Verfassung für Europa immer weniger verhandelt und erst ganz zum Schluss mehrheitlich in die Hände von Parlamentariern gelegt wurde dürftigst der kleinste gemeinsame Nenner verein- haben, und es ist eine beachtliche Leistung von Valéry bart. Giscard d’Estaing, dass er sich der Suche nach dem Hier hat der Konvent etwas ganz anderes geliefert. Er kleinsten gemeinsamen Nenner verweigert hat, zuguns- hat in einem überschaubaren Zeitraum eine Verschmel- ten einer Regelung, die für Europa einen echten Fort- zung der Verträge und eine Generalrevision mit dem Ef- schritt bedeutet. Wir können feststellen: Die Konvents- fekt von mehr Transparenz, mehr Effizienz und mehr arbeit war interessant und wichtig; sie hat gute Demokratie vollbracht. Ich denke, wir können auf unsere Ergebnisse gebracht. Nie war so viel Demokratie in der Parlamentarier im Konvent gemeinsam stolz sein. Europäischen Union wie heute. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei der Bewertung ist für uns eine Frage wichtig: Ist der Zustand mit dieser Verfassung besser als vorher oder Für mich ist das ein Sieg der Demokratie über die Diplo- nicht? Ich habe dazu eine klare Meinung: Wir können es matie hinter verschlossenen Türen. uns nicht erlauben, die Zukunft der Europäischen Union (Beifall des Abg. Dr. Christoph Zöpel [SPD]) mit 25 Mitgliedstaaten in das Regelwerk von Nizza ein- zusperren. Mit dem Vertrag von Nizza ist man damals Auch wir von der CDU/CSU-Fraktion danken Jürgen eindeutig zu kurz gesprungen. Es war das Scheitern ei- Meyer und Peter Altmaier, die den Bundestag im Kon- ner Verhandlung, die allein auf Regierungsebene statt- (B) (D) vent vertreten haben. fand. Wir müssen erkennen, dass diese Verfassung ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem ist, was die Regie- (Beifall des Abg. Dr. Christoph Zöpel [SPD]) rungen allein zustande gebracht haben. Ebenso richte ich ein ausdrückliches Wort des Dankes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an Erwin Teufel, der nicht nur als Ministerpräsident an neten der SPD und der FDP) dem Verfassungsentwurf mitgewirkt und dabei die Inte- ressen der Bundesländer wirksam vorgebracht hat, son- Wir haben in diesen Debatten oft darüber diskutiert, dern mit seinem Parlamentarierherzen – er hat ja auch dass mehr für den Bürger in Europa herauskommen heute gesprochen – dafür gesorgt hat, dass wir auch zu- muss. Das haben wir geschafft. Wir haben die Grund- künftig Raum für genügend eigene Arbeit haben. Man rechtecharta rechtsverbindlich aufgenommen. Zum ers- wird Erwin Teufel nach diesem Verfassungsprozess mit ten Mal erhalten die Bürgerinnen und Bürger verbriefte Fug und Recht den Vater des Subsidiaritätsgrundsatzes Abwehrrechte bezüglich des Handelns der europäi- in der europäischen Verfassung nennen können. Dafür schen Institutionen, die sie vor dem Europäischen Ge- meinen herzlichen Dank! richtshof einklagen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kommissionspräsident muss in Zukunft vom Eu- ropäischen Parlament gewählt und entsprechend dem Er- Wenn wir heute eine Bewertung vornehmen, dann gebnis der Europawahl ausgewählt werden. Damit haben müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es um die die Bürger ebenfalls zum ersten Mal mit ihrer Wahlent- Bewertung des ersten großen Hauptwerkes, aber noch scheidung Einfluss auf die politische Spitze, die Exeku- nicht um die Abschlussbewertung geht. Diese können tive in Europa. Das ist ein weiterer Fortschritt für die und wollen wir erst vornehmen, wenn auch der dritte Teil Bürgerinnen und Bürger im Land. dieser Verfassung seinen Abschluss gefunden hat. Trotz- dem können wir auch jetzt schon sagen, dass Beträchtli- (Beifall bei der CDU/CSU) ches erreicht wurde, und dies unter nicht ganz einfachen Wir müssen allerdings, Frau Leutheusser- Bedingungen. Nie zuvor waren an einer Weiterentwick- Schnarrenberger, aufpassen, dass wir hier keine Schein- lung der Europäischen Union so viele Staaten beteiligt fortschritte einbauen. Ich bin ausgesprochen skeptisch, wie heute: neben den 15 Mitgliedstaaten die zehn künfti- ob es klug ist, eine Frage, die man in Wahrheit nur mit Ja gen Mitgliedstaaten sowie die Bewerberstaaten. beantworten kann, zum Gegenstand einer Volksbefra- Die Tatsache, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas gung zu machen. Die Länder, die das einmal versucht und des Mittelmeerraumes, die im nächsten Jahr dazu- haben, haben damit böseste Erfahrungen gemacht. Den- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4325

Peter Hintze (A) ken wir an die Volksbefragung zum Vertrag von Was die Bewerbung angeht, will ich sagen: Wir haben (C) Maastricht in Frankreich. Ich fürchte, wir machen mit ei- im Europaausschuss in öffentlicher Sitzung am 21. Mai nem solchen Vorschlag ein Forum für die Falschen auf. von Herrn Bundesaußenminister Fischer ein sehr starkes Aber das werden wir in diesem Hause noch in Ruhe mit- und absolut glaubwürdiges Dementi gehört. Er hat be- einander besprechen. tont, dass er dieses Amt nicht übernehmen wolle und dass er einem entsprechenden Ruf nicht folgen werde. (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Später hat das Auswärtige Amt erklärt, seine Ausführun- Andere Länder machen es auch!) gen in öffentlicher Sitzung seien scherzhaft gemeint ge- Zu einer bürgernahen Union gehört, dass jeder weiß, wesen. wer für was zuständig ist. Es ist gelungen, eine klare Kompetenzordnung, eine klare Normenhierarchie und (Lachen bei der CDU/CSU) vor allen Dingen klare Kompetenzausübungsregeln auf- Ich muss sagen: Das ist eine interessante Aussage; denn zustellen. Ich denke, das ist ein Stück Arbeit, in das un- eigentlich erwarten wir vom Bundesaußenminister im ser Kollege Peter Altmaier besonders viel Herzblut in- Europaausschuss keine Aussagen, die zunächst ernst ge- vestiert hat. Er hat sich hierüber mit den Kollegen im meint sind und nachher als Scherz qualifiziert werden. Europaausschuss permanent ausgetauscht, wie das auch Es gibt schon einen Unterschied zwischen ernsthaften unserer früherer Kollege Jürgen Meyer stets getan hat. und scherzhaften Äußerungen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein wichti- Herr Bundesaußenminister Fischer, ich finde es auch ger Punkt – ein Einzelpunkt, aber unerlässlich für mehr interessant, dass Sie gestern im Ausschuss kein Wort zu Demokratie – ist das Konzept der qualifizierten Mehr- dem folgenden Punkt gesagt haben: Unter den 57 Anträ- heit, wie es sich nun im Vertrag findet. Nach den kom- gen, die Sie für die Schlussrunde des Konvents gestellt plizierten und – so muss man sagen – fast verkorksten haben – viele Anträge beinhalten Wünsche diverser Res- Regelungen, die in den Vertrag von Nizza Eingang ge- sorts; darüber ist hier bereits gesprochen worden; Herr funden haben, haben wir nun eine klare Regelung: Kollege Roth hat schon einen kleinen Rüffel des Bun- Mehrheit muss jetzt immer Mehrheit der Bürger in Eu- deskanzlers bekommen –, ropa bedeuten. Das wird zu Transparenz und Akzeptanz führen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nein, nein!) Ein weiterer wichtiger Punkt ist, wie man in Europa befindet sich ein Antrag zur beachtlichen Aufblähung in Zukunft die gemeinsame Außenpolitik gestaltet. Ein und zur Ausweitung des europäischen diplomatischen Fortschritt ist ohne Frage die Einführung des Amtes ei- Dienstes. Das bestärkt mich in der Vermutung, dass Sie nes europäischen Außenministers. Das ist ein sicht- doch noch interessiert auf dieses europäische Amt (B) (D) bares Signal dafür, dass Europa in der Außenpolitik in schauen und dass Sie Ihre Tätigkeit im Konvent jetzt Zukunft mit einer Stimme sprechen möchte. Meine dazu nutzen wollen, dieses Amt entsprechend auszuge- Hoffnung ist, dass der künftige Inhaber dieses Amtes stalten. Das ist zwar nicht unzulässig. Aber unsere Bitte, Herr Bundesaußenminister, ist, dass Sie jetzt nicht in Er- (Michael Glos [CDU/CSU]: Nicht Fischer wartung eines neuen Amtes die Hände in den Schoß le- heißt!) gen und eine gewisse demonstrative Lustlosigkeit bei klug ausgewählt wird und er durch seine Person und sein der Vertretung der wahren deutschen Interessen an den Handeln gewährleistet, dass Europa einig handelt und Tag legen, sondern dass Sie die deutschen Anliegen ge- man fair miteinander umgeht, dass sich Europa in einer rade in der Schlussphase der Konventsberatung – da geht engen transatlantischen Partnerschaft mit unseren Freun- es um die letzte Abgrenzung und um eine Kompetenzre- den und Partnern in den Vereinigten Staaten von Ame- gelung; das sind alles Punkte, die Erwin Teufel genannt rika und Kanada versteht hat – als wirklicher Sachwalter deutscher Interessen ver- treten. Das ist meine Aufforderung an Sie. (Michael Glos [CDU/CSU]: Der einen anstän- digen Lebensweg hat!) (Beifall bei der CDU/CSU) und dass die praktizierten Leitideen der europäischen Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass es nicht ge- Außen- und Sicherheitspolitik, die über Jahrzehnte un- lungen ist, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- sere Sicherheit und unseren Erfolg bewahrt haben, eine politik zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Das kluge Fortsetzung finden. – Das wären meine Auswahl- Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip wird die künf- kriterien für dieses Amt. Es mag jeder für sich entschei- tige Gestaltung einer Außenpolitik in Europa mit 25 oder den, welche Kriterien er zur Beurteilung diverser Kandi- gar mehr Staaten erschweren. daten anlegt. Ich will dazu noch einige kurze Bemerkungen machen. (Beifall bei der CDU/CSU – Bundesminister Fischer hat heute Morgen das Solana- [SPD]: War das eine Bewerbung, Herr Kol- Papier angesprochen; es ist ein interessantes und lesens- lege?) wertes Papier. Ich bitte die Bundesregierung, es gründ- lich zu lesen. Gerade dem Bundeskanzler kann ich diese – Der Kollege Gloser hat mich mit dem Zwischenruf Lektüre nur empfehlen. Neben der großen Übereinstim- provoziert, ob das eine Bewerbung sei. mung mit der amerikanischen Außenpolitik, die sich in (Günter Gloser [SPD]: Jetzt bin ich wieder diesem Papier findet, gibt es den wichtigen Hinweis, Schuld! – Heiterkeit bei der SPD) dass die Verteidigungsetats in Europa für diese neuen 4326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Peter Hintze (A) Aufgaben nicht ausgelegt sind. Wenn der Bundesvertei- Wir wollen, dass diese Fragen klug bedacht und rich- (C) digungsminister mitteilt, der Verteidigungsetat werde tig entschieden werden. Wir sind für eine europäische erst im Jahr 2007 erhöht, dann spricht er zum einen von Strategie im Verhältnis zur Türkei. Aber wir können einem Zeitpunkt, zu dem diese Regierung hoffentlich den Automatismus in Richtung einer Vollmitgliedschaft längst abgewählt ist, heute und jetzt nicht billigen. Da hat der Europäische Rat aus meiner Sicht einen schweren Fehler gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) und zum anderen ist dieser Zeitpunkt deutlich zu spät für eine Erhöhung des Verteidigungsetats. Wir werden auch darüber sprechen müssen, wie wir uns im Hinblick auf die vielen Staaten des Westbal- Lassen Sie mich noch ein Schlusswort zur Erweite- kans verhalten werden. Natürlich muss es auch hierfür rung sagen. Wir begrüßen von ganzem Herzen die eine europäische Strategie geben. Aber mir stellt sich Erweiterung der Europäischen Union um die neuen schon die Frage, ob für all diese Staaten – mit Ausnahme Mitglieder. Es ist ein politischer, wirtschaftlicher und ein von Kroatien – eine Vollmitgliedschaft das letzte Wort kultureller Gewinn. Wir werden das im Deutschen Bun- sein muss oder ob nicht eine spezielle Partnerschaft rich- destag durch unsere Zustimmung zur Erweiterung zum tiger ist. Darüber muss man in Ruhe sprechen. Ausdruck bringen. Wir fordern die Regierung auf, dem Deutschen Bun- ( [Wiesloch] [SPD]: Auch destag die Möglichkeit einzuräumen, darüber politisch die CSU?) zu sprechen und zu entscheiden. Man sollte uns nicht durch Vorfestlegungen quasi in einen moralischen Zug- Ganz getrennt davon ist die Frage zu betrachten, nach zwang bringen, aus dem wir nicht mehr herauskommen. welcher Vorschrift des Grundgesetzes wir diesem Bei- Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Sie un- tritt zustimmen sollen. Ich persönlich bin der Auffas- sere Unterstützung. Wenn Sie dagegen verstoßen, wer- sung, dass die Zustimmung mit verfassungsändernder den wir das hier im Deutschen Bundestag kristallklar be- Zweidrittelmehrheit erfolgen sollte, damit der besonde- nennen. ren Qualität dieser Erweiterung Rechnung getragen Herzlichen Dank. wird. Diese Erweiterung führt nämlich zu einer Vergrö- ßerung der Europäischen Union und auch zu einer (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt grundlegenden Gewichtsverlagerung in den Institutio- [Salzgitter] [SPD]: Damit ist klar, dass Ihre nen, die sich unmittelbar auf das relative Stimmenge- Begründung keine juristische, sondern eine wicht Deutschlands auswirken. Das bedeutet nach mei- politische ist!) (B) ner Auffassung eine materielle Verfassungsänderung, die (D) erst mit diesem Zustimmungsgesetz rechtlich gültig wird Präsident Wolfgang Thierse: und die nicht bereits mit der Ratifizierung des Vertrages von Nizza in Kraft trat. Ich erteile dem Kollegen Michael Roth, SPD-Frak- tion, das Wort. Aus diesem Grund möchte ich zu bedenken geben, ob (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir nicht aus rechtlichen und demokratietheoretischen Gründen gut beraten wären, die Zustimmung auf Grund- lage des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Michael Roth (Heringen) (SPD): Abs. 2 des Grundgesetzes zu erklären und die Eingangs- Lieber Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! formel des Gesetzes entsprechend zu ändern. Meine Damen! Meine Herren! Lieber Herr Ministerprä- sident, gelegentlich sagt man ja, der Teufel stecke im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Detail. So war das möglicherweise auch beim Lesen des Presseartikels. Ich könnte eine ganze Menge dazu sagen. Wenn wir über die Erweiterung sprechen, dann müs- Glücklicherweise bin ich mit meiner Kritik im Einklang sen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass die Euro- mit Rainder Steenblock und Anna Lührmann; da fühlt päische Union nicht grenzenlos erweitert werden kann. man sich schon viel wohler. Wir müssen diese wichtige Erweiterung durchführen und uns Zeit geben, über einige Jahre hinweg zu evaluie- Einmal ganz unabhängig davon: Es wurde ja der Got- ren, wie sie sich ausgewirkt hat. Vorfestlegungen dürfen tesbezug angesprochen. Herr Außenminister, ich hoffe, nicht bereits heute erfolgen. Sie stimmen mit mir darin überein, dass die Kritik an ei- nem Mitglied der Regierung keine Gotteslästerung dar- Deswegen, Herr Bundesaußenminister, haben wir et- stellt. was Sorge über den Entscheid des Europäischen Rates, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Union die Türkei, obwohl mit ihr noch keine Beitritts- Vor diesem Hintergrund sehen Sie es mir also bitte nach, verhandlungen geführt werden, voll – wenn auch nicht dass ich gelegentlich – und hoffentlich auch zukünftig – mit Stimme – an der Regierungskonferenz beteiligt wird. das eine oder andere sage, was vielleicht dem einen oder Wir haben Sie im Verdacht, einen Automatismus einzu- anderen in der Regierung nicht schmeckt. leiten, sodass Sie hinterher sagen: Daran konnten wir jetzt nichts mehr ändern; die Dinge haben sich eben so (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wilhelm entwickelt. Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unabhängigkeit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4327

Michael Roth (Heringen) (A) des Parlaments, Herr Außenminister! – Volker Bürger, die mit Europa und mit der Union gelegentlich (C) Kauder [CDU/CSU]: Oh! – Weiterer Zuruf nur den Binnenmarkt und irgendwelche Richtlinien bzw. von der CDU/CSU: Karriereende!) Wettbewerbsregelungen verbinden. – Es mag für Sie, vor allem für die CSU-Mitglieder, un- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gewöhnlich sein, dass man ein Regierungsmitglied gele- Nur wer bereit ist, diesem ambitionierten Wertefunda- gentlich kritisiert. Aber das gehört, so glaube ich, zum ment gerecht zu werden, und wer bereit und in der Lage parlamentarischen Selbstbewusstsein, ist, dies in den nächsten Jahren und Jahrzehnten umzu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des setzen, der kann Mitglied der Europäischen Union wer- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den. zumal dieses Projekt, über das wir uns heute freuen kön- Wir können nicht häufig genug – gerade auch in dieser nen, maßgeblich durch Parlamentarierinnen und Parla- Debatte – die parlamentarische Methode des Konven- mentarier zustande gekommen ist, tes loben. Diesem Lob, das viele auf allen Seiten schon zum Ausdruck gebracht haben, möchte ich mich aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des drücklich anschließen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Ich beziehe da vor allem Jürgen Meyer ein, mit dem wir hervorragend zusammengearbeitet haben, der immer die dafür gekämpft und gestritten haben sowie Überzeu- im Europaausschuss war, der immer berichtet hat, der gungsarbeit – gelegentlich auch bei Vertretern der Regie- uns stellvertretend für den Deutschen Bundestag in die- rung – leisten mussten. ses große Projekt eingebunden hat. Wir auf unserer Seite freuen uns heute natürlich ganz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ besonders. Denn die europäische Verfassung war und ist DIE GRÜNEN) ein sozialdemokratisches Projekt, Das Lob geht natürlich auch an dich, Peter Altmaier, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen der du regelmäßig im Ausschuss oder informell für die bei der CDU/CSU und der FDP – Volker eine oder andere zu klärende Frage zur Verfügung ge- Kauder [CDU/CSU]: Setzen, sechs!) standen hast. für das viele große Sozialdemokratinnen und Sozialde- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mokraten engagiert gestritten haben. Wenn man sich den DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Verfassungsentwurf anschaut, dann wird man vieles le- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) (B) sen, was zum sozialdemokratischen Selbstverständ- (D) nis gehört. In diesem Verfassungsentwurf wird ein Be- Lob zollen will ich aber auch Außenminister Fischer, kenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, zur nachhaltigen dem Staatsminister für Europa Bury und Klaus Hänsch, Entwicklung, zum sozialen Fortschritt abgegeben. Da der im Präsidium eine großartige Arbeit geleistet hat. machen sich Sozialdemokraten stark für die Bekämp- Ich nehme auch voller Respekt zur Kenntnis, was fung der sozialen Ausgrenzung, für die Gleichstellung Elmar Brok geleistet hat. Elmar Brok hat dem Konvents- sowie für die Solidarität zwischen den Generationen. präsidenten Valéry Giscard d’Estaing öfter einmal den Deswegen sind wir sehr stolz auf dieses Verfassungspro- Marsch geblasen. Ich fand toll und eindrucksvoll, wie er jekt. Es ist maßgeblich durch nationale Parlamentarier das gemacht hat. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, er und Europaparlamentarier zustande gekommen, natür- hat das sicherlich auch in unserem Interesse getan. lich auch durch Regierungsvertreter, aus immerhin Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben vor allem 28 europäischen Staaten. Sie haben im Konvent mehr er- gegen Ihren bayerischen Kollegen gekämpft. Das reicht als in den vergangenen Regierungskonferenzen. kommt ja nicht so häufig vor – auch dafür unseren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Respekt und unsere Dankbarkeit! (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Mit dieser Verfassung wird Europa – das ist nun GRÜNEN und der FDP) schon mehrfach gesagt worden – endlich handlungsfähi- ger, demokratischer und bürgernäher. In Europa wird Wir sollten mit dem Selbstbewusstsein noch nicht künftig besser erkennbar, wer die Verantwortung für zum Abschluss kommen. Denn ich glaube, dass der welche Entscheidung trägt. Was mir besonders wichtig Konvent als mehrheitlich parlamentarisch besetztes Or- ist – unser geschätzter ehemaliger Kollege Jürgen Meyer gan nicht nur zu mehr Demokratie und Transparenz ge- hat dafür ja sehr engagiert gestritten –: Mit der Grund- führt hat, sondern auch zu besseren Ergebnissen. Gerade rechtecharta verfügt die europäische Politik über ein ei- in der entscheidenden Endphase haben die Parlamenta- genes, solides Wertefundament. rier wesentlich dazu beigetragen, dass tragfähige Kom- promisse erzielt wurden. Mit ihren anspruchsvollen Zielen und Werten klärt die europäische Verfassung zugleich, wo die Grenzen der Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo Licht ist, da ist Europäischen Union liegen. Dieses ambitionierte Projekt natürlich auch Schatten. Wir hatten gestern im Europa- macht deutlich: Europa teilt Werte. Europa ist nicht nur ausschuss schon einmal Gelegenheit, im Gespräch mit ein Europa der Handelsströme, des Marktes und der dem Außenminister, mit Jürgen Meyer und Peter Ökonomie. Das freut sicherlich viele Bürgerinnen und Altmaier darüber zu diskutieren, wo der Schatten liegt. 4328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Michael Roth (Heringen) (A) Da möchte ich Herrn Kollegen Müller direkt anspre- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (C) chen, der mir vorwarf, ich sei dafür, überhaupt nicht Kastner) mehr zu diskutieren. Selbstverständlich wird jeder hier Wir bringen Europa im Sinne der Bürgerinnen und Bür- im Plenarsaal mindestens einen Punkt finden, wo er mit ger nur voran, wenn wir den Mut aufbringen, auch in dem Verfassungsentwurf nicht zufrieden ist. Die Frage vielen zentralen Politikfeldern auf das Einstimmigkeits- aber ist doch: Wie gehen wir mit unserer Kritik um? Da prinzip zu verzichten; denn ohne ein handlungsfähiges wünschte ich mir vor allem auch von der CSU ein Stück- Europa können wir die Globalisierung mit ihren Risiken chen mehr Verantwortungsethik. Denn wir alle wissen und Chancen nicht demokratisch gestalten. Das muss doch: Wenn wir diesen Sack noch einmal aufschnüren, uns allen klar sein. Deswegen treten wir für den Grund- dann wird das Ergebnis schlechter werden als das, was satz ein – das haben wir in allen diesbezüglichen Bun- wir vielleicht in einzelnen Teilen bekritteln. Ich stelle Ih- destagsbeschlüssen manifestiert –, dass Mehrheitsent- nen, Herr Kollege Müller, die Frage: Was machen Sie, scheidungen die Regel sein müssen. wenn Ihre Kritikpunkte nicht umgesetzt werden? Ich weiß, die CSU hat Erfahrung in der Ablehnung von Ver- (Beifall bei der SPD) fassungen. Sie haben ja auch das Grundgesetz abgelehnt. Aber das sollte nicht die Grundlage für das europäische Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Verfassungsprojekt sein. Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramsauer? Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Michael Roth (Heringen) (SPD): Kollegen Müller? Selbstverständlich, Frau Präsidentin. Michael Roth (Heringen) (SPD): Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Selbstverständlich. Herr Kollege Roth, nachdem Sie der Frage des Kolle- gen Dr. Müller ausgewichen sind, weil diese Frage Ihnen Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): und den Regierungsfraktionen – das vermute ich – unan- Herr Kollege Roth, können Sie bestätigen, dass zu genehm ist, möchte ich sie noch einmal stellen und prä- dieser Debatte keinem Mitglied des Deutschen Bundes- zisieren: Liegt dieses Dokument vor oder nicht? Meines tages der vollständige Vertragsentwurf vorliegt? Wir de- Wissens liegt es nicht vor. Außerdem möchte ich wissen, battieren auf der Basis von Zeitungsberichten. wie Sie das Fehlen des Dokuments bewerten. (B) (D) Michael Roth (Heringen) (SPD): Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Kollege Müller, Sie haben doch, ebenso wie Herr Kollege Ramsauer viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der CSU, be- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Jetzt nicht reits bevor das Ergebnis zum Abschluss gebracht wurde, ausweichen!) deutlich gemacht, dass Sie keine Verfassung wollen, dass Sie das ganze Projekt ablehnen, dass Sie hier und – ich weiche überhaupt nicht aus –, was wollen Sie denn dort etwas zu bekritteln haben. nun von mir? (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Beantwor- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ich habe Ih- ten Sie die Frage! Weichen Sie nicht aus!) nen eine Frage gestellt!) Sie müssen in Ihren eigenen Reihen klären, wohin die Eben haben Sie moniert, ich kritisiere die Regierung und Reise Ihrer Meinung nach gehen soll. Wollen Sie das den Außenminister, weil die Regierung mit Unterstüt- Verfassungsprojekt konstruktiv begleiten oder wollen zung der Ressorts 57 Änderungsanträge vorgelegt hat, Sie dem Verfassungsprojekt Steine in den Weg legen? und jetzt fragen Sie mich, ob das Projekt abgeschlossen Das ist die Frage. sei. Die Verfassung liegt vor. Wir ringen noch gemein- sam darum, was im dritten Teil stehen soll. Herr Kollege Müller, ich dachte bisher, dass wir in diesem Hause alle der Meinung sind, dass es um eine (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie sollen konstruktive, kritische Begleitung dieses Verfassungs- meine Frage beantworten und nicht mit rheto- projektes geht. rischen Tricks ausweichen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Herr Ramsauer, Sie waren doch gar nicht dabei. Ich DIE GRÜNEN) frage mich, warum Sie diese Frage stellen. Ich wende mich an den Kollegen Müller. Wir haben heute schon viel über Handlungsfähigkeit gesprochen. Die Handlungsfähigkeit ist der entschei- Die Frage, die wir hier zu klären haben, ist: Begleiten dende Lackmustest für Europa. Deswegen müssen wir wir den Verfassungsprozess konstruktiv oder fangen wir das Prinzip der nationalen Vetos überwinden. Wer schon frühzeitig an herumzukritteln, sodass sich eine glaubt, dass wir dem nationalen Interesse dienen, indem Ablehnung abzeichnet? Das müssen Sie innerhalb der wir in allen Fragen auf dem Einstimmigkeitsprinzip be- Union klären. Das können wir Sozialdemokratinnen und harren, der irrt. Sozialdemokraten nun wirklich nicht für Sie klären. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4329

Michael Roth (Heringen) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ uns steht und die wir erledigen müssen. Ich hoffe, dass (C) DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ wir die Debatte um die europäische Verfassung auch hier CSU]: Thema verfehlt! Die SPD soll den Red- im Parlament dazu nutzen können, dort Fortschritte zu ner zurückziehen!) erzielen, wo wir möglicherweise feststellen, dass wir noch nicht weit genug sind. Das sollte unsere gemein- Lassen Sie mich zur Handlungsfähigkeit zurückkom- same Anstrengung sein. men. Die Staaten, die gemeinsam handeln und gestalten wollen, werden Wege aus der Vetofalle suchen und fin- Viel ist schon über das EU-Referendum gesprochen den. Eine Avantgarde integrationswilliger Staaten worden. Ich meine, dass auf Seiten dieser Koalition nie- – innerhalb der Union hat es vor vielen Jahren Kollegen mand überzeugt werden muss, wenn es um mehr direkte gegeben, die ein entsprechendes Modell skizziert haben – Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger geht. Das for- wäre die einzige Alternative zu einem Europa des Still- dern wir seit 1998. standes. Wir wollen das nicht. Weil wir das nicht wollen, müssen wir für die Abschaffung des Einstimmigkeits- (Markus Löning [FDP]: Dann stimmen Sie prinzips in der Europäischen Union streiten und kämp- doch unserem Antrag zu!) fen. Die eine oder andere Überzeugungsarbeit müssen Aber, Herr Kollege Löning und Frau Leutheusser- wir in diesem Zusammenhang noch leisten. Schnarrenberger, es kann doch nicht darum gehen, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wir diese Frage hier isoliert betrachten, wenn es um das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) europäische Referendum geht. Mit dem Verfassungsentwurf allein ist der Reformbe- (Markus Löning [FDP]: Das wäre doch mal darf in der europäischen Politik aber noch längst nicht ein erster Schritt!) gestillt. Den Reformbedarf gibt es vor allem bei den na- Wer den Bürgerinnen und Bürgern in europapolitischen tionalen Parlamenten, die die Rolle der Mitgestalter von Fragen mehr zutraut und ihnen mehr Entscheidungsmög- Politik innehaben. lichkeiten gestatten will – da sind wir auf einer Linie –, Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Stärkung der der muss es doch auch auf nationaler Ebene tun. Der parlamentarischen Dimension zur Leitlinie bei der inner- muss bereit sein – das ist unser Angebot an die CDU/ staatlichen Umsetzung des Konventergebnisses machen. CSU –, auch auf der nationalen Ebene im Grundgesetz Wir müssen unsere europapolitische Aufgabe im Plenum die Instrumente für mehr direkte Demokratie zu schaf- des Deutschen Bundestages noch intensiver als bislang fen. wahrnehmen. Wir müssen die uns zur Verfügung stehen- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: den Instrumente und Mechanismen konstruktiv, aber (B) Wer zu viel will, erreicht gar nichts! Das ist (D) auch entschlossen und selbstbewusst nutzen. Nur so der Punkt!) können wir unsere Rolle als Partner und Mitgestalter der europäischen Politik wirklich ausfüllen. In dieser Frage, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sind wir doch überhaupt nicht auseinander und dafür müssen Wer den Konvent und die parlamentarische Methode wir kämpfen. Da können Sie Überzeugungsarbeit leis- lobt, muss auch national die entsprechenden Konsequen- ten, wir werden das an entsprechender Stelle auch tun. zen ziehen. Ich schlage daher vor, dass wir unsere bishe- rige Arbeit kritisch hinterfragen, Konsequenzen aus der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten europäischen Verfassung ziehen und Reformvorschläge des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – unterbreiten. Es muss darum gehen, die parlamentari- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: sche Mitgestaltung des Deutschen Bundestages in der Das wird mit unserem Antrag am leichtesten europäischen Politik innerstaatlich zu stärken. Auch hier gelingen!) gilt es, mehr Demokratie zu wagen. Jürgen Meyer ist dafür schon gelobt worden. Wer hat Es gibt viele Fragen, die wir beantworten müssen: denn für ein Bürgerbegehren in der europäischen Verfas- Wie behandeln wir die europapolitischen Themen hier sung gestritten? – Das waren doch Sozialdemokratinnen im Plenum? Sitzen hier nur die üblichen Verdächtigen und Sozialdemokraten und niemand sonst. Mehr Bürger- oder betrifft das Thema auch die anderen Fachbereiche, beteiligung gibt es entweder ganz oder gar nicht, das ist die Arbeitsgruppen und die Ausschüsse? Wie effektiv unsere Position. Deswegen würden wir uns freuen, wenn nutzt der Europaausschuss seine Kontroll- und Mitwir- sich alle Fraktionen an einem sorgfältig geschnürten Ge- kungsrechte? Wie sollen wir künftig mit dem in der samtpaket beteiligten. europäischen Verfassung verankerten Klagerecht eigent- Der Konvent – damit komme ich zum Fazit – hat gute lich umgehen? Wir müssten zu gegebener Zeit auch ein- Arbeit geleistet und wir alle haben diesem Konvent zu mal mit dem Bundesrat besprechen, wie wir dieses Mit- danken. Diese Verfassung gibt Antworten auf drängende tel konstruktiv zu nutzen bereit und in der Lage sind. Fragen vieler Menschen. Wie können wir die Risiken Es kann natürlich nicht darum gehen, dass sich der und die Chancen der Globalisierung demokratisch und Bundestag zu einem Blockadeinstrument europäischer sozial gestalten? Und vor allem: Wie sichern wir Frieden Politik entwickelt; das wünschen sich wohl nur manche und Wohlstand gerechter und nachhaltig? Die europäi- Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der CSU. sche Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ver- Aber wir müssen Regierungshandeln konstruktiv und mag aber nur dann zu einem Projekt der Bürgerinnen aktiv mitgestalten. Das ist eine große Aufgabe, die vor und Bürger zu werden, wenn wir Parlamentarier hier im 4330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Michael Roth (Heringen) (A) Bundestag Europa endlich als unsere gemeinsame Auf- tikern will allen Frust abladen, den sie schon immer über (C) gabe begreifen. Europa hatten. Darauf muss man nicht großartig einge- hen. Vielen Dank. Die zweite Gruppe bezieht ihre Kritik darauf, ob der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Text im Grundsatz und in Details Gefahren birgt. Als DIE GRÜNEN) Beispiel ist zu nennen, ob die Tür zur weiteren Bürokra- tisierung und Zentralisierung geöffnet wird. Ich denke, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das ist nicht der Fall. Ministerpräsident Teufel hat über- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, zeugend dargestellt, wie durch die Kompetenzordnung, FDP-Fraktion. aber auch durch die Subsidiaritätsregelung tatsächlich eine gute Barriere geschaffen worden ist, um Schlimmes Dr. Werner Hoyer (FDP): zu verhindern. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im Die Sozialdemokraten als Paten des Verfassungsgedan- Deutschen Bundestag, sind sich noch nicht darüber im kens? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir unseren Klaren, was auf Sie zukommt. Freund Guy Verhofstadt, den liberalen belgischen Minis- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) terpräsidenten, erfolgreich bedrängt, einen Verfassungs- konvent in Laeken einzuberufen, als Sie noch das Ergeb- Das bedeutet richtig viel Arbeit. Frau Präsidentin, das nis von Nizza schöngeredet haben. Das ist für mich eine Präsidium des Bundestages muss sich einmal damit be- bemerkenswerte Bewertung. fassen, wie diese geleistet werden soll. Mit der klassi- schen Methode des Europaausschusses, der sich einmal (Beifall bei der FDP) in der Woche von der Bundesregierung informieren lässt Was die Frage des Referendums angeht, Herr Kollege und ein paar Dinge durchwinkt, wird es in Zukunft nicht Roth: Ich bin schon der Auffassung, dass man nicht sa- getan sein. Das wird für den Deutschen Bundestag eine gen kann, wir hätten hier eine europapolitische Entschei- ganz andere Qualität der Arbeit in der Europapolitik be- dung wie jede andere zu treffen. Es geht vielmehr um deuten. eine fundamentale Entscheidung, die auf Jahrzehnte, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn nicht länger, die Zukunft unseres Kontinents und der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- auch unseres Landes bestimmen wird. Ich halte es für ei- SES 90/DIE GRÜNEN) nen richtigen Gedanken, bei einer solchen Entscheidung (B) die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung, des Die dritte Kritik betrifft den Punkt – auch ich habe (D) Volkes, einzuholen, mich das gefragt –, ob dieser Text weit genug geht. Diese Kritik nehme ich am wichtigsten, weil sie mir na- (Beifall bei der FDP) türlich auch am sympathischsten ist. Ich hätte natürlich ohne dass man grundsätzlich darüber entscheidet, wie weiter gehende Ambitionen gehabt und hätte mir ge- man sonst mit Bürgerbeteiligung umgeht. wünscht, man hätte Europa vollständig föderal durchde- kliniert. Ich hätte mir natürlich eine geradezu architekto- Meine Damen und Herren, es liegt ein vorläufiges Er- nische Ästhetik und bestechende Schlichtheit wie die der gebnis vor; das ist vollkommen richtig. Wir müssen auch Entwürfe von Philadelphia oder Herrenchiemsee ge- weiterhin aufpassen, denn es sind noch wesentliche Ar- wünscht. beiten zu leisten, gerade im dritten Teil. Ich denke nur an das Thema Sozialunion. Wir müssen bis zuletzt darauf Das ist aber nicht zu erwarten gewesen, auch vor dem achten, dass die Sozialunion nicht durch die Hintertür historischen Hintergrund; denn es haben nicht nur die doch in dem Vertrag festgeschrieben wird. Diese könn- Jeffersons, Washingtons oder die Carlo Schmids und die ten wir uns nicht leisten und die Bürgerinnen und Bürger Adenauers gefehlt, sondern wir sind in einer ganz ande- würden sie auch nicht mittragen. Zum Beispiel vor dem ren Situation. Das ist keine Verfassung, die nach einer Hintergrund, dass Rot-Grün gerade angekündigt hat, die historischen Katastrophe, nach einem furchtbaren Krieg Rentenerhöhung nicht stattfinden zu lassen, können wir oder nach einer Revolution entsteht, sondern eine Ver- keinen großen Sozialtopf in Brüssel aufmachen. Das fassung, die auf dem aufbaut, was ist und was die Natio- wäre nicht gut. nen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen be- wahren wollen. Das ist das Europa der Einheit in Vielfalt (Beifall bei der FDP – Günter Gloser [SPD]: und nicht der Zwietracht in Einfalt. Das haben Sie missverstanden!) Es ist doch die Erkenntnis des letzten Jahrhunderts Eine Zwischenbewertung: Das, was hier vorgelegt wird, ist beachtlich und weit mehr, als ich bis vor kur- (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] zem erwartet habe. Denn gerade in der letzten Zeit sind [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) erhebliche Verbesserungen durchgesetzt worden. Das begrüße ich außerordentlich. – Herr Minister, diese Bemerkung war nicht besonders pfiffig –, dass ein Verfassungsentwurf, der versucht, die Es kommt natürlich aus allen Richtungen auch Kritik, Vereinheitlichung, den Schmelztiegel, den melting pot, die durchaus nachvollziehbar ist. Diese Kritik kann man herbeizuführen, der keine Rücksicht auf die gestandenen in drei Strömungen einteilen: Die erste Gruppe von Kri- Traditionen und Kulturen nimmt, der nicht erkennen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4331

Dr. Werner Hoyer (A) lässt, dass Europa seine Stärke in dieser Verschiedenheit, Wir brauchen einen wirklichen diplomatischen Dienst, (C) in dieser Diversität hat zum Scheitern verurteilt ist. Un- der zum Beispiel auch die Konsequenzen aus dem In- ter diesem Gesichtspunkt ist das, was hier vorliegt, ein nen- und Rechtskapitel zieht, der Rechts- und Konsular- großer Entwurf. angelegenheiten bewältigt und der für klassische Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik der Diplomatie zu- Deswegen ist es auch völlig irrelevant, darüber zu ständig ist. streiten, wo wir in der Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat stehen. Es ist etwas ganz Einzigartiges, (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei was wir hier entstehen lassen. Das ist eine Herausforde- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE rung, die Europa noch nie hat bewältigen müssen. Es GRÜNEN) geht um die Organisation der Selbstbehauptung der Herr Müller, natürlich muss das so geschehen, dass Europäer im globalen Wettbewerb. man Synergien schafft und vom nationalen Bereich (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Dinge auf die europäische Ebene überträgt und zusam- DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) menführt. Wirtschaftlich haben wir das schon lange begriffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit den Römischen Verträgen haben ihre mutigen Väter Vertun wir uns aber nicht: Die Betonmischer sind schon und Mütter etwas Erstaunliches, etwas Einzigartiges zu- überall am Werke, sowohl in der Kommission als auch stande gebracht. Jetzt kommt die Dimension des Rechts in den nationalen Regierungen. und der inneren Sicherheit hinzu. Aber wenn wir die Außenpolitik als äußere Sicherheit im weitesten Sinne Meine Damen und Herren, die Europäer leisten sich verstanden nicht dazu bringen, dann wird das Gesamt- einen insgesamt doppelt so großen Auswärtigen Dienst projekt scheitern. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch wie die Amerikaner. in dem Bereich der äußeren Sicherheit im weitesten Sinne, in der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidi- (Beifall bei der SPD) gungspolitik, vorankommen, auch bei den Methoden Bei uns sind es 40 000 Personen, bei den Amerikanern und den Institutionen. Das ist der Punkt, an dem ich sind es 20 000. zwar all denjenigen voll zustimme, die sagen, das Ganze jetzt nicht aufzudröseln – das wird hinterher eine Ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schlimmbesserung geben und nichts Besseres –, Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. (Beifall des Abg. Michael Roth [Heringen] (B) [SPD]) Dr. Werner Hoyer (FDP): (D) aber wenn es gelingen sollte – ich bitte die Bundesregie- Meine Redezeit ist zu Ende. Deswegen werde ich dies rung, sich nach Kräften darum zu bemühen –, in den nicht weiter ausführen. Entscheidungsverfahren in der Außen- und Sicherheits- politik einen großen Fehler zu vermeiden, dann sollte al- Wenn es uns nicht gelingt, diese Synergien zwischen les daran gesetzt werden. der nationalen und der europäischen Ebene zustande zu bringen, dann wird ein ganz wesentliches Element, näm- (Beifall bei der FDP) lich die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Nach den Erfahrungen mit der Schlussakte von Hel- Union, ein Torso bleiben. sinki und den damaligen Blockademöglichkeiten, die Danke. dem einzelnen Land eingeräumt waren, kann es nicht sein, dass Europa in diese Falle hineintappt. Wir brau- (Beifall bei der FDP und der SPD) chen zumindest so etwas wie n minus 1 oder eine super- qualifizierte Mehrheit in der Außenpolitik. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Abschließend noch eine Anmerkung zum europäi- Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, schen diplomatischen Dienst. Hier verstehe ich die Auf- Bündnis 90/Die Grünen. regung überhaupt nicht. Wenn Europa als globaler Ak- teur ernst genommen werden will, dann braucht es einen Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wirklichen Auswärtigen Dienst. NEN): (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herren! Noch vor wenigen Wochen haben hier in diesem Hause eine ganze Reihe von Kollegen das Ende der Ge- Dabei kann es sich nicht einfach um die Übertragung der meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorausge- Delegationsprinzipien der Kommission handeln. sagt. Der Gipfel von Thessaloniki hat all diesen Zweif- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Aber nicht zusätz- lern und Schwarzmalern einen Strich durch die lich! Das müssen wir national abbauen!) Rechnung gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass heute von der Opposition – auch von Ihnen, Herr Hoyer und Die Delegationsbüros der Kommission sind keine diplo- Herr Hintze – deutlich gesagt worden wäre, dass sich die matischen Vertretungen, sondern sie sind in den meisten Befürchtungen, die Sie hier geäußert haben, nicht be- Fällen Handelsmissionen oder Entwicklungsagenturen. wahrheitet haben. 4332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Rainder Steenblock (A) Gerade die deutsche Bundesregierung hat es mit ihren militärische Instrumente. Dieses Konzept einer umfas- (C) Initiativen und ihrer Strategie, aber auch mit ihren Inhal- senden – das sage ich sehr deutlich – und mit dem ten geschafft, nach wenigen Wochen dieser Differenzen Schwerpunkt auf Vorbeugung orientierten Sicherheits- eine gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie auf politik, die als letzten Aspekt militärische Maßnahmen den Weg zu bringen und abgestimmt vorzulegen. Das ist enthält, war für die rot-grüne Koalition immer hand- ein ganz großer Erfolg, der auch von Ihnen hätte gewür- lungsleitend. Ich bin froh, dass diese Grundlagen einer digt werden müssen. vorbeugenden Friedenspolitik für die europäische Si- cherheitsstrategie identitätsstiftend geworden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dieses umfassende Verständnis von Sicherheit basiert auf den Prinzipien der Multilateralität. Wir müssen diese Noch vor wenigen Jahren erschien uns allen eine eu- über den europäischen Kernraum hinausgehende Strate- ropäische Sicherheitsstrategie doch als eine ferne Vision. gie weiterentwickeln. Das gilt auch für unsere Nachbarn, Jetzt haben sich die Regierungen Europas darangemacht, zu denen wir ein gutes Verhältnis entwickeln wollen und dass diese Vision eine europäische Realität wird. Ich müssen und die Teil dieser Sicherheitsstrategie sind. möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Natürlich hat der Hohe Repräsentant der EU, Solana, einen ganz wichti- Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Türkei gen Anteil daran gehabt, aber auch die deutsche Bundes- sagen. Als unser östlicher Nachbar im Mittelmeerraum regierung und unser Außenminister haben einen ganz ist sie Teil dieser Strategie. Der Kollege Hintze hat heute wichtigen Baustein dazu beigetragen, diese Strategie zu wieder einmal an diesem Verhältnis gezündelt und seine unterstützen. Dafür möchte ich mich im Namen meiner populistische Argumentation mit der Frage des Beitritts Fraktion sehr herzlich bedanken. der Türkei zur Europäischen Union verbunden. Dies halte ich für ausgesprochen gefährlich und gegenüber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Entwicklungen, die in der Türkei zurzeit ablaufen, sowie bei Abgeordneten der SPD) für kontraproduktiv. Wenn wir ein Interesse daran haben, Ich glaube, dass wir von dem, was in den letzten Wo- diese Region zu stabilisieren und Menschenrechte chen und Monaten in Europa in der Außenpolitik ge- durchzusetzen, wenn das, was wir als Kopenhagener schehen ist, nichts beschönigen dürfen. Diese sehr Kriterium bezeichnen, Eingang in die Politik der Türkei schwierige außenpolitische Situation hat den Bürgerin- und die gemeinsame Politik der Europäischen Union fin- nen und Bürgern Europa und unsere Regierungen eher den soll, dann verbietet sich hier jede populistische und als zerstritten dargestellt. Wir müssen aber auch erken- innenpolitisch motivierte Agitation insbesondere aus nen, dass sich die Kraft der europäischen Gedanken Richtung der CDU/CSU. durchgesetzt hat. Wir haben gesehen, was auf den Stra- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) ßen und Plätzen dieses Europas los war. Die Menschen sowie bei Abgeordneten der SPD) in diesem Europa wollen eine gemeinsame Sicherheits- politik und eine Identität Europas in dieser Frage. Wenn Wir haben ein Interesse an Sicherheit. Diese darf nicht wir gesehen haben, wie schnell es die Regierungen jetzt billigen populistischen Sprüchen geopfert werden, auch geschafft haben, dem Weg zur europäischen Identität wenn in Bayern Wahlkampf herrscht. Das geht so nicht. und dem Wunsch der Menschen Europas, zu einer ge- Das Dach dieser Sicherheitspolitik – auch das hat meinsamen Sicherheitsstrategie zu kommen, zu folgen Solana sehr deutlich gemacht – ist die Stärkung interna- und ihn zu realisieren, dann wissen wir, dass das den Eu- tionaler Organisationen. Der Handlungsrahmen ist die ropäern wirklich Vertrauen für die Zukunft gibt, dass Charta der Vereinten Nationen und deren Unterstüt- diese Kraft der europäischen Gedanken auch in Politik zung. Auch wenn wir militärische Gewalt als letztes umgesetzt werden kann. Mittel nicht ausschließen, so sagen wir doch sehr deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich – darin sind wir uns mit allen europäischen Regie- und bei der SPD) rungen, die sich in diesem Bereich zusammengefunden haben, einig –: Diese Möglichkeit bleibt an Kap. VII der In Thessaloniki hat Europa gerade in diesem Bereich Charta der Vereinten Nationen gebunden. Ich bin zutiefst zu seinen Grundlagen zurückgefunden. Europa war und davon überzeugt: Nur ein effektiver Multilateralismus ist ein Friedensprojekt. Friedens- und Sicherheitspoli- bewahrt auf diesem Planeten langfristig Frieden und Si- tik bedeutet für uns sehr viel mehr, als Europa nur vor cherheit. Kriegen zu bewahren. Die europäische Sicherheitsstrate- gie, wie sie in Thessaloniki vorgestellt wurde, geht von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einem modernen und umfassenden Verständnis von Frie- sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] dens- und Sicherheitspolitik aus. Frieden und Sicherheit [SPD]) bewahren heißt natürlich auch, dass wir uns den neuen Diese Strategie stattet uns aber auch mit etwas ande- Risiken und Bedrohungen mit neuen Methoden zu stel- rem Notwendigen aus: Wir alle haben betont, dass ein len haben. Dafür ist kein europäischer Nationalstaat ge- gutes transatlantisches Verhältnis im Interesse der Euro- wappnet. Das kann die Europäische Union nur als ge- päischen Union liegt. Durch die Vorlage dieses Strate- meinsam handelnder politischer Akteur realisieren. giepapiers von Solana hat die Europäische Union eine Die Strategie, die Solana in Thessaloniki vorgelegt vernünftige Grundlage erhalten, um mit unseren Freun- hat, enthält die notwendige Mischung aus Instrumenten. dinnen und Freunden in Amerika eine gemeinsame Si- Sie enthält politische, ökonomische und natürlich auch cherheitsstrategie zu entwickeln, bei der wir als Euro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4333

Rainder Steenblock (A) päer auf der Grundlage unserer Interessen und Flüchtlingsrichtlinie unter griechischem Vorsitz zu ver- (C) Vorstellungen zusammen mit den Amerikanern ein Si- abschieden. Das wäre an dieser Stelle ein gutes Signal cherheitskonzept entwickeln. Diese Einigkeit der euro- gewesen. Leider sind wir durch die innenpolitische Situ- päischen Staaten ist eine wichtige Voraussetzung, um ation blockiert. hier voranzukommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op- Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich position, Sie müssen sich Folgendes überlegen: Die Situ- möchte auch Folgendes sagen – denn das ist ebenfalls ation, die wir im Bereich unserer Asyl-, Einwanderungs- Bestandteil der Außen- und Sicherheitspolitik der Euro- und Flüchtlingspolitik haben, dass wir nämlich auf euro- päischen Union –: Wir müssen aktiver werden. Wir müs- päischer Ebene an dieser Stelle von vielen als Bremser sen als Europäer, als europäischer Akteur, global stärker dargestellt werden, hängt auch sehr stark damit zusam- auftreten. Das liegt an unserer größeren Verantwortung. men, dass Sie nicht in der Lage sind, für die Bundesre- Wir müssen Krisen frühzeitiger erkennen und dann han- publik Deutschland ein fortschrittliches Einwanderungs- deln können. Unsere Aktionen müssen kohärenter wer- gesetz zu realisieren. den. Diplomatische Bemühungen müssen am gleichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strang ziehen. Wir müssen eine Außenpolitik betreiben, und bei der SPD) die mit der Entwicklungspolitik und der Handelspolitik kohärent ist. Diese Synergieeffekte müssen wir nutzen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das geht nur dann, wenn wir auch einen gemeinsa- Herr Kollege Steenblock, Ihre Zeit ist deutlich über- men europäischen diplomatischen Dienst haben. Nur schritten. auf diesem Feld werden wir die Möglichkeit haben, sol- che Strategien in den einzelnen Ländern auch materiell umzusetzen oder auch Vorwarnsituationen schon sehr Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- frühzeitig politisch umsetzen. Deshalb haben wir großes NEN): Interesse daran, dass der Antrag der Bundesregierung, Ich komme zu meinem letzten Satz. – Das macht sehr die Europäische Union bzw. den europäischen Außenmi- deutlich, dass Sie, wenn Sie denn mitgestalten können, nister mit einem aktionsfähigen diplomatischen Dienst nicht diejenigen sind, die nach vorne schauen, sondern zu versehen, angenommen und dies auch durchgesetzt dass Sie, wenn es um konkrete Sachpolitik geht, leider wird. im Bremserhäuschen der europäischen Politik sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wollen Europa gemeinsam gestalten und weiter- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gerd entwickeln. Dafür stehen die Grünen. (B) Müller [CDU/CSU]: Dann schaffen wir ihn (D) aber zu Hause ab! – Michael Glos [CDU/ Vielen Dank. CSU]: Wir sind froh, wenn er weg ist!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kollege Müller, in dem Punkt, dass dies Konsequen- und bei der SPD) zen für die nationalen diplomatischen Dienste haben muss, sind wir uns überhaupt nicht uneinig. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion. Wenn wir in den Bereichen der europäischen Sicher- heitsstrategie und der europäischen Außenpolitik eine Peter Altmaier (CDU/CSU): Priorität setzen wollen, dann müssen wir auch ehrlicher- weise sagen, dass die nationalen Möglichkeiten be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe schränkt und begrenzt werden müssen und dass wir hier Kolleginnen und Kollegen, der Entwurf des Verfas- zu Einsparungen kommen müssen. Das ist überhaupt sungsvertrages ist, wie er bis jetzt in den Teilen I und II keine Frage. vorliegt, sicherlich weit davon entfernt, perfekt zu sein. Es gibt vieles, was man an ihm kritisieren kann. Sicher- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Jawohl! – lich gibt es auch viele Kritikpunkte, die man zu Recht an Günter Gloser [SPD]: Dann braucht man zum den Konvent richten kann. Wenn ich mir allerdings an- Beispiel keine bayerische Botschaft in Brüssel sehe, wie schwer sich nationale Regierungen bisweilen mehr! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wir damit tun, auch nur einen einigermaßen verfassungskon- sind viel realistischer als Ihr!) formen Haushalt vorzulegen oder sich auf das Vorziehen einer Steuerreform zu einigen, dann, meine ich, ist das, Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie was der Konvent in den letzten eineinhalb Jahren zu- mich zum Schluss noch einen Gedanken äußern: Im eu- stande gebracht hat, mit Recht als historisch zu bezeich- ropäischen Raum von Freiheit und Sicherheit besteht ein nen. Problem, das wir lösen müssen. Ich hoffe, dass die deut- sche Bundesregierung hier auch wieder handlungsfähi- Wir haben das geschafft, und zwar entgegen vieler ger wird. Es geht um das Thema Einwanderung und Unkenrufe und vor dem Hintergrund der Zerstrittenheit Asyl. Wir sind – das sage ich für die Bündnisgrünen – Europas in der Irakkrise, die viele dazu veranlasst hat, zu ein bisschen enttäuscht, dass wir auf diesem Gipfel noch sagen, dass die Europäische Union noch nicht so weit ist, nicht, wie von uns gewünscht, in der Lage waren, die gemeinsam zu handeln: Sie ist an einem wichtigen Punkt 4334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Peter Altmaier (A) gescheitert. Trotzdem hat es der Konvent geschafft, sich Grundgesetzes. Das macht zusammen mit dem Werteka- (C) auf einen Entwurf zu einigen, der von 98 Prozent aller non der Grundrechte-Charta insgesamt deutlich, dass Delegierten im Konvent unterschrieben werden wird. diese Europäische Union eine Wertegemeinschaft ist. Dies wird weit über die Europäische Union hinaus auch Das heißt, mit Ausnahme eines dänischen Nationalis- in der Dritten Welt und in Ländern, in denen der Demo- ten und eines britischen Abgeordneten haben wir alle, kratisierungsprozess noch im Gange ist, seine Wirkung von links über die Mitte bis rechts, von den Liberalen bis entfalten. hin zu den Grünen, es geschafft, uns auf einen Entwurf zu einigen. Das ist ungeachtet des konkreten Inhalts ein Meine Damen und Herren, wenn Sie wie die Mitglie- entscheidendes Signal dafür, dass die Europäische Union der des Konvents in öffentlichen Veranstaltungen über schon heute mehr ist als eine reine Wirtschaftsgemein- das Ergebnis reden, werden Sie feststellen, dass der schaft. Es zeigt vielmehr, dass sich die Politiker ihrer Verfassungsentwurf auf ein sehr positives Echo stößt, Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union auch wenn den Bürgerinnen und Bürgern die Einzelhei- bewusst sind. ten nicht bekannt sind. Denn die Menschen haben das Gefühl, dass am Vorabend der Erweiterung und ange- Dass die Einigung auf den Verfassungsentwurf gelun- sichts der unglaublichen Veränderungen, die sich welt- gen ist, ist zum einen dem Prinzip der Öffentlichkeit zu weit im Rahmen der Globalisierung und der kriegeri- verdanken. Der Europäische Konvent hat in der Öffent- schen Konflikte der vergangenen beiden Jahre ergeben, lichkeit, das heißt unter der Kontrolle der Medien und notwendig ist, der Europäischen Union eine Verfassung der Bürgerinnen und Bürger, getagt. Das hat im Gegen- in Form eines Vertrages zu geben, die nicht nur ihre satz zu Regierungskonferenzen und Verhandlungen hin- Identität, sondern auch ihre Rechte bestimmt und gleich- ter verschlossenen Türen die Möglichkeit, offensichtlich zeitig abgrenzt und die Sicherheit für die europäischen unsinnige Positionen zu vertreten, erheblich reduziert. Bürger und die Akteure auf europäischer Ebene vermit- Zum anderen lag der Einigung das Bewusstsein zu- telt. grunde, dass es nach dem Scheitern der Regierungskon- Wir haben mit diesem Verfassungsvertrag die Voraus- ferenz in Nizza nur diese eine Chance gab, die Europäi- setzungen dafür geschaffen, dass eine europäische Öf- sche Union am Vorabend der Erweiterung zukunftsfähig fentlichkeit zustande kommt. Die Schaffung des Euro- zu machen. Wenn der Konvent scheitern würde, gäbe es päischen Legislativrates, der in Zukunft in öffentlicher so schnell keine zweite Chance für die Europäische Sitzung über die europäische Gesetzgebung zu entschei- Union. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns für die ersten den hat, ist ein entscheidender Schritt weg von einer un- beiden Teile auf ein Ergebnis geeinigt haben. Ich hoffe, durchsichtigen Europäischen Union, in der Entscheidun- dass wir die Kraft finden, dies im Juli auch für den drit- gen hinter verschlossenen Türen getroffen werden, hin (B) ten und vierten Teil des Konvents zu erreichen. (D) zu einer Parlamentarisierung des politischen Prozesses Ich bedauere es, wie andere Redner auch, dass es in Europa. nicht gelungen ist, einen eindeutigen Bezug auf die Dass der Kommissionspräsident in Zukunft vom Eu- Transzendenz – das heißt einen Bezug zu Gott oder zu ropäischen Parlament gewählt wird – zwar auf Vorschlag den christlichen Traditionen und Überlieferungen Eu- des Europäischen Rates, aber unter Berücksichtigung ropas – in den Verfassungsvertrag aufzunehmen. Wir ha- der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parla- ben dafür gekämpft, weil wir glauben, dass dies bei al- ment –, wird dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bür- lem Respekt gegenüber Andersdenkenden ein wichtiger ger bei zukünftigen Europawahlen auch über die euro- Beitrag gewesen wäre, um die europäische Identität nach päische Regierung und über politische Alternativen ab- innen wie nach außen sichtbar zu machen. stimmen können. Das wird wiederum zu einer Ich stelle fest, dass sich der Bundesaußenminister politischen Debatte in Europa führen, so wie sie das nach seiner Audienz beim Papst – offenbar wurde er Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag vom Heiligen Geist überzeugt – in dieser Frage stärker von Maastricht eingefordert hat. als in der Vergangenheit konstruktiv eingesetzt hat. Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie für bedanke ich mich ausdrücklich bei ihm. Ich hätte des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ mich allerdings gefreut, wenn es zu gemeinsamen Anträ- DIE GRÜNEN]) gen der Vertreter von CDU/CSU und Rot-Grün im Kon- vent zu diesem Thema gekommen wäre. Ich verhehle nicht, dass wir in einem Bereich nicht so weit gekommen sind, wie ich persönlich mir das ge- Trotzdem ist das, was wir erreicht haben, nicht wenig wünscht hätte. Das ist die Ausdehnung des Prinzips der und nicht unbeachtlich. Erstmals wird auf die religiösen Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit auf fast Überlieferungen Europas Bezug genommen. Es gibt ei- alle Politikbereiche. Wir haben es zwar geschafft, von nen strukturierten Dialog mit den Kirchen; des Weiteren dem sehr komplizierten Prinzip der Stimmgewichtung ist die Anerkennung ihrer rechtlichen Stellung nach na- gemäß dem Vertrag von Nizza zu einem einfachen Sys- tionalem Recht zu nennen. tem der doppelten Mehrheit, das heißt der Mehrheit der Vor allen Dingen ist durch die Aufnahme der Grund- Mitgliedstaaten und der Mehrheit der Bevölkerungen, rechte-Charta in den Verfassungsvertrag Art. 1 Abs. 1 überzugehen, was dazu führt, dass auch die deutsche Be- Satz 1 der Grundrechte-Charta – er lautet: Die Würde des völkerungszahl mehr als bisher ihren Niederschlag in Menschen ist unantastbar – rechtsverbindlich geworden. europäischen Entscheidungen findet. Wir haben es aber Dieser Satz ist identisch mit Art. 1 Satz 1 des deutschen nicht geschafft, uns zum Prinzip der Mehrheitsentschei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4335

Peter Altmaier (A) dung in all den Bereichen zu bekennen, die keinen ver- Der Umstand, dass wir im Konvent über die Frage der (C) fassungsändernden Charakter haben oder die nichts mit gerechten Verteilung von Kompetenzen in der Sache der Finanzausstattung der Europäischen Union zu tun nicht diskutiert haben, weil es dagegen politische Wider- haben. Ich persönlich bin aufgrund meiner langjährigen stände gab und weil auch die Zeit gefehlt hat, hat letzten Erfahrungen als Beamter in der Europäischen Union und Endes dazu geführt, dass auch wir – die Bundesregie- als Abgeordneter im Europaausschuss des Deutschen rung unterstützt diese Position – zumindest Einstimmig- Bundestages überzeugt, dass das Einstimmigkeitsprinzip keit bei zukünftigen Entscheidungen in diesem Bereich überall dort, wo es im konkreten politischen Alltag zur fordern. Ich hoffe im Interesse von uns allen und der Eu- Anwendung kommt, dazu führt, dass die Entscheidun- ropäischen Union, dass es uns in den nächsten Wochen gen länger dauern sowie schlechter und teurer werden. gelingen wird, die Zahl der Ausnahmen, in denen Ein- stimmigkeit notwendig ist, nicht zu groß werden zu las- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sen. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir konnten in den letzten Wochen und Monaten im Konvent beobachten, dass sich, ausgehend von den Be- reichen der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gungspolitik, in denen die Irakkrise die Atmosphäre ver- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des giftet und das Vertrauen zerstört hat, zunehmend die Abgeordneten Schily? Erkenntnis durchgesetzt hat, dass wir noch nicht im- stande sind, überall zum Prinzip der Mehrheitsentschei- Peter Altmaier (CDU/CSU): dungen überzugehen. Mit dem allerhöchsten Vergnügen. Damit komme ich zu einem Punkt, der für die ab- schließenden Beratungen des Konvents in den nächsten Otto Schily (SPD): Wochen sicherlich von großer Bedeutung sein wird. Das Herr Kollege Altmaier, ich teile Ihre Auffassung, dass ist die Frage, wie wir mit dem Bereich der Zuwande- wir bei der Regelung der Zuwanderung aus wirtschaftli- rung und des Asyls umgehen sollen. Selbstverständlich chen, sozialen und anderen Gründen die nationalen Un- – das bestreitet sicherlich niemand in diesem Hohen terschiede beachten müssen. Mein Standpunkt in dieser Hause – kann man über die Fragen des Asyls von Bür- Frage kommt dem Ihren offenbar sehr nahe. Halten nicht gerkriegsflüchtlingen und der Zuwanderung auf europäi- auch Sie es für notwendig, dass die Mitgliedstaaten der scher Ebene diskutieren und kann die damit zusammen- Europäischen Union ihre jeweilige Migrationspolitik (B) hängenden Probleme in vielen Bereichen nur auf (D) aufeinander abstimmen? Es könnten sich ja nationale europäischer Ebene lösen. Deshalb hat die damalige Entscheidungen durchaus auf die Situation in den Nach- CDU/CSU-FDP-Bundesregierung in Maastricht und barstaaten auswirken. Beispielsweise könnte Spanien Amsterdam dafür gesorgt, dass eine entsprechende Zu- eine Immigrationspolitik mit der Perspektive betreiben, ständigkeit in den europäischen Verträgen festgeschrie- dass die Zuwanderer spanische Staatsbürger und damit ben wird. Unionsbürger werden. Das würde auch Einfluss auf die Ich glaube allerdings – das möchte ich mit der glei- Situation in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten chen Deutlichkeit sagen –, dass wir angesichts der enor- haben. Ist es unter Beachtung der Unterschiede – Sie ha- men Unterschiede in der Wirtschaftskraft und insbeson- ben darauf hingewiesen – nicht sinnvoll, dass die Immi- dere angesichts der augenblicklichen wirtschaftlichen grationspolitik auf europäischer Ebene aufeinander ab- Situation der Mitgliedstaaten gut daran getan hätten, da- gestimmt wird? rüber nachzudenken, ob wirklich alle Entscheidungen in diesem Bereich auf europäischer Ebene getroffen werden Peter Altmaier (CDU/CSU): müssen. Das wäre auch ein Signal dafür gewesen, dass es Herr Bundesinnenminister, unsere Standpunkte liegen möglich ist, Zuständigkeiten, die einmal auf Europa in dieser Frage mit Sicherheit nicht auseinander. Man übertragen worden sind, wieder auf die nationale Ebene muss allerdings zwischen der Frage, ob man etwas auf zurückzuübertragen. Zuständigkeit für Bürgerkriegs- europäischer Ebene abstimmt, und der Frage, ob man et- flüchtlinge? – Selbstverständlich! Zuständigkeit für was auf europäischer Ebene zentral regeln muss, unter- Asylfragen? – Selbstverständlich! Aber sind wir wirklich scheiden. der Auffassung, dass die Zuwanderung zum nationalen Arbeitsmarkt für alle europäischen Länder gleich gere- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: gelt und in Brüssel zentral entschieden werden muss? Richtig!) Diese Frage könnte man bejahen, wenn es überall gleiche Was die europäische Wirtschaftspolitik angeht, ent- Wirtschaftsbedingungen gäbe. Aber in einer Situation, in hält der Vertrag beispielsweise eine Koordinierungsmög- der die Arbeitslosigkeit zum Beispiel bei uns in Deutsch- lichkeit. Damit verbunden ist aber nicht die Möglichkeit land dreimal so hoch ist wie die in Großbritannien, Lu- der Europäischen Union, rechtlich verbindliche Ent- xemburg, Portugal oder in Österreich, wäre es sinnvoll scheidungen zu treffen. Aus meiner Sicht ist es deshalb gewesen, diese Frage – jedenfalls in den nächsten Jahren – völlig in Ordnung, dass man auf europäischer Ebene bei- in nationaler Zuständigkeit zu belassen. spielsweise sogar mit Verordnungen und Gesetzen da- (Beifall bei der CDU/CSU) rüber entscheidet, wie es mit der Freizügigkeit derjenigen 4336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Peter Altmaier (A) aussieht, die aufgrund nationaler Entscheidungen Zu- Peter Altmaier (CDU/CSU): (C) gang zum Arbeitsmarkt finden und sich anschließend Herr Abgeordneter Müller, ich habe heute Morgen in zehn, 15 Jahre oder länger rechtmäßig in einem Mit- einem Interview im Deutschlandfunk gehört, wie die gliedstaat aufhalten. Fragen dieser Art müssen euro- Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen ver- päisch geregelt werden. sucht hat, die Position der Koalition zu den anstehenden Das lässt aber die Möglichkeit offen, auch in Zukunft Haushaltsberatungen zu erklären. Das war bereits in nationaler Zuständigkeit zu entscheiden, wie viele schwierig genug. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, Bürger aus Drittstaaten aus Afrika, aus Asien und von dass ich mich darauf beschränke, die Position von CDU woanders – ich denke nicht an Bürger der Europäischen und CSU zu erklären. Union oder der Kandidatenländer, die der Europäischen Unsere Position war in den Konventsberatungen von Union zum 1. Mai nächsten Jahres beitreten werden – Anfang an sehr klar. Wir waren bereit, Europa in allen neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Ich wiederhole: Das Bereichen zu stärken. Wir waren bereit, weitestgehend soll und muss auch in Zukunft in nationaler Zuständig- zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen, waren aber keit entschieden werden können. der Auffassung, dass in dem zentralen Bereich der Zu- Als dieses Problem im Konvent erörtert wurde, war es wanderung zum Arbeitsmarkt weiterhin die nationale nicht möglich, dass die deutschen Konventsdelegierten Zuständigkeit gewahrt werden sollte. – in Kenntnis der Position der Bundesregierung; ich glaube, sie ist vom Grundsatz her von der unseren gar Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht so weit entfernt – einen gemeinsamen Brief an den Herr Kollege Altmaier, es gibt eine weitere Zusatz- Vorsitzenden des Konvents Giscard d’Estaing schreiben, frage des Abgeordneten Schily. – Bitte. in dem gestanden hätte: Wir treten dafür ein, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, den Zugang der Zu- wanderer zu ihrem Arbeitsmarkt selbst zu regeln, von Otto Schily (SPD): den übrigen Regelungen unberührt bleibt. Herr Kollege Altmaier, zunächst einmal freue ich mich darüber, dass wir da vom Grundsatz her offenbar Die jetzt vorgesehene Einstimmigkeit ist im Grunde Übereinstimmung haben. Alles andere wäre von der Sa- genommen nur die zweitbeste Lösung. Sie bedeutet, dass che her auch gar nicht plausibel zu machen. Aber ist in Zukunft alle 25 Mitgliedstaaten ein Vetorecht haben, nicht doch die Erklärung des Herrn Bundeskanzler „Be- mit dem sie verhindern können, dass im Ministerrat Ent- vor wir zur Mehrheitsentscheidung übergehen, müssen scheidungen getroffen werden, die gegen die eigenen In- wir uns erst einmal darüber verständigen, wie in Zukunft teressen gerichtet sind. Meine Befürchtung ist: Diese im europäischen Rahmen Zuwanderungs-, Asyl- und Regelung wird im besten Fall dazu führen, dass gar (B) Flüchtlingspolitik gestaltet werden soll“ die richtige Ein- (D) nichts geregelt wird, und sie wird nicht dazu führen, dass lassung dazu? Können wir nicht erst dann zu den richti- etwas wirklich gut geregelt wird. gen Entscheidungen im Rahmen der Verfassung kom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) men?

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Peter Altmaier (CDU/CSU): Herr Kollege Altmaier, gestatten Sie eine Zwischen- Herr Bundesinnenminister, Sie werden mir sicherlich frage des Kollegen Müller? darin zustimmen, dass die Erklärungen des Bundeskanz- lers zwar von Bedeutung sind – wir alle hören sie auch Peter Altmaier (CDU/CSU): gern –, aber weder rechtsverbindlich sind, noch irgendet- was an den konkreten Beratungen des Konvents ändern. Bitte, mit dem gleichen Vergnügen. Deshalb wird es darauf ankommen, dass wir in den ver- bleibenden 14 Tagen – heute Mittag tagt das Präsidium, Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): am 4. Juli werden wir im Plenum des Konvents diskutie- Herr Altmaier, wir haben hier in dieser für Deutsch- ren – mit Unterstützung der Bundesregierung in den öf- land so zentralen Frage der Regelung der Zuwanderung fentlichen Debatten im Konvent klar machen, dass dies Übereinstimmung zwischen Opposition und Bundesre- ein ganz wichtiges Anliegen ist, das wir durch geeignete gierung festgestellt. Wie erklären Sie angesichts dessen, Regelungen sichergestellt haben möchten. Auf Erklärun- gen verlasse ich mich da lieber nicht. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Dass es noch kein Zuwanderungsgesetz gibt!) (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist bei diesem Bundeskanz- dass die Position, die Sie vertreten und die hier mittler- ler auch vernünftig!) weile auf Zustimmung stößt, bei der entscheidenden Debatte im europäischen Konvent vom Vertreter der Wir werden im Konvent noch zwei oder drei Wochen Bundesregierung nicht in einem Änderungsantrag einge- lang über die letzten Einzelfragen zu reden haben. Es bracht wurde, obwohl ein entsprechender Änderungsan- sind wichtige Einzelfragen. Es geht nicht nur um Zu- trag des Bundesaußenministers mir heute – nachdem der wanderung. Es geht auch um viele andere Fragen zur Gipfel getagt hat und sämtliche Beschlüsse gefasst wor- Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der europäi- den sind – im Internet überraschenderweise zugänglich schen und der nationalen Ebene. Wir alle werden gut da- war? ran tun, gemeinsam daran zu arbeiten, dass das Ergebnis, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4337

Peter Altmaier (A) das am 10. Juli vorliegen wird und am 18. Juli der italie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in (C) nischen Präsidentschaft übergeben werden wird, so aus- Deutschland gute Erfahrungen damit gemacht, Entschei- fällt, dass wir eine Tradition in diesem Haus fortsetzen dungen möglichst nahe an den betroffenen Bürgern und können, die wir in den 60er-Jahren begründet haben, Unternehmen treffen zu lassen. Bürgernahe Entschei- nämlich dass alle wesentlichen Zukunftsentscheidungen dungen und die Lösung lokaler und regionaler Probleme zu Europa von allen demokratischen Parteien in diesem direkt vor Ort sind ein Schlüssel für die Erfolgsge- Hause gemeinsam getragen werden. Für dieses Ziel schichte der deutschen Nachkriegsdemokratie und ihre lohnt es sich, zu arbeiten. In diesem Sinne wünsche ich breite Akzeptanz. Im Verfassungsentwurf wird das Sub- uns allen einen erfolgreichen Verlauf der nächsten Wo- sidiaritätsprinzip auch in Europa gestärkt. Es wird ein chen im europäischen Konvent. entsprechendes Frühwarnsystem geben und für beide Kammern der nationalen Parlamente ein Klagerecht bei (Beifall bei der CDU/CSU) Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip, damit auf eu- ropäischer Ebene nur solche Entscheidungen getroffen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden, die nicht auf nationaler oder lokaler Ebene bes- ser getroffen werden könnten. Das Wort hat der Staatsminister für Europa Hans Martin Bury. Entsprechend positiv ist die Aufnahme des Entwurfs bei den Ländern, jedenfalls bei den meisten. Der bayeri- sche Ministerpräsident kritisierte, dass die neue Verfas- Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: sung die Hoheitsrechte der Länder missachte und ein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! entschiedenes Bekenntnis zur christlichen Staatsauffas- Europa wagt mehr Demokratie – so könnte man die Ar- sung fehle. Das klingt wie Stoiber. Die zitierte Kritik beit des Konvents, seine Ergebnisse und deren Auf- stammt allerdings vom bayerischen Ministerpräsidenten nahme beim Gipfel in Thessaloniki in einem Satz zu- des Jahres 1949 und galt dem Entwurf des Grundgeset- sammenfassen. Europa bekommt eine Verfassung. zes, dem die Mehrheit der CSU-Vertreter im Parlamenta- Auch wenn uns das nach den langen und intensiven Be- rischen Rat die Zustimmung verweigerte. Es heißt ja, ratungen im Plenum des Deutschen Bundestags und im meine Damen und Herren, in Bayern gingen die Uhren Europaausschuss schon fast selbstverständlich erscheint, anders. Mir scheint, bei einigen dort ist die Uhr längst so ist es am Beginn dieses Beratungsprozesses keines- stehen geblieben. wegs eine Selbstverständlichkeit gewesen. Denken Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der an Großbritannien! Die Briten kennen im eigenen Land Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE keine geschriebene Verfassung und mussten sich mit (B) GRÜNEN] – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: (D) dem Gedanken an eine geschriebene europäische Verfas- Das ist ja eine Wahrnehmung! – Günter Gloser sung erst anfreunden. Auch in Deutschland gab es vor [SPD]: Nur bei einigen!) wenigen Jahren noch kaum jemanden, der das Projekt ei- ner europäischen Verfassung für mehr als eine kühne Meine Damen und Herren, wer unterschiedliche Tra- Vision gehalten hätte. ditionen und Vielfalt in Europa bewahren will, muss zum Kompromiss bereit sein. Entscheidend für mich ist Jetzt wird diese Vision Realität. Europa wird hand- nicht, ob eine Verfassung alle Partikularinteressen voll- lungsfähiger, transparenter und damit bürgernäher. Im ständig berücksichtigt – diesen Anspruch kann keine eu- Verfassungsentwurf werden nicht nur die grundlegenden ropäische Verfassung erfüllen –, sondern ob sie zwei ent- Werte und Ziele der Europäischen Union, sondern auch scheidenden Kriterien genügt: Sie muss eine Verfassung die Regeln und Prinzipien ihres Handelns beschrieben. der Bürger und eine Verfassung für die Bürger sein. Diese für die Bürgerinnen und Bürger wesentlichen Teile würden sogar den Jack-Straw-Test bestehen. Der briti- Eine Verfassung der Bürger ist der vorliegende Ent- sche Außenminister hat als Kriterium für eine gute Ver- wurf, weil er das Ergebnis einer lebendigen Diskussion fassung einmal genannt, dass sie in seine Hemdtasche in einem Konvent ist, der die innere Vielfalt der Mit- passen muss. gliedstaaten widerspiegelt. Das Ergebnis geht weit über das hinaus, was in Regierungskonferenzen zuvor jemals Auch wenn wichtige Themen, die im dritten Teil ge- erreicht wurde. Die Konventsmethode hat sich bewährt regelt werden, in den abschließenden Beratungen des und soll daher auch für künftige Reformen genutzt wer- Konvents noch sorgfältiger Verhandlung bedürfen, kön- den. nen wir heute feststellen: Deutschland hat im Konvent zentrale Anliegen durchsetzen können. Am vordring- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann könnten lichsten für uns war, dass mit dem Verfassungsentwurf wir ja die Parlamente abschaffen!) die Voraussetzung für die erfolgreiche Erweiterung der – Herr Kollege Müller, es gehört ja zur Stärke des Kon- Europäischen Union geschaffen und die Handlungs- vents, dass neben Regierungsvertretern und Vertretern fähigkeit Europas auch bei 25 und mehr Mitgliedern der der Kommission Parlamentarier sowohl der nationalen EU gewährleistet wird. So kann die Erweiterung und da- Parlamente als auch des Europaparlaments an diesen Be- mit die endgültige Überwindung der Teilung Europas ratungen beteiligt wurden. Insofern geht Ihr Zwischenruf jetzt zu einem guten Abschluss gebracht werden. völlig in die Irre. Deutschland hat als Land in der Mitte Europas daran ein besonderes Interesse. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 4338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Staatsminister Hans Martin Bury (A) Eine Verfassung der Bürger ist der Entwurf auch, weil päisches Bewusstsein und ein abgestimmtes Handeln der (C) er auf bewährte Selbstregulierungsmechanismen entwi- europäischen Zivilgesellschaften im Bereich der Außen- ckelter europäischer Gesellschaften vertraut. Er ist Aus- politik bereits entwickeln. Wir haben das in der Ausein- druck und Spiegelbild der Zivilgesellschaften der Mit- andersetzung um den Irakkonflikt in eindrucksvoller gliedstaaten und verschafft diesen neue Freiräume auf Weise erlebt. Der Verfassungsentwurf gibt uns jetzt erste europäischer Ebene. Instrumente in die Hand, den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger Europas nach einer Stärkung des gemeinsa- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: men außenpolitischen Handelns Europas schrittweise umzusetzen. Herr Kollege Bury, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller? Durch die Schaffung des Amts eines europäischen Außenministers geben wir der europäischen Außenpoli- Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: tik ein Gesicht. Damit die gemeinsame europäische Aber ja. Außenpolitik auch mit einer Stimme sprechen kann, brauchen wir darüber hinaus eine Ausweitung von Ent- scheidungen mit qualifizierter Mehrheit, auch und ge- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): rade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Herr Staatsminister, bei der Betrachtung des Kon- Noch scheinen einige Partner nicht so weit zu sein. Ich vents haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, die natio- sage: „Noch nicht“, weil ich sicher bin, dass sich schritt- nalen Parlamente sollten dort vertreten sein. Könnten Sie weise die Erkenntnis durchsetzen wird, dass ein Europa dem Hohen Haus mitteilen, welches Mitglied des Deut- mit 25 und mehr Staaten bei Beibehaltung des Veto- schen Bundestages Vollmitglied – mit vollem Stimm- rechts jedes einzelnen Mitgliedstaates den Erwartungen und Sprechrecht – des 105-köpfigen Konvents war? seiner Bürgerinnen und Bürger auf Dauer nicht gerecht werden könnte. Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: Auch die Fähigkeit Europas zur Durchsetzung seiner Herr Kollege Müller, ich habe nicht darauf hingewie- sicherheitspolitischen Interessen muss verbessert wer- sen, dass die nationalen Parlamente im Konvent vertre- den. Europa hat deshalb mit der Ausarbeitung einer ten sein sollten, sondern darauf, dass Parlamentarier im Sicherheitsstrategie begonnen, deren erster Entwurf in Konvent vertreten sind und sogar die Mehrheit der Mit- Thessaloniki vorgestellt wurde. Auf Grundlage der spe- glieder des Konvents stellen. Der Deutsche Bundestag zifischen europäischen Erfahrungen sieht sie ein breites hat entschieden, als Vertreter des deutschen Parlaments Spektrum möglicher Maßnahmen vor: von der Auswei- (B) den Kollegen Jürgen Meyer und als seinen Stellvertreter tung der Zone der Sicherheit und Stabilität in Europa (D) den Kollegen Altmaier, den wir gerade gehört haben, zu über die Stärkung der internationalen Ordnung bis hin zu entsenden. Als föderaler Staat haben wir darüber hinaus einer möglichst frühen Bekämpfung konkreter Bedro- als Vertreter des Bundesrates Herrn Ministerpräsidenten hungen mit den jeweils am besten geeigneten Mitteln. Teufel und als seinen Stellvertreter Herrn Minister Militärische Gewalt kann dabei nur das letzte Mittel Gerhards in diesem Verfassungskonvent gehabt. Sie ha- sein. ben mit den Vertretern der Bundesregierung sehr inten- siv und konstruktiv zusammengearbeitet. Ich glaube, wir Europas Außenpolitik kann in Krisensituationen je- können selbstbewusst miteinander feststellen: Wir haben doch nur dann erfolgreich sein, wenn wir in der Lage bei dieser Zusammenarbeit gemeinsam viel erreicht. sind, unsere Forderungen notfalls mit einer Androhung und im Extremfall, im letzten Fall, auch mit dem Einsatz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten militärischer Gewalt durchzusetzen. Europa muss des- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – halb auch seine militärischen Fähigkeiten ausbauen. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Aber kein Voll- Wichtig ist daher, dass im Bereich der europäischen mitglied des Deutschen Bundestages!) Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Instrument Eine Verfassung für die Bürger ist der vorliegende der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden kann Entwurf, weil er die Handlungsfähigkeit der Union nach und eine Avantgarde der Mitgliedstaaten die Möglich- außen und ihre Transparenz im Inneren stärkt und damit keit erhält, die Integration auch in diesem Bereich voran- die berechtigten Erwartungen der Europäerinnen und zutreiben: nicht als Closedshop, nicht als exklusiver Pro- Europäer an das Funktionieren der Union erfüllt. Trans- zess, sondern in einem offenen Prozess, an dem sich alle parenz nach innen bedeutet, dass die Union durch die ge- heutigen und alle zukünftigen Mitgliedstaaten der Euro- plante Verfassung bürgernäher wird. Die Anzahl der päischen Union beteiligen können, nicht gegen die Rechtsinstrumente wird verringert und sie werden den in NATO, sondern zur Stärkung des europäischen Pfeilers den Mitgliedstaaten vertrauten angenähert. Damit wer- der transatlantischen Partnerschaft. den die Entscheidungsverfahren nachvollziehbar. Es Meine Damen und Herren, Europa ist dort stark, wo wird klar, wer was entscheidet – ein wichtiges Element, die Integration bereits fortgeschritten ist, etwa im Be- um der verbreiteten Skepsis zu begegnen, die nicht zu- reich der Handels- und Währungspolitik und beim Bin- letzt auf mangelnder Transparenz beruht. nenmarkt. Hier spüren die Bürgerinnen und Bürger Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Stärkung unmittelbar, dass Europa funktioniert. Der Verfassungs- der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Europas kön- entwurf ist ohne Zweifel ein Kompromiss, aber ein, wie nen wir darauf bauen, dass sich ein gemeinsames euro- ich meine, guter Kompromiss und auf jeden Fall ein ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4339

Staatsminister Hans Martin Bury (A) waltiger Schritt nach vorn, ein Schritt, der vor wenigen aus, dass die Mitglieder des Europaausschusses Bundes- (C) Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Er ist aber vor tagsabgeordnete sind. Daher möchte ich Sie fragen, wie allem nicht der Endpunkt der europäischen Integration, Sie zu dem Schluss kommen, dass keinem Mitglied die- sondern der Rahmen für die erfolgreiche Entwicklung ses Hauses der Entwurf für eine europäische Verfassung der Europäischen Union, die auch in Zukunft weiter zu- vorliegt. sammenwachsen muss und weiter zusammenwachsen wird. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das hat er gar nicht gesagt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Der Verfassungsvertragsentwurf, wie er in Thessalo- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: niki behandelt wurde, liegt den Mitgliedern des Deut- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, schen Bundestages einschließlich mir nicht vollständig CDU/CSU-Fraktion. vor. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der ent- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): scheidende Bereich III, in dem es um die Kompetenz- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und festlegung geht, soll im Juli noch einmal verhandelt wer- Herren! Wenn diese Verfassungsdebatte von historischer den. Dazu liegen die 57 Änderungsanträge vor. Die Bedeutung sein soll, dann muss dieses Parlament sie Staats- und Regierungschefs hingegen haben gesagt, es auch ernst nehmen. Dazu müsste – so sollte man anneh- gehe nur noch um technische Veränderungen. men – der Vertragstext, über den wir diskutieren, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorliegen. Ich wiederhole meine Feststellung: Wenn es ein histo- Das ist aber eine falsche Annahme: Keinem Mitglied des rischer Vertrag sein soll, muss man anders miteinander Hauses liegt der Text, über den wir reden, vor. diskutieren. Wir wollen über die Inhalte diskutieren. Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister Das jetzt vorliegende Ergebnis ist ambivalent. Wir se- nimmt dieses Parlament nicht ernst. Wir haben gestern hen die vielen positiven Vorstöße und Vorschläge von eine Schlussdebatte über die Ergebnisse des europäi- Herrn Teufel, Herrn Altmaier, unseren Vertretern im schen Gipfels am Wochenende und über den europäi- Konvent. Sie finden Anerkennung. Die Weiterentwick- schen Verfassungsvertrag geführt. In dieser Debatte lung zur doppelten Mehrheit, die Reform des Minister- hieß es, in der Juli-Sitzung seien nur noch technische rats, das Subsidiaritätsprinzip, das sind wichtige und Veränderungen nötig. Es war nicht, Herr Bundesaußen- richtige Punkte. Aber – Herr Teufel, ich greife gerne auf, (B) (D) minister, von den 57 Änderungsanträgen die Rede, die was Sie in Ihrer Rede gesagt haben – die Allzuständig- Sie in der Nacht via Internet für die Konventsitzung ein- keit der Europäischen Union war in der Vergangenheit gebracht haben. das Hauptärgernis. Dies war auch der Auslöser, den Auf- trag zu einer klaren Kompetenzabgrenzung zu geben: Mit dem Inhalt dieser Änderungsanträge bestätigen Was macht zukünftig Brüssel, was macht Stuttgart und Sie in vielen Punkten den Kurs unserer Partei: Sie grei- was macht Berlin, wo liegen die Zuständigkeiten? fen die Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf, Sie stellen den Antrag, die Zuwanderung in der Kompetenz In dieser Frage der Kompetenzabgrenzung ist der der Mitgliedstaaten zu belassen, Sie stellen einen Antrag Entwurf absolut nicht befriedigend. Es wird jetzt eine zum Thema Kernenergie usw. Ich stelle mir die Frage: neue Aufteilung geben – Sie haben das dargestellt –: Warum sind Sie nicht zu dem Zeitpunkt aktiv geworden, ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten, koordinie- als die Themen im Konvent verhandelt wurden und als rende Funktion, Unterstützungs- und Ergänzungsfunk- noch etwas zu bewegen war? Was Sie jetzt machen, ist tionen; kaum noch Durchsicht, kaum noch Transparenz. Schaumschlägerei. Dahinter, so sagen Sie, Herr Teufel, stecke das Bundes- staatsmodell für Europa, ein Aufbau, wie wir ihn in (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland kennen. Da frage ich: Was ist bei diesem Bundesstaatsmodell der konkurrierenden Zuständigkei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten in Deutschland den Landtagen noch verblieben außer Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischen- dem Erziehungs- und Unterrichtsgesetz? Ich meine nicht frage der Kollegin Lührmann? die Landesregierungen – Sie verstehen mich –, sondern die Landtage. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): So wird auch der Prozess in Europa angelegt. Wir Ja, bitte. werden uns in fünf Jahren fragen: Was bleibt bei diesem Modell in Zukunft noch der Ebene der nationalen Parla- Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mente? Die Länder, in Deutschland die Bundesländer, haben relativ gut abgeschnitten. Herr Müller, wenn ich mich richtig entsinne, dann waren Sie gestern bei der Sitzung des Europaausschus- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Abgren- ses anwesend. Wenn ich mich weiter richtig entsinne, zung der Zuständigkeiten war eigentlich der Kernpunkt. dann lag in dieser Sitzung der Entwurf für die europäi- Ursprünglich sollte – auch das wurde hier angespro- sche Verfassung vor uns auf dem Tisch. Ich gehe davon chen – die Ermächtigungsklausel abgeschafft werden. 4340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Gerd Müller (A) Eingeführt wurde aber eine Supergeneralklausel, die (Joseph Fischer, Bundesminister: Wer leugnet (C) Herr Bundesaußenminister Genscher in einem Ände- denn das?) rungsantrag herauszubringen versucht. Die Bundesregierung hat kein Gesamtkonzept, aber (Peter Hintze [CDU/CSU]: Fischer! – Dr. Werner 200 Änderungsanträge vorgelegt. Das Gesamtkonzept Hoyer [FDP]: Schön wär’s!) wurde von der Union vorgelegt. Das Schäuble-Bocklet- Papier wäre der richtige Weg gewesen. Sie verstecken – Bundesaußenminister Fischer, ja. Ich denke bei Europa sich mit Ihren Vorschlägen hinter Frankreich. Sie ma- natürlich an die großen deutschen Außenminister wie chen sich mehr für türkische als für deutsche Interessen Hans-Dietrich Genscher, und andere. stark. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zurufe von der SPD: Oh!) Da fällt mir natürlich weder im Unterbewusstsein noch – Natürlich muss die Frage gestellt werden, mit welcher im Bewusstsein ein. Berechtigung die Türkei an der Regierungskonferenz zur Verabschiedung dieses Verfassungsvertrages teilnimmt. Wir alle sind angeblich gegen eine europäische Steuer. Dennoch bekräftigen wir die entsprechende Wenn wir dieses Projekt auf diese Weise zu Ende Rechtsgrundlage. bringen, dann habe ich hinsichtlich der Zuwanderung in die EU die Befürchtung, dass der zukünftige Chefaußen- Europa soll sich auf das Große beschränken und den minister Fischer in Brüssel einen türkischen Zuwande- Mitgliedstaaten die Regelung der Details überlassen. rungskommissar aus Ankara benennen wird. Ich will Das war immer unsere Vorgehensweise. Der neue Ver- nicht, dass diese Vorstellung in der Europäischen Union fassungsvertrag schafft neue Zuständigkeiten für die in Zukunft wahr wird. Europäische Union – damit mich jeder richtig versteht: das kann man wollen, aber man muss wissen, über was (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth man entscheidet; natürlich kann man diesen Weg gehen, [Heringen] [SPD]: Spielen Sie doch nicht auf aber man muss auch wissen, wohin er führt – in den Be- der Klaviatur des Populismus!) reichen Gesundheitspolitik, berufliche Bildung, Jugend- Nach meinen Ausführungen zur Kompetenzabgren- politik, Sport, Kultur, Zivilschutz, Energiepolitik, For- zung, zum Wertebezug und Gottesbezug möchte ich schungspolitik, Innen- und Justizpolitik, Koordinierung noch eine Schlussbemerkung machen: Schaffen wir der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie neue Zustän- wirklich mehr Demokratie? Es würde sich lohnen, dazu digkeiten in Bezug auf die Zuwanderung in die EU. eine eigene Debatte zu führen. Ich bin der Meinung, wir (B) (D) Da stellt sich natürlich die Frage: Was bleibt über- schaffen weniger Demokratie. Mehr Brüssel heißt weni- haupt noch in nationaler oder in Länderkompetenz? Ich ger Volksnähe. Wir schaffen die Entparlamentarisie- sehe überhaupt keinen Bereich mehr, in dem es Kompe- rung der Gesetzgebung. Es ist nämlich so, dass das, tenzen ausschließlich der Mitgliedstaaten und der Län- was uns an Kontrollmöglichkeiten genommen wird, dem der gibt. Das heißt, in Zukunft wird es keinen Politikbe- Europäischen Parlament nicht zufällt. Deshalb sind die reich mehr geben, in dem die Europäische Union nicht Regierungen alle so glücklich mit diesem Vertragsent- mitentscheidet und Kompetenz hat. Das kann man zwar wurf. Die Parlamentarier müssen endlich aufwachen und wollen – aus der Sicht von Brüssel ist das vielleicht der erkennen: Dieser Verfassungsentwurf bedeutet eine Ent- richtige Weg –, aber es ist der Weg in Richtung Zentrali- machtung der Parlamente. sierung der Entscheidungsebenen. Wir sind für einen (Beifall bei der CDU/CSU) Weg der klaren Abgrenzung und für einen Weg des Fö- deralismus, der der Zentralisierung entgegensteht. Alle Macht der Exekutive! Dies ist eine Exekutivdemo- kratie. Nein, wir brauchen die Mitsprache und die Kon- (Beifall bei der CDU/CSU) trolle der Parlamente im europäischen Bereich. Wir brauchen sie weiterhin auf nationaler Ebene und auf Für mich ist wichtig, noch auf einen weiteren Punkt Landesebene. Wir wollen ein Europa, das das Volk mit- hinzuweisen: Die christlichen Grundwerte und der nimmt und das sich von unten nach oben föderal und Gottesbezug fehlen. Die Präambel ist praktisch inhalts- nicht zentralistisch organisiert. und wertlos. Jean Monnet hat einmal gesagt, dass er die Kultur in den Vordergrund stellen würde, wenn er heute Deshalb setzen wir darauf, im Laufe der nächsten noch einmal mit der europäischen Einigung beginnen Monate und im Laufe der Regierungskonferenz wesent- würde. Nur durch die Bezugnahme auf die Wurzeln der liche Änderungen durchzusetzen. Die Schlussbewer- christlich-abendländischen Kultur, die Kultur der An- tung dieses Entwurfes bleibt deshalb offen. tike, der Römer, der Griechen, des Judentums, sowie durch den Bezug auf den Humanismus und auf Gott be- Herzlichen Dank. kommen wir ein inhaltliches Fundament für die europäi- (Beifall bei der CDU/CSU) sche Einigung und schaffen die Voraussetzungen für die Gestaltung der Zukunft. Herr Fischer, solange Sie diese Bezüge auf Gott und auf die christliche Tradition Euro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: pas leugnen, wird Ihnen auch kein großer Schöpfungsakt Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege gelingen. Joschka Fischer. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4341

(A) Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Sie haben uns im Europaausschuss sehr deutlich ge- (C) GRÜNEN): sagt, dass Sie mit aller Vehemenz den Weg der Türkei in Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich ganz kurz die Europäische Union befördern und unterstützen wer- auf den verehrten Kollegen Vorredner, den. Das ist nicht unsere Position. Wir sind der Meinung, dass die Europäische Union mit 25 Mitgliedstaaten vor (Volker Kauder [CDU/CSU]: Müller heißt er!) eine große Herausforderung gestellt ist und dass wir jetzt auf Herrn Dr. Müller, eingehe, der es geschafft hat, ein eine innere Vertiefung vornehmen müssen. Wir müssen weiteres Mal das Niveau dieser Debatte weit nach unten die nächsten zehn Mitgliedstaaten integrieren. Da haben zu drücken. wir ungeheuer viele Aufgaben vor uns. Dann kann es um weitere Schritte gehen. Sie aber haben sich dafür einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und setzt, dass die Türkei ab Oktober Mitglied der Regie- bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU) rungskonferenz mit Beobachterstatus wird. Ich lasse mir vieles gefallen. Nur, dass Sie der Bundes- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE regierung vorwerfen – natürlich, ihr habt in Bayern GRÜNEN]: Das ist eine gemeinsame Ent- Wahlkampf –, sie vertrete keine deutschen Interessen, scheidung der europäischen Regierungen! Was sondern türkische und verstecke sich hinter Frankreich, Sie sagen, ist Volksverdummung!) kann ich nicht akzeptieren. Das ist die Vorstufe für eine Mitgliedschaft. Ich gehe einmal konkret auf das ein, was Sie gesagt haben, nämlich dass ein möglicher deutscher Kandidat Herr Außenminister, Sie haben sich sehr differenziert für die Position des EU-Außenministers einen türkischen mit Ihren zukünftigen und mit Ihren nicht bestehenden Zuwanderungskommissar benennen würde. Das wollen Rechten als europäischer Außenminister auseinander ge- Sie nicht. Gestatten Sie mir einen Blick in den Verfas- setzt. Sie haben sich diese Dinge ganz bewusst zurecht- sungsentwurf; niemand denkt daran, dieses System zu geschneidert. Nun kann ich Ihnen sagen: Wenn die Euro- ändern! Mit voller Unterstützung Ihrer Parteifreunde, die päische Union die Türkei als europäisches Mitgliedsland das genauso sehen und dies wichtig finden, wird es in aufnimmt, dann ist sie Mitglied im Europäischen Parla- Zukunft so aussehen: Der EU-Kommissionspräsident ment und dann kann ein griechischer, ein spanischer wird – Herr Hintze hat das vorhin zu Recht angeführt; er oder ein italienischer Kommissionspräsident aus dem sieht darin einen großen Demokratisierungsfortschritt; zweitgrößten Mitgliedsland, aus der Türkei, einen Kom- ich stimme ihm darin zu – im Lichte der Ergebnisse der missar berufen. Natürlich kann dieser für Zuwande- Europawahlen vom Europäischen Rat nominiert werden. rungsfragen zuständig sein. Die Zuwanderungsfragen der Türkei sind dann gelöst. Denn wenn sie Mitglied ist, (B) Dann wird dieser Kommissionspräsident vom Europäi- (D) schen Parlament gewählt werden. Dieser Kommissions- kann sie sich der vollen Freizügigkeit innerhalb der Eu- präsident – und nicht der Außenminister – wird dann aus ropäischen Union bedienen. einem ganzen Paket von Vorschlägen – pro Land drei – die Kommissare auswählen. Das ist ein Punkt – da danke ich Ihnen für die Inter- vention –, über den wir mit der Bevölkerung diskutieren Ich frage mich, warum Sie es nötig haben – der baye- müssen: ob wir diesen Weg gehen wollen. Man kann rische Wahlkampf kann so wichtig auch nicht sein –, in diesen Weg ja gehen wollen, so wie Sie. Nur muss man einer so zentralen historischen Debatte eine solche Ver- das dann der deutschen Öffentlichkeit sagen und ein Vo- zerrung der Tatsachen zum Gegenstand Ihrer Äußerun- tum vom Volke dafür einholen, nicht von bürokratischen gen zu machen. Stuben der Regierungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke schön. und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zur Beantwortung hat das Wort der Kollege Müller. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Bündnis 90/Die Grünen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Niveau hin oder her: Wir müssen über diese Fragen diskutieren. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sind die Fragen, die das Volk interessieren. Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Kollegen! Ich will gleich mit einem weiteren Ver- NEN]: Das Sie allenfalls aufhetzen! – Zurufe such des Kollegen Dr. Müller aufräumen, hier Volksver- von der SPD) dummung zu betreiben. Die Teile I und II der Verfassung liegen Ihnen vor und lagen in Thessaloniki vor. Die Sie können davon ausgehen: Wenn sich der Bundesau- Teile III und IV werden am 10. und 11. Juli abschließend ßenminister nicht intensiv mit dieser Frage beschäftigt behandelt. hätte, hätte er sich jetzt nicht in die Debatte eingeschal- tet. Ein Kernpunkt ist: Wohin steuert Europa? Wer wird (Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir ja doch Mitglied der Europäischen Union? Recht gehabt!) 4342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Ulrike Höfken (A) Der Entwurf liegt Ihnen ebenfalls vor. Hätten Sie Ihren rung und des Europas der Bürger aufzunehmen und zu (C) Kollegen, Ministerpräsident Teufel und allen anderen, diskutieren. Insbesondere bei meinen Besuchen in den zugehört! Genau das ist die Grundlage unserer heutigen Beitrittsländern sehe ich natürlich, dass die Sorgen in der Diskussion. Daran hat niemand gezweifelt. ländlichen Bevölkerung sehr ausgeprägt sind. Das ver- bindet sich sehr stark mit der Agrarpolitik. Insofern will Heute können wir wichtige und erfolgreiche Schritte ich doch noch auf den Agrarkompromiss von heute in der europäischen Entwicklung verzeichnen. Es liegt Nacht eingehen. das Ergebnis von Thessaloniki inklusive seiner sicher- heitspolitischen Bereiche vor, die schon diskutiert wur- Ich will in allererster Linie der Ministerin Künast da- den. Vor allem liegen uns der Gesetzentwurf zu dem für danken, dass sie diesen Verhandlungsmarathon er- Vertrag über den Beitritt von zehn Ländern und der Ver- folgreich beendet hat und dass sie dabei eine sehr erfolg- trag über eine europäische Verfassung vor. Das alles ist reiche Vermittlerrolle gespielt hat. Übrigens bleibt es in – das muss man deutlich sagen – keine Selbstverständ- diesem Bereich beim Erfordernis der Einstimmigkeit. lichkeit, sondern vieler Arbeit der Beteiligten im Kon- Daran sieht man, dass die Agrarpolitik mit der Außenpo- vent zu verdanken, insbesondere der deutschen Bundes- litik und der Wirtschaftspolitik schon lange sehr stark regierung, die dieses Ergebnis von Thessaloniki mit verbunden ist. Hier gilt das, was überall gilt: Die Politik zustande gebracht hat. muss gemeinsam getragen werden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Zu dem Kompromiss insgesamt muss man sagen, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) dass viele von Deutschland eingebrachte Elemente reali- Eine Selbstverständlichkeit ist es im Übrigen auch siert wurden. Diese Elemente bilden eine Säule der wei- nicht, dass heute der Beschluss des Agrarministerrates teren EU-Entwicklung. Dazu gehört, dass der Prozess fi- zur Weiterentwicklung der EU-Agrarpolitik zustande nanzierbar ist, dass die WTO-Kompatibiliät erreicht gekommen ist – ebenfalls eine zwingende Voraussetzung wurde und dass ländliche Räume stärker unterstützt wer- für die Osterweiterung und die weitere Entwicklung der den. Das gilt insbesondere für Beitrittsländer wie Polen, Europäischen Union. zukünftig aber auch für Rumänien, das über einen hohen Anteil an ländlichen Räumen verfügt. Durch die Vermei- Nicht alle unsere Ziele hat der Konvent erfüllt. Schon dung von Überschussproduktionen wurde für mehr lange laufen die Anstrengungen, die EU-Agrarpolitik Marktgerechtigkeit gesorgt. Nachhaltigkeit, Verbrau- nachhaltiger, marktgerechter usw. zu gestalten. Aber es cher- und Tierschutz sind ebenfalls Elemente, die erfolg- ist unsinnig, unrealistisch, undemokratisch und auch reich einbezogen und umgesetzt werden konnten. fortschrittsfeindlich, zu verkennen, dass es unterschiedli- (B) che Positionen bisheriger und künftiger Mitgliedsländer Ich verhehle nicht, dass es noch eine ganze Reihe von (D) gibt, und diese zu ignorieren. Problemen gibt, die aber einen anderen Stellenwert ha- Ein gemeinsames Ergebnis muss tragfähig sein und ben und zum allergrößten Teil aus alten Beschlüssen re- getragen werden. Am Konvent waren – das ist bereits sultieren. Die für die neuen Beitrittsländer erreichten deutlich gemacht worden – 28 Regierungen, nationale Übergangsregelungen sind zu implementieren und wer- Parlamente, EU-Parlament und -Kommission beteiligt, den erfolgreich sein. ebenso übrigens auch die Türkei – ohne irgendeinen Auf der jetzt geschaffenen Grundlage kann Europa Konflikt. weiter ausgebaut werden. Das gilt für Bulgarien und Ich bin sehr beeindruckt von der Leistung der Bei- Rumänien, die 2007 beitreten sollen. Die Wirtschaftsre- trittsländer, die die Voraussetzungen für den Beitritt mit formen, die Justizreformen und die Reformen der öffent- seinen scharfen Kriterien erfüllt haben, und von ihren er- lichen Verwaltung haben Priorität. Im Dezember dieses folgreichen Referenden. Die bedeuten nämlich auch, Jahres wird der Europäische Rat in Rom die bisher ge- dass die Länder ihre Bevölkerungen in diese Diskussion machten Fortschritte bewerten. einbezogen haben. Es geht auch um die Westbalkanländer und – das will (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich deutlich sagen – die Türkei. Herr Dr. Müller, es ist und bei der SPD) doch verrückt, dieses Thema als deutsche Spielwiese zu betrachten, auf der man den bayerischen Wahlkampf Wir sollten das als Ansporn und Verpflichtung nehmen, unsere Bevölkerung ebenfalls für Europa und die euro- austragen kann, indem man die Menschen dafür instru- päischen Entwicklungen zu sensibilisieren und aktiv da- mentalisiert. für zu werben. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist ein Angesichts der auch in unserer Nähe weiter stattfin- unglaublicher Vorwurf!) denden Terroranschläge und Kriege ist die Sensibilität Es geht um die Beschlüsse von Helsinki. Die Türkei ist gewachsen. Die Sicherheit und der Frieden Europas sind ein Beitrittskandidat und soll ein ehrliches Angebot er- Grundvoraussetzungen und Grundmotivation. Ich darf gleich noch einmal auf den Punkt Türkei eingehen. halten. Ansonsten würde man die Glaubwürdigkeit aller europäischen Regierungen infrage stellen und sie völlig Es gilt natürlich auch, die Ängste der Menschen ernst diskreditieren. Die Türkei entwickelt sich in die richtige zu nehmen – aber nicht, sie zu schüren – und eine Ein- Richtung; sie macht Fortschritte. Sie haben offensicht- heit in Vielfalt zu unterstützen, die Fragen der Erweite- lich etwas dagegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4343

Ulrike Höfken (A) Für uns ist es selbstverständlich wichtig, dass die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Menschenrechte gewahrt und die Kopenhagener Krite- Das Wort zu einer Kurzintervension hat der Abgeord- rien erfüllt werden. nete Pflüger. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Was diese Entwicklung angeht, kann man sehr positiv Frau Kollegin Höfken, Sie haben eben die Behaup- gestimmt sein. tung aufgestellt – sie klang bereits eben in den Ausfüh- rungen des Außenministers an –, von unserer Seite (Zuruf von der CDU/CSU: Da haben wir aber werde die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU nur andere Informationen!) deshalb kritisch angesprochen, weil es einen Wahlkampf Mit dem Beitritt der Türkei – das ist ganz klar – wird die zu bestreiten gebe. Ich möchte deutlich machen, dass EU und insbesondere Deutschland in ökonomischer und dieses Thema für uns ein sehr ernstes Anliegen ist und sicherheitspolitischer Hinsicht gewinnen. Diesen Pro- nichts mit Wahlkampfpolemik zu tun hat. zess darf die Union nicht gefährden; das dürfen auch Sie Wenn Sie sich die Debatten ansehen, die über dieses im bayerischen Wahlkampf nicht tun. Thema schon lange vor diesem Wahlkampf geführt wur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, stellen Sie fest, dass es auf unserer Seite immer die und bei der SPD) folgende Überlegung gab: Für uns ist die Türkei ein enorm wichtiger Partner, ein befreundetes Land und ein Ich möchte eine ganz persönliche Bemerkung hinzu- NATO-Partner, den wir auch in Zukunft dringend benö- fügen: Ich sehe enge Verbindungen zwischen der Bevöl- tigen. Wir wollen die Türkei immer enger an die EU he- kerung unseres Landes und jener der Türkei. Auch das ranführen. Ich glaube, darüber gibt es in diesem Haus ist für mich ein Grund, diese Verhandlungen zu unter- Konsens. Wir kritisieren aber, dass ohne ausreichende stützen. Diskussion in der Bevölkerung quasi eine grenzenlose Ich will noch kurz auf die westlichen Balkanstaaten EU geschaffen wird und wir auf eine Rutschbahn kom- zu sprechen kommen. Ich wage keine Vorhersage, wann men, sodass wir keine Chance haben, an irgendeinem sie beitreten werden. Aber allein der Prozess des Bei- Punkt vielleicht zu sagen: Wir wollen das nicht. tritts bietet den jungen Menschen, die sich in diesen Län- Wenn die Türkei Mitglied der Regierungskonferenz dern in einer sehr schwierigen Situation befinden, die wird, wenn bereits heute quasi feststeht, dass demnächst Hoffnung auf neue Perspektiven, die Chance, den Hass mit der Türkei EU-Verhandlungen aufgenommen wer- und die Risse zu überwinden. Er bietet die Möglichkeit, den – darüber haben wir bereits eine Debatte geführt –, (B) auch auf regionaler Ebene neue Formen der Zusammen- wenn in dieser Art und Weise an der Bevölkerung vorbei (D) arbeit und des Zusammenlebens zu entwickeln. Das al- Vorentscheidungen getroffen werden, dann muss man lein ist es wert, diesen Prozess zu führen. das mit allem Ernst hier in diesem Parlament anspre- Die Agenda von Thessaloniki stellt an diese Länder chen. hohe Anforderungen, die sie erfüllen wollen. Sie ist für Wir sagen nicht, dass die Türkei für alle Zeit nicht diese Länder eine Chance, aus ihrer jetzigen Situation nach Europa gehört, sondern wir sagen: Es ist angesichts herauszukommen. der Lage in der Türkei, angesichts der Größe und der Ein Schlusssatz. Schwierigkeiten dieses Landes und vor allen Dingen an- gesichts der enormen Aufgaben, die wir mit dem Beitritt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der zehn neuen Staaten und der eventuellen Aufnahme der Balkanstaaten zu bewältigen haben, völlig verfrüht, Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist aber überschritten. in Sachen Türkei schon jetzt vollendete Tatsachen zu schaffen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Angelica An die CDU richte ich die Aufforderung und die Schwall-Düren [SPD]: Lassen Sie die Unter- Bitte, den Ratifizierungsprozess, was die zehn neuen stellungen, Herr Pflüger!) Beitrittsländer und den vorliegenden Gesetzentwurf an- geht, nicht zu verhindern und durch unangemessene, for- Jetzt sagen Sie: Es sind ja keine vollendeten Tatsa- male Debatten zu belasten. chen. Dazu sagen wir Ihnen: Wenn Sie die Türkei an der Regierungskonferenz beteiligen, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Völlig überflüs- sige Bemerkung!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Gibt es keinen Weg zurück!) Mit der Zustimmung zum Vertrag von Nizza haben Sie der Übertragung hoheitlicher Aufgaben zugestimmt. wenn Sie die Verhandlungen wegen der Aufnahme in die Stimmen Sie in der nächsten Woche der Ratifizierung Europäische Union beginnen, werden Sie irgendwann zu, in Würde und im Sinne der neuen Beitrittsländer. nur mit größten Kosten diese Rutschbahn in Richtung Vollmitgliedschaft beenden können. Wir fordern, dass Vielen Dank. man solche weit reichenden Entscheidungen, bevor man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sie trifft, mit der Bevölkerung diskutiert; denn eine euro- und bei der SPD) päische Verfassung muss von der Bevölkerung getragen 4344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Friedbert Pflüger (A) werden und dann muss man auch über die Grenzen der sagen, warum: Es war nicht eine rot-grüne Bundesregie- (C) EU ein offenes Wort miteinander sprechen. rung, die zu EWG-Zeiten mit dem Assoziationsabkom- men Verpflichtungen eingegangen ist. Es war auch nicht (Beifall bei der CDU/CSU) eine rot-grüne Regierung, die beim Luxemburger Gipfel 1997 die dortigen Beschlüsse mitgetragen hat. Ich habe Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herrn Glos die Beschlüsse, damals noch unter Beteili- Das Wort zur Beantwortung hat Frau Kollegin gung einer CDU/CSU-FDP-Regierung gefasst, einmal Höfken. vorgelesen und ihm aufgezeigt, welche Perspektive dort der Türkei gegeben wurde. Sie sprechen jetzt von Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Rutschbahn“ und sagen: Es gibt kein Halten mehr bei anderen Beitritten. Ich sage Ihnen: Es ist völlig klar, dass Herr Kollege Hintze, ich glaube, Sie konnten bei mir wir aus Ihrer Zeit Verpflichtungen gegenüber der Türkei und bei anderen die Interpretation nicht entkräften, dass haben. Das muss man hier einmal klipp und klar fest- Sie den Beitritt der Türkei für Wahlkampfzwecke in- schreiben. strumentalisieren. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Entschuldi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung, das war Herr Pflüger!) und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Keine Verpflichtung zur Mitglied- Das ist doch verrückt angesichts der Situation, dass die schaft!) Türkei schon 1963 das erste Angebot erhalten hat, der EU Wir werden zukünftig in Bezug auf die Außengrenzen im Zusammenhang mit der Ukraine, mit Moldawien und (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Da hatten vor allem mit Weißrussland, was die Polen zunehmend wir noch keine EU!) auf die Tagesordnung setzen werden, vor schwierigen – damals der EG, ich weiß – beizutreten. Über diesen Fragen stehen. Aber dort gibt es keinerlei Verpflichtun- Prozess wird mit Fug und Recht schon seit vielen Jahren gen, die mit denen vergleichbar sind, die Sie gegenüber diskutiert. Ich bin nicht die Türkeiexpertin, aber ich der Türkei eingegangen sind. frage Sie – viele Menschen in unserem Land fragen sich Im Zusammenhang mit dem Maghreb stellt sich diese das auch –: Was passiert, wenn Sie der Türkei nach die- Frage nicht. Das alles weiß der Kollege Pflüger ganz ge- sem Prozess über so viele Jahre hinweg jetzt Nein sagen nau. und ihr dieses Angebot, das ein ehrliches Angebot sein muss, verweigern, wenn sie – es gibt keinen Automatis- Gerade die Menschen, die zugewandert sind, hoffen (B) mus – alle Kriterien erfüllt? auf eine Europäisierung der Türkei. Lesen Sie heute in (D) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann können der „Süddeutschen Zeitung“ einmal den Artikel von Sie das der Ukraine, Israel und Marokko auch Frau Schlötzer. Darin schreibt sie, dass in der Türkei im nicht verweigern!) Rahmen des Beitrittsprozesses, um EU-kompatibel zu werden, das Verhältnis des Militärs zu den Gesetzen Das ist ein sicherheitspolitisches Risiko. Wir treiben ein mehr und mehr im Vordergrund der Debatte stehe, dass Land in eine Situation, die uns allen schaden wird und eine Debatte über das Verhältnis zur kurdischen Minder- die zu einem Ungleichgewicht und zu einer Gefährdung heit begonnen habe und das Thema nicht länger tabui- der Stabilität führen wird. Das finde ich unverantwort- siert werde und dass die Frage der wirtschaftlichen Re- lich. formen angegangen werde. Gleichzeitig stellen Sie sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hin und fordern, dass wir im Kampf gegen den Terroris- sowie bei Abgeordneten der SPD) mus energischer vorgehen sollen. Ich sage Ihnen: Die Europäisierung der Türkei wird einer der wichtigsten Beiträge im Kampf gegen den internationalen islamisti- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schen Terrorismus sein. Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka Fischer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Meine Damen und Herren von der Opposition, so wie Der formidable Herr Müller stellt sich dann hin und Sie mit der Türkei-Frage umgehen, kann das nicht ste- fragt – das muss ich hier in diesem Hohen Hause einmal hen bleiben. auf den Tisch bringen –, was wäre, wenn es einen grie- chischen Kommissionspräsidenten und gleichzeitig ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen türkischen Zuwanderungskommissar gäbe. Ich kann sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Ihnen nur sagen: Das sind primitivste Vorurteile, die Sie Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) hier vorbringen. – Entschuldigung, ich meine nicht die FDP, ich meine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU und CSU. Das war ein richtiger Zwischenruf. und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Ich finde es unerträglich, wie Sie mit diesem zentra- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP] – Wider- len und wichtigen Thema umgehen. Ich will Ihnen auch spruch bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4345

Bundesminister Joseph Fischer (A) Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn die Mehrheit Ich muss Ihnen allerdings sagen: Falls Sie diesen Ver- (C) der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und das Eu- such unternommen haben sollten, sind Sie dabei auf der ropäische Parlament einen griechischen Kandidaten als ganzen Linie gescheitert; Kommissionspräsidenten benennen, dann habe ich zu diesem Mann oder dieser Frau dasselbe Vertrauen wie zu (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) einem deutschen oder niederländischen Kommissions- denn Sie sind hier nicht auf den politischen Punkt einge- präsidenten oder einem Kommissionspräsidenten aus ei- gangen, der strittig ist, sondern sind in die Rolle gefallen nem anderen Land. – das erheitert das Parlament immer wieder –, in der Sie Nebelkerzen in den Raum werfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine (Zuruf von der SPD: Das ist dummes Zeug!) Leutheusser-Schnarrenberger [FDP] – Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]) Ich will benennen, worum es in der Sache geht. Es geht nicht um die Frage, ob wir eine europäische Strate- Er wird entweder der Mehrheit der Linken oder der gie für die Türkei brauchen – das hat der Kollege Pflüger Rechten angehören – das ist in diesem Zusammenhang eben, wie ich finde, sehr deutlich gemacht –, und auch egal – und wird denselben europäischen Verfassungs- nicht darum, dass die Türkei ein wichtiger Partner ist. Es grundsätzen und europäischen Interessen verpflichtet ging auch im Rahmen der Assoziierung 1963 nicht da- sein wie alle anderen. Das gilt auch für die Kommissare, rum, dass die Türkei Vollmitglied wird. Es geht heute auch nicht darum, dass man über diese Frage nicht so (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Also doch ein oder so sprechen kann. türkischer Zuwanderungskommissar!) Es geht vielmehr darum, ob wir in der Europäischen egal aus welchem Land sie kommen, ob aus Bayern oder Union als Ganzer, in der Bundesrepublik Deutschland einem anderen Staat. und im Deutschen Bundestag noch die Freiheit haben, (Weitere Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller über diese Frage zum rechten Zeitpunkt in Ruhe ent- [CDU/CSU] scheiden und abwägen zu können, ob die Vollmitglied- schaft der richtige Weg ist oder andere Formen einer en- Ich sage Ihnen nochmals, Herr Müller: Das ist primi- gen Partnerschaft. Ohne Ihre Fantasie überstrapazieren tivstes Niveau. Sie verbreiten aus innenpolitischen zu wollen: Es besteht der Wunsch der Ukraine, in die Wahlkampfinteressen letztendlich nichts anderes als Europäische Union zu kommen. Der italienische Minis- Vorurteile. Das ist das Gegenteil von dem, was wir in terpräsident, der zu unserer Parteienfamilie gehört, hat Europa brauchen können. die Diskussion angeregt, ob nicht sogar Russland dazu- (B) kommen soll. Das alles sind Fragen – Sie haben sie nicht (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgeworfen –, die damit im Zusammenhang stehen. und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP] – Fortge- Wir können nicht akzeptieren, Herr Bundesaußenmi- setzte Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/ nister, dass Sie uns hier sagen, es bestehe eine Zwangs- CSU]) läufigkeit und jeder, der das infrage stelle, würde gegen irgendwelche Prinzipien, die in Europa gemeinsam ent- wickelt wurden, verstoßen. So klang es. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege (Joseph Fischer, Bundesminister: Das ist grotesk! Peter Hintze. – Gegenruf von der CDU/CSU: Genau so!) Wir möchten gerne, dass wir uns in der Europäischen (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ersparen Sie Union darüber verständigen, wie viel Erweiterung wir uns das! – Weiterer Zuruf von der SPD: Si ta- vertragen, was unsere inhaltliche Grundausrichtung ist cuisses! – Gegenruf des Abg. Dr. Gerd Müller und ob, wann und mit wem was in Zukunft verwirklicht [CDU/CSU]: Er hat noch gar nichts gesagt!) werden kann. Wir haben die große Frage zu beantwor- ten, was mit den Balkanstaaten wird; Thessaloniki hat Peter Hintze (CDU/CSU): sie aufgeworfen. Das alles sind Dinge, die noch zu ver- Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben in der De- kraften und zu überlegen sind. Deswegen bitten wir Sie, batte Niveau eingefordert. zu sachlichen Überlegungen zurückzukommen und hier keinen falschen Popanz aufzubauen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller Ich habe das in meiner Rede angesprochen: Es ist [CDU/CSU]: Er hat in die Schmutzkiste ge- nicht unproblematisch. griffen! – Dreckschleuder! – Dr. Uwe Küster (Otto Schily, Bundesminister: Sie stellen sich [SPD]: Schauen Sie sich einmal Ihre Finger gegen alle europäischen Regierungen!) an!) – Bitte? Wir bitten Sie herzlich darum, das von Ihnen eingefor- derte Niveau in dieser Aussprache einzuhalten. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Minister, Sie dürfen von der Regierungsbank nicht da- (Beifall bei der CDU/CSU) zwischenrufen!) 4346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Peter Hintze (A) – Das stimmt, aber weil der Einwand durchaus interes- Es geht darum, weiterhin die Entscheidung umzuset- (C) sant war, will ich doch darauf eingehen. Herr Schily, Sie zen, nach der die Kandidatenländer, die noch nicht bei- haben dazwischengerufen, wir würden uns hier gegen treten werden, also Bulgarien, Rumänien und die Türkei, alle europäischen Regierungen stellen. Wenn man mit einen Beobachterstatus haben. Aus diesem Beobachter- den Vertretern der europäischen Regierungen darüber status wird kein Automatismus entstehen. Insofern muss spricht, wie das in Helsinki beispielsweise bezüglich der man hier nicht über Automatismus reden. Es gibt ver- Beschlüsse über den Beitrittsstatus war, dann kann sich bindliche Zusagen aus Helsinki. Wenn die Türkei die niemand so recht daran erinnern, weil es im Schnellgang entsprechenden Entscheidungen nicht nur auf dem Pa- geschah. pier und mit der Mehrheit im Parlament trifft und sie umsetzt, dann werden die Verhandlungen mit ihr begon- (Joseph Fischer, Bundesminister: Oh, waren nen. Auf dem Gipfel in Kopenhagen wurde avisiert, dass Sie dabei?) es nach den Europawahlen in der zweiten Hälfte des Jah- – Doch, so war es. – Leider beruft sich hier jeder auf den res 2004 einen Bericht der Kommission geben soll. anderen und es tritt dann ein Automatismus ein, zu dem Das können Sie beklagen, beweinen oder beschreien. wir sagen: Es ist klüger, einen solche Schicksalsfrage Das sind die Fakten, die jeweils einstimmig beschlossen Europas in Ruhe zu beantworten und sich nicht auf einen wurden, und zwar nicht, weil sie vom Himmel herabfie- Automatismus zu stützen. len oder weil es in Helsinki ein Polarlicht namens Türkei Im Übrigen kann uns niemand das Denken und das gegeben hat und die Staats- und Regierungschefs nicht Entscheiden abnehmen. Wir erkennen sehr wohl, dass in wussten, was sie da in Kopenhagen und jetzt in Thessa- unserer Parteienfamilie dazu auch andere Auffassungen loniki beschlossen haben. Nein, dies geschah in vollem herrschen. Bewusstsein. Die Mehrheit der konservativen Staats- und Regierungschefs, die Ihnen nahestehen, waren ge- (Joseph Fischer, Bundesminister: So ist es!) nau dieser Überzeugung. Das ist absolut korrekt. Darüber sind wir uns im Klaren. Sie klagen hier die Bundesregierung an, wir seien schuld am Untergang des europäischen Abendlandes. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das darf doch nicht wahr sein, Herr Hintze. Herr Kollege Hintze, Sie haben für eine Kurzinter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vention drei Minuten Zeit. Sie sind schon deutlich darü- und bei der SPD – Abg. Dr. Friedbert Pflüger ber. [CDU/CSU] meldet sich zu einer Kurzinter- vention) (B) Peter Hintze (CDU/CSU): (D) Ja, das ist vollkommen zutreffend. Ich komme zum Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schluss. Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Entschul- Ich schließe damit, dass ich die Regierung auffordere, digung! Das geht nicht! – Joseph Fischer, auch in dieser Frage zur Sachlichkeit zurückzukehren Bundesminister: So ist das mit der Präsidentin! und uns das Niveau zu bieten, das Sie Ihrerseits von uns Sie entscheidet! – Dr. Gerd Müller [CDU/ eingefordert haben. CSU]: Es muss eine weitere Kurzintervention zugelassen werden!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ich wiederhole: Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Lötzsch. Herr Außenminister, Sie können auf diese Kurzinter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des vention antworten. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Das war eine gute Tat, Frau (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist aber nicht Präsidentin! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: zwingend!) Dann weisen wir die Vorwürfe des Außenmi- nisters mit Abscheu und Empörung zurück!) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Kollege Hintze, zur Richtigstellung: Diesem Be- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): schluss haben alle Staats- und Regierungschefs in Thes- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst- saloniki zugestimmt. Ich füge aus meiner parteipoliti- mals seit ihrem Bestehen droht die Europäische Union schen Sicht hinzu: Leider gehört deren Mehrheit in mit der Anwendung militärischer Gewalt gegen Län- Europa heute der EVP-Familie, also der konservativen der, die Abrüstungsverpflichtungen ignorieren und Mas- Familie, Ihrer Familie, an. senvernichtungswaffen verbreiten. (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Frau Präsiden- – Sie sagen: Gott sei Dank. – Dieser Beschluss war nur tin, endlich haben wir einmal eine interessante möglich, weil er einstimmig gefasst wurde, also mit den Debatte und dann wird sie abgewürgt! – konservativen Stimmen. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wozu ha- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4347

Dr. Gesine Lötzsch (A) ben wir denn ein Parlament? – Dr. Gerd Wir von der PDS halten die Einführung eines europäi- (C) Müller [CDU/CSU]: Das ist doch unglaub- schen Bürgerbegehrens für einen sehr wichtigen lich!) Schritt. Von daher ist es aus der Sicht der PDS nur folge- richtig, dass die Verfassung durch ein Referendum in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: allen Mitgliedstaaten der EU bestätigt werden muss. Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Es gibt keine Im Vorfeld des EU-Gipfels spielte auch die Zuwande- Kurzintervention auf eine Kurzintervention. rung nach Europa eine Rolle. Die Festlegung gemeinsa- mer Rechtsvorschriften in der Einwanderungs- und (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Aber ich wurde Asylpolitik ist in der EU seit 1999 vorgesehen. Doch persönlich angegriffen!) Regelungen sind bisher unter anderem an der deutschen Ich möchte nun darum bitten, dass man der Kollegin das Regierung gescheitert. In Großbritannien hatten einige Mikrofon und auch das Wort überlässt. Regierungsvertreter sogar die Idee, Asylsuchende vor den Grenzen der Europäischen Union in geschlossenen (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Mit Verlaub, Lagern zu internieren. Dieser Vorschlag ist – gelinde ge- Herr Fischer, Sie sind kein Edelmann!) sagt – nicht nur geschmacklos. Er zeigt auch, das die EU kein vernünftiges Konzept im Umgang mit Flüchtlings- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): strömen hat. Meine Herren, ich möchte Sie bitten, dass ich nun Wir kritisieren, dass die EU augenscheinlich nicht be- meine Rede fortsetzen darf. reit ist, mehr über die Ursachen dieser Flüchtlingsströme nachzudenken. Dies sind Krieg, wirtschaftlicher Nieder- Der Bundesaußenminister und auch andere Redner gang und Hunger. Die EU könnte die Ursachen zum Bei- der Grünen haben heute Morgen versucht, uns diesen spiel auch dadurch bekämpfen, dass sie sich gegen ihre Beschluss der EU-Außenminister als mit dem Völker- eigene Agrarlobby durchsetzen und die Einfuhren von recht und der Charta der Vereinten Nationen in Überein- landwirtschaftlichen Produkten aus den armen Ländern stimmung stehend zu erklären. Ich muss Ihnen sagen, Afrikas zumindest erleichtern würde. Herr Außenminister: Meine Kollegin Petra Pau und mich haben Sie damit nicht überzeugt. In Thessaloniki gab es einen Gegengipfel. In den Me- dien wurde vor allem über mehrere Hundert Jugendliche Der Konvent hat in Art. 3 Abs. 4 des Verfassungsent- berichtet, die Krawalle initiiert haben. Diese Krawalle wurfs die strikte Einhaltung des Völkerrechts und die überdeckten den friedlichen Protest von 50 000 Teilneh- (B) (D) Wahrung der Grundsätze der UN-Charta beschrieben. mern des Gegengipfels. Hunderte von Veranstaltungen, Ich denke, dazu sind auch Sie verpflichtet. Workshops, Seminare und Jugendcamps fanden statt. Es (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) wurde über ein soziales Europa diskutiert. Vorschläge, wie man auch ohne eine EU-Eingreiftruppe Konflikte in In dieser Charta ist schon die Androhung von militäri- dieser Welt lösen könnte, wurden gemacht. Doch die Re- scher Gewalt zur Lösung von Konflikten untersagt. gierungschefs wollten davon nichts hören. Nach diesen Beschlüssen der Außenminister muss man den Eindruck gewinnen, dass die Verfassung, bevor sie Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass überhaupt beschlossen wird, Makulatur ist. Das ist nicht diese Krawalle einigen Politikern sehr gelegen kamen, zu akzeptieren. hatten sie doch so die Möglichkeit, das Gespräch mit de- nen, die die Inhalte ihrer Politik kritisch betrachten, zu Im „Spiegel“ ist eine Umfrage zu genau diesem Be- vermeiden. schluss der Außenminister veröffentlicht worden: 80 Prozent der Befragten haben erklärt, dass sie diese Norman Mailer schreibt in seinem neuen Buch „Hei- von den EU-Außenministern verkündete Gewaltandro- liger Krieg: Amerikas Kreuzzug“: hungsstrategie strikt ablehnen. Nur eine verschwindende Demokratie ist etwas Lebendiges. Sie verändert Minderheit war dafür. Das sollte Ihnen zu denken geben. sich. Sie verändert sich unablässig. Demokratie darf Herr Bundesaußenminister, Sie haben damit und auch man nicht als etwas Selbstverständliches hinneh- mit Ihrer Erklärung von heute Morgen den Eindruck er- men. Sie ist immer in Gefahr. weckt, dass Sie sehr vieles unterschreiben würden, um bloß den begehrten Posten des europäischen Außenmi- Demokratie ist heute weniger durch Bin Laden als viel- nisters zu erhalten. mehr durch George Bush in Gefahr. Der Präsident der USA hat sein Land in einen dauerhaften Kriegszustand Über den Konvent wurden heute schon viele lobende geführt und die demokratischen Rechte seiner Bürgerin- Worte geäußert. Die Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne nen und Bürger dramatisch eingeschränkt. Wir haben Kaufmann von der PDS ist Mitglied dieses Konvents. darüber viel in den Zeitungen gelesen und Erfahrungsbe- Ich will sie mit Erlaubnis der Präsidentin kurz zitieren: richte gehört. Die wichtigsten Fortschritte sehe ich im Bereich der Europa darf sich auf diese fatale Logik nicht einlas- Demokratie. So sind das Europäische Parlament sen. Deshalb, aber nicht nur deshalb fordere ich die Bun- und auch die nationalen Parlamente deutlich ge- desregierung auf, die Zustimmung zu präventiven Ab- stärkt worden. rüstungskriegen, die in der EU besprochen wurden, 4348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) zurückzunehmen und nach europäischen Lösungen zu (Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Gerd (C) suchen, die außerhalb der Logik von George Bush lie- Müller [CDU/CSU]: „Volk“ zu „völkisch“? gen. Unglaublich!) Vielen Dank. – Herr Kollege Müller, ich sehe es so. Dass Sie es anders sehen, weiß ich. Ich halte das, was Sie sagen, im euro- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) päischen Sinne in der Tat für gefährlich. Damit müssen Sie leben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nächster Redner ist der Kollege Christoph Zöpel, DIE GRÜNEN) – Dr. Gerd Müller [CDU/ SPD-Fraktion. CSU]: Das ist unglaublich!) Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu der Konfe- Dr. Christoph Zöpel (SPD): renz mit einigen Staaten Südosteuropas in Thessaloniki. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Ich sage bewusst Südosteuropa, weil schon die Formu- und Kollegen! Es gibt Debatten, an deren Beginn man lierung „Westbalkan“ ein Teil westeuropäischen Hoch- richtig optimistisch ist, dass der Fortschritt der Aufklä- muts gegenüber diesen Staaten ist. rung und der Vernunft wirklich über die bösen Reflexe der europäischen Geschichte siegt. Zu diesen hoffnungs- (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) vollen Reden gehörte die des Kollegen Teufel. Herzli- Der Balkan ist ein Gebirge in Bulgarien. Kroatien als ein chen Dank dafür! Land des Westbalkans zu bezeichnen ist geographisch In der letzten halben Stunde wird man wieder resigna- etwa so richtig, wie Niedersachsen als ein Nordalpen- tiv, aber man soll das überwinden. land zu bezeichnen. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das war Der zweite Gesichtspunkt ist, dass von vielen Staaten doch sehr sachlich von uns!) gesprochen wird. Zumindest mit dem Verfassungsent- wurf haben wir jetzt die Europäische Union der Bürger. – Auch falsche Argumente können sachlich vorgetragen In der Europäischen Union der Bürger sind für mich alle werden. Menschen gleich: gleich vor dem Gesetz, gleich vor der europäischen Verfassung. Nur diese Gleichheit garan- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ist das ein tiert ihnen übrigens, dass sie ihre kulturellen Unter- Tabuthema?) schiede leben können. (B) Dann wird man wieder resignativ und sieht, dass die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Aufklärung weiter ihre Aufgaben hat. Ich mache eine DIE GRÜNEN) ganz persönliche Bemerkung: Die Aufklärung in der Formulierung Immanuel Kants in die Präambel zu Deswegen beachten Sie bitte, bevor wir über diese vielen schreiben, das wäre mein Vorschlag für einen Zusatz zur Staaten – geographisch auch noch falsch bezeichnet – europäischen Verfassung. sprechen, die Zahlen der Bürger. 380 Millionen Bürger hat die EU bereits. 70 Millionen sind jetzt dazugekom- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- men. Rumänien und Bulgarien werden 30 Millionen SES 90/DIE GRÜNEN) weitere europäische Bürger zu uns bringen. Deshalb möchte ich noch einmal daran erinnern, was (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das be- Europa ausmacht. Europa macht aus, zu überwinden, schlossen?) dass es Trennungen In den südosteuropäischen Staaten, über die wir reden, (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Richtig!) leben noch 25 Millionen Menschen. Das sind so viele aufgrund religiöser Gegensätze gibt, Einwohner, wie Nordrhein-Westfalen und Hessen zu- sammen haben. So viel zur Bevölkerungsdimension des (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Es gibt aber Problems. Unterschiede!) Es gibt historische Verpflichtungen, diese Staaten in dass es Trennungen aufgrund von Grenzverschiebungen die Europäische Union aufzunehmen. Diese Verpflich- durch Militärerfolge gibt, und schließlich, dass es Tren- tungen erfordern immer wieder zu prüfen, in welcher nungen durch den tragischsten Irrtum der europäischen Form vor allem die Staaten im Zentrum Europas im Gu- Geschichte gibt, nämlich dass völkische, rassistische, ten wie im Tragischen zum Schicksal anderer europäi- ethnische Kriterien in irgendeiner Weise natürliche scher Staaten beigetragen haben. Die Staaten, von denen Grenzen zwischen Menschen sein könnten. Dies zu ich spreche, wurden über Jahrhunderte von der Republik überwinden ist die Idee Europas. Venedig, einige Zeit von Frankreich, mehrere Jahrzehnte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von der habsburgischen Monarchie und – schon in der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tragischen Phase des 20. Jahrhunderts – von dem Mittel- FDP) ding zwischen Königreich und Republik, das Italien da- mals war, beherrscht. Diese Staaten sind historisch stär- Ich bin schon sensibel, wenn ich das Wort Volk höre. Es ker in Europa integriert als manche Staaten am hat seine Assoziation zu „völkisch“. nördlichen oder westlichen Rand. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4349

Dr. Christoph Zöpel (A) Die bestehenden Probleme lassen sich anhand der lungsfähigkeit gelernt. Die Vereinigten Staaten haben (C) Kopenhagen-Kriterien festmachen. Erlauben Sie mir uns dazu veranlasst. Wir haben eines gelernt: Außenpoli- in diesem Zusammenhang eine prinzipielle Bemerkung. tische Handlungsfähigkeit verlangt die territoriale Inte- Es kann keinen Zweifel daran geben, dass diese Krite- grität dessen, der handelt. Ich habe aus den vergangenen rien auf dem gesamten Territorium der Europäischen Monaten die Lehre gezogen, dass die Europäische Union Union gelten müssen. die vollständige Integration des Territoriums, auf dem der Kosovo-Krieg ausgetragen wurde, braucht, um au- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ßenpolitisch voll handlungsfähig zu werden. Alle Si- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) cherheitspobleme in diesem Teil Europas sind Probleme Sie werden aufgrund der Verfassung auch auf EU-Ebene der inneren Sicherheit in Europa. Wir müssen nieman- gelten. Wie Günter Verheugen immer wieder betont hat, den bitten, uns dabei zu helfen. war das bisher nicht der Fall. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie die Krite- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rien zu verstehen sind. Dienen sie zur Abwehr, mit dem Diese Erkenntnis ist für mich in dieser historischen Situ- Argument: Weil sie nicht gelten, könnt ihr nicht kom- ation der entscheidende Grund, mich dafür einzusetzen, men? Oder sind sie ein Instrument, mit dem weitere dass wir die Mitgliedschaft der fünf südosteuropäischen Staaten in die Europäische Union hineingeholt werden Staaten ohne Zögern befördern. sollen? Im Interesse der Menschen in den betreffenden Staaten und in der Europäischen Union befürworte ich die zweite Auslegung. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Zöpel, schauen Sie bitte einmal auf die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Uhr! DIE GRÜNEN) Ein immer wieder vorgebrachter Einwand lautet: In Dr. Christoph Zöpel (SPD): diesen Staaten herrschen Schmuggel, Drogenhandel und Frau Präsidentin, ich danke für den Hinweis und Kriminalität. – Schmuggel funktioniert aber vor allem komme zu meinem letzten Satz. dort, wo es überflüssige Grenzen gibt. Er wird einge- stellt, wenn diese Grenzen wegfallen. Wirtschaftskrimi- Es gehört zu den Ritualen der europäischen Diploma- nalität auf niedriger Stufe herrscht dort, wo es wegen tie, immer wieder mitzuteilen: Wir nennen kein Datum. mangelnder Integration in übergeordnete Märkte zu we- Das hat einen funktionellen Sinn, ist aber manchmal nige wirtschaftliche Chancen gibt. Die Lösung des Pro- auch überflüssig. Zumindest ein Parlament sollte manch- (B) blems im Interesse der Menschen dort und in der Euro- mal den Mut haben, Daten zu nennen, vielleicht auch (D) päischen Union besteht in der Integration. Deshalb muss symbolische Daten. Ich selber glaube, dass wir Europäer schnell gehandelt werden. uns vornehmen sollten – das müssen wir auch wollen –, dass im Jahr 25 nach 1989, dem Jahr der europäischen Ein weiterer Punkt sind die Statusfragen im Zusam- Freiheit, alle europäischen Länder der Europäischen menhang mit dem Kosovo und mit Albanien. Auch da- Union angehören. Ich setze nicht nur für mich, sondern rüber führen wir absurde Debatten. Selbst wenn alle Al- auch für viele andere das Ziel: 2014 muss das geschafft baner zusammen einen Staat bilden würden – was die sein. politisch Verantwortlichen nicht wollen –, dann hätte ein solches Großalbanien Millionen Bürgerinnen und Bür- Herzlichen Dank. ger weniger als Bayern. Über ein Großbayern wird aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meines Wissens nicht debattiert. DIE GRÜNEN) (Heiterkeit bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Fatos Nano, der albanische Ministerpräsident, spricht zu Recht von fünf Staaten mit sieben Hauptstädten. Das Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention zuerst illustriert das Problem. Ich habe dazu einen klaren Vor- dem Kollegen Pflüger und dann dem Kollegen Dr. Gerd schlag: Wir sollten einen Beitrittsvertrag für diese Staa- Müller. Auf diese beiden Kurzinterventionen wird der ten entwerfen. Dann wird nämlich deutlich, was auf bila- Herr Kollege Zöpel zusammenfassend antworten. teraler Ebene – zum Beispiel zwischen Serbien und Montenegro – nicht mehr geregelt werden muss, weil ein Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Großteil der Statusfragen bereits durch das europäische Herr Kollege Zöpel, zuerst eine kurze Vorbemerkung: Recht geregelt wird. Das würde diesen Vorgang erkenn- Wenn Sie mit dem Ausdruck „deutsches Volk“ nichts an- bar beschleunigen. fangen können und dabei sofort an „völkisch“ denken, dann ist das Ihr Problem. Wir teilen diese Sichtweise (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung zu dem euro- päischen Interesse an der Integration der erwähnten Es gibt ein deutsches Volk und zu ihm bekennen wir uns. 25 Millionen Menschen. In den vergangenen Wochen Das hat mit völkischen Traditionen nichts zu tun. Da gibt haben wir wieder viel über außenpolitische Hand- es einen großen Unterschied. 4350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Friedbert Pflüger (A) Es geht aber eigentlich um Folgendes: Sie haben sich Asyl begehren, Verhandlungen über einen EU-Beitritt (C) – wie einige Ihrer Vorredner – erneut darüber aufgeregt, aufzunehmen und ein solches Land vollberechtigt an den dass wir in sachlicher Art und Weise die Frage gestellt Regierungskonferenzen zu beteiligen ist ein Fehler. Das haben, ob es klug sei, sich schon jetzt auf eine Rutsch- sagen wir in aller Freundschaft zu den Türken und in bahn in Richtung Vollmitgliedschaft der Türkei zu be- dem vollen Bewusstsein, dass die Türkei auch in Zu- geben. Das hat nichts mit Wahlkampf und antieuropäi- kunft ein wichtiger Partner für uns sein wird. schen Gefühlen zu tun. Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass Europa dazu dient, Grenzen und Trennendes zu (Beifall bei der CDU/CSU) überwinden sowie Frieden zu schaffen. Aber: Gilt das für alle? Man muss die Frage stellen dürfen, wo die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Grenzen Europas liegen. Müssen wir nicht genau dann, Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerd Müller. wenn wir wollen, dass Europa handlungsfähig wird, ganz bestimmte Kriterien an jedes einzelne Land anle- gen? Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Es gibt die Kopenhagener Kriterien von 1993. Eines Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der dieser Kriterien – es wird sehr oft unter den Teppich ge- Kollege Pflüger hat unsere Position zur Türkei darge- kehrt – ist die Aufnahmefähigkeit der EU. Wir haben legt. gerade beschlossen, zehn neue Länder in die EU aufzu- Der Bundesaußenminister hat diese Frage im Europa- nehmen. Das ist eine gewaltige Aufgabe von historischer ausschuss, aber auch in der Öffentlichkeit einmal abwä- Dimension. Meine Fraktionskollegen und ich waren die gend behandelt. Als es vor einem Jahr um die Frage Ersten, die gesagt haben: Dieser historischen Aufgabe „Beitritt der Türkei zur Europäischen Union – ja oder stellen wir uns. Aber ist es klug, bevor der jetzt begin- nein?“ ging, kam er selbst zu der Einschätzung: nende Erweiterungsprozess abgeschlossen ist, bereits 49 Prozent sprechen für den Beitritt, 51 Prozent dage- eine neue große Aufgabe anzugehen? Darüber kann man gen. Mittlerweile hat er sich auf die Seite derjenigen ge- unterschiedlicher Meinung sein. Ich räume ein, dass es schlagen, die dafür sind, den Beitritt der Türkei massiv Argumente dafür gibt. Wir haben aber auch gehört, dass zu befördern. Herr Zöpel, das zeigt aber doch auch, dass Herr Fischer gegenüber dem dänischen Außenminister diejenigen, die gegen den Beitritt der Türkei sind, nicht zugegeben hat, dass es Argumente dagegen gibt. Der dä- ganz falsch liegen können, wenn Sie, Herr Zöpel, vor nische Außenminister hat uns neulich mitgeteilt, Herr völkischen oder nationalen Gefahren warnen. Ich gehöre Fischer habe an einem Abend drei verschiedene Meinun- zu denjenigen, die zum Beitritt der Türkei zu diesem gen zu diesem Thema geäußert. Das macht deutlich, wie Zeitpunkt Nein sagen. Der Beitritt der Türkei wird jetzt schwierig dieses Thema ist. Deshalb bitte ich Sie, uns (B) unumkehrbar eingeleitet. Die Türkei kann dann selbst- (D) hier nicht zu verunglimpfen und zu behaupten, wir woll- verständlich genauso wie Griechenland den Präsidenten ten antieuropäische Gefühle hervorrufen oder die Türkei der EU-Kommission oder einen EU-Kommissar – da- ausgrenzen. durch, dass unter anderem Deutschland auf den Posten (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: eines Kommissars verzichtet, werden Plätze frei – stel- Ja!) len. Warum nicht? In der Türkei gibt es hoch qualifi- zierte Personen. Wir stellen lediglich die Frage, ob eine so große EU handlungsfähig sein kann und ob wir uns selbst und der Wir, CDU und CSU, haben den jetzt anstehenden Bei- europäischen Idee einen Gefallen tun, wenn wir den Ein- tritt der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vorbe- druck vermitteln, wir könnten jedes Land aufnehmen, reitet. Es war , der die Osteuropäer erstmals und zwar allein aufgrund des wirklich gut gemeinten zum EU-Gipfel eingeladen hat. Damit hat er ihrem Bei- Wunsches, zu allen Staaten gute Beziehungen zu haben. tritt den Weg bereitet. Zur dynamischen Gestaltung des vor uns liegenden Prozesses sagen wir uneingeschränkt Die Kollegin Höfken hat vorhin behauptet, wir hätten Ja. der Türkei mit dem Assoziierungsvertrag ein Beitritts- versprechen gegeben. Ich mache darauf aufmerksam, Ich komme auf ein anderes Reizthema zu sprechen. dass dieser Vertrag mit der EWG, also mit einer Wirt- Sie wollen das Volk ausschließen. schaftsgemeinschaft, geschlossen worden ist. Inzwi- schen – darüber reden wir doch und hier sind wir in vie- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unerhört!) len Punkten einer Meinung – gibt es aber eine EU und Sie wollen das Parlament an der Diskussion über diese eine EU-Verfassung. Das ist eine ganz andere Form der zentralen Fragen nicht beteiligen. Sie wollen, dass politi- Integration. Über die Frage, ob sich die Aufnahme der sche Entscheidungen im Hinterzimmer getroffen wer- Türkei damit verträgt, sollte jedenfalls mit der Bevölke- den, also Geheimdiplomatie. Wir ratifizieren nächste rung diskutiert werden, bevor wir uns auf eine Rutsch- Woche das Gesetz, das den Beitritt von zehn mittel- und bahn begeben. osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union vor- Ich habe gerade zur Kenntnis genommen, dass der sieht. Die Bundesregierung und die Regierungsfraktio- Kalif von Köln nicht an die Türkei ausgewiesen werden nen sind nicht bereit, zuzugestehen, dass dieser histori- darf, weil ihm dort angeblich Folter droht. Zum jetzigen sche Schritt einer Zweidrittelmehrheit des Deutschen Zeitpunkt mit einem Land, in dem eventuell Folter droht Bundestags bedarf. Wir bestehen natürlich darauf, dass und aus dem Menschen kommen, die in Deutschland diese Ratifikation mit einer Zweidrittelmehrheit erfolgt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4351

Dr. Gerd Müller (A) Auch wir wollen Ja zum Beitritt der mittel- und osteuro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) päischen Staaten zur Europäischen Union sagen. Ich stehe in der preußischen Staatstradition. Die Preu- Wir müssen den Blick auch darauf richten, welche ßen wären nie auf die Idee gekommen, von einem preu- Probleme zu lösen sind. Stichwort: Agrar/Finanzen. Es ßischen Volk zu reden. Preußen war bekanntlich derje- geht darum, die Frage zu beantworten, wie wir die mit nige Staat in Europa, der am langsamsten geschossen diesen Problemen verbundenen Herausforderungen hat. – insbesondere im Hinblick auf den Arbeitsmarkt – be- wältigen. Das interessiert natürlich unsere Bürger. Wir (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Mit dieser wollen ganz aktiv mitgestalten. Meinung stehen Sie allein in Europa! Fragen Sie einmal die Franzosen!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) – Ob ich damit so allein stehe, bezweifle ich. Ich be- Außerdem stellt sich die Frage – Kollege Pflüger hat schäftige mich viel mit Preußen. Es gibt viele, die er- auf diesen Punkt in dieser Debatte zu Recht hinge- kannt haben, dass Vielvölkerstaaten wesentlich friedli- wiesen –: Wo ist das Ende der Erweiterung? Wir sind der cher als andere waren. Meinung, dass es noch andere Möglichkeiten als die Vollmitgliedschaft gibt. Deutschland ist ein Freund und Herr Kollege Pflüger, es ist hochinteressant, sich da- ein Partner der Türkei. Wir sind für eine privilegierte mit auseinander zu setzen, was Franzosen unter „Na- Freundschaft mit der Türkei und mit vielen anderen tion“ verstehen; Staaten. Die EU-Kommission ist da wesentlich weiter; sie hat eine sehr positive Strategie entwickelt. Auf die- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sagen Sie, sem Gebiet müssen wir einmal kreativ werden. was die Griechen darunter verstehen!) denn das unterscheidet sich völlig von dem, was viele Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Deutsche damit verbinden – das zeigt die Diskussion Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass eine Kurz- über das Staatsbürgerschaftsrecht –: nämlich die deut- intervention drei Minuten dauern soll! sche Abstammung. Es gehört zum tragischen Versagen der deutschen Konservativen, 200 Jahre gebraucht zu haben, um die Vernunft des französischen Staatsbürger- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): schaftsrechts anzuerkennen. Es waren Sozialdemokraten Der Bundesaußenminister ist es eben nicht. Er ist ein und Grüne, die das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht re- Medienmensch, er ist plakativ. Er ist ein Gaukler, der auf formiert haben. der europäischen Ebene in den Medien brilliert; er bril- (B) liert aber nicht durch seine Sachkompetenz. (Beifall bei der SPD) (D) Danke schön. Wer immer noch in diesen Kategorien denkt, hinkt der Französischen Revolution 200 Jahre hinterher. Denken (Beifall bei der CDU/CSU) Sie einmal darüber nach!

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Türkei. Nachdem Sie mich darauf angesprochen Herr Kollege Zöpel, Sie haben das Wort zur Erwide- haben, obwohl ich gar nicht auf die Türkei eingegangen rung. war, habe ich jetzt die große Chance, etwas zur Türkei zu sagen. Ich halte es für offen, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden wird, und zwar deshalb, Dr. Christoph Zöpel (SPD): weil ich heute nicht weiß, ob die große Mehrheit des po- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen litischen Systems und der Bevölkerung in der Türkei den und Kollegen! Ich bin auf zwei Zusammenhänge ange- Kriterien, die eben genannt habe – Europa dient der reli- sprochen worden. Auf einen dieser beiden Zusammen- giösen Vielfalt, der kulturellen und sprachlichen Vielfalt, hänge war ich gar nicht eingegangen. Das kann ich aber den Entwicklungsmöglichkeiten jeder sprachlichen und jetzt tun. kulturellen Minderheit und dem endgültigen Überwin- den der Grenzen –, genügen wird. Die Türkei ist auf dem Zunächst möchte ich etwas zu meiner Skepsis gegen- Wege. Die Türkei war aus tragischen Gründen an den über dem Begriff Volk sagen. Ich kenne in der Tat nur Irrweg der nationalen Abgrenzung – aus Europa impor- zwei vernünftige Kriterien für die Abgrenzung zwi- tiert – in einer Weise gebunden, dass sie ihn bisher nicht schen Menschen: die Sprache und die Staatsangehörig- so überwunden hat wie die meisten Europäer. Der Dis- keit. Die sprachliche Trennung wollen wir durch bilingu- kussionsprozess ist im Gange. alen, ja multilingualen Unterricht überwinden. Die Trennung in unterschiedliche Staatsangehörigkeiten in Wir Europäer sollten mit der Türkei allmählich so Europa wollen wir durch eine europäische Staatsbürger- umgehen wie sonst mit unserer Geschichte. Da wird es schaft, die wir in diesem Verfassungsentwurf festgelegt ganz merkwürdig. haben, aufheben. Wenn die sprachliche Trennung und die Trennung durch unterschiedliche Staatsbürgerschaf- ten aufgehoben sind, dann gibt es meiner Meinung nach Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: keine nachvollziehbaren Kriterien, Völker voneinander Herr Kollege Zöpel, Sie haben nur drei Minuten. Sie abzugrenzen. können nicht mehr lange Ausführungen machen. 4352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Dr. Christoph Zöpel (SPD): fahren direkt auf EU-Ebene mitzuwirken. Wenn die (C) Frau Präsidentin, ich gehe auf zwei relativ ausführ- Europäische Union gegen das Subsidiaritätsprinzip liche Kurzinterventionen ein, die die Präsidentin, die vor verstößt, werden Bundestag und Bundesrat künftig je- Ihnen die Sitzung geleitet hat, in ihrer Großmut zugelas- weils für sich Klage beim Europäischen Gerichtshof er- sen hat. heben können. Diese Ergebnisse des Konvents begrüßen wir ausdrücklich. Sie sind sicherlich eine bedeutende ( [CDU/CSU]: Die Frau Aufwertung auch für den Deutschen Bundestag. Präsidentin wird nicht kritisiert!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme aber zum letzten Satz. Nach dem vorliegenden Entwurf des Verfassungsver- Europa muss darüber nachdenken, in welchen Phasen trags werden aber auch bestehende Rechte des Bundes- und Zusammenhängen die Türkei schon in die europäi- tags massiv beschnitten. Ich will mich hier auf nur ein sche Geschichte hineingezogen wurde. Das alles sollte Beispiel beschränken, und zwar auf die Bestimmungen man mit reflektieren. Wenn man das tut, kommt man über die Finanzmittel der EU: Der Entwurf des Kon- nicht auf Abgrenzungskriterien wie die, die ich kritisiert vents sieht vor, dass nur noch die Obergrenze für die Fi- habe. nanzmittel der Union durch einen einstimmigen Be- schluss des Ministerrates und nach Zustimmung der Die Türkei ist in der ersten Hälfte des 16. Jahrhun- Mitgliedstaaten festgelegt wird. Alle anderen Beschlüsse derts durch den allerchristlichsten König von Frankreich über die Finanzmittel können dagegen künftig im Minis- in die europäische Geschichte gezogen worden, der terrat mit einfacher Mehrheit und ohne jede Beteiligung nämlich gestützt auf das Bündnis mit dem Osmanischen von Bundestag und Bundesrat getroffen werden. Reich die deutsche Kaiserkrone erlangen wollte. So weit reicht das zurück. Wir sollten all das berücksichtigen, Das bedeutet für Deutschland: Wenn der Ministerrat die Kriterien, die ich eben genannt habe, im Auge haben, etwa den Mehrwertsteueranteil verändert, den alle Mit- mit der Türkei über religiöse, ethnische und kulturelle gliedstaaten an die Europäische Union zahlen, dann Vielfalt sprechen und sie dazu auffordern, den National- müssen wir die Verteilung des Umsatzsteueraufkom- staat in Europa zu überwinden. Dabei sollten wir uns be- mens zwischen Bund und Ländern zwingend neu regeln. wusst machen, was wir Europäer mit der Türkei schon Denn nach unserem Grundgesetz wird das Umsatzsteu- alles angestellt haben. Zum Beispiel hat man sich mit ihr eraufkommen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden entgegen religiösen Gründen machtpolitisch verbunden. so aufgeteilt, dass Bund und Länder gleichmäßig An- Andere vergessen ihre Geschichte oft viel langsamer als spruch auf die Deckung ihrer notwendigen Ausgaben ha- wir deutsche Europäer. ben. Wenn jetzt die notwendigen Ausgaben des Bundes (B) steigen, weil der Mehrwertsteueranteil, den der Bund an (D) Herzlichen Dank. die EU abzuführen hat, erhöht wird, dann müssen auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Länder diese zusätzliche Belastung mittragen, weil DIE GRÜNEN) nur so die Deckungsquoten von Bund und Ländern wie- der in Ausgleich zu bringen sind. Das heißt also: Ein Be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schluss über die Finanzierung der EU kann uns zu einer Neuregelung der innerstaatlichen Finanzverteilung Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas zwingen. Hierfür haben wir dann ein Gesetz im Bundes- Silberhorn. tag zu beschließen, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Und dafür soll ein Beschluss des Ministerrates Thomas Silberhorn (CDU/CSU): genügen, der ohne jede Beteiligung von Bundestag und Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bundesrat zustande kommt und gegebenenfalls sogar ge- Der geradezu irrwitzige Beitrag des Kollegen Zöpel – er gen die Stimmen der Bundesrepublik als größtem Netto- hat mit dem Wort Volk schon deshalb Probleme, weil er zahler innerhalb der Europäischen Union? Das ist gera- es offenbar mit völkischen Traditionen in Verbindung dezu absurd. bringt – zeigt, dass wir uns um etwas mehr Differenzie- Es ist ganz offensichtlich so, dass diese gravierenden rung in der Debatte bemühen müssen. Ich lade Sie herz- Auswirkungen von der Bundesregierung überhaupt nicht lich dazu ein, bedacht worden sind. Jedenfalls will ich es ihr zugute hal- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten, dass sie dem nicht mit Bedacht zugestimmt hat. Das macht die Sache allerdings auch nicht besser. Ich darf Sie wenn ich jetzt zum Thema des EU-Verfassungsvertrags deshalb damit vertraut machen, dass Sie für solche zurückkehre und einen spezifischen Aspekt heraus- Schnitzer, soweit sie nicht noch repariert werden können, greife, der meines Erachtens bislang noch nicht die ge- einen Preis werden zahlen müssen. Dieser Preis wird da- botene Aufmerksamkeit findet, nämlich die Frage, wel- rin bestehen, dass wir eine erhebliche Verstärkung der che Rolle wir als Deutscher Bundestag in der Beteiligung von Bundestag und des Bundesrates in Europäischen Union künftig noch spielen werden. Angelegenheiten der Europäischen Union fordern. Der Konvent hat hier durchaus Fortschritte erzielt, die Wie unsere Vorschläge im Detail aussehen werden, unsere Position stärken, jedenfalls soweit es um die Beach- wird maßgeblich davon abhängen, in welchem Umfang tung des Subsidiaritätsprinzips geht. Ich nenne das Früh- Sie unsere Anliegen im Konvent mit unterstützen und in warnsystem, das es uns ermöglicht, an Rechtssetzungsver- der Regierungskonferenz durchsetzen. Selbstverständ- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4353

Thomas Silberhorn (A) lich erwarten wir vom Bundesaußenminister, dass er un- hier durchaus um die Frage der Identität Europas. Auch (C) sere inhaltlichen Forderungen mindestens mit der glei- die Debatte über die Türkei hat wesentlich damit zu tun. chen Verve verfolgt, mit der er nach dem Amt des In einem Punkt stimme ich dem Kollegen Zöpel ganz europäischen Außenministers trachtet. besonders nachdrücklich zu: Auch ich weiß nicht, ob die Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, Türkei dieses Ziel erreichen wird und ob es die Mehr- dass es im gemeinsamen Interesse aller Abgeordneten heit in die Türkei erreichen will. Das ist die zentrale des Deutschen Bundestages liegt, dass wir bei EU-Ange- Frage, die wir stellen müssen. Selbstverständlich ist es legenheiten künftig wirkungsvoller als bisher mitwirken richtig, dass man nicht mit einem Land Verhandlungen können. beginnen kann, in das man niemanden zurückschicken kann, weil man Angst haben muss, dass er dann Opfer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) politischer Verfolgung wird. Die Todesstrafe ist zwar in- Ich meine, dass wir auch diesen Schritt gehen müssen, zwischen in Friedenszeiten abgeschafft, aber gefoltert wenn wir die Europäische Union demokratischer und wird weiterhin. Aber wer sagt denn, dass dies Ende transparenter gestalten wollen. nächsten Jahres noch so ist? Herzlichen Dank. Natürlich gehört dazu, dass in diesem Land andere gesellschaftliche Kräfte, übrigens auch christliche Kir- (Beifall bei der CDU/CSU) chen, frei agieren können. Im Augenblick ist die Türkei auch in diesem Punkt noch weit davon entfernt, den Kri- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: terien für die Aufnahme in die Europäische Union zu ge- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel nügen. von der SPD. Gleichzeitig müssen wir die zurzeit dort statthaben- den Prozesse beachten. Wer von uns hätte sich träumen Markus Meckel (SPD): lassen – der Bundesaußenminister hat es vorhin schon Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und erwähnt –, dass in der Türkei eine solche Debatte statt- Kollegen! Wir merken in dieser Debatte, dass Europa ein findet, wie sie zurzeit über die Rolle des Militärs geführt spannendes Thema ist, und es bleibt spannend. In den wird? Wir haben immer gesagt: Es ist schon komisch, letzten 13 Jahren, in denen ich die Ehre hatte, diesem dass man ein Militär braucht, um Demokratie zu sichern. Hohen Hause anzugehören, und in denen ich die Ent- Jetzt wird als Teil demokratischer Reformen die Rolle wicklung nach den Umbrüchen von 1989/90 von Beginn des Militärs neu diskutiert. Diesen Prozess sollten wir an miterlebt habe, hatten wir immer wieder intensive mit allen Kräften unterstützen. Es ist gut, dass die Euro- (B) Debatten über Europa. päische Union dies tut; denn es wird unser aller Vorteil (D) sein, wenn es der Türkei gelingt, auf diesem Weg erfolg- Es gab diejenigen, die sich für die Erweiterung ein- reich zu sein. Davon werden auch wir in starkem Maße setzten und bezüglich der Vertiefung skeptisch waren. profitieren. Anders herum gab es eine ganze Menge derer, die sag- ten: Wir müssen erst einmal Europa im Westen bauen, Zu Südosteuropa hat Kollege Zöpel bereits das dann erst können wir die anderen hineinlassen, sonst ge- Wichtigste gesagt: Es muss unser Interesse sein, diesen hen die nicht mit uns auf dem Weg, den wir in Europa 25 Millionen Menschen zu helfen, so schnell wie mög- gehen wollen. Wir Deutschen – das kann ich wohl par- lich integriert zu werden. Wir sollten eben nicht abwar- teiübergreifend feststellen – waren uns tendenziell im- ten und ihnen sagen: Seht einmal zu, dass ihr eure Pro- mer einig, dass beides zu erfolgen hat. Dass diese Pro- bleme regelt! Wenn ihr den Kriterien irgendwann zesse parallel verlaufen sind, ist nicht zuletzt ein genügt, könnt ihr auch Mitglied werden. – Dies ist auch wichtiger Erfolg aller Bundesregierungen seit 1990. für uns ein zentrales Anliegen. Viele Probleme in dieser Dass wir an diesem Tag beides zusammen debattieren, Region können auf dem Weg der Integration gelöst wer- eine europäische Verfassung und die Erweiterung, hätte den, aber das ist natürlich kein Automatismus. sich vor einiger Zeit niemand träumen lassen. So war es Als weiteren wesentlichen Punkt spreche ich die vor wenigen Jahren ein Erlebnis, als der französische Frage der Nachbarschaften der Länder der Europäischen Präsident im Namen Frankreichs in diesem Hause erst- Union an. Die Kommission hat hierzu am 11. März ein malig von einer europäischen Verfassung sprach. Damit Papier vorgelegt, das ich für ausgesprochen wichtig halte wurde die Möglichkeit eröffnet, den Weg zu beschrei- und mit dem wir uns beschäftigen sollten; denn sie ver- ben, den wir jetzt miteinander gegangen sind. sucht, genau diese Nachbarschaften stärker zu struktu- Dann gibt es die Staaten, in denen nicht der Westen rieren, deutlich zu machen, dass wir als Europäische gesiegt hat, sondern in denen Demokratie und Freiheit Union strukturierte Beziehungen zu den Nachbarn brau- siegten und die sich auf einen langen, schwierigen Weg chen. Leider hat sie den Südkaukasus vergessen. Glück- eingelassen haben, der nicht nur ihre Wirtschaft, sondern licherweise ist dies bei dem Ministertreffen im Juni und alle Bereiche ihrer Gesellschaft verändert hat, hin zu die- auch jetzt beim Gipfel angesprochen worden. Natürlich sem institutionalisierten Europa, das wir jetzt gemein- gehört der Südkaukasus, gehören Georgien, Aserbaid- sam gestalten. Das war kein Weg zurück nach Europa; schan und Armenien zu den Nachbarschaftsregionen, die denn Prag, Warschau oder Budapest, aber auch Bukarest wir stabilisieren müssen. Übrigens müssen wir auch in oder Riga gehörten immer zum wesentlichen Bestand Gesprächen mit Russland deutlich machen, dass es eine Europas; dies war von Beginn an klar. Insofern geht es wesentliche Verantwortung hat, zur Stabilisierung dieser 4354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Markus Meckel (A) Region beizutragen. Dafür ist ein breites Spektrum an In- Der Entschließungsantrag auf Drucksache 15/1212 (C) strumentarien vorgesehen, bis hin zu Finanzhilfen, die soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für angeboten werden können. Ich halte es für wesentlich, die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur unser Verhältnis zu den Nachbarn im Norden Afrikas, im Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Nahen Osten und eben im Osten intensiv zu gestalten. Rechtsausschuss und den Ausschuss für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die – Vielen Dank. Überweisung so beschlossen. Als einen weiteren zentralen Punkt spreche ich die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik an. Ich be- den Drucksachen 15/1100, 15/1200 und 15/1112 an die nutze jetzt bewusst diese Reihenfolge der Begriffe, weil in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- ich es für sehr wichtig halte, dass wir die sicherheitspoli- schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Nein. tische Dimension klarer gestalten – dies betrifft Fragen Dann sind die Überweisungen so beschlossen. bis hin zu unserem verteidigungspolitischen Konzept – und dazu gehören Fragen wie diese: Inwieweit sind wir Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- bereit, in Europa arbeitsteilig voranzugehen? schusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/1138 zu dem Antrag der Frak- Dies ist nicht nur eine Frage der Finanzen, die wir für tion der CDU/CSU mit dem Titel „Ein Verfassungsver- das Militär aufbringen müssen – das ist nötig und wird in trag für eine bürgernahe, demokratische und handlungs- den nächsten Jahren noch nötiger sein –, sondern vor al- fähige Europäische Union“. Der Ausschuss empfiehlt, lem eine Frage der Strukturen. Es kommt darauf an, dass den Antrag auf Drucksache 15/918 abzulehnen. Wer nicht mehr jeder alles alleine macht, sondern dass wir als stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus- Europäer gemeinsame Strukturen, ein gemeinsames mi- ses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- litärisches Vorgehen ansteuern und damit partnerschafts- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fähig im Hinblick auf die Vereinigten Staaten werden. fraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ich denke, das ist unser gemeinsames Ziel. Enthaltung der FDP angenommen. Das heißt, dass Sicherheitspolitik zwar auch militä- Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Ange- risch, aber in erster Linie politisch und ökonomisch agie- legenheiten der Europäischen Union auf Drucksache ren muss. Weltweit kann und sollte neben den Vereinig- 15/1139 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem ten Staaten nur die Europäische Union in der Außen- Titel „Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur und Sicherheitspolitik tätig werden. Dafür müssen wir Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (B) (D) das gesamte Instrumentarium der Einzelstaaten besser (ESVU) über den europäischen Verfassungskonvent vo- koordinieren und kohärenter gestalten. Unsere Außenbe- rantreiben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf ziehungen müssen von einem gemeinsamen politischen Drucksache 15/942 abzulehnen. Wer stimmt für diese Willen getragen sein. Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Dies ist der wesentliche Erfolg, den wir mit dieser der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen Verfassung und einem europäischen Außenminister er- Abgeordneten gegen die Stimmen der FDP bei Enthal- zielen werden. Wir sollten alles tun, um diese Institution tung der CDU/CSU angenommen worden. zu stärken, zu der dann selbstverständlich auch Diplo- maten gehören. Alles andere wäre irrwitzig. Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Ich danke Ihnen und wünsche uns einen guten Erfolg Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäfts- auf dem Weg in Europa. ordnung auf Drucksache 15/1163 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung mit dem Titel „Vermerk des (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ Präsidiums für den Konvent; Organe – Entwurf von Ar- DIE GRÜNEN und der FDP – Dr. Friedbert tikeln für Titel IV des Teils 1 der Verfassung“. Kann ich Pflüger [CDU/CSU]: Das war keine schlechte davon ausgehen, dass Sie den Bericht zur Kenntnis ge- Rede!) nommen haben? – Gut. Wir kommen zum Zusatzpunkt 2. Interfraktionell Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1207 Ich schließe damit die Aussprache. an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen. Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 6 auf: Drucksache 15/1213. Wer stimmt für diesen Entschlie- ZP 3 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/ ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koa- zur Modernisierung des Arbeitsrechts litionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der (ArbRModG) CDU/CSU bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Ab- geordneten angenommen worden. – Drucksache 15/1182 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4355

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Überweisungsvorschlag: Wir müssen den Teufelskreis aus schwachem Wachs- (C) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) tum und hoher Arbeitslosigkeit endlich durchbrechen. Innenausschuss Rechtsausschuss Die außerordentlich hohe und verhärtete Arbeitslosigkeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist zu einer Wachstumsbremse geworden. Sie bremst die Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Konsummöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und Haushaltsausschuss damit die Produktionskapazitäten und sie beraubt uns ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD nicht zuletzt, sondern zuallererst unserer Möglichkeiten, und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- die wir aufgrund der Qualifikation der Menschen in die- brachten Entwurfs eines Gesetzes zu Reformen sem Land haben. am Arbeitsmarkt Seit über zwei Jahrzehnten registrieren wir in Deutschland Unterbeschäftigung in Millionenhöhe. – Drucksache 15/1204 – Wenn man die so genannte stille Reserve einrechnet, von Überweisungsvorschlag: der Sachverständige sprechen, dann muss man sagen, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) dass es 6 Millionen Menschen gibt, die zwar erwerbsfä- Innenausschuss Rechtsausschuss hig sind, aber außerhalb des Arbeitslebens stehen. Wenn Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend man diese Zahl zu den 37 Millionen bis 38 Millionen Er- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung werbstätigen ins Verhältnis setzt, dann wird klar, wie Haushaltsausschuss dramatisch die Wachstums- und Wohlstandsverluste auf- ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer grund der außerordentlich hohen Arbeitslosigkeit und Brüderle, Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, wei- Unterbeschäftigung in Deutschland wirklich sind. Das teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ist der Grund, weshalb alles auf den Prüfstand muss, was eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Si- den Zugang zu regulärer Arbeit behindern könnte. cherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit Wir müssen registrieren, dass bis heute – mit Aus- – Drucksache 15/1225 – nahme der Jahre 2000 und 2001 – die so genannte So- ckelarbeitslosigkeit nach jeder Phase von Wachstums- Überweisungsvorschlag: schwäche angestiegen ist. Sie hat sich gewissermaßen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss von Wachstumsschwäche zu Wachstumsschwäche, von Rechtsausschuss Abschwung zu Abschwung höher aufgetürmt. Gemessen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend daran – das will ich klar sagen – ist die Eingliederungs- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung leistung unserer arbeitsmarktpolitischen Instrumente au- Haushaltsausschuss ßerordentlich erfolglos. Sie sind nicht nur ineffizient, (B) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk sondern auch volkswirtschaftlich nicht mehr vertretbar. (D) Niebel, Rainer Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, Es ist aus meiner Sicht auch nicht gerecht, so weiterzu- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP machen. Rahmenbedingungen für einen funktionsfähi- (Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜND- gen Arbeitsmarkt schaffen NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP]) – Drucksache 15/590 – Aus meiner Sicht ist es demgegenüber nicht unge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) recht und auch nicht unsozial, wenn wir die Arbeits- Innenausschuss marktförderung und das Arbeitsrecht einer strengen Er- Rechtsausschuss folgskontrolle im Hinblick auf ihre Leistung bei der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterziehen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wenn es uns mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich und auch mit der Schaffung von Gerechtigkeit ernst ist höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – und es ist uns bitterernst –, dann müssen wir alles tun, Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Herr Bun- um zu verhindern, dass weiterhin millionenfach Talente desminister Wolfgang Clement. und Begabungen in der Arbeitslosigkeit verloren gehen oder vergeudet werden.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft Ich verstehe die Flexibilisierung des Arbeitsmark- und Arbeit: tes auch als einen Beitrag zu größerer Gerechtigkeit, weil wir so die Chancen des Einzelnen und der Einzel- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nen auf Arbeit, auf persönliche Entfaltung und Wohl- Herren! Es geht heute um weitere wichtige Schritte auf stand verbessern und dadurch am Ende des Tages sehr dem Weg zur Modernisierung unseres Wirtschafts- und viel mehr Menschen bessere Arbeits- und Lebensbedin- Arbeitslebens sowie unseres Arbeits- und Sozialrechts. gungen vorfinden können. Wir diskutieren diese Fragestellungen vor dem Hinter- grund eines außerordentlich geringen Wachstums, einer (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Dirk ausgeprägten Wachstumsschwäche, und einer außeror- Niebel [FDP]: Was ist mit euch Sozis los? Da dentlich hohen und verhärteten Arbeitslosigkeit. sagt er etwas Richtiges und keiner klatscht!) 4356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Für diese Flexibilisierung und Modernisierung des Arbeitsplatzes in einen neuen zu vermitteln. In der (C) Wirtschafts- und Arbeitsrechts haben wir bereits eine Bundesrepublik Deutschland dauert dies gegenwärtig Reihe von Maßnahmen unternommen. Wir haben auf der 33 Wochen. Wer sich vor Augen führt, dass eine Woche Grundlage der Vorschläge der Hartz-Kommission mit rein rechnerisch etwa 100 000 Arbeitslose oder einen der Schaffung von neuen Beschäftigungsmöglichkeiten Kostenfaktor von knapp 1,5 Milliarden Euro ausmacht, begonnen. Dazu gehören die Minijobs und die Möglich- der weiß, dass wir hier über Themen von großer Bedeu- keit, sich im kleingewerblichen Bereich etwa in Form tung sprechen, die teilweise, was die gesetzlichen der Ich-AG selbstständig zu machen. Diese Maßnahme Grundlagen angeht, in ihren Wirkungen unterschätzt ist wesentlich erfolgreicher, als manche vorausgesagt ha- werden. ben. Heute geht es darum, diesen Prozess an zwei Stellen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Minister, fortzusetzen. Dabei geht es um das Arbeitsrecht, konkret das glauben Sie doch selber nicht!) gesprochen insbesondere um den Kündigungsschutz, und um Fragen des Arbeitslosengeldes, das heißt des Wir haben die Möglichkeiten der Leih- und Zeitarbeit, Leistungsrechts auf dem Arbeitsmarkt. Wir werden diese für die es jetzt Gott sei Dank Tarifverträge gibt, die auch Debatte schon morgen fortsetzen, wenn es um die Mo- angewandt werden, erweitert. Wir haben eine Reihe von dernisierung des Handwerksrechts geht, um auch auf zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen. diesem Sektor für Bewegung, Offenheit und Flexibilität (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was reden Sie zu sorgen. sich eigentlich ein? – Dirk Niebel [FDP]: Die Wir werden dies im Rahmen der Debatte über die Rede hat so stark angefangen!) nächsten Schritte nach dem 13. August fortsetzen. Ich – Wenn Sie, Herr Kollege Hinsken, daran Kritik üben gehe davon aus, dass das Kabinett dann weitere Be- wollen, dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass al- schlüsse gefasst haben wird, die den wichtigsten Teil lein in diesem Jahr etwa 100 000 Menschen in Deutsch- dieser Reform betreffen, nämlich die Zusammenlegung land den Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbst- von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und die Zusam- ständigkeit gegangen sind. Die Experten rechnen mit menführung in Jobcentern, in denen dann eine andere etwa 200 000 Menschen, die diesen Weg gehen wollen. Vermittlungsarbeit geleistet werden kann, als uns das Nach den Erfahrungen, die wir bislang mit dem so ge- bisher in Deutschland gelungen ist. Dies geht Hand in nannten Brückengeld und mit der Ich-AG gemacht ha- Hand mit einer umfassenden Reform der Bundesanstalt ben – beide Maßnahmen laufen parallel –, kann man sa- für Arbeit zur Agentur für Arbeit in Deutschland. Ich gen, dass nach etwa zwei bis drei Jahren zwei Drittel gehe davon aus, dass wir den Arbeitsmarkt mit diesen (B) dieser Unternehmen überlebensfähig sind. Sie sind Schritten tief greifend verändern können und der Ar- (D) ebenso wie andere Existenzgründungen bestandskräf- beitslosigkeit auf diese Weise deutlich erfolgverspre- tig. Das mag viele überraschen, ist aber von besonderer chender als bisher zu Leibe rücken. Bedeutung. Die Bundesregierung bzw. die Fraktionen der Regie- Übrigens schaffen sie nach den Erfahrungen, die wir rungskoalition schlagen behutsame Veränderungen des bisher haben, innerhalb dieser Zeit zwei bis drei Arbeits- Kündigungsschutzes vor. Um es klar und deutlich zu sa- plätze. Es empfiehlt sich also, die neuen Beschäftigungs- gen: Der Kündigungsschutz ist auch aus meiner Sicht möglichkeiten, die wir gemeinsam geschaffen haben, das wichtigste Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und mit einiger Zuversicht zu betrachten. Wir werden davon Arbeitnehmer. weiterhin mit allem Nachdruck Gebrauch machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Wir haben ferner, was das Arbeitsrecht und den Ar- Wir höhlen deshalb den Kündigungsschutz nicht aus und beitsmarkt angeht, neue Vermittlungsbedingungen ge- beseitigen ihn nicht, sondern wollen ihn dort, wo er sich schaffen: Erwartungen an die Mobilität und an die Auf- möglicherweise als Hemmschwelle für den Eintritt in nahme von zumutbaren Arbeitsplätzen, Jobs. Einiges das Arbeitsleben erweisen könnte oder erwiesen hat, davon wird erst jetzt, am 1. Juli, in Kraft treten: bei- auflockern. Um es klar zu sagen: Wir sprechen hier über spielsweise die Regelung, die wenig beachtet wird, dass Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten. Für diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, denen gekün- Kleinunternehmen gilt bisher kein Kündigungsschutz. digt wird, unverzüglich, das heißt gewissermaßen am Wir wollen, dass in Zukunft Arbeitnehmerinnen und Ar- Tag der Kündigung, zur Arbeitsvermittlung gehen müs- beitnehmer über diese Schwelle von fünf Beschäftigten sen, damit keine Zeit zwischen drohendem Arbeitsplatz- hinaus befristet eingestellt werden können, damit sich verlust und Vermittlung in einen neuen Arbeitsplatz ver- diese Betriebe, wenn notwendig, wenn gewünscht oder säumt wird. wenn geboten, vergrößern können, ohne deshalb in den Kündigungsschutz hineinzuwachsen. Dies ist ein Thema von außerordentlicher Bedeutung, wie ich mir vor kurzem bei einem Besuch in London in Diese Frage so anzugehen ist deshalb vernünftig, weil einem dortigen Jobcenter, die wir auch in Deutschland wir aus Umfragen wissen, dass eine nicht zu unterschät- aufbauen werden, habe anschauen können. In Großbri- zende Zahl von Kleinstunternehmen bereit sein könnte, tannien gelingt es in der Regel, Arbeitslose innerhalb Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen, von im Durchschnitt 21 Wochen nach dem Verlust ihres wenn die Folge daraus nicht ein Hineinwachsen in einen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4357

Bundesminister Wolfgang Clement (A) dauerhaften Kündigungsschutz wäre. Ob dies so ist, 18 Monate zu begrenzen, eine sehr tief greifende Verän- (C) weiß niemand von uns. Es gibt dazu Umfragedaten und derung bedeutet. Um dies klar zu sagen: Sie ist aus un- oberflächliche Untersuchungen. Es gibt in keiner Volks- serer Sicht geboten, weil die lange Zahlung von Arbeits- wirtschaft – weder in der amerikanischen noch in einer losengeld – bis zu 32 Monaten, wie es zurzeit die europäischen – ein klares Datenmaterial über diese Rechtslage gebietet – dazu führt, dass Unternehmen Frage. – vor allem Großunternehmen – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Zuhilfenahme der Finanzmittel der Deshalb empfiehlt es sich, außerordentlich vorsichtig Beitragszahler in den vorgezogenen Ruhestand schicken. und behutsam mit diesem Thema umzugehen. Das tun wir mit unserem Vorschlag. Ich sehe hier – wir werden Erstens ist es nicht in Ordnung, dass Unternehmen, darüber in der Folgezeit noch genauer debattieren – ei- die sich über die hohen Lohnnebenkosten in Deutsch- nen klaren Gegensatz zum Vorschlag der CDU/CSU- land beklagen, gleichzeitig die hohen Lohnnebenkosten Fraktion, die vorsieht, in Unternehmen mit weniger als durch die Nutzung dieses Instrumentariums mitverursa- 20 Mitarbeitern bei Neueinstellungen den Kündigungs- chen. Das ist zweifellos eine Fehlnutzung dieses Instru- schutz auszusetzen. Ich halte den Weg, den Sie dazu vor- mentariums. schlagen, für nicht gangbar – um das deutlich zu sagen –, weil er die Belegschaften in Beschäftigte mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und ohne Kündigungsschutz aufspaltet. DIE GRÜNEN) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Oh Gott! – Dirk Um wirklich offen miteinander zu reden: Auch ich war Niebel [FDP]: Dann nehmen wir doch unseren daran beteiligt. Wir haben dieses Instrumentarium natür- lich auch im Ruhrgebiet und in vielen anderen Regionen Vorschlag! Da passiert das nicht!) genutzt, vor allem als es in der Vergangenheit um tiefe Ich frage mich erstens, ob dies sachlich zu rechtfertigen Umbrüche am Arbeitsmarkt in den Industrieregionen ist, und zweitens, ob dies verfassungsrechtlich überhaupt ging. Aber dieser Prozess muss nun einen Abschluss fin- haltbar ist. Ich habe da schwerste Bedenken. den. Er überfordert die Kräfte der öffentlichen Kassen, der Kassen der Beitragszahler. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zweitens ist dieser Schritt aus unserer Sicht notwen- Aber wir werden das sicherlich noch genauer debattie- dig, weil wir erreichen müssen, dass die Tendenz zum ren. frühzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in Was die Bundesregierung weiter vorschlägt, ist vor Deutschland gebrochen wird. Wir müssen erreichen, allem dem Ziel gewidmet, bei der so genannten Sozial- dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass wir alle länger im Berufsleben bleiben, als es heute in Deutsch- (B) auswahl bei betriebsbedingten Kündigungen für mehr (D) Rechtssicherheit zu sorgen. In Zukunft sind nur noch land Praxis ist. Wir haben eine Pensionsgrenze von drei Kriterien zu berücksichtigen: Alter, Betriebszugehö- 65 Jahren. Wir haben ein tatsächliches Pensionsalter rigkeit und Unterhaltsverpflichtungen. von etwa 60,5 Jahren. Dieser Durchschnitt ist in der letz- ten Zeit etwas angestiegen: von gut 59 auf gut 60 Jahre. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist der Wortlaut der Rege- Aber wir haben uns innerhalb der Europäischen Union lung, die Sie 1998 abgeschafft haben!) verpflichtet, die tatsächliche Dauer der Erwerbstätigkeit bis zum Jahr 2010 deutlich zu erhöhen, und zwar um bis Dazu sehen wir vor, dass die so genannten Leistungsträ- zu etwa fünf Jahre. Dies ist nur zu erreichen, wenn wir ger in Betrieben und die Personalstruktur beachtet und in den Trend zum vorzeitigen Ausscheiden durchbrechen. die Überlegungen bei betriebsbedingten Kündigungen einbezogen werden können. Dies ist heute schon gel- Dies ist auch vor dem Hintergrund der ständig steigen- tende Rechtsprechung; wir übernehmen diese Regelun- den Lebenserwartung, die wir – gottlob! – in Deutsch- gen ins Gesetz. land haben, richtig und vernünftig. Auch ich freue mich über die gestiegene Lebenserwartung und profitiere da- Wir schaffen einheitliche Klagefristen von drei Wo- von hoffentlich noch ziemlich lange. Aber sie bedeutet chen für alle. Wir schaffen besondere Möglichkeiten für natürlich eine gravierende Veränderung gegenüber den Existenzgründer, nämlich Beschäftigungsverhältnisse in Fakten, die wir zum Zeitpunkt der Entstehung unserer so- den ersten vier Jahren nach der Existenzgründung sach- zialen Sicherungssysteme hatten. Vor 30, 40 Jahren, als grundlos befristet eingehen zu können. Dies sind Instru- die sozialen Sicherungssysteme aufgebaut wurden, hat- mente, die die Beschäftigungsschwelle senken. Sie tra- ten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Le- gen dazu bei, Arbeitsuchenden – in Großbritannien benserwartung, die nur vier Monate über die damalige spricht man übrigens interessanterweise von „job see- Pensionsgrenze hinausging. Heute liegt die Lebenser- kers“ – den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. wartung der Menschen im Durchschnitt etwa 20 Jahre Sie gefährden aber nicht die Rechtssicherheit derer, die über der Pensionsgrenze. Wenn man sich dies vor Augen im Arbeitsmarkt sind. Das ist der Unterschied zwischen führt, weiß man, dass eine Reform der sozialen Siche- den Vorschlägen, die zu dieser Debatte vorliegen. rungssysteme angegangen werden muss. Eine besonders weit reichende Reform, die wir ange- All diese Gründe sprechen auch für eine Veränderung hen, ist die des Arbeitslosengeldes. Uns allen ist vermut- beim Arbeitslosengeld. Dies kann aber nur in Verbin- lich klar, dass der Vorschlag, den wir dazu machen, näm- dung mit der Reform der Arbeitslosenhilfe und der So- lich die Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld in der zialhilfe, die wir im August vorlegen werden, betrachtet Regel auf zwölf Monate und für über 55-Jährige auf werden. Hier besteht nämlich ein enger Zusammenhang. 4358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Wir wollen, dass vor allem die über 50-jährigen Ar- meistert werden können. Es geht darum – wir haben das (C) beitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Beruf bleiben gestern anhand der Ausbildungssituation in Deutschland können oder, sofern sie ihren Arbeitsplatz verlieren, diskutiert –, dass wir dem Thema Arbeit insgesamt und rasch einen neuen finden. Wir müssen auf diesem Gebiet der Vermittlung in Arbeit sowie der Rückgewinnung von eine Veränderung vollziehen. Wir müssen sie unter ande- Arbeitsplätzen im Besonderen einen wesentlich höheren rem auch vollziehen, weil die Schülerabgangszahlen ab Rang einräumen. etwa 2006 deutlich sinken werden. Das bedeutet, dass wir in Deutschland dann vor einer Phase des wirklichen Eine Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Be- Fachkräftemangels stehen werden. kämpfung der in Deutschland außerordentlich stark ver- breiteten Schwarzarbeit. Wir werden das morgen ge- Wir bieten Instrumente, Gesetze an – einige haben nauer diskutieren, wenn wir darüber reden, dass es in wir im Deutschen Bundestag bereits beschlossen, andere Deutschland – geschätzt – 5 bis 6 Millionen Schwarz- befinden sich im Gesetzgebungsverfahren –, damit Men- arbeiter gibt. Offensichtlich gibt es sehr wohl Beschäfti- schen, die über 50 Jahre alt sind, ihren Arbeitsplatz gungsmöglichkeiten, diese müssen wir in die Legalität behalten können bzw. so rasch wie möglich vermittelt zurückholen. werden können: Wir bieten die Förderung von Qualifi- zierungsmaßnahmen für über 50-jährige Arbeitnehmer Das sind die Aufgaben, vor denen wir stehen. Wir in kleineren und mittleren Unternehmen an. Wir bieten wollen heute einen wichtigen Schritt tun, um im Kampf beim Übergang in eine schlechter bezahlte Beschäfti- gegen die Arbeitslosigkeit voranzukommen. Ich bin gung eine Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer an. überzeugt, dass wir in diesem Kampf Erfolg haben wer- Die Bundesanstalt für Arbeit ersetzt 50 Prozent des Dif- den. Der Erfolg wird sich nicht von heute auf morgen ferenzbetrages zwischen dem vorherigen und dem neuen einstellen; aber er wird sich einstellen. Einkommen. Wir bieten den Arbeitgebern einen Bei- Die ersten positiven Bewegungen, die auf das, was tragsbonus für die Einstellung älterer Arbeitnehmer an. wir in diesem Jahr beschlossen haben, zurückgehen, sind Außerdem gibt es die Sozialplanförderung und Weiteres. spürbar und erkennbar. Sie sind natürlich noch absolut Wir sind an möglichst kreativen Vorschlägen interes- unzureichend. Sie werden noch von der gegenwärtig siert, wie wir noch bessere Instrumente entwickeln kön- herrschenden wirtschaftlichen Wachstumsschwäche ver- nen, damit Unternehmerinnen und Unternehmer alles deckt. Wir werden auf diesem Weg aber weiter voran- tun, um die Erfahrungen und Kompetenzen ihrer älteren schreiten und die strukturellen Reformen voranbringen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ihr Unterneh- Sie sind selbstverständlich in eine Wirtschafts-, Finanz- men zu erhalten. Außerdem sind wir an Vorschlägen in- und Sozialpolitik eingeordnet, die als Ganzes verstanden teressiert, die dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmer im werden muss. Dazu gehört es, dass private und öffent- (B) (D) Arbeitsleben gehalten werden können. liche Investitionen gesteigert und verstetigt werden. Bei den weit reichenden Veränderungen, die wir vor- Aus diesem Grunde diskutieren wir ja über Steuer- nehmen, gilt Vertrauensschutz. Es ist nicht gerechtfer- und Abgabensenkungen. Deshalb diskutieren wir da- tigt, eine so tief greifende Veränderung wie die, die wir rüber, wie wir die Kreditfähigkeit des Bankensektors beim Arbeitslosengeld vornehmen, von heute auf mor- in Deutschland verstärken, damit die kleinen und mittle- gen umzusetzen. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ren Unternehmen Kapital aufnehmen können, und zwar nehmer, die bereits Arbeitslosengeld empfangen oder in unbürokratischer und offener, als dies zur Stunde überall nächster Zeit Arbeitslosengeld empfangen werden, gibt gewährleistet ist. Deshalb diskutieren wir über eine Ver- es Vertrauensschutz. Dieser Vertrauensschutz gilt – das besserung der Investitionsfähigkeit der Kommunen. beruht auf dem, was die Experten entwickelt haben – für (Dirk Niebel [FDP]: Dann machen wir es doch! 26 Monate. Das bedeutet, dass die neuen Fristen für das Das ist besser, als zu diskutieren!) Arbeitslosengeld erst ab 2006 in Kraft treten. Wir haben also ausreichend Zeit, um insbesondere am Arbeitsmarkt – Ich weiß nicht, warum Sie darüber lachen. Ich kann Ih- zu den Veränderungen zu kommen, die wir heute anstre- nen gern Auskunft geben über die Situation im Kreditge- ben. werbe in Deutschland; dann würde Ihnen das Lachen vielleicht vergehen. Das ist der Kern unseres heute vorliegenden Gesetz- entwurfs. Es handelt sich um Veränderungen im Arbeits- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ recht und bezüglich des Leistungsgeldes. Das sind wich- DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Nein! tige Veränderungen, die den Arbeitsmarkt in Bewegung Wir sollen es machen und nicht nur diskutie- bringen sollen. Sie sollen dazu beitragen, dass Arbeit- ren!) nehmerinnen und Arbeitnehmer eher in den Arbeits- Das ist nämlich eines der Probleme, mit denen wir es zu markt vermittelt werden können, dass ältere Arbeitneh- tun haben. An diesem Problem wird übrigens deutlich, mer eher auf dem Arbeitsmarkt gehalten werden können dass es, obwohl nach Ihrem Verständnis die rot-grüne und dass die Arbeitslosigkeit insgesamt überwunden Bundesregierung für alles verantwortlich ist, vielleicht wird, die zur Geißel der Bundesrepublik Deutschland einzelne Sektoren gibt, in denen auch andere Mitverant- geworden ist, weil sie das Wirtschafts- und Arbeitsleben wortung tragen. Deshalb sind wir darauf angewiesen, vergiftet. dass der Modernisierungs- und Erneuerungsprozess die Wir stehen vor weit reichenden Anstrengungen, die gesamte Wirtschaft und den gesamten Wirtschafts- und nicht allein mithilfe gesetzgeberischer Maßnahmen ge- Arbeitsmarkt erreicht und alle daran mitwirken, die hier Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4359

Bundesminister Wolfgang Clement (A) in der Verantwortung stehen – in der Politik, in den Un- Wie Sie vor diesem Hintergrund am heutigen Tag zu (C) ternehmen, in den Verwaltungen. Darauf setzen wir. der Aussage kommen können, es seien ja erste Zeichen der Besserung zu erkennen, mit Verlaub, Herr Clement, Ich danke Ihnen. verstehe ich nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Für drei Monate, für die Monate März, April und Mai 2003, wurde die höchste Arbeitslosigkeit seit der Wie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dervereinigung festgestellt. Zur Erinnerung: Auf der Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedrich Merz Regierungsbank sitzt jemand, der der deutschen Öffent- für die CDU/CSU. lichkeit zugesagt hat, die Arbeitslosigkeit auf unter (Beifall bei der CDU/CSU) 3,5 Millionen zu senken, und der erklärt hat, wenn er dies nicht schaffen würde, dann habe er es nicht ver- dient, wiedergewählt zu werden. Friedrich Merz (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir hatten in den letzten Monaten verschiedent- Ich sage das nicht, um über den vergangenen Wahlkampf lich Gelegenheit, Vorschläge der Bundesregierung und nachzukarten, aber ich möchte Sie und uns alle davor be- Vorschläge der Unionsfraktion zu den großen Problemen wahren, dass wir erneut mit einer fundamentalen Fehl- unseres Landes zu diskutieren. einschätzung über die tatsächliche Tiefe der Probleme an die Lösung der Probleme herangehen. (Dirk Niebel [FDP]: Unsere auch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir hatten noch nie eine so gute Gelegenheit, dies zu tun, wie am heutigen Tag, denn heute liegen dem Deut- Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich schen Bundestag zwei Gesetzentwürfe vor, etwas über die tatsächliche Lage sage. Die Arbeitslosig- keit ist hoch und es gibt eine dramatische Verschiebung (Dirk Niebel [FDP]: Nein, drei!) in der Struktur der Arbeitslosigkeit: Während Arbeits- ein Gesetzentwurf von Sozialdemokraten und losigkeit, jedenfalls Langzeitarbeitslosigkeit, in früheren Bündnis 90/Die Grünen und ein Gesetzentwurf der Jahren und Jahrzehnten – wir befassen uns mit der Ar- CDU/CSU-Bundestagsfraktion beitslosigkeit seit der Mitte der 70er-Jahre, seit der ers- ten Ölpreiskrise und der ersten großen Weltkonjunktur- (Dirk Niebel [FDP]: Und einer der FDP!) krise – überwiegend ein Problem der älteren und der (B) (D) schlecht qualifizierten Menschen war, wird sie heute – und einer der FDP –, aus denen sich eine ganze Reihe überwiegend zu einem Problem der jüngeren und der gut von Gemeinsamkeiten, aber auch eine ganze Reihe von qualifizierten Menschen. fundamentalen Unterschieden ergeben. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: So ist es!) Bevor ich auf das, was uns bei den Vorschlägen für die Lösung der Probleme eint, und auf das, was uns Das ist eine dramatische Verschiebung innerhalb der oh- trennt, zu sprechen komme, erlauben Sie mir, meine Da- nehin viel zu hohen Arbeitslosigkeit. men und Herren, dass ich zunächst den Versuch unter- Vor diesem Hintergrund kann ich Sie nur zu der Ein- nehme, auch mit Ihnen, Herr Clement, Einigkeit in der sicht beglückwünschen, die Sie – offenbar unbemerkt Beschreibung der Ausgangslage in unserem Land her- von Ihrer Bundestagsfraktion – zum Besten gegeben ha- beizuführen. ben. Sie haben nämlich gesagt – das habe ich mitge- Das, was Sie hier gerade gesagt haben, ist in der schrieben –, dass die Eingliederungshilfen der letzten Grundausrichtung nicht falsch, aber wenn Sie wiederholt Jahre außerordentlich erfolglos gewesen seien. Jawohl, von einer Konjunktur- und Wachstumsschwäche spre- Herr Clement, das stimmt. Auch die Programme wie das chen, so wie Sie das eben auch getan haben, dann ist das JUMP-Programm und wie sie alle heißen, die Sie und eine aus meiner Sicht viel zu optimistische Beschreibung Ihr Amtsvorgänger mit großer Emphase von diesem der tatsächlichen Lage. Platz aus verkündet und durchgesetzt haben, sind außer- ordentlich erfolglos gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben in Deutschland nicht eine Konjunkturschwä- che, die sich sozusagen parallel zur Konjunkturschwä- Wir müssen eine dramatische Entwicklung bei den che der gesamten Weltwirtschaft darstellt, sondern wir Insolvenzen verzeichnen. Sie haben in diesem Zusam- haben – und das ist keine Schwarzmalerei der Opposi- menhang die Banken angesprochen. Möglicherweise tion, sondern ein Befund, den uns die Wirtschafts- gibt es eine Kreditklemme. Aber jenseits dieser Proble- forschungsinstitute und die internationalen Institutionen matik und ganz unabhängig davon, ob es genügend oder sowie alle diejenigen, die sich mit der Lage unserer zu wenig Darlehen für die Unternehmen in Deutschland Volkswirtschaft befassen, geben – eine tief greifende gibt, haben wir es mit einer katastrophalen Eigenkapital- strukturelle Wachstums- und Beschäftigungskrise. schwäche der deutschen Unternehmen zu tun. Da hilft Ihnen auch kein funktionsfähiger, viel besserer Kredit- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) markt. Das Entscheidende ist, dass die Unternehmen in 4360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Friedrich Merz (A) Deutschland zu wenig verdienen, zu geringe Erträge ha- rausschicken, bei denen wir einer Meinung sind. Ich be- (C) ben, zu wenig reinvestieren können und eine viel zu glückwünsche Sie, dass Sie heute endlich, nach langen hohe Fremdkapitalisierungsquote aufweisen. Das ist das Monaten der Diskussion und des Streites in der SPD, Problem. hier einen Vorschlag zur Änderung des Kündigungs- schutzes gemacht haben. Das hätten wir aber schon frü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- her haben können. Manches von dem, was Sie hier heute neten der FDP) gesagt haben und was richtig ist, hätten wir seit 1998 Bevor ich gleich auf die Arbeitsmarktreformen zu noch immer haben können; denn es war diese Koalition, sprechen komme, lassen Sie mich vorweg Folgendes sa- die manches rückgängig gemacht hat. gen: Diese Unternehmen bekommen in doppelter Hin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sicht Probleme; in einer konjunkturellen Abschwung- phase, in einer Krise, sind sie viel schneller als andere Ich würde uns gerne davor bewahren, dieses Thema von der Insolvenz bedroht. Aber mindestens genauso in doppelter Hinsicht zu überhöhen. Er ist sicherlich dramatisch ist, dass diejenigen, die eine solche Krise nicht das entscheidende Thema zur Lösung der Pro- überleben, in der Phase des wirtschaftlichen Auf- bleme auf dem Arbeitsmarkt – ich komme noch auf ein schwungs nicht stark genug sind, um Schritt halten zu anderes Thema zu sprechen, das ich für wichtiger halte – können und sich an die Spitze zu setzen. Das ist das ei- und ganz gewiss auch nicht, wie Sie gesagt haben, das gentliche Problem, das wir noch an anderer Stelle, näm- wichtigste Grundrecht der Arbeitnehmer. Wenn das so lich im Zusammenhang mit Ihrer Steuerpolitik, diskutie- wäre, dann stellte sich ja die Frage, warum er in den Be- ren müssen. So wie Sie Politik betreiben, schaffen Sie trieben, die nur weniger als fünf oder sechs Beschäftigte nicht das notwendige Vertrauen, damit es gerade bei haben, nicht gilt. kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland wie- (Dirk Niebel [FDP]: In 1,5 Millionen der aufwärts geht. Diese finden so kein Vertrauen in die Betrieben!) Beständigkeit der Politik; aber dies an anderer Stelle. Warum wird den Arbeitnehmern in den kleinen Betrie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben das wichtigste Grundrecht der Arbeitnehmer in Die Behauptung der Bundesregierung der letzten Mo- Deutschland vorenthalten? nate und Jahre, dass sich die Stärke der deutschen Volks- (Dirk Niebel [FDP]: Sie sind alle entrechtet wirtschaft an den Exportzahlen ablesen ließe, haben und geknechtet!) Sie, Herr Clement, von diesem Platz aus dankenswerter Weise nicht wiederholt; denn sie ist schlicht falsch. Der Also: Gemach, gemach. Lassen Sie bei der Beschrei- bung dieses Sachverhaltes die Kirche im Dorf. (B) Anteil der deutschen Volkswirtschaft am Welthandel (D) nimmt nicht zu, sondern ab. Wir sind noch nicht einmal Richtig ist, dass der Kündigungsschutz eine beträcht- in der Lage, mit der Entwicklung des Welthandels liche Eintrittsschwelle in den Arbeitsmarkt darstellt. Ich Schritt zu halten. beglückwünsche Sie zu dieser Erkenntnis. Wir helfen Ih- (Wolfgang Clement, Bundesminister: Nein, nen auch gegen den Widerstand in Ihren eigenen Reihen das ist falsch!) gerne dabei, eine vernünftige Lösung dazu durchzuset- zen. Ich habe bereits gesagt, dass wir die Sozialauswahl, Der relative Anteil der Bundesrepublik Deutschland am die früher schon galt, längst hätten haben können. Sie Welthandel geht kontinuierlich zurück. Ich gebe aller- kommen also zum alten Recht zurück. dings zu: Das ist nicht erst seit dem Regierungswechsel so, weist aber seit dem Regierungswechsel ein beschleu- Ich beglückwünsche Sie auch zu der Erkenntnis, dass nigtes Tempo auf. Sie am Arbeitslosengeld etwas korrigieren müssen. Dies hat über den eigentlichen Sachverhalt hinaus eine (Doris Barnett [SPD]: Ach ja?) weit reichende Bedeutung. Ich gebe zu, dass auch wir Das ist ein weiteres Problem unserer Volkswirtschaft eine sehr schwierige Diskussion dazu in unseren eigenen und ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Reihen geführt haben. Letzter Punkt zu den Vorbemerkungen und zur Be- Entscheidend ist – das haben Sie hier richtig ausge- schreibung der Lage – hier stimmen wir in der Tat über- führt –, dass das Arbeitslosengeld keine Ersatzrentenver- ein –: In Deutschland gibt es Arbeit genug. Das haben sicherung ist. Das sollten wir all denjenigen sagen, die Sie in Ihrem Beitrag gerade deutlich zum Ausdruck ge- sich mit dieser Thematik beschäftigen und vielleicht so- bracht, als Sie darauf hingewiesen haben, dass wir eine gar von ihr betroffen sind. Es wird – auch wir haben rasant wachsende Schattenwirtschaft haben. Die rasant durch eigenes Tun in den letzten Jahren und Jahrzehnten wachsende Schattenwirtschaft unseres Landes zeigt, leider dazu beigetragen – häufig so verstanden, dass das dass wir ein viel größeres Arbeitskräftepotenzial, ja so- Arbeitslosengeld zulasten der Beitragszahler und der gar ein viel größeres Wachstumspotenzial in Deutsch- Bundesanstalt für Arbeit sozusagen eine vorgezogene land haben, als es gegenwärtig im regulären Arbeits- Rentenversicherung ist. Das ist die Arbeitslosenversi- markt zum Ausdruck kommt und dort umgesetzt werden cherung nicht. Sie ist eine reine Risikoversicherung, die kann. vom ersten Tag der Beitragszahlung an eintritt. Das ist der Sinn einer Risikoversicherung. Das Risiko der Ar- Damit komme ich nun zu den Lösungen dieser Pro- beitslosigkeit wird vom ersten Tag an versichert. Die bleme. Herr Clement, zunächst will ich die Punkte vo- Versicherung muss im Grundsatz und im Prinzip unab- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4361

Friedrich Merz (A) hängig von Beitragszeiten und vom Alter des Betroffe- kann ich verstehen und nachvollziehen. Ich will aber (C) nen mit der gleichen Leistung eintreten. daran erinnern, dass nicht wir es waren, sondern dass der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, So weit, so gut. Für viele Betroffene muss es aber hei- Gerhard Schröder, vor gar nicht langer Zeit, nämlich am ßen: So weit, so schlecht; denn insbesondere diejenigen, 14. März, diesen Reformbedarf in seiner Regierungs- die älter sind, arbeitslos werden und in Zukunft richti- erklärung von diesem Platz aus selbst angemahnt hat. gerweise nicht mehr mit einer Arbeitslosenhilfe in dieser Ich zitiere Bundeskanzler Gerhard Schröder: Höhe rechnen können, müssen einen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen können, den wir alle zusammen ihnen Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang gegeben haben. Insofern ist auch hier eine Übergangslö- dessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem sung richtig. Umfang –, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Ge- So weit reichen die Gemeinsamkeiten zur Lösung der schieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln Probleme. Noch einmal: Ich biete Ihnen hier ausdrück- haben. lich an, dass wir zu vernünftigen gemeinsamen Lösun- gen kommen. Wir liegen auch nicht so weit auseinander, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) als dass es nicht möglich sein könnte, solche Lösungen Das Protokoll verzeichnet Beifall bei der SPD und dem zu erzielen. Aber: Die entscheidende Herausforderung Bündnis 90/Die Grünen. Warum ist das, was ich Ihnen zur Neugestaltung unseres Arbeitsrechtes haben Sie, heute mit den gleichen Worten wie der Bundeskanzler meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten am 14. März sage, plötzlich bei Ihnen nicht mehr zu- und den Grünen, mit Ihrem Gesetzentwurf überhaupt stimmungsfähig? nicht angesprochen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie geben zu, dass der Kündigungsschutz, die Über- der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wo ist regulierung des Arbeitsmarktes und zu kurze Arbeitszei- der Beifall? – Dirk Niebel [FDP]: Die haben ten ein Problem sind. Wenn dies aber richtig ist, dann nicht einmal bei Clement geklatscht!) hätten Sie konsequenterweise auch eine Antwort auf die Frage geben müssen, ob unsere Lohnfindungssysteme Wir müssen etwas ändern. Daher machen wir an dieser in Deutschland insgesamt reformbedürftig sind. Stelle einen Vorschlag. Wir schlagen vor, das Tarifver- tragsgesetz zu ändern und zusammen mit einer Änderung (Beifall bei der CDU/CSU) im Betriebsverfassungsgesetz betriebliche Bündnisse Dass sie reformbedürftig sind, sieht man daran, was ge- für Arbeit in Deutschland gesetzlich zu ermöglichen. genwärtig in der ostdeutschen Metall- und Elektroindus- Ich will denjenigen, die uns zuhören und die an den un- (B) trie geschieht. terschiedlichen Konzepten von Opposition und Regie- (D) rung sehr interessiert sind, erläutern, worum es geht. Wir Ich will das sehr ruhig und sachlich sagen: Dass hier wollen nicht die Tarifautonomie infrage stellen. Die Ta- in der vierten Woche für die Herabsetzung der Wochen- rifautonomie hat Verfassungsrang. Selbstverständlich er- arbeitszeit gestreikt wird, wodurch der einzige Wettbe- geben sich aus der Tarifautonomie – auch der Bundes- werbsvorteil, den die ostdeutsche Industrie gegenüber kanzler hat dies so begründet – nicht nur Rechte, der westdeutschen Industrie noch hat, beseitigt würde, sondern auch Pflichten. Daraus ergibt sich insbesondere zeigt die ganze Absurdität des ritualhaft vorgetragenen die Pflicht, auf die gesamtwirtschaftlichen Auswirkun- Arbeitsstreites bzw. Arbeitskampfes in der Metallindus- gen von Tarifverhandlungen und deren Ergebnisse trie. Rücksicht zu nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Flächentarifverträge bleiben nach unserer festen Wenn weniger als 10 Prozent der Beschäftigten einen Überzeugung auch in Zukunft das entscheidende Instru- Streik auslösen können und gleichzeitig aus dem Westen ment einer weiterhin notwendigen überbetrieblichen herbeigekarrte IG-Metall-Funktionäre Lohnfindung. Nur der Flächentarifvertrag begründet die Friedenspflicht in den Unternehmen. Wir wollen die Ta- (Dirk Niebel [FDP]: Mit Zahnpasta!) rifautonomie nicht so verstanden wissen, dass in Zukunft den Versuch unternehmen, vernünftige ostdeutsche Ar- Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse nur noch auf beitnehmer, die nicht streiken wollen, am Zugang zu den betrieblicher Ebene stattfinden. Aber unter dem Dach Betrieben zu hindern, sodass sie einen Spießrutenlauf der Flächentarifverträge muss es möglich sein, auf be- machen müssen, um an ihren Arbeitsplatz zu kommen, trieblicher Ebene von den Kernbestandteilen der Flä- dann müssen wir im Deutschen Bundestag über das chentarifverträge nach unten und oben abzuweichen. Tarifvertragsrecht in Deutschland reden. Es gibt einen Dies betrifft Entgeltregelungen, Urlaubsregelungen und erheblichen Reformbedarf. insbesondere Arbeitszeitregelungen. Es gibt dazu eine Vielzahl von Fällen, die Sie alle kennen und die zum Teil (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rechtsgeschichte in Deutschland geschrieben haben. Ich Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Clement will sie an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht aufzählen. hätte hierzu was sagen müssen! – Zurufe von der SPD) Um es klar und deutlich zu sagen: Es geht niemandem von uns darum, in Tarifverträge in der Weise einzugrei- Frau Kollegin Barnett und andere, ich habe mit diesen fen, dass in Zukunft niedrigere Löhne in Deutschland ge- Zwischenrufen gerechnet. Dass Ihnen das nicht gefällt, zahlt werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 4362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Friedrich Merz (A) in Deutschland haben im Zweifel nicht zu hohe Löhne, entsteht mehr Arbeit und durch mehr Arbeit entsteht (C) sondern viel zu niedrige Nettolöhne, weil die Schere mehr Wachstum in Deutschland. zwischen Netto und Brutto immer weiter aufgeht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Clement, nach dem, was Sie heute Morgen hier ge- Auf der einen Seite stehen viel zu hohe Bruttoarbeits- sagt haben, müsste Ihnen das eigentlich klar sein. Ich kosten. Auf der anderen Seite stehen im Zweifel zu verstehe, dass Sie es im Augenblick in den eigenen Rei- niedrige Nettolöhne der Arbeitnehmer. Es geht also nicht hen sehr schwer haben, diese Widerstände zu überwin- in erster Linie um die Entgeltregelungen, sondern um die den, weil manches von dem, was sich da festgesetzt hat, Arbeitszeitregelungen. in einem mühsamen Erkenntnisprozess überwunden werden muss, dem Sie ein Stück vorauseilen. Herr Clement, aus dem, was Sie gerade gesagt haben, müssten Sie eigentlich auch für das Tarifvertragsgesetz Ich biete Ihnen ausdrücklich unsere Hilfe an, dass wir und das Betriebsverfassungsgesetz die richtige und not- bei dem schwierigen Prozess der Modernisierung des wendige Konsequenz ziehen. Sie lautet: Wir müssen die Arbeitsrechts einen Weg einschlagen, bei dem die Mo- gesetzlichen Grundlagen schaffen, damit die Menschen dernisierung kein Stückwerk bleibt, sondern ein wirkli- in diesem Land zur Erhaltung des Sozialprodukts und ches Konzept zur Modernisierung des Arbeitsrechts im des Wohlstand in Zukunft wieder mehr arbeiten. Ich ver- besten Sinne für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mute, dass dies auch für einen großen Teil der Bevölke- und Betriebe in Deutschland möglich wird. Wir haben rung in Deutschland erklärungsbedürftig ist. dazu heute unsere konkreten Vorschläge auf den Tisch gelegt. Viele Menschen in Deutschland glauben bis heute, ir- regeleitet durch die Propaganda eines Teils der deut- Herzlichen Dank. schen Gewerkschaften, dass uns nur ein statisches Ar- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- beitsvolumen zur Verfügung steht, das man möglichst fall bei der FDP) gerecht auf die Menschen verteilen müsse, um am Ende Vollbeschäftigung zu erreichen. Das ist ein großer Irr- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tum, mit dem wir uns seit mehreren Jahren, vielleicht so- gar seit zwei Jahrzehnten hätten befassen müssen; denn Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert. die Politik der Arbeitszeitverkürzung hat erkennbar nicht zu einer Lösung des Beschäftigungsproblems geführt, Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sondern hat über eine kontinuierliche Verteuerung der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich (B) Arbeit in Deutschland zu dieser hohen Massenarbeits- möchte angesichts der seit Jahren überfälligen notwendi- (D) losigkeit entscheidend beigetragen. gen strukturellen Reformen zu Beginn meiner Rede ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen interessanten Gedanken von Herrn Merz aufgreifen. Natürlich geht es, wenn wir das große Projekt der Über- Es geht also darum, dass wir in Zukunft gemeinsam windung der strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt an- wieder ein höheres Sozialprodukt erwirtschaften, indem gehen wollen, auch darum, zu bilanzieren, wo Einigkeit wir mehr arbeiten. Mehr Arbeit schafft ein höheres besteht und wo das Trennende ist. Sie haben insoweit Wachstum und nicht umgekehrt. Wir sind uns darüber Recht, als bei der Analyse und bei bestimmten Vorschlä- einig, dass Deutschland unter einer Wachstums- und Be- gen Einigkeit besteht. Bei dem Zusammenschustern der schäftigungskrise leidet. Wir erreichen ein höheres Minijobregelung ist das sogar Realität geworden. Wachstum aber nur dann, wenn wir zuvor gemeinsam ein höheres Sozialprodukt durch mehr und nicht durch Es ist klar, dass die Höhe der Lohnnebenkosten eine weniger Arbeit erwirtschaften. eklatante Bedeutung für die Beschäftigungsentwicklung hat. Aber, Herr Merz, ich glaube, das Trennende liegt im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grundsätzlichen, das heißt, in der arbeitsmarktpoliti- schen Philosophie. Das sieht man auch daran, wie die Nun gibt es auch an dieser Stelle einige, die völlig zu heute vorliegenden Anträge von Ihnen aufgenommen Recht darauf hinweisen, dass sie schon heute weit über werden. die tarifliche Arbeitszeit hinaus arbeiten. Das ist zwar wahr, aber genau an dieser Stelle schließt sich doch der Sie schreiben in Ihrem eigenen Antrag, wir müssten Kreis jeder vernünftigen Argumentation. Wir müssen mehr „Flexicurity“ am Arbeitsmarkt herstellen. Wir ha- dafür sorgen, dass Einstellungen in den Betrieben wieder ben uns gefreut, als wir das gelesen haben, weil das ein möglich sind, sie erleichtert und nicht durch eine Über- Begriff ist, den auch die Grünen verwenden. Wenn man reglementierung und Überregulierung unseres Arbeits- aber schaut, wie Sie mit dem Kündigungsschutz, dem marktes künstlich verhindert werden. So schließt sich an Vorschlag, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu dieser Stelle der Kreis zu unseren Vorschlägen zum verändern, und dem JUMP-Programm umgehen, dann Kündigungsschutzrecht. Wenn wir mehr arbeiten müs- sieht man eines: Sie haben nicht begriffen, dass „Flexi- sen, dann wird es auch mehr Arbeitsplätze geben. Sie curity“ heißt, auf der einen Seite Dynamik und Flexi- wird es nicht in der Schattenwirtschaft geben und es bilität herzustellen und Barrieren zu überwinden, auf der wird auch nicht mehr Überstunden geben, sondern sie anderen Seite aber berechtigte Interessen der Arbeitneh- wird es, wenn die Betriebe eine Perspektive erkennen, in merinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Genau das regulären Beschäftigungsverhältnissen geben. Dadurch wollen Sie mit Ihren Anträgen nicht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4363

Dr. Thea Dückert (A) Beim Kündigungsschutz wollen Sie so etwas wie Hinzu kommt, dass die Frühverrentungsrate in (C) eine Zweiklassenregelung in den Betrieben einführen. Deutschland exorbitant hoch ist. Bei uns stehen nur noch Der Minister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man 38 Prozent der Menschen über 55 Jahre im Erwerbsle- die Debatte über den Kündigungsschutz nicht überhöhen ben; in anderen Ländern sind es 60 bis 70 Prozent. Die sollte. Aber eines ist schon klar: Es muss beim Kündi- Ursachen dafür sind nachweisbar. Das DIW hat dies soe- gungsschutz darum gehen, Einstellungen zu ermögli- ben belegt. Die von CDU/CSU und FDP in den 80er- chen, und nicht darum, Kündigungsschutz für diejeni- Jahren vorgenommene Verlängerung der Bezugsdauer gen, die ihn haben, abzubauen. Das tun wir auch nicht. des Arbeitslosengeldes Es geht darum, gerade für kleine und mittlere Betriebe (Dirk Niebel [FDP]: Mit Dreßler!) eine flexible Lösung zu finden, damit diese am Arbeits- markt reagieren können, wenn es einen Silberstreif am für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat Horizont gibt. Es geht darum, eine Balance bei Beibehal- nachweislich dazu geführt, dass die Frühverrentungsrate tung des Kündigungsschutzes zu finden. Der Kündi- seit Mitte der 80er-Jahre gestiegen ist und dass sich die gungsschutz wird den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit Schritt für nehmern nicht weggenommen. Wir wollen den sozialen Schritt erhöht hat. Schutz sichern, gleichzeitig aber eine flexible Lösung finden. Das würde ich „Flexicurity“ nennen. Das ist die Sie haben die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes Idee, die dahinter steht. verlängert, wohl wissend, dass ein solcher Effekt eintre- ten kann, weil Sie den Bundeshaushalt von den Ausga- Nehmen wir Ihren Vorschlag, das JUMP-Programm ben für die Arbeitslosenhilfe entlasten wollten. Sie ha- zu streichen, der heute wieder gemacht wurde und den ben die Kosten für die längere Bezugsdauer des ich zutiefst unsozial und ignorant gegenüber der jetzigen Arbeitslosengeldes der Arbeitslosenversicherung aufge- Situation auf den Arbeitsmärkten finde. In verschiede- bürdet. Durch diese Verschiebung haben Sie den Druck nen Anträgen haben Sie auch ausgeführt, mit der Strei- auf die Lohnnebenkosten verstärkt. Die Parteien, die chung des JUMP-Programms – das würde 1 Milliarde sich die Senkung der Lohnnebenkosten auf die Fahne Euro jährlich ausmachen – könnten die Lohnnebenkos- geschrieben haben, haben mit solchen Instrumenten ers- ten gesenkt werden. tens den Druck auf die Lohnnebenkosten so verstärkt, dass sie gestiegen sind, und zweitens die Dauer der Ar- Aufgrund schlimmer konjunktureller Entwicklungen beitslosigkeit erhöht. und starker struktureller Defizite gibt es in diesem Land junge Leute, die Schwierigkeiten haben, in den Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN markt hineinzukommen. Sie selbst haben eben zu Recht und bei der SPD) darauf hingewiesen, dass dies für junge Leute immer (B) Gegen unser Vorhaben, die Bezugsdauer des Arbeits- (D) schwieriger wird. In dieser Situation mit dem Hinweis losengeldes auf zwölf bzw. 18 Monate zu senken, argu- auf die Entwicklung der Lohnnebenkosten die Strei- mentieren Sie meiner Meinung nach sehr populistisch chung von JUMP vorzuschlagen, ist ein arbeitsmarktpo- und vordergründig. Aber wie sehen Ihre Vorschläge aus? litischer Irrweg, der nichts mit der Realität und ihrer Be- wältigung zu tun hat. Nach den bestehenden Regelungen wird nach einem Jahr Berufstätigkeit der Anspruch auf eine Bezugsdauer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Arbeitslosengeldes von sechs Monaten erworben; und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: nach zwei Jahren sind es zwölf Monate. Wir wollen die Sagen Sie doch mal etwas zum Erfolg des Bezugsdauer grundsätzlich auf zwölf Monate begrenzen, JUMP-Programms!) lediglich für Arbeitnehmer über 55 Jahre kann sie bis zu Ich glaube, dass eines der größten Reformprojekte im 18 Monate betragen. Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt vor uns liegt. An- Was schlagen Sie unter dem sozialen Deckmantel vor? gefangen mit dem Hartz-Konzept und dem Job-AQTIV- Nach Ihren Vorstellungen muss ein Arbeitnehmer oder Gesetz sind bereits viele Schritte unternommen worden. eine Arbeitnehmerin zehn Jahre arbeiten, um den An- Wir haben viele neue Maßnahmen eingeleitet. Heute spruch auf ein Jahr Arbeitslosengeld zu erwerben, bzw. geht es nur um zwei Bausteine, die eher eine strukturelle 40 Jahre für zwei Jahre Arbeitslosengeld. Außerdem und nachhaltige Wirkung entfalten werden, als dass sie wollen Sie noch einen Karenzmonat einführen, das heißt, bereits zum Jahresende Entlastungen bringen. dass das Arbeitslosengeld im ersten Monat des Bezugs- Ein Baustein ist die Senkung der durchschnittlichen zeitraums auf das Sozialhilfeniveau gesenkt wird. Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Die CDU/CSU wendet sich auch gegen diesen Ansatz. Die Dauer der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Arbeitslosigkeit beträgt in Deutschland durchschnittlich Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit! 32 Wochen. Seit Mitte der 80er-Jahre hat sich die durch- schnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit immer weiter er- höht. Das ist ein Skandal. Die durchschnittliche Dauer Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Arbeitslosigkeit ist in Deutschland doppelt so hoch Junge Leute, die 23 Monate arbeiten und dann arbeits- wie in den Nachbarländern. Mit jedem Tag Arbeitslosig- los werden, würden nach Ihren Vorstellungen völlig leer keit mehr verringern sich für die Menschen die Chancen, ausgehen. Leute, die einen Monat länger arbeiten, wür- in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Deswegen müssen den sechs Monate Arbeitslosengeld bekommen, müssten wir dieses Problem angehen. aber im ersten Monat auf Sozialhilfeniveau leben. 4364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Thea Dückert (A) Wo leben Sie eigentlich? Es geht doch um junge Das bestärkt mich in meiner Sorge, dass die die Regie- (C) Leute in der Phase der Familiengründung. Die jungen rung tragenden Fraktionen noch immer mit einem gewis- Leute haben heutzutage keine bruchlose Erwerbsbiogra- sen Maß an Realitätsverweigerung an die Lösung der fie vor sich, wie es bei uns oder unseren Eltern noch der Probleme des deutschen Arbeitsmarktes herangehen. Fall war. Sie müssen sich vielmehr mit Patchwork-Er- Das sieht man auch daran, dass zwar vor über drei Mo- werbsbiografien auseinander setzen. Mit Ihrem Vor- naten die Kanzlerrede mit viel medialem Drumherum als schlag streichen Sie diesen Menschen, wenn sie Über- großer Befreiungsschlag angekündigt wurde, dass aber gangsprobleme haben und von einem Job in den anderen die Gesetzentwürfe, die drei Monate später vorgelegt wechseln wollen, auch noch die Möglichkeit auf ein an- werden, mit der Durchschlagskraft eines Wattebäusch- ständiges Arbeitslosengeld, nur um weiterhin die Früh- chens versehen sind. verrentung finanzieren zu können. Das aber ist ein Irr- weg. Den Weg, den Sie bei der Bezugsdauer des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Arbeitslosengeldes beschreiten, ist völlig falsch. Unter der CDU/CSU) dem Deckmäntelchen des Sozialen schlagen Sie hier et- Das Kündigungsschutzgesetz ist ein Einstellungs- was vor, was auf Kosten – hemmnis und sorgt dafür, dass die Menschen in diesem Land oft nicht die Möglichkeit haben, ihren Lebensun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: terhalt selbst zu finanzieren. Das sieht man an folgenden Frau Kollegin, das geht jetzt auf Kosten des nächsten Zahlen: In Deutschland gibt es 1,46 Millionen Betriebe Redners Ihrer Fraktion. mit weniger als fünf Mitarbeitern, aber nur 260 000 Be- triebe mit sechs bis neun Mitarbeitern und 200 000 Be- triebe mit zehn bis 19 Mitarbeitern. Daran kann man se- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hen, dass es hier eine Hemmschwelle gibt, die es – der jungen Menschen und damit auf Kosten der Ge- erschwert, mehr als fünf Mitarbeiter einzustellen. Des- nerationengerechtigkeit sowie zulasten des Arbeitsmark- halb geht man den Weg der Zeitarbeit und der Überstun- tes geht. den. Man geht aber noch einen anderen Weg – diesen ha- ben Sie schon beschrieben –: Es gab Zeiten in Danke schön. Deutschland, in denen Wayss & Freytag einer der großen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitgeber war. Heute ist es „Schwarz & Samstag“. und bei der SPD) Das hat nicht nur etwas mit dem Kündigungsschutzge- setz, sondern unter anderem auch mit den Rahmenbedin- gungen in der Bundesrepublik Deutschland zu tun, die es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) attraktiver machen, in der Schattenwirtschaft und im (D) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel. Graubereich als in der regulären Wirtschaft zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzentwurf, den Dirk Niebel (FDP): Sie vorgelegt haben, nur die Durchschlagskraft eines Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wattebäuschchens. Sie haben es geschafft, sich in relativ Herren! Herr Minister Clement, ich muss zugeben, dass kleinen Schritten auf den Rechtszustand von 1998 zu- Sie bei Ihrer Rede stark begonnen haben, besonders als rückzubewegen. Im Jahre 1996 hat die alte Bundesregie- es um die Beschreibung der momentanen Situation auf rung zum Beispiel drei Kriterien für die Sozialauswahl dem Arbeitsmarkt in Deutschland ging. Sie haben zu festgelegt und – um Rechtssicherheit zu schaffen – Na- Recht festgestellt, dass sich die Leistungen eines Sozial- menslisten eingeführt. Im Rahmen der rot-grünen Reform- staates nicht an der Höhe der Transferleistungen, son- orgie von 1998 haben Sie das alles abgeschafft. Damit dern an der Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeits- haben Sie Ihre Versprechen eingelöst, aufgrund derer Sie plätze bemessen lasse und dass ein Großteil der von der die Bundestagswahl gewonnen haben und der DGB Sie alten Bundesregierung, aber auch viele der von der finanziell so stark unterstützt hat. Jetzt stellen Sie suk- neuen Bundesregierung mit schönen Namen versehenen zessive – wortgleich – den Rechtszustand von 1998 wie- und eingeführten arbeitsmarktpolitischen Instrumenta- der her. Ich muss sagen: Willkommen im Klub! Fünf rien schlichtweg gescheitert seien. Das wissen wir spä- verschenkte Jahre für Deutschland! testens seit der Eingliederungsbilanz der Bundesanstalt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für Arbeit, in der nachzulesen ist, dass ohne Folgeförde- rung bundesweit nur 35 Prozent aller Maßnahmen dazu Den entscheidenden Schritt gehen Sie aber nicht. Die geführt haben, dass ein Arbeitsloser sechs Monate nach Sozialauswahl muss zwar klar definiert werden, aber die Maßnahmeende einen Arbeitsplatz bekommen hat. Das Betriebe – wer außer diesen könnte besser definieren, ist herausgeschmissenes Geld. wer Leistung erbringt und wer nicht? – müssen die Mög- (Beifall bei der FDP) lichkeit haben, dafür zu sorgen, dass die Leistungsträger bleiben und dass die Luschen gehen. Es darf nicht umge- All das war richtig. Ich gebe zu, dass das für einen kehrt sein, wie es heute oft der Fall ist. Minister ein starker Auftritt war. Nur schade, dass kein einziger Kollege aus den Regierungsfraktionen applau- Sie haben eine Regelung für kleine Betriebe gefun- diert hat. den, weil Sie festgestellt haben, dass es eine Hemm- schwelle gibt, die es schwer macht, mehr als fünf Arbeit- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nehmer einzustellen. Aber Ihre Regelung hebt nur auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4365

Dirk Niebel (A) die befristeten Beschäftigungsverhältnisse ab. Damit tall-Aufruf in seiner Ausgabe vom 16. Juni folgenderma- (C) verlagern Sie das Problem des Schwellenwerts in die ßen: Zukunft, und zwar bis zum Ende des längstmöglichen Befristungszeitraums. Spätestens da wirkt sich der … Mitnehmen solltet Ihr … Zahnbürste und Zahn- Schwellenwert wieder voll aus. Ein Arbeitgeber steht creme, Deo, Waschlappen und Handtuch zum dann nämlich vor folgender Entscheidung: Entweder er Frischmachen, heißt es in der Einladung. stellt einen eingearbeiteten Mitarbeiter fest ein und an- Man muss schon feststellen, dass die Metaller, die im schließend genießen alle Beschäftigten denselben Kün- Osten ihre arbeiten wollenden Kollegen ausgepfiffen ha- digungsschutz oder er entlässt diesen Mitarbeiter und ben, sehr sauber sind. muss jemand anders einstellen, der eingearbeitet werden muss. Was Sie vorhaben, schafft keine dauerhaften, gesi- Das zeigt: Das Problem besteht darin, dass Funktio- cherten Beschäftigungsverhältnisse. Sie fördern das, was närszentralen auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes auf- Ihre Kolleginnen und Kollegen immer als prekäre Ar- grund von Eigeninteressen oftmals gegen die Interessen beitsverhältnisse bezeichnet haben. Sie gehen den fal- derjenigen agieren und Politik betreiben, die in den Be- schen Weg. trieben arbeiten und ihren Lebensunterhalt erwirtschaf- ten wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Hinblick auf den Arbeitslosengeldbezug sind Sie endlich in der Realität angelangt. Ich bedauere sehr, dass Das muss sich ändern. Deswegen wollen wir, dass im die Blüms und Dreßlers der beiden großen sozialdemo- Tarifvertragsrecht und im Betriebsverfassungsrecht die kratischen Parteien den Weg der Ausweitung der Be- Möglichkeit von betrieblichen Bündnissen für Arbeit zugsdauer damals – ich war damals noch nicht Mitglied festgeschrieben wird. Die Chance, an Entscheidungen dieses Hauses – eingeschlagen haben. Wir alle wissen über die eigene Zukunft mitzuwirken, macht dann Sinn, jetzt: Er war falsch. wenn andere Kollektive gegen einen arbeiten. Mittlerweile wissen wir doch auch, dass sich die Ar- Was die sonstigen Rahmenbedingungen angeht, frage beitslosenversicherung von ihrem eigentlichen Zweck ich mich, weshalb Sie heute Morgen eigentlich verhin- einer Ausfallbürgschaft zur Absicherung des Lebensun- dert haben, dass wir über das Vorziehen der Steuerre- terhaltes für einen klar definierten Suchzeitraum weg- form debattieren. Wir wollten gern hier, im Deutschen und hin zu einer Daueralimentierung entwickelt hat. Das Bundestag, hören, was die Bundesregierung dazu sagt. hat dazu geführt, dass manch einer, der wirtschaftlich Wir alle sind doch der Meinung, dass das Nettoeinkom- klar denken kann, mit dem Klammerbeutel gepudert sein (B) men der Menschen steigen muss. Das heißt, vom Brutto- (D) müsste, wenn er einen Arbeitsplatz annimmt: Beispiels- einkommen muss ihnen mehr übrig bleiben. Um dieses weise lohnt sich für einen 56-Jährigen nach zweijähriger Ziel zu erreichen, muss es neben der Reform der sozia- Arbeitslosigkeit die Annahme eines Arbeitsplatzes ange- len Sicherungsysteme zu einem einfachen und gerechten sichts der Tatsache, dass er bis zu 32 Monate ein Ar- Steuersystem mit einer niedrigen Steuerlast kommen. beitslosengeld in Höhe von 60 Prozent seines letzten Nettolohns beziehen kann, wirtschaftlich überhaupt Ein erster kleiner Schritt in diese Richtung wäre, die nicht; das liegt auch an der Dauer des Arbeitslosengeld- Steuerreform – sie ist überhaupt erst durch den Kollegen bezugs. Das müssen wir ändern. Auch an dieser Stelle Rainer Brüderle und die Vertreter der Landesregierung gilt: Willkommen im Klub! Über die Details müssen wir von Rheinland-Pfalz im Vermittlungsausschuss möglich in den Ausschussberatungen noch streiten. geworden – vorzuziehen, damit die Menschen wieder Luft zum Atmen und die Betriebe wieder Geld für Inves- Nichtsdestotrotz haben Sie zwei ganz entscheidende titionen haben; damit sie wieder Zukunftschancen haben Punkte übersehen: und Hoffnung entwickeln. Heutzutage investieren weder Unternehmer noch vermögende Privatpersonen, weil sie Der eine Punkt – Herr Kollege Merz hat ihn schon an- Ihrer Politik schlichtweg nicht mehr vertrauen. gesprochen; wir haben hier eine entsprechende Geset- zesvorlage eingebracht – betrifft das Tarifrecht. (Beifall bei der FDP) Der andere Punkt betrifft die Rahmenbedingungen, Dass die Menschen wieder Vertrauen in die Politik die darüber hinaus vorhanden sein müssen, damit mehr haben, ist eine wichtige Voraussetzung, um wirtschaftli- Menschen auf dem Arbeitsmarkt wieder eine Chance ha- ches Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland ge- ben. nerieren zu können. Ihre Rede fing zwar stark an, danach Zunächst möchte ich auf das Tarifrecht eingehen. Im haben Sie aber leider nachgelassen. Bemerkenswerter- Osten der Bundesrepublik Deutschland sehen wir gerade weise haben die Sie tragenden Fraktionen genau da ganz aktuell: Wenn sich weniger als 10 Prozent der in ei- applaudiert. ner Branche Beschäftigten für einen Arbeitskampf ent- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: War nicht über- scheiden und wenn Betriebsräte von Siemens von der wältigend! War sehr mau! Kollege Brandner IG Metall auf Solidaritätsreise in den Osten geschickt hat nicht geklatscht!) werden, um dazu beizutragen, dass diejenigen ausgepfif- fen werden, die arbeiten gehen, dann stimmt doch irgend- – Ich weiß, der Beifall war sehr vage. Wir wollen Ihnen etwas nicht mehr. „Der Spiegel“ zitiert aus dem IG-Me- gern dabei helfen, Ihre Truppen hinter sich zu scharen. 4366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dirk Niebel (A) Das Grundproblem besteht darin, dass sich einige we- haben, freilich nicht die Rede sein. Danach soll drastisch (C) nige Mitglieder dieser Regierung, die verstanden haben, in Schutzrechte der Arbeitnehmer eingegriffen werden. was zu tun ist, nicht durchsetzen können und sich nicht Lassen Sie mich dazu ganz konkret ein Beispiel nennen. trauen, die Opposition zu Rate zu ziehen. Das Beste Sie schlagen vor, den Kündigungsschutz auf neu ein- wäre es, den Regierungsauftrag zurückzugeben und die gestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange Wählerinnen und Wähler erneut entscheiden zu lassen. nicht anzuwenden, bis das Unternehmen 20 Arbeitneh- Das Beste für Deutschland, aber auch für Nordrhein- mer beschäftigt. Dort, wo heute Kündigungsschutz gilt, Westfalen wäre, wenn es Neuwahlen gäbe. würde die Belegschaft aufgespalten und würden bereits (Dr. Rainer Wend [SPD]: So weit zum Thema beschäftigte Arbeitnehmer mit Kündigungsschutz neben Hilfe für Herrn Clement!) neu eingestellten Arbeitnehmern ohne Kündigungs- schutz tätig sein. Wie wollen Sie eigentlich rechtferti- Nur so bekommen wir Zukunftschancen für diese Repu- gen, dass neu eingestellte Arbeitnehmer bis zu einer Be- blik. Nur so können wir es bewerkstelligen, dass die schäftigungsschwelle von 20 Arbeitnehmern auf Dauer Menschen, die heute außen vor stehen, wieder eine ohne Kündigungsschutz bleiben? Chance haben, selbst für ihren Lebensunterhalt zu arbei- ten. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Das pas- siert bei Ihrem Entwurf auch!) Vielen Dank. Eine solche Diskriminierung belastet das Betriebs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) klima, Herr Göhner. Das Betriebsklima ist auch aus wirtschaftspolitischer Sicht ganz entscheidend. Es ist ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ganz wesentlicher Produktivfaktor. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner. ( [CDU/CSU]: Ihr spal- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: tet doch genauso auf! – Dirk Niebel [FDP]: Ihr Der sagt doch das Gegenteil von dem, was spaltet in Arbeitnehmer und Arbeitslose!) Clement gesagt hat!) Deshalb wenden wir uns gegen Spaltungspolitik auf der betrieblichen Ebene. Wir sind für ein gutes Betriebs- Klaus Brandner (SPD): klima. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten (Beifall bei der SPD) Damen und Herren! Die heutige Debatte ist aus meiner Sicht eine sehr zentrale; denn mit dem Entwurf eines Ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, (B) setzes zu Reformen am Arbeitsmarkt setzen wir einen mit Ihren Vorschlägen zum Tarifvertragsrecht erklären (D) weiteren Schwerpunkt der Agenda 2010 um und zeigen Sie die Entrechtung der Arbeitnehmer zum Programm. damit, wie entschlossen wir sind und wie ernst wir es mit Ihre Vorstellungen laufen darauf hinaus, Arbeitnehme- den Reformen in diesem Lande meinen. Zusammen mit rinnen und Arbeitnehmer zu Bittstellern gegenüber ihren dem Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz, der No- Arbeitgebern zu degradieren. vellierung der Handwerksordnung, der Modernisierung (Unruhe) der Bundesanstalt für Arbeit, der Stärkung der Gemein- definanzen sowie der Zusammenlegung von Arbeitslo- – Hören Sie gut zu! – Genau das träte ein, wenn von Ta- senhilfe und Sozialhilfe haben wir damit einen Reform- rifverträgen abweichende Regelungen ohne Beteiligung schwung, der von allen internationalen Instituten der Tarifvertragsparteien vereinbart werden könnten. unterstützt wird. (Dirk Niebel [FDP]: So ein Quatsch!) Ziel ist es, Einstellungshemmnisse im Arbeitsrecht zu Die Funktion der Tarifverträge würde damit ad ab- beseitigen und die Lohnnebenkosten, was den Teil Ar- surdum geführt; denn auf diese Art und Weise würden beitslosenversicherung betrifft, zu senken. Wir werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leicht zu Tagelöh- den Kündigungsschutz für Unternehmer und Arbeitneh- nern gemacht. Das setzt leichtfertig aufs Spiel, was mer leichter handhabbar machen. Wir werden Einstel- Deutschland stark gemacht hat, nämlich Stammbeleg- lungen erleichtern. Handwerker und kleine Gewerbe- schaften, die für ihre Betriebe durch dick und dünn ge- treibende werden ermutigt, Mitarbeiter neu einzustellen. hen. Wettbewerb kann doch wohl nicht allein auf die Zumindest können insbesondere Sie von der Opposition Frage reduziert werden, wer sein Personal am schlech- künftig nicht mehr auf ein zu starres Kündigungsschutz- testen bezahlt. recht verweisen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Übelste Kiste ist Durch den Gesetzentwurf der Koalition bleibt der das!) Kündigungsschutz in seiner Substanz voll erhalten. Heuern und Feuern wird es mit Sozialdemokraten nicht Jeder in diesem Land, der nicht ideologisch verbohrt geben. ist, weiß doch inzwischen, dass die Tarifverträge in den letzten zehn Jahren erheblich flexibilisiert und auch stän- (Beifall bei der SPD) dig weiterentwickelt worden sind. Die Beispiele für ta- Wir schaffen einen fairen Ausgleich zwischen Arbeitge- rifliche Öffnungsklauseln sind zahlreich: Einstiegsklau- bern, Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden. Davon kann seln für Langzeitarbeitslose, Regelungen für variable bei dem Entwurf, den Sie von der CDU/CSU vorgelegt Entlohnung, Arbeitszeitkorridore, befristete Arbeitszeit- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4367

Klaus Brandner (A) reduzierung ohne Lohnausgleich, Aussetzen von Tarif- Merz, wenn ich als Ihre Aussage wiedergebe, dass Sie (C) erhöhungen, Härtefallklauseln für Krisenfälle. Insgesamt mit Verweis auf die Gewerkschaften sagten: „Wenn man kann man feststellen, dass wir insbesondere in der Ar- einen Sumpf trocken legen will, darf man nicht die Frö- beitszeitgestaltung die flexibelsten tarifvertraglichen Re- sche fragen.“ gelungen in ganz Europa haben. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Recht hat er!) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Deshalb ha- Was sagt Herr Laumann, was sagt Ihre Christlich-Demo- ben wir so viele Arbeitslose!) kratische Arbeitnehmerschaft dazu? Wir jedenfalls ste- – Wenn Sie den Tarifvertrag zum Sündenbock für die hen zu den Gewerkschaften und den Betriebsräten, weil Höhe der Arbeitslosigkeit erklären, dann liegen Sie na- wir wissen, dass sie in diesem Land nicht Bremser, son- türlich nicht richtig. Dass es auch andere Faktoren für dern Gestalter des sozialen Fortschritts sind. Deshalb die Höhe der Arbeitslosigkeit gibt, davon kann man lassen wir nicht zu, dass sie auf diese Art und Weise in wohl überzeugt sein. die Ecke der Blockierer gedrängt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Niebel [FDP]: Diese Bundesregierung zum Meine Damen und Herren, zu den Neuregelungen be- Beispiel!) züglich der Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld Verträge haben aber nur dann Wirkung, wenn sie für möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen. Wir nehmen beide Seiten verbindlich sind. Deshalb kommen für uns zur Kenntnis, dass die deutsche Wirtschaft Arbeitnehmer gesetzliche Öffnungsklauseln nicht infrage. jenseits des 50. Lebensjahrs zum alten Eisen erklärt. Ganze Stäbe von Personalmanagern in den größeren Un- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ternehmen haben über Jahre daran gefeilt, wie sie ältere BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Arbeitnehmer möglichst kostengünstig freisetzen kön- Betriebsvereinbarungen dürfen nicht unterlaufen wer- nen. Unter kostengünstig verstehen sie dabei auch, die den, auch nicht solche, die mit dem schönen Etikett „Be- eigenen Personalprobleme in möglichst großem Umfang triebliches Bündnis für Arbeit“ versehen sind. zulasten der Sozialversicherungssysteme und unter Schonung der eigenen Kassen zu lösen. Auch dazu hät- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Der Bun- ten wir, Herr Göhner, gerne ein offenes Wort beispiels- deskanzler hat eine andere Auffassung!) weise der BDA, des BDI und des DIHT gehört. Wir – Der Bundeskanzler vertritt keine andere Auffassung, mussten das leider vermissen. Hier wäre ein gemeinsa- mes Vorgehen angebracht, denn die Senkung der Lohn- (B) Herr Göhner. (D) nebenkosten und der Missbrauch der Sozialkassen ist Offenbar geht es Ihnen aber weniger um inhaltliche keine Angelegenheit nur einer Gruppe in der Gesell- Weichenstellungen innerhalb eines grundsätzlich akzep- schaft, sondern hier ist gemeinsames Handeln erforder- tierten Betriebsvertragssystems. Sie schüren mit Ihren lich. Vorhaben die Existenzängste von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und kündigen den gesellschaftlichen Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, handeln ent- Konsens insbesondere in Fragen der Tarifautonomie auf. schlossen, weil wir zum einen diesen Missbrauch nicht Das führt jedoch nicht zu der von Ihnen erhofften Auf- mehr zulassen wollen und zum anderen die Chancen für bruchstimmung. die älteren Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt durch eine Reihe von aktivierenden Maßnahmen erhöhen, die dazu (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist DGB- beitragen, dass die Beschäftigungsfähigkeit Älterer lang- Vokabular!) fristig erhalten bleibt. Ich will jetzt nicht alle Maßnah- Sie zementieren alte Feindbilder, die sich längst überholt men im Einzelnen auflisten. Hier wird aber unsere Stra- haben, Herr Hinsken, und der politischen Gegenwart aus tegie klar und deutlich: Falsche Anreize, die zur meiner Sicht nicht gerecht werden. Es lohnt sich ange- Belastung der Sozialsysteme führen, müssen weg; inte- sichts der bislang guten Erfahrungen mit der Sozialpart- grierende Anreize für mehr Beschäftigung älterer Ar- nerschaft schon, darüber nachzudenken, ob die Bundes- beitnehmer werden konsequent aufgebaut. republik Deutschland auf harten Konfrontationskurs, der Wir haben die Kohlen aus dem Feuer geholt und die erhebliche soziale Spannungen mit sich bringt, ein- sehr schwierige öffentliche Debatte um die Agenda 2010 schwenken soll oder ob nicht doch das Erfolgsmuster geführt. Wir haben Sie durch öffentlichen Druck aus der des Konsensprinzips der angemessenere Weg ist. Deckung gezwungen. Regierungstauglich – da darf ich die FDP zitieren – sind Sie, meine Damen und Herren, Sie wollen die Gewerkschaften am liebsten ganz klein dadurch aber noch lange nicht geworden. halten. (Dirk Niebel [FDP]: Ihre Rede war auch nicht (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott! Daher klasse!) kommt das!) Richtig ist, dass die Positionen klar geworden sind – in Ich zitiere als Beleg nur Herrn Merz, der sagt, er halte der heutigen Debatte ganz besonders. CDU/CSU und nichts von Tarifverträgen. Das ist auch keine Mutma- FDP wollen im sozialen Bereich deutlich abbauen; ßung, Herr Hinsken, wenn ich mich direkt auf Herrn Merz berufe. Ich zitiere Sie doch wohl richtig, Herr (Zuruf von der FDP: Quatsch!) 4368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Klaus Brandner (A) SPD und Grüne wollen den Sozialstaat umbauen. Zum (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Prognos- (C) Umbauen reichen wir Ihnen die Hand; insofern sind wir tiziert hat!) gesprächs- und konsensbereit. Zum Abbau steht diese Koalition nicht zur Verfügung. Deswegen müssen wir, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, Instrumente einführen, mit denen wir den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Versuch unternehmen, Wachstum über mehr Beschäfti- DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Man gung zu erreichen. Es ist immer die Rede davon, dass muss viele Frösche küssen, bevor man einen wir für Beschäftigung Wachstum brauchen; aber viel- Prinzen findet!) leicht sollten wir einfach einmal überlegen, ob wir nicht durch mehr Beschäftigung auch mehr Wachstum errei- chen können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann. Aus diesem Grund hat unser Gesetzentwurf im Grunde genommen drei Ziele. Erstens geht es um Kos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tensenkung. Wir sind uns im Großen und Ganzen einig, neten der FDP) dass wir zu Einsparungen bei der Arbeitslosenversiche- rung kommen müssen. Frau Dückert, wir haben nur ei- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): nen etwas anderen Ansatz. Sie legen bei der Tabelle, wie Sie das Arbeitslosengeld in Zukunft gestalten wollen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und das Lebensalter zugrunde, während wir Beschäftigungs- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel unseres jahre zugrunde legen. Gesetzentwurfes, den wir heute in den Bundestag ein- bringen, ist es, zu mehr Beschäftigung in Deutschland zu (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig!) kommen. Es ist eine Tatsache, dass wir in Deutschland Ich bin durchaus der Meinung, dass ein Mensch, der ein Wachstum von gut 2 Prozent brauchen, bis überhaupt lange Zeit Steuern und Beiträge gezahlt hat – vor allem ein positiver Arbeitsmarkteffekt messbar ist. im Blick darauf, dass wir die Arbeitslosenhilfe mit der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Mindestens Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau zusammenführen –, 2 Prozent!) auch über eine längere Zeit Schutz genießen soll, bis er in ein bedürftigkeitsabhängiges System fällt. Es gibt Länder, in denen das anders ist. In Amerika sagt man, dass ein Wachstum von 0,5 Prozent ausreicht, um (Beifall bei der CDU/CSU) einen Arbeitsmarkteffekt zu erreichen. In unserem Nach- Dies haben wir eben in Beschäftigungsjahren gemessen. (B) barstaat Niederlande sagt man, 1 Prozent Wachstum rei- Das kann man sehr wohl rechtfertigen. (D) che aus, um mehr Beschäftigung zu erreichen. Insofern müssen wir uns in der Tat überlegen – darüber gibt es (Wolfgang Clement, Bundesminister: Aber auch viele Studien –, warum wir in Deutschland ein rela- nicht bei einer Risikoversicherung!) tiv hohes Wachstum brauchen, um überhaupt einen posi- Daneben haben wir unsere Intention in das Gesetz tiven Effekt auf dem Arbeitsmarkt feststellen zu können. aufgenommen, die Schwellenwerte, die bei der letzten Wenn das, was die Bundesregierung sagt, zutrifft, Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes von Riester nämlich dass wir für dieses Jahr ein Wachstum von erhöht wurden, wieder auf das Niveau von 1998 zurück- 0,75 Prozent bekommen, dann bedeutet das – nach dem zuführen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir Betriebs- Zusammenhang, den ich eben erklärt habe –, dass es in räte für etwas Unvernünftiges hielten, aber man muss diesem Jahr mit der Arbeitslosigkeit eher schlimmer als Folgendes wissen: Vor 1998 gab es in Deutschland kei- besser wird. nesfalls eine heftige Bewegung, aufgrund derer man die Anzahl der Betriebsräte und der Freistellungen unbe- ( [CDU/CSU]: Leider!) dingt hätte vergrößern müssen. Es gab damals keine Briefe von Betriebsräten, dass das alles so kommen Wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung müsse, sondern – erinnern wir uns! – das war das Danke- Recht hat, das sagt, die von der Bundesregierung ange- schön von Herrn Riester für die Wahlkampfunterstüt- nommenen 0,75 Prozent stimmten gar nicht, zung von 8 Millionen DM im Wahlkampf 1998. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Clement in der Zwischenzeit gesagt!) neten der FDP) vielmehr müssten wir von einer schrumpfenden Wirt- Dass wir nun eine Regelung wieder abschaffen wol- schaft ausgehen, dann macht dies umso deutlicher, wo len, die lediglich zustande gekommen ist, weil diese Re- wir am Ende dieses Jahres landen werden. gierung den Gewerkschaften Danke sagen wollte für die 8 Millionen DM im Wahlkampf, das müssen Sie verste- (Dirk Niebel [FDP]: 5 Millionen Arbeitslose! – hen. Das erfordert schon unsere Ehre. Deswegen beab- Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) sichtigen wir, diese Schwellenwerte wieder so festzuset- Es gibt Mitglieder der Bundesregierung wie den Außen- zen, wie sie vor 1998 galten. minister, der vor kurzem in einem öffentlichen Interview (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Zahl von 5 Millionen in Bezug auf die Arbeitslosen- entwicklung in diesem Jahr in den Mund genommen hat. Das spart natürlich auch Kosten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4369

Karl-Josef Laumann (A) Ein zweiter Grundsatz ist mehr Flexibilität. In die- mer gesagt habt, wirklich euer Anliegen war! Es müssen (C) sem Zusammenhang ist das betriebliche Bündnis für Ar- alle Reserven genutzt werden, um zu mehr Beschäfti- beit unstreitig ein wichtiges Thema. Lieber Herr Kollege gung zu kommen. Das werden wir in einigen Jahren Brandner, Sie sind ja Bevollmächtigter der IG Metall in messen können. Gütersloh. Ich möchte nicht wissen, wie viele solcher An dieser Frage wird sich die Glaubwürdigkeit derje- funktionierenden betrieblichen Bündnisse es in Ihrem nigen messen lassen, die den Kündigungsschutz zu ei- Wahlkreis gibt. nem zentralen Punkt beim Thema Neueinstellungen ge- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Jede macht haben. Menge!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie nehmen diese schlicht und ergreifend nicht zur Ich glaube im Übrigen, dass es verantwortbar ist, das Kenntnis. Aber der normale Mensch muss doch vom Ge- Kündigungsschutzgesetz in diesen Unternehmen nicht setzgeber verlangen können, dass dieser für Rechtssi- anzuwenden; denn meine ganze Lebenserfahrung sagt cherheit sorgt. Deswegen meine ich: Wenn wir wissen, mir: In einem Betrieb bis zu 20 Beschäftigten hat jeder dass es viele solcher Bündnisse gibt, warum stellen wir Arbeitnehmer für den Inhaber, für den Chef ein Gesicht sie dann nicht auf rechtlich einwandfreie Füße und zei- und ist nicht nur eine Akte. Deswegen ist die emotionale gen einen rechtlich einwandfreien Weg auf? Nicht mehr Hürde, jemanden zu entlassen, hier mit Sicherheit ge- und nicht weniger tun wir hier. nauso hoch wie die Hürde durch das beste Kündigungs- (Beifall bei der CDU/CSU) schutzgesetz. Vertrauen wir also ruhig einmal auf den gesunden Menschenverstand und ein normales Verhalten Die Gewerkschaften sagen, das sei ein Angriff auf in diesem Bereich! den Flächentarifvertrag, und lehnen das deswegen ab. Gut; aber wenn ich mir jetzt die Diskussion über den Alles in allem enthält der Gesetzentwurf der Union Streik in Ostdeutschland und die Wahrnehmung dieses weit reichende Vorschläge zum Arbeitsrecht, aber es Streiks in den Medien anschaue, dann sage ich ganz of- sind auch bis ins Detail formulierte Alternativen zu dem, fen: Herr Peters hat der IG Metall mit diesem Vorgehen was die Regierung vorlegt. Ich bin sicher, dass es für in Ostdeutschland einen Bärendienst erwiesen, denn das diesen Antrag, wenn wir uns ohne Ideologie darüber un- war sehr ungeschickt. In einer Zeit, in der das Land über terhalten würden, im Bundestag eine Mehrheit gäbe. die größte Wirtschaftskrise redet und die Menschen Wenn wir uns mit Ideologie darüber unterhalten, werden diese Wirtschaftskrise immer mehr spüren, fordert man Ihre Trippelschritte Beschlusslage des Bundestages wer- dort, weniger arbeiten zu müssen, obwohl jeder weiß, den. Dann werden wir uns Weihnachten über 5 Millionen Arbeitslose unterhalten müssen. (B) dass in einer schwierigen Situation mehr gearbeitet wer- (D) den muss. Das ist ein Naturgesetz. Wer dagegen ver- Schönen Dank. stößt, muss sich nicht wundern, wenn er in eine be- stimmte Ecke gestellt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber dieses Thema macht deutlich, dass wir betriebli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: che Bündnisse brauchen. Überlegen Sie – auch Sie, Herr Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth. Bundesminister – einmal, ob man durch diese Bündnisse nicht sogar den Flächentarifvertrag in sich stärkt, weil man die Flucht aus den tarifvertragschließenden Verbän- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den damit ein Stück weit verhindert. Der Tarifvertrag Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr wird als eine Art Richtschnur schon bestimmen, wie Laumann, wenn Ihre Empörung über die Verkürzung der hoch die Löhne sind. Aber ich finde, wenn es zur indivi- Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere, die Sie duellen Beschäftigungssicherung notwendig ist, muss es schon am 20. März dieses Jahres von dieser Stelle ge- Abweichungen geben können. Wenn man zwei Drittel äußert haben, jetzt darin mündet, dass Sie in der Arbeits- einer Belegschaft von Veränderungen überzeugen will, losenversicherung vom Risikoprinzip zum Äquivalenz- muss man sicherlich sehr gute Gründe in die Argumenta- prinzip übergehen wollen, dann finde ich das schon tion einbringen. Das scheint mir schon ein vernünftiger reichlich merkwürdig. Ich erinnere mich noch genau an Schutz zu sein. den 20. März, als Sie von hier aus versprochen haben, uns von Podiumsdiskussion zu Podiumsdiskussion zu ja- In dem dritten Punkt in unserem Gesetzentwurf geht gen, es um mehr Chancen für Beschäftigung. Damit sind wir beim Kündigungsschutz und der Schwelle von (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das mache 20 Beschäftigten bei Neueinstellungen. Jeder von uns ich auch!) weiß, dass die mittelständischen Unternehmen gerade um die – nach Ihren Worten – unsoziale und unanstän- das Thema Kündigungsschutz immer als Argument da- dige Politik anzugreifen. für gebracht haben, warum sie sich mit Einstellungen so schwer tun. Wir fordern, dass das Kündigungsschutzge- Ich kann Ihre emotionale Empörung im ersten Mo- setz nicht für Neueinstellungen bei Unternehmen mit ment durchaus verstehen; ich schätze auch Ihren Einsatz weniger als 20 Beschäftigten gelten soll. Nun sage ich in diesem Bereich. Aber ich scheue die Diskussion als Vertreter der Arbeitnehmer: Liebe mittelständische nicht: Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die über- Unternehmer, jetzt beweist einmal, dass das, was ihr im- lange Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere 4370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Markus Kurth (A) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als eine Schein- haben. Wenn über einen langen Zeitraum Steuern und (C) wohltat. Sie hat doch nicht zu einer höheren Beschäfti- Beiträge gezahlt worden sind, dann muss das eine Aus- gungssicherheit geführt, sondern zu einer gesunkenen wirkung auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ha- Erwerbsquote bei älteren Beschäftigten. Wir müssen ben. doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass bei den über 60-Jährigen weniger als ein Drittel noch erwerbstätig Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist. Herr Laumann, zunächst Folgendes: Die neuen Leis- Jetzt kann man natürlich die Auffassung vertreten tungen des Arbeitslosengeldes II wollen wir so gestalten – das sagen beispielsweise Sie, das sagen auch viele in – wir haben das Problem der Altersvorsorge ganz fest im meiner Partei –: Gerade weil ältere Arbeitnehmer am Ar- Blick –, dass es dort noch gewisse Möglichkeiten gibt. beitsmarkt offenbar nicht gefragt sind, müssen wir die Aber das Prinzip der Arbeitslosenversicherung ist nicht passiven Leistungen der Arbeitslosenversicherung für das Äquivalenzprinzip. Es geht auch darum, dass dieje- diesen Personenkreis großzügig ausgestalten. Aber um- nigen, die noch nicht lange eingezahlt haben, sich auf gekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade weil die passiven diesen Mindestschutz – ein Jahr lang Arbeitslosengeld – Leistungen für ältere Arbeitnehmer so lange so großzü- verlassen können. Wenn innerhalb der Rahmenfrist eine gig ausgestaltet worden sind, ging ihre Zahl am Arbeits- Beitragszeit von zwei Jahren vorliegt, dann hat man ge- markt zurück. nau ein Jahr Anspruch auf Leistungen. In der Kranken- versicherung ist es ja auch nicht so, dass man etwas zu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rückbekommen kann, wenn man lange Jahre Beiträge Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des eingezahlt hat und lange Zeit gesund war. Das ist nicht Kollegen Laumann? das Solidarprinzip im Sozialversicherungssystem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD) Noch einen Moment, bitte. Ich will noch eine Bemer- kung machen. Es haben sich Förderketten entwickelt, die für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Orkus der Der jüngste Wochenbericht des DIW weist noch ein- Beschäftigungslosigkeit führen: zwei Jahre Struktur- mal darauf hin, dass 1986/87, als die Bezugsdauer aus- kurzarbeitergeld, 32 Monate Arbeitslosengeld und dann geweitet worden ist, die Rate für den Zugang in die Frühverrentung. So wurde eine halbe Generation von äl- Arbeitslosigkeit dieser Personengruppe von 2,5 auf teren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ruhig ge- (B) 12,9 Prozent gestiegen ist. Sie hat sich verfünffacht. Die stellt. Sie wissen auch, dass man nach 32-monatigem (D) empirischen Belege für meinen Standpunkt liegen also Bezug von Arbeitslosengeld keine realen Chancen mehr vor. hat, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Jetzt Ihre Zwischenfrage, bitte. Wir setzen noch zusätzlich an einem anderen Punkt an. Wir sind uns durchaus darüber bewusst, dass das Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Arbeitslosengeld II eine Leistung ist, die aufgrund ihrer Herr Kollege Kurth, die Beitragsdauer in der Arbeits- Bedürftigkeitsabhängigkeit für viele Menschen eine pre- losenversicherung ist – Stichwort: Äquivalenzprinzip – käre Situation bedeutet. Aber statt einen Ausschluss vom ein Faktor für die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld. Arbeitsmarkt hinzunehmen, wird das Ganze um eine Geben Sie mir Recht, dass man diesen Zusammenhang aktive Förderung ergänzt. Auf diese aktive Förderung auch bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe setzen wir; die brauchen wir. und Sozialhilfe sehen muss? Nehmen Sie den demographischen Wandel – dies (Klaus Brandner [SPD]: Das ist ja ganz etwas ist schon angesprochen worden –: Ab 2006 sinken die Neues!) Schulabgängerzahlen, ab 2020 sinkt die Zahl der Fach- arbeitskräfte, ab 2015 besteht ein Akademikermangel. Wenn bei einer Zusammenführung auf Höhe des So- Wenn meine Generation – ich bin Jahrgang 1966 – in zialhilfeniveaus nur eine bedürftigkeitsabhängige Leis- Rente gehen wird, haben wir eine riesige Bugwelle von tung erbracht wird – wobei man beachten muss, dass älteren Menschen, die arbeiten müssen. Dann muss eine Ihre Mehrheit die Vermögensfreigrenzen bei der Arbeits- Kultur der Altersarbeit entstehen; denn wir werden einen losenhilfe stark abgesenkt hat –, sollte man dann nicht Arbeitskräftemangel haben. Da wird es uns um jede ar- denjenigen, der in Deutschland 25 oder 30 Jahre Steuern beitsfähige Person Leid tun, die wir verloren haben, weil und Beiträge bezahlt hat, länger davor bewahren, in die- wir jetzt eine Förderung unterlassen haben. ses bedürftigkeitsabhängige System zu kommen, als denjenigen, der erst wenige Jahre Steuern und Beiträge Deswegen muss man nicht nur die flankierenden gezahlt hat? Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir es Punkte im Gesetzentwurf, die Herr Clement genannt hat, in Deutschland in wenigen Monaten wahrscheinlich mit sehen, sondern auch die Programme der aktiven einem ganz anderen System, nämlich mit einem System, Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehört selbstverständlich das auf der Bedürftigkeitsabhängigkeit basiert, zu tun auch das JUMP-Programm. Denn wir wollen keinen haben werden! Dieses neue System gilt auch für Men- Menschen unter 25 Jahre verlieren. Wir dulden nicht, schen, die in der Vergangenheit lange Jahre gearbeitet dass die Beschäftigungsfähigkeit derjenigen, die noch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4371

Markus Kurth (A) 40 Jahre auf dem Arbeitsmarkt vor sich haben, verloren Tasche zu greifen, damit diese nicht übermütig werden. (C) geht. Um im Bild zu bleiben: So viel Übermut war noch nie. Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen nähert Ich finde es wirklich unsäglich, dass Sie das JUMP- sich inzwischen der Fünfmillionenmarke. Ihre Be- Programm und die aktive Arbeitsmarktförderung immer schlüsse werden daran nichts ändern; denn sie lösen das wieder verunglimpfen, statt dazu beizutragen, dass sich gesellschaftliche Problem nicht. Sie verlagern es nur; sie das zu einem ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt weiterent- privatisieren es. wickelt. Sie wischen den gesamten Bereich der aktiven Förderung einfach weg und behaupten, das bringe Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel demonstrie- nichts, das sei unsinnig. ren: Beim Arbeitsamt Dortmund gibt es aktuell circa 18 500 Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geld; rund 40 Prozent sind 45 Jahre und älter. Anders ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) sagt, Sie greifen rund 6 000 Personen im Raum Dort- Wir müssen neben der Umstellung des passiven Leis- mund in die Tasche. Sie nehmen ihnen Ansprüche, die tungssystems die aktive Förderung und den aktiven sie durch Beiträge erworben haben – und das alles ohne Aufbau – das gehört verzahnt – im Blick haben. Genau Gegenleistung und ohne realistische Hoffnung auf einen darin besteht das Besondere des Umbaus des Arbeits- neuen Arbeitsplatz. Ich finde, die Raubritter im Mittelal- marktes. Beim Umbau – Herr Brandner hat das richtig ter waren direkter. Sie haben nie gesagt: „Wir machen festgestellt – sind Sie willkommen; aber beim Abbau eine Reform“, sondern klipp und klar: Geld oder Leben! sind wir natürlich sehr weit auseinander. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Danke. [fraktionslos]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Ehrlichkeit unterschied sie von der SPD des und bei der SPD) 21. Jahrhunderts. Rot-Grün hat das CDU/CSU-Bild vom oberfaulen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Arbeitslosen übernommen. Sie hören nicht einmal mehr, Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. wie es im Grabe von August Bebel und rumpelt. Vollends grotesk werden aber Ihre Vorschläge Petra Pau (fraktionslos): angesichts der Lage in den neuen Bundesländern. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es derzeit knapp vier- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! einhalb offene Stellen für 100 Arbeitsuchende. In Sach- Frau Leutheusser-Schnarrenberger hatte dieser Tage sen und in Thüringen sieht es nicht besser aus. (B) empfohlen, die parlamentarische Sommerpause auszu- (D) setzen oder zumindest zu verkürzen. Die „Harald-Schmidt-Show“ hat sich in der vergange- nen Woche an den Mathematikaufgaben der Klasse 5 zur (Dirk Niebel [FDP]: Das ist aber nicht meine Mei- PISA-Studie versucht – mit Erfolg. Ich glaube, die Bun- nung! – Gudrun Kopp [FDP]: Guter Vorschlag!) desregierung würde selbst an diesen Aufgaben scheitern. Sie verwies auf den Reformstau und darauf, dass so viel (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch zu tun sei. Gerade das, finde ich, spricht dafür, dass wir [fraktionslos]) uns eine Besinnungspause gönnen sollten. Denn bei all dem, was derzeit im Bundestag vorangebracht wird, Die PDS im Bundestag hat Ihnen schon mehrfach vorge- kommt nichts Gutes heraus. Der heute zu diskutierende rechnet, dass Ihre Hartz-Fantasien vollends ungeeignet Gesetzentwurf im Rahmen des Hartz-Konzeptes gehört sind, Abhilfe zu schaffen. Denn wo keine Arbeitsplätze dazu. angeboten und geschaffen werden, können eben auch keine Arbeitsmöglichkeiten ergriffen werden. So simpel (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch ist es manchmal im richtigen Leben außerhalb dieses [fraktionslos]) Plenarsaals. Übrigens gilt diese einfache Rechnung auch Sie sprechen von einer Reform des Arbeitsmarktes. für strukturschwache Gebiete in den alten Bundeslän- Sie versprechen damit weniger Arbeitslosigkeit. In dern. Wirklichkeit entlasten Sie bestenfalls die Statistik, in- Und doch haben Ihre Anträge Methode. Sie folgen dem Sie Arbeitslose weiter belasten. Sie laden Ihr politi- der gleichen Philosophie, die auch Ihre Agenda 2010 sches Versagen bei den ohnehin Beladenen ab. Oben- durchzieht. Sie bauen den Sozialstaat ab, um die Wirt- drein bitten Sie diese zur Kasse. Das ist der Kern der so schaft zu hofieren, anstatt die Wirtschaft zu motivieren, genannten Reformen, die heute auf dem Tisch dieses den Sozialstaat zu stärken. Hauses liegen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Die vermeintliche Reform des Arbeitslosengeldes [fraktionslos]) zeigt dies ganz exemplarisch. Sie wollen erreichen, dass mehr über 55-Jährige am Arbeitsleben teilhaben können; Das alles ist ein Irrweg, allemal wenn man sich so- so sagen Sie. Also denkt man mit normalem Menschen- zialdemokratisch wähnt. Innerparteilich können Sie das verstand: Aha, die wollen mehr Arbeitsmöglichkeiten vielleicht auf Parteitagen mit professioneller Regie und schaffen oder zumindest fördern. Doch Pustekuchen! Ihr mit Rücktrittsdrohungen des Kanzlers noch einmal ka- Hartz-Verstand rät, den Arbeitslosen noch tiefer in die schieren. Die Betroffenen Ihrer Politik können das nicht. 4372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Petra Pau (A) Sie bekommen zu spüren, was Sie als Reform feiern. Tisch gezogen werden können. Akzeptiert, einverstan- (C) Deshalb lehnt die PDS im Bundestag diese Vorschläge den! ab. Wer wird aber über den Tisch gezogen, wenn weit (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch über 90 Prozent der Arbeitnehmer bei Viessmann, [fraktionslos]) Burda, Mohndruck und vielen anderen überall im Lande sagen: „Wir wollen mehr als 35 Stunden arbeiten“, der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ganze Betriebsrat dafür ist und der Arbeitgeber den Ar- beitnehmern im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Göhner. verspricht, betriebsbedingte Kündigungen für die Lauf- (Beifall bei der CDU/CSU) zeit dieser Vereinbarung ausschließt, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch zusätzliche Investitionen Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): verspricht und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen will? Wer wird bei dieser Vereinbarung über den Tisch gezo- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In die- gen? sen Wochen findet in den neuen Bundesländern ein Ar- beitskampf statt, der die Frage nahe legt, ob der Gesetz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) geber, wenn er eine Modernisierung des Arbeitsrechtes Wer wird eigentlich über den Tisch gezogen, wenn der diskutiert, an den Sachverhalten, die sich dort abspielen, gesamte Betriebsrat von der Gewerkschaft verklagt vorbeigehen kann. wird, weil er in Abweichung vom Tarifvertrag einer Ver- Wir haben in Deutschland eine Krise der Tarifauto- längerung der Arbeitszeit von 35 auf 38 Stunden zuge- nomie, die, glaube ich, unbestritten ist. Immer mehr Ar- stimmt hat? beitnehmer und Arbeitgeber entziehen sich einer Tarif- Wer die Bevormundung der Arbeitnehmer durch die bindung. Die Akzeptanz von Branchentarifverträgen Gewerkschaften und ihre Funktionäre will, kann selbst- nimmt ab. Die Akzeptanz dessen, was die Tarifpartner verständlich nicht für betriebliche Bündnisse für Arbeit machen, nimmt in der Öffentlichkeit ab. Diese Erosion sein. Bei Licht betrachtet, ist die Bevormundung der Be- des Flächentarifvertrages – eigentlich und präzise: der legschaften und der Betriebsräte der Kern der Krise der zumeist regionalen Branchentarifverträge – zeigte sich Tarifautonomie, die zurzeit herrscht. Anfang dieses Jahres auch in der Tarifflucht in einer Ta- rifrunde für den öffentlichen Dienst, mit verheerenden (Beifall bei der CDU/CSU) Ergebnissen. Berlin ist seit längerem an der Spitze der Diese Art der Bevormundung spiegelt dieselbe Denke Tarifflucht. wider wie das, was wir in Sachsen erlebt haben, als (B) (D) Nun kann man sagen: Diese Entwicklung ist uns Streikposten aus Bayern und Baden-Württemberg vor egal. – Sie reagieren darauf mit dem Versuch, Tarif- sächsischen Fabriktoren standen, um arbeitswillige Ar- zwang zu organisieren: bei der Vergabe öffentlicher beitnehmer dieser Betriebe davon abzuhalten, ihrer Ar- Aufträge, bei der Zeitarbeit oder durch mehr Allgemein- beit nachzugehen. verbindlichkeitserklärungen und die Erweiterung ge- (Dirk Niebel [FDP]: Pfui!) setzlicher Spielräume dazu. Das geschah nach dem Motto: „Wir Gewerkschaftsfunk- Ich glaube, der Weg aus dieser Krise der Tarifautono- tionäre aus dem Westen wissen das besser als ihr Arbeit- mie führt nur über eine Rückbesinnung auf die ord- nehmer im Betrieb im Osten.“ Was für den einzelnen Ar- nungspolitischen Grundüberlegungen, die Grundlagen, beitnehmer im Betrieb wirklich günstiger ist, das weiß die im Spannungsverhältnis zwischen Tarifautonomie niemand besser als die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- und Vertragsautonomie liegen. nehmer selbst. Die Tarifautonomie – natürlich verfassungsrechtlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geschützt – beruht letztlich auf einem privatrechtli- chen Vorgang, nämlich der Bevollmächtigung der Ge- Tarifautonomie – im Spannungsverhältnis zur Privatau- werkschaften und der Arbeitgeberverbände durch ihre tonomie – heißt eben nicht Entmündigung der Arbeitneh- Mitglieder, die Bedingungen des Tarifvertrages für sie mer, heißt nicht, dass man auf seinen Arbeitsvertrag keinen auszuhandeln. Wenn nun im Vollzug dieser Bevoll- Einfluss mehr haben kann, wenn man einer Tarifpartei ein- mächtigung ein Vertrag ausgehandelt wurde und die mal beigetreten ist. Das von der Rechtsprechung durch Vollmachtgeber, also Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Auslegung, durch Erweiterung – ich kann auch sagen: anschließend feststellen: „Was die da ausgehandelt ha- durch Verengung – interpretierte Günstigkeitsprinzip des ben, passt in unseren Betrieb nicht; wir brauchen hier Tarifvertragsgesetzes beinhaltet ein aus heutiger Sicht eine Abweichung“, dann müsste es eigentlich wie bei geradezu skurriles Verbot: Bei Vereinbarungen zu einem jedem anderen Vertrag sein, der durch Bevollmäch- betrieblichen Bündnis für Arbeit dürfen die Auswirkun- tigte geschlossen wird: Die Vollmachtgeber haben die gen auf die Sicherheit der Arbeitsplätze im Betrieb nicht Möglichkeit, die Vereinbarung abzuändern. berücksichtigt werden. Es gibt ein einziges Argument, mit dem man begrün- Wenn die Arbeitnehmer eines Betriebes einzelver- den kann, dass das bei Arbeitsverträgen anders sein traglich, aber durchaus gemeinsam mit Zustimmung des muss, nämlich dass man die Arbeitnehmer besonders Betriebsrates mit dem Arbeitgeber vereinbaren, dass in schützen will, damit sie vom Arbeitgeber nicht über den einem bestimmten Punkt vom Tarifvertrag abgewichen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4373

Dr. Reinhard Göhner (A) wird – das ist häufig bei der Arbeitszeit der Fall –, im gegenüber der Verriesterung des Arbeitsrechts, die Sie (C) Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie gegeben wird, jetzt vornehmen, auch auf das Tarifrecht erstrecken dann verbietet das noch geltende Recht, die Beschäfti- müsste. Es würde der Tarifautonomie in unserem Lande gungsgarantie bei der Abwägung, ob das für den Arbeit- nutzen. nehmer günstiger ist, überhaupt zu berücksichtigen. Das Vielen Dank. ist eine verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Ein- schränkung der Vertragsfreiheit, die Teil der Vertragsau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tonomie und der Tarifautonomie ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Das Verbot, bei abweichenden Vereinbarungen die Doris Barnett, SPD-Fraktion. Auswirkungen auf die Sicherheit der Arbeitsplätze im Betrieb zu berücksichtigen, muss dringend vom Tisch, weil es anachronistisch ist. Doris Barnett (SPD): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Unser Die Krise der Tarifautonomie wird natürlich nicht al- Gesetzentwurf zeigt, dass wir im Gegensatz zur Opposi- lein durch eine Regelung zu den betrieblichen Bündnis- tion – davon bin ich fest überzeugt – bei diesen Proble- sen gelöst. Der Schlüssel liegt – das ist keine Frage – bei men des Landes nicht jammern, lamentieren und am den Tarifparteien selbst. Ohne eine Regelung, die Arbeit- liebsten, wie Sie eben wieder, alles in den Orkus kippen, nehmern und Betriebsräten die Freiheit zurückgibt, bei dass wir über Reformen nicht nur reden, sondern han- Vereinbarungen in ihrem Betrieb auch die Auswirkungen deln. Drei Monate nach der Regierungserklärung des auf die Sicherheit der Arbeitsplätze berücksichtigen zu Bundeskanzlers legen wir jetzt konkrete Vorschläge auf dürfen, wird sich die Krise der Tarifautonomie verschär- den Tisch, wie wir arbeitsrechtliche Beschäftigungshin- fen. Die einzige Alternative dazu ist nämlich die Tarif- dernisse, wo es sie tatsächlich gibt, abbauen und Lohn- flucht, der Versuch, sich der Tarifbindung zu entziehen. nebenkosten senken werden. Das betriebliche Bündnis bei Burda – um nur einen Jeder weiß, dass uns insbesondere die Änderungen im prominenten Fall zu nennen – hat nur deshalb gehalten, Kündigungsschutz nicht leicht gefallen sind. Ich will weil nachträglich bewiesen werden konnte, dass dieser auch gar nicht verschweigen, das wir einzelne Vor- Betrieb nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes war. schläge der Opposition und des Bundesrates aufgegrif- Das bedeutet: Wer die Möglichkeiten der betrieblichen fen haben, die uns vernünftig erschienen. Aber froh- Bündnisse für Arbeit ablehnt, wer eine rechtssichere locken Sie jetzt nicht zu früh, denn unser Konzept Grundlage ablehnt, begeht Anstiftung zur Tarifflucht. Je- (B) unterscheidet sich in Intention und Ziel sehr deutlich von (D) der muss sich selbst die Frage stellen, ob dies langfristig den Vorschlägen der Opposition, wirklich vernünftig ist und nicht ein Beitrag zur Ver- schärfung der Krise der Tarifautonomie ist. Der einzelne (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt doch nicht!) Arbeitnehmer, die gesamte Belegschaft eines Betriebes, da die CDU/CSU mit ihrem Gesetzentwurf in alle Ar- die Betriebsräte und die Arbeitgeber wissen sehr wohl beitnehmerrechte mit der Rasenmähermethode eingrei- selber am besten, was für sie günstiger ist. Unser Vor- fen will, statt die berechtigten Interessen der Arbeitneh- schlag einer gesetzlichen Regelung folgt eigentlich nur merschaft, der Unternehmen und der Arbeit suchenden einem einzigen Gedanken: Es soll nicht ein Dritter kom- ausgewogen zu berücksichtigen. Ihren eben wieder vor- men, zum Beispiel eben eine Gewerkschaft, und sagen: getragenen Totalangriff gegen die Gewerkschaften und Das wissen wir besser als ihr im Betrieb. die Tarifverträge werden wir zu verhindern wissen, denn Es geht darum, die Entscheidung darüber, was für sie der soziale Frieden im Betrieb ist für uns ein wichtiger günstiger ist, den Betrieben, den Arbeitnehmern und den Wert. Er sollte auch für Sie ein Wert sein. Betriebsräten zurückzugeben. Es geht in diesem Sinne (Dirk Niebel [FDP]: Sie waren aber schon um ein Stück Freiheit. Tarif- und Vertragsautonomie sind während der ganzen Zeit bei dieser Debatte, nach unserem Grundgesetz Freiheitsrechte und nicht oder?) Rechte zur Bevormundung. Zurück zum Gesetz. Wir schaffen den Kündigungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schutz nicht ab, sondern gestalten ihn beschäftigungs- Meine Damen und Herren, die beiden Gesetzent- freundlicher. würfe, sowohl der der Regierung als auch der der CDU/ (Dirk Niebel [FDP]: Das hat keiner anders CSU, haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die wir vorgehabt!) jenseits dieses Streits nicht übersehen wollen. Es gibt Nuancen bei der Frage des Arbeitslosengeldes, aber es Wir haben neue Lösungen gefunden. Wir legen keinen ist vor allem bemerkenswert, dass Sie den Versuch ma- höheren Schwellenwert im Kündigungsschutz fest. chen, den Fehler, den Sie nach 1998 gemacht haben, zu (Dirk Niebel [FDP]: Das ist aber ein Fehler!) korrigieren. Die Verriesterung des Arbeitsrechtes, immer mehr Regulierung, nehmen Sie zum Teil zurück. Sie füh- Sie haben vor, alle neu Eingestellten in Betrieben mit ren Regelungen, die Sie 1998 abgeschafft haben, wieder 6 bis 20 Beschäftigten – da gab es doch schon einmal et- ein, zum Beispiel bei der Sozialauswahl. Das kann man was, das in die Hose ging – auf Dauer vom Kündigungs- nur begrüßen. Ich finde, dass sich diese Trendumkehr schutz auszuschließen, in Sachsen will man diese 4374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Doris Barnett (A) Grenze sogar bei 80 Beschäftigten ziehen. Wir dagegen gungs-, familien- und gleichstellungspolitisch richtig (C) flexibilisieren die Anwendungsschwelle des Gesetzes, ist? indem befristet Beschäftigte nicht auf den Schwellen- wert von fünf Arbeitnehmern angerechnet werden. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass das von uns ein- geführte Teilzeitmodell ein Erfolgsmodell geworden ist. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Also Die Zahlen zeigen es. Im Jahr 2002 waren annähernd weichen Sie auch aus!) 7 Millionen Menschen teilzeitbeschäftigt. Das ist gegen- über den Zahlen vom 1. Januar 2001 ein Aufwuchs um Das nimmt keinem Beschäftigten den Kündigungsschutz 460 000 Personen. Auch hier kann ich nur sagen: Wäh- und führt auch nicht zu einer Zweiklassengesellschaft im rend Sie 16 Jahre lang lamentiert haben, dass die Teil- Betrieb, zeitquote in Deutschland so niedrig sei und dass sie stei- (Dirk Niebel [FDP]: Das fördert prekäre Be- gen solle – die Niederlande waren Ihr Vorbild –, aber schäftigungsverhältnisse!) nichts auf die Reihe gebracht haben, haben wir gehan- delt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. nämlich zu Beschäftigten mit und ohne Kündigungs- Die Zahlen belegen eindeutig, dass wir die richtige Stra- schutz, wie Sie das wollen. tegie für den Ausbau von Teilzeit fahren. (Dirk Niebel [FDP]: Unbefristeter Kündi- Für viele Arbeitnehmer ist der Wunsch nach mehr gungsschutz, unbefristete Quote!) Zeit für die Familie der wichtigste Beweggrund für Teil- zeitarbeit, aber neben der Kinderbetreuung kommen Dass damit natürlich leichter herrschen und regieren ist auch andere Motive für die Teilzeitwünsche in Betracht. nach dem Motto „Teile und herrsche“, kann ich mir vor- Hierzu zählt zum Beispiel der Wunsch der Menschen, stellen, Herr Niebel. Aber mit uns ist das nicht zu ma- sich nach ihren eigenen Interessen auf eigene Kosten chen. und in eigener Zeit weiterzubilden, aber auch der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wunsch nach Wahrnehmung ehrenamtlicher Tätigkei- DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: So ein ten, in denen sich viele engagieren wollen. Das führt Unsinn! Sie teilen die Gesellschaft in Arbeits- dazu, dass sie ihre Arbeitszeit verringern wollen. Das lose und Arbeitnehmer!) kann man bei Ihrem Modell nicht, weil Sie die Möglich- keiten massiv einschränken. Glauben Sie wirklich, dass Wir setzen genau dort an, wo die jetzige Schwelle Hand- das den modernen Frauen von heute hilft, wenn nur die- werker und kleine Gewerbetreibende oft davon abhält, jenigen einen Teilzeitanspruch haben, die Kinder bis neue Arbeitnehmer einzustellen, obwohl die Auftragsbü- zwölf Jahre haben? Von Gender Mainstreaming haben cher überquellen. Statt neue Arbeitnehmer einzustellen, (B) Sie auf jeden Fall noch nichts gehört. (D) lassen die nämlich ihre Leute einfach nur länger arbei- ten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir uns nach fünf Jahren wieder sprechen, wer- den Sie sehen, wie weit wir damit gekommen sind, denn Ebenso undifferenziert ist auch Ihr Vorschlag zu den wir haben auch ins Gesetz geschrieben, dass es nach fünf Schwellenwerten. Die unterschiedlichen Schwellen- Jahren überprüft werden soll. werte im Arbeitsrecht rechtfertigen sich durch die unter- schiedlichen Zielsetzungen der arbeitsrechtlichen Rege- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das kennen wir! lungen. Sie können nicht auf einen einheitlichen Nach fünf Jahren Überprüfung!) Schwellenwert zurückgeführt werden. Da, wo es sachge- recht ist, muss es bei unterschiedlichen Regelungen blei- Vergleichen Sie doch einmal unseren Gesetzentwurf ben. Wie gesagt: Die Rasenmähermethode mag wohl mit Ihren Vorschlägen zur Abfindung bei Kündigungen. Ihre Methode sein, unsere ist es nicht. Die Entscheidung eines Arbeitnehmers für einen Ver- zicht auf Kündigungsschutz und für eine Abfindungs- Es gibt vielmehr eine Reihe von guten Gründen, von zahlung vor der Einstellung wäre nicht freiwillig. Dieser einer pauschalen pro-rata-Berücksichtigung der teilzeit- Arbeitnehmer hätte in Wahrheit keine Wahl, wenn er den beschäftigten Arbeitnehmer abzusehen. Davon sind Sie Arbeitsplatz wirklich haben will. Andererseits dürfte in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit auch ausgegangen. sich aber auch kaum ein Arbeitgeber finden, der sich auf Was Sie jetzt reitet, das alles aufzugeben, werden Sie uns eine solche dubiose Abfindungsregelung einlässt; denn sicherlich bei gegebener Gelegenheit erklären. im Gegensatz zum geltenden Recht müsste er bei Ihrer Lösung befürchten, auch dann zahlen zu müssen, wenn Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel erwähnen. Der er zu Recht gekündigt hat. Nach dem von uns vorge- Betriebsrat repräsentiert die Arbeitnehmerinnen und Ar- schlagenen Abfindungsmodell müssen sich Arbeitgeber beitnehmer des Betriebes unabhängig von ihrem Ar- und Arbeitnehmer erst dann entscheiden, wenn eine beitszeitvolumen. Schließlich ist ein Teilzeitbeschäftig- Kündigung konkret ansteht. ter von den Entscheidungen des Arbeitgebers ebenso betroffen wie seine in Vollzeit beschäftigten Kollegen. Aus der Mottenkiste sind auch Ihre Vorschläge zur Dasselbe gilt übrigens auch für die Auszubildenden, die Teilzeit. Sie wollen den Teilzeitanspruch auf die Arbeit- Sie bei der Berechnung der Arbeitnehmergrenzzahlen nehmerinnen und Arbeitnehmer beschränken, die Kinder nicht berücksichtigen wollen. Ihr Vorschlag auf Herauf- bis zwölf Jahre oder pflegebedürftige Angehörige haben. setzung der Schwellenwerte wird die betriebliche Mitbe- Glauben Sie wirklich, dass dieser Ansatz beschäfti- stimmung geradewegs zurück in die 70er-Jahre katapul- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4375

Doris Barnett (A) tieren. Denn durch die zusätzlich geforderte pro-rata- Überweisungsvorschlag: (C) Anrechnung von Teilzeitbeschäftigten und den Aus- Finanzausschuss (f) schluss von Auszubildenden bei der Berechnung der Innenausschuss Schwellenwerte für die Betriebsratsgröße und die Frei- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- stellung von Betriebsratsmitgliedern schwächen Sie das gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwick- wichtigste demokratische Element im Betrieb. lung der Bundesanstalt für vereinigungsbe- dingte Sonderaufgaben (BvSAbwicklungsge- Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass wir auf die setz – BvSAbwG) Mithilfe der vielen engagierten Frauen und Männer in den Betriebsräten bei der Bewältigung der drängenden – Drucksache 15/1181 – Herausforderungen in unserem Land in Zukunft verzich- Überweisungsvorschlag: ten können. Das wissen mittlerweile selbst die Unterneh- Haushaltsausschuss (f) men in diesem Land, nur Sie noch nicht. Auch die Un- Finanzausschuss ternehmen wollen, dass die Betriebsräte Verantwortung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen bei der Sicherung und Förderung des Standortes sowie d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der Zahl der Beschäftigten übernehmen. Deshalb brau- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- chen die Betriebsräte auch ausreichende personelle Res- sung von Zuständigkeiten im Gentechnikrecht sourcen. – Drucksache 15/1222 – Ich kann zum Schluss nur sagen: Mit der Überweisungsvorschlag: Agenda 2010 haben wir ein Reformkonzept mit Augen- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und maß vorgelegt. Die Umsetzung der Vorschläge wird Landwirtschaft (f) dazu beitragen, die strukturellen Probleme zu lösen, die Innenausschuss Rechtsausschuss wir zurzeit auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland haben, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit allerdings nicht über Nacht. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wenn das, was die CDU/CSU hier vorgelegt hat, mo- Ausschuss für Bildung, Forschung und derne Arbeitsmarktpolitik sein soll, dann können wir alle Technikfolgenabschätzung nur froh sein, dass Sie noch lange auf der Oppositions- bank bleiben. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Vielen Dank. trag vom 25. Februar 2002 über die Änderung des Grenzvertrages vom 8. April 1960 zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen der Bundesrepublik Deutschland und (B) DIE GRÜNEN) (D) dem Königreich der Niederlande

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Drucksache 15/1053 – Ich schließe die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- den Drucksachen 15/1182, 15/1204, 15/1225 und 15/590 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- trag vom 24. Juni 2002 zwischen der Bundes- geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das republik Deutschland und dem Königreich ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Thailand über die Förderung und den gegen- schlossen. seitigen Schutz von Kapitalanlagen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 o sowie – Drucksache 15/1054 – Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf: Überweisungsvorschlag: 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Auswärtiger Ausschuss rung und Ergänzung des Entschädigungsgesetzes g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- und anderer Vorschriften (Entschädigungs- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- rechtsänderungsgesetz – EntschRÄndG) kommen vom 17. August 2002 zwischen der – Drucksache 15/1180 – Bundesrepublik Deutschland und der Islami- schen Republik Iran über die gegenseitige För- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) derung und den gegenseitigen Schutz von Ka- Innenausschuss pitalanlagen Rechtsausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO – Drucksache 15/1055 – Überweisungsvorschlag: b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Auswärtiger Ausschuss Änderung des Zollverwaltungsgesetzes und h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- anderer Gesetze gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem – Drucksache 15/1060 – Übereinkommen vom 9. September 1996 über 4376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) die Sammlung, Abgabe und Annahme von Ab- schließlich der Gewerbesteuer und der Grund- (C) fällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt steuern – Drucksache 15/1056 – – Drucksache 15/1188 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi gebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes Wright, Reinhard Weis (Stendal), Sören Bartol, zu dem Übereinkommen vom 9. September weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 1996 über die Sammlung, Abgabe und An- sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt- nahme von Abfällen in der Rhein- und Bin- Bohlig, Volker Beck (Köln), Peter Hettlich, wei- nenschifffahrt terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 15/1061 – Überweisungsvorschlag: Ergänzung der Fahrerlaubnisverordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Drucksache 15/1093 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kommen vom 30. März 1998 zwischen der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Bundesrepublik Deutschland und Brunei o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Darussalam über die Förderung und den ge- Michael Goldmann, Birgit Homburger, Daniel genseitigen Schutz von Kapitalanlagen Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 15/1057 – Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: ILO-Arbeiten an einem internationalen Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) weis für Seeleute unterstützen Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 15/939 – k) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Überweisungsvorschlag: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Innenausschuss brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Rechtsausschuss (B) Änderung des Europawahlgesetzes und eines Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (D) Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des ZP 7a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia Europaabgeordnetengesetzes Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, Ursula – Drucksache 15/1205 – Heinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Überweisungsvorschlag: der CDU/CSU Innenausschuss (f) Kennzeichnung allergener Stoffe in Lebens- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung mitteln vernünftig regeln l) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- – Drucksache 15/1227 – brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag Überweisungsvorschlag: vom 5. März 2002 zwischen der Bundesrepublik Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Deutschland und der Schweizerischen Eidgenos- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung senschaft über den Verlauf der Staatsgrenze in Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union den Grenzabschnitten Bargen/Blumberg, Barz- heim/Hilzingen, Dörflingen/Büsingen, Hüntwan- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- gen/Hohentengen und Wasterkingen/Hohenten- Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bayreuth), gen Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/1187 – Neue Chancen für die Binnenschifffahrt Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 15/311 – m) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss satzabkommen vom 5. November 2002 zum Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Bundesrepublik Deutschland und dem König- Landwirtschaft reich Belgien zur Vermeidung der Doppelbe- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit steuerungen und zur Regelung verschiedener Haushaltsausschuss anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- vom Einkommen und vom Vermögen ein- ten Verfahren ohne Debatte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4377

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die (C) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1181, Tages- Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ordnungspunkt 23 c, soll federführend im Haushaltsaus- angenommen. schuss beraten werden. Die Vorlage auf Drucksache 15/939, Tagesordnungspunkt 23 o, soll – abweichend Tagesordnungspunkt 24 d: von der Tagesordnung – zusätzlich und federführend an Beratung der Ersten Beschlussempfehlung des den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit überwiesen Wahlprüfungsausschusses zu 444 gegen die Gül- werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. tigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag Dann sind die Überweisungen so beschlossen. eingegangenen Wahleinsprüchen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 b bis 24 e sowie – Drucksache 15/1150 – Zusatzpunkt 8 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- Berichterstattung: hen ist. Abgeordnete Erika Simm Hermann Bachmaier Tagesordnungspunkt 24 b: Hans-Joachim Hacker Petra-Evelyne Merkel Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Manfred Grund eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli (Heilbronn) 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Jerzy Montag land und Rumänien zur Vermeidung der Dop- Jürgen Koppelin pelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung – Drucksache 15/880 – ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. (Erste Beratung 46. Sitzung) Tagesordnungspunkt 24 e: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schusses (7. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/1220 – Sammelübersicht 44 zu Petitionen (B) (D) Berichterstattung: – Drucksache 15/1131 – Abgeordnete Lydia Westrich Manfred Kolbe Wer stimmt für Sammelübersicht 44 auf Drucksache 15/1131? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Sam- Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1220, melübersicht 44 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die angenommen. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Zusatzpunkt 8: entwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- nommen. ausschusses (6. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 24 c: Übersicht 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der gericht Verordnung der Bundesregierung – Drucksache 15/1161 – Verordnung zur Änderung der Verordnung Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- über Verbrennungsanlagen für Abfälle und genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ähnliche brennbare Stoffe und weiterer Ver- ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- ordnungen zur Durchführung des Bundes-Im- nommen. missionsschutzgesetzes Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf: – Drucksachen 15/947, 15/1038 Nr. 2.1, 15/1173 – Aktuelle Stunde Berichterstattung: Abgeordnete Haltung der Bundesregierung zu den Streiks Marie-Luise Dött in den neuen Bundesländern und deren Aus- wirkung auf den Wirtschaftsstandort Deutsch- Birgit Homburger land Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksa- Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben che 15/947 zuzustimmen. – Wer stimmt für diese Be- diese Aktuelle Stunde verlangt. 4378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Veronika bei weit über 40 Stunden und die Löhne und Lohnneben- (C) Bellmann, CDU/CSU-Fraktion. kosten sind, wie wir wissen, dramatisch niedrig. Vor die- sem Hintergrund zu fordern, dass zur Angleichung der (Beifall bei der CDU/CSU) Lebensverhältnisse kürzer gearbeitet werden muss, ist Gift für den wirtschaftlichen Aufbau Ost. Veronika Bellmann (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Gewerkschaft vertritt die Interessen der Mühselige Investorenakquise wird mit einem Schlag Arbeiter und Angestellten – normalerweise. kaputtgemacht. Wer dennoch einen Streik vom Zaune bricht, muss sich nicht wundern, für Stillstand und (Rainer Brüderle [FDP]: Das ist schon lange Wachstumsschwäche mit verantwortlich gemacht zu her!) werden. Hauptverantwortlich für die schwierige Lage in Beim gegenwärtigen Streik stellt sich die Frage, ob die- Deutschland, insbesondere im Osten, ist aber – das war ser nicht nur den Interessen der Gewerkschaftsfunktio- auch schon vom Kollegen Merz zu hören – die Bundes- näre dient. regierung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Klaus Brandner [SPD]: Die streikt jetzt auch gleich!) Die Initiative zum Metallerstreik ging nicht von den Ar- beitern im Osten aus, sondern er wurde von den Gewerk- Seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün ist der Aufhol- schaftszentralen im Westen quasi verordnet – als ob man prozess Ost nachweislich ins Stocken geraten. uns zum Jagen tragen müsste. Wenn es nicht so traurig (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!) wäre, so könnte man auch von einem so genannten Zahnpastastreik sprechen, denn die westdeutschen Ge- Nach fünf verlorenen Jahren liegt noch immer kein werkschafter haben denen, die nach Dresden zu den ganzheitliches Konzept vor. Streiks gefahren sind, Zahnpasta, Deo, Waschlappen so- (Klaus Brandner [SPD]: Bei Kohl war sie noch wie Essen und Trinken reichlich mitgegeben. nicht geboren!) Vielleicht liegt diese vermeintliche Unterstützung der Selbst Schröders Agenda 2010 hat, auf Ostdeutschland westdeutschen Gewerkschafter an der schwachen Basis bezogen, weniger Inhalt, als 4711 Duftstoffe hat. der Gewerkschaften im Osten. Von 130 000 Metallern haben 10 000 an der Urabstimmung teilgenommen, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind 7,6 Prozent; davon waren 8 000 für den Streik, Das Motto dieser Bundesregierung lautet: „Wir wis- (B) ganze 6,1 Prozent. Von diesem Minderheitenvotum auf sen nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft.“ (D) die Allgemeinheit zu schließen, finde ich schon abenteu- Gut ist, dass dieses Motto nicht für die unionsgeführten erlich. Bundesländer gilt; denn sonst wäre es gerade auch in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neuen Bundesländern nicht gelungen, zahlreiche Unter- nehmen der Automobil-, Metall- und Zulieferindustrie in Das, was stellenweise vor den Werktoren in Dresden ihren Regionen anzusiedeln. passiert, erfüllt glattweg den Tatbestand der Nötigung. (Klaus Brandner [SPD]: Geht es hier um die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heiligsprechung der CDU im Osten?) Das Streikrecht ist geschützt und vollkommen legi- Als Vorbild nenne ich Sachsen mit Porsche, BMW und tim. Ebenso legitim ist es, sich für die Einheit der Le- VW. bens- und Arbeitsverhältnisse in Ost und West einzuset- Ob in Zukunft solche Ansiedlungen in Ostdeutsch- zen. Aber Gleichheit ist eben nicht immer Gerechtigkeit, land noch erfolgen können, hängt entscheidend von den zumal es hier um den Erhalt von Arbeitsplätzen und gan- Ergebnissen der morgen beginnenden Tarifverhandlun- zen Existenzen geht. Die Frage muss erlaubt sein, ob der gen ab. Es ist wichtig, dass eine rasche Einigung erfolgt. Zeitpunkt und die eingesetzten Mittel angemessen sind. Ebenso wichtig ist es, diese Entscheidung an die Verhält- Auch Tarifparteien sind dem Gemeinwohl verpflichtet. nisse der ostdeutschen Wirtschaft zu binden. Nach einer Man muss kein Wirtschaftsexperte sein, um zu erken- Umfrage wollen 70 Prozent der Ostdeutschen länger ar- nen, dass gerade die geringeren Arbeitskosten bisher ein beiten, um dafür ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Wenn wesentlicher Standortvorteil Ostdeutschlands waren. Hasso Düvel von der IG Metall stattdessen mit der Aus- Mit der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche weitung des Streiks auf den Westen droht, dann schädigt schwächt die Gewerkschaft diesen Standortvorteil. er das Ansehen und Vertrauen nicht nur in den Wirt- schaftsstandort Ost, sondern in ganz Deutschland. (Klaus Brandner [SPD]: Woher wissen Sie das eigentlich?) Es kann aber auch sein, dass sich die Gewerkschaft für diejenigen Westdeutschen instrumentalisieren lässt, Unternehmen werden sich künftig noch genauer überle- die ganz offen sagen: Schluss mit den Wettbewerbsvor- gen, ob sie im Osten neu oder weiter investieren oder teilen Ostdeutschlands, Schluss mit den längst prakti- nicht doch lieber in Regionen gehen, in denen sie lang- zierten Bündnissen für Arbeit und Haustarifen, Schluss fristig bessere Produktionsbedingungen vorfinden. In mit den Ziel-1-Fördergebieten in der EU, Schluss mit Polen, Tschechien und Rumänien liegt die Arbeitszeit Vorteilen bei Lohn und Lohnnebenkosten und Schluss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4379

Veronika Bellmann (A) mit der Investitionszulage. Diesen Spaltpilzen kann der Diese Freiheit findet ihren Grund in der histori- (C) Bundesminister für Wirtschaft, Herr Clement, am schen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergeb- 3. Oktober getrost einen vollen Arbeitstag verordnen; nisse erzielt werden, die den Interessen der wider- denn den Tag der Deutschen Einheit als Feiertag zu be- streitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht gehen, haben diese Menschen nicht verdient. werden als bei einer staatlichen Regelung. Ich komme zum Abschluss. Ich appelliere an die Ge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat Ihnen werkschaften, ihre sozialromantischen Ideologien end- der DGB falsch aufgeschrieben!) lich an den Nagel zu hängen. Sie gefährden damit Wachstum, Arbeitsplätze, den ostdeutschen Produk- – Das hat nicht der DGB falsch aufgeschrieben. Schauen tionsstandort und damit letztlich eine wesentliche Säule Sie sich einmal die Entscheidungen des Bundesverfas- unserer Wirtschaftsordnung, die Tarifautonomie. sungsgerichts an! Dann werden Sie es feststellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Viele Köche verderben den Brei. Dieses Sprichwort trifft hier den Nagel auf den Kopf. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, kochen Sie Ihr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eigenes Süppchen und lassen Sie die Finger von der Ta- Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Abschluss rifpolitik, von der Sie ohnehin nichts verstehen! kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Schade! So eine nicht! Das nehmen Sie sofort zurück!) gute Rede!) Insbesondere Sie, Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sollten sich als Vertreter einer liberalen Partei zu- Veronika Bellmann (CDU/CSU): rückhalten, meinen Sie doch grundsätzlich, dass eine Ich komme zum letzten Satz: Ich plädiere für betrieb- Wirtschaftsordnung um so erfolgreicher ist, je mehr sich liche Bündnisse für Arbeit statt Verordnung starrer Tarif- der Staat zurückhält. Es ist ganz offensichtlich, warum regelungen für alle. Kreativität und Flexibilität statt Sie seitens der Opposition den Streik in den neuen Bun- Klassenkampf in der Tarifpolitik, desländern zum Thema einer Aktuellen Stunde machen. (Klaus Brandner [SPD]: Druschba!) Sie versuchen, wie schon so oft, die Tarifpolitik auszu- höhlen. Sie beabsichtigen, Tarifautonomie und Streik- das ist das Gebot der Stunde. recht Fesseln anzulegen. Damit begeben Sie sich auf ein gefährliches Terrain. Sie verlassen demokratischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grundkonsens. (B) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Rainer Brüderle [FDP]: So werden Sie nie Ministerin!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion. Wir haben andere Aufgaben, als uns in die Tarifpoli- tik der Gewerkschaften einzumischen und eine vernünf- Anette Kramme (SPD): tige Einigung zu erschweren. Wir haben für die Tarifver- tragsparteien funktionsfähige Arbeitsbedingungen zu Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und setzen, nicht mehr und nicht weniger. Staatliche Politik Kollegen! Lassen Sie mich vorab den Kolleginnen und hat nun einmal staatliche Aufgaben zu bewältigen. Si- Kollegen von der CDU/CSU und der FDP die Bedeu- cherlich ist der Zeitpunkt des Streiks gerade in der der- tung des Wortes „Tarifautonomie“ erklären. zeit schwierigen wirtschaftlichen Lage vielleicht nicht (Beifall bei der SPD – Klaus Brandner [SPD]: optimal gewählt. Aber wann gibt es den optimalen Zeit- Die haben es nötig! – Zurufe von der CDU/ punkt für einen Streik? CSU und der FDP: Oh!) Meine Damen und Herren der CDU/CSU und der Sie verstehen es nicht und sie wollen es offensichtlich FDP, bevor Sie die IG Metall weiter an den Pranger stel- nicht verstehen. Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ge- len, währt Tarifautonomie. Das heißt: Arbeitnehmer und Ar- (Dirk Niebel [FDP]: Das macht die schon beitgeber legen in freier Vereinbarung selbst!) (Dirk Niebel [FDP]: Oberschlaumeier!) gestatte ich mir, Ihnen die Hintergründe des Streiks nä- in den Unternehmen ohne regelndes Eingreifen des Staa- her zu erläutern. Anscheinend herrscht hierüber Verwir- tes die Arbeitsbedingungen fest. Auch das Bundesver- rung. Anders kann ich mir Ihre Äußerungen nicht erklä- fassungsgericht hat Sinn und Zweck der Tarifautonomie ren. sehr gut beschrieben: (Rainer Brüderle [FDP]: Sie können sich Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautono- nichts erklären!) mie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem die Ar- Im letzten Jahr haben sich IG Metall und Arbeitgeber beitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegen- vertraglich dazu verpflichtet, 2003 über einen Stufenplan sätze in eigener Verantwortung austragen können. zur Angleichung der Wochenarbeitszeit zu verhandeln. (Klaus Brandner [SPD]: Aufpassen!) Nach neun Tarifrunden und verschiedenen Angeboten 4380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Anette Kramme (A) seitens der IG Metall war die Reaktion der Arbeitgeber beitslosigkeit steigt von Monat zu Monat. Für 20 Prozent (C) weiterhin null. Ein Streik war damit unausweichlich und der Bürgerinnen und Bürger in Deutschlands Osten be- auch legitim. trägt die Arbeitszeit null Stunden. Ihnen bieten sich keine Chancen und Möglichkeiten. Anzumerken ist, dass zunächst wichtige Zulieferer vom Streik ausgenommen blieben. Doch weiterhin keine Bei der VW-Tochter Skoda in unserem Nachbarstaat, Reaktion bei den Arbeitgebern. Beim wichtigen der Tschechischen Republik, beträgt die Wochenarbeits- Getriebehersteller ZF wurden die Streiks nun ausgesetzt. zeit 42,5 Stunden bei einem Stundenlohn von 3 Euro. Die BMW kann also aufatmen. Die IG Metall zeigt Kompro- IG Metall aber hat nichts Besseres zu tun, als dem Osten missbereitschaft. mit eingeflogenen Gewerkschaftsfunktionären – freige- stellten Betriebsräten aus dem Westen – mit der 35-Stun- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: den-Woche ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm auf- Reden Sie für die SPD oder für die Gewerk- zudrängen. Das ist unglaublich! schaft?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun sollte auch die Arbeitgeberseite einen Schritt nach vorne wagen. In der heutigen Ausgabe der „FAZ“ wird der Streik- führer und Gewerkschaftsoberbonze Düvel zitiert. Polemische Zeitungsanzeigen – auf polnisch und tschechisch wird sich für die 35-Stunden-Woche be- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – dankt –, hollywoodreife Hubschraubereinlagen – beim Widerspruch bei der SPD – Waltraud Wolff Automobilzulieferer Federal Mogul ließ die Firmenlei- [Wolmirstedt] [SPD]: Keine Diffamierung!) tung Angestellte per Hubschrauber auf das Werksge- lände fliegen – sind fehl am Platz. – Ich kann ihn nicht anders bezeichnen; er richtet sich schließlich gegen die Interessen der Arbeitnehmer. (Dirk Niebel [FDP]: So weit ist es schon ge- kommen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die IG Metall will die Angleichung der Wochenar- Düvel sagte der „FAZ“ zufolge: beitszeit von 38 auf 35 Stunden erreichen. Das ist auch Die Einführung der 35-Stunden-Woche müsse … sinnvoll. Die Einkommensunterschiede zwischen West von einem finanziellen Förderprogramm der Ban- und Ost sind immer noch offensichtlich. Allein schon als ken und der öffentlichen Hand begleitet werden. ermutigendes Signal gegen die hohe Abwanderung sind Angleichungsschritte wichtig. Dafür haben sich auch Jetzt sollen also die Steuerzahler den Irrsinn noch finan- zieren. Wir sind doch hier nicht im Irrenhaus! Das ist (B) Politiker ausgesprochen. (D) eine wirtschaftspolitische Tollwutpolitik! Ich will die Notwendigkeit einer Angleichung kon- kretisieren. Im Jahr 2001 verdienten die ostdeutschen (Beifall bei der FDP) Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie etwa 73 Herr Peters hat erklärt, Deutschland sei eine Bananen- bis 75 Prozent des westdeutschen Niveaus. Die Arbeits- republik, weil die Arbeitszeit im Osten und Westen nicht zeit der ostdeutschen Beschäftigten ist jedoch um 7 bis gleich ist. Die IG Bergbau, Chemie, Energie hat aus 8 Prozent länger als die der westdeutschen Beschäftig- guten Gründen bis 2009 die 40-Stunden-Woche fest- ten. geschrieben. Sind das denn alles Idioten, wenn sie im Was will die IG Metall? Sie will nichts sofort und auf Chemiesektor die 40-Stunden-Woche festschreiben? einmal. Es geht vielmehr um einen Stufenplan und um Wissen nur die Oberbonzen von der IG Metall, wie man eine Regelung, die es den Betrieben ermöglicht, gege- es richtig macht? – Absurdes Theater von A bis Z! benenfalls schrittweise unter Berücksichtigung der ört- Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm von lichen Gegebenheiten zu handeln. Sie ist mit einer Revi- Daimler-Chrysler hat Herrn Peters als tarifpolitischen sionsklausel einverstanden. Geisterfahrer bezeichnet. Ich rate beiden Seiten, Kompromissbereitschaft zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zeigen. Aber die Anliegen der IG Metall sind legitim. der CDU/CSU) Mischen Sie sich hier bitte nicht ein! Für Bundeswirtschaftsminister Clement ist das ein Streik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur falschen Zeit am falschen Ort für das falsche Thema DIE GRÜNEN) und den falschen Weg. Damit hat er völlig Recht.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meine Damen und Herren, welches Fehlverhalten zu- lasten der Steuerzahler und der Arbeitnehmer müssen Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle, wir uns denn noch gefallen lassen? FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Durch den Irrsinn, der in den neuen Bundesländern Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn geschieht, gibt es in Bayern und Niedersachsen Kurz- man in diesen Tagen nach Deutschland blickt, meint arbeit. Die anderen Arbeitnehmer und auch die Steuer- man, hier würde absurdes Theater inszeniert. Die Ar- zahler zahlen für diesen Blödsinn. Die Bundesanstalt für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4381

Rainer Brüderle (A) Arbeit zahlt pro Woche 10 000 Personen Kurzarbeiter- Man darf nicht vergessen, dass die ganze Welt über (C) geld in Höhe von insgesamt 1,7 Millionen Euro. diesen Streik informiert ist. Man wird sich im Ausland fragen, was bei uns los ist, ob wir den Bezug zur Realität Es kann nicht so weitergehen, dass sich einige, die die völlig verloren haben und ob wir nicht mehr wissen, dass Welt nicht verstanden haben und nicht wissen, wie ein zwei plus zwei vier ist. Was muss denn noch geschehen, Arbeitsplatz entsteht, zulasten der Allgemeinheit – dazu bis endlich etwas geschieht? Ich sage Ihnen: Das Tarif- gehören die Steuerzahler wie auch diejenigen, die keinen vertragsrecht muss so geändert werden, dass die Rechte Arbeitsplatz haben, und die, die durch Zwangskurzarbeit der Arbeitnehmer gestärkt werden. Einkommen verlieren – austoben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Meines Erachtens müssten die Gewerkschaften jetzt 75 Prozent der Arbeitnehmer wollen eigene Regelungen am Defizit der Bundesanstalt für Arbeit finanziell betei- haben. Sie müssen das Recht haben – es geht schließlich ligt werden. um ihren Job, ihr Leben und ihre Lebensperspektive –, (Anette Kramme [SPD]: Das ist doch ein eigene Entscheidungen zu treffen. Sie wollen nicht mehr Witz!) durch Gewerkschaftsfunktionäre fremdbestimmt wer- den. Es darf nicht sein, dass man – ich wiederhole das – Es müssen für solche Fälle Haftungsgrundsätze erarbei- durch Gewerkschaftsbonzen, tet werden; denn es kann nicht angehen, dass eine Min- derheit der Mehrheit ihren Willen aufzwingt. Im Osten (Anette Kramme [SPD]: Gewerkschafts- Deutschlands sind schließlich weniger als 8 Prozent der hasser!) Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Den Ge- die nicht wissen, wie die Realität aussieht, daran gehin- werkschaften laufen Monat für Monat die Mitglieder dert wird, eine vernünftige Regelung zu erarbeiten. weg. 300 000 bis 500 000 Mitglieder treten jedes Jahr Damit muss Schluss sein. Dafür schreie ich. Wenn Sie aus dem DGB aus, weil sie von einer Politik, die sich ge- etwas anderes vertreten, dann sollten Sie sich dafür schä- gen die elementaren Rechte und Belange der Arbeitneh- men. mer richtet, die Schnauze voll haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Anette Kramme [SPD]: Gucken Sie sich mal Herr Kollege Brüderle, Sie müssen zum Schluss kom- Ihre eigenen Mitgliederzahlen an!) men. Gleiches Recht für alle! Diesen Grundsatz pflege Es ist unglaublich, was sich einige Gewerkschaftsfunk- ich einzuhalten. (B) tionäre in diesem Land erlauben und wie sie sich austo- (D) ben. So können wir jedenfalls keine Perspektiven eröff- Rainer Brüderle (FDP): nen. Wie wollen wir eine Angleichung zwischen Ost und Frau Präsidentin, ich komme sofort zum Schluss. West schaffen, wenn wir dazu noch nicht einmal eine Aber Sie haben Ihre Parteigenossen ein bisschen länger Chance geben? reden lassen. Einer der wenigen Wirtschaftssektoren, der zur Er- folgsstory der neuen Bundesländer gehört, ist die Auto- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mobilindustrie. Die Ansiedlung von Automobilbetrieben Herr Kollege Brüderle! in den neuen Bundesländern war strategisch wichtig. Hier sind Paradeinvestitionen getätigt worden. Aber aus- gerechnet die Automobilbetriebe, die sich dort angesie- Rainer Brüderle (FDP): delt haben, sollen für ihren Mut abgestraft werden, in- Ich finde zwar, dass Sie bei anderen ein bisschen dem man sie zwingen will, den ihnen noch verbliebenen großzügiger waren. Aber ich gehe schon. kleinen Vorteil bei der Arbeitszeitgestaltung aufzugeben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ich wiederhole: Bei der VW-Tochter Skoda in der Simone Violka [SPD]: Weder Anstand noch Tschechischen Republik, nur wenige Stunden von den Achtung!) neuen Bundesländern entfernt, werden 3 Euro pro Ar- beitsstunde verdient und gilt die 42,5-Stunden-Woche. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vor diesem Hintergrund ist das, was die Gewerkschaften Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege vorhaben, ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Das Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen. wissen auch Sie. Selbst der Bundeskanzler hat das schon gerügt. Tun Sie bitte also nicht so, als ob bei Ihnen alle über diesen Unfug glücklich wären. Wenn einige völlig Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Balance verloren haben und die Realität nicht mehr NEN): erkennen, muss man doch die Kraft haben, Korrekturen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Op- vorzunehmen. Ich sage Ihnen: Jede Stunde des jetzigen position hat die heutige Aktuelle Stunde beantragt, um Streiks ist ein Schlag in das Gesicht der Arbeitslosen in etwas über die Haltung der Bundesregierung zu den der Bundesrepublik und insbesondere in den neuen Bun- Streiks in der ostdeutschen Metallindustrie zu erfahren. desländern und verringert die Chancen, in den neuen Aber Ihre Worte, Kollege Brüderle, lassen bei mir eher Bundesländern Betriebe anzusiedeln. den Eindruck aufkommen, dass es Ihnen nicht darum 4382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Werner Schulz (Berlin) (A) geht, die Sichtweise der Regierung zu erfahren, sondern wenn dafür 40 Stunden gearbeitet würden. Ich glaube, (C) darum, die Gewerkschaften zu beschimpfen, was Sie das ist der eigentliche Punkt, um den es in dieser Ausein- auch getan haben. andersetzung geht. Bei dieser ganzen Auseinanderset- zung um Arbeitszeitverlängerung geht es im Grunde ge- Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie nicht wissen, was nommen um Lohnkürzungen. Egal ob Feiertage Tarifautonomie ist. Sie wissen das sehr wohl. Wenn Sie abgeschafft werden, ob Zuschläge reduziert werden sol- aber auf die Zeit zurückschauen, in der Sie selbst Regie- len, zum Beispiel das Weihnachtsgeld: In Wirklichkeit rungsverantwortung hatten – das ist zwar schon ein paar geht es um Lohnkürzungen. Ich frage Sie: Auf welches Jahre her; aber man kann sich durchaus noch erinnern –, Niveau müssten die Löhne Ihrer Meinung nach sinken, dann werden Sie feststellen, dass die Wortwahl ganz an- damit wir wettbewerbsfähig sind? Auf polnisches, auf ders war, als Anfang der 90er-Jahre die Arbeiter in Ost- ukrainisches oder auf chinesisches vielleicht? deutschland gestreikt und protestiert haben, weil der Aufbau Ost nicht vorankam – die damalige Regierung (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Das ist doch hatte keine Mittel dafür eingestellt – und weil die Löhne Unsinn!) hinten und vorne nicht ausreichten. Damals hieß es: Eine Diskrepanz in diesem Land besteht darin, dass Die Bundesregierung sieht mit großer Sorge, dass sich Unternehmensvorstände an internationalen Spitzen- die Tarifauseinandersetzungen in einen Konflikt ge- werten orientieren, während sich die Belegschaft die Ge- führt haben. Es liegt im Interesse der Bundesregie- hälter von Arbeitern in weniger entwickelten Ländern rung, dass sich die Tarifpartner möglichst schnell zum Vorbild nehmen soll. auf eine tragfähige und wirtschaftlich vernünftige Lösung verständigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Diese Haltung hat man offenbar, wenn man in der Regie- rung ist. Wenn man aber in die Opposition kommt, dann Ich kenne die ideologischen Auseinandersetzungen wird man auf einmal radikal. Ich verstehe ja, dass man, um die 35-Stunden-Woche. Man kann sich darüber treff- wenn man nie in seinem Leben radikale Neigungen lich streiten. Ich glaube, dass beide Seiten die Effekte hatte, wenigstens einmal radikal werden und ein biss- der 35-Stunden-Woche überschätzen. Aus der Einfüh- chen über die Stränge schlagen möchte. rung der 35-Stunden-Woche per Gesetz in Frankreich können wir erkennen, dass sie Effekte hat: Es sind zwar (Zuruf von der FDP) nicht, wie man sich erhofft hatte, 700 000 Arbeitsplätze – Das kommt noch. Dafür verbleibt mir noch genügend entstanden, aber immerhin knapp 400 000. Der franzö- Redezeit. sische Unternehmerverband – er war anfangs sehr skep- (B) tisch und gegen die Einführung – verteidigt heute die (D) Das momentane Problem ist folgendes: Die Tarifpart- 35-Stunden-Woche. Sie hat zu einer Modernisierung der ner sind gerade dabei, sich zu einigen und den Streik zu Gesellschaft und zur Belebung der Dienstleistungsbran- beenden, der in der jetzigen Situation sicherlich che geführt. Sie hat in einer gewissen Weise auch etwas schmerzhaft ist. Auf der anderen Seite kann ich verste- für das Familienleben und für die Konkurrenzfähigkeit hen, dass diese Gewerkschaft 13 Jahre nach der deut- dieses Land getan. schen Einheit endlich die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen verlangt, die die Politik den Men- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein, Werner Schulz! schen von Anfang an versprochen hat. Das ist ganz deutlich nicht der Fall!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie sollten Ihr Augenmerk nicht nur auf die Senkung Frau Bellmann, in der letzten Legislaturperiode – Sie der Lohnkosten richten. Ökonomisch betrachtet, sind waren damals noch nicht Abgeordnete – hat Ihre Frak- nicht nur die Lohnkosten, sondern auch die Energiekos- tion – es ist nur zwei Jahre her – einen Antrag mit dem ten, die Materialkosten, die Produktivitätsentwicklung Titel „Leitbild für ein modernes Deutschland“ einge- und die Arbeitsproduktivität, also die Lohnstückkosten, bracht. Dieser Antrag formulierte das Ziel, eine stufen- entscheidend. Was diese Bereiche angeht, hat der Osten weise Angleichung der Tarife im öffentlichen Dienst in in den letzten Jahren enorme Vorteile erzielt. Das Niveau Deutschland bis 2007 zu erreichen. Warum sollte gerade im Osten liegt heute 10 Prozent unter dem im Westen. der öffentliche Dienst Schrittmacher dafür sein? Warum Die entsprechenden Mittel können schon verteilt wer- sollte das, was dem öffentlichen Dienst recht ist der Pri- den. Die Gewerkschaften fordern keinen Ruck, sondern vatwirtschaft an dieser Stelle nicht billig sein? Das ist einen Stufenplan, also das, was man unter Planungs- doch der Punkt. sicherheit versteht. Die Gewerkschaften sind in einer ge- Der Weggang junger Leute ist doch auch das Ergebnis wissen Weise moderat vorgegangen, indem sie gesagt dessen, dass die Standortfaktoren des Ostens für die Be- haben: Für schwächere Betriebe sollen längere Fristen schäftigten offenbar nicht so attraktiv sind und dass man gelten; wir haben eine Revisionsklausel vorgesehen usw. die Arbeits- und vor allem die Einkommensverhältnisse – Es ist keine starre Situation. im Westen als etwas attraktiver empfindet. Das ist die Kehrseite dieses Standortfaktors. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Eigentlich geht es nicht um die 35-Stunden-Woche. Herr Kollege Schulz, denken Sie bitte an Ihre Rede- Die Arbeitgeber würden 35 Stunden gern bezahlen, zeit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4383

(A) Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ziel sein. Deshalb müssen wir auch von dieser Stelle aus (C) NEN): deutlich sagen, dass wir eine Verkürzung der Wochenar- Die Politik wäre gut beraten, sich aus diesem Konflikt beitszeit ablehnen. Die Reduzierung der Arbeitszeit be- herauszuhalten und darauf zu setzen, dass sich die bei- deutet eine Erhöhung der Lohnkosten um – das muss den Tarifpartner vernünftig einigen, wie es auch der Fall man sich auf der Zunge zergehen lassen – 8,6 Prozent. war, als Sie regierten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das gefährdet kurzfristig 20 000 Arbeitsplätze – vom und bei der SPD) langfristigen Schaden für die Region ganz zu schweigen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der letzte wichtige, entscheidende Standortvorteil Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, Ostdeutschlands, nämlich die längere Arbeitszeit, darf CDU/CSU-Fraktion. nicht dem Machtspiel zwischen den Gewerkschaftsbos- sen zum Opfer fallen. Ich sage „Gewerkschaftsbosse“. An- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – dere sprechen von tarifpolitischen Geisterfahrern. Sie ken- Zuruf von der CDU/CSU: Endlich mal einer, nen sie alle. Im Ergebnis werden die wirtschaftlichen der was davon versteht!) Probleme im Osten größer werden. Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Die Abwanderung der mobilen Arbeitnehmer Alexander Dobrindt (CDU/CSU): nach Westdeutschland wird ebenfalls steigen. Dabei darf man nicht vergessen – das ist schon erwähnt worden –: Die Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mehrzahl der Arbeitnehmer will diesen Streik nicht und Liebe Kollegin Kramme, ich kann eigentlich nur hoffen, trägt diesen Streik nicht mit. Nach einer Umfrage des Al- dass die Mehrzahl der Mitglieder Ihrer Fraktion Ihren lensbach-Instituts vom Februar dieses Jahres waren Thesen hier nicht folgt. Schauen Sie doch einmal nach 86 Prozent der Metaller im Osten mit ihrer Arbeitszeit zu- draußen! frieden. Gleichzeitig wird bei allen Umfragen festgestellt, Wir haben in unserem Land zurzeit eine Abfolge von dass der Erhalt des Arbeitsplatzes heute zum wichtigsten Geschehnissen, die sich einer rationalen Nachvollzieh- Thema geworden ist, was bei 40 000 prognostizierten barkeit entziehen und die in der Summe eigentlich nur Unternehmenspleiten ja auch verständlich ist. noch bezeichnet werden können als Drama – aus meiner Sicht mit einem Hang zur tragischen Komödie, die be- Die 35-Stunden-Woche in Deutschland hat noch nie kanntlich mit der Niederlage des Helden, motiviert einen einzigen Arbeitsplatz geschaffen. Das Versprechen durch seine menschlichen Schwächen, endet. Das lässt der Gewerkschaften in den 80er-Jahren, durch Umvertei- (B) Interpretationsspielraum. lung von Arbeit neue Arbeitsplätze zu schaffen, wurde (D) nie eingelöst. Ich garantiere Ihnen: Was im Westen nicht Mir geht es um den Wirtschaftsstandort Deutschland. funktioniert hat, wird auch im Osten nicht funktionieren. Wir sind das Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum in Sinkende Arbeitszeiten führen zu steigenden Arbeitskos- Europa. ten. Steigende Arbeitskosten führen zu Rationalisierun- (Erika Lotz [SPD]: Jetzt kommt diese Leier gen und zum Arbeitsplatzabbau. Zusätzlich bringen sie wieder!) Leistungsverdichtung und Stress für die Arbeitnehmer mit sich. Das sind die Auswirkungen der 35-Stunden- Der Wirtschaftsminister kündigt für dieses Jahr inzwi- Woche. schen ein Nullwachstum an. Die Arbeitslosenzahlen sind auf einem Rekordniveau seit der Wiedervereinigung. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat Die Bundesanstalt für Arbeit benötigt über 8 Milliarden doch in Bayern geklappt, oder?) Euro Zuschuss aus dem Bundeshaushalt, Tendenz wei- Ich bin froh darüber, dass sich diese Erkenntnis lang- terhin steigend. Die Arbeitslosenzahlen werden im Win- sam durchzusetzen scheint und auch unser Bundeswirt- ter möglicherweise – das wäre erschreckend – auf über schaftsminister die Auffassung vertritt: In Deutschland 5 Millionen steigen. Unsere Sozialsysteme haben die muss wieder mehr gearbeitet werden. Grenzen ihrer Finanzierbarkeit schon weit überschritten. Wir haben eine katastrophale Situation auf dem Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dungsmarkt. Und da wird in einer Zeit, in der wir über mehr Arbeit und über Mehrarbeit diskutieren, um die Ich muss dem Herrn Wirtschaftsminister allerdings sa- Wirtschaft in Deutschland wieder voranzubringen, ein gen: Wir brauchen keine Feiertagsdiskussion. Wir müs- Arbeitskampf geführt, der die wirtschaftlich schwächste sen über höhere Wochenarbeitszeiten nachdenken, um Region in Deutschland noch schwächer machen wird! die Produktionskosten in Deutschland maßgeblich zu senken und somit wieder wettbewerbsfähiger zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine Reduzierung der Arbeitszeit von 38 Stunden auf 35 Stunden bei Lohnausgleich wird den Wirtschaftsplatz Das schafft mittel- und langfristig die Arbeitsplätze, die Ostdeutschland zum Verlierer im Wettbewerb um Unter- wir brauchen. Wir müssen neue Arbeitsmodelle mit Zeit- nehmensansiedlungen, zum Verlierer im Wettbewerb um korridoren für den flexiblen Einsatz der Arbeitskraft fin- Arbeitsplätze und zum Verlierer bei der Bekämpfung der den. Damit werden unsere Unternehmen wieder leis- Massenarbeitslosigkeit machen. Das kann nicht unser tungsfähiger und es entstehen neue Jobs in Deutschland. 4384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Alexander Dobrindt (A) Es wird Zeit, dass alle Beteiligten begreifen: Das Pro- (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Auch rich- (C) jekt 35-Stunden-Woche ist gescheitert. Wenn die Ge- tig!) werkschaften jetzt eine vertretbare Lösung für Ost- deutschland propagieren wollen, dann müssen sie die Dazu will ich Ihnen sagen: Wenn wir einen Streik in Forderung nach der 35-Stunden-Woche aufgeben, sich Bayern oder Baden-Württemberg hätten und aus Schles- für den Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze einsetzen, wig-Holstein Streikposten kämen endlich das Prinzip der Umverteilung von Arbeit aufge- ( [CDU/CSU]: Das wäre ben und nach dem Prinzip „Arbeit schafft Wachstum und eine Schweinerei!) Wachstum schafft Arbeit“ handeln. oder in Frankfurt entschieden würde, ob gestreikt wird Danke schön. oder nicht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dirk Niebel [FDP]: Genauso schlimm!) neten der FDP) würde keiner davon reden, dass der Norden dem Süden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: einen Streik aufzwingt. Sie beleben an dieser Stelle – das werfe ich Ihnen vor – wieder Vorurteilsstrukturen und Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Wend, SPD- bauen in den Köpfen wieder Mauern zwischen West und Fraktion. Ost auf. Das weisen wir an dieser Stelle zurück.

Dr. Rainer Wend (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und derspruch bei der CDU/CSU) Herren! Natürlich ist dieser Tarifkonflikt einer Bewer- tung zugänglich. Bei näherer Betrachtung muss man sa- Die zweite Sache, die ich Ihnen vorwerfe – das hat gen, dass es gute moralische Argumente für die insbesondere Herr Göhner beim vorherigen Tagesord- IG Metall gibt, diesen Tarifkonflikt zu führen, es aber nungspunkt getan –, ist, dass Sie die auch nach meiner auch gute ökonomische Argumente gibt, diesen Tarif- Meinung schwierige tarifpolitische Auseinandersetzung konflikt nicht zu führen. dazu benutzen, um die Tarifautonomie insgesamt infrage zu stellen. Dazu sage ich Ihnen ein bisschen selbstiro- Es ist richtig, dass sich Arbeitgeber und IG Metall am nisch, dass es sich mit der Tarifautonomie wie mit der 18. Mai 2002 in Berlin darauf verständigt haben, über Demokratie verhält: Wie oft habe ich mir nach Kommu- eine schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit in Ost- nal- oder Landtagswahlen, die schlecht für uns ausgin- deutschland zu verhandeln. Vor diesem Hintergrund sind gen, gewünscht, dass man es vielleicht mit der Demokra- (B) die Forderungen der IG Metall zu verstehen. Wahr ist tie nicht so ganz ernst nehmen müsste. So ist das auch (D) auch, dass die IG Metall eine schrittweise Einführung mit der Tarifautonomie. Nur weil einem einmal ein Er- der 35-Stunden-Woche bis zum Jahre 2009 verlangt und gebnis nicht gefällt, kann man nicht das bewährte Prin- bereit ist, bei Veränderung der wirtschaftlichen Rahmen- zip der Tarifautonomie aufs Spiel setzen. bedingungen auch an diesem Zeitkorridor noch Verände- rungen zuzulassen. Das zeigt also: Wer angesichts dieses (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Tarifkonflikts ausschließlich von Verantwortungslosig- Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- keit aufseiten der Gewerkschaften spricht, vergisst, dass NEN]) diese aktuelle Auseinandersetzung in bestimmten frühe- Damit hängt auch die Bewertung der Vergangenheit ren Vorgängen wurzelt. zusammen. Sehen Sie sich doch einmal an, wie die Ge- Die ökonomischen Gründe, die aufgeführt wurden, werkschaften in dieser Republik mit Tarifverträgen um- lassen es aber auch aus meiner Sicht nach einer differen- gegangen sind: Die tarifpolitische und die lohnpolitische zierten Bewertung am Ende unvernünftig erscheinen, Zurückhaltung der letzten Jahre war angesichts unserer diesen Tarifkonflikt zu führen. Das will ich nicht ver- gesamtökonomischen Situation vorbildlich. Tarifver- schweigen. träge bilden seit den 50er- und 60er-Jahren ein sinnvol- les Rückgrat unserer Ökonomie. Von daher sollten Sie (Beifall des Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/ nicht der Versuchung erliegen, um eines kurzfristigen DIE GRÜNEN]) Vorteils willen eine schwierige tarifpolitische Situation Ich möchte auf drei Dinge hinweisen, die mich in dieser auszunutzen und die Tarifautonomie insgesamt infrage heutigen Debatte stören. zu stellen. Das wäre schädlich. Punkt Nummer eins: Es wurde mehrfach gesagt, Ge- Dritter Punkt – hier liegt vielleicht die größte Ge- werkschaftssekretäre aus dem Westen werden eingeflo- fahr –: Ich greife Ihr Wort, Herr Brüderle, von den Ge- gen, um vor den Toren der Betriebe in Ostdeutschland werkschaftsbonzen auf. Ich will nun nicht über Begriff- Streikbrecher am Betreten zu hindern. lichkeiten streiten – hier liegen mir Worte auf der Zunge, die ich lieber herunterschlucke, weil ich auch (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist die weiß, dass Sie, Herr Brüderle, sonst ein ganz netter Realität!) Kerl sind –, aber ich habe das Gefühl, es geht CDU/ Es wird gesagt, dass in den Gewerkschaftszentralen im CSU und FDP hier um etwas anderes. Sie wollen die, Westen entschieden wurde, ob dieser Arbeitskampf ge- wie auch ich finde, schwierige wirtschaftliche Situa- führt wird oder nicht. tion, die tarifpolitische Situation und die – auch das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4385

Dr. Rainer Wend (A) räume ich ein – suboptimale intellektuelle Beweglich- nicht einfach, es war keine Selbstverständlichkeit, dass (C) keit einiger Gewerkschaftssekretäre sie im Osten entstanden sind. Kollege Brüderle hat am Beispiel der Tschechei und Polens gezeigt, wie hart die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- ser Wettbewerb ist. Viele haben sich für diese Standort- wie des Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/ vorteile, für diesen Standort Ost engagiert, die Kommu- DIE GRÜNEN] – Manfred Grund [CDU/ nen durch die Ausweisung von Gewerbegebieten, die CSU]: Wunderbar!) Länder durch die Bereitstellung von Fördermitteln, nutzen, damit am Ende der politische Einfluss der Ge- ebenso der Bund; das ist richtig. Aber nicht zuletzt ha- werkschaften in dieser Republik auf null zurückgefahren ben sich auch die Arbeitnehmer mit ihrer Arbeitszeit en- wird. Das werden wir Sozialdemokraten nicht zulassen; gagiert. da können Sie sicher sein, meine Damen und Herren. Aus all diesen Gründen begann langsam etwas zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wachsen. Es entstanden moderne, hochproduktive Be- Gewerkschaften sind nicht immer einfach. Das wis- triebe. Jetzt muss man den Eindruck bekommen: Irgend- sen wir Sozialdemokraten aus den letzten Wochen. Ich jemandem scheint das ein Dorn im Auge zu sein. Wenn sage Ihnen aber eines: Eine Demokratie, wie sie in unse- man die Streiks in Ostdeutschland unter diesen Vor- rem Lande mithilfe von Gewerkschaften aufgebaut zeichen betrachtet, dann – so müssen Sie schon zugeste- wurde, ist stabil. hen – kann man auch auf üble Gedanken kommen. Ich wünsche mir Gewerkschaften, die die Reformnot- Sehen Sie sich doch einmal die Lage der Gewerk- wendigkeiten verstehen, die auf dem sozialen Ausgleich schaften an; Sie haben anhand der Situation bei sich zu bei diesen Reformen bestehen, die ein wichtiger politi- Hause geschildert, wie deren Lage dort ist. Im Osten scher Faktor in unserer Republik sind und nicht, wie von sind 30 Prozent der Arbeitnehmer im Metall- und Elek- Ihnen gewünscht, beiseite gestellt werden, die vielmehr trobereich gewerkschaftlich organisiert. 8 Prozent ha- mit dabei sind und Einfluss haben. Ich wünsche mir, ben an dieser Abstimmung teilgenommen. Selbst wenn dass uns dies in den nächsten Monaten noch besser ge- ich davon ausgehe, dass in einem Betrieb 30 Prozent der lingt, als es zurzeit der Fall ist. Ich wünsche mir in die- Arbeitnehmer organisiert sind und 80 Prozent dafür ge- sem Sinne starke und weltoffene Gewerkschaften. stimmt haben, so haben keine 25 Prozent der Beleg- schaft für diesen Streik gestimmt. So sieht die Realität (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor Ort aus. DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben Scheuklappen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- ruf von der CDU/CSU: Eine Minderheit ver- (B) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hindert Arbeit!) Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther, Angesichts dessen muss man sich schon die Frage gefal- FDP-Fraktion. len lassen: Wenn es die Gewerkschaften im Osten auf diese Weise nicht schaffen, einen Streik auf die Beine zu Joachim Günther (Plauen) (FDP): stellen, wie machen sie es dann? Dann werden eben bus- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und seweise die Leute angekarrt, von Frankfurt oder Düssel- Herren! Frau Kollegin Kramme, Sie haben hier eine tolle dorf dirigiert; sie stehen vor den Werktoren, sie sind Lehrstunde zur Tarifautonomie abgeliefert. Ich stelle die streikerfahren und sie verwehren im Regelfall denen, die Frage: Wann waren Sie zum letzten Mal im Osten und arbeiten wollen, den Einlass in den Betrieb. haben sich die Realität vor Ort angeschaut? Denn darum (Beifall des Abg. Dr. Michael Luther [CDU/ geht es doch heute. CSU]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich sage es ganz deutlich: Ich möchte damit einmal Folgendes in Verbindung Mit dieser Aktion haben sich die deutschen Gewerk- bringen: Im Osten stehen 1 Million Wohnungen leer; schaften aus der gesellschaftlichen Verantwortung für 62 000 Bürger haben im vergangenen Jahr zum Beispiel den Aufbau Ost verabschiedet. mein Heimatland Sachsen verlassen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Fragen Sie einmal, warum!) Das kann man auch ganz deutlich an den Reaktionen in der Presse und im Fernsehen der letzten Tage verfol- Von der Kommunalpolitik bis zur Bundespolitik macht gen: Von internationalen Investoren in Aussicht genom- man sich Gedanken darüber, wie Arbeitsplätze dort ge- mene oder in Vorbereitung befindliche Objekte werden halten werden können. Denn wegen des Mangels an Ar- storniert. Die Investoren überlegen, ob sie den Schritt beitsplätzen verlassen die Bürger ihre Heimat. nach Ostdeutschland unter den jetzigen Bedingungen Zaghaft sind in letzter Zeit neue Ansiedlungen ent- noch tun sollen. Das bedeutet weniger Arbeitsplätze in standen: in der Industrie, im Gewerbe und vor allem in den neuen Bundesländern. In diesem Zusammenhang der Metall- und in der Autozulieferindustrie. Die Stand- kann durchaus die Frage gestellt werden: Ist das viel- orte dieser neuen Arbeitsplätze standen im harten inter- leicht eine gewollte Aktion? Will die Gewerkschaft da- nationalen Wettbewerb mit anderen Standorten. Es war durch im Endeffekt den Aufbau von Arbeitsplätzen im 4386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Joachim Günther (Plauen) (A) Osten verhindern, um ihren Einfluss im Westen konstant (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Er ist der (C) zu halten? designierte Vorsitzende!) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Glau- – Wie gesagt, ich kritisiere Herrn Peters ganz offen, ben Sie, was Sie sagen?) deutlich und laut von dieser Stelle aus. Ich lehne diese Klientelpolitik auf dem Rücken des Man muss sich einmal klar machen – damit komme Wirtschaftsstandortes Ost eindeutig ab, meine Damen ich zum Thema –, wie die Gesamtsituation in Deutsch- und Herren. land im Moment aussieht. Wir sind in einer ganz schwie- rigen wirtschaftlichen Situation. Aber im Moment sieht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – man einen Silberstreif am Horizont, und zwar aufgrund Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist ja Schwach- verschiedener Anzeichen: Der Ifo-Geschäftsklimaindex sinn!) weist nach oben, der Leitzins hat mittlerweile ein histori- Es ist höchste Zeit, dass wir über diese Art von Arbeits- sches Tief erreicht, die Steuerreform wird vermutlich kampfritualen nachdenken. Es ist höchste Zeit, dass wir vorgezogen, die Aktienkurse haben sich von ihrem Tief- dem Osten eine faire Chance für die Entstehung von Ar- stand wieder erholt, auch dort sieht es langsam wieder beitsplätzen geben, damit nicht noch mehr Menschen besser aus. In dieser Situation einen solchen Streik zu in- dieses Gebiet verlassen. Entsprechend lautet meine Auf- szenieren ist einfach falsch; das muss man offen sagen. forderung an die Bundesregierung – weil Sie gefragt ha- (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ ben –: Nehmen Sie Stellung, wie Sie Einfluss darauf DIE GRÜNEN] sowie bei der CDU/CSU und nehmen wollen, dass es zu keinem weiteren Abbau in der FDP) dieser Richtung kommt. Das Ziel, das dabei verfolgt wird, nämlich die 35-Stun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den-Woche, ist im Westen bereits 1984 durchgesetzt wor- der CDU/CSU) den. Man muss sich einmal genau anschauen: Wozu hat Deshalb wollen wir uns aus den starren Flächentarif- denn die 35-Stunden-Woche im Westen geführt? Für die verträgen verabschieden. Wir wollen den Beschäftigten Facharbeiter hat sich dadurch nicht viel verändert. Das in den Betrieben mehr Spielraum geben. Wenn es ge- Problem bestand darin, dass die gering qualifizierten Ar- lingt, dass die Mehrheit in einem Betrieb für etwas eine beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Arbeits- Entscheidung trifft, dann muss dies allgemein akzeptiert markt herausgedrängt wurden. werden. In diesem Sinne stehen wir hinter den Arbeit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nehmern in Ostdeutschland und in diesem Sinne blockie- (B) ren wir nicht den Aufbau Ost. Diese Gefahr besteht auch jetzt, wenn man die Linie ver- (D) folgt, die 35-Stunden-Woche im Osten einzuführen. Der Herzlichen Dank. Standortvorteil, den der Osten heute noch hat, ginge da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bei verloren; das ist nun einmal Fakt. (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ist es!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wie soll man denn ein Unternehmen im Westen heute Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bünd- noch motivieren, sich im Osten anzusiedeln, wenn auch nis 90/Die Grünen. der letzte Vorteil wegfällt? (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DIE GRÜNEN] sowie bei der CDU/CSU und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, der FDP) eben ist zu Recht in den Vordergrund gestellt worden, Der Osten hat ein Sonderproblem, nämlich die Pro- wie wichtig die Tarifautonomie der Gewerkschaften und duktpalette. Die Produktpaletten in vielen Betrieben im der Arbeitgeber ist. Daran führt kein Weg vorbei und Osten sind heute nicht mehr weltmarktfähig. Wir brau- darüber brauchen wir hier auch nicht zu streiten. chen im Osten neue, innovative Betriebe. Aber innova- Auf der anderen Seite muss es erlaubt sein und ist es tive Betriebe müssen insbesondere im Bereich Forschung notwendig, dass sich dieses Parlament mit Fehlentwick- und Entwicklung einiges zu bieten haben. Gerade For- lungen in diesem Bereich befasst. Deshalb halte ich die schung und Entwicklung sind jedoch nun einmal ein so heutige Aktuelle Stunde zu diesem Thema nicht unbe- genannter Engpassfaktor, der durch die Arbeitszeitver- dingt für falsch. Es ist aber ein völlig falscher Ansatz kürzung noch verstärkt würde. So kann es nicht gehen. – das kam eben ganz stark aus den Reihen der FDP, teil- (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ weise auch aus den Reihen der CDU/CSU –, die Ge- DIE GRÜNEN] sowie bei der CDU/CSU und werkschaften hier insgesamt zu attackieren. Dass man der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Wir ha- Gewerkschaftsfunktionäre wie Herrn Peters wegen der ben noch Plätze frei! – Dr. Rainer Wend völlig falschen Linie, die er vertritt, brandmarkt, kann [SPD]: Pass auf, wohin du dich gleich setzt!) ich nachvollziehen. Das sage ich als jemand, der seit 30 Jahren Mitglied der IG Metall ist. Aber Peters steht Man muss einmal ganz nüchtern die entsprechenden nicht für die ganze IG Metall; dort gibt es auch Leute, Zahlen betrachten: Die gesamtwirtschaftliche Produkti- die andere Positionen vertreten. vitätslücke zwischen dem Westen und dem Osten beträgt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4387

Hubert Ulrich (A) 40 Prozent. Wenn sich die Gewerkschaften mit ihrer so die Prognose der Bundesregierung für den Winter die- (C) Forderung durchsetzen würden, würde diese Lücke noch ses Jahres. Wir müssen also zur Vernunft zurückkehren. größer werden. Der Streik, den die IG Metall vom Zaun gebrochen hat, ist zu verurteilen. Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind: Die IG- Metall-Forderung macht einfach keinen Sinn. Ich glaube, dass vor allen Dingen die IG Metall eine große Doppelzüngigkeit an den Tag gelegt hat. Sie strei- (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ tet für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland. Es gibt DIE GRÜNEN] sowie bei Abgeordneten der angeblich eine Gerechtigkeitslücke, weil es im Westen CDU/CSU und der FDP) eine 35-Stunden-Woche und im Osten eine 38-Stunden- Mit Blick auf die Gesamtsituation muss man sagen, dass Woche in den Metall- und Elektrobetrieben gibt. Ich als es der falsche Zeitpunkt ist. Mit Blick auf den Osten Niederbayer kann mich noch gut daran erinnern, wie un- muss man sagen, dass es der falsche Ort ist. Angesichts terschiedlich die Arbeitszeiten früher in der Bundesrepu- der Auswirkung auf den Westen kommt man ebenfalls blik Deutschland waren. Wir haben über 30 Jahre ge- zu der Schlussfolgerung, dass diese Forderung völlig braucht, bis Bayern den Anschluss an Westdeutschland falsch ist und keinen Sinn macht. erreicht hatte. Es wird immer unterschiedliche Arbeits- zeiten in Deutschland geben. Wir brauchen die 35-Stunden-Woche im Osten ge- nauso wenig wie ein Loch im Kopf. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ Ich betrachte es als Zynismus, wenn die Gewerk- DIE GRÜNEN] sowie bei der CDU/CSU und schaft vorgibt, sie würde für Gerechtigkeit streiten, sie der FDP) aber in Wirklichkeit für Arbeitsplätze im Westen und ge- gen Arbeitsplätze im Osten streitet. Heute wurde an die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Belegschaft des BMW-Werks in Dingolfing von der IG Metall ein Flugblatt verteilt, in dem es unten ganz Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, plakativ heißt: „35-Stunden-Woche sichert 2 000 Ar- CDU/CSU-Fraktion. beitsplätze bei BMW in Dingolfing“. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt rede du für uns!) (Lachen bei der CDU/CSU – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist unglaublich! – Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Ein Skandal!) Max Straubinger (CDU/CSU): Die Begründung unter der Überschrift „Was haben wir (B) Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich (D) kann dem Kollegen Ulrich in vielen Punkten nur bei- vom Arbeitskampf?“ lautet: pflichten. Die IG Metall hat einen Streik vom Zaun ge- Immer mehr Unternehmen führen Vergleiche … brochen, der volkswirtschaftlich völlig sinnlos ist und durch, um herauszufinden, wo am billigsten produ- der vor allen Dingen den Wirtschaftsstandort Ost- ziert werden kann. Wenn gleiche Arbeitsbedingun- deutschland massiv schädigt und dort den Verlust von gen bestehen, können Belegschaften an verschiede- Arbeitsplätzen bewirkt. nen Standorten nicht mehr gegeneinander (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausgespielt werden. neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir von der Union halten es deshalb mehr mit den Die Forderung der IG Metall ist sozusagen, keine Ar- Forderungen des Bundeswirtschaftsministers: Um die beitsplätze im Osten entstehen zu lassen, sondern alle an Krise in Deutschland zu überwinden, ist es notwendig, bestehenden Standorten zu konzentrieren. Dies passt dass wieder mehr und nicht weniger in Deutschland ge- nicht damit zusammen – die Gewerkschaften gehen ja arbeitet wird. immer so großartig mit dem Wort „Solidarität“ um –, (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: „In dass man Solidarität üben und einen Beitrag für den Auf- Ostdeutschland“ müssen Sie sagen!) bau Ost leisten will. Das ist eine falsche Politik. Mehr arbeiten bedeutet natürlich Vollbeschäftigung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: 38-Stun- Wie der Streik von den Menschen in Deutschland be- den-Woche für Bayern!) wertet wird, hat die IG Metall erfahren. Ich habe mich erst heute mit Betriebsräten von BMW in Dingolfing, – Darauf komme ich gleich noch, Frau Kollegin Wolff. die der Christlichen Gewerkschaft Ich möchte einmal zurückblicken. 1960 hatten wir un- (Anette Kramme [SPD]: Das ist eine Gewerk- ter Vollbeschäftigung. Die Deutschen ha- schaft?) ben damals 90 Tage mehr gearbeitet. Dies ist ein Beleg dafür, dass die 35-Stunden-Woche gescheitert ist; denn angehören, unterhalten. Sie sagten, bei der IG Metall wir werden bei 5 Millionen Arbeitslosen anlangen – würden die Austrittsscheine nur so gesammelt werden. (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Leider ist (Anette Kramme [SPD]: Das konnte ich bis- es so!) lang nicht feststellen!) 4388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Max Straubinger (A) Darüber hinaus kommt die Position der Menschen auf Satz gesetzlich fixiert worden ist. Es gibt ein Richter- (C) der Homepage der IG Metall zum Ausdruck. recht, das sich entwickelt hat und bestimmte Regeln und Bedingungen festhält. Dass dies so richtig ist, ist die aus- Gestern wurde in der „Welt“ getitelt: „Gewerkschafts- drückliche Haltung der Bundesregierung. Denn wir sind deppen ab nach Kuba.“ der Auffassung, dass es zur Tarifautonomie keine Alter- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ native gibt und sich die Tarifautonomie in diesem Lande CSU]: Da gehören sie hin!) bewährt hat. Dies zeigt sehr deutlich, wie sich die Bevölkerung und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mer gegen den Druck und die Bevormundung der Ge- werkschaften gegenüber arbeitswilligen Menschen weh- Zum Zweiten muss man festhalten: Wenn man sich ren. Dies muss für die Gewerkschaften ein Alarmzeichen die Entwicklung der Tarifautonomie im Verlauf der Jahr- sein. Diese haben auch eine gesellschaftspolitische Ver- zehnte anschaut, dann stellt man fest, dass wir bestimm- antwortung und eine Verantwortung für den Wirtschafts- ten Bedingungen und Veränderungen unterworfen sind. standort Deutschland. Deshalb sind sie aufgefordert, die- Auch in der Debatte zuvor haben manche Redner von sen nutzlosen Streik sofort abzubrechen der Krise der Tarifautonomie gesprochen. Das kann sich in vielerlei Dingen ausdrücken, zum Beispiel darin, wie (Dr. Rainer Wend [SPD]: Und in die CSU ein- stark die Tarifbindung in bestimmten Bereichen ist, wie zutreten!) viele Arbeitgeber auf der einen Seite überhaupt noch zu und darüber hinaus dafür zu sorgen, dass zukünftig wie- Arbeitgeberverbänden gehören und welche Bindekraft der einheitliche Lebensverhältnisse in Deutschland ge- auf der anderen Seite Gewerkschaften haben, wie sich schaffen werden. Dafür steht unsere Politik. Deshalb Gewerkschaften organisieren können und ob Gewerk- sind die Gewerkschaften aufgefordert, einen Beitrag zu schaften überhaupt in der Lage sind, tarifliche Forderun- leisten und den Streik zu beenden. gen durchzusetzen. Das sind ganz wichtige Fragen, die eine Rolle spielen, wenn hier Gewerkschaftsorganisatio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen kritisiert werden. All diese Fragen spielen eine Rolle. Man muss sie sich, wie ich finde, sehr genau an- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schauen. Wer die Tarifautonomie will, wer die Tarifauto- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär nomie für richtig hält, der muss ein Interesse daran ha- Gerd Andres. ben, dass es Tarifparteien gibt, die in der Lage sind, etwas durchzusetzen, dass es Tarifparteien gibt, die auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen können. (B) Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- (D) nister für Wirtschaft und Arbeit: (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: So wie Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und jetzt!) Herren! Wer der Debatte zuhört, stellt fest, dass hier, po- litisch beabsichtigt, massiv geholzt wird. Wenn das nämlich nicht mehr gewährleistet ist, dann setzt sich eine der beiden Tarifvertragsparteien durch (Renate Blank [CDU/CSU]: Am meisten holzt und die Tarifautonomie verkommt zur Farce. die Gewerkschaft!) Damit bin ich beim dritten Punkt – meine sehr verehr- Das ist legitim; das ist zulässig. Man kann Tarifausein- ten Damen und Herren, ich will dem überhaupt nicht andersetzungen bewerten, wie man möchte. Es ist legi- ausweichen; ich finde das völlig richtig –: Der Bundes- tim, eine politische Bewertung der Tarifauseinanderset- kanzler hat am Rande des Gipfels in Thessaloniki er- zungen vorzunehmen. klärt, die Tarifparteien täten gut daran, sich lieber eine Ich will erstens festhalten: In der Debatte zuvor hat Stunde früher als eine Stunde später zu einigen; denn die der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU- ökonomische Entwicklung im Osten könnte Schaden Fraktion erklärt: „Die Tarifautonomie hat Verfassungs- nehmen. rang.“ Er hat darüber hinaus erklärt: „Flächentarifver- Die Haltung der Bundesregierung ist – ganz beson- träge bleiben … das entscheidende Instrument einer … ders in der gegenwärtigen ökonomischen Situation –, Lohnfindung.“ Wer den Verfassungsrang der Tarifauto- dass jede Stunde, die der Streik länger dauert, schädlich nomie ernst nimmt, muss natürlich zur Kenntnis neh- ist. Deswegen wäre es ganz wichtig, dass sich die Tarif- men, dass zur Tarifautonomie zwei Tarifparteien gehö- vertragsparteien auf den Weg machen, zu Gesprächen ren, dass diese Tarifparteien ihre Angelegenheiten kommen und sich verständigen. autonom bestimmen und aushandeln können Damit sind wir bei einem Prinzip, das hier gerne un- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ terschlagen wird – manchen nehme ich das gar nicht CSU]: Aber auch verantwortlich! – Manfred übel; sie sind halt so gestrickt –: Ein Streik ist ein Mittel Grund [CDU/CSU]: Den Schaden hat die Poli- in einer Tarifauseinandersetzung. Es ist völlig legitim, tik!) dieses anzuwenden. Manche, die aus den neuen Bundes- und dass es in diesem Land nach Art. 9 des Grundgeset- ländern kommen, wissen, dass sie früher in einer Gesell- zes im Rahmen der Tarifautonomie ein entwickeltes Ar- schaftsordnung lebten, in der aus ganz bestimmten beitskampfrecht gibt, für das ganz bewusst kein einziger Gründen Streik verpönt, ja sogar verboten war, und dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4389

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) die, die gestreikt haben, mit Gefängnis und politischer hen und das muss man auch öffentlich aussprechen kön- (C) Verfolgung bedroht wurden. nen. Das Streikrecht ist ein legitimes Mittel in unserem (Beifall bei der SPD) Lande. Damit ein Streik beendet werden kann, muss man zu einer Vereinbarung kommen, die voraussetzt, dass Deswegen ist nicht alles Quatsch, was streikende Me- sich zwei Tarifvertragsparteien auf den Weg machen. taller erklären. Sie beziehen sich nämlich auf eine Ver- einbarung zwischen den Arbeitgebern in der Metall- und (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: So kann Elektroindustrie und der IG Metall, abgeschlossen am nur einer reden, der nicht aus dem Osten 14. Mai dieses Jahres, über Arbeitszeitverkürzungen in kommt!) Stufen zu verhandeln. Ich will Sie darauf aufmerksam – Sie können so viel dazwischenreden, wie Sie wollen. machen, dass es für die Stahlindustrie bereits eine solche Sie werden mich nicht daran hindern, das zu sagen, was Arbeitszeitverkürzung gibt. Eine stufenweise Arbeits- ich für richtig halte – damit Sie das genau wissen, Herr zeitverkürzung wurde zunächst bis zum Jahr 2009 verab- Kollege. redet. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass davon abgewi- chen werden kann, wenn die ökonomische Entwicklung (Beifall bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/ eine solche Arbeitszeitverkürzung nicht möglich macht. CSU]: Es ist unmöglich, den Kollegen so ab- Ich bitte Sie sehr herzlich, auch das zur Kenntnis zu neh- zumeiern!) men. Deswegen sage ich: Die Bundesregierung hat ein gro- Ich will aber meinen vorherigen Gedanken fortsetzen: ßes Interesse daran, dass es morgen bei den Gesprächen Selbstverständlich konkurriert ein bestimmter Industrie- zu einer Einigung kommt, die möglichst dazu führt, dass bereich in den neuen Bundesländern der Streik so schnell wie möglich beendet werden kann. (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Bestimmter Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit bin Bereich? Alle Bereiche!) ich bei einer weiteren Bewertung. Was Sie hier mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde abziehen, ist eine nicht nur mit den Bedingungen, die im Westen herr- sehr offensichtliche Angelegenheit. schen. Vor dem Hintergrund der Erweiterung der Euro- päischen Union gibt es auch einen Standortwettbewerb (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Wir weisen mit den östlichen Beitrittsländern. Sie nur auf die Probleme im Osten hin, die Sie immer wieder vergessen!) (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: So ist es!) (B) Dies ist insbesondere bei Herrn Brüderle als Redner von Das muss man im Auge behalten und damit muss man (D) der FDP zum Tragen gekommen, der sich echauffiert sich auseinander setzen. Das bedeutet, dass man auf die und aufgeblasen hat und der Menschen in einer Art und Andeutung von Herrn Brüderle bezüglich der 3 Euro Weise beschimpft hat, die ich überhaupt nicht unterstüt- Stundenlohn reagieren muss. Man kann so etwas in den zen kann. Raum stellen; entscheidend ist aber, wie man darauf rea- ( [CDU/CSU]: Was machen Sie giert. denn jetzt hier? Bleiben Sie mal sachlich!) Ich will auf einen Punkt zu sprechen kommen, der Man kann sich sachlich politisch auseinander setzen; das nicht neu ist. Ich kann mich daran erinnern, dass wir uns ist überhaupt keine Frage. Aber diese Art und Weise! Ich vor zwei Jahren in einer Aktuellen Stunde – das können habe schon gedacht: Man muss aufpassen; sonst bekom- Sie in den Parlamentsprotokollen nachlesen – zu den Ta- men Sie hier noch einen Schlaganfall. – So haben Sie rifverträgen – Stichwort „5 000 mal 5 000“ – in Wolfs- sich erregt, Herr Kollege Brüderle. burg auseinandergesetzt haben. Damals haben Sie sich über das Verhalten der IG Metall aufgeregt. Damals Beim Nachlesen Ihrer Rede, stößt man auf ein paar durfte ich hier reden und habe auch über Tarifautonomie Probleme, mit denen man sich in der Tat auseinander gesprochen. Ich habe zum Ausdruck gebracht, dass ich setzen muss. Das finde ich völlig richtig. Sie haben drei- mir sehr sicher bin, dass die Tarifvertragsparteien zu ei- mal das Beispiel gebracht, dass in der Automobilindus- ner Lösung kommen werden und es zu einem Tarifver- trie in Tschechien, bei Skoda, 3 Euro Stundenlohn ge- trag zu der Bedingung „5 000 mal 5 000“ kommt. Das zahlt werden. Gut, Herr Brüderle, was lehrt uns das? hat Sie aber nicht daran gehindert, das Thema aufzubla- Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus? Ich kann sen und propagandistisch so zu nutzen, wie Sie das auch Ihnen eine Schlussfolgerung nennen, die ich daraus heute hier wieder tun. ziehe und die die Bundesregierung ziehen muss: Die Standortvorteile, die es in manchen Regionen der Bun- Meine politische Bewertung lautet wie folgt: Wer in desrepublik Deutschland gibt, muss man nicht nur zwi- der jetzigen Situation, in der die Tarifvertragsparteien schen Ost und West abwägen. angekündigt haben, miteinander zu reden, eine Aktuelle Stunde in der Form nutzt, wie Sie das getan haben, der Ich kann viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zeigt, dass er nur ein Interesse daran hat, ordentlich Öl in den neuen Bundesländern verstehen, die darüber ver- ins Feuer zu gießen, und kein Interesse an einer vernünf- bittert sind und das auch öffentlich vortragen, dass es tigen Regelung zwischen den Tarifvertragsparteien hat. 13 Jahre nach Herstellung der staatlichen Einheit in vie- len Fragen noch Unterschiede gibt. Das kann ich verste- (Beifall bei der SPD) 4390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Ich will einen letzten Gedanken hinzufügen: Wir ha- Das kann es also auch nicht gewesen sein; denn die Er- (C) ben in den letzten Wochen erlebt, dass in Frankreich, in fahrungen mit der 35-Stunden-Woche in Deutschland Österreich und in Italien große Streikbewegungen statt- zeigen: Sie bringt nicht mehr Arbeit. gefunden haben. Jeder, der sich die Entwicklung der Streiktage in Deutschland im internationalen Vergleich Ich denke, das weiß die Gewerkschaft. Deshalb halte in den letzten zehn Jahren ansieht, der stellt fest, dass ich die Argumentation von Herrn Peters für vorgescho- wir dabei auf dem drittletzten Platz landen. Auch das be- ben. Worum geht es dann? Lassen Sie mich noch einmal ruhigt mich. aus einer Zeitung zitieren, dieses Mal aus der „Frankfur- ter Rundschau“, die wahrlich nicht als unionsnah be- Ich fordere die Tarifvertragsparteien auf, morgen zu kannt ist. Sie bringt es auf den Punkt, indem sie sagt: einer Einigung zu kommen. Der IG Metall kommt „der Streikzeitpunkt kurz vor ei- nem Führungswechsel an der Gewerkschaftsspitze für Herzlichen Dank. den künftigen Chef gerade richtig“. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Darum DIE GRÜNEN) geht es!) Es geht also nicht um die Arbeitnehmer, sonst würde Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: man wesentlich stärker für mehr Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern streiten. Ich glaube, es geht hier Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Luther, um die Profilierung einzelner Gewerkschaftsbosse. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Dieser Streik kommt zur Unzeit. Wir müssen die wirt- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und schaftliche Lage in Deutschland und vor allem die kata- Kollegen! Herr Andres, Sie haben mir ein Stichwort ge- strophale Lage der Wirtschaft in den neuen Bundeslän- liefert: 13 Jahre nach der deutschen Einheit müssen end- dern betrachten. Wir alle diskutieren hier im Deutschen lich gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen in Ost und Bundestag darüber, dass wir mehr Reformen und Entlas- West geschaffen werden. Das sei eine Sache der politi- tungen bei den Lohnkosten brauchen, weil die Lohnkos- schen Vernunft und Gerechtigkeit. Das sagte gestern in ten je Arbeitsstunde zu hoch sind. Für mich ist es ökono- einem Interview der designierte IG-Metall-Vorsitzende misch nicht einzusehen, weshalb man die Arbeitszeit von Jürgen Peters. 38 auf 35 Stunden pro Woche verringern muss. Was die Menschen in den neuen Bundesländern brauchen – ich (B) (D) Geht es wirklich darum, dass den so ungerecht behan- rede nicht von 3 Euro –, sind auskömmliche Einkommen. delten Arbeitnehmern bei VW in Zwickau jetzt endlich Ob man diese auskömmlichen Einkommen in 35, 38 auch die 35-Stunden-Woche zugestanden werden muss? oder 40 Stunden pro Woche verdient, ist möglicherweise Ist das die entscheidende Gerechtigkeitslücke, für die es eine wichtige Frage; aber das ist in dieser Situation sich lohnt, ungeachtet der Folgen für den Wirtschafts- zweitrangig und nebensächlich. standort neue Bundesländer, ungeachtet der Folgen für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Wirtschaftsstandort Deutschland, ungeachtet der Fol- neten der FDP) gen für die wichtigste Wirtschaftsbranche in Deutschland, nämlich die Automobilindustrie, diese lahm zu legen? Ich Die Lohnkosten und die Lohnnebenkosten müssen beantworte diese Fragen wie folgt – Herr Schulz, ich absolut erarbeitet werden. Bei den Beiträgen zur Renten- komme auf das zurück, was Sie gesagt haben –: Die Ge- und Krankenversicherung kommt es darauf an, dass sie rechtigkeitslücke, die größte soziale Ungerechtigkeit Woche für Woche erarbeitet werden. Bei einer längeren zwischen Ost- und Westdeutschland, ist die im Osten wöchentlichen Arbeitszeit würden sich die Kosten bes- doppelt so hohe Arbeitslosigkeit. ser verteilen und Deutschland bekäme wieder einen Standortvorteil. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland Abschied nehmen von dem Holzweg zu kürzerer Arbeitszeit. Wir müssen endlich wieder zurück Man kann natürlich auf die Idee kommen, dass hinter auf einen richtigen Weg, nämlich zu vernünftigen Ar- diesem Streik vielleicht das Bestreben steckt, durch die beitszeiten in Deutschland. Das ist aus meiner Sicht ganz 35-Stunden-Woche mehr Arbeitsplätze in Deutschland bestimmt nicht die 35-Stunden-Woche. zu schaffen. Bringt die 35-Stunden-Woche mehr Ar- beitsplätze? Ich will aus der „Süddeutschen Zeitung“ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von gestern zitieren: neten der FDP) Aber was hat den Westdeutschen die 35-Stunden- Deshalb will ich an dieser Stelle ganz deutlich an die Woche gebracht? Deutschland hat heute die kürzes- Gewerkschaften appellieren: Kommen Sie wieder zur ten Arbeitszeiten und das niedrigste Wachstum in Vernunft. der EU, die Beschäftigtenzahlen werden im interna- (Peter Dreßen [SPD]: Wer denn?) tionalen Vergleich immer schlechter, die Arbeitslo- sigkeit wird sich im nächsten Winter der Marke von Kommen Sie zu vernünftigen Entscheidungen in Ihrer fünf Millionen nähern. Politik. Stellen Sie diesen Streik ein, bevor es zu spät ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4391

Dr. Michael Luther (A) Ich habe jetzt noch ein Zitat vorzutragen, das ich ges- Zu meinen eigenen Erfahrungen beim Thema Tarifan- (C) tern in der „Welt“ gefunden habe: gleichung im Osten nur so viel: Ich bin Betriebsrat in ei- nem großen europäischen Unternehmen. Der deutsche Bis heute ist nicht vergessen, wie die britische Pre- Teil besteht aus vier Unternehmen – sie wachsen in die- mierministerin Maggie Thatcher in den 70er-Jahren ser Zeit zusammen –, und wie der Teufel es will, kom- dem hochmütigen Führer der Bergarbeitergewerk- men zwei aus dem Westen und zwei aus dem Osten. Wir schaft, Scargill, die Stirn bot. haben die Probleme, über die gegenwärtig diskutiert ( [Starnberg] [SPD]: Die ist wohl wird, im eigenen Haus: Die Arbeitszeiten in den vier Ihr Vorbild! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Kön- Teilfirmen liegen zwischen 35 und 38 Stunden, nach wie nen Sie außer Zeitunglesen noch etwas?) vor gibt es große Differenzen in der Bezahlung. Nach wochenlangem Streik, während Frau Thatcher Aufgrund der kurz bemessenen Zeit möchte ich nur hart blieb, gaben die Bergarbeiter auf. Damit wurde zwei Stichworte nennen und kurz darauf eingehen. die Wende zu einem neuen Aufbruch Großbritanni- Stichwort Produktivitätsunterschied zwischen Ost und ens eingeleitet. West. Gott sei Dank gibt es inzwischen Branchen, in de- nen die produktiveren Unternehmen im Osten stehen. Meine Damen und Herren, ich halte viel von Tarifau- Diese Betriebe produzieren billiger, allerdings arbeiten tonomie und ich halte viel von starken Gewerkschaften. die Menschen mit höherer Arbeitszeit und geringerer Wenn aber die Gewerkschaft auf dem jetzigen Weg wei- Bezahlung. Ich sage Ihnen: Es ist nicht einfach, darauf ter geht, befürchte ich, dass auch wir zu einer englischen Antworten zu finden, wenn man nach dem Warum ge- Lösung kommen. Das will ich nicht. Deswegen fordere fragt wird. ich die Gewerkschaft zur Vernunft auf. Ich will in diesem Zusammenhang auf ein anderes Danke schön. Phänomen hinweisen. In dieser Stadt sitzen Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Kollegen aus Ost und West an einem Schreibtisch; er müsste eigentlich ein Gefälle aufweisen, da es ein Ta- rifgefälle gibt. Der Kollege aus dem Westen verdient bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kürzerer Arbeitszeit mehr als der Kollege aus dem Os- Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Schreck, ten. Ich sage Ihnen: Das wird nicht so bleiben. Zudem SPD-Fraktion. habe ich schon Verständnis für unsere Kollegen. Diese Zustände, wie eben beschrieben, werden im Osten als Wilfried Schreck (SPD): tiefe Ungerechtigkeit empfunden. (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Kürze, am 1. Juli, begehen wir einen sehr markan- (D) Ich gebe zu: Ich stehe hier heute mit einem gewissen Un- ten Tag – Sie werden sich sicherlich erinnern –, den behagen. Das liegt nicht am Thema, zu dem ich wohl 13. Jahrestag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozial- eine Meinung habe, die ich auch sagen werde, sondern union. Ich bin der Auffassung, dass es unser gutes Recht das liegt am Ort. Ich bin wie einige meiner Vorredner der ist, über diese Themen auch auf der Ebene der Gewerk- Meinung, dass wir uns in diesem Hause aus aktuellen schaften zu debattieren. Tarifauseinandersetzungen heraushalten sollten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD – Alexander Dobrindt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]: Ach so, Arbeitsplätze gehen uns also nichts an!) Auch den Ost-West-Konflikt, den Sie mit Ihrer Diskus- sion hervorgerufen haben – darauf hat der Kollege Wend Das sage ich auch in Richtung meiner eigenen Partei und schon hingewiesen –, empfinde ich genauso, ich will in Richtung unseres Koalitionspartners. dieses Thema aber nicht weiter ausführen. Ich habe zu dem Thema einen ganz persönlichen Be- Zum Stichwort Standortvorteil: Natürlich sind im Os- zug. Als Abgeordneter aus dem Osten und als Betriebs- ten Bezahlung und Arbeitszeit wichtige Standortvorteile. rat der ersten Stunde habe ich schon vor der Wende Ge- Aber wenn sie so wichtig sein sollen, wie hier immer ge- werkschaftsarbeit gemacht. Sie können sich vorstellen, sagt wird, dann muss ich mich schon wundern, dass wir dass das nicht immer leicht war; denn wir hatten große im Osten, nachdem dieser Zustand so lange angehalten Probleme. Eines der Hauptprobleme, das mich am meis- hat, nicht mehr Betriebe und mehr Unternehmensansied- ten gestört hat, war die ständige Einmischung der allge- lungen aufweisen können. genwärtigen und scheinbar allmächtigen Partei. Ich erin- nere mich daran, dass wir zur Zeit der Wende Stunden Ich möchte mich in den Bereich der Kollegen der und Tage über das Streikrecht diskutiert haben. Zum IG Metall keinesfalls einmischen. Ihre Diskussion kann Glück haben wir jetzt andere politische Verhältnisse, wir ich verstehen. Ich weiß aber auch, dass andere Branchen haben Freiheit und Demokratie. Wir haben heute große und andere Gewerkschaften einen anderen Stil pflegen. Vorzüge. Ein ganz wichtiger Vorzug ist für mich die Ta- Man kann sich seinen Sozialpartner aber nicht aussu- rifautonomie. Ich bin dafür, dass wir dieses Grundrecht chen. Ich bin aber auch der Auffassung, dass die Kolle- gemeinsam hochhalten, und fordere Sie auf, das zu un- gen der IG Metall zum Beispiel beim Abschluss in der terstützen. Stahlindustrie verantwortlich gehandelt haben. Es ist schon angesprochen worden: 2009 – also 19 Jahre nach (Beifall bei der SPD) der deutschen Einheit – wird es, wenn es bis dahin keine 4392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Wilfried Schreck (A) Zwischenfälle gibt, die gleiche Arbeitszeit geben. Ich Meines Erachtens ist der Oststreik auch ein Westpro- (C) denke, das ist vernünftig. blem. Das gilt aber nicht so sehr, weil jetzt Zulieferket- ten reißen, sondern vielmehr, weil die gegenwärtigen Ich möchte meine Hoffnung aussprechen, dass das Ostmissstände künftig zur Westregel werden könnten. heutige Spitzengespräch und die morgige Verhandlung Wir haben unter einem der vorangegangenen Tagesord- erfolgreich sein werden. Ich hoffe, dass wir am Wochen- nungspunkte gerade darüber debattiert. Auch der Parla- ende eine entsprechende Lösung haben werden. mentarische Staatssekretär hat das nicht dementiert und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. der Wirtschaftsminister schon gar nicht, weil er ja offen- sichtlich als soziale Abbrechstange berufen worden ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Er leistet zum Beispiel mit der Umsetzung der Hartz-Ge- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: setze ganze Arbeit. Dann brauchen wir allerdings auch Das war eine klare Meinung!) solche Tarifauseinandersetzungen nicht mehr. Ein letzter Punkt: Zeitgleich zum Streik und zu den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Auseinandersetzungen um diesen Streik gab es die De- Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. batte um mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche und um eine Ausbildungsplatzabgabe. In diesem Fall wollte Petra Pau (fraktionslos): die Bundesregierung nicht Partei ergreifen. Sie meinte, dass das die Tarifpartner klären sollten. Ich finde, das ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! scheinheilig; denn es gehört auch in diesen Konflikt hi- Zwei Argumente gegen den Streik, die auch heute in die- nein. Sie haben im Moment kein soziales und auch kein ser Debatte vorgetragen wurden, will ich gleich ausräu- demokratisches Profil, da Sie sich mit den aktuellen Fra- men. Das erste Argument lautet, es sei die falsche Zeit. gen der Arbeitsmarktpolitik sowohl für Jugendliche als Richtig ist: Ich habe von Arbeitgeberseite noch nie ge- auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hört, jetzt sei die richtige Zeit für einen Streik. Das wäre nicht auseinander setzen. auch schizophren. Danke schön. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Das zweite Argument lautet, der Streik vernichte Vor- teile des Ostens. Richtig ist: In den neuen Bundesländern Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wird für weniger Geld mehr gearbeitet als in den alten Das Wort hat der Kollege Manfred Grund, CDU/ (B) Bundesländern. Die Arbeitslosigkeit ist dennoch im- (D) mens höher. CSU-Fraktion. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie kann noch (Beifall bei der CDU/CSU) höher werden!) Manfred Grund (CDU/CSU): Die Logik der Billiglohnpropheten stimmt auch hier nicht. Es muss wohl noch andere Standortfaktoren ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehrere ben, die einwirken. Redner – zuletzt der Kollege Schreck, aber auch der Kollege Andres – haben hier mit Verweis auf die Tarif- Mich bewegen in dieser Debatte ganz andere Fragen. autonomie die Frage gestellt, warum sich das Parlament Zum Beispiel: Die Forderung „gleicher Lohn für gleiche überhaupt mit Tarifauseinandersetzungen beschäftigt. Arbeit“ ist zwar uralt, aber mitnichten überholt. Das ginge uns doch eigentlich nichts an. Meine lieben Freunde, ich glaube, es geht uns eine ganze Menge an, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- weil die Politik im Zweifel für die Folgen verantwortlich tionslos]) gemacht wird. Was also setzt die Streikenden vermeintlich ins Unrecht, (Beifall bei der CDU/CSU) obwohl sie nichts anderes wollen als gleichen Lohn für gleiche Arbeit? Im Zusammenhang damit, dass jemand für Tarifab- schlüsse verantwortlich gemacht wird, erinnere ich an Zweitens. Die Angleichung der Ostlöhne an die im den ersten Tarifabschluss in der ostdeutschen Wirtschaft Westen üblichen ist ein erklärtes Ziel der rot-grünen Re- nach der Wende. Damals wurde in der Wirtschaft der- gierung. Warum wenden sich also auch Minister der rot- selbe Tarif angenommen wie im öffentlichen Dienst. Das grünen Bundesregierung flugs gegen die Streikenden? hat dazu geführt, dass trotz der Arbeitsproduktivität von (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- nur ungefähr einem Drittel im Vergleich zum Westen ein tionslos]) Lohnniveau von zwei Dritteln – also von 66 Prozent – des Westniveaus erreicht wurde, wodurch in den neuen Drittens. Das Grundgesetz gilt für alle. In ihm wird Bundesländern massenhaft Arbeitsplätze verloren ge- gefordert, dass alle gleich behandelt werden. Gilt dieses gangen und uns die Probleme vor die Haustür gekehrt Gebot für Ossis nicht? worden sind. Wir sind also gut beraten, uns hier damit zu beschäftigen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4393

Manfred Grund (A) Dieser Tarifabschluss 1990/91 war im Nachhinein mit einem Arbeitsplatz in den neuen Bundesländern zu (C) fast wie eine Verabredung von Politik, Gewerkschaften den Privilegierten. Nutzt er dem Standort neue Bundes- und Wirtschaft gegen den Standort Ost. Die Politik – alle länder insgesamt, mit eingeschlossen – wollte Wähler, die Gewerkschaften wollten Mitglieder und die Wirtschaft West wollte keine (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) Konkurrenz im Osten. In einer ähnlichen Situation be- wo wir um jeden Arbeitsplatz Klimmzüge machen, um finden wir uns heute wieder. an Investitionen zu kommen? Oder, Herr Kollege Ulrich, Der Kollege Wend, Vorsitzender des Ausschusses für nutzt er möglicherweise dem designierten IG-Metall- Wirtschaft und Arbeit, hat in seiner bemerkenswerten Vorsitzenden Peters auf seinem Weg an die Gewerk- Rede von vorhin bezogen auf die Gewerkschaftsfunktio- schaftsspitze? näre den Begriff der „suboptimalen Beweglichkeit“ ge- (Zurufe von der SPD: Nein!) prägt. Er hat in Richtung der Opposition gesagt, dass sie eigentlich das Geschäft der Ost-West-Spaltung betreibt. Ich glaube, solche Fragen beantworten sich eigentlich Kollege Wend, dazu braucht es in diesem Haus nicht die selbst. Opposition; Ein weiterer Punkt. Der Kollege Luther hat erklärt: (Beifall des Abg. Wilfried Schreck [SPD]) Dieser Streik wird unter dem Thema Gerechtigkeitslü- cke geführt. Tatsächlich ist es so: Wir haben im Osten denn dazu hat schon das geführt, was Gewerkschafts- Gerechtigkeitslücken. Dazu gehört an erster Stelle die funktionäre mit diesem unsäglichen Streik in Ost und Arbeitsplatzlücke in Form der doppelt so hohen Arbeits- West herbeigeführt haben. losigkeit. An zweiter Stelle steht die Ausbildungsplatz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lücke. An dritter Stelle ist die Frage der Vermögensbil- dung zu nennen. Die Ostdeutschen sind nach 14 Jahren Vor einigen Tagen war in einer Münchener Abendzei- immer noch weit davon entfernt, Vermögen als Alters- tung zu lesen: Weil Ossis streiken, muss BMW kurzar- vorsorge für später zu bilden. Dabei hat doch heute der beiten. Meine Damen und Herren, ich möchte es hier Bundesfinanzminister – ich habe diese Nachricht zumin- noch einmal festhalten: Es ist kein Streik der Ossis und dest gelesen – beschlossen, den Rentnern im nächsten es ist erst recht kein Streik der Ossis gegen BMW. Die Jahr eine Nullrunde zu verordnen. Man fragt sich: Wer Metaller im Osten sind nicht im Streik, sie werden be- wird von dieser Nullrunde bei den Renten am stärksten streikt. Das ist ein fundamentaler Unterschied. betroffen sein? – Das werden wohl die sein, die keine ei- gene Vorsorge haben treffen können. Dieser Streik wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- also zur Unzeit und am falschen Platz geführt. (B) ruf von der SPD: So ein Unsinn!) (D) – Das ist kein Unsinn, meine liebe Kollegin. Ich habe vorhin die Frage gestellt: Wem nutzt dieser Streik? Dabei dürfen wir in dieser ganzen Diskussion ei- Man sieht das zum Beispiel vor den Werkstoren von nes nicht vergessen: In der unzweifelhaft wirtschaftlich Federal-Mogul in Dresden. Von den 300 Beschäftigten dramatischen Situation, in der sich Deutschland im Mo- in diesem Betrieb sind ganze 25 vor den Toren. Am Dia- ment befindet, wird es zu einer Frage der Legitimation, lekt – man hört ihn, wenn Interviews gegeben werden – im Osten 38 Stunden zu arbeiten, was möglich ist, und und an den Autokennzeichen aus Stuttgart, Schweinfurt im Westen nur 35 Stunden. Wirtschaftsminister Clement und Göttingen erkennt man, von wo die Leute herbeige- hat mit Verweis auf die Feiertage vorgeschlagen, man karrt worden sind, um die Betriebe zu bestreiken, in de- solle versuchen, Probleme durch mehr Arbeit zu lösen. nen die eigenen Leute lieber arbeiten würden, als für Wir sind der Meinung: Die wirtschaftlichen Probleme in 35 Stunden einzutreten. Deutschland sind durch mehr und nicht durch weniger Arbeit zu lösen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hier wird davon gesprochen, dass Streikende aus dem neten der FDP) Stuttgarter Raum vor den Toren stehen und damit einen Zulieferer für ein Konkurrenzunternehmen in München Die Gewerkschaften verweisen bei der Gerechtig- eine Zeit lang aus dem Markt herausnehmen; das ist pi- keitsdiskussion immer wieder auf den Vergleich von Ost kant. Daran kann man erkennen, welche Auswirkungen und West. Hier ist auch vom Kollegen von der FDP da- dieser Streik mit der herbeigerufenen Streikhilfe aus rauf hingewiesen worden, dass das eigentliche Problem Westdeutschland tatsächlich hat. Das kann es weiß Gott im Osten liegt. Die Sonne geht zwar tatsächlich im Os- nicht sein. ten auf, aber 80 Kilometer von hier entfernt beginnt ein ganz anderer Osten, wo die Sonne früher aufgeht. Dort Man fragt sich: Warum wurde dieser Streik jetzt be- sind die tatsächlichen Herausforderungen für die Be- gonnen, vom Zaun gebrochen? Warum eskaliert er? triebe in den neuen Bundesländern. Auch das sollte von Wem nutzt er? Wer hat davon einen Vorteil? Nutzt er den der IG Metall bedacht werden. Beschäftigten der ostdeutschen Metallbranche,

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die froh sind, einen Arbeitsplatz zu haben und Herr Kollege Grund, bitte achten Sie auf Ihre Rede- 38 Stunden arbeiten zu können? Sie gehören nämlich zeit. 4394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Manfred Grund (CDU/CSU): Versprechen gegeben? Im Einigungsvertrag. Wir sind (C) All die, die zum Streik aufgerufen haben, leisten dem heute im Jahr 14 nach der Wende. Wenn der sächsische Osten einen Bärendienst. Lassen Sie davon ab! Wirtschaftsminister die gebotene Neutralität vermissen lässt und sich in ganz plumper Weise auf die Seite der Herzlichen Dank. Arbeitgeber schlägt, dann, finde ich, hat er seine Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gabe weit verfehlt. (Beifall bei der SPD – Dr. Michael Luther Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: [CDU/CSU]: Er hat aber die Wahrheit ge- Letzte Rednerin dieser Debatte ist die Kollegin sagt!) Waltraud Wolff, SPD-Fraktion. Viel wichtiger wäre es gewesen, dass er als Moderator die Verhandlungspartner wieder an einen Tisch geholt Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): hätte. Deshalb gehört, auch wenn es hier nicht jedem ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und fällt, das Thema Arbeitszeit auf den Tisch. Nur durch Herren! Eine Frage, die mir immer und immer wieder Wachstum allein werden wir die Arbeitslosigkeit in den gestellt wird, wenn ich in meinem Wahlkreis in Sachsen- neuen Bundesländern nicht bekämpfen. Anhalt unterwegs bin, ist: Wann kommt denn nun die (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wodurch Angleichung des Ostens an den Westen? denn sonst? Was außer Wachstum soll denn (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Mit dem Streik helfen?) bestimmt nicht! – Michael Kretschmer [CDU/ Jeder kann selber nachrechnen: Für Vollbeschäftigung in CSU]: Mit Sicherheit nicht mit der 35-Stun- den neuen Bundesländern brauchen wir ein Wachstum den-Woche!) von 50 Prozent, und zwar sofort. Ich weiß nicht, ob die Kollegen von der Opposition aus Was kenne ich aus meinem Bundesland und auch aus den neuen Bundesländern, die hier gesprochen haben, Niedersachsen? Arbeitszeitverkürzung hat Lehrern und andere Wahlkreise haben. Ich will nur sagen: Alle Men- Erziehern Arbeitsplätze gerettet. Herr Hartz – das ist schen warten auf die Angleichung. vorhin auch schon einmal angesprochen worden – hat (Beifall bei der SPD) zusammen mit der IG Metall durch Arbeitszeitverkür- zung Zigtausende von Arbeitsplätzen gerettet. Das Zum Thema: Streik ist schlecht. Wenn man Menschen wurde damals von allen gefeiert. Ist das heute nicht mehr nach ihrer Meinung fragt, dann ist diese ganz eindeutig: wahr? (B) Streik verhindert Produktion, Streik kostet viel Geld und (D) zieht oft Unbeteiligte in Mitleidenschaft, Streik verunsi- (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Ohne Lohn- chert, reibt Nerven auf und entzweit, Streik schädigt mo- ausgleich!) mentan die Volkswirtschaft. All das ist richtig. Aber Niedrigere Löhne, längere Arbeitszeit und EU- richtig ist auch, dass Streik das allerletzte Mittel von Ar- Höchstfördergebiet sollen Standortvorteile für Ost- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist, um nach un- deutschland sein. Wenn das stimmen würde, hätten wir endlichen Versuchen der Konsensbildung ihren berech- nicht eine solche hohe Arbeitslosigkeit. Außerdem tigten Forderungen Ausdruck zu verleihen. müssten die Investoren noch heute Schlange stehen und (Beifall bei der SPD) nicht in Frankfurt am Main oder München, wo alles sehr viel teurer ist. Ostdeutschland ist als Dumpingsektor Nicht umsonst gibt es in Deutschland ein Streikrecht. nicht erfolgreich gewesen. Das hat sich nicht bewährt. Glaubt irgendjemand hier im Hause, dass es den Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern in den neuen Bundes- Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle ermit- ländern leicht fällt, gerade in dieser Arbeitsmarktsitua- telte, dass die Arbeitsproduktivität im Osten bei tion die Arbeit niederzulegen? 90 Prozent liegt, die Arbeitskosten dagegen bei 73 Prozent. Das führt dazu – das ist auch schon einmal (Zuruf von der CDU/CSU: Die tun das ja nicht gesagt worden –, dass die Lohnstückkosten in den neuen freiwillig!) Bundesländern circa 10 Prozent unter denen der alten Ich finde es schon sehr überheblich und anmaßend, den Bundesländer liegen, Tendenz fallend. Streikenden in Ostdeutschland Leichtfertigkeit zu unter- Wir alle beklagen die Abwanderung junger qualifi- stellen. zierter Menschen aus den neuen Bundesländern. Wie (Beifall bei der SPD) aber wollen wir Perspektiven schaffen, wenn Unterneh- men nicht einmal bereit sind, gleichen Lohn und gleiche Gewerkschaften erfüllen keinen Selbstzweck, son- Arbeitszeit zu gewährleisten? Soll weiterhin die Devise dern sie setzen sich für die Rechte der arbeitenden Be- gelten: Abwanderung muss sich lohnen? völkerung ein. Zuletzt komme ich zum Gipfel der Infamie. Manche (Zuruf von der CDU/CSU: So sollte es eigent- Arbeitgeberfunktionäre und Politiker – das hat sich lich sein!) heute auch in dieser Debatte gezeigt – versuchen, wieder Was war noch einmal die Forderung? Die Forderung die Mauer in den Köpfen hochzuziehen. Die Streikenden war: Angleichung der Arbeitszeit. Wann wurde dieses im Osten werden wegen des Stillstandes der Produktion Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4395

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) im Westen an den Pranger gestellt. Ich frage: Würde je- Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) mand diese Debatte hier führen, wenn es sich, wie mein der CDU/CSU Kollege schon gesagt hat, um Hamburg, Dortmund oder 50 Jahre Deutsche Welle – Perspektiven für eine andere Stadt handeln würde? die Zukunft (Beifall bei der SPD – Vera Lengsfeld [CDU/ – Drucksache 15/1208 – CSU]: Da stehen ja auch keine Streikposten aus den neuen Ländern!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ganz sicher wäre diese Debatte nicht begonnen worden. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Sicher Technikfolgenabschätzung würde die geführt werden!) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Es liegt auch nicht in der Verantwortung der Arbeitneh- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union mer, dass die Wirtschaft immer enger verflochten ist. Haushaltsausschuss „Just in time“ ist der Ausdruck der Rationalisierung und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Kostensenkung als unternehmerischer Strategie. Das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre weiß doch jeder. Auch die Sachsen, die eigentlich die keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Einigung blockieren und die IG Metall an dieser Stelle Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- vorführen wollen, sollten sich das einmal durch den gin Monika Griefahn, SPD-Fraktion. Kopf gehen lassen. Sie beklagen selbst das, was sie ge- schaffen haben. Mit dieser neuen Ost-West-Spaltung agieren solche Arbeitgeber aus meiner Sicht politisch Monika Griefahn (SPD): sehr gefährlich. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der sehr Morgen werden die Verhandlungen auf Initiative der intensiven Debatte in der Aktuellen Stunde haben wir IG Metall fortgesetzt. Ich wünsche mir von Herzen, dass jetzt ein schönes Thema zu diskutieren: Am 3. Mai sie zu einer guten Einigung kommen, dass sie es schaf- jährte sich die Gründung der Deutschen Welle zum fen, eine stufenweise Angleichung in dieser Frage zu be- 50. Mal. Morgen werden wir dieses Ereignis gemeinsam kommen. mit Bundespräsident Rau in Bonn feiern. Herzlichen Dank. In diesen Tagen wird viel über die Deutsche Welle be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtet, die sonst in der Öffentlichkeit ein eher unbeach- (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tetes Dasein fristet. (D) (Renate Blank [CDU/CSU]: In Deutschland, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aber nicht im Ausland!) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind uns nach Jahren der Diskussion in diesem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatz- Hause weitgehend einig, wie das Deutsche-Welle-Gesetz punkt 10 auf: novelliert werden muss. 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Heute steht die Deutsche Welle als Auslandsrund- Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), Detlef funksender vor neuen Herausforderungen. Mit dem Um- Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der zug in das neue Funkhaus in Bonn, das wir morgen Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten einweihen dürfen, ist die Deutsche Welle dabei, in tech- Dr. Antje Vollmer, Claudia Roth (Augsburg), nischer Hinsicht zum modernsten Sender Europas zu Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und werden. Beides zusammengenommen hebt die Deutsche der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Welle aus der deutschen Rundfunklandschaft heraus. NEN Gleichzeitig bedarf der Sender der Neuregulierung, die wir nach der Sommerpause gemeinsam angehen werden. 50 Jahre Deutsche Welle – Zukunft und Mo- dernisierung des Deutschen Auslandsrund- Ich möchte der Deutschen Welle heute für die in den funks vergangenen 50 Jahren geleistete Arbeit danken. Sie hat in dieser Zeit sehr viel dazu beigetragen, das Bild – Drucksache 15/1214 – Deutschlands im Ausland positiv zu prägen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Die Arbeit des jetzigen Intendanten und seiner Vor- Auswärtiger Ausschuss gänger sowie aller seiner 1 500 Mitarbeiter weltweit Ausschuss für Bildung, Forschung und trägt täglich dazu bei, die Menschen in über 60 Ländern Technikfolgenabschätzung zu verschiedenen Zeiten in rund 30 verschiedenen Spra- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung chen mit Informationen aus und über Deutschland zu Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union versorgen und vielfach auch dafür zu sorgen, dass die Haushaltsausschuss Menschen etwas über ihre eigene Region erfahren. ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd So hilft die Deutsche Welle in Afghanistan, einen Neumann (Bremen), Günter Nooke, Renate Fernsehsender aufzubauen. Im Kosovo wurden Familien 4396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Monika Griefahn (A) zusammengeführt. Auch wird durch die Programme der ren hat sie sich zu einem modernen Sender entwickelt, (C) Deutschen Welle die Informationsfreiheit in vielen der in der so genannten medialen Außenrepräsentanz der Ländern gewahrt. Die Deutsche Welle wendet sich an Bundesrepublik eine entscheidende Rolle spielt. Dieser Menschen in aller Welt, die Interesse an Deutschland Begriff besagt allerdings nicht allzu viel. Es geht nun da- und Europa – ich glaube, das ist heutzutage besonders rum, der Deutschen Welle eine zeitgemäße Basis zu wichtig – haben, wie auch an Multiplikatoren und die so geben, die den Herausforderungen der internationalen genannten Infoeliten. Politik und vor allen Dingen der internationalen Kul- turbeziehungen gerecht werden kann. Vor allem der Für Deutsche, die zeitweise oder auf Dauer im Aus- Programmauftrag im Deutsche-Welle-Gesetz muss dar- land leben, ist die Deutsche Welle eine Brücke zur Hei- auf ausgerichtet und entsprechend konkretisiert werden. mat geworden. Das zunächst in den USA als Pay-TV neu gestartete German TV wird demnächst über Kabel in Wir brauchen auch bei der Deutschen Welle das, was verschiedenen Regionen der USA ausgestrahlt, damit wir in der allgemeinen auswärtigen Kulturpolitik als Ziel noch mehr Menschen erreicht werden. Des Weiteren verankert haben: eine Zweibahnstraße mit Fernsehen, wird zurzeit erprobt, auch Kanada zu erreichen. Hörfunk und Internet, das das ideale Medium für den Dialog zwischen Deutschland und den anderen Ländern 1953 startete die Deutsche Welle mit den guten Wün- ist. Allein durch die Kooperation mit anderen europäi- schen von Theodor Heuss, zur Entkrampfung der deut- schen Auslandssendern hat die Deutsche Welle bereits schen Außenbeziehungen beizutragen. Dies ist gelun- gezeigt, dass sie dafür gerüstet ist. So wird sie heute zu- gen. Seit 1959 tragen arabische Radioprogramme zur sammen mit Radio France International in Paris mit dem Erfüllung dieses Wunsches bei. In den 60er-Jahren Deutsch-Französischen Journalistenpreis 2003 in wurde das Angebot um mehr als 20 Sprachen erweitert. der Kategorie Hörfunk für die Produktion einer CD Seit 1966 hat die Deutsche Welle 17 000 Rundfunk- zum 40-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrags ausge- fachkräfte aus Entwicklungsländern und Osteuropa aus- zeichnet. Dazu kann ich nur sagen: Herzlichen Glück- gebildet, die heute zum Teil als Botschafter, Intendanten wunsch! oder Minister in ihren Heimatländern arbeiten. Insofern (Beifall im ganzen Hause) hat die Deutsche Welle einen bedeutenden Beitrag zur Meinungsvielfalt geleistet. Die deutsche Sprache bleibt für die Deutsche Welle das wichtigste Verständigungsmittel. Auch das ist wich- Zwei Drittel der Menschheit leben in autoritär oder tig zu wissen. Die Kooperation mit dem Goethe-Institut totalitär regierten Staaten, in denen die fehlende Mei- zur Entwicklung und Verbreitung von Deutschkursen nungsfreiheit den Informationszugang erschwert. Diese über das Internet ist ein anderes Beispiel für erfolgreiche Menschen können sich durch die Deutsche Welle inten- (B) Zusammenarbeit, mit der diejenigen Menschen erreicht (D) siv informieren. werden, die vor Ort kein Goethe-Institut, keine deutsche Während der Regierungskrisen in der Tschechoslowa- Schule oder eine andere deutsche Einrichtung haben. kei und in Griechenland 1968 und 1969 hat die Deutsche Das sind Bausteine, die helfen, dass die Deutsche Welle Welle ihre erste Bewährungsprobe als Krisenrundfunk nicht mehr nur ein reiner Nachrichtensender ist, sondern bestanden, was bis heute den guten Ruf des Senders als dass sie auch – im Austausch mit den Hörern, Zuschau- freies Informationsmedium in Krisen und Konflikten be- ern und Onlinenutzern – ein Forum des Dialogs in und gründet und seine Fortsetzung in Ruanda und im ehema- über Deutschland ist, eine Vermittlerin für Wirtschaft, ligen Jugoslawien ebenso wie derzeit in Afghanistan ge- Politik, Kultur und Wissenschaft. So erfahren wir die funden hat. Ansichten der anderen und können gleichzeitig im Dia- log unsere Sichtweisen mitteilen und darstellen. So stelle Sie ist als einziger Fernsehsender mit dem Wieder- ich mir einen modernen Auslandsrundfunk vor, der eben aufbau des afghanischen Fernsehens beauftragt. Darü- nicht mehr ein reines Transportmittel für „deutsche Auf- ber hinaus produziert die Deutsche Welle eine tägliche fassungen zu wichtigen Fragen“ – so ist es in § 4 des Nachrichtensendung in den Landessprachen Dari und Deutsche-Welle-Gesetzes noch beschrieben – ist. Die Paschtu für Kabul, Kandahar und Djalalabad und andere globale Präsenz der Deutschen Welle trägt dazu bei, afghanische Regionen sowie ein Programmfenster in kulturelle Brücken zwischen Deutschland und der Welt arabisch für die arabischen Staaten. zu bauen. Auch das müssen wir nach der Sommerpause Begeistert hat mich das neue Projekt „100 Klassen- in dem neuen Gesetz verankern. zimmer für Afghanistan“, mit dem über das Internet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spenden gesammelt werden, um konkrete Ausbildungs- DIE GRÜNEN) möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler in Afgha- nistan zu schaffen. Das zeigt, wie das neue Medium In- Unkenntnis ist immer ein Grund für Vorurteile, Hass ternet praktische Hilfe vor Ort leisten kann. und Intoleranz und macht Verständigung unmöglich. Wir brauchen aber die geistig-kulturelle Verständigung und (Beifall bei der SPD) den Austausch. Das hilft nämlich auch beim wirtschaftli- Zwar gab und gibt es immer wieder Debatten über chen Handeln. Wenn das Bild Deutschlands nicht von Sinn und Unsinn der Deutschen Welle im Ausland, über der Vergangenheit, sondern von dem, was heute passiert, ihre Programme und Zielgruppen. Solche Debatten sind bestimmt ist, dann haben wir die Chance, ein zeitgemä- aber notwendig; denn ohne sie kann die Deutsche Welle ßes, der Lebenswirklichkeit nahe kommendes Image zu nicht das leisten, was sie leisten soll. In den letzten Jah- etablieren. Ich glaube, dass das sehr wichtig ist; denn in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4397

Monika Griefahn (A) vielen Ländern, die man heutzutage als Deutscher be- Entwicklungen genau beachten und in die Arbeit einbe- (C) sucht, wird man gefragt, ob es denn noch Hitler gebe. ziehen. Wir müssen auch im Auge behalten, wie sich Selbst in uns nahe stehenden Ländern wie den USA oder insbesondere vor dem Hintergrund der Konvergenz der Frankreich ist das Bild und das Wissen übereinander technischen Medien das interaktive Fernsehen entwi- manchmal erschreckend lückenhaft, wie eine gerade er- ckelt. Für alle diese Entwicklungen brauchen wir einen schienene Studie des Deutsch-Französischen Jugend- modernen, leistungsfähigen Auslandsrundfunk. werks wieder zeigt. Zwar haben seit 1963 circa 7 Millio- Ich glaube, dass beide hier vorgelegten Anträge und nen Jugendliche am deutsch-französischen Jugendaus- das Gesetz, das wir in der zweiten Jahreshälfte hoffent- tausch teilgenommen. Trotzdem haben sie noch immer lich gemeinsam auf den Weg bringen, eine gute Grund- Vorurteile übereinander, auch wenn sie die Beziehungen lage sind. Ich wünsche der Deutschen Welle alles Gute, zwischen Frankreich und Deutschland als gut bis sehr viel Erfolg für die Zukunft und eine gute Zusammenar- gut einschätzen. Ihr Wissen ist zum Teil sehr stark von beit mit diesem Parlament zum Wohle unserer Auslands- Stereotypen geprägt, wie „Baguette“, „Eiffelturm“ und repräsentation. „Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“, „deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf fran- (Beifall im ganzen Hause) zösischer Seite. Hier ist noch viel zu tun. Deswegen darf der Dialog nie aufhören. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nächster Redner ist der Abgeordnete Bernd DIE GRÜNEN) Neumann, CDU/CSU-Fraktion. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zielgruppenori- entierung sehr bedeutsam. Das Internet ist gerade für Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): Jugendliche ein wichtiges Medium. Die Präsenz der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre Deutschen Welle in den Telemedien ist entscheidend, Deutsche Welle, bei einem solchen Jahrestag steht logi- wenn es darum geht, Multiplikatoren zu gewinnen und scherweise eher das Geburtstagskind, also die Deutsche – das gilt besonders für den Jugendbereich – den Dialog Welle, und nicht der politische Gegner im Mittelpunkt. über Deutschland zu führen. Mit Radio und Fernsehen (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist aber alleine lässt sich das nicht erreichen. nett! – Horst Kubatschka [SPD]: Sie können Der krisenpräventive Bereich ist ebenfalls sehr wich- auch uns feiern und loben!) tig. Wir haben immer zeigen können, dass die Deutsche – Vorsichtig! – Dennoch werden sich auch bei diesem Welle ein ehrlicher Makler ist. Das wollen wir mit der Thema einige Anmerkungen zur Verantwortung von (B) (D) Internetpräsenz noch verstärken. Dafür ist es aber auch Rot-Grün nicht vermeiden lassen. An sich ist es ange- notwendig, eine enge Zusammenarbeit mit den Verfas- nehmer, Geburtstagsreden auf Empfängen zu halten; sungsorganen zu organisieren. Bisher stellte die Zulei- denn da sind einfach mehr Menschen, die zuhören. tung der jährlichen Aufgabenplanung an den Bundestag quasi Anfangs- und Endpunkt der Zusammenarbeit dar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Formalien waren eingehalten. der FDP – [Recklinghau- sen] [CDU/CSU]: Selbst beim großen Land Wir wollen zukünftig einem transparenten Prozess, Bremen ist das so!) der es der Deutschen Welle in einer Art Selbstevaluation ermöglicht, in Konsultationen mit dem Bundestag, mit Ich danke Ihnen allen sehr herzlich, dass Sie hier sind, der Bundesregierung und mit der Öffentlichkeit über obwohl dieser Empfang nicht mit einem Buffet verbun- Zielgruppen, Aufgabenplanung, Sendegebiete und Ver- den ist. triebswege zunächst selbst zu bestimmen und dann in (Beifall) einem offenen Prozess zu justieren. Das Parlament bekommt somit die Möglichkeit, sich mit der Arbeit der Zum Geburtstagskind: Herzlichen Glückwunsch den Deutschen Welle intensiver als bisher auseinander zu 1 500 Mitarbeitern der Deutschen Welle und ihrem In- setzen, sich in diesen Prozess einzuklinken und darüber tendanten Erik Bettermann! Die Deutsche Welle ist mit zu diskutieren, wo die Schwerpunkte der Zukunft liegen. 30 Hörfunkprogrammen in 30 Sprachen, die weltweit Sicherlich muss auch das im Gesetz geregelt werden. empfangen werden können, sowie mit dem seit 1992 hinzugekommenen Fernsehprogramm, das dreisprachig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – ebenfalls weltweit – ausgestrahlt wird, der entschei- DIE GRÜNEN) dende Faktor außenmedialer Repräsentanz der Bundes- republik Deutschland. Man schätzt, dass die Deutsche Die Deutsche Welle soll sich weiterhin bei der Ver- Welle weltweit etwa 30 Millionen Menschen über Hör- breitung von Sprachkursen engagieren. Wichtig ist au- funk und 25 Millionen Menschen über das Fernsehen er- ßerdem, dass sie mittelfristig Planungssicherheit be- reicht. Diesen Menschen wird ein umfassendes Bild kommt. Das Parlament will ihre Arbeit weiterhin Deutschlands vermittelt. Die Deutsche Welle ist deshalb wohlwollend begleiten. Dafür muss aber ein Dialog mit ein unverzichtbarer Eckpfeiler im Rahmen auswärtiger dem Parlament vorhanden sein. Die Vermittlung von Kulturpolitik. Demokratie und Menschenrechten und ihre praktische Umsetzung in der täglichen medialen Arbeit sind eben Ich habe noch Verständnis dafür, dass die zuständige ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen die technischen Ministerin, die Staatsministerin im Kanzleramt für die 4398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Bernd Neumann (Bremen) (A) Angelegenheiten der Kultur und Medien, heute nicht auf Menschen in diesem für Deutschland wichtigen Teil (C) der Regierungsbank sitzt, weil sie sich mit den Minister- Europas auf die Programme der Deutschen Welle oder präsidenten trifft, um über ein vergleichbares Thema zu anderer westlicher Auslandssender angewiesen, wenn sprechen. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis sie beispielsweise mehr über den wahren Verlauf des dafür – die Deutsche Welle ist ein wichtiger Faktor der Krieges in Tschetschenien, die Verfolgung von Men- auswärtigen Kulturpolitik –, dass noch nicht einmal ein schenrechtsaktivisten oder auch die deutsche Position Staatssekretär aus diesem Ressort – Herrn Fischer habe zum Beispiel in der so genannten Beutekunstfrage erfah- ich ohnehin nicht erwartet; er versteht davon auch zu ren wollen. wenig – hier anwesend ist. So missachten Sie den 50-jährigen Geburtstag einer Rundfunkeinrichtung, die Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union sie selbst finanzieren. Ich finde, das ist unmöglich. werden die Länder Ukraine, Weißrussland oder auch das Gebiet Kaliningrad an die EU grenzen. Deshalb fördert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das russisch- und das ukrainischsprachige Hörfunkpro- gramm der Deutschen Welle den Demokratisierungspro- 50 Jahre Deutsche Welle, das ist ein Grund, einmal zess. Mit diesen Programmangeboten leistet die Deut- die Leistungen der Vergangenheit herauszustellen; es ist sche Welle einen wichtigen Beitrag zur Integration des aber natürlich auch Anlass, lieber Kollege Marschewski, Europas der 25. nicht über Ihre, sondern über die Zukunft der Deutschen Welle nachzudenken. Ausdrücklich begrüßen möchte ich das Engagement (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ des deutschen Auslandssenders in den zentralasiatischen CSU]: Ich dachte, über meine!) GUS-Ländern, in denen, wie Sie wissen, die Pressefrei- heit unterdrückt wird, ehemalige sowjetische KP-Funk- Die gravierenden politischen und kulturellen Verän- tionäre die Macht in den Händen haben und islamisti- derungen und Umbrüche in Europa und in vielen Teilen sche Gruppierungen Zulauf erhalten. der Welt, auch die Veränderungen im Bereich der Kom- munikationstechnologie, stellen die Deutsche Welle vor Es war richtig, dass die Deutsche Welle gleich nach neue Herausforderungen und Aufgaben, die eine No- den Ereignissen des 11. September 2001 Programme für vellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes unverzichtbar die 60 Millionen Menschen in den zentralasiatischen machen. Umso mehr bedauern wir, verehrte Kollegin GUS-Staaten eingerichtet hat. Dieses Programm erreicht Griefahn, dass die in der Koalitionsvereinbarung von die Multiplikatoren in dieser Region und gilt bei allen 1998 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angekün- Hörern als seriöse Informationsquelle. Bei Krisen und digte und von der Bundesregierung mehrfach zugesagte Konflikten in anderen Ländern – Frau Griefahn hat das Neugestaltung des deutschen Auslandsrundfunks bis angesprochen – sollte in einzelnen, politisch begründe- (B) (D) heute nicht erfolgt ist. Seit fünf Jahren versprochen – ten Fällen die Deutsche Welle als Krisenpräventions- bisher nicht vorgelegt. Das ist kein gutes Zeichen zum sender wirken. Das geht sicherlich nicht überall; denn 50. Geburtstag. dazu haben wir zu viele Krisengebiete. Frau Kollegin Griefahn, dass sich die Deutsche Welle in Afghanistan (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ engagiert, ist aber zu loben. CSU]: Sehr wahr!) (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Wir haben in dem vorliegenden Antrag unsere Posi- CSU]: Sehr wahr!) tionen zur Zielsetzung der Novellierung klar gemacht. Lassen Sie mich einige Anmerkungen dazu machen: Beim künftigen Auftrag der Deutschen Welle, den wir neu formulieren wollen, müssen die Förderung der deut- Die Hauptzielsetzung des Auslandsrundfunks muss schen Sprache und ihre Bedeutung als Vermittlungsin- die Vermittlung eines umfassenden Bildes des politi- strument im Hörfunk- und Fernsehprogramm im Gesetz schen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in unmissverständlich verankert werden. Deutschland mittels Hörfunk, Fernsehen und neuerdings natürlich auch Internet sein und bleiben. Nichts gegen (Beifall bei der CDU/CSU) den Dialog der Kulturen – er gehört dazu –, aber er ist Ich sage dies deshalb, weil in einem Nida-Rümelin-Pa- nicht prioritär; prioritär ist die Vermittlung eines Bildes pier – Nida-Rümelin war der frühere BKM – im Jahr von Deutschland in der Welt. 2002 entgegengesetzte Zielsetzungen formuliert waren. (Beifall bei der CDU/CSU) Man hatte vorgesehen, das deutschsprachige Programm zu reduzieren. Das ist inakzeptabel. Der umgekehrte In Ländern ohne oder mit eingeschränkter Informa- Weg ist der richtige. tionsfreiheit kann die Deutsche Welle als Stimme der Freiheit eine zusätzliche wichtige Aufgabe wahrnehmen. Ein ganz wichtiger Punkt ist die Staatsunabhängig- In diesem Zusammenhang kommt der Deutschen Welle keit der Rundfunkanstalt Deutsche Welle. Diese muss nämlich die wichtige Aufgabe zu, gerade nach dem Ende auch in Zukunft gewährleistet sein. Die Deutsche Welle des Kalten Krieges Programme in die Länder Ost- und hat zwar einen gesetzlich definierten Auftrag im Dienste Südosteuropas auszustrahlen. Weder in Russland noch in der Bundesrepublik Deutschland zu erfüllen. Sie ist aber der Ukraine oder gar in Weißrussland herrscht Presse- als Mitglied der ARD eine Rundfunkanstalt, bei der der freiheit, wie wir sie im Westen Europas kennen. In der Staatseinfluss den verfassungsrechtlichen Kriterien ge- Regel sind die elektronischen Medien in den meisten nügen muss. Hiermit meine ich die Rundfunkfreiheit, GUS-Republiken staatlich gelenkt. Folglich sind die wie sie in Art. 5 Grundgesetz normiert ist. Auch wenn Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4399

Bernd Neumann (Bremen) (A) die Deutsche Welle aus dem Bundeshaushalt finanziert 2003 in einer Größenordnung von insgesamt mehr als (C) wird, muss die Staatsferne ihres Programms gewährleis- 135 Millionen Euro. Dieses Vorgehen passt nicht zu Ih- tet sein. Aussagen wie jene aus einem Papier des frühe- ren schönen Worten zum 50. Jahrestag der Gründung der ren BKM – der heutige ist leider nicht vertreten – vom Deutschen Welle. September 2000, in denen die Meinung vertreten wird, die Deutsche Welle habe „politische Überzeugungsarbeit (Beifall bei der CDU/CSU) zu leisten“ und die Programmangebote müssten sich an Ich komme zum Schluss. Um deutlich zu machen, „politischen Leitentscheidungen ausrichten“, sind völlig dass die Deutsche Welle nicht der verlängerte Arm der abwegig. jeweiligen Parlamentsmehrheit ist, wäre es wünschens- (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist alles über- wert, dass die gravierenden Veränderungen am Deut- holt! Alles Schnee von gestern!) sche-Welle-Gesetz, die jetzt bevorstehen, von einer brei- ten Mehrheit getragen werden. Das war in der – Es ist ja schön, dass das Schnee von gestern ist. Das Vergangenheit so; so sollte es aus unserer Sicht auch ändert aber nichts daran, dass einer Ihrer Staatsminister bleiben. Dies setzt allerdings voraus, dass im Hinblick so gedacht hat. Allein der Gedanke ist abwegig. Sie soll- auf die von mir dargestellten Essentials ein Konsens er- ten solche Gedanken gar nicht äußern. reicht wird. Bei den Verantwortlichen bei der Deutschen Welle selbst ist er vorhanden. Das Eckpunktepapier vom (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka BKM geht in dieselbe Richtung. Daher bin ich optimis- [SPD]: Das ist dann Gedankenunterdrückung! – tisch – Sie haben es zum Schluss auch zum Ausdruck Zuruf der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS gebracht, verehrte Frau Kollegin Griefahn –, dass wir die 90/DIE GRÜNEN]) Deutsche Welle durch eine Entscheidung in einem gro- ßen gemeinsamen Konsens unter veränderten Bedingun- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gen noch zukunftsfähiger machen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da einige von Ih- Vielen Dank. nen gleich noch reden werden, muss jetzt nicht alles gleichzeitig vorgetragen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die Wahrheit ist manchmal unangenehm; sie darf Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Antje Vollmer, aber nicht verschwiegen werden. Deshalb ist die Deut- Bündnis 90/Die Grünen. sche Welle in vielen Ländern vertreten. (B) (D) Natürlich muss das Parlament im Deutsche-Welle- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gesetz den Rahmen, wenn auch weit gefasst, für den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- Programmauftrag festlegen. Die geplante Selbstevalu- burtstagsreden im Parlament sind immer leicht proble- ation der Ziele und Aufgaben der Deutschen Welle sollte matisch. Man ist in der Gefahr, sich erstens zu wiederho- selbstverständlich in regelmäßigen Abständen in Kon- len und zweitens, wie Herr Kollege Neumann eben sultation mit dem Bundestag und der Bundesregierung bewiesen hat, sie parteipolitisch zu missbrauchen und stattfinden; aber Eingriffe in die Programmverantwor- damit der Geburtstagsrede einen Tort anzutun. Ich werde tung und Einflussnahme auf das Programm seitens der versuchen, beides zu vermeiden. Politik sind unzulässig. Um dies sicherzustellen, treten wir in Abstimmung mit unseren Haushaltspolitikern da- Auch ich übermittle natürlich herzliche Glückwün- für ein, dass die Finanzierungshöhe wie bei den Landes- sche. Morgen wird die erste Sendung der Deutschen rundfunkanstalten von einer unabhängigen Kommission Welle aus dem Schürmannbau in Bonn gesendet – aufer- ermittelt wird. Das Ergebnis kann dann dem Parlament standen aus den Fluten. Fast genau vor 50 Jahren lief die als Anhaltspunkt für seine Beschlussfassung dienen. erste Sendung der Deutschen Welle. Vieles hat sich seit dieser Zeit verändert: Die Sendungen richten sich nicht (Beifall des Abg. Dr. mehr nur an die lieben Landsleute in aller Welt, wie [CDU/CSU]) Theodor Heuss sich damals ausdrückte. Sehr bald stellte sich heraus, dass auch in anderen Sprachen über Um die Unabhängigkeit des Auslandsrundfunks von Deutschland informiert werden kann. Das Fernsehen aktuellen politischen Lagen sicherzustellen, muss wie kam hinzu, ebenso das Internet als drittes wesentliches bei den Landesrundfunkanstalten eine mittelfristige, das Standbein. Mittlerweile sendet die Deutsche Welle in heißt mehrjährige, Finanz- und Planungssicherheit ge- 30 Sprachen über das Radio sowie in drei Sprachen im währleistet sein. Ohne Finanz- und Planungssicherheit Fernsehen und ist in 31 Sprachen im Internet vertreten. kann man eine Rundfunkanstalt im Grunde genommen Die Deutsche Welle ist ein modernes, international agie- nicht führen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu miss- rendes Unternehmen geworden. billigen – ich kann es Ihnen nicht ersparen –, dass unter Ihrer Verantwortung, also unter der Verantwortung der Pünktlich zum Geburtstag beschäftigt sich nun auch rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Frak- das Parlament mit diesem Sender. Alle Beteiligten wis- tionen, in den letzten Jahren bei der Deutschen Welle sen, dass wir noch im Herbst das Gesetz über die Deut- ohne jedwedes Konzept und ohne Aufgabenkritik ein fi- sche Welle gründlich reformieren und in diesem Zusam- nanzieller Kahlschlag erfolgt ist, und zwar von 1999 bis menhang auch über Detailfragen reden wollen, die wir 4400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Antje Vollmer (A) heute nur anreißen können. Natürlich muss sich das Par- sollten wir daraus allerdings ehrlich Konsequenzen zie- (C) lament mit der Deutschen Welle beschäftigen; denn im- hen. Ich weise darauf hin, dass wir diesem Projekt von merhin macht das Budget der Deutschen Welle von in Anfang an sehr kritisch gegenübergestanden haben. diesem Jahr 277 Millionen Euro ungefähr ein Drittel des gesamten Kulturhaushalts des Bundes aus. Das ist ein er- (Beifall des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]) heblicher Batzen, den man nicht kleinreden sollte, zumal Der Prozess des Prioritätensetzens ist meist schmerz- in heutigen Zeiten. haft, aber sehr heilsam. Er wird auch der Qualität des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Journalismus der Deutschen Welle einen Schub geben. und bei der SPD – Erwin Marschewski [Reck- Im Zusammenhang mit der Prioritäten- und Zielset- linghausen] [CDU/CSU]: Kennen Sie die Ver- zung weise ich noch einmal auf die bereits diskutierte gleichszahlen?) Rolle der deutschen Sprache hin. – Wir leisten uns damit auch etwas. Aber nicht nur aus Die Deutsche Welle sollte sich nicht von der deutschen diesem Grunde beschäftigen sich die Parlamentarier da- Sprache verabschieden. Für manche Zwecke, zum Bei- mit, sondern auch, weil sie eine wichtige mediale Visi- spiel zur Aufklärung in Krisengebieten, mag die engli- tenkarte für die Bundesrepublik ist. sche Sprache erste Priorität haben. Aber für das, was wir Damit nicht nur Schönes und Gutes gesagt wird, langfristig aufbauen wollen, nämlich Interesse an unse- wozu es viel Grund gibt, möchte ich auch einige Punkte rem Land, Elitenkontakte, Kontakte zu den Menschen, festhalten, über die wir ernsthaft und teilweise auch kri- für die das Modell Deutschland zur Überwindung eines tisch miteinander diskutieren müssen. totalitären Regimes und zum Aufbau einer stabilen de- mokratischen Kultur wichtig ist, hat die deutsche Spra- Die Finanzen sind nicht nur heute, angesichts unserer che eine besondere Bedeutung. Deshalb müssen wir die Gesamtlage, ein zentraler Punkt. Ich verstehe das Be- Verbreitung ausbauen. Das unterstützt auch die Sonder- dürfnis des Senders nach möglichst langfristiger Pla- stellung dieser unserer Deutschen Welle. nungssicherheit und einem großzügigen Budget natür- lich sehr gut. Jeder von uns möchte das, gerade die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Institutionen, die vom Bund auf doch relativ sicheren und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Grund gestellt werden. Allerdings muss inzwischen auch CDU/CSU und der FDP) allen Beteiligten deutlich geworden sein, wie knapp un- ser Haushalt ist. Es gilt also, mit den vorhandenen Mit- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: teln sehr sorgfältig umzugehen. Genau dies bietet aber Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der (B) immer die Chance, Prioritäten zu setzen, und über diese Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion. (D) Prioritäten müssen wir sehr offen diskutieren.

Wir müssen darüber diskutieren, in welche Richtung Dr. Werner Hoyer (FDP): sich die Deutsche Welle eigentlich entwickeln soll, wel- che Zielgruppen auf welchen medialen Kanälen und zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich welchem Zweck angesprochen werden sollen. Hier ist habe drei Minuten, um diesem großartigen Sender meine Reverenz zu erweisen. Bitte, lieber Herr Bettermann, ge- meines Erachtens eine Besinnung auf relativ wenige Grundaufgaben und eine Schwerpunktsetzung auf be- hen Sie davon aus: Ich schließe mich allen guten Worten stimmte Regionen notwendig, nämlich auf die Regionen, und Dankesworten an die Kolleginnen und Kollegen bei der Deutschen Welle von Herzen an. in denen das Interesse an Deutschland eine ganz beson- dere Rolle spielt. In diesem Zusammenhang denke ich in Ich möchte mich auf einige wenige Punkte konzen- erster Linie an Asien, an Zentralasien und an Osteuropa. trieren. Man könnte jetzt natürlich auch etwas zu der Dort gibt es ein riesiges Bedürfnis, Kontakt zu unserem schwierigen Stellensituation und zu der schwierigen Si- Land zu haben, und eine ebenso starke Orientierung auf tuation der freien Mitarbeiter sagen. Aber all das kann unser Land hin. Dies müssen wir auch in der Bildungs- jetzt hier nicht hinreichend gewürdigt werden. politik berücksichtigen, weil so viele Eliten zu uns kom- men wollen. Für sie ist die Deutsche Welle häufig das Die Deutsche Welle ist ein Instrument der Außen- Einstiegstor. politik. Das ist ein wichtiger Punkt. Natürlich ist sie im Besonderen ein Instrument der auswärtigen Kulturpoli- In diesem Zusammenhang bitte ich die Verantwortli- tik, aber ihre Existenz begründet sich nicht auf dem chen aber auch um Mut und Ehrlichkeit in der Einschät- Grundversorgungsauftrag der übrigen öffentlich-rechtli- zung des Projektes German TV. Nach einer sehr harten chen Rundfunkanstalten. Das muss man immer im Kopf Anfangszeit sind die ersten 5 000 Abonnenten in den behalten. Das heißt nicht, dass man irgendeine Ein- USA gewonnen. schränkung an Grundprinzipien wie der Rundfunkfrei- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist ja Wahn- heit vornehmen dürfte; das würden Liberale nie tun. sinn!) Aber der Auftrag ist ein außenpolitischer, der, wie ich denke, im Wesentlichen hervorragend wahrgenommen Ein Konkurrent, der Pleite ging, mag auch dazu beigetra- wird. Die Flexibilität, die die Deutsche Welle in Krisen- gen haben. Die darüber hinaus notwendigen 65 000 Abon- situationen aufgebracht hat, nach dem Umbruch im nenten müssen in den nächsten Jahren noch gewonnen Osten, auf dem Balkan in den 90er-Jahren, jetzt in Zen- werden. Wenn das gelingt, ist es schön; gelingt es nicht, tralasien und überhaupt im asiatischen Bereich, in Af- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4401

Dr. Werner Hoyer (A) rika, ist eine hervorragende Leistung. Damit wird auch dass wir damit in erheblichem Maße Steuergelder bin- (C) der außenpolitische Auftrag erfüllt. den, was nicht durch Grundversorgung oder irgendetwas anderes zu rechtfertigen ist. Deshalb bin ich der Auffassung: Wenn wir über das neue Gesetz sprechen, müssen wir darüber reden, ob es (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist aber richtig ist, die Deutsche Welle, die früher dem BMI zu- eine Reduzierung des Programms, Herr Kol- geordnet war, jetzt beim BKM anzusiedeln, oder ob lege!) nicht eine Ansiedlung beim Auswärtigen Amt konse- quenter und angemessener wäre. Diese Gelder werden auf Dauer bei der normalen Fern- sehversorgung durch Deutsche Welle TV und eines Ta- (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Die ges möglicherweise sogar im Rundfunkbereich fehlen. beide nicht da sind!) Jetzt hören wir, wir hätten von den 65 000 – andere – Das ist allerdings der Hammer. Wenn ich so scharf da- sagen 80 000 – erforderlichen Abonnenten gerade ein- rauf wäre, die Deutsche Welle in meinen Bereich hinü- mal 5 000 gewonnen. Das war schon mühsam genug. berzuziehen, wie der Bundesaußenminister, der das ganz Leute, begrabt das Projekt und steckt das Geld dahin, wo gerne sehen würde, dann hätte ich dafür gesorgt, dass es bei der Deutschen Welle dringend gebraucht wird! das Auswärtige Amt heute hier vertreten ist. Das kann ich nur deutlich unterstreichen. (Beifall bei der FDP)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die große Rolle der Deutschen Welle ist auch nicht Ich schließe die Aussprache. dadurch kleinzureden, dass man fragt: Wer hört denn heute noch Kurzwelle oder Mittelwelle? Die Menschen, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf die in Unfreiheit leben, die sehr daran interessiert sind, den Drucksachen 15/1214 und 15/1208 an die in der Ta- eine glaubwürdige Informationsquelle geboten zu be- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – kommen, nutzen jedes Medium, das ihnen zur Verfügung Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind steht. Wenn sie das Internet nutzen können, nehmen sie die Überweisungen so beschlossen. diese Möglichkeit sicher gerne wahr, aber sie werden im Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: Zweifel auch auf Langwelle, Kurzwelle oder Mittelwelle zurückgreifen. Nicht immer wird die Möglichkeit beste- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter hen, mit einem örtlichen UKW-Anbieter zusammenzuar- Nooke, Bernd Neumann (Bremen), Renate beiten. Auf jeden Fall darf man diese Aufgabe der Deut- Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (B) schen Welle nicht kleinreden. In manchen Gebieten ist der CDU/CSU (D) dieses Medium nach wie vor als seriöse und überaus wichtige Informationsquelle erforderlich. Fusion der Kulturstiftung der Länder und der Kulturstiftung des Bundes Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Vollmer hat zu Recht angesprochen, dass es Fehlentwicklungen gibt; – Drucksache 15/1099 – diese sehe auch ich. Ich bin nicht glücklich darüber, wie Überweisungsvorschlag: schwer es seit vielen Jahren ist – das weiß ich auch Ausschuss für Kultur und Medien (f) durch meine frühere Tätigkeit im Verwaltungsrat der Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Deutschen Welle –, die Synergieeffekte zwischen der Technikfolgenabschätzung Deutschen Welle und den öffentlich-rechtlichen Rund- Haushaltsausschuss funkanstalten zu organisieren, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- (Monika Griefahn [SPD]: Das ist aber schon Joachim Otto (Frankfurt), Helga Daub, Rainer viel besser geworden!) Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und wie gemauert wird, wenn es im Hinblick auf Rechte der FDP darum geht, aus dem Programm der öffentlich-rechtli- Fusion der Kulturstiftung des Bundes mit der chen Rundfunkanstalten in die Deutsche Welle einzu- Kulturstiftung der Länder speisen. Es ist sehr viel besser geworden; komischer- weise war German TV dabei eine Brücke, die – Drucksache 15/1113 – beschritten worden ist. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) (Monika Griefahn [SPD]: Das ist genau der Innenausschuss Punkt!) Haushaltsausschuss Es ist in der Tat sehr ärgerlich, dass die Zusammenar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für beit erst funktioniert, nachdem es zu der Fehlentwicklung diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch des German TV gekommen ist. Das ist ein Skandal. dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- schlossen. (Monika Griefahn [SPD]: „Skandal“ ist über- trieben!) Ich erteile als erstem Redner dem Kollegen Günter Nooke, CDU/CSU, das Wort. Ich finde es ziemlich unerträglich, dass wir die Welt über German TV mit deutschen Seifenopern beglücken und (Beifall bei der CDU/CSU) 4402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Günter Nooke (CDU/CSU): Kulturstiftung in Europa überhaupt. Die Gelegenheit der (C) Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Dass Zusammenführung sollte genutzt werden, um die inhalt- gerade heute im Deutschen Bundestag ein wichtiges liche Ausrichtung der künftigen Stiftung und ihr För- Thema der Kulturpolitik auf der Tagesordnung steht, ist derprofil unter die Lupe zu nehmen, anstatt kritiklos die kein Zufall. Dass die Debatte verhältnismäßig früh – bei Aufgaben der beiden bisherigen Stiftungen einfach zu Tageslicht – stattfindet, unterstreicht zusätzlich, dass es addieren: auf der einen Seite die Aufgaben der Kultur- uns mit diesem Thema ernst ist. Wenn noch dazu zwei stiftung der Länder, die vom Bund und den Ländern fi- Anträge der Opposition – aber kein Antrag der Regie- nanziert werden, und auf der anderen Seite die Aufgaben rungskoalition – die Gründe für die Debatte sind, dann der Kulturstiftung des Bundes, für die der Bund zahlt weiß jeder: Hier ist Gefahr im Verzug, aber es besteht und auch inhaltlich verantwortlich ist. noch eine kleine Chance, das Schlimmste zu verhindern. Das Interessante ist, dass nach den jetzigen Plänen Worum geht es? Es geht darum, die seit vielen Jahren noch ein Aufgabenbereich hinzukommt, in dem man erfolgreich arbeitende und vom Bund und den 16 Län- sich um diejenigen Fälle kümmern will, bei denen nicht dern gemeinsam finanzierte Kulturstiftung der Länder ganz klar ist, wer sich eigentlich darum kümmern soll. und die erst vor einem Jahr gegründete Kulturstiftung Fest steht: Der Bund bezahlt, entscheidet aber nicht un- des Bundes zu fusionieren. Ihre Fördermaßnahmen über- bedingt. So habe ich mir die Wahrung und Wahrneh- schneiden sich teilweise. Das allein wäre ein Grund für mung der durch die Verfassung festgelegten föderalen eine Zusammenführung. Aber auch die Wahrnehmung Ordnung nicht vorgestellt. Sicher, in der Außenwahrneh- ihrer Aktivitäten könnte bei einer Zusammenlegung ver- mung und für die meisten Projektantragsteller wird das bessert werden. Wir haben also nichts gegen eine Fu- keine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der seit Jahren sion. Ich denke, alle hier im Haus sind der gleichen Mei- kontrovers diskutierten Entflechtung von Zuständig- nung. keiten in der Kulturförderung ist mit diesem Vorschlag aber eben keiner Seite gedient. Im Gegenteil: Hier wird Doch was in dem Eckpunktepapier der Staatsminis- erneut verflochten – und das auf eine Weise, die keiner terin für Kultur und Medien vorgeschlagen wird, ist aus mehr versteht. unserer Sicht die schlechteste der denkbaren Möglich- keiten, diese Fusion zu gestalten. Im Prinzip soll nämlich (Beifall bei der CDU/CSU) alles beim Alten bleiben. Es soll nur ein neues gemeinsa- Die Kulturstiftung soll die Kulturnation Deutschland mes Dach entstehen. nach innen und außen repräsentieren. Gerade deshalb ist Wir debattieren heute und zu dieser Stunde darüber die paritätische Vertretung der Zuwendungsgeber in den im Bundestag, weil dieses Eckpunktepapier am späteren Gremien notwendig und sinnvoll. Sie beinhaltet aber, (B) Nachmittag, also zur selben Stunde, Grundlage der Bera- wenn man sie für notwendig und sinnvoll hält, wiederum (D) tungen der Ministerpräsidenten beim Kanzler über die eine Folgerung: eine paritätische Finanzierung. Ich Stiftungsfusion ist. Insofern haben wir ein gewisses Ver- möchte die Länder ausdrücklich ermutigen, sich an der ständnis, dass die Staatsministerin nicht anwesend ist. neu entstehenden Stiftung mit erkennbarem Engagement Aber dieses Verständnis hält sich in Grenzen, weil es zu beteiligen, besser gewesen wäre, wir hätten erst einmal im Parla- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ment über diese Punkte gesprochen, ehe man sich an- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- hört, was die Wünsche der Ministerpräsidenten sind. NEN – Horst Kubatschka [SPD]: Das sagen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie mal Herrn Stoiber!) anstatt weiter wie zuletzt im Mai dieses Jahres – das Es ist unnötig, zu betonen, dass unser Antrag die bes- habe ich schon erwähnt – Papiere zu erstellen, in denen sere Grundlage für diese Beratung ist. Zusätzlich muss komplizierteste Konsultationsverfahren für den Fall kon- man betonen, dass unser Antrag auch die bessere Grund- struiert werden, dass der Bund die Kultur überhaupt för- lage für die Position der Bundesregierung in den Ver- dern wolle. handlungen mit den Ländern wäre; denn wir vertreten keineswegs nur Länderinteressen. Auch die Länder ha- Wo, wenn nicht in der entstehenden Stiftung, könnte ben ein Eckpunktepapier vorlegt, das der ehemalige unser föderales Prinzip der Kulturförderung sinnfälliger Staatsminister für Kultur und Medien, Herr Naumann, gemacht werden? Wir sollten uns gemeinsam von der heute in der „Zeit“ als „bürokratisches Monstrum“ be- Frage leiten lassen: Was dient der Kulturförderung in zeichnet hat. Wenn man sich dieses Papier ansieht, dann Deutschland am besten? Denn am Ende wird sich die muss man sagen, dass es sich nicht nur gegen die Kultur- Zusammenführung der Stiftungen daran messen lassen förderung in Deutschland richtet, sondern auch alle müssen, ob sie zur Förderung von Kreativität in Hoffnungen auf eine Reform des Föderalismus ad ab- Deutschland einen Beitrag geleistet hat. Es geht im surdum führt. Wir wollen nicht ausschließen, dass un- Grunde um nichts anderes als um Kulturförderung im sere Debatte noch dazu beiträgt, dass die Einsicht an ei- weiten und besten Sinne. ner anderen Stelle in dieser Stadt noch zunimmt und etwas Vernünftiges aus dieser Fusion der Kulturstiftun- Um unseren Antrag nicht zu wiederholen, greife ich gen hervorgeht. nur kurz einige Aspekte auf, die uns bei der Zusammen- führung der beiden Stiftungen wichtig sind: Um eine Es ist wichtig, festzustellen, dass 50 Millionen Euro dauerhafte Konkurrenz zu dieser Förderung durch an- verteilt werden. Damit handelt es sich um die größte dere bestehende und künftige Förderinstrumente, vor Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4403

Günter Nooke (A) allem im Rahmen des Hauptstadtkulturfonds, auszu- immer umsetzen wollten. Darüber sollte man, zum Don- (C) schließen, sind Modalitäten zu formulieren, die eine un- nerwetter, auch einmal fröhlich sein! bürokratische und sich ergänzende Arbeit überhaupt möglich machen. Bestehende andere Förderinstrumente (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) sind im Zuge der Neugestaltung daraufhin zu überprü- Seit 30 Jahren wird diese Diskussion geführt. Was fen, ob sie Teil der Stiftung werden und in das neue Ge- weiß ich, wer sich alles damit schon beschäftigt hat! Ich bilde mit eingebaut werden könnten. Bei internationalen nenne nur Günter Grass und Willy Brandt. Viele haben Projekten ist die Abstimmung mit den Trägern der aus- es versucht und nicht viel erreicht. Vor zwei Jahren kam wärtigen Kulturpolitik und auch der Bildungspolitik zu es zu dem Beschluss, die Bundeskulturstiftung zu gewährleisten. gründen. Darüber waren wir wirklich sehr froh. An der Besonders wichtig ist aus unserer Sicht: Das Instru- Resonanz haben wir gesehen, wie wichtig das für viele ment der allgemeinen Projektförderung muss erhalten war. Es war eine gewaltige Kraftanstrengung. Wir haben bleiben, also die Möglichkeit von Künstlern, Kulturein- dies jetzt erreicht und darüber bin ich froh. richtungen und anderen, Anträge zur Förderung zu stel- Bereits bei der Entscheidung damals war es das len. Das ist im Eckpunktepapier der Staatsministerin Ziel – ich bitte Sie, daran zu denken –, beide Stiftungen nicht mehr vorgesehen. zu fusionieren. Wir sind jetzt in der letzten Etappe auf (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Doch!) dem Weg zu diesem Ziel hin. Der derzeit bestehende grundsätzliche Ausschluss der Warum hat das so lange gedauert? Das sollte man sich institutionellen Förderung im Rahmen der Kulturstiftung ein bisschen vergegenwärtigen, übrigens auch um die des Bundes ist nicht in die neu entstehende Stiftung zu Probleme, die aus meiner Sicht im Eckpunktepapier ent- übernehmen. halten sind, verstehen zu können. Es hat so lange gedau- ert, weil wir all die Jahre diesen verteufelten Kompe- Ich wünsche mir alles in allem, dass sich diese Ge- tenzstreit mit den Ländern in Fragen der Kulturpolitik sichtspunkte in den künftigen Gesprächen wiederfinden. und der Kulturförderung hatten. Übrigens bestand der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Konflikt in der Regel – das muss ich differenzieren – nicht mit allen Ländern, sondern nur mit den reichen Das würde die Chance erheblich erhöhen, dass es künf- Ländern. Es ging immer um die Kulturhoheit – welch tig eine gemeinsame Stiftung von Bund und Ländern schreckliches Wort! –, wobei bislang in der Regel die und darüber hinaus eine von allen Fraktionen des Deut- Hoheit gesiegt und die Kultur verloren hat. schen Bundestages gemeinsam beschlossene Deutsche (B) Kulturstiftung gibt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Antje (D) Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. Ich weiß, dass ich nicht der Einzige hier im Saal bin, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der es zutiefst bedauert hat, dass wir diesen Föderalis- musstreit ausgerechnet auf dem Rücken der Kultur aus- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: getragen haben. Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Barthel, (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Bis auf SPD-Fraktion. die Formulierung „wir“ stimme ich dem aus- drücklich zu!) Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Da bin ich mit vielen einig. Insofern finde ich erfreulich, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- dass dieser Streit in letzter Zeit durchaus etwas abge- ren! Herr Nooke, ich weiß nicht, warum es mir so geht; klungen ist und dass, während wir hier über Verfahrens- aber jedes Mal, wenn ich Sie höre – ich will Ihnen einen und Gestaltungsanträge debattieren, der Bundeskanzler Tipp geben –, habe ich das Bedürfnis, Ihnen zuzurufen: und die Bundesregierung mit den Regierungschefs der Denken Sie doch bloß einmal positiv! Länder über eine Systematisierung – ich lege Wert auf dieses Wort anstelle von „Entflechtung“ – diskutieren (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto und versuchen, den erforderlichen Rahmen zu schaffen. Solms) Ich bin eigentlich ziemlich sicher: Es wird ein positives Wir haben vorhin Geburtstagsreden zum 50-jährigen Ergebnis geben. Das werde ich an den Umständen bzw. Bestehen der Deutschen Welle gehört. Was wir jetzt ma- den Kräfteverhältnissen der beiden Parteien messen. chen, könnte man vielleicht so beschreiben: Wir befin- Im Rahmen dieser Systematisierung bekennen sich den uns in einer Geburt, die bereits seit 30 Jahren andau- der Bund und die Länder zu einer engen Zusammenar- ert. beit in der Kulturförderung. Diese Aussage ist schon (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sehr schön. Ich darf zitieren: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Stärkung der Kulturstaatlichkeit Deutschlands Jetzt schaffen wir es endlich, etwas umzusetzen, was und die Förderung des kulturellen Lebens im Innern wir, zumindest die Kulturpolitiker auf Bundesebene, und nach außen ist gemeinsame politische Aufgabe aber auch viele Kulturpolitiker auf Landesebene, schon von Bund und Ländern 4404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) – und jetzt kommt etwas, was mich in der Erwartung be- Das Eis, auf dem Sie laufen wollen, ist ein bisschen zu (C) stärkt, dass der Kompetenzstreit auch in Zukunft nicht dünn. gänzlich verfliegen wird – Alle wussten seit Wochen, dass heute die Veranstal- im Rahmen ihrer jeweiligen Verantwortung. tung mit dem Bundeskanzler und den Ministerpräsiden- ten stattfindet. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass erst Darüber werden wir uns im Einzelfall sicher noch häufig jetzt diese beiden Anträge gekommen sind. Das hat mich zu unterhalten haben. überrascht. Bei allem, was man an diesem Eckpunktepapier kriti- Auch wir haben ein riesiges Interesse daran – ich sieren kann, hoffe ich aber, dass Auseinandersetzungen glaube, hier decken sich unsere Vorstellungen –, dass wir in Zukunft – wenn es sie schon gibt – wenigstens ratio- an dem Prozess der Ausgestaltung dieser Eckpunkte in- naler als bisher werden. Ich will in dem Bild bleiben: tensiv beteiligt werden. Vielleicht gelingt es, dass bei solchen Konflikten der erste Blick der Kultur und erst der zweite der Hoheit gilt. Über manche Punkte des Antrages der CDU/CSU bin ich doch ein wenig erstaunt. Haben Sie mit den Minister- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Antje präsidenten der unionsgeführten Länder darüber gespro- Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) chen? Ich würde gern wissen, was sie Ihnen dazu gesagt In den parallel zu unserer Debatte laufenden Gesprä- haben. Ich habe das Gefühl, Ihnen sind die Rahmenbe- chen geht es um die Festlegung von Eckpunkten für die dingungen, unter denen wir diese schwierige Geburt be- Systematisierung der Kulturförderung von Bund und werkstelligen müssen, ziemlich egal. Ich will Sie davor Ländern und ganz konkret und logischerweise um die warnen, die Latte zu hoch zu hängen: Es kann einen Eckpunkte für die Fusion beider Stiftungen. Es geht um Punkt geben, wo man von der Frage, wie es gemacht Eckpunkte, um nicht mehr und nicht weniger. wird, auf die Frage, ob es gemacht wird, kommt. Schließlich gibt es einen Konsens darüber, dass diese Dann stellt sich logischerweise die Frage – das klang Fusion stattfinden soll. bei Herrn Nooke an; auch andere werden das fragen –: Welche Rolle spielt der Bundestag in diesem Prozess? Über die Projektförderung – es gibt noch andere Punkte –, die die FDP in ihrem Antrag nennt, müssen (Günter Nooke [CDU/CSU]: Der Haushalts- wir in der Tat noch reden. Ich habe ein paar Bedenken ausschuss entscheidet!) – das gestehe ich ganz offen –, dass durch diese Kon- – Das ist sowieso vorausgesetzt, weil von dort die Finan- struktion zu viel bürokratischer Sand ins Getriebe ge- zierung kommt, die übrigens Sie und die FDP eigentlich streut wird. (B) abschaffen wollen; Sie wollen eine Sockelfinanzierung. (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD] und (D) (Cornelia Pieper [FDP]: Davon hätten wir der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/ wirklich etwas!) DIE GRÜNEN]) Sie haben 2 Milliarden Euro vorgeschlagen. Ich kenne Mit der Fusion der Stiftungen ist nämlich auch das Ziel keinen hier im Raum, der dem nicht sofort zustimmen verbunden – jedenfalls glaube ich das –, die Worthülse würde. Aber sagen Sie uns dann bitte auch, woher das „kooperativer Kulturföderalismus“ mit Inhalt zu füllen. Geld kommen soll. Ich zitiere den von mir hoch verehrten Michael Naumann: Es darf „kein neues bürokratisches Monstrum des Föde- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir privatisieren ralismus“ dabei herauskommen. Diese Meinung teile ein paar Bundesunternehmen!) ich. Es wird unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass Die CDU war in diesem Punkt ehrlicher. Sie hat gesagt: das nicht passiert. Das machen wir längerfristig. Ein gewisser Realitätssinn Nebenbei bemerkt: Ich bin froh darüber, dass unsere ist dem nicht abzusprechen. Aber Sie von der FDP wol- Partner in Zukunft nicht mehr die Staatskanzleien, son- len ja gleich 2 Milliarden Euro. Das ist mehr als das dern für Kultur Verantwortliche sein werden. Ich glaube, Doppelte des Haushaltes der BKM. das wird die Arbeit mächtig erleichtern. Man muss ehrlich sagen: Wir sind bei dieser Konstel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des lation nicht Herr des Verfahrens. Über Ihre Klage, Sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) würden zu wenig beteiligt, will ich doch meine Verwun- derung ausdrücken. Auch Sie – wir alle im Kulturaus- Ich kann es mir nicht verkneifen, zum Antrag der schuss – kannten das Eckpunktepapier. FDP noch ein Wort zu sagen: Sie hat in ihrem Antrag ge- schrieben, sie wolle die „Konkurrenzen zwischen Bund (Zuruf der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) und Ländern in der Kulturförderung beenden“. Dazu – Sie sind gar nicht im Kulturausschuss. Herr Otto kennt sage ich Ihnen – es ist erstaunlich, dass ich das an die es. Adresse der FDP sage –: Ich habe gar nichts gegen Kon- kurrenz. (Cornelia Pieper [FDP]: Ich kenne das Thema!) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Das reicht manchmal nicht. Ich hatte kein Problem mit der Konkurrenz, sondern mit (Heiterkeit bei der SPD) der Blockierung von Vorhaben des Bundes durch die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4405

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) Länder. Das ist der Punkt. Die Blockade muss beendet wurf meiner Person gegenüber, ich hätte mich für die (C) werden, nicht die Konkurrenz. Kultur zu wenig engagiert. (Beifall bei der SPD) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das habe Ich weiß nicht, warum ich mich jetzt an der FDP auf- ich nicht gesagt! – Ute Kumpf [SPD]: Im Kul- hänge; vielleicht, weil es so schön ist. Einiges ist merk- turausschuss!) würdig: Vor vier Wochen haben Sie eine Presseerklärung – Gut, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie das zurückneh- herausgegeben, die sich inhaltlich auf das bezieht, was men. Ich will Sie nur daran erinnern, dass wir beide zu heute verabschiedet werden soll. Ich zitiere: dem Thema schon Podiumsdiskussionen geführt haben, Der Grund für die Einbeziehung der Stiftung Kul- dass ich neben meinem Kollegen Otto Initiatorin des An- turfonds ist nicht ersichtlich. trages zu dem Thema „Kulturstiftung des Bundes“ bin und dass wir in der Sache an sich an einem Strang gezo- Im Antrag schreiben Sie: gen haben, sonst hätten wir wahrscheinlich das Thema Die Integration der Stiftung Kulturfonds ist denk- „Kulturstiftung des Bundes“ heute nicht auf der Tages- bar. ordnung. Sie sollten sich besser abstimmen. Ich halte die Integra- Lassen Sie mich noch einmal sagen: Für mich ist es tion der Fonds in diese Stiftung in der Tat für sinnvoll, verwunderlich, dass das Hohe Haus, das Parlament, bei weil das die Arbeit gewaltig erleichtert. dieser Debatte über die Fusion der Kulturstiftung des Mit dieser Fusion schaffen wir die größte Kulturstif- Bundes mit der Kulturstiftung der Länder nicht beteiligt tung Europas. Es ist in der Tat richtig, dass der Bund wird. Das hat der Kollege Nooke zu Recht angemahnt. 38 Millionen Euro zahlt, weitere 8 Millionen Euro wer- Von daher kann ich nur sagen: Um Kultur muss sich je- den über die Länderstiftung eingebracht. Herr Nooke der Abgeordnete dieses Hauses kümmern. Ein Eck- – leider telefonieren Sie gerade –, ich wünschte mir punktepapier, das von der zuständigen Staatsministerin auch, dass sich aus dieser ungleichen Verteilung der Mit- vorgelegt und dann nicht mit den Kulturpolitikern im tel auch eine ungleiche Entscheidungskompetenz er- Parlament diskutiert wird, finde ich schon eigenartig. gibt. Bei einigen Säulen ist das ja so; das sollte man (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist es nicht ganz vergessen. Trotzdem hätte ich mir ein stärke- doch! Ihr habt es doch alle!) res Gewicht gewünscht. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Antje – Dann legen Sie es bitte auch dem Parlament vor und Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) betrachten es nicht nur als ein Dokument, mit dem Sie im Kulturausschuss umgehen. (B) In der Politik habe ich aber gelernt, dass man erst das (D) Problem erkennen muss, bevor man es lösen kann. Dem- Meine Damen und Herren, ich will mich zur Sache entsprechend wird unsere Arbeit an diesem Eckpunktpa- äußern und ganz klar sagen: Die geplante Fusion der pier aussehen. Wir werden dieses Thema aufnehmen und Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der diskutieren. Ich bin mir sicher, dass wir an viele Punkte Länder wird von der FDP-Bundestagsfraktion grund- noch ein Fragezeichen setzen werden. sätzlich begrüßt. In der Grundtendenz sind wir uns aber darüber einig, (Beifall bei der FDP) dass wir diese Fusion wollen. Wir wissen, dass wir sie nur – ob uns das gefällt oder nicht – zusammen mit den Zu denken gibt uns aber, was wir aus den Staatskanz- Ländern erreichen können. Ich glaube, dass am Ende ein leien der Länder hören. Auch Äußerungen der Staatsmi- positives Ergebnis herauskommen wird. Die CDU/CSU nisterin sind für uns eher unbefriedigend. Heute warnt und die FDP begrüßen in ihren Anträgen die Fusion. ihr Vorgänger in der „Zeit“ sogar vor einer Fusion. Er schreibt, sie könne zur Entwertung der Bundesbehörde, (Günter Nooke [CDU/CSU]: Sehen Sie ein, des Staatsministers für Kultur, führen. Michael Nau- wie positiv wir das sehen!) mann nennt die Tatsache, dass der Kulturausschuss bis- – Ja, das haben Sie aber nicht geschrieben. Herr Nooke, her in die Konsultationen nicht einbezogen wurde, sogar das ist eine schöne Arbeitsteilung: Wir machen die Fu- einen „Skandal im Skandal“. Recht hat er und wie Recht sion und Sie begrüßen sie. Das ist eine schöne Regelung. er hat, zeigt sich heute. Frau Weiß – ich sagte es schon – Danke. hat offensichtlich kein Interesse daran, sich in der Sache mit dem Parlament auseinander zu setzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die ist doch in der Verhandlung!) Vizepräsident Dr. : – Was wahr ist, muss wahr bleiben. Wir glauben, dass Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Pieper von die Fusion in die falsche Richtung geht. Deshalb haben der FDP-Fraktion. wir unsere Forderungen zu Papier gebracht. (Monika Griefahn [SPD]: Das war beschlos- Cornelia Pieper (FDP): sen! Es gab eine Anhörung! Das ist genau das Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- parlamentarische Verfahren! Nehmen Sie das gen! Herr Barthel, mich wundert und enttäuscht Ihr Vor- mal bitte zur Kenntnis!) 4406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Cornelia Pieper (A) – Frau Griefahn, es wäre besser, Sie hörten sich an, was reichen, eine haushaltsunabhängige Finanzausstattung (C) die Opposition dazu zu sagen hat. ist. (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: richtig!) Frau Kollegin Pieper, erlauben Sie eine Zwischen- Deswegen fordern wir vehement ein Stiftungskapital. frage des Kollegen Barthel? Dafür kämpfen wir. Das würde neue Finanzierungsmög- lichkeiten für die Bundesstiftung eröffnen. Cornelia Pieper (FDP): Als Letztes möchte ich folgenden Punkt erwähnen: Nein, ich möchte meine Gedanken zur Fusionsdebatte Wir wissen, dass nicht alle Länder dieser Fusion zustim- hier fortführen und vortragen können, Herr Präsident. men werden. Ich habe aus dem Kultusministerium in Erstens. Die Aufgaben und Ziele der Deutschen Kul- Sachsen-Anhalt gehört, dass eine Zustimmung infrage turstiftung müssen nach unserer Auffassung aus den bis- gestellt wird, und weiß, dass es einige Länder gibt, die herigen Stiftungszwecken der Kulturstiftung des Bundes zur Bedingung machen werden, dass der Sitz der künfti- und der Kulturstiftung der Länder resultieren. Notwen- gen Stiftung nach Berlin kommt. Ich hoffe, dass sich die dig erscheint uns aber auch die Evaluation der bisherigen Bundesregierung der herausragenden Rolle Halles, des Arbeit beider Stiftungen, und zwar vor deren Zusam- kulturreichen Standortes in Mitteldeutschland mit seinen menschluss und durch ein unabhängiges, mit Kunst- und Francke’schen Stiftungen, bewusst ist und dass Sie, Herr Kultursachverständigen besetztes Gremium. Barthel, sich auch weiterhin für diesen Ort einsetzen werden. Zweitens. Der institutionellen Kulturförderung müssen Bund und Länder weiterhin gerecht werden, wo- Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Rücksicht- bei eine Kontrolle der Mittelvergabe durch die jeweili- nahme. gen Parlamente gewahrt bleiben muss. (Beifall bei der FDP – Eckhardt Barthel [Ber- Drittens. Ein für die Liberalen entscheidender Punkt lin] [SPD]: Aus welchem Bundesland kom- ist, dass weder der Bund noch die Länder oder die Ge- men Sie denn?) meinden Antragsteller sein dürfen. Antragsteller müssen die Produzenten, die Künstler oder die Beteiligten an ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nem zu fördernden Projekt sein. Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer, (Beifall bei der FDP) Bündnis 90/Die Grünen. (B) (D) Nur so ist gewährleistet, dass alle sich um Förderung be- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mühenden Projekte von der Stiftung auch begutachtet werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Pieper, die Staatsministerin befindet sich (Beifall bei der FDP – Günter Nooke [CDU/ im Moment mit den Ministerpräsidenten in der Verhand- CSU]: Sonst gibt es eine neue Bürokratie!) lung, über die wir die ganze Zeit gesprochen haben. Das Viertens. Die Arbeit der Stiftung muss transparent hat sie dem Kulturausschuss vorher mitgeteilt. Sie ist sein. Die Vergabe von Mitteln durch die Stiftung muss also wirklich entschuldigt. klar und nachvollziehbar sein. Deswegen fordern wir, Auch an dem parlamentarischen Prozess gibt es dass die Vergabe finanzieller Mittel auf ein unabhängi- nichts zu kritisieren. Wir alle, auch Ihre Kollegen, haben ges Kuratorium übertragen wird. Bei der Schaffung der das Eckpunktepapier rechtzeitig bekommen. Wir haben Kulturstiftung dürfen wir es nicht versäumen, effiziente noch in der gestrigen Sitzung einen Sachstandsbericht Strukturen aufzubauen. Es muss eine neue Personal- bekommen. Es wurde angekündigt, dass uns in der struktur aufgebaut werden – das sage ich ganz klar zur nächsten Sitzung ein Bericht über diese Verhandlung Regierungskoalition –, weil es nicht sinnvoll ist, die Per- vorgelegt wird. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass sonalstellen aus beiden Stiftungen einfach nur zu addie- wir noch eine Anhörung durchführen werden. Sorgfälti- ren. Wie bei der Fusion des Goethe-Instituts mit Inter ger kann man einen Prozess in dieser Phase parlamenta- Nationes muss die so genannte Fusionsrendite nach un- risch nicht begleiten. serer Auffassung aber der Kultur erhalten bleiben. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Weil das so aktuell ist, denke ich manchmal sogar, wir Frau Kollegin Pieper, kommen Sie bitte zum Schluss. sollten einige Kerzen anstecken; denn man muss über- sinnliche Kräfte haben, um diesen unglaublich hartnä- ckigen Widerstand der Ministerpräsidenten und der Län- Cornelia Pieper (FDP): der endlich zu überwinden. Ich finde, es spricht für die Ich komme gleich zum Ende, Herr Präsident. Kompetenz und den Charme der Staatsministerin, dass sie geschafft hat, woran so viele Männer vor ihr geschei- Fünftens. Herr Barthel, wir glauben – das möchte ich tert sind. nur noch ganz kurz sagen –, dass der beste Weg, um eine größtmögliche Unabhängigkeit der Kulturstiftung zu er- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4407

Dr. Antje Vollmer (A) Mit der Fusion werden wir die größte Kulturstiftung Überlegung, über die wir dann auch diskutieren können, (C) Europas bekommen. Ich freue mich, dass das auch die wenn wir demnächst die Anhörung darüber durchführen. Opposition grundsätzlich begrüßt. Die Fusion war über- Im Übrigen wünsche auch ich mir bei der Ausarbei- fällig. Wir alle haben aber noch über den Prozess und die tung der gemeinsamen Satzung eine Einbeziehung und weiteren Inhalte zu diskutieren und darüber, dass es, wie Beschlussfassung dieses Parlaments. Ich glaube, das ist Michael Naumann in einem wirklich brillanten Artikel das gemeinsame Interesse aller Parlamentarier. Ich in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“ geschrieben hat, finde: Wenn dieses Haus in so schwieriger Zeit schon nicht zu einer bloßen Scheinehe zwischen zwei extrem eine so große Anstrengung unternommen hat, um diese verfeindeten Bürokratien kommen wird. Es wird viel Bundeskulturstiftung zu schaffen, dann gehört auch eine von den Beteiligten abhängen, wie sich das entwickeln faire Beteiligung des Parlaments an der Arbeit dieser wird. Stiftung, aber auch an der Beschlussfassung über ihre Es ist deswegen, glaube ich, das Beste, an den Grün- Satzung auf jeden Fall dazu. Ich denke, dass sich alle dungsmythos dieser Stiftung zu erinnern. Die Grund- Parlamentarier darin einig sind, dass wir dies an dieser ideen wurden 1973 von Willy Brandt und Günter Grass Stelle einfordern. formuliert und 1998 von Michael Naumann – unterstützt In dem Sinne hoffen wir, dass diese extrem schwie- von Gerhard Schröder – wieder aufgenommen. Es ging rige Geburt, dieses mittelalterliche Eheritual, wie im Wesentlichen um den Erhalt des kulturellen Erbes Eckhardt Barthel es genannt hat, nicht weit von uns jetzt Deutschlands und um unser Agieren im europäischen wirklich stattfindet. Raum. Ich stimme, wegen der Erinnerung an den Grün- dungsmythos auch dem Teil des Antrags der CDU/CSU (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu – ich finde ihn interessant –, der von „Bewahrung und und bei der SPD) Rückerwerb national wertvollen Kulturgutes“ als einer zentralen Aufgabe der neuen Stiftung ausgeht, was bis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: her immer Aufgabe der Länderstiftung gewesen ist. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU- In Zeiten, in denen uns in den Städten und Kommu- Fraktion das Wort. nen Kulturinstitutionen reihenweise wegbrechen, in Zei- ten, in denen Theater und Museen ums Überleben kämp- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fen, müssen wir von einer flüchtigen Eventkultur wegkommen, welche das publikumswirksame Ereignis Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): höher schätzt als die gewachsenen kulturellen Traditio- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) nen und Institutionen unseres Landes. (D) Wenn das Anliegen nicht so ernst und seine Behandlung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht so zäh wäre, dann könnte man die gleichzeitige Be- und bei der SPD) handlung dieses unendlichen Themas Kulturstaat Deutschland und Kulturstiftung des Bundes und der Es macht Sinn, dass wir die größte Kulturstiftung Eu- Länder heute Nachmittag an zwei Orten mit unterschied- ropas bekommen, weil wir auch die größte und tradi- lichen Akteuren, bei denen die einen in einer Pressekon- tionsreichste Kulturlandschaft Europas haben. Dass wir ferenz in wenigen Minuten sagen, was sie tun wollen, inzwischen in allen Bereichen, in den Bereichen Musik, während wir hier darüber debattieren, wie es vielleicht Theater und Museum, Ausbildungsstätte vieler junger besser wäre, für eine Operette halten. Nur: Operetten Talente sind – sie kommen vor allem aus Osteuropa –, sind in der Regel auch deshalb unterhaltsam, weil man hat damit zu tun. Das heißt, wir müssen auch das Be- ihren Inhalt besser nicht allzu ernst nehmen sollte. wusstsein für diese Kulturlandschaft stärken. Die Auf- (Horst Kubatschka [SPD]: Sie haben ein gabe der gemeinsamen Stiftung muss genau dem dienen. Happy End!) Während in der Gegenwartskultur eine Vielzahl von – Ihren Zwischenruf nehme ich als Motivationshilfe be- zivilgesellschaftlichen Förderungen vorhanden ist, ist sonders gerne zur Kenntnis. der Staat beim Erhalt des kulturellen Erbes der zentrale und maßgebliche Akteur. Deswegen und weil daraus al- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) les in allem schließlich auch ein bedeutender Wirt- In der jungen Formation des Bundestages in der Kultur- schafts- und Standortfaktor für Deutschland heraus- politik bin ich lange genug persönlich engagiert, um mir kommt, muss der Wert der Kulturpolitik auch in den die Zuversicht auf eine am Ende halbwegs überzeugende parlamentarischen Debatten steigen. Das, was wir getan Lösung bewahrt zu haben. haben und was wir unter anderem demnächst mit der Einrichtung der Enquete-Kommission tun werden, dient Das Anliegen, über das wir reden, ist in der Tat ernst. genau dieser wachsenden Bedeutung. Wir können es gar nicht ernst genug nehmen. Ich habe auch bei niemandem, der heute dazu gesprochen hat, den Ich finde, es ist auch ein guter Vorschlag im Antrag Eindruck gewonnen, als wolle man das mal eben ein we- der Opposition, zu überlegen, ob die Förderung der im nig herunterfahren. Im Kern reden wir über die Zukunft Blaubuch aufgeführten einzelnen Kulturstandorte nicht des Kulturstaates Deutschland, und zwar nicht deswe- auch in die deutsche Kulturstiftung überführt werden gen, weil die Kulturstiftung des Bundes oder gar die könnte. Ich halte das jedenfalls für eine interessante Kulturstiftung der Länder, die bei genauerem Hinsehen 4408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Norbert Lammert (A) die erste Kulturstiftung des Bundes war, Kerne des deut- „Sektionen“ gebildet werden, deren Zuständigkeiten ge- (C) schen Kulturstaates wären oder werden könnten, son- nau so konserviert werden sollen, wie wir sie schon bei dern weil deren beabsichtigte Fusion im Kontext einer der Gründung der Kulturstiftung des Bundes für verän- angestrebten Entflechtung von Zuständigkeiten und ei- derungsbedürftig gehalten haben. ner Systematisierung der Aufgabenstellung von Bund und Ländern liegt, wobei es im Übrigen schon eine sub- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) tile Logik hat, dass gemäß ein und demselben Eckpunk- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, so, wie tepapier der erste konkrete Beitrag zur Entflechtung der es hier geplant ist, darf es nicht werden. Leider ist der Zuständigkeiten die Zusammenführung von zwei Stif- Verdacht nur allzu berechtigt, dass es bei diesem Papier, tungen des Bundes und der Länder unter gemeinsamer mit dem sich – das muss man zur Verdeutlichung der Verantwortung sein soll. Ausgangslage vielleicht sagen – nicht die Kulturminister Das soll vielleicht nur ein weiterer Hinweis an alle der Länder, sondern die Chefs der Staatskanzleien be- Beteiligten dafür sein, dass man die Veränderungswut schäftigt haben, mehr um das Austragen von Eitelkeiten nicht mit fundamentalistischem Eifer betreiben sollte, und Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Län- schon gar nicht, wenn man beim ersten konkreten Bei- dern geht als um die Beförderung der Anliegen und Inte- spiel zu besseren Einsichten kommt. ressen der Kultur. Ich jedenfalls bin nicht bereit, mich an dieser Art von grandioser Umkehrung der eigentlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Aufgabenstellung zu beteiligen. Ich möchte gerne das aufgreifen, was auch mehrere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- meiner Vorredner angesprochen haben. Wie halten wir neten der FDP) es mit dieser Systematisierung? Wir haben dazu schon bei früherer Gelegenheit eine Debatte geführt. Dabei ha- Herr Kollege Barthel, wenn Sie Ihre im Unterschied ben wir mehr oder weniger übereinstimmend zu Proto- zu meinen schlappen fünf Minuten üppige Redezeit von koll gegeben, dass es für eine stärkere Entflechtung von elf Minuten dazu genutzt hätten Bundes- und Länderaufgaben sicher manche gute Argu- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Gönnen Sie mente gibt. Ich wiederhole, dass mich bis heute niemand mir doch auch einmal etwas!) davon hat überzeugen können, dass diese Entflechtung im Kulturbereich besonders dringlich wäre – ich gönne sie Ihnen durchaus –, den heutigen „Zeit“- Artikel von Michael Naumann hier vorzulesen, dann (Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜND- hätten wir im Protokoll stehen, warum es nicht so wer- NIS 90/DIE GRÜNEN]) den darf, wie es die Bundesregierung – möglicherweise (B) und dass mit der angestrebten Entflechtung eine Verbes- gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder – (D) serung der Kulturförderung in Aussicht stünde. Ich sage vorschlägt. Das, was hier vorliegt, ist die Selbstpersi- voraus: Am Ende dieser Entflechtung wird es nicht mehr flage des deutschen Kulturföderalismus. Ich kann nur Geld für die Förderung von Kunst und Kultur geben. alle, die die Kultur ernst nehmen und für nicht weniger Aber es wird mehr Bürokratie in Form von mehr Gre- wichtig als die Politik halten, herzlich bitten, sich an die- mien, Genehmigungs-, Antrags- und Anzeigeverfahren ser drohenden Fehlentwicklung nicht zu beteiligen. geben, was wir in diesem famosen Eckpunktepapier Wenn im Übrigen das, was hier vorgeschlagen wurde, nachlesen können. die Systematisierung der Kulturförderung in Deutsch- land ist, dann gebe ich hier zu Protokoll, dass ich ein lei- Die Lösung, die hier angestrebt wird, ist sicher gut denschaftlicher Anhänger einer unsystematischen Kul- gemeint. Sie ist aber so, wie sie jetzt konzipiert ist, hoff- turförderung bin. nungslos misslungen. Damit keine Missverständnisse entstehen, sage ich noch einmal: Wir sind für eine Zu- Nun befinden wir uns glücklicherweise am Beginn sammenführung dieser beiden Stiftungen, weil es sich dieses Verfahrens. Die vorliegenden Anträge werden in bei genauem Hinsehen ohnehin um zwei Bundeskultur- die Ausschüsse überwiesen. Ich habe noch in lebhafter stiftungen handelt. Aber wir sind nicht bereit, die Addi- Erinnerung – darauf will ich mich gerne beziehen, Herr tion von zwei unbefriedigenden Zuständen für die Lö- Kollege Kubatschka –, dass gerade die Kulturpolitiker sung zu halten. aller Fraktionen im Regelfall sehr kooperativ miteinan- der umgehen und sich um eine gemeinsam tragfähige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lösung bemühen. Diese muss ich allerdings ausdrück- lich einfordern. Wir dürfen uns – mit oder ohne polemi- Hier geht es wirklich nach dem Prinzip: manches an- sche oder unfreundliche Bemerkungen über den bisheri- ders, aber nichts besser. Herr Kollege Barthel, ich kann gen Verfahrensgang – bei der geschilderten Sachlage buchstäblich nichts erkennen, was nach dem jetzt vorlie- nicht zum Notar von Regierungsvereinbarungen machen genden Vorschlag besser werden soll, zumal die Skurrili- lassen. So richtig es ist, dass die Ministerpräsidenten der täten des Status quo, dass sich nämlich die Kulturstif- Länder und auch der Regierungschef des Bundes nicht tung der Länder vornehmlich mit Aufgaben beschäftigt, unbedingt den Empfehlungen der Parlamentarier folgen die man für originäre Bundesaufgaben halten könnte, müssen, so gilt dies bitte schön auch umgekehrt. während sich die später gegründete Kulturstiftung des Bundes gewissermaßen kompensatorisch um Aufgaben Ich jedenfalls mache mir diese Eckpunkte ausdrück- kümmert, die eigentlich Länderangelegenheiten sind, auf lich nicht zu Eigen. Ich werde mit Nachdruck dafür Dauer beibehalten werden sollen. Es sollen nämlich kämpfen, dass es zu einer völlig anderen Lösung kommt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4409

Dr. Norbert Lammert (A) als der, die jetzt vorgesehen ist. Bevor diese beschlossen Ich finde nicht, dass das ein positives Ergebnis ist. Alle (C) wird, bin ich eher bereit, den bisherigen Zustand noch haben hier den Wunsch bekundet, die beiden Stiftungen eine Weile zu ertragen. zu fusionieren. Was wir gerade gehört haben, ist keine frohe Botschaft und dient nicht unserem gemeinsamen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ziel.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eine Kurzintervention des Kollegen Barthel. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Herr Kollege Barthel, erstens ist die Verkündung fro- Herr Kollege Lammert, Ihr Kampf, den Sie uns ge- her Botschaften nicht die vorrangige Aufgabe parlamen- zeigt haben, macht Sie mir sehr sympathisch. Aber ich tarischer Debatten. finde, dass wir bei der Frage der Fusion bzw. Nichtfu- Zweitens käme ich als einer der Väter und Mütter des sion auch daran denken müssen, wer die Spieler in dieser neuen Stiftungsrechts gar nicht auf die Idee, irgendeine Arena sind. Sie wissen genau, dass dann, wenn wir die der bestehenden Stiftungen als „negative Stiftung“ zu Fusion der Kulturstiftung der Länder und der des Bundes bezeichnen. Ich habe das nicht andeutungsweise getan. alleine herbeiführen könnten, die Lösung anders ausse- Vielmehr habe ich gesagt, dass der Zustand der beiden hen würde als die, die jetzt aufgrund des notwendigen nebeneinander operierenden Stiftungen unbefriedigend Kompromisses mit den Ländern entstehen kann. ist und dass dieser unbefriedigende Zustand durch Addi- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Trauen Sie tion nicht besser wird. Ich will aber – wenn Sie das für sich einmal etwas zu!) notwendig halten – gerne klarstellen, dass ich der Kul- turstiftung der Länder wie der des Bundes im Prinzip – Ich traue mir viel zu, aber ich möchte am Ende ein po- vorzügliche Arbeit attestiere und dass es nicht um die sitives Ergebnis haben. Trauen ist die Voraussetzung, Beurteilung der Leistungsfähigkeit dieser beiden Stiftun- aber Ergebnis ist das Ziel. Deswegen kann man hier so gen, sondern um die Zweckmäßigkeit der Bedingungen locker sagen, dass man dieses andere auch möchte. ihrer Zusammenführung geht, um nicht mehr und nicht weniger. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es zählt, was hinten herauskommt!) Drittens könnte ich Ihrem Argument, was die Not- wendigkeit der Berücksichtigung von Länderinteressen Ich habe mich etwas gewundert, Herr Lammert, dass betrifft, vielleicht folgen, wenn es die Kulturstiftung des Sie die beiden Stiftungen, so wie sie jetzt funktionieren, (B) Bundes noch nicht gäbe und es jetzt um die Bedingun- (D) so negativ sehen. Man kann immer an der Vergabepraxis gen ihres Zustandekommens unter Berücksichtigung für dieses oder jenes Projekt Kritik äußern. Aber unter verfassungsrechtlicher Einwände der Länder ginge. Das dem Strich – das bestätigen alle, die diese beiden Stiftun- ist aber doch nicht die Lage. Beide Stiftungen bestehen. gen beobachten – sind es positive Stiftungen. Ich wun- Bevor wir sie in einer nun wirklich miserablen Weise zu- dere mich, dass Sie gesagt haben, dass es um die Zusam- sammenführen, ziehe ich die Aufrechterhaltung des Zu- menlegung von zwei negativen Stiftungen geht. standes, den wir jetzt haben, einer auf Dauer angelegten Ihre Fraktion hat über das Eckpunktepapier anders miserablen Lösung vor; nicht mehr und nicht weniger. gesprochen, als Sie es jetzt getan haben. Das möchte ich einmal festhalten. Sie vertreten eine Einzelmeinung, für Wenn wir im Übrigen in einer in der Vergangenheit die Sie erstaunlicherweise von den Leuten Beifall erhal- bewährten Kooperation einen wirklich konstruktiven ten, die im Ausschuss ganz anders geredet haben. Das ist Aufstand des Parlaments gegenüber einem nicht ausrei- eine merkwürdige Konstellation. chenden Verhandlungsstand der Regierungschefs hinbe- kommen sollten und das in der Weise konkretisieren (Günter Nooke [CDU/CSU]: Jetzt wird es un- würden, wie es durch diese Debatte interfraktionell er- fair, Kollege!) kennbar wurde, dann hätten wir gemeinsam einen famo- sen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit des deutschen Kul- Was geschieht, wenn das Gespräch zwischen dem Bun- turstaates geleistet. deskanzler und den Ministerpräsidenten negativ aus- geht? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Horst Kubatschka [SPD]: Das (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist eine Letztere kann ich beklatschen!) Kurzintervention!)

Dann bleibt es so, wie es ist. Damit sind Sie ja zufrieden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aber diese eine Stiftung, die wir wollten, ist weg. Ich erlaube mir, noch einmal an meine Bemerkung Jetzt sage ich einmal, was ich zufällig erfahren habe: über die beiden Kerzen zu erinnern. Manchmal sind Dieses Gespräch ist geplatzt. Es ist am Widerstand des doch höhere Mächte notwendig. Landes Bayern gescheitert. (Heiterkeit) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wäre die Minis- terin mal besser hergekommen!) Ich schließe die Aussprache. 4410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Wir haben einen Entwurf zur Änderung der Verpa- (C) auf den Drucksachen 15/1099 und 15/1113 an die in der ckungsverordnung vorgelegt, den wir bereits im Feb- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. ruar mit den Bundesländern und den Fraktionen bespro- Die Vorlage auf Drucksache 15/1113 soll zusätzlich an chen haben. Wir haben dann diese Eckpunkte zu der den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- Verordnung 1 : 1 umgesetzt. Diese Verordnung hebt genabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit ein- nicht mehr – wie es noch unter Frau Merkel üblich war – verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- auf den Getränkeinhalt ab. Es kommt nicht mehr darauf sungen so beschlossen. an, ob eine Dose Cola auch Schnaps enthält oder nicht. Wenn Cola in der Dose ist, dann wird sie entsprechend Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf: bepfandet, und zwar nicht aus Willkür, sondern weil die Vereinbarte Debatte Dose gegenüber Mehrwegverpackungen in ökologischer Hinsicht eklatant nachteilig ist. zur Änderung der Verpackungsverordnung (Zuruf von der CDU/CSU: Wer sagt das?) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Dazu gibt es ausführliche Ökobilanzen, Herr Kollege. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Das können Sie gerne nachlesen. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Horst Kubatschka [SPD]: Der hat keine Ah- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst nung! – Peter Dreßen [SPD]: Ein Dinosaurier der Herr Bundesminister Jürgen Trittin. ist das!) Wenn sich heute noch jemand in diesem Hause dafür Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- stark macht, dass Blech ökologisch vorteilhafter ist als schutz und Reaktorsicherheit: Mehrweg, dann verkneife ich mir die Bemerkung, dass Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit An- das, was Sie dazwischenrufen, Herr Kollege, auch Blech fang des Jahres wird vollzogen, was unter Klaus Töpfer ist. verabschiedet worden ist, nämlich die Einführung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pfandpflicht für Einwegverpackungen. Festzustellen und bei der SPD – Werner Wittlich [CDU/ ist, dass die Pfandpflicht wirkt. Das Gesetz wirkt genau CSU]: Aber Sie reden auch Blech! Die ganze so, wie es diejenigen, die es seinerzeit verfasst haben, Zeit schon!) beabsichtigt haben. Was wir erreichen müssen, meine Damen und Herren, Anders, als vor einem Vierteljahr von einigen Unter- ist Investitionssicherheit für die Wirtschaft. Mit der (B) (D) nehmen behauptet wurde, ist nicht etwa massenhaft Änderung der Verpackungsverordnung wollen wir – des- Mehrweg ausgelistet und Einweg eingelistet worden. wegen haben wir sie mit den Ländern abgestimmt – auch Vielmehr stellen Supermarktketten, die noch vor einem Sicherheit für die Verbraucher erreichen. Die Ände- Jahr erhebliche Mengen an Einweg ausgelistet haben, in- rung der Verordnung zielt nicht auf eine Ausweitung der zwischen komplett auf Mehrweg um. Pfandpflicht; im Gegenteil: Sie begrenzt sie. Wenn wir Die Pfandpflicht wirkt, weil sie den Prozess der Ver- zuwarten würden, wenn wir also den Fehler wiederholen nichtung von Zehntausenden von Arbeitsplätzen in den würden, den der Bundesrat schon 2001 gemacht hat, kleinen Brauereien und in den mittelständischen Geträn- dann würden aller Voraussicht nach zum nächsten Jah- kefachhandlungen gestoppt hat. reswechsel auch Kartons und Weinflaschen der Pfand- pflicht unterliegen. Das kann niemand ernsthaft wollen. (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Sie sind ein Weil wir das nicht wollen, haben wir uns mit den Län- großer Märchenerzähler!) dern auf die vorliegende Novelle verständigt. Dabei ha- ben wir die Erkenntnisse gerade jener Ökobilanzen be- Im Gegenteil: Nach Auskunft des Verbandes des Deut- rücksichtigt, deren Richtigkeit Sie immer so gerne schen Getränke-Einzelhandes und des Bundesverbands bezweifeln, zum Beispiel den Umstand, dass heutige des Deutschen Getränkefachgroßhandels sind in den Kartonverpackungen und Mehrwegverpackungen in kleinen und mittelständischen Brauereien seit Jahresbe- ökologischer Hinsicht gleichwertig sind. ginn 10 000 neue Arbeitsplätze entstanden. (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Niemand von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns bestreitet das!) und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU: – Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das Deswegen stellt die vorliegende Novelle zur Verpa- können Sie doch gar nicht belegen!) ckungsverordnung auch ein Stück Innovation dar. Warum haben die großen Handelsunternehmen denn Was bedeutet das für die Verbraucher? Die Verbrau- über all die Jahre hinweg massenhaft Mehrweg cher werden ab kommenden Herbst ein Rücknahmesys- ausgelistet? — Weil sie die Kosten für Rücknahmesys- tem an allen Kiosken, Tankstellen und Bahnhöfen teme sparen wollten. Diesen Trend haben wir mit dem (Zuruf der Abg. Tanja Gönner (CDU/CSU]) Vollzug der Pfandpflicht gestoppt bzw. umgekehrt. – das gilt auch für den Bahnhof in Hannover, werte Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN legin – vorfinden. Soweit sie mobil sind, können sie es und bei der SPD) also gut erreichen. Aber auch bei den Discountern wie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4411

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Spar und Netto wird es ein solches System geben. Wir Hätte sich der Minister offen gegenüber konstruktiven (C) werden erleben, dass Mehrweg eine neue Chance hat. Vorschlägen gezeigt, könnten wir heute schon einen gro- Seit der Einführung der Pfandpflicht gibt es zum Bei- ßen Schritt weiter sein. Die Herausnahme der Milchpro- spiel wieder Erfrischungsgetränke in 0,5-Liter-Mehr- dukte aus der Pfandpflicht war im Laufe der bisherigen wegflaschen. So etwas gab es jahrelang nicht mehr. Diskussion ein erfreuliches, wenn auch leider seltenes Schließlich wird es dort, wo der Vormarsch von Einweg Beispiel dafür, dass Sie manchmal Argumenten doch organisiert wurde, nämlich in den großen Einkaufsmärk- noch zugänglich sind. ten, fast nur noch Mehrwegverpackungen geben. Im Übrigen war die Einführung der Verpackungs- In diesem Sinne stellt die Novelle zur Verpackungs- verordnung durch CDU/CSU und FDP 1991 ein großer verordnung einen Schritt nach vorne dar. Wir haben da- Durchbruch. Sie legte den Grundstein dafür, dass das mit unseren Teil der Vereinbarung umgesetzt. Ich er- Ende der Ex-und-hopp-Gesellschaft eingeläutet werden warte vom Bundesrat und auch von der Wirtschaft, dass konnte. Produzenten und Verbraucher wurden damals sie ihre Zusagen vom Dezember letzten Jahres mit der aufgefordert, Umweltschutz aktiv in ihr Leben zu inte- gleichen Beharrlichkeit und Vertragstreue umsetzen, wie grieren. Dieses Konzept wurde akzeptiert und setzte sich es der Bundesumweltminister mit seinen Zusagen getan durch. Deutschland entwickelte sich in wenigen Jahren hat. zum Mülltrennungsweltmeister. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) und bei der SPD – Werner Wittlich [CDU/ Vermeidung und hochrangige Verwertung von CSU]: Bei weitem noch nicht, Herr Minister! Verpackungsabfällen waren die Ziele, die sich Klaus Sie haben noch viel vor! – Dr. Peter Paziorek Töpfer und gesetzt haben. Die Verpa- [CDU/CSU]: Das war jetzt aber überzogen!) ckungsverordnung hat diese hoch gesteckten Ziele ohne Zweifel erreicht. Wenn das Ziel erreicht ist, dann ist es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: an der Zeit, mithilfe der gesammelten Erfahrungen und der neuen technischen Erkenntnisse einen Schritt weiter Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Tanja Gönner. zu gehen und neue Ziele zu definieren. Die Rahmenbe- dingungen für die Verpackungsverordnung und den Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) sorgungsmarkt müssen zukunftsfähig gestaltet werden. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass Tanja Gönner (CDU/CSU): die CDU/CSU-Fraktion wie im Übrigen auch die uni- (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen onsgeführten Länder im Bundesrat in der letzten Novel- (D) und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der lierungsdebatte – sie fand 2001 statt – durchaus für eine heutigen Debatte geht es einmal mehr um die unendliche grundlegende und umfassende Novellierung eingetreten Geschichte des Dosenpfandes. Wir diskutieren zum sind. wiederholten Mal über ein Gebiet der Abfallpolitik, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sage und schreibe 4,3 Prozent des Hausmülls ausmacht. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist die Herr Minister Trittin hat aber die Dose zum Staatsfeind Wahrheit!) Nummer eins erklärt. Sie, Herr Minister, waren derjenige, der sich diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Weg verweigert hat – nicht der Bundesrat. Scheinbar gibt es in der Umweltpolitik kein dringen- Unsere Aufgabe ist es nun, Schadensbegrenzung zu deres Thema mehr. Da dem nicht so ist, möchte ich Ih- betreiben. Wir brauchen schnellstmöglich eine zweck- nen einige wichtige umweltpolitische Themen ins Ge- mäßige Lösung im Interesse des Verbrauchers und der dächtnis rufen. Eine grundsätzliche Novellierung des Wirtschaft. Deswegen hat die Union die jetzige Debatte Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes sollte dringend konstruktiv begleitet in Angriff genommen werden. Aber nein, hier wird kein (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Seit Bedarf gesehen. Wir diskutieren lieber noch immer über wann denn das?) die Pfandregulierung. Des Weiteren steht die Novelle des EEG vor der Tür. Aber nein, Herr Trittin, Sie müssen und vier Mindestanforderungen vereinbart, und zwar erst davon überzeugt werden, dass Ihr Verpackungsver- mit den Ländern, mit denen Sie keinerlei Einigung er- ordnungsentwurf in der jetzigen Fassung nicht tragbar zielt haben, auch wenn Sie das hier immer anders dar- ist. Die Umsetzung des Kioto-Protokolls, Klimaschutz, stellen. Emissionshandel und Nachhaltigkeitsstrategie sind die weiteren Themen, mit denen wir uns momentan ausein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ander setzen sollten. Stattdessen beißt sich der Umwelt- Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! Sie minister an der Dose fest und verschiebt die wirklichen haben keine Einigung herbeigeführt!) Herausforderungen auf morgen. Erstens. Wir wollen für alle der Pfandpflicht unterlie- genden Getränkeverpackungen im Interesse der Verbrau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – cher ein einheitliches Pfand in Höhe von 25 Cent. Werner Wittlich [CDU/CSU]: Eine Blech- blase!) (Beifall bei der CDU/CSU) 4412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Tanja Gönner (A) Zweitens. Wir wollen, dass Einweggetränkeverpa- Lassen Sie mich einige weitere Schwachpunkte die- (C) ckungen mit einem Füllvolumen von mehr als drei Li- ser Novelle ganz kurz ansprechen. Die Entscheidung des tern ebenfalls von der Pfandpflicht freigestellt werden. Lenkungsausschusses, die Vorbereitungen für ein ein- (Beifall bei der CDU/CSU) heitliches Rücknahmesystem einzustellen, zeigt, dass sich Handel und Wirtschaft mit der bestehenden Rechts- Drittens. Sie haben alle Einwegverpackungen für unsicherheit nicht abfinden wollen. Es geht um erhebli- Milch von der Pfandpflicht bereits freigestellt. Viertens. che Summen, die in das Rücknahmesystem investiert Wir wollen, dass im Rahmen einer so genannten Innova- werden müssen. Die Beteiligten haben ein Recht auf tionsklausel Möglichkeiten geschaffen werden, dass klare Zukunftsperspektiven und stabile Rahmenbedin- ökologisch vorteilhafte Verpackungen anerkannt und gungen. Investitionen setzen Planungssicherheit voraus. dann aus der Pfandpflicht herausgenommen werden. Wenn man dies als Gesetzgeber nicht leisten kann, dann (Beifall bei der CDU/CSU) bekommt man die Quittung dafür. Noch nicht einmal diesen Mindestanspruch erfüllt der (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. vorliegende Entwurf. Birgit Homburger [FDP]) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genauso ist es!) Herr Minister, es ist eine Unverfrorenheit, den schwarzen Peter einfach weiterzuschieben und den Han- Um den für uns ganz zentralen Punkt herauszugrei- del des Rechtsbruchs zu bezichtigen. Sie, Herr Minis- fen, möchte ich auf die Innovationsklausel noch einmal ter, sind momentan nicht in der Position, andere Men- eingehen. Der Begriff „ökologisch vorteilhaft“ ist in der schen über einen Rechtsbruch zu belehren. Novelle noch nicht einmal ansatzweise definiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Jawohl!) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stattdessen soll der Status quo, der anhand statischer und Ich habe nur alle Prozesse gewonnen!) rückwärts gerichteter Kriterien misst, welche Verpa- Nach der aktuellen Rechtslage müssten Getränkeverpa- ckungen der Mehrwegglasflasche als Grundlage der Be- ckungen durchaus bepfandet werden. Dass Sie – in die- urteilung gleichkommen und welche nicht, festgelegt sem Fall aber auch erfreulicherweise – in Absprache mit werden. Gerade die Einweggetränkeverpackungen wur- der betroffenen Wirtschaft beschlossen haben, in diesem den in den letzten Jahren ökologisch immer besser. Wol- Fall eine Ausnahme zu machen, heißt noch nicht, dass len wir diese Entwicklung in Zukunft wirklich dadurch Sie sich im Einvernehmen mit dem Recht befinden. stoppen, dass wir der Industrie keine kalkulierbare Mög- lichkeit einräumen, ihre Verpackungen auch künftig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) ökologisch zu optimieren? Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) Wenn Sie von mir erwarten, dass ich das jetzt Nach den Vorstellungen des Bundesumweltministers gnadenlos vollziehe, dann sprechen Sie das müssen Bilanzen erstellt werden und muss jede einzelne aus!) neue Verpackung ein langwieriges Prüfverfahren und das gesetzgeberische Verfahren durchlaufen, um neu – Sie sollten nur nicht beim einen etwas tun und beim eingestuft zu werden. Der Zeitraum, bis eine neue Verpa- anderen nicht. Man sollte vorsichtig sein, jemanden des ckung Marktreife erlangt hat, wird sich vervielfachen. Rechtsbruchs zu bezichtigen, wenn man selbst das Ge- Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen und unterbindet setz nicht einhält, Herr Minister. jeden Anreiz zu Innovationen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Birgit Homburger [FDP]) Lächerlich!) Gerade kleine und mittelständische Unternehmen, die Es zeigt sich, warum die Union immer eine große No- den Verpackungsmarkt prägen, werden durch diese velle wollte. Hemmnisse geschwächt. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Was?) Wir befinden uns mit dieser Regelung in der geradezu grotesken Situation, dass neue Verpackungsformen, die Im Übrigen: Die SPD-Kollegin Conrad, Umweltminis- wir heutzutage im Übrigen noch nicht einmal kennen, terin in Rheinland-Pfalz, bemerkte zutreffend: Aus mei- von vornherein als schlecht eingestuft werden. ner Sicht ist eine große Novelle unverzichtbar. – Als Union können wir uns dem nur uneingeschränkt an- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) schließen. Nehmen wir also einmal an, dass die Bewertung und Ein weiterer erstaunlicher Aspekt: Glasrecycling. Kontrolle von Verpackungsinnovationen durch Sachver- Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass ein ständige und durch vom Umweltbundesamt anerkannte grüner Umweltminister gerade das altbewährte und gut Institute durchgeführt wird. Nennen Sie mir ausrei- funktionierende Glasrecycling mit Rücklaufquoten von chende Argumente dafür, dass eine Verpackung noch 90 Prozent gefährdet. Der erwartete Rückgang beläuft den in dieser Novelle vorgesehenen Weg durchlaufen sich auf 30 Prozent. Es wird zu einem Downrecycling soll, bevor sie den Status „ökologisch vorteilhaft“ erhält! kommen. Es wird nicht mehr sortenrein eingesammelt (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genauso ist werden. Das bedeutet, dass ein hochwertiger Rohstoff es!) nur noch unter großen Qualitätsverlusten wieder verwer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4413

Tanja Gönner (A) tet werden kann. Auf diese Weise verliert man wertvolle einfachtes Verfahren zu entwickeln, mit dem dem Anlie- (C) Rohstoffe und verschwendet zusätzliche Energien. gen der Innovationsklausel inhaltlich voll Rechnung getragen werden soll, dann sage ich zu Ihnen: Nehmen (Beifall bei der CDU/CSU) Sie das Parlament ernst und bringen Sie diesen Aspekt Wie viele Fehlschläge wollen Sie eigentlich noch hin- jetzt in die laufenden Beratungen des Bundestages ein! nehmen, bevor Sie ernsthaft handeln? Sie haben die In- In diesem Fall wären wir bereit, dem Verordnungsent- sellösungen und die Auslistung vieler Einwegprodukte wurf zuzustimmen, um zu retten, was zu retten ist. An- hingenommen. Die Verwirrung und Zusatzbelastung der sonsten können Sie nicht mit der Zustimmung der Union Verbraucher haben Sie stoisch hingenommen. Sie haben zu dieser Novelle rechnen. hingenommen, dass es kein einheitliches Rücknahme- Herzlichen Dank. system geben wird und damit der Verbraucher in Mitlei- denschaft gezogen wird. Die Gefährdung von Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – plätzen im Einweg- und Brauereibereich ebenso wie die Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Auch im Bun- Gefährdung des etablierten Glasrecyclings berühren Sie desrat nicht!) kaum. In diesem Zusammenhang geht es darum, den Saldo bei den Arbeitsplätzen im Blick zu haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer NEN]: Genau!) ersten hier vorgetragenen Rede; Sie haben, glaube ich, schon einmal eine Rede zu Protokoll gegeben. Sie dürfen nicht nur gucken, wie viele Arbeitsplätze im Bereich Mehrweg entstehen, sondern Sie müssen auch (Beifall) sehen, wie viele Arbeitsplätze bereits vernichtet worden Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Friedrich sind. Bollmann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP]) Gerd Friedrich Bollmann (SPD): Glauben Sie wirklich, dass alle diese Aspekte und die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! entstehenden Parallelstrukturen im Sinne der Umwelt Liebe Kollegen! Wieder einmal sprechen wir über die und der Nachhaltigkeit sind? Im Gegenteil: Mit Ihrer Hal- Pfandpflicht für Getränkeverpackungen. Der heutige tung gefährden Sie sogar die Erfolge, die Klaus Töpfer Anlass ist das Einbringen der Novelle der Verpackungs- und Angela Merkel für die Umwelt bereits erzielt haben. verordnung durch die Bundesregierung. Wir sind der Meinung, diese Novelle schafft ökologisch und ökono- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. misch sinnvolle Regelungen und ist verbraucherfreund- Birgit Homburger [FDP]) lich. Vor allen Dingen aber hoffen wir, dass wir mit dem Wir müssen heute mit Rücksicht auf alle drei Säulen Einbringen der Novelle die Diskussion versachlichen der Nachhaltigkeit die Ziele einer Verordnung ganz und zügig eine einvernehmliche Regelung verabschie- klar festlegen. Der Ansatz der vorgelegten Novelle geht den können. viel zu kurz und wird diesem Anspruch in keiner Weise (Beifall bei der SPD) gerecht. Bevor ich näher auf die Verpackungsnovelle eingehen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. werde, möchte ich jedoch zunächst noch einige deutliche Birgit Homburger [FDP]) Worte zu dem Streit der letzten Wochen sagen. Dieser Ich fordere Sie auf, Herr Minister: Zeigen Sie Verant- Streit um das Dosenpfand, der auch die Bürger unseres wortung und prüfen Sie die Möglichkeiten für die von uns Landes bewegt, ging von Handel und Industrie aus. Die geforderte Innovationsklausel! Die CDU/CSU bietet gern beteiligten Kreise der Wirtschaft sind zu Recht – im Üb- ihre konstruktive Mitarbeit an. Ich zitiere erneut Ihre Kol- rigen auch von CDU-Ministern wie der Umweltministe- legin Conrad, die gerade erst bestätigte: Die Innovations- rin von Sachsen-Anhalt – kritisiert worden. Man kann klausel ist gewollt. – Erzählen Sie uns also nicht, es gäbe sogar mit Fug und Recht behaupten: Was sich die Vertre- keine Möglichkeiten für eine derartige Klausel! ter von Handel und Industrie erlaubt haben, hat unsere Republik noch nicht erlebt. Wir sollten gemeinsam prüfen: Gibt es ein Verfahren, (Peter Dreßen [SPD]: Gesetzesbrecher sind das!) durch das die Überprüfung eines Antrags in einer be- stimmten Zeit nach definierten Vorgaben stattfinden Über zehn Jahre sank trotz der Pfanddrohung in der kann? Gibt es die Möglichkeit, Kriterien festzulegen, aus unter Umweltminister Töpfer verabschiedeten alten Ver- denen sich klar ergibt, wann eine Verpackung ökolo- packungsverordnung der Mehrweganteil kontinuierlich. gisch vorteilhaft ist und wann nicht? Ist für eine solche Die Wirtschaft hatte es damals selbst in der Hand, das Innovationsklausel eine Kombination aus beidem, Ver- Pflichtpfand zu vermeiden. Der Markt wurde jedoch mit fahren und Kriterien, denkbar? Alle drei Möglichkeiten in Dosen und Plastikflaschen abgefüllten Getränken führen für sich allein zu einer sinnvollen und zuverlässi- überschwemmt; mit anderen Worten: Die Wirtschaft hat gen Bewertung von innovativen Produkten. das Pfand selber ausgelöst. Herr Minister, wenn der Bundeskanzler Sie im Kabi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nett schon aufgefordert hat, mit dem Bundesrat ein ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 4414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Gerd Friedrich Bollmann (A) Nachdem der Mehrweganteil unter 72 Prozent gesunken chen Rücknahmesystems kommt also dem Verbraucher (C) war und Anfang 2002 feststand, das Pfand würde kom- zugute. men, legten Handel und Industrie demonstrativ die Hände in den Schoß. Statt mit dem Aufbau eines einheit- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verurteilen die- lichen Rücknahmesystems zu beginnen, setzten sie auf sen Bruch von Vereinbarungen und das Verhalten von Konfrontation und versuchten mit zahlreichen Klagen, Teilen der Wirtschaft aufs Schärfste. die Einführung des Pfandes zu verhindern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Georg Girisch [CDU/CSU]: Alter Hut!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erst nachdem klar war, dass das Pflichtpfand nicht Es darf in unserer Republik nicht zur Gewohnheit wer- abzuwenden sei, lenkten sie ein. Im Dezember letzten den, dass bindende Zusagen, Vereinbarungen und Ge- Jahres verpflichtete sich die Wirtschaft, bis zum setze nach Gutdünken aufgekündigt werden. Als Konse- 1. Oktober 2003 ein einheitliches Rücknahmesystem quenz daraus müssen wir uns überlegen, ob in Zukunft aufzubauen. Die Bundesregierung ist dabei der Wirt- das Instrument der Selbstverpflichtung der Wirtschaft schaft entgegengekommen, indem sie eine neunmona- noch akzeptiert werden kann. tige Übergangsfrist zur Installierung eines einheitlichen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Jetzt stellt er Pfandsystems gewährt hat. Mit ihrer Ankündigung, den schon die Selbstverpflichtung infrage!) Aufbau eines solchen Systems zu stoppen, brachen Teile von Handel und Industrie ihre verbindliche Zusage und Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, geltendes Recht. Sie veranstalteten ein absurdes Theater, auch bei unterschiedlichen Auffassungen in Einzelfra- um sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. gen sollten wir dieses Verhalten der beteiligten Wirt- schaftskreise gemeinsam verurteilen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Besonders grotesk waren die Begründungen für den DIE GRÜNEN) Bruch der Vereinbarungen. In irreführender Weise wurde ein Brief der Brüsseler Umweltkommissarin Margot Teile des Handels haben inzwischen eingesehen, dass to- Wallström als Beweis für fehlende Rechtssicherheit her- tale Verweigerung und Gesetzesbruch der falsche Weg angezogen. Darin hatte Frau Wallström im Gegenteil den sind, und den Aufbau eines Rücknahmesystems ange- zügigen Aufbau eines Rücknahmesystems gefordert und kündigt. nur die jetzige, wenig verbraucherfreundliche Über- gangsregelung kritisiert. Frau Wallström hat auch sofort (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Seien Sie mal klargestellt, dass ihr Brief vollkommen missverständlich vorsichtig mit Ihrem „Gesetzesbruch“!) (B) (D) interpretiert worden sei und sie nichts gegen das Dosen- Mit der heute eingebrachten Novelle zur Verpackungs- pfandmodell als solches habe. verordnung sorgen wir für die nötige Rechtssicherheit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und schaffen eine ökologisch sinnvolle und verbraucher- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) freundliche Regelung beim Dosenpfand. Grundsätzlich gilt dann, dass auf alle Einwegverpackungen Pfand erho- Ebenso wenig greift das Kostenargument: Erstens ben wird. Ausgenommen davon sind nur ökologisch vor- spart die Getränkeindustrie seit Januar dieses Jahres die teilhafte Verpackungen wie Getränkeverbundkartons, Lizenzgebühren für den Grünen Punkt, circa 160 Millio- Schlauchbeutel und Folienstandbeutel sowie Wein, Spi- nen Euro pro Halbjahr. Zweitens verdient der Handel rituosen, diätetische Getränke, Milch und Milchmixge- durch den Pfandschlupf zurzeit circa 50 Millionen Euro tränke mit einem Mindestanteil von 50 Prozent Milch. pro Monat. Damit wird die von allen Seiten als unübersichtlich und (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verbraucherunfreundlich kritisierte bisherige Regelung NEN]: Das ist schlecht! – Werner Wittlich verbessert. Zukünftig wird sich die Pfandregelung nicht [CDU/CSU]: Unsinn!) mehr am Getränkeinhalt orientieren, sondern an der Ver- packungsart. Unser Ziel ist es, Mehrwegsysteme und Durch das jetzige, verbraucherunfreundliche System umweltfreundliche Verpackungen zu fördern. werden also von Januar bis Juni 2003 dem Bürger rund 300 Millionen Euro vorenthalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Elke Ferner [SPD]: Skandalös!) Meine Damen und Herren, mit dieser Regelung schaf- Drittens werden sich die Kosten für ein Rücknahmesys- fen wir eine für den Verbraucher übersichtliche Rege- tem auf maximal 1 Cent pro Dose belaufen. lung. Genau das ist es, was die Bürger unseres Landes (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das glauben Sie wollen. doch selber nicht! So ein Schwachsinn!) (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das Gegenteil Ein Finanzierungsproblem dürfte also für Handel und In- wollen Sie! Sie wollen es einfacher haben!) dustrie nicht gegeben sein. Die überwiegende Mehrheit begrüßt das Dosenpfand, Der geschätzte Pfandschlupf bei einem funktionieren- aber die Bürger wollen vor allem klare Regelungen be- den Rücknahmesystem beläuft sich dagegen auf circa züglich der Pfandpflicht und der Rückgabemöglichkei- 100 Millionen Euro pro Jahr. Der Aufbau eines einheitli- ten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4415

Gerd Friedrich Bollmann (A) In der Novelle wird klar geregelt, dass alle Vertreiber Grundlage für die Novelle der Bundesregierung bildet, (C) von pfandpflichtigen Getränkeverpackungen mit einer bietet dafür eine gute Basis. Verkaufsfläche von mehr als 200 Quadratmetern die Ich weiß, dass es noch einige streitige Punkte gibt. pfandpflichtigen Verpackungen zurücknehmen müssen. Insbesondere wird eine Innovationsklausel gefordert. Kleinere Läden und Vertreiber von Verkaufsautomaten Wir Sozialdemokraten lehnen eine Innovationsklausel haben sicherzustellen, dass in zumutbarer Entfernung ohne Beteiligung des Parlaments ab. eine Rückgabemöglichkeit vorhanden ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Also machen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter sie zu!) Paziorek [CDU/CSU]: Damit ist die Sache doch Mit diesen Vorschriften haben wir eine eindeutige wieder gescheitert!) Grundlage geschaffen; nun muss der Handel entspre- Unserer Auffassung nach darf die parlamentarische Zu- chende Rücknahmesysteme aufbauen. ständigkeit nicht ausgehöhlt werden. Dafür gibt es auch Ich begrüße hier ausdrücklich, dass die Firma gute Gründe. Ökobilanzen werden nach naturwissen- Lekkerland ein Rücknahmesystem für Kioske, Tank- schaftlichen Kriterien erarbeitet, aber die Gewichtung stellen und kleinere Läden aufbauen will. der Kriterien ist eine politische Aufgabe. Die Ergebnisse von Ökobilanzen, aber insbesondere die Prioritäten der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kriterien müssen politisch bewertet werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist es ja Ich bin überzeugt, dass sich weitere Händler diesem Sys- gerade! Genau das wollen wir nicht!) tem anschließen werden. Ich fordere die Verweigerer von Handel und Industrie auf, ihre destruktive Blockadehal- Eine demokratische Kontrolle ist daher unerlässlich. tung aufzugeben und sich zugunsten des Verbrauchers am (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aufbau eines Rücknahmesystems zu beteiligen. DIE GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek [CDU/ Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heute vorge- CSU]: Das war jetzt entlarvend!) legte Novelle beruht auf den Vorstellungen von SPD und Ebenso ist die Pfandhöhe umstritten. In der Tat lie- Bündnis 90/Die Grünen sowie auf den Vereinbarungen gen die Pfandbeträge in den europäischen Nachbarlän- des Bundesumweltministeriums mit den Bundesländern. dern niedriger. Wir haben aber bewusst die Bevorzugung (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Vorsicht! der Mehrwegsysteme über die Pfandhöhe gewählt; denn Woher haben Sie das denn, Herr Kollege das Ziel der Verordnung sind die Stützung und der Aus- (B) Bollmann?) bau von Mehrwegsystemen. (D) Wir Sozialdemokraten sind überzeugt, dass das Pflicht- Meine Damen und Herren, trotz dieser Streitpunkte pfand im Sinne der Verbraucher sowohl ökologisch als und einiger weniger Einzelpunkte ist diese Novelle zwi- auch ökonomisch die beste Lösung ist. Bereits jetzt zei- schen Parlament, Bundesregierung und Bundesländern gen sich ökologisch positive Effekte: Der Dosenmüll in konsensfähig. der Landschaft ist zurückgegangen. (Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- (Beifall bei der SPD – Werner Wittlich [CDU/ NIS 90/DIE GRÜNEN]) CSU]: Dafür liegt Glas da!) Ich denke, dass wir uns über die streitigen Punkte eini- Der Anteil von Mehrwegverpackungen hat wieder zuge- gen können. Eine schnelle Einigung ist im Interesse der nommen. Ich empfinde die gestern öffentlich gewordene Verbraucher und der Wirtschaft. Die Verpackungsindus- Nachricht, dass Deutschlands Brauereien aktuell unter ei- trie, zum Beispiel auch die Dosenhersteller, brauchen nem akuten Mangel an Mehrwegflaschen leiden und dass dringend Planungs- und Investitionssicherheit. den rund 1 200 Braustätten insgesamt 1 Million Leergut- Ich habe vor einiger Zeit mit den Betriebsräten und kästen fehlen, als eine durchaus positive Nachricht. Die den Besitzern der Firma Nacanco in Gelsenkirchen ge- Nachfrage nach Bier in Pfandflaschen ist im Jahr 2003 er- sprochen. Sie haben gesagt: Wir brauchen dringend klare heblich gestiegen. Genauso wichtig ist es, dass der durch Angaben, wie das Rücknahmesystem demnächst funkti- die Dosenflut hervorgerufene Wettbewerbsnachteil mit- onieren soll, wir brauchen Planungs- und Investitionssi- telständischer Brauereien aufgehoben wird. cherheit. – Ich denke, dafür werden wir sorgen, insbe- sondere mit dieser Novelle. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Arbeitsplatz- vernichtungsnovelle!) Gleichzeitig gibt es aber noch große Unsicherheit be- züglich der Zukunft des Pfandes. Ich appelliere an Sie, Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass die meine Damen und Herren von Union und FDP sowie an Novelle der Bundesregierung eine gute Lösung ist, und die unionsgeführten Bundesländer, konstruktiv und vor bitte um Ihre Zustimmung. allem rasch an einer einvernehmlichen Lösung mitzuar- Danke schön. beiten. Eine schnelle Lösung liegt im Interesse des Ver- brauchers und der Verpackungsindustrie. Der mit den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesländern ausgehandelte Kompromiss, der die DIE GRÜNEN) 4416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! Das Gutachten kommt später! Das ist ein Unding!) Birgit Homburger (FDP): Es geht nicht nur darum, was ökologisch vorteilhaft ist, es geht – die Innovationsklausel wurde angesprochen – auch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! um Transparenz. Ihre Regelung ist nicht transparent und Wir debattieren heute endlich über die Novelle der Ver- schon gar nicht unbürokratisch, sondern sie ist sehr bü- packungsverordnung. Ich frage mich, Herr Minister rokratisch. Angesichts dessen frage ich mich, warum Sie Trittin, warum Sie diese Novelle eigentlich nicht früher den offensichtlichen Klärungsbedarf verneinen. Selbst vorgelegt haben, wenn Sie hier so stark betonen, dass es der Herr Bundeswirtschaftsminister Clement hat im Ka- um Investitionssicherheit für die Wirtschaft gehe. binett eine Protokollnotiz abgegeben, in der es heißt, (Werner Wittlich [CDU/CSU]: So ist es!) dass es in diesem Punkt ein Problem gibt. Wieso lassen Sie uns im Deutschen Bundestag nicht vernünftig darü- Sie verschweigen bei dieser Gelegenheit nämlich, ber beraten? dass Investitionssicherheit mit dem Verfahren, das Sie vorhaben, überhaupt nicht erreicht wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es gibt nach wie vor kein flächendeckendes Rück- nahmesystem. Auch das müssen Sie einräumen. Sie ha- Denn selbst wenn der Bundesrat, der sich damit eben- ben keine Klarheit für die Verbraucherinnen und Ver- falls noch befassen muss, über die Novelle in der nächst- braucher geschaffen. Stattdessen gibt es das Problem möglichen Sitzung abschließend beraten würde, was gar mit den Insellösungen, von denen wir hier schon gehört nicht zu erwarten steht, weil es Änderungswünsche gibt, haben. Damit haben Sie in der Tat ein europarechtliches dann wäre das erst am 26. September und mithin vier Problem; Tage vor dem 1. Oktober. Nun frage ich Sie, was das für eine Investitionssicherheit für die Betriebe sein soll, (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau so ist es!) wenn diese erst vier Tage vor der Umsetzung vielleicht denn Frau Wallström hat schon deutlich gemacht, dass wissen, um was es geht! sie nur ein bundeseinheitliches Rücknahmesystem und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nichts anderes akzeptieren wird. Deswegen müssen Sie sich schon Folgendes anhören: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Februar haben Sie hier einen Kompromiss mit den Län- Ich sage Ihnen ganz klar: Die Verwirrung hört nicht (B) dern verkündet – den es so nicht gibt, wie wir wissen –, der auf. Sie verlagern die Verwirrung zwischen Cola und (D) dem entspricht, was in diesem Entwurf steht. Heute füh- Whiskey-Cola sozusagen ins Kühlregal zu Kefir und ren wir eine vereinbarte Debatte über dieses Thema. Molke. Da gibt es dasselbe Problem mit der Verpackung: Nächsten Freitag soll abschließend darüber beraten wer- Die eine Verpackung wird bepfandet und die andere den. Am nächsten Mittwoch soll es dazu von 10 bis nicht. Auch was Sie zur Vermüllung der Landschaft ge- 13 Uhr eine Anhörung im Ausschuss geben. Nach einer sagt haben, stimmt in dieser Form nicht. Genauso wenig Pause von zwei Stunden wird dann um 15 Uhr darüber stimmt die generelle Aussage, dass das Pfand wirkt. entschieden. Dazu kann ich Ihnen nur sagen, Herr Minister Trittin: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich finde, Sie legen im Umgang mit diesem Hause eine Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. unglaubliche Arroganz an den Tag. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Birgit Homburger (FDP): Dreßen [SPD]: Ach, Gott im Himmel!) Noch eine letzte Bemerkung, Frau Präsidentin. – Herr Ich verstehe nicht, warum die Kolleginnen und Kollegen Minister Trittin, Sie vergessen nämlich, dass sich die Si- von der SPD und den Grünen sich von Ihnen dazu miss- tuation wieder ändern wird, wenn erst einmal Rücknah- brauchen lassen, dieses Thema im Schweinsgalopp meautomaten installiert sind. Deswegen fordere ich Sie durch den Deutschen Bundestag zu peitschen. auf: Machen Sie den Menschen draußen im Lande nicht ein X für ein U vor! Nutzen Sie die Chance für eine um- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – fassende Novelle der Verpackungsverordnung! Ulrich Heinrich [FDP]: Unerhört!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dabei gibt es erheblichen Klärungsbedarf; das wissen auch Sie. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Ar- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beit hat angekündigt, es wolle eine Studie in Auftrag ge- ben, um die Kosten für die Rücknahmesysteme zu klä- Ich schließe die Debatte. Da es eine vereinbarte De- ren, weil es da unterschiedliche Zahlen gibt. Wie soll batte war, gibt es keine Überweisung. denn das funktionieren? Wenn wir dieses Thema schon Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: am 4. Juli abschließend im Bundestag beraten, sollten Sie die Kosten für dieses Gutachten sparen und sich lie- Beratung des Antrags der Abgeordneten ber in der Regierung einigen. Christoph Hartmann (Homburg), Gudrun Kopp, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4417

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) , weiterer Abgeordneter und der Frak- 34 Millionen Euro unter diesem Stadtteil verbuddelt, (C) tion der FDP nämlich für die Regulierung von Bergschäden. Es gibt in Fürstenhausen 720 Gebäude. Das heißt, pro Haus und Jahr Bergschäden regulieren – kohlepolitische Wei- werden für Schadensregulierung mehr als 47 000 Euro aus- chenstellung vornehmen gegeben. Das alles ist aber nur Statistik. Es geht um die – Drucksache 15/475 – Einzelschicksale, die dahinter stecken, um Menschen, Überweisungsvorschlag: die sich ihre Häuser mühsam aufgebaut haben. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Zu dem, was heute als „kleinere Schäden“ betrachtet wird, liegt mir ein Beispiel vor: Seit 1995 wurden mehr Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die als 100 000 Euro für ein einziges Haus aufgewendet. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Wenn das kleinere Schäden sind, was sind denn dann FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- mittlere Schäden, was große Schäden? 80 Prozent der derspruch. Dann ist so beschlossen. Häuser in Fürstenhausen haben eine Gaswarnanlage. Die Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Abgeord- Preise der Immobilien, die die Altersvorsorge der betrof- nete Christoph Hartmann für die FDP. fenen Menschen darstellen, sinken dramatisch. Die Men- schen wandern aus den betroffenen Gebieten ab, allein im Bereich Fürstenhausen in den letzten zehn Jahren Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): 12 Prozent. Wer kümmert sich eigentlich um die Ein- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und buße an Lebensqualität in diesem Bereich? Herren! Stellen Sie sich vor, es gäbe heute hier einen Antrag, der folgendermaßen lauten würde: Wir fordern Deswegen stellen wir heute in diesem Zusammen- eine Beschäftigungsoffensive für 43 000 Arbeitsplätze, hang einen Antrag. Er kommt zum richtigen Zeitpunkt. die 3 Milliarden Euro kostet. Das bedeutet eine staatli- Denn es geht derzeit um die Verhandlungen über eine che Subvention pro Arbeitsplatz von 70 000 Euro. – Sie Anschlussregelung der Steinkohlefinanzierung. Wir würden den Antragsteller – offen gestanden – für ver- wollen Gerechtigkeit, und zwar nicht nur für die betrof- rückt erklären, und das vollkommen zu Recht. fenen Mitarbeiter, sondern endlich auch für die betroffe- nen Bewohner. Aber die Realität ist, dass wir genau dieses in Deutsch- land im Moment haben. Trotz leerer Haushaltskassen leis- (Elke Ferner [SPD]: Dafür hatten Sie 16 Jahre ten wir uns eine Alimentierung einer sterbenden Industrie. Zeit, als Sie an der Regierung waren!) (B) (D) 3 Milliarden Euro könnte man besser ausgeben, als die Unser Antrag stellt keine Maximalforderung dar. Wir deutsche Steinkohle damit zu subventionieren. wollen lediglich zum ersten Mal über alle Aspekte des Das häufig angeführte Argument, dass wir die deut- Bergbaus sprechen, also auch über die Belange der Berg- sche Steinkohle zur Energiesicherung brauchen, trägt baubetroffenen. nicht mehr. Denn nur knapp über 10 Prozent des Gesamt- Die Bundesregierung erklärt immer, sie sei für Sozial- energieverbrauchs in Deutschland werden von der hei- verträglichkeit. Dabei meint sie aber immer nur die Mit- mischen Steinkohle gedeckt. Durch Importkohle aus kri- arbeiter im Bergbau. Wenn wir über Sozialverträglich- sensicheren Ländern wie Australien, Polen oder keit sprechen, dann wollen wir, dass dies auch für die Südafrika könnte die heimische Steinkohle substituiert vom Bergbau betroffenen Menschen gilt. werden. Importkohle ist preisgünstiger, sie ist qualitativ hochwertiger und sie ist umweltfreundlicher (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Elke Ferner [SPD]: Das ist wirklich Quatsch!) Deswegen haben wir in unserem Bundestagswahlpro- als die Steinkohle, die wir in unserem Lande aus der gramm die Forderung des Abbaustopps unter bewohn- Erde holen. tem Gebiet festgeschrieben. Unseren Ankündigungen Es gibt immense Schäden durch den Abbau der Stein- lassen wir Taten folgen. Das unterscheidet uns von den kohle. Der Kohleabbau unter dem Rhein, der Schäden Grünen. Die hatten in ihrem Bundestagswahlprogramm wie Absenkungen von Deichen hervorruft, ist nicht ver- die gleiche Forderung. Der Kollege Ulrich im Saarland antwortbar; das Elbehochwasser sollte jedem von uns schreibt auf seine Plakate: „Abbaustopp sofort!“ Aber noch im Gedächtnis sein. Zu den umweltpolitischen Pro- wenn diesen Worten Taten folgen sollen, dann fallen die blemen kommen die Eigentumsschäden hinzu, die die Grünen um. Sie müssen jetzt beweisen, ob es sich dabei persönliche Lebensumwelt und die wirtschaftliche Lage nur um Lippenbekenntnisse handelt oder ob Sie wirklich der betroffenen Bewohner stark beeinflussen. etwas für die betroffenen Menschen in der Region tun wollen. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus meiner saarlän- dischen Heimat nennen. Fürstenhausen ist ein Stadtteil Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um von Völklingen. Völklingen hat 50 000 Einwohner und einen Paradigmenwechsel in der deutschen Steinkohle- liegt in der Nähe von Saarbrücken. Laut einem Brief des politik. Es geht darum, die Umwelt und die betroffenen Oberbürgermeisters von Völklingen an Bundeswirt- Bewohner vor weiteren Schäden zu schützen. Geben Sie schaftsminister Clement wurden allein im letzten Jahr unserem Antrag Ihre Stimme! 4418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Christoph Hartmann (Homburg) (A) Vielen Dank. eine abenteuerliche Argumentation, Herr Kol- (C) lege! Da klatschen nur wenige aus Ihrer Frak- (Beifall bei der FDP) tion!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ulrich Herr Kollege Ulrich, für wen reden Sie eigentlich? das Wort. Reden Sie für sich oder reden Sie für Ihre Fraktion? Denn für Ihre Fraktion redet, glaube ich, gleich die Kol- Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): legin Hustedt, die eine ganz andere Position vertritt. Lieber Kollege Hartmann, Sie sagen es natürlich rich- Diese Regierungskoalition wird – so haben Sie schon tig: verlauten lassen – unserem Antrag nicht zustimmen. (Elke Ferner [SPD]: Das ist gar nicht richtig!) (Elke Ferner [SPD]: Weil er großer Quatsch ist!) Wir als Grüne im Saarland haben Positionen, die sich in Sie sind also in Ihrer Fraktion isoliert. Wenn Ihnen das, weiten Teilen mit dem decken, was Sie in Ihrem Antrag was die grüne Fraktion hier erzählt, nicht gefällt, dann formuliert haben. Der deutsche Steinkohlebergbau rich- können Sie gerne aus den Grünen austreten. tet in der Tat sowohl an der Saar als auch an der Ruhr Es geht jetzt endlich um die Frage, was wir für die enorme Schäden an – so enorme Schäden, dass auch ich Menschen in diesem Land tun können. Deswegen geht der Meinung bin, dass das in dieser Art und Weise nicht es nicht mehr um Worte, sondern um Taten. Wir haben weiter tragbar ist. Aber deshalb treten die Grünen so- diesen Antrag gestellt, weil endlich Taten folgen müssen wohl hier im Deutschen Bundestag als auch in Nord- und weil es mit den Lippenbekenntnissen endlich vorbei rhein-Westfalen und im Saarland dafür ein, dass der sein muss. Steinkohlebergbau bis zum Jahre 2010 gegen null gefah- ren wird. (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Sie haben ja 16 Jahre lang Zeit gehabt! – Antje Was in den Gebieten geschieht, wo unter bewohntem Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gebiet abgebaut wird, ist ein Sonderproblem. Man sollte Lambsdorff! Rexrodt!) sich das – ob das in Nordrhein-Westfalen oder im Saar- land ist – einmal anschauen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dieter Grasedieck. (B) Herr Kollege, Sie dürfen hier nicht einfach eine Rede (D) halten. Sie sollten schon irgendwie auf den Kollegen Hartmann eingehen. Dieter Grasedieck (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herren! Nicht alles darf man kritisieren, was die alte FDP eigentlich ganz gut gemacht hat: die Einstielung der Ich komme gleich zum Kollegen Hartmann. – Diese Subventionen. Genau hier wollen wir in den nächsten Menschen dort leiden unter echtem Psychoterror; das Jahren weitermachen. Darauf legen wir Wert. kann man nicht von der Hand weisen. Vor allem aber finden wir, dass die Diskussion, welche Nur, Herr Hartmann – jetzt komme ich zur FDP –, man die FDP heute führt, nur zur Verschleierung beiträgt. Ihr muss einmal die Frage stellen: Wer hat uns denn diese Oberziel ist die Streichung der Kohlesubventionen; nur als ganzen Steinkohlesubventionen mit eingebrockt? Als die Nebenprodukt sprechen Sie den Bergschaden an. Die Pro- Steinkohlesubventionen hier im Deutschen Bundestag bleme des Bergschadens werden natürlich auch vom Berg- beschlossen wurden, war ein FDP-ler Bundeswirt- bau gesehen. Er bietet Problemlösungen an und bemüht schaftsminister. Als der Kohlepfennig vom Bundesver- sich nach Kräften. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Hartmann, fassungsgericht gekippt wurde, hat ein FDP-Bundeswirt- wohne ich in einem Bergschadensgebiet. Ich sehe die vie- schaftsminister dafür gesorgt, dass diese Gelder fortan len Bemühungen des Bergbaus und weiß, wie verantwort- aus dem Bundeshaushalt geflossen sind – ohne dass es lich unser Bergbau bei Schadensregulierungen vorgeht: eine Deckung gegeben hätte. Die FDP ist also einer der ursprünglichen Verursacher der Steinkohlesubventionen. (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Da sind Sie aber allein!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Und Fischer hat damals mit diesen Leuten demonstriert!) Zum Beispiel baut man in Wohngebieten flächig ab, Bruchkanten sind so ausgeschlossen. Das wissen Sie Insofern ist es schon ein wenig heuchlerisch, wenn vielleicht nicht. Schauen Sie sich das etwas genauer an! Sie heute hier so tun, als seien Sie der Kämpfer für den Schäden an Wohngebäuden, die auf Bruchzonen basie- Abbau der Subventionen im Steinkohlebergbau. Sie ren, will der Bergbau so vermeiden. In Waldgebieten selbst haben das verursacht, worunter wir heute in die- und Weidegebieten versucht man, den Bergbau durch sem Lande leiden. ökologische Planungen zu begleiten. Man hat viele gute (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Ansätze wie die Haldenbegrünung gefunden. Ich meine, DIE GRÜNEN – Gisela Piltz [FDP]: Das ist unser Bergbau geht da wirklich verantwortlich vor. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4419

Dieter Grasedieck (A) Seit einigen Jahren sind auch Servicezentren in den Erstens. Unser Bergbau steht bei Bergschäden zu sei- (C) Bergwerken eingerichtet. In dem großen Servicezentrum ner Verantwortung. in Duisburg zum Beispiel können Fragen und Probleme erläutert werden, immer mit dem Ziel, die Bergschäden Zweitens. Unsere Bergmaschinen werden ständig möglichst schnell zu regulieren. Genau das wird auch er- schneller, stabiler und mit feinster Elektronik ausgestat- reicht. tet. „Made in “ hat in diesem Bereich noch ei- nen hohen Stellenwert. Herr Hartmann, Sie führen jetzt eine große Debatte über die Streichung der Kohlesubventionen. Vielleicht Drittens. Unser Bergbau macht junge Menschen fit wissen Sie nicht, dass die Kosten für die Regulierung der für die Zukunft. Schäden sowieso weiter übernommen werden müssen; Deshalb brauchen wir unseren Bergbau auch nach diese liegen bei etwa 1,5 Milliarden Euro. Ein Teil der 2010. Subventionen muss allein für diesen Bereich eingesetzt werden. (Beifall bei der SPD) Unser Bergbau steht zu seiner Verantwortung. Die FDP hingegen sieht nur die Probleme, nicht die Stärken Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: des Bergbaus: Der Mittelstand wird durch unseren Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Pfeiffer. Bergbau gefördert. (Ute Kumpf [SPD]: Ich wusste gar nicht, dass (Beifall bei der SPD) es Bergbau auch in der Stuttgarter Region gibt!) Das ist ein Vorteil. Weitere Beispiele sind zu nennen: Beim Bau des Tunnels zwischen Dover und Calais wur- den deutsche Bergmaschinen eingesetzt und sind deut- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): sche Firmen bei der Vermessungstechnik beteiligt. Deut- Frau Kumpf, auch Sie sollten wissen, dass Bergbau sche Unternehmen produzieren auch die Maschinen für etwas mit Energie zu tun hat. den Gotthardtunnel. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Unser Bergbau treibt Innovationen voran. Der Dreh- Herren! Ich möchte einige grundsätzliche Bemerkungen strommotor des ICE ist für den Bergbau entwickelt wor- zur Steinkohle machen. Die Rolle und Bedeutung der den. Auch das muss gesehen werden. Unser Bergbau Steinkohle hat sich in den letzten Jahrzehnten bekannter- fördert und sichert Arbeitsplätze, sowohl im Osten als maßen drastisch verändert. Einst war die Steinkohle von (B) auch im Westen, sowohl im Norden als auch im Süden. herausragender nationaler strategischer Bedeutung für (D) Der Mittelstand wird so unterstützt. die Energie- und Wärmeerzeugung, sowohl was die Wirtschaft und die Haushalte betrifft als auch was die Unser Bergbau fördert auch die Zukunft. Betrachten Versorgungssicherheit generell betrifft als auch zur Si- wir den Quantensprung bei der Hobelmaschine! Sie ist cherung der Unabhängigkeit vom Ausland. Vor allem ein Exportschlager: 40 Prozent höhere Geschwindigkeit war sie aber ein dominanter Wirtschafts- und Beschäfti- beim Abbau. gungsfaktor. Das bedeutet natürlich Vorteile. Dadurch wird der Hierzu nenne ich nur einige Zahlen und Fakten: 1960 Mittelstand gefördert. Die Mittelstandsförderung ist gab es im Steinkohlebergbau in Deutschland noch doch ein Spezialthema – offensichtlich eher ein Schein- 600 000 direkt Beschäftigte. In über 150 Bergwerken thema – der FDP. Die Hobelanlage ist ein Exportschla- wurden circa 150 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten ger: Amerikaner, Russen und Chinesen sind daran betei- gefördert. Wie war die Entwicklung? 1980 waren es nur ligt. In der Bergtechnik hat das Markenzeichen „Made in noch rund 190 000 Beschäftigte; heute sind es knapp Germany“ wirklich noch einen guten Ruf. Das ist keine 50 000 Beschäftigte. Bis zum Jahr 2005 wird ein weite- Frage. rer Rückgang auf 36 000 Beschäftigte prognostiziert. Im (Beifall bei der SPD) gleichen Zeitraum sank die Förderung von 87 Millionen Tonnen 1980 auf 26 Millionen Tonnen im Jahr 2002. Die Die FDP spricht in ihrem Antrag von klaren Rahmen- Anzahl der Zechen sank von den genannten 150 auf 39 bedingungen für die Zukunft. Natürlich brauchen wir im Jahr 1980 und auf 10 im Jahr 2002. Die Schließung diese Planungssicherheit für unseren Bergbau auch über zweier weiterer Zechen steht bereits fest. 2010 hinaus. Wir brauchen auch für unseren Mittelstand Planungssicherheit über 2010 hinaus, weil viele Betriebe Warum erzähle ich Ihnen das? Weil im Ergebnis fest- Teile für unsere Bergmaschinen produzieren. zustellen ist, dass die wirtschafts- und beschäftigungspo- litische Bedeutung des Steinkohlebergbaus nicht nur in Im Bergbau gibt es 7 500 Ausbildungsplätze. Dort der nationalen Dimension sehr viel geringer geworden werden Industriemechaniker, Elektroniker und IT-Kauf- ist, sondern er und die mit ihm verbundenen Implikatio- leute ausgebildet. Die Qualität der Ausbildung steht au- nen mittlerweile nur noch von regionaler Bedeutung ßer Frage; sie ist allgemein anerkannt. Die ausgebildeten sind. jungen Leute werden von der Industrie übernommen. (Ute Kumpf [SPD]: Herr Pfeiffer, von Autos Zusammenfassend können wir feststellen: verstehen Sie mehr!) 4420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Sie beschränken sich im Wesentlichen auf zwei Bun- Deutschland verwendeten Kohle aus heimischer Stein- (C) desländer, nämlich auf das Saarland und Nordrhein- kohle. Welche Rolle kann und wird diese in der Zukunft Westfalen. Das Saarland hat den Mut zum konsequen- hier noch spielen können? Versorgungssicherheit spielt ten Strukturwandel. Der Steinkohlebergbau wird im hier ebenso eine Rolle wie auch die Umwelt- und Klima- Saarland auslaufen. Die neue Regierung unter Peter politik. Wie sieht es mit den so genannten Clean Coal Müller stellt sich dieser unangenehmen Wahrheit Technologies aus? Welche Rolle kann die Steinkohle- stromerzeugung, ob aus Import- oder Exportkohle, dort (Elke Ferner SPD: Das hört sich vor Ort in der Zukunft spielen? Alles Fragen, die dringend einer mittlerweile aber ganz anders an!) Klärung zugeführt werden müssen. und ist dabei, dem Wirtschaftsstandort Saar ein neues, Es gibt viele offene Fragen, aber die Bundesregierung zukunftsfähiges Profil zu geben. verweigert bisher leider den Dialog. Nicht nur hier und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – im zuständigen Wirtschaftsausschuss wird ständig aus- Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ein sehr gu- gewichen und vertröstet, auch gegenüber den Ländern, ter Mann, der Müller!) zum Beispiel im Umgang mit dem Saarland, wird der Dialog verweigert. Das Thema Steinkohle befindet sich dort sozusagen in Abwicklung und ist abgehakt. Es bleibt Nordrhein- (Elke Ferner [SPD]: Das Saarland verweigert Westfalen. In Nordrhein-Westfalen wird der heimischen doch den Dialog!) Steinkohle eine, wenn auch zunehmend weiter schwin- dende, Zukunft gegeben. Ich fordere Sie auf: Kommen Sie Ihrer Regierungs- verpflichtung nach und sagen Sie, was Sie wollen. Der Vor diesem Hintergrund stelle ich mir die Frage: Wel- Steinkohlebergbau und die Menschen, die davon betrof- che Rolle soll bzw. muss der Bund in einer ehemals nati- fen sind, haben es verdient. Die CDU war immer ein Ga- onalen, jetzt aber überwiegend regional – politischen rant dafür. Themenstellung überhaupt noch spielen? Kommt ihm dabei überhaupt noch eine Rolle zu? (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist konkrete Opposition! Sehr pointiert!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Die jetzige Regelung von 1997 kam unter Führung der Ulrich? CDU zustande. Es gab Planungssicherheit. Jetzt dauert es nur noch zweieinviertel Jahre, bis der Vertrag aus- läuft, und bis heute wurde nichts vorgelegt. (B) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): (D) Nein. (Elke Ferner [SPD]: Es ist ja unglaublich, was Sie sagen! Alle zwei Jahre haben Sie in der Darüber hinaus ist in der Schule die Frage zu beant- Vergangenheit diese Frage gestellt!) worten, welche Zukunftsoptionen es gibt. Insofern stimmen wir dem Antrag der FDP zu. Klar ist – auch das ist angeklungen –, dass der Stein- kohlebergbau in Deutschland allein aus tektonischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gründen auf dem Weltmarkt niemals wettbewerbsfähig Dieter Grasedieck [SPD]: So ein junger Abge- sein kann und sein wird. Dies ist keine Frage der Pro- ordneter und schon ein Auslaufmodell!) duktivität und auch keine Frage der technischen Mög- lichkeiten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Welche Zukunftsfragen sind also zu klären? Erstens Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt. geht es – das wurde gerade von Ihnen angesprochen – um die Frage der Erhaltung und Weiterentwicklung der Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Export- und Technologiekompetenz im Bergbau, der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bis Kernkompetenz in der Gewinnungs- und Fördertechno- 2005 gilt der Kohlekompromiss von 1997. Während der logie, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu bleiben. Laufzeit dieses Kompromisses, also bis 2005, wird die Was ist hierfür notwendig? Brauchen wir Referenzanla- Kohlesubvention von 4,73 Milliarden auf 2,81 Milliar- gen in Deutschland und, wenn ja, wie viele? den Euro, Bundesanteil 2,17 Milliarden Euro, herunter (Elke Ferner [SPD]: Bei der Kernkraft brau- gefahren. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass chen wir sie!) das durchaus ein klarer Degressionspfad ist. Er zeigt aber auch deutlich, dass die deutsche Steinkohle im in- Brauchen wir dafür einen Sockel aus heimischer Förde- ternationalen Vergleich eben nicht konkurrenzfähig ist rung und, wenn ja, wie hoch muss er sein? Müssen wir und deshalb die Subventionen herunter gefahren werden langfristig einen Zugang zur Steinkohleförderung auf- müssen. Hinzu kommt noch eine so genannte Bugwelle, rechterhalten? Alles Fragen, die es in diesem Prozess zu nämlich die Mittel aus der Finanzverpflichtung nach beantworten gilt. dem Steinkohlebeihilfengesetz von 1997. In den Jahren Ein zweites Thema ist die Rolle der Steinkohle im zu- 2006 bis 2008 kommen daraus im Bund 700 bis künftigen Energiemix. Gegenwärtig kommt ungefähr 800 Millionen und in NRW 500 bis 600 Millionen Euro die Hälfte der bei der Steinkohleverstromung in auf uns zu. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4421

Michaele Hustedt (A) In diesem Jahr muss die Nachfolgeregelung für die Ich bin der Meinung, dass die FDP in diesem Zusam- (C) Zeit nach 2005 gefunden werden. Die Koalition wird menhang nur Krokodilstränen vergießt. Wo waren Sie deshalb über diesen Punkt verhandeln. Da wir mit dem von der FDP denn bei Garzweiler II? Es ging dabei um Steinkohlebeihilfengesetz ein Bundesgesetz ändern wol- ganze Dörfer, die abgebaggert werden mussten. Es ging len und werden, muss das mit Zustimmung beider Frak- dabei aber auch um echte Klimaschutz- und Umwelt- tionen geschehen. schutzfragen. Es war gerade die FDP in Nordrhein-West- falen, die mit fliegenden Fahnen für Garzweiler II ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kämpft hat. Da kann ich nur sagen: Lassen Sie Ihre Dazu sage ich Ihnen, Kollege Hartmann: Anträge sind Krokodilstränen! Wenn, dann müssen Sie stringent argu- noch keine Taten. Anträge sind Worte. mentieren. (Elke Ferner [SPD]: So ist es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir werden mit unserer Mehrheit hier im Bundestag ei- nen gemeinsamen Beschluss fassen und dann werden Bei einer Nachfolgeregelung zur Kohlesubvention unseren Worten Taten folgen. Sie werden sehen, dass wir muss es – das sage ich ganz deutlich – einen weiteren zum richtigen Zeitpunkt einen gemeinsamen Vorschlag Degressionspfad geben. Wenn wir den bisher bestehen- auf den Tisch legen werden. den Degressionspfad fortsetzen, dann bedeutet das circa 300 Millionen Euro pro Jahr weniger. Das ist die Größe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an der wir uns messen lassen müssen. und bei der SPD – Christoph Hartmann [Hom- burg] [FDP]: Da sind wir aber gespannt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für uns Grüne ist das durchaus eine energiepolitisch Darüber hinaus sind wir der Meinung, dass wir bei bedeutsame Frage. Allerdings muss man sagen: Wenn den Überlegungen, welche Zechen geschlossen werden die deutsche Steinkohle durch Importkohle ersetzt wird, sollen, auch Qualitätskriterien berücksichtigen müssen, hat man natürlich umweltpolitisch auch nichts gewon- also welche Folgeschäden es bei der jeweiligen Zeche nen. Viel sensibler ist die Frage: Wie viel Subventionen gibt. Warndt/Luisental oder Walsum sind zwei Zechen, können wir uns in knappen Haushaltszeiten leisten? die besonders weit reichende Folgeschäden hervorrufen. Ich fände es gut, wenn wir zu dem Kompromiss kom- Diese Frage wird im Zentrum der Diskussionen stehen. men würden, dass dies die nächsten Zechen sind, die ge- (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlossen werden. NEN]: Nicht viel und keine Kohle!) Abschließend komme ich auf die Rechte der Betroffe- (B) Wir diskutieren zurzeit darüber, ob wir die nächste nen zu sprechen. Das Bundesberggesetz stammt noch (D) Stufe der Steuerreform vorziehen können. Das machen aus preußischer Zeit. Ich glaube nicht, dass es noch un- wir davon abhängig, dass wir tatsächlich Subventionen serem heutigen Demokratieverständnis entspricht. In abbauen. Das ist also auch in diesem Zusammenhang Nordrhein-Westfalen gibt es den scherzhaften Spruch: wichtig. Verfassung bricht Bundesrecht, Bergrecht bricht Verfas- sung. Ich glaube, wir sollten im Zusammenhang mit der Die Grünen waren schon immer für Sinkflug und nicht Steinkohlesubvention auch darüber sprechen, ob wir für Sturzflug. Dazu stehen wir auch weiterhin. Unser Ziel nicht, was die Rechte der Betroffenen betrifft, das Bun- ist – ähnlich wie das der EU-Kommission –, bis zum Jahr desberggesetz an das heutige Niveau anpassen. Ich 2010 zu einem Abschluss zu kommen. Ich weiß, dass die finde, es gehört zu einem Gesamtpaket dazu, dass die SPD in dieser Frage eine andere Position hat; Rechte der Betroffenen gestärkt werden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Danke schön. stimmt ausdrücklich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das muss ich gar nicht unter den Teppich kehren. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir einen Kompromiss Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: finden werden. Ein Kompromiss deutet sich schon darin an, dass die EU das Jahr 2010 als Zeitfenster vorgibt. Ich Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl-Josef finde, auf dieses Zeitfenster sollten wir uns in den Ge- Laumann, CDU/CSU-Fraktion. sprächen auch konzentrieren. Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Man muss sich natürlich auch mit den Folgeschäden auseinander setzen. Dazu zählen die deutliche Erhöhung Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der Überschwemmungsgefahr, Grundwasseranstieg und Kollegen! Ich glaube, dass es unter den heutigen Natur- Trinkwasserverschwendung, die es in großem Maße schutz- und Umweltschutzgesichtspunkten eine Selbst- gibt. Außerdem sind die drastischen Absenkungen zu verständlichkeit sein muss und dass es an der Zeit ist, nennen, die teilweise bis zu 14 Meter betragen. Wenn dass sich der Gesetzgeber angesichts der Entwicklung man sich das konkret vor Ort ansieht, dann weiß man, etwa im Abbaugebiet Dinslaken, der großen Sorgen, die dass die Menschen, die dort Häuser gebaut haben, sehr die Menschen dort haben – diese kann man nicht igno- stark betroffen sind. rieren; das sieht man auch an der Stärke der Bürgerinitia- tive –, oder auch angesichts der Auswirkungen der Un- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) tertunnelung des Rheins etwa auf den Wasserhaushalt in 4422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Karl-Josef Laumann (A) der Region überlegt, wie durch ein modernes Bergrecht Ich meine, wenn die Bundesregierung das jetzt tun will, (C) diese Gedanken des Umweltschutzes, die früher bei wei- dann muss sie ein energiepolitisches Gesamtkonzept ha- tem nicht die Bedeutung gehabt haben wie heute, stärker ben. Dieses kann ich bei der Bundesregierung zurzeit berücksichtigt werden. nicht erkennen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Fehlanzeige!) Ich vertrete einen Wahlkreis, zu dem auch das Berg- baugebiet Ibbenbüren gehört. Ich weiß sehr wohl, wie Ich glaube auch, dass die Steinkohle nur in einem Ener- schwer es ist, eine ländliche Region, die seit vielen Ge- giemix aus Kernenergie, fossilen Brennstoffen und rege- nerationen vom Bergbau geprägt ist, umzustrukturieren, nerativen Energien darstellbar ist. Deswegen bedauere um den Menschen in dieser Region auch ohne Bergbau ich es sehr, dass diese Koalition den Ausstieg aus der eine Perspektive zu geben. Kernenergie im Grunde beschlossen hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war gut! – Elke Ferner [SPD]: Nicht „im Grunde“, Wir haben in den vergangenen Jahren vieles geschafft. sie hat es beschlossen!) Vor 20 Jahren waren auf dem Bergwerk, von dem ich Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Subventi- gerade gesprochen habe, noch 8 000 Leute beschäftigt. onen für die erneuerbaren Energien über den Strompreis Heute arbeiten auf diesem Bergwerk noch 2 600 Leute. die Subventionen für den Steinkohlebergbau im nächs- Im Arbeitsamtsbezirk Rheine im Kreis Steinfurt – das ten Jahr zum ersten Mal übersteigen werden. liegt im Tecklenburger Land – haben wir die niedrigste Arbeitslosenquote in ganz Nordrhein-Westfalen. Das (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist heißt, diese Region hat einen guten Teil der Umstruktu- wohl wahr!) rierung mit einem lebenden Bergbau geschafft. Ich Noch einmal ganz ruhig: Die Subventionen für die er- glaube, dass diese Umstrukturierung nur Schritt für neuerbaren Energien über den Strompreis werden die Schritt und mit einem lebenden Bergbau möglich ist. Subventionen für den deutschen Steinkohlebergbau im Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Als ich 1990 in nächsten Jahr übersteigen. den Bundestag kam, damals war die Kohlepolitik auch (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wieder einmal Thema – das ist temporär alle paar Jahre Welche Position im Bundeshaushalt ist das der Fall –, denn?) (Elke Ferner [SPD]: Bei Ihnen ist es temporär, ja!) (B) – Ich habe ja gesagt: über den Strompreis. (D) konnten wir uns – daran kann ich mich gut erinnern – eine Ich sage Ihnen: Diese Subvention, die Sie für die er- Ruhrkohle AG als einen der industriellen Kerne im Ruhr- neuerbaren Energien über den Strompreis organisieren, gebiet ohne die Steinkohle gar nicht vorstellen. sichert in Deutschland nur etwa ein Zehntel der Kilo- (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wattstunden, die die Steinkohle mit der gleichen Sub- Sehen Sie mal, wie fantasielos Sie damals vention produziert. Ich finde, auch das muss man dabei schon waren!) bedenken. Schauen wir uns die Ruhrkohle AG heute einmal an. Ich glaube auch, dass wir gut überlegen sollten, ob Sie macht in Deutschland mehr Umsatz mit Chemie und wir am Ende nicht doch einen lebenden Restbergbau Immobilien als mit der Steinkohle. Es ist gut, dass ein so über das Jahr 2010 hinaus behalten müssen, wichtiger Arbeitgeber für Nordrhein-Westfalen diese (Beifall des Abg. Wolfgang Meckelburg Umstrukturierung mit einem lebenden Bergbau Schritt [CDU/CSU] sowie bei der SPD) für Schritt geschafft hat. Für Nordrhein-Westfalen und die Menschen, die bei der RAG beschäftigt und dort auf weil es in Deutschland – das muss man bedenken – auch Arbeit und Brot angewiesen sind, ist das eine gute Ent- Bergbautechnologie gibt. wicklung. Im Übrigen hat die Union diese Entwicklung bei der RAG politisch schon unterstützt, als die SPD im (Elke Ferner [SPD]: So ist das! – Dieter Ruhrgebiet das noch für Vaterlandsverrat gehalten hat. Grasedieck [SPD]: Ja, genau!) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist unstreitig, dass die Steinkohle, dieser fossile Brennstoff, in diesem Jahrhundert für die Energieversor- Natürlich hat die FDP in einem Punkt ihres Antrages gung dieser Erde eine enorme Bedeutung haben wird. Recht: Die Bundesregierung muss mit der Deutschen Steinkohle AG noch in diesem Jahr darüber reden, wie (Elke Ferner [SPD]: Ganz genau! Mehr es ab 2005 weitergehen soll; denn gerade im Bergbau Steinkohle!) braucht man Planungssicherheit und vernünftige Vor- Wenn ich richtig informiert bin, dann liefert der deutsche läufe. Maschinenbau etwa 45 Prozent der Bergbautechnologie, (Elke Ferner [SPD]: Ganz genau!) die weltweit gekauft wird. Mir wird gesagt, dass diese Verkäufe oft nur deswegen zustande kommen, weil die Das ist aber auch der einzige Punkt, den ich in Ihrem Leute aus China, Südamerika und Russland vor Ort se- Antrag unterschreibe. hen, wie diese Maschinen arbeiten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4423

Karl-Josef Laumann (A) (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Das lebeihilfen nötig sein wird und eine Halbierung dieser (C) muss auch vor Ort geschehen! Sie können sich Beihilfen bis 2010 gut vorstellbar ist, weil er sieht, dass das ja auch nirgendwo anders anschauen!) ein Abbau der Kohlesubventionen notwendig ist, um in anderen staatlichen Bereichen sowohl auf der Landes- – Wir haben modernste Zechen. ebene wie auf der Bundesebene für Zukunftsaufgaben (Elke Ferner [SPD]: Das ist wohl wahr!) handlungsfähiger zu werden. Aber wir werden deutlich vor 2010 die Frage beantworten müssen: Haben wir gute Viele hier im Bundestag sagen, dass wir den Metro- Gründe, einen Restbergbau zu behalten? Aus meiner rapid in Deutschland brauchen, weil wir diese Technolo- persönlichen Sicht gibt es schon heute dafür Gründe. gie verkaufen wollen. Ich glaube, das könnte auch ein Argument für eine weltweit so wichtige Technologie wie Schönen Dank. die Bergbautechnologie sein, was man mit berücksichti- (Beifall bei der CDU/CSU) gen sollte.

(Beifall des Abg. Wolfgang Meckelburg Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: [CDU/CSU] sowie bei der SPD) Es ist allzu schade, dass ich zur Position der CDU in Nordrhein-Westfalen von dieser Stelle aus nichts vortra- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gen darf, obwohl mir dazu manches einfiele. Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischen- (Heiterkeit) frage des Kollegen Ulrich? Nun hat die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Frak- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): tion das Wort. Ich gestatte gern eine Zwischenfrage. Elke Ferner (SPD): Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartmann, der Antrag, den Sie fabriziert haben, ist – das Wenn die Logik, die Sie für den Referenzbergbau an- muss ich schon sagen – der klassische Schaufensteran- führen, auch für andere Zweige gilt, dann müssten wir trag. im Prinzip für alle Produkte, die Deutschland stark in die Welt exportiert, Referenzanlagen vorweisen können. (Beifall bei der SPD) Ich frage Sie: Ist das so? Ich nenne als Beispiel Meer- In Ihrem Wahlprogramm haben Sie noch gefordert, den (B) wasserentsalzungsanlagen. Wo laufen diese denn in Gesamtsubventionsbetrag für den Zeitraum 2002 bis ein- (D) Deutschland? Sie werden doch trotzdem von Deutsch- schließlich 2005 zu halbieren, danach überhaupt keine land exportiert. Ich halte Ihr Argument mit den Refe- Beihilfen mehr zu zahlen und natürlich auch betriebsbe- renzanlagen für völlig falsch und an den Haaren herbei- dingte Kündigungen in Kauf zu nehmen. Davon steht in gezogen. dem heute von Ihnen vorgelegten Antrag überhaupt nichts. Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Die Debatte um den Subventionsabbau wird im Übri- Ich sage noch einmal ganz ruhig: Ich glaube, dass es gen sehr scheinheilig geführt. Alle sind für Subventions- sich eine Volkswirtschaft, die Wohlstand und soziale Si- abbau. Wenn es aber konkret wird, dann fällt den meis- cherung nur über exportfähige Produkte verteidigen ten die Steinkohlefinanzierung ein, aber nicht die kann, gut überlegen sollte, ob sie aus einem Markt, der übrigen Subventionstatbestände. weltweit noch viele Jahre, wahrscheinlich noch dieses Jahrhundert, eine riesige Rolle spielt, schlicht und er- Ich will noch einmal die Zahlen nennen, damit sie greifend aussteigt. endlich zur Kenntnis genommen werden: Von 1996 bis 2003 sind die Beihilfen um 2 Milliarden Euro zurückge- (Beifall bei der SPD) gangen; das sind über 43 Prozent. Im Jahr 2005 wird diese Summe bei knapp 2,1 Milliarden Euro liegen; das Dies gilt in besonderem Maße, weil wir in diesem Be- ist eine Reduzierung der Subvention des deutschen reich schon Anteile am Weltmarkt haben. In anderen Be- Steinkohlebergbaus von über 55 Prozent in zehn Jahren. reichen müssen wir sie uns erst erkämpfen. Dies ist zu Alle können einmal nachrechnen, was das in anderen berücksichtigen. Subventionsbereichen bedeutete, egal ob in der Land- Ich finde es in Ordnung – das sage ich deutlich –, dass wirtschaft oder in anderen Bereichen. Aber falls es dazu sich bis jetzt in Deutschland nur eine Partei klar geäußert kommen sollte, werden hier am Pult andere stehen, um hat, wie sie sich das mit der Kohle in Zukunft vorstellt, zu erklären, warum das nicht möglich ist. nämlich die CDU in Nordrhein-Westfalen. (Beifall bei der SPD) (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt 1997 waren im deutschen Steinkohlebergbau noch [Salzgitter] [SPD]: Die CDU gibt es aber nicht 78 000 Menschen beschäftigt. Die Zielgröße für 2005 nur in Nordrhein-Westfalen!) liegt bei 36 000 Beschäftigten. Bei der Reduzierung des Der CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen hat klar Personals hat der deutsche Steinkohlebergbau also eine gesagt, dass zwar eine weitere Degression bei den Koh- deutliche Vorleistung gebracht. Man muss ebenfalls 4424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Elke Ferner (A) erwähnen, dass all dies sozialverträglich geschehen ist. nicht einsparen, wenn wir die Steinkohleverfeuerung (C) Dies sollte auch in Zukunft so sein. ganz einstellen würden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte noch einmal auf unser schönes Bundesland Wir dürfen nicht vergessen, dass mit den Kohlebeihilfen zurückkommen, Herr Hartmann, aus dem wir beide nicht nur die 46 100 Arbeitsplätze bei der Deutschen Stein- kommen. Dass jemand, der Landesvorsitzender einer kohle gesichert werden, sondern dann, wenn man den Fak- Partei im Saarland ist, im Zusammenhang mit der künfti- tor 1,3 unterstellt, indirekt auch weitere 60 000 Arbeits- gen Finanzierung des Bergbaus negiert, dass insgesamt plätze bestehen bleiben. Das heißt, wir reden hier über 15 000 Arbeitsplätze direkt und indirekt vom Bergbau 100 000 Arbeitsplätze, die direkt und indirekt von den abhängen, finde ich schon etwas merkwürdig. Sie gehen Kohlebeihilfen abhängen. Wer in Zeiten hoher Arbeits- überhaupt nicht darauf ein, was kommen soll, wenn die losigkeit meint, 100 000 Arbeitsplätze seien vernachläs- Subventionen ab 2005 wegfallen. sigbar, der soll bitte schön mit den Menschen und ihren Familien in den ohnehin von Arbeitslosigkeit überpro- (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Das portional betroffenen Regionen reden. Dort wird er an- steht ja gar nicht im Antrag! Wer lesen kann, deres zu hören bekommen. der ist im Vorteil!) (Beifall bei der SPD) Ich muss eines zum Thema Planungssicherheit sagen. Die Regierung aus CDU/CSU und FDP, die vor 1998 im Dann kommt das beliebte Argument, das Herr Amt war, hat alle zwei bis spätestens drei Jahre angefan- Hartmann eben auch gebracht hat, nämlich die Summe gen, die Vereinbarungen, die über längere Zeiträume ge- der Kohlebeihilfen durch die Anzahl der im Kohleberg- golten haben, infrage zu stellen und damit Verunsiche- bau Beschäftigten zu dividieren. Dann kommt man auf rung bei den Unternehmen, den Beschäftigten und den einen Betrag x je Arbeitsplatz. Dabei wird völlig verges- Menschen in den Regionen hervorgerufen. sen, dass noch wesentlich mehr Arbeitsplätze in anderen Bereichen vom Bergbau abhängen, es wird vergessen, Diese Bundesregierung hat den Kohlekompromiss dass Mehrwertsteuer, Lohnsteuer und Unternehmen- von 1997 eingehalten. Wir werden eine tragfähige An- steuer gezahlt werden und, wenn 100 000 Leuten gekün- schlussfinanzierung finden. Darauf haben wir uns im digt würde, auch Arbeitslosengeld zu finanzieren ist. Koalitionsvertrag verständigt. Wenn man sich das alles Das fällt nicht vom Himmel. Es muss auch irgendwo anschaut, dann ist klar, dass wirtschaftliche und indivi- herkommen. duelle Interessen vor Ort in den Bergbauregionen bei (B) den Bergschäden aufeinander stoßen. Ich würde mir (D) (Beifall bei der SPD) auch wünschen, dass es an der einen oder anderen Stelle etwas unbürokratischer zugeht und vielleicht noch weni- Vielleicht sollten Sie sich alle einmal die Mühe machen, ger als bisher von den Gerichten in der Frage der Scha- diese Rechnung aufzumachen. Sie werden dann sehen, denregulierung geklärt werden müsste. Aber die Alter- dass Sie zu anderen Ergebnissen kommen. native kann nicht sein, dass der Ausstieg aus dem Es wird immer wieder gesagt, dass der Bergbau eine Steinkohlebergbau in Deutschland beschlossen wird. Ich Auslauftechnik ist. Ich fordere Sie auf, sich die Technik glaube, damit würden wir uns allen einen Bärendienst einmal unter Tage anzuschauen. erweisen. (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Das Deshalb können wir Ihren Antrag nur ablehnen. habe ich schon!) (Beifall bei der SPD) Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal unter Tage ge- wesen sind. Das ist Hochtechnologie, was wir dort ha- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ben. Wenn es so ist, dass die Bergbautechnik – im Übri- gen auch die Kraftwerkstechnik – in Deutschland zur Ich schließe die Aussprache. Weltspitze gehört Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/475 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der SPD) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- und wir deutliche Vorteile beim Export auf dem Welt- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung markt haben, dann muss man sich vergegenwärtigen, so beschlossen. was das für die Zukunft bedeutet. Wenn Schwellenländer Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: wie China und andere in den nächsten Jahrzehnten einen höheren Energiebedarf haben werden und diesen durch Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ihre Kohlevorräte decken werden, dann wären wir doch gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes mit dem Klammersack gepudert, wenn wir es nicht über die Verwendung von Verwaltungsdaten für schaffen würden, die modernsten Anlagen der Bergbau- Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungs- technik und der Kraftwerkstechnik dorthin zu exportie- datenverwendungsgesetz – VwDVG) ren. Denn das, was wir dort durch die moderne Techno- logie an CO2 einsparen, könnten wir hier selbst dann – Drucksache 15/520 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4425

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) (Erste Beratung 31. Sitzung) mit Initiativen, bei denen nichts herauskommt. Ich kann (C) Ihnen schon jetzt versichern, dass der Bundesrat den Ge- a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- setzentwurf nicht akzeptieren wird. Deswegen wird er schusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Aus- dann an den Vermittlungsausschuss überwiesen und er- schuss) neut im Parlament beraten werden. – Drucksache 15/1229 – Berichterstattung: Der Gesetzentwurf ist nicht solide genug vorbereitet. Abgeordnete Gudrun Kopp Deswegen werden wir ihn in der zweiten und dritten Be- ratung ablehnen. b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Abg. Gerd Andres [SPD] meldet sich zu einer – Drucksache 15/1237 – Zwischenfrage) Berichterstattung: – Wenn es darum geht, mir eine Frage zu stellen, würde Abgeordnete Volker Kröning ich sie ausnahmsweise zulassen. Kurt J. Rossmanith Anja Hajduk Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Jürgen Koppelin Nun erhält der Kollege Andres das Wort für eine in Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für Marmor gemeißelte Zwischenfrage. diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Da es dazu keinen Widerspruch gibt, ist das so beschlossen, wenngleich wir diese damit vereinbarte Zeit vermutlich Gerd Andres (SPD): nicht gänzlich brauchen, weil von den angemeldeten Herr Kollege Schauerte, Sie wissen, dass ich auch da- Rednern, nämlich dem Parlamentarischen Staatssekretär rin geübt bin, frei zu sprechen. Das verleitet mich zu der Gerd Andres und dem Kollegen Fritz Kuhn und der Kol- Frage, ob es möglich ist, dass Sie nicht dazu gekommen legin Gisela Piltz, die sorgfältig vorbereiteten Reden zu sind oder nicht die Gelegenheit hatten, ein Manuskript Protokoll gegeben werden1). Der Parlamentarische anzufertigen, und dass Sie dieser Sachverhalt zwingt, Staatssekretär Gerd Andres hat das mit der Erwartung eine Rede zu halten. verbunden, dass seine besonders sorgfältig vorbereitete Rede in Marmor gemeißelt und in Glasvitrinen aus- (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestellt wird. DIE GRÜNEN) Das kann ich – schon wegen des Risikos von Wieder- Wäre es nicht jenseits des generellen Vorwurfs an die (B) holungsfällen – ausdrücklich nicht zusagen. Dennoch Bundesregierung, dass wir alles schlampig und schlecht (D) nehmen wir das Angebot, die Rede zu Protokoll zu ge- vorbereitet hätten, möglich, alle Redebeiträge zu diesem ben, dankbar zur Kenntnis. Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben, weil sie wahrscheinlich keinen Menschen mehr interessieren? Ich erteile nun dem Kollegen Hartmut Schauerte das Wort und weise ihn ausdrücklich darauf hin, dass ihm (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keineswegs die gesamte eingesparte Redezeit zur Verfü- DIE GRÜNEN) gung steht. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wir hatten verabredet, dass ich Sie nur zwei Minuten Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- aufhalten würde, aber jetzt zwingen Sie mich, daraus ren! Ich gehöre zu der kleiner werdenden Minderheit in drei zu machen. diesem Haus, die dem Wort den Vorrang gegenüber der (Heiterkeit im ganzen Hause) in Marmor gemeißelten Schrift gibt. Ich sehe mich in diesem Hohen Hause absolut auf der Ich wende mich jetzt kurz dem vorliegenden Gesetz- richtigen Seite; denn wir werden immer wieder dazu er- entwurf zu. Wir alle wollen, dass insbesondere zuguns- mahnt, nicht abzulesen, wie Sie es wahrscheinlich getan ten des Mittelstands unnötiger Ballast durch statistische hätten, sondern frei zu sprechen. Erhebungen verringert bzw. beseitigt wird. Das soll mit dem Gesetzentwurf erreicht werden. Wir halten dieses (Beifall bei der FDP) Gesetz für ungeeignet, um das angestrebte Ziel zu errei- chen. Darum habe ich mich bemüht. Ich meine aber, dass wir die Debatte an dieser Stelle abbrechen können. Arbeiten Wir haben ein besonderes Anliegen: Wir würden es Sie in Zukunft etwas weniger an der schriftlichen Vorbe- begrüßen, wenn ein solches „Gesetzchen“, um das es reitung Ihrer Reden und dafür etwas solider an den Ge- heute geht und das der Zustimmung des Bundesrates be- setzen! darf, vorher mit dem Bundesrat abgestimmt wird, damit eine Chance besteht, dass es zur Verabschiedung kommt. Herzlichen Dank. Sie beschäftigen das Parlament im zunehmenden Maße (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heiterkeit und Beifall bei der 1) Anlage 2 CDU/CSU und der FDP) 4426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Überweisungsvorschlag: (C) Innenausschuss (f) Um eine völlig unnötige Kontroverse über die Ge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit schäftsordnung zu vermeiden, weise ich zu dem Disput Verteidigungsausschuss zwischen den Kollegen Andres und Schauerte abschlie- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ßend auf § 33 unserer Geschäftsordnung mit der Über- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung schrift „Die Rede“ hin: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war auch Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vor- hierzu eine Aussprache von 30 Minuten vorgesehen. trag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen. (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Alle freien Ich füge der Vollständigkeit hinzu: Aufzeichnungen, Reden werden zu Protokoll gegeben!) die man nicht hat, kann man auch nicht benutzen. Die Kollegen Hans-Peter Kemper, Stephan Mayer, Clemens Binninger und Ernst Burgbacher geben ihre (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Reden zu Protokoll.1) Nun schließe ich die Aussprache. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und die Ich komme zur Abstimmung über den von der Bun- des Parlamentarischen Staatssekretärs Fritz desregierung eingebrachten Entwurf eines Verwaltungs- Rudolf Körper auch! – Silke Stokar von datenverwendungsgesetzes auf Drucksache 15/520. Der Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Meine auch!) Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1229, den Ge- – Ich bitte um Nachsicht. Wir nehmen selbstverständlich setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem auch diese zu Protokoll. Ich konnte eben nur die Namen Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- derjenigen förmlich mitteilen, die mir annonciert waren. zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Das ist einer der seltenen Augenblicke, in denen das Prä- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die sidium nicht alles weiß. Wir ergänzen aber gerne. Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Dritte Beratung auf den Drucksachen 15/1186, 15/1223, 15/1021 und 14/ und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 7220 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- dieser Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit auch in schlossen. (B) dritter Beratung angenommen. (D) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Siegmund Ehrmann, Karin Kortmann, Detlef gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die An- Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der passung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Bund und Ländern 2003/2004 (Bundesbesol- Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck dungs- und -versorgungsanpassungsgesetz (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion 2003/2004 – BBVAnpG 2003/2004) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksachen 15/1186, 15/1223 – Auf dem Weg zur Erreichung der Millennium Development Goals (MDGs) – Probleme bei Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) der Zielerreichung erkennen und bewältigen Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/1005 – Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwicklung (f) Entwurfs eines... Gesetzes zur Änderung Auswärtiger Ausschuss dienstrechtlicher Vorschriften Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Drucksache 15/1021 – Keine Sorge, der Antrag ist in deutscher Sprache ver- fasst. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu gibt es keinen Widerspruch. c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner das Wort dem Kollegen Klaus Werner Jonas für die Zweiter Versorgungsbericht der Bundesregie- SPD-Fraktion. rung – Drucksache 14/7220 – 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4427

(A) Klaus Werner Jonas (SPD): Die Millenniumserklärung gibt einen roten Faden vor, (C) an dem wir unser politisches Handeln orientieren müs- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe sen, insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Zu- Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Nachsicht, dass sammenarbeit und der Entwicklungszusammenarbeit. ich Sie jetzt strapaziere. Aber ich glaube, es gibt nichts Seit September 2000 wurden konkrete Schritte eingelei- Besseres, als seine Jungfernrede in heiterer Runde zu tet, um die Millenniumserklärung umzusetzen und die halten. Aus diesem Grunde habe ich mich in Absprache Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt zu stellen. mit unserer Geschäftsführung dazu entschlossen, zu re- den. Im März 2002 fand in Monterrey eine Konferenz über die Finanzierung der Entwicklung statt. Daraufhin ver- Über 50 Jahre hat sich die Welt drastisch verändert. pflichtete sich die Europäische Union, die Mittel ihrer Die Grenzen in Europa sind in diesem Zeitraum größten- Mitgliedstaaten für die Entwicklungshilfe auf durch- teils verschwunden. Die Mauern sind gefallen. Die schnittlich 0,39 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an- neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zuheben. Mitgliedstaaten, deren Beitrag unter diesem bringen die Menschen näher zueinander. Es ist eine viel Wert lag, wurden aufgefordert, ihre Mittel für die Ent- versprechende Welt, aber auch eine Welt, in der leider wicklungszusammenarbeit auf mindestens 0,33 Prozent ein großer Teil der Menschen von den Errungenschaften des Bruttoinlandsproduktes anzuheben. In diesem Kon- der Technologie und der Kultur ausgeschlossen ist. text hat auch die Bundesregierung im Jahr 2002 die Während ein Sechstel der Weltbevölkerung eine Lebens- Haushaltsmittel für die Entwicklungszusammenarbeit qualität genießt, wie es sie noch nie gegeben hat, leidet auf 0,27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angehoben ein anderes Sechstel der Weltbevölkerung unter großem und will sie bis 2006 schrittweise auf 0,33 Prozent erhö- Hunger, Krankheit, Armut und höchster Unsicherheit. hen. 1,2 Milliarden Menschen leben in unserer Welt mit we- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten niger als 1 US-Dollar pro Tag und sind damit als extrem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) arm einzustufen. Im April 2001 wurde das Aktionsprogramm 2015 Angesichts dessen wird der eine oder andere sicher- vom Bundeskabinett beschlossen, in dem Deutschland lich fragen: Was gehen uns diese Zahlen an, da wir doch seinen Beitrag zur Erreichung der Millennium Develop- zu dem besser gestellten Sechstel der Weltbevölkerung ment Goals festlegt. Trotz der Bemühungen sowohl auf gehören? Obwohl wir unsere eigenen Probleme haben internationaler als auch auf nationaler Ebene gibt es aber – die Arbeitslosigkeit, die Entwicklung in den neuen beträchtliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Bundesländern, die anstehenden Reformen in den Ge- Aus dem Bericht des UN-Generalsekretärs vom Herbst (B) sundheits- und Sozialsystemen –, gibt es in der Bevölke- (D) rung Verständnis für die Notwendigkeit der Entwick- 2002 über die Umsetzung geht hervor, dass 13 Jahre vor lungszusammenarbeit. Hier möchte ich ganz deutlich der gesetzten Frist die Fortschritte in der Armuts- feststellen: Armut, Krankheit, Kriege, ob hier oder auf bekämpfung weitgehend unzureichend sind. Während anderen Kontinenten, diese Probleme gehen uns sehr davon ausgegangen werden kann, dass Teile Süd- und Ostasiens die festgelegten Ziele erreichen können, wenn wohl etwas an; denn sie haben Auswirkungen bis in un- sie ihren Kurs fortsetzen, haben Regionen wie Lateiname- sere Hemisphäre. Gerade in dieser Woche haben wir im rika, Afrika und große Teile Zentralasiens nur kleine Fort- Europarat zu diesem Thema feststellen müssen, dass die schritte, wenn nicht sogar tragische Rückschritte zu ver- Auswirkungen für uns von erheblicher Bedeutung sind. zeichnen. Deshalb stellen wir diesen Antrag. Ich denke nur an das Problem des Menschenhandels in Zentralasien. Ich nenne in Bezug auf die Umwelt als Die Probleme müssen erkannt werden. Von der Bun- Stichworte nur den Klimawechsel und die Umweltkata- desregierung muss erwartet werden, dass sie in ihrer Po- strophen, in Bezug auf unsere Gesellschaft die Migration litik Fortschritte macht. Der Bundestag hat die Aufgabe, und – aus ökonomischer Sicht – die Weltwirtschafts- die Bundesregierung hierbei nachhaltig zu unterstützen. krise. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Als die Staats- und Regierungschefs die Millenniums- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erklärung der Vereinten Nationen unterzeichnet ha- Auch der Deutsche Bundestag muss seinen Beitrag zu ben, haben sie diese Tatsache offiziell anerkannt. Nir- der beispiellosen Anstrengung der Völker und der Staa- gendwo werden die Herausforderungen, vor denen wir ten leisten, die Globalisierung aktiv mitzugestalten, in- stehen, besser als in dieser Millenniumserklärung be- dem er der Bundesregierung den Rücken stärkt und dort, schrieben. Mit dieser Erklärung haben die Staaten einen wo es nötig ist, auch Lösungsansätze vorträgt. bemerkenswerten Schritt getan, indem sie sich verpflich- teten, gemeinsam die globalen Probleme anzugehen. In (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dieser Erklärung manifestieren sich konkrete und zum DIE GRÜNEN) Teil klar bezifferte Ziele, etwa die Halbierung der Armut In diesem Antrag benennen wir die einzelnen anste- in der Welt bis 2015, aber auch die Themen Frieden, Si- henden Aufgaben. Ich bitte Sie ganz herzlich: Unterstüt- cherheit, Abrüstung, Demokratie, Entwicklung, Um- zen Sie diesen Antrag! Stimmen Sie zu! Zeigen wir, dass weltschutz und Menschenrechte. Halbierung der Armut der Deutsche Bundestag die Armutsbekämpfung als ei- der Welt bezieht sich auf diejenigen Menschen, die mit nen der Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik betrach- weniger als 1 Dollar pro Tag leben müssen. tet! Wir werden in Zukunft Nutznießer sein, wenn die 4428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Klaus Werner Jonas (A) Armut in der Welt nachhaltig gesenkt wird; denn es ent- Verständnis dafür haben, dass wir diese Ablenkungsstra- (C) bindet uns von vielen anderen Aufgaben. tegie nicht mitmachen. Vielen Dank. (Zuruf der Abg. Karin Kortmann [SPD]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Es ist schon so. DIE GRÜNEN) Sie haben zu dem Thema einen Antrag vorgelegt. Ich weiß nicht, wer von Ihnen diesen Antrag gelesen hat. Er Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist sehr lang. Zugegebenermaßen ist es kein Vergnügen, Herr Kollege Jonas, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers- sich da durchzukämpfen. Ich habe das einmal gemacht ten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen und mein Eindruck ist: Darin steht manches, was Ihre ei- guten Wünschen für die weitere parlamentarische Ar- genen engagierten Entwicklungspolitikerinnen und Ent- beit. wicklungspolitiker nicht so schön finden, wie sich das auf dem Papier vielleicht liest. (Beifall) Ich lese da zum Beispiel: Nun hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe für die Zur Erreichung der Millenniumsziele sind sowohl CDU/CSU-Fraktion das Wort. Ich glaube, das ist min- enorme Eigenanstrengungen der von Hunger und destens schon seine zweite Rede. Elend betroffenen Nationen als auch grundlegende Reformen auf internationaler Ebene erforderlich. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Das ist so weit richtig, ist aber auch nicht alles. Es sind Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht nur die Empfängerländer gefordert und es sind Herr Kollege Jonas, ich schließe mich der Gratulation nicht nur internationale Organisationen gefordert, son- ausdrücklich an, auch wenn ich sagen muss: Ich hätte dern auch wir selbst sind gefordert, verstärkte Anstren- mir gut vorstellen können, diese Debatte hier bei einer gungen zu unternehmen. Der Dreh- und Angelpunkt die- größeren Präsenz – auch von meiner Arbeitsgruppe – zu ser Debatte, die wir zu führen haben, ist – das zu hören führen. Da aber der FDP-Redner noch nicht da ist, kann ich Ihnen auch zu dieser vorgerückten Zeit nicht er- (Dirk Niebel [FDP]: Langsam! Ganz lang- sparen –, dass die Höhe unserer eigenen entwicklungs- sam!) politischen Anstrengungen in Deutschland völlig unzu- reichend ist. Das ist seit Jahren so und die Tendenz sieht muss ich Ihnen jetzt ziemlich langsam, aber hoffentlich nicht besser aus. deutlich ein paar Dinge zu den Millennium Development (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Goals ins Stammbuch schreiben. Sie bekennen sich in dem Antrag noch einmal dazu, CDU und CSU unterstützen die so genannten Millen- die öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen zu erhö- niumsentwicklungsziele, die die Vereinten Nationen – es hen. Sie nennen die Zahl von 0,39 Prozent des Bruttoin- ist schon angesprochen worden – unter anderem mit ih- landsprodukts. Sie sind bisher aber nicht einmal in der rer Millenniumserklärung im Jahr 2000 und auch im Lage, den auf europäischer Ebene für das Jahr 2006 fest- Monterrey-Konsens verkündet haben. Diese Ziele liegen gelegten Mindestzielwert von 0,33 Prozent zu erreichen. inhaltlich in der Kontinuität unserer jahrzehntelang be- triebenen Politik und sind für die Zukunft auch eine (Karin Kortmann [SPD]: Wo Sie ihn 1998 durchaus nützliche, stetige Mahnung an die Menschheit, heruntergebracht haben!) entschieden gegen Hunger, Armut und Umweltzerstö- Wir haben in einer Anfrage die Bundesregierung aus- rung einzutreten. drücklich gebeten, einmal zu konkretisieren, wie das er- Nun ist es sicherlich sinnvoll, sich auch ehrgeizige reicht werden soll. Nichts! Fehlanzeige! Sie sind nicht in politische Ziele zu setzen, wenn denn dieser Ehrgeiz der Lage, Mindestziele darzustellen, und tragen doch dazu führt, dass zur Zielerreichung zumindest auch das hohe Ziele wie eine Monstranz vor sich her. maximal Mögliche unternommen wird. Schlecht ist Sie schreiben in Ihrem Antrag als Erfolgsmeldung, allerdings, wenn ehrgeizige, als konkrete politische dass dem BMZ die federführende Koordination für den Handlungsvorgabe eher wenig geeignete Ziele lediglich Umsetzungsprozess zur Erreichung der Millenniums- ständig propagiert werden, in der harten entwicklungs- ziele übertragen worden ist. Das klingt auch so weit gut. politischen Alltagsarbeit aber keinen Niederschlag fin- Aber einig sind wir uns darüber: Besser als eine feder- den. Das ist nun einmal genau die Situation, die wir in führende Koordinierung wären mehr finanzielle Mittel der deutschen Entwicklungspolitik festzustellen haben. für die Entwicklungszusamenarbeit, wie Sie sie immer Der Versuch, insbesondere das Millenniumsziel der Hal- versprochen haben, was Sie aber bis heute nicht einge- bierung der weltweiten absoluten Armut bis zum Jahr halten haben. 2015 in ein nationales Aktionsprogramm zu gießen, ist leider kläglich gescheitert. Deswegen drängt sich für uns Sie haben durch Ihre Bundesministerin im letzten der Verdacht auf, dass Sie diese Ziele mehr wie eine Jahr wiederholt erklären lassen, Sie wollten den Ent- Monstranz vor sich hertragen, um den stetigen sowohl wicklungshilfeetat langsam steigern und den Anteil der finanziellen als auch qualitativen Niedergang der deut- Entwicklungshilfeleistungen am Bruttoinlandsprodukt schen Entwicklungspolitik zu kaschieren. Sie werden langsam steigern. Da war von 0,28 Prozent für das letzte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4429

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Jahr die Rede. Nicht einmal das haben Sie erreicht. Sie wicklungspolitischen Konzeptionen, für marktwirt- (C) sind bei den 0,27 Prozent stehen geblieben. Über eines schaftliche Effizienz und soziale Balance gleichermaßen sind wir uns sicherlich einig: Das lag nicht daran, dass gesorgt werden kann, Ihrer so genannten internationalen das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr so unerwartet Strukturpolitik, die aus unserer Sicht nach wie vor eher stark gestiegen ist. 0,2 Prozent mehr, das spricht nun ominös ist, entgegen. wirklich nicht dafür, dass Sie von Ihrem eigenen Wirt- schaftswachstum geradezu überrascht und überwältigt An erster Stelle fordern wir Sie in diesem Zusammen- worden sind. hang wiederum auf, endlich Anstrengungen zu unterneh- men, um mindestens das erste vereinbarte Zwischenziel Wir können Sie im Übrigen auch nur davor warnen, von 0,33 Prozent Anteil der Entwicklungshilfe an den aus falscher Rücksichtnahme gegenüber unseren Part- öffentlichen Ausgaben bis zum Jahr 2006 zu erreichen. nerländern politische Augenwischerei zu betreiben. Es Mit einem „Weiter so wie in den letzten fünf Jahren!“, mag ja sein, dass nach Aussagen der Afrikanischen Ent- wie Sie es hier propagieren, wird uns das nicht gelingen. wicklungsbank – Sie zitieren das in Ihrem Antrag – circa Das würde genau in die falsche Richtung gehen. 30 effizient wirtschaftende afrikanische Staaten die öf- fentliche Entwicklungszusammenarbeit hinreichend nut- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zen. Das hieße, dass in mehr als der Hälfte der afrikani- Karin Kortmann [SPD]: Herr Brauksiepe, Ihre schen Staaten mit öffentlichen Entwicklungshilfegeldern Fraktion hört nicht mehr zu!) effizient gewirtschaftet wird. Bei allem Respekt: Ich – Ja, aber das ist bei uns auch Konsens, Frau Kollegin. glaube nicht, dass wir davon ernsthaft ausgehen können. Es nützt auch den Menschen in Afrika nichts, wenn wir (Karin Kortmann [SPD]: Aha, dann hört man die Illusion nähren, es wäre anders. nicht mehr zu?) Die Europäische Kommission ist da übrigens in ihren Der Kollege Marschewski als mein erfahrener Ruhr- Berichten sehr viel kritischer. gebietskollege wird sich jetzt aus Solidarität bestimmt gleich hinsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie als Koali- tionsfraktionen eher zahme Forderungen an die eigene Wir fordern Sie weiterhin auf, die Strukturen der Regierung stellen, ist ja durchaus nachvollziehbar. Ich öffentlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu höre gelegentlich von älteren Fraktionskolleginnen und verbessern, die Entscheidungen, die seit 1998 Fehlent- -kollegen, dass das früher bei uns auch einmal so war. wicklungen eingeleitet haben, zurückzunehmen und da- Sie sollten aber durchaus das zur Kenntnis nehmen, was bei auch verstärkt die großen Potenziale von Kirchen, die Regierung früher schon einmal gemacht hat. Deswe- Nichtregierungsorganisationen und politischen Stiftun- (B) gen geht Ihre Forderung an die Bundesregierung, Instru- gen zu nutzen. Wir fordern Sie auf, die richtigen Priori- (D) mente wie die Devisentransaktionssteuer, die Sie ja als täten bei unseren Kooperationssektoren zu setzen; das innovativ bezeichnen, zu prüfen, in die falsche Richtung. heißt, verstärkt auf Bildung und Ausbildung sowie auf Das BMZ – die Parlamentarische Staatssekretärin wird die Verbesserung der staatlichen Rahmenbedingungen in das bestätigen können – hat genau zu diesem Thema be- den Entwicklungsländern selbst, verstärkt auf Demokra- reits eine Studie vorgelegt. Sie müssen jetzt einfach ent- tisierung und gute Regierungsführung sowie auf eine scheiden, ob Sie sich die Forderung nach diesem Instru- verstärkte Förderung gerade des mittelständischen Pri- ment, die sich bisher immer nur die PDS auf die Fahnen vatsektors zu setzen. geschrieben hat, jetzt zu Eigen machen. Sie haben dazu (Beifall bei der CDU/CSU) eine Untersuchung gemacht; jetzt müssen Sie sich ent- scheiden. Wir haben dazu eine klare Position und sind Wir fordern Sie auch auf, einmal den Mut zu haben, gern bereit, das mit Ihnen zu diskutieren. Die richtigen nicht nur von Schwerpunktländern zu reden, was ja bei Ansätze für eine moderne Entwicklungspolitik im Inte- Ihnen einen großen Teil der Welt umfasst, sondern wirk- resse effizienter Armutsbekämpfung und globaler Zu- lich den Mut zu haben, eine klare Schwerpunktsetzung kunftssicherung finden sich nach unserer Überzeugung auf bestimmte Länder vorzunehmen. Außer auf Länder aber in anderen Bereichen. Wir haben das bei der De- mit Willen und Engagement zu guter Regierungsführung batte über die Regierungserklärung der Frau Bundesmi- – das wurde bereits angesprochen – müssen nach unserer nisterin bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Überzeugung die Schwerpunkte auch auf islamische Entwicklungsländer gelegt werden, um die Rahmenbe- Die deutsche Entwicklungspolitik hat ja in den ver- dingungen dort zu verbessern und den Politik- und Kul- gangenen Jahrzehnten überwiegend unter unionsgeführ- turdialog mit ihnen zu intensivieren. Genauso wollen wir ten Bundesregierungen durchaus beachtliche Erfolge bei einen Schwerpunkt auf die Wirtschafts-, Wissenschafts- der Armutsbekämpfung erzielt. In unserer globalisierten und Hochschulbeziehungen mit Schwellenländern legen, Welt gilt es nun, die bilaterale Entwicklungszusam- um auch hier zu einer Intensivierung zu kommen. Diese menarbeit auch konzeptionell diesen veränderten Rah- Schwerpunktsetzung liegt im gegenseitigen Interesse. menbedingungen anzupassen und gleichzeitig die längst Wir bekennen uns im Gegensatz zu Ihnen auch dazu, überfällige Reform der multilateralen Entwicklungs- dass Entwicklungspolitik den Interessen von Geber- und zusammenarbeit mit aller Kraft anzugehen. Wir stellen Nehmerländern gleichermaßen dienen soll. Das ist unser aber unser Konzept einer internationalen sozialen Verständnis von wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Marktwirtschaft als globale Regelarchitektur, mit der für Kohärenz zwischen wirtschafts-, finanz- und ent- (Beifall bei der CDU/CSU) 4430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Nicht zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, for- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) dern wir Sie als Regierungskoalition auf, endlich Ihre Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anstrengungen zur Reform der europäischen Entwick- Herr Dr. Brauksiepe, ich habe eben gedacht, wir befän- lungszusammenarbeit zu intensivieren. den uns bereits in der Haushaltsdebatte; es geht heute je- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) doch um die Millenniumsziele und nicht um die Finan- zierung des Einzelplans 23. Aber ich kann Sie auch in Es kann doch uns alle nicht ruhen lassen, was wir in die- dieser Hinsicht beruhigen: Wir bleiben auf dem Kurs. sem Bereich beobachten: Allein im Bereich der Zusam- Wir werden das 0,33-Prozent-Ziel erreichen. Die Klau- menarbeit mit den AKP-Staaten – das berühmte Kern- sur steht jetzt bevor; ich denke, dort wird hart darum ge- und Herzstück der europäischen Entwicklungszusam- kämpft werden, dass der Etat für die Entwicklungszu- menarbeit – haben sich bereits 29 Milliarden Euro nicht sammenarbeit nicht gerupft wird. abgeflossener Mittel angestaut. Darauf will ich jetzt aber nicht eingehen, auch nicht Ich will jetzt gar nicht über die Inhalte reden. Denn darauf, dass hier ständig die bilaterale gegen die multila- natürlich geht es nicht nur darum, das Geld einfach aus- terale Entwicklungszusammenarbeit ausgespielt wird; zugeben; vielmehr soll es für sinnvolle Projekte verwen- das kommt immer wieder. Heute geht es um die Millen- det werden. Über die Sinnhaftigkeit muss man dann im niumsziele. Hinsichtlich ihrer Erreichung muss es in der Einzelnen noch reden. Aber es kann nun wirklich nicht Tat Fortschritte geben, und zwar nicht im Schnecken- der Sinn der Sache sein, 29 Milliarden Euro nur in der tempo, sondern in einer Geschwindigkeit, bei der wirk- Pipeline zu haben, die nicht für die Bekämpfung von lich deutlich wird: Es geht vorwärts. Hunger und Armut zur Verfügung stehen. Da dieses Geld zu einem erheblichen Teil aus deutschen Steuergel- Kofi Annan hat im Herbst einen Zwischenbericht zur dern stammt, meine ich, dass wir aufgefordert sind, ge- Umsetzung der Millenniumsziele vorgelegt. Dieser Be- meinsam etwas zu unternehmen. richt fällt je nach Region sehr unterschiedlich aus. Er verzeichnet durchaus auch Fortschritte, so in China, in (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Kortmann Indien, in Thailand und Vietnam; aber es gibt auch Still- [SPD]: Da haben Sie Recht!) stand und dramatischen Rückschritt, ganz besonders in Afrika südlich der Sahara. Nach unserer festen Überzeugung brauchen wir einen verstärkten deutschen Einfluss auf die Entwicklungs- Interessant ist übrigens, dass ausgerechnet die Länder politik der EU-Kommission. Die EU-Entwicklungspoli- in den letzten Jahren eher Fortschritte gemacht haben, tik wird nicht zukunftsfähig sein, wenn sie weiter in den die sich der Weltwirtschaft nur sehr behutsam, selektiv (B) überkommenen, künstlichen und sachlich nicht zu recht- und graduell geöffnet haben, während Länder wie Sam- (D) fertigenden regionalen Schubladen denkt. Wir werden bia oder Haiti oder auch Argentinien, die unter dem Ein- demnächst in diesem Hause auch dazu Initiativen ergrei- fluss des Weltwährungsfonds am schnellsten und bedin- fen. gungslosesten liberalisiert haben, damit Schiffbruch erlitten. Das sei besonders denen gesagt, die sehr einsei- Frau Kollegin Kortmann, ich bin für Ihren Zwischen- tig auf die Heilkraft des Marktes vertrauen und glauben, ruf dankbar und hoffe, dass wir auch dann zusammenfin- dass der Freihandel allein alle Probleme löse. Hierbei den, wenn es konkret wird. kommt es auf die Rahmenbedingungen an, auf die Spiel- Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diese Grundpfei- regeln, auf das richtige Tempo und die richtige Dosie- ler unserer Entwicklungspolitik stehen nicht im Wider- rung von Liberalisierung. spruch zu den Millenniumsentwicklungszielen der Ver- Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, dass einten Nationen; im Gegenteil: Nach unserer festen auf zwei unterschiedlichen Ebenen sehr viel mehr ge- Überzeugung fördern sie deren Erreichung. Nur ist es schehen muss, wenn die Millenniumsziele nicht nur in jetzt eben Ihre Aufgabe, neben der Propagierung dieser einigen Regionen, sondern weltweit verwirklicht werden hehren Ziele im internationalen Bereich auch national sollen. Es sind sowohl enorme Eigenanstrengungen der Ihre Hausaufgaben zu machen. Dazu fordern wir Sie auf; Länder notwendig, die von Hunger und Elend betroffen CDU und CSU werden Sie dabei weiter kritisch be- sind; aber mindestens genauso wichtig sind grundle- gleiten, möglicherweise auch – der Redner der FDP ist gende Reformen auf internationaler Ebene. Wir brau- mittlerweile auch eingetroffen – die gesamte Opposition. chen eine Globalisierung, bei der es nicht nur um Profit- Herzlichen Dank. maximierung für die transnationalen Konzerne geht, sondern um eine Weltwirtschaftsordnung mit stabilen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sozialen und ökologischen Leitplanken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und bei der SPD) Bevor dieser nun das Wort erhält, ist aber zunächst der Kollege Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grünen an Die WTO-Verhandlungen stecken in der Krise. Vor der Reihe. allem die USA, aber auch die Europäische Union muss sich bewegen, besonders beim Subventionsabbau; sonst (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt haben wir uns so kann die Doha-Runde ihrem Anspruch, Entwicklungs- darauf gefreut!) runde zu sein, nicht gerecht werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4431

Thilo Hoppe (A) Um die Millenniumsziele zu erreichen, bedarf es gro- dass die Menschheit überleben kann, gibt es aber keine (C) ßer Anstrengungen und Aktivitäten in vielen Bereichen. Alternative. Ich möchte angesichts meiner kurzen Redezeit nur zwei Ich danke Ihnen. Bereiche herausstellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erstens: zum Energiebereich. Es gibt Entwicklungs- und bei der SPD) länder, die mittlerweile 80 bis 100 Prozent ihrer gesam- ten Exporterlöse für die Einfuhr von fossilen Energieträ- gern, also für Erdöl und Gas, ausgeben. Der Ölpreis wird Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: weiter steigen. Die Preise für Nichtenergierohstoffe, also Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Markus für Produkte, die die meisten Entwicklungsländer expor- Löning, FDP-Fraktion. tieren, sind in den letzten 20 Jahren um rund 50 Prozent gefallen. Daran wird deutlich, dass die Abhängigkeit Markus Löning (FDP): vom Öl für viele Entwicklungsländer zu einer furchtba- ren Armutsfalle geworden ist. Daraus folgt, dass auch im Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit eine Politik unterstützt das Millenniumsentwicklungsziel, die abso- weg vom Öl und hin zu den erneuerbaren Energien von lute Armut in der Welt bis 2015 zu halbieren, selbstver- ganz zentraler Bedeutung ist. ständlich; denn ein Leben ohne Armut und ein Leben ohne Hunger ist ein Leben in Würde. Es ist das Ziel je- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Entwicklungspolitik, ein solches Leben für die Men- und bei der SPD) schen in den Entwicklungsländern zu erreichen. Ich freue mich, dass in genau einem Jahr – im Juni (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nächsten Jahres – die große Weltkonferenz zum Thema der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- erneuerbare Energien hier in Deutschland stattfindet und SES 90/DIE GRÜNEN) dass sich bereits jetzt, im Vorfeld dieser Konferenz, inte- ressante Kontakte zwischen der Bundesregierung und Sie setzen allerdings mit diesem Antrag aus unserer vielen Entwicklungs- und Schwellenländern anbahnen. Sicht falsche Prioritäten, Sie setzen falsche Akzente an So wird beispielsweise zwischen Brasilien und Deutsch- dieser Stelle. Ich will anhand von drei Beispielen versu- land über eine strategische Partnerschaft auf diesem Ge- chen, das deutlich zu machen. biet geredet. Eine Delegation aus Brasilien war jetzt so- Eines der wichtigsten Entwicklungsziele, die in den gar in meiner Heimatregion, in Ostfriesland, und hat sich Millennium Development Goals genannt werden, ist die dort über die Anwendung der Windenergie informiert Bekämpfung von Aids. In Ihrem Papier taucht zwar das (B) und viele Anregungen mit nach Hause genommen. Wort „Aids“ auf; in den 17 – ich betone: 17 – konkreten (D) Forderungen, die Sie stellen, taucht die Aidsbekämpfung Zweitens: zum Bereich Landwirtschaft. Um die Zahl aber nicht auf. der Hungernden deutlich zu senken, brauchen wir keinen genmanipulierten Mais, also nicht die Art von Nah- (Dirk Niebel [FDP]: Pfui!) rungsmittelhilfe, die momentan durch George Bush pro- pagiert wird, sondern wir brauchen Strukturreformen im Ich weiß nicht, ob das vorauseilender Gehorsam gegenü- internationalen Agrarhandel und eine Trendwende in der ber der Bundesregierung ist, die sich an dieser Stelle bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammen- nicht gerade mit Ruhm bekleckert, da sie die zugesagten arbeit, hin zu einer stärkeren Förderung des ländlichen Mittel an den globalen Aidsfonds nicht fließen lässt Raumes. (Dirk Niebel [FDP]: Unglaublich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und da sie jetzt – wir haben es gerade wieder erlebt – sowie bei Abgeordneten der SPD) blockiert, dass aus Europa 1 Milliarde Euro an zusätzli- chen Mitteln für die Bekämpfung von Aids zur Verfü- Dort leben mehr als 70 Prozent – fast 80 Prozent – der gung gestellt werden. Die FDP fordert die Regierung Hungernden, aber dort liegt auch das Potenzial, durch und die sie tragenden Fraktionen auf: Sorgen Sie dafür, eine nachhaltige und angepasste Landwirtschaft die Ver- dass dieses Geld fließt, damit Aids gerade im südlichen sorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu Afrika wirkungsvoller bekämpft werden kann! sichern und regionale Märkte wieder aufzubauen und zu stärken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aids ist dort eine der wichtigsten Ursachen für die Ar- sowie bei Abgeordneten der SPD) mut. Sowohl in der Energiepolitik als auch in der Agrarpoli- Es gibt noch andere Punkte, die ich erwähnen möchte. Sie tik gilt, dass wir nur dann die Länder des Südens davon setzen sich sehr unkritisch mit dem Thema Entschuldung überzeugen können, hier Reformen in Angriff zu nehmen, auseinander. Herr Hoppe, Sie haben vorhin die Tobin- wenn wir selber mit gutem Beispiel vorangehen. Ener- Tax angesprochen. Sie sollten sich einmal anschauen, giewende – weltweit und bei uns! Agrarwende – weltweit was passiert ist. Man muss doch aus dem, was geschehen und bei uns! Das haben wir uns vorgenommen. Auf die- ist, Lehren ziehen und versuchen, es in Zukunft besser sem Weg gibt es natürlich viele Hindernisse. Zu diesem zu machen. Sie können doch nicht einfach sagen, dass es Weg, nämlich Politik so zu gestalten und so zu leben, so, wie es in Bolivien gelaufen ist, auch in Zukunft 4432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Markus Löning (A) laufen soll. Es hilft den Armen dort nicht und kostet den gen, dass Sie die Signale der letzten Tage nicht vernom- (C) deutschen Steuerzahler viel Geld. Das muss anders, men haben. Das will ich Ihnen erläutern. nämlich besser geregelt werden. Die Wahrheit ist letztendlich konkret. Bei der Ausein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten andersetzung mit den Millenniumszielen täte es viel- der CDU/CSU) leicht gut, sich daran zu erinnern, was wir gestern im Ausschuss zu dem gesamten Komplex der Afrikapolitik Das Wichtigste ist: In dem gesamten Antrag wird erfahren haben. Ich möchte mich ausdrücklich für den kein roter Faden und kein Konzept deutlich. Es wird eine engagierten Vortrag bedanken, den Sie, Frau Staatssek- Vielzahl von Einzelforderungen aufgezählt. Aber auf die retärin Eid, dort gestern gehalten haben. wichtigen Forderungen, auf die es ankommt, wird kein Akzent gesetzt. (Ulrich Heinrich [FDP]: Den haben wir auch unterstützt! Der Vortrag war gut! Nur die Poli- Es kommt eben darauf an, Rechtsstaatlichkeit und tik ist schlecht!) Demokratie zu fördern. Es kommt darauf an, in den Ent- wicklungsländern Bildung und Ausbildung zu ermögli- – Ja, den Vortrag haben Sie unterstützt. Auch er gehört in chen. Es kommt auch – Herr Hoppe, das ist so, so Leid den Kontext der Millenniumsziele. es mir tut – auf Marktwirtschaft und freien Handel an. Ausgehend von den MDGs müssen wir uns damit Ich erinnere zum Beispiel an die Gespräche mit dem Di- auseinander setzen, dass wir speziell im Bereich von rektor des UNDP, der diese Punkte deutlich genannt hat. Subsahara-Afrika Probleme haben. Da stellen sich natür- Das sind die Säulen für Entwicklung. Es bedarf eben lich die Fragen, die auch Sie formuliert haben: Sind die auch der Marktwirtschaft und des freien Handels. Ziele realistisch? Gibt es eine Chance? Überfordern wir Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, Herr Hoppe, muss uns nicht gegenseitig in dem, was wir da tun? ich Ihnen sagen: Das sind die Voraussetzungen dafür, Ich habe gestern deutlich verspürt – daran sollten wir dass sich die Länder der Dritten Welt ihren Wohlstand uns in der Entwicklungspolitik immer gegenseitig erin- aus eigener Kraft erarbeiten können. nern –, dass es sich um das Bohren dicker Bretter und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) um einen langfristigen Prozess handelt, der unendlich viel Geduld erfordert. Der griechische Philosoph Epiktet Dafür setzen wir uns ein. Wir fordern Sie auf, das eben- falls zu tun. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wie heißt der?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hat uns folgende weise Erkenntnis mit auf den Weg ge- (B) geben: (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen Kollege Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion. über dieselben beunruhigen die Menschen. Auf die Entwicklungschancen Afrikas bezogen interpre- Siegmund Ehrmann (SPD): tiere ich dies so: Ja, es gibt Konflikte, die verabscheu- enswürdig ausgetragen werden. In manchen Regionen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe droht ein sozialer, humanitärer und ökologischer Kol- Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Brauksiepe und laps. Und dennoch: Afrika besinnt sich auf seine vorhan- Herr Löning, ich habe Sie während der Ausschussarbeit denen ökonomischen und intellektuellen Energien. als durchaus vernunftbegabte Menschen kennengelernt. Es wäre deshalb mehr als fahrlässig, die afrikanischen (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr richtig Millenniumsperspektiven ausschließlich aus dem ersten beobachtet!) Statusbericht des UN-Generalsekretärs abzuleiten und Aber hier habe ich nur rituelles Gemäkel bemerken kön- danach zu beurteilen. Was sich in den letzten Jahren in nen. Afrika auf der Ebene guter Regierungsführung entwi- ckelt hat – Herr Löning, damit sind wir bei den Aspekten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rechtsstaat und Menschenwürde –, ist eine gute Voraus- DIE GRÜNEN) setzung dafür, dass wir auf längere Sicht auch in Afrika Das hat mich doch sehr erstaunt. die ehrgeizigen Millenniumsziele erreichen. Ich will konkret werden. Wer hat denn dieses hetero- Auch der internationale Dialog mit und über Afrika gene Geflecht Ihrer bilateralen Aktivitäten strukturiert hat sich weiterentwickelt. Im Juli 2001 haben die G-8- und methodisch aufbereitet, um die Entwicklungszusam- Staaten in Genua auf die aus Afrika selbst erwachsene menarbeit sorgfältiger auszurichten? Reformbewegung NEPAD reagiert. Die afrikanische Selbstverpflichtung mit dem Bekenntnis zu tief greifen- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Was?) den wirtschaftlichen Reformen, zu Eigenverantwortung und zur Achtung universell gültiger Werte belegt die ge- Ich gebe Ihnen Recht, Herr Dr. Brauksiepe: Es gibt Pro- wachsene innerafrikanische Kooperationsfähigkeit. bleme, was die EZ der Europäischen Union anbelangt. Darüber haben wir gemeinsam diskutiert. Da Sie die Ge- Julius Nyerere hat den Begriff der Self-Reliance for- berkoordination angesprochen haben, muss ich Ihnen sa- muliert: Afrika mobilisiert eigene Energien und will Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4433

Siegmund Ehrmann (A) endgültig die langen Schatten des Kolonialismus, des Die europäische Biopatentrichtlinie von 1998 (C) Neokolonialismus und der Despotie hinter sich lassen. umsetzen Darauf aufbauend gibt es G-8-Aktionspläne. In Evian ist ein Statusbericht vorgestellt worden; weitergehende – Drucksache 15/1024 (neu) – Ziele sind verabredet worden. Dies alles zeigt: Es be- Überweisungsvorschlag: wegt sich etwas. Die Früchte des Ringens um eine gute Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Regierungsführung aus dem afrikanischen Kontext he- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und raus sind erkennbar. Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Dies wird von den Industriestaaten, von den G-8-Staa- Ausschuss für Bildung, Forschung und ten, aufgenommen und erwidert, indem wir etwas tun, Technikfolgenabschätzung was ich geradezu als Beleg für eine kohärente Außen-, Si- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union cherheits- und Entwicklungspolitik im internationalen ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Kontext bewerte. Wenn wir die afrikanischen Staaten be- Funke, Ulrike Flach, Daniel Bahr (Münster), wei- fähigen, eigene Konfliktlösungsmechanismen zu entwi- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ckeln und die Konfliktprävention auszubauen, und wir als Deutsche die Aktivitäten in der Entwicklungs- und Rechtssicherheit für biotechnologische Erfin- Bildungszusammenarbeit unterstützen, dann ist dies ein dungen durch schnelle Umsetzung der Biopa- sehr wichtiger Ansatz, an zentraler Stelle die afrikani- tentrichtlinie sche Stabilität demokratisch auszubauen, die Zivilgesell- schaft zu stärken und auf diese Art und Weise solche – Drucksache 15/1219 – Rahmenbedingungen zu entwickeln, dass die konkrete Überweisungsvorschlag: Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig Früchte trägt Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und nicht durch wetterwendische Despoten zum Schei- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und tern verurteilt ist. Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Insofern soll mit den Millenniumszielen eine wesent- Ausschuss für Bildung, Forschung und liche globale Herausforderung gestaltet werden. Eine Technikfolgenabschätzung gute Regierungsführung und die Entmilitarisierung von Ausschuss für Kultur und Medien Konfliktlösungen, das ist der Humus, der auch die Ent- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war wicklung in Subsahara-Afrika fördern wird. hierzu für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Herr Dr. Brauksiepe, gehen wir den bisherigen Ergeb- Die Kollegen Christoph Strässer, Helmut Heiderich, Pro- (B) nissen nicht rituell mäkelnd nach! fessor Maria Böhmer, Dr. Reinhard Loske, Ulrike Flach (D) und für die Bundesregierung Frau Ministerin Zypries ge- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt sind Sie ben ihre Reden zu Protokoll.1)) aber ungerecht! Jetzt sind Sie aber gemein!) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Gehen wir im Dialog mit den Partnern nach dem Motto: den Drucksachen 15/1024 (neu) und 15/1219 an die in „Stärken stärken und Schwächen schwächen – und das der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zu- mit Geduld und Optimismus“ vor, dann werden wir die sätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Probleme lösen und dann haben die Industriestaaten ei- Reaktorsicherheit vorgeschlagen. Die Vorlage auf nen wertvollen Beitrag dazu geleistet, die Entwicklungs- Drucksache 15/1219 im Rahmen des Zusatzpunktes 13 länder insbesondere im Gebiet Subsahara-Afrika auf ei- soll zusätzlich an den Ausschuss für die Angelegenhei- nem richtigen Weg zu begleiten. ten der Europäischen Union und – abweichend von der Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Tagesordnung – nicht an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden. Sind Sie einschließlich der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorgetragenen Änderungen damit einverstanden? – DIE GRÜNEN) Auch das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Ich schließe die Aussprache. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform Drucksache 15/1005 an die in der Tagesordnung aufge- des Geschmacksmusterrechts (Geschmacksmus- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- terreformgesetz) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Drucksache 15/1075 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 mit dem Überweisungsvorschlag: Zusatzpunkt 13 auf: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Heiderich, Dr. Norbert Röttgen, Dr. Maria Landwirtschaft Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU 1) Anlage 4 4434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Auch hierzu ist interfraktionell eine Aussprache von füllen eigenständig – losgelöst vom Gesamtdesign des (C) 30 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Wider- Fahrzeugs – die Voraussetzungen des Schutzes als Ge- spruch. Dann haben wir das so beschlossen. schmacksmuster. Diese Rechtslage hat sich bei uns sehr gut bewährt. Sie hat einen freien Ersatzteilmarkt in Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Deutschland ermöglicht. Diese Tätigkeit, die vor allen Bundesministerin der Justiz, Frau Zypries. Dingen den Mittelstand betrifft, wollen wir erhalten. Das ist das Ziel unseres Gesetzentwurfes. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Ausdrücklich unterstützen uns darin zum Beispiel der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Verband der Automobilindustrie und der BDI. ren Kollegen! Eigentlich ist es schade, dass wir um diese Uhrzeit zu diesem Thema debattieren. Denn parallel (Rainer Funke [FDP]: Wen wundert das?) hierzu findet die Veranstaltung „100 Jahre Marken- – Das wundert uns nicht. Aber es ist ja auch vernünftig. verband“ statt, von der ich gerade komme. Leider Warum sollten sie uns bei vernünftigen Sachen nicht un- musste ich vorzeitig – genauer gesagt: nach einer halben terstützen? Stunde – gehen. In gewisser Weise ist die Marke ja die Schwester des Geschmacksmusters. Die beiden haben (Beifall bei der SPD) eine Menge miteinander zu tun. Ich stehe hier am Ge- Die Automobilhersteller haben uns darüber hinaus schmacksmuster Pult. Eine Marke wäre das, wenn es als klar und eindeutig versichert, dass sie dem freien Handel solche geschützt wäre; ich weiß nicht, ob das der Fall ist. und Vertrieb keine Marktanteile durch unangemessene Das Markenrecht wird heute 100 Jahre alt. Ähnlich alt Inanspruchnahme von Schutzrechten streitig machen ist das Geschmacksmusterrecht. Seit 1876 gibt es in werden. Wir haben, meine Damen und Herren von der Deutschland ein Gesetz betreffend das Urheberrecht an Opposition, in der Vergangenheit mit solchen Abspra- Mustern und Modellen. Damals war das ein sehr zu- chen gute Erfahrungen gemacht. Die Balance, die sich in kunftsweisendes Gesetz. 1998 hat die Europäische den vergangenen Jahren zwischen Autoindustrie und Union erkannt, dass Deutschland das alles recht ordent- freien Ersatzteilherstellern entwickelt hat, kann fortbe- lich gemacht hat. Sie hat eine Richtlinie erlassen, die im stehen. Sie hat in der Vergangenheit funktioniert. Warum Wesentlichen das deutsche Recht aufgenommen hat. sollten wir annehmen, dass sie künftig nicht mehr funktio- Diese Richtlinie setzen wir jetzt mit dem eingebrachten nieren wird? Gesetzentwurf um. Sicherlich auch deshalb ist er von ei- Wir haben deshalb in dem vorliegenden Gesetz hin- nem relativ breiten Konsens getragen. Denn wir bleiben sichtlich des Schutzes von Ersatzteilen die Fortgeltung im Wesentlichen bei dem Recht, das wir in der Vergan- der alten Rechtslage vorgesehen. Die Richtlinie sieht (B) genheit gehabt haben. (D) vor, dass spätestens im Jahre 2005 eine gemeinschafts- Es werden – das zeigt, wie akzeptiert das Ge- weite Regelung verabschiedet werden soll. Bis dahin schmacksmusterrecht in Deutschland ist – im Durch- lassen wir die Entwicklung offen. Sie ist auch in ganz schnitt jährlich 60 000 Muster oder Modelle beim Deut- Europa offen. schen Patent- und Markenamt als Geschmacksmuster (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das stimmt angemeldet. Diese Zahlen belegen die erhebliche wirt- nicht! Nur die Hälfte der Länder hat einen schaftliche Bedeutung des Geschmacksmusterschutzes. Schutz!) Die Änderungen, die wir aufgrund der Richtlinie vor- – Darüber können wir vielleicht im Ausschuss diskutie- nehmen, sind relativ marginal. Zum Beispiel verlängern ren. wir die Schutzdauer von derzeit maximal 20 Jahren um fünf Jahre auf dann höchstens 25 Jahre. Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Entwicklung selbstverständlich – wie wir es auch sonst tun – beo- Die Verbände, die Organisationen und die übrigen in- bachten werden. Wir werden sehen, ob es notwendig ist teressierten Kreise haben den Gesetzentwurf sehr be- zu reagieren. Gegebenenfalls würden wir – das haben grüßt. Auch die Reaktionen auf unsere Antwort zum wir schon einmal getan – unsere Haltung überprüfen. Thema „Schutz von Ersatzteilen“ sind insgesamt gut Zunächst gilt aber: Lieber keine Gesetze machen, son- und ermutigend. Sie wissen sicher, dass die Frage des dern freiwillige Übereinkünfte und Absprachen treffen. rechtlichen Schutzes von Bauteilen eines komplexen Er- zeugnisses – natürlich ist dies vor allen Dingen bei den (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Lieber mit Kraftfahrzeugersatzteilen wichtig – der schwierigste Teil der Industrie verhandeln!) dieser Reform ist. Ausgerechnet zu diesem Thema ent- Sie wissen, dass das für alle Beteiligten besser ist. Wir hält die Richtlinie keinerlei Vorgaben. Sie räumt den wollen Gesetze schließlich nur dann machen, wenn sie Mitgliedstaaten vielmehr die Möglichkeit ein, die in ih- wirklich nötig sind. rem Bereich bestehenden Rechtsvorschriften zunächst beizubehalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In Deutschland sieht das geltende Geschmacksmus- tergesetz keine Einschränkungen des rechtlichen Schut- Ich gehe davon aus, dass wir über den von uns vorge- zes von Ersatzteilen vor, sodass zum Beispiel Einzelteile schlagenen Gesetzentwurf im Rechtsausschuss diskutie- einer Fahrzeugkarosserie wie der Kotflügel oder die Mo- ren werden und uns in dem von uns vorgeschlagenen torhaube geschützt werden können, vorausgesetzt, sie er- Sinne verständigen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4435

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Der Regierungsentwurf tut gut daran, dem europäi- (C) Stunde. schen Vorbild der EU-Verordnung in fast allen Punkten zu folgen. In einem entscheidenden Punkt tut er das aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht: Anders als die EU-Verordnung enthält er keine DIE GRÜNEN) Reparaturklausel für die Hersteller und Händler von Ersatzteilen. Während sich die Europäische Union bei Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ihrer Verordnung ebenso wie die Mehrzahl der Mitglied- Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings staaten, die die Richtlinie bereits umgesetzt haben, für für die CDU/CSU-Fraktion. die rechtliche Absicherung des freien Ersatzteilemarktes entschieden haben, ermöglicht der Entwurf der deut- schen Bundesregierung weiterhin die Bildung von Mo- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): nopolen. Damit setzt er in zentraler Hinsicht ein falsches Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Signal. Herren, die Sie trotz des Sommerfestes der Parlamentari- schen Gesellschaft ausgeharrt haben! Der eine oder an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dere unserer Fraktionskollegen wäre vielleicht aus Neu- Es geht hier um die Frage, welchen rechtlichen gier zu dieser Debatte gekommen, als er das Stichwort Schutz ein Einzelelement in einem komplexen Gesamt- „Geschmacksmusterrecht“ auf der Tagesordnung dieser produkt erfährt. Spannend wird das natürlich – wie Woche sah, weil er dabei vermutlich eher an Lebensmit- könnte es anders sein? – bei Ersatzteilen von Kraft- telpolitik dachte. Wir konnten die Kollegen inzwischen fahrzeugen. Nicht etwa der Wortlaut des geltenden Ge- aufklären: Es geht hier um ein wesentliches Immaterial- schmacksmustergesetzes, sondern lediglich ein nicht un- güterrecht unserer Rechtsordnung, um den Schutz von umstrittenes Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Design. Jahre 1986 hat den Weg dafür geebnet, dass jetzt in In einer Konsumgesellschaft, die Produkte nicht nur Deutschland vermehrt Scheinwerfer, Karosserieteile, nach ihrer Funktionalität, sondern auch nach ihrem Aus- Fensterformen und andere Gestaltungselemente von Au- sehen bewertet, ist der Schutz eines bestimmten Designs tos geschmacksmusterrechtlich in München angemeldet von entscheidender wirtschaftlicher und ideeller Bedeu- werden. Die deutsche Rechtslage droht von der europäi- tung. Auch eine bestimmte Formgebung ist geistige schen wegzudriften, eine nicht gute Entwicklung. Schöpfung. Design ist sozusagen Kunst, die sich nütz- Entscheidet sich ein deutscher oder ausländischer Auto- lich macht. Schon von daher hat der Entwerfer eines hersteller, den mit Gebühren in München erkauften De- Musters ebenso wie der Urheber oder der Erfinder An- signschutzauch auszuüben, so ist die Folge vorprogrammiert: (B) spruch auf Schutz durch unsere Rechtsordnung. Wir be- Er wird, sozusagen über Nacht, seinen Ersatzteilmarkt mo- (D) grüßen es deshalb ganz ausdrücklich, dass gemäß § 10 nopolisieren und der Verbraucher ist ab dem Kauf eines des Gesetzentwurfes nunmehr erstmalig auch dem Ent- Fahrzeugsseinem Produzenten auf Gedeih und Verderb aus- werfer das Recht eingeräumt wird, im Rahmen der An- geliefert, weil er alternative Produkte eben nicht mehr be- meldung genannt und gewürdigt zu werden. kommen kann. Das verstehen wir als CDU/CSU nicht unter Dieser Gesetzentwurf setzt die im Jahre 1998 erlas- Verbraucherschutz. sene Richtlinie der EU – Frau Ministerin, Sie wiesen (Beifall bei der CDU/CSU) darauf hin – über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen um. Leider müssen wir übermorgen, am Meine Damen und Herren, lieber Kollege Samstag, ein wenig schönes Jubiläum begehen. Dann Manzewski, wir wissen und Sie wissen aus der Urheber- wird die Umsetzungsfrist für diese Richtlinie nämlich rechtsdebatte, dass ich mich für den Schutz geistigen um exakt 20 Monate überschritten sein. Eigentums sehr engagiere. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Diese Jubi- (Dirk Manzewski [SPD]: Jetzt kommt das läen häufen sich!) schlechte Gewissen!) Ich engagiere mich für den Schutz geistigen Eigentums, Das halte ich – um beim Thema zu bleiben – für alles an- aber nicht für den Schutz von Monopolrenten. Darum dere als mustergültig. Deutschland ist offenbar wieder geht es an dieser Stelle. Das Auto unterscheidet sich von dabei, einen europäischen Spitzenplatz zu erobern – lei- der Musik und vom Buch dadurch, dass es bei der Musik der allerdings nur, was die Überschreitung der Umset- und beim Buch keinen Ersatzteilemarkt gibt. Wenn zungsfristen von EU-Recht angeht. meine Musik-CD defekt ist, kaufe ich eine neue. Ist aber Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, mein Auto defekt, beispielsweise der Außenspiegel ab- über die Ausgestaltung des Geschmacksmusterschutzes gebrochen, kaufe ich normalerweise kein neues Auto aber schon; denn daran hängen Unternehmen, Arbeits- und entsorge das alte, sondern lasse den Spiegel reparie- plätze und Verbraucherinteressen in Deutschland. Derje- ren. nige, der in Deutschland ein Geschmacksmuster anmel- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den will, hat die Wahl, ob er das beim europäischen NEN]: Es gibt noch mehr Unterschiede!) Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt in Alicante oder beim Deutschen Patent- und Markenamt in Mün- Für Ersatzteile, für die es aus technischen Gründen chen tut. Im ersten Fall gilt die Geschmacksmusterver- keine Designalternative gibt, enthalten die deutsche ordnung der Europäischen Union. und die europäische Rechtsordnung aus gutem Grund 4436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Dr. Günter Krings (A) die Aussage: keine Designalternative – kein Schutz. nungssicherheit bieten Sie, meine Damen und Herren (C) Wenn Sie, etwa nach einem Unfall, den linken Kotflügel hier links im Saal, eigentlich den mittelständischen Er- Ihres Autos austauschen müssen, sind technisch viele satzteileproduzenten für ihre Investitionen, wenn Sie Möglichkeiten denkbar. Ich bin aber überzeugt, dass je- ihre Geschäftstätigkeit vom guten Willen der Automo- dermann hier im Saal niemals einen linken Kotflügel bilhersteller abhängig machen wollen? einbauen ließe, dessen Design nicht dem des rechten Kotflügels entspricht. Ich darf mit einer Bitte schließen, die ich vor allem an die Verbraucherschutzpolitiker der Koalition richte: ( [CDU/CSU]: Das würden nicht mal Ignorieren Sie nicht die Problematik des Geschmacks- Frauen tun!) musterrechts. Nicht nur die Lebensmittelbranche, son- dern auch die Autobesitzer in Deutschland verdienen Jeder wird auf ein Produkt zurückgreifen, das wie das Ihre Aufmerksamkeit. 47 Millionen Verbraucher profi- Original aussieht. Es gibt also praktisch und ökonomisch tieren von der Möglichkeit der Auswahl unter verschie- keine Alternative. Deshalb verstehen wir nicht, warum denen Produkten, nicht nur beim Kauf, sondern auch bei nicht auch hier der Grundsatz gilt: keine praktische der Reparatur ihrer Wagen. Designalternative – kein Schutz. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nun wissen wir, dass der amtierende Bundeskanzler sich besonders wohl fühlt in der Nähe der Automobilin- dustrie. Das ist an sich an dieser Stelle nicht zu kritisie- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ren. Allerdings kritisieren wir, wenn ein Autokanzler Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Schröder diese Chance der ersten grundlegenden Bündnis 90/Die Grünen. Neufassung des Geschmacksmusterrechts nach 125 Jah- ren verstreichen lässt, ohne der Ersatzteileindustrie endlich Planungssicherheit für ihre Investitionen zu ge- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben. Diese Chance wird vertan, aber das werden wir als Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Ihrer Opposition so nicht durchgehen lassen. Bemerkungen zu der Rede der Frau Ministerin verdienen Erwähnung. Die Frau Ministerin hat gesagt, dass wir für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieses Gesetz von der Automobilindustrie gelobt wer- Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu der Aus- den. Das fanden Sie unanständig. Ich hoffe, dass sich die sage der Regierung – Frau Ministerin, Sie haben das Automobilindustrie das merkt. (B) freundlicherweise selbst schon vorgetragen, ich wieder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) hole es trotzdem –, die Automobilindustrie habe ihr, der und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/ Bundesregierung, gegenüber – ich zitiere wörtlich aus CSU]: Das haben wir nicht gesagt!) dem Gesetzentwurf – „klar und eindeutig erklärt, dass es ihr nicht darum geht, den Wettbewerb und den Ersatz- Unsere Überlegungen, zuerst auf den freien Markt teilmarkt zum Nachteil der Ersatzteilehersteller und des und auf Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zu setzen, Handels zu beeinträchtigen.“ quittieren Sie damit, dass Sie nach einem Gesetz rufen. Das werden wir Ihnen in den Wirtschaftsdebatten der Es geht ihr also nicht darum, aber wenn es passiert, ist kommenden Wochen entgegenhalten können. Es war es wahrscheinlich einfach Pech für den Ersatzteilehan- eine interessante Erfahrung, das von Ihnen zu hören. del. Im Klartext soll das wohl heißen: Die Automobilin- dustrie will von dem gesetzlichen Musterschutz eigent- Zur Sache. Das Geschmacksmustergesetz stammt lich keinen Gebrauch machen. – die Ministerin hat es ausgeführt – aus dem Jahre 1876. Ihm haftet durchaus nicht der Ruf eines gesetzgeberi- Als Rechtspolitiker habe ich meine Probleme damit, schen Jahrhundertwerkes an. Es gilt in der Praxis als an- wenn die Bundesregierung uns einen Musterschutz für tiquiert und unübersichtlich und war den europäischen Ersatzteile vorschlägt und ihn damit rechtfertigt, die In- Anforderungen nicht gewachsen. Deswegen ist es zu be- dustrie wolle ihn ja gar nicht nutzen. grüßen, dass die Bundesregierung die EU-Richtlinie (Dirk Manzewski [SPD]: So etwas gibt es über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen schon!) zum Anlass genommen hat, das Gesetz zu modernisie- ren. Das Versprechen seiner Nichtanwendung, egal ob es sich um ein altes oder ein neues Gesetz handelt, ist im- Ich persönlich hätte mir auch eine Modernisierung mer eine denkbar schlechte Begründung für ein Gesetz, des Titels gewünscht. Es wäre vielleicht besser gewesen, unabhängig von der bisherigen oder zukünftigen Rechts- anstatt von Geschmacksmuster von einem Design- oder lage. In ein neues Gesetz sollten wir Rechte, die niemand Gestalt- und Formenmuster zu sprechen. Aber das nur haben will, auch nicht hineinschreiben. am Rande. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch die deutsche Sprache muss geschützt werden!) Der von mir eben zitierte Satz aus der Vorlage ist we- nig geeignet, uns zu beruhigen; er stimmt uns in der Tat Das Gesetz wird Innovation und Kreativität in der eher misstrauisch. Ich frage: Welche Rechts- und Pla- Produktgestaltung fördern, indem es durch einen weiten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4437

Jerzy Montag (A) Schutzumfang die notwendigen Anreize schafft. Ich will nationale Gesetzgeber, auch in Deutschland, das Ge- (C) einige Beispiele dazu nennen: schmacksmusterrecht in eine vereinheitlichte Form brin- gen. Es ist sicherlich richtig, dass der Gesetzgeber beob- Das neue Geschmacksmusterrecht stärkt die Rechts- achten muss, ob die Selbstverpflichtung des Marktes stellung des Rechteinhabers. Er erhält ein Ausschließ- und der Automobilindustrie, diese Schutzrechte nicht lichkeitsrecht, darf alleine über sein Muster verfügen und es wirtschaftlich verwerten. Damit wird der Schutz- vermehrt in Anspruch zu nehmen, eingehalten wird; das umfang, verglichen mit dem bisherigen Schutz vor werden wir auch tun. Herr Kollege Dr. Röttgen, wenn es Nachahmung, erweitert. hier zu dramatischen Änderungen kommt, dann werden wir – da können Sie sich sicher sein – schneller sein als Die Höchstschutzdauer wird von 20 auf 25 Jahre ver- Sie und die Maßnahmen ergreifen, die nötig sind, um längert. den Ersatzteilemarkt zu schützen. Bei der Beurteilung der Neuheit und der Eigenart des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Musters bleiben künftig nicht sechs, sondern zwölf Mo- und bei der SPD) nate vor der Anmeldung außer Betracht. Dies schützt den Entwerfer vor missbräuchlichen Handlungen Dritter Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeu- in dieser Zeit. gung, dass das vorliegende Gesetz Innovation und Krea- tivität bei der Produktgestaltung fördern wird. Es wird Das Merkmal der Eigentümlichkeit des Erzeugnisses jetzt an den kreativen Gestaltern und Designern liegen, wurde durch das Merkmal der Eigenart ersetzt. Damit die Rechte, die durch das Gesetz gewährt werden, in An- wird es für eine Rechtsbegründung ausreichend sein, spruch zu nehmen und so bei diesem Gesetz im wahrsten wenn noch kein identisches Muster offenbart worden ist. Sinne des Wortes auf den Geschmack zu kommen. Das ist zu begrüßen; denn die schützenswerte Innovation beginnt jetzt da, wo eine gestalterische Neuheit geschaf- Danke schön. fen wird, ohne dass daran überzogene Anforderungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt werden. und bei der SPD) Das Geschmacksmusterrecht wird sich mit dem vor- liegenden Gesetz zu einem eigenständigen gewerblichen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Schutzrecht emanzipieren. Das Gesetz ist aber auch des- Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDP- wegen zu begrüßen, weil es Rechtsklarheit schafft. Es Fraktion. enthält Legaldefinitionen für wichtige Begriffe wie Mus- ter, Erzeugnis und andere. Es befähigt damit die vom Gesetz betroffenen Personen, die Schutzrichtung des Ge- Rainer Funke (FDP): (B) (D) setzes konkret und klar zu ermessen. Es ist deswegen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses anwenderfreundlich. Gesetz ist trotz des etwas altertümlichen Namens wirt- Dies alles erwähne ich, um klar zu machen, dass es schaftspolitisch sicherlich ganz besonders wichtig. Hier nicht nur um die Reparaturklausel geht, über die es in geht es unter anderem darum, einen Milliardenmarkt den letzten Wochen Auseinandersetzungen gegeben hat. zu verteidigen bzw. aufzuteilen. Damit bin ich bei dem Thema Reparaturklausel, zu dem In meinen Augen kommt diese Reform viel zu spät. auch ich einiges sagen will. Der Gesetzentwurf enthält Wir diskutieren über dieses Gesetz schon „seit Jahren- tatsächlich keine Reparaturklausel. Deswegen können den“, wie wir in Hamburg sagen würden. Wegen der Re- äußerlich sichtbare Ersatzteile eines Autos auch weiter- paraturklausel wurde darüber bereits in den Jahren 1994 hin als Geschmacksmuster geschützt werden. bis 1998 intensiv mit der Europäischen Union diskutiert. In der Diskussion um die Reparaturklausel werden Diese Reparaturklausel war in der Bundesregierung im- die Ersatzteilehersteller nicht müde, zu betonen, dass mer streitig. Die Haltung richtete sich immer danach, ob durch diese gesetzgeberische Entscheidung der freie Er- darüber im Bundeswirtschaftsministerium oder im Bun- satzteilemarkt zerstört werden würde. desjustizministerium verhandelt wurde. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist das Das Bundesjustizministerium hat bis zur jetzigen Vor- auch!) lage durch die Ministerin immer die Auffassung vertre- ten, dass der Mittelstand und die Teileverkäufer aus ord- Das ist alleine schon deswegen nicht richtig, weil das nungspolitischen Gründen besonders geschützt werden Gesetz überhaupt keine Änderung der Rechtslage vor- müssen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat immer sieht. die Interessen der geringen Zahl an Großbetrieben auf In diesem Gesetz gibt es keine Regelung für das auch diesem Gebiet vertreten. Nunmehr ist das BMJ offen- bisher ungelöste Problem. Die Interessenvertreter des sichtlich dem Drängen des Bundeswirtschaftsministers Großhandels für Kfz-Teile beziffern ihren Anteil an dem erlegen. Es hat ein Geschmacksmustergesetz vorgelegt, entsprechenden Markt selber zurzeit mit 40 Prozent. das mit der Reparaturklausel nichts im Sinn hat. Deswegen vermag ich auch nicht zu erkennen, warum Wenn keine Reparaturklausel in dieses Gesetz aufge- der Ersatzteilemarkt durch das Gesetz nachteilig verän- nommen wird, dann werden wir von der FDP es aus ord- dert oder zerstört werden sollte. nungspolitischen Gründen – wir wollen nämlich den Mittelstand schützen – ablehnen, Der Verzicht ist ja auch nicht endgültig. 2005 wird die Kommission dazu Stellung nehmen. Dann wird der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 4438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Rainer Funke (A) obwohl es sonst, Frau Ministerin, durchaus unsere Zu- – Sie werden sich wundern, wie diese Verbände in der (C) stimmung finden könnte; denn es enthält in der Tat eine Anhörung, die wohl bald stattfinden wird, reagieren wer- Reihe von guten Regelungen. Die grundlegende Frage den. Es wäre schön gewesen, Kollege Krings, wenn Sie der Reparaturklausel ist aber nicht geregelt. Aus diesem die Behauptungen nicht einfach übernommen, sondern Grunde müssen wir dieses Gesetz ablehnen. auch überprüft hätten. Dann ergibt sich nämlich eine et- was andere Rechtslage. Die Bundesregierung verweist auf die Zusage der Au- tomobilhersteller. Es wird zum Beispiel vom GVA behauptet, dass die Reparaturklausel im Widerspruch zur Gruppenfreistel- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungsverordnung der EU im Kraftfahrzeugsektor stehe. NEN]: Denen trauen Sie nicht, gell?) – Ich habe keine Zweifel, dass sie durchaus in der Lage (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das habe ich sind, eine solche Vereinbarung einzuhalten. Diese Ver- nicht vorgetragen!) einbarung könnte man aber doch auch in Gesetzesform – Kollege Krings, ich habe gesagt, dass dies von der gießen. GVA, vorgebracht wird, nicht, dass Sie es vorgetragen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hätten. Diese Behauptung ist völliger Quatsch, weil das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat. Bei Ich sehe überhaupt nicht ein, warum das nicht geschieht. der Gruppenfreistellungsverordnung der EU geht es al- Es muss andere Gründe dafür geben, dass die Reparatur- lein um Wettbewerbs- und Kartellrecht. Es wird über- klausel nicht in Gesetzesform gegossen worden ist. Das haupt keine Aussage zum geistigen Eigentum gemacht. macht mich natürlich sehr skeptisch. Sie haben eine weitere Behauptung übernommen, Sie sprechen immer von einer Art Revisionsklausel Kollege Krings. Sie haben erklärt, die Einheitlichkeit der für das Jahr 2005. Das stimmt nicht ganz. Wenn Sie die EU-Rechtsordnung sei gefährdet, weil die Gemein- Richtlinie der EU lesen, stellen Sie fest, dass die Zeitbe- schaftsgeschmacksmusterverordnung eine entsprechen- fristung für das Jahr 2005 vom Jahr 2001 an zählt. Es de Klausel enthalte. Das stimmt nicht. geht also um eine Revisionszeit von vier Jahren. Da aber diese Richtlinie bisher noch nicht von allen umgesetzt (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Art. 110!) worden ist, wird diese Revisionsklausel allenfalls im Jahr 2007 zur Anwendung kommen. Ich meine, dass die – Lassen Sie uns darüber diskutieren. Diese Verordnung Zeit bis dahin vertan wird. enthält keine Reparaturklausel. Kollege Krings, Sie müs- sen bedenken, die Gemeinschaftsgeschmacksmusterver- (B) Herr Montag, Sie hören doch sonst immer auf die ordnung – auch auf EU-Ebene gilt nämlich vorrangiges (D) Verbraucherschutzverbände. Sie wissen doch, dass der Recht – ist gegenüber der Richtlinie nachrangig. In der ADAC und andere Verbraucherschutzverbände die Re- Richtlinie wird aber über die Reparaturklausel nicht ent- paraturklausel fordern. Wir sollten im Rechtsausschuss schieden. Daher sind auch in der Gemeinschaftsge- hierüber etwas intensiver diskutieren. Vielleicht kom- schmacksmusterverordnung dazu keine Regelungen ge- men wir dann zu einem vernünftigen Ergebnis. troffen worden. Es wird abgewartet, was auf der Ebene des höherrangigen Rechts beschlossen wird. Die Ent- Vielen Dank. scheidung, abzuwarten, was in der Richtlinie im (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jahr 2005 entschieden wird, war vernünftig. Kollege Krings, Sie haben wahrscheinlich etwas Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: falsch verstanden. Da ein Gemeinschaftsgeschmacks- Nächster Redner ist der Kollege Dirk Manzewski für muster innerhalb der gesamten EU Geltung hätte, sollen die SPD-Fraktion. Ersatzteile aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Beurteilung, die auch Sie erwähnt haben, hiervon zu- nächst ausgenommen bleiben. Das ist vollkommen Dirk Manzewski (SPD): schlüssig. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat- tieren heute über das Geschmacksmusterreformgesetz. Nehmen wir einmal Ihr Beispiel auf: Sie melden in Im Grunde genommen ist bei diesem Gesetz – das hat Alicante ein Geschmacksmuster für einen Kotflügel an. man den Redebeiträgen entnehmen können – nur eine In der Konsequenz würde dieses Geschmacksmuster bei Frage streitig, und zwar die so genannte Reparaturklau- einem positiven Entscheid auch zum Beispiel in Groß- sel. Über die weiteren Maßnahmen streiten wir nicht. britannien Geltung haben. Sie wissen aber, dass in Groß- britannien bereits eine Reparaturklausel gilt. Da dies im Kollege Krings, ich hatte bei Ihrer Rede den Ein- Widerspruch zu dem Entscheid stände, wird in Art. 110 druck, als hörte ich einen Vortrag des Gesamtverbandes der Richtlinie geregelt, dass eine Entscheidung bis zum Autoteile-Handel. Sie haben im Grunde genommen das In-Kraft-Treten der Richtlinie abgewartet werden muss. vorgebracht, was der Verband in seinem an uns alle ge- Ansonsten funktioniert das Ganze nicht. So muss man richteten Schreiben gefordert hat. den Art. 110 interpretieren, nicht anders. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Und der ADAC (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und die Verbraucherschutzverbände!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4439

Dirk Manzewski (A) Mir ist offen gestanden völlig unverständlich, warum dieselbe durch eine Zusatzfrage des Kollegen Funke ver- (C) Sie die Reparaturklausel präferieren. Sie vertreten damit längern lassen? eine Maximalposition. Erst einmal hat der GVA – und Sie haben es auch so gesagt, so habe ich es jedenfalls Dirk Manzewski (SPD): verstanden, Kollege Krings – einfach behauptet, wir würden Designschutz schaffen. Der Kollege Montag Vom Kollegen Funke immer, weil ich dann noch die und die Ministerin haben darauf hingewiesen, dass wir Chance habe, etwas einzuflechten. diesen nicht zu schaffen brauchen, weil er bereits exis- tiert. Designschutz für Ersatzteile gibt es bei uns bereits. Rainer Funke (FDP): Das heißt, wir verändern am Status quo überhaupt nichts. Das ist momentan die Praxis. Herr Kollege, Sie sind, wenn ich das recht verstanden habe, bislang gegen Monopole. Meinen Sie nicht, dass Wie sieht es auf EU-Ebene aus? Wir haben dort völlig es vielleicht auch für den Verbraucher gut wäre, wenn er unterschiedliche Positionen. Auf der einen Seite ist nicht dem Monopol, Daimler-Benz beispielsweise, aus- Großbritannien, das als einziges Land die Reparatur- geliefert wäre, sondern für die Reparatur seines Fahr- klausel tatsächlich positivrechtlich verankert hat. Auf zeugs zwischen mehreren Lieferanten auswählen dürfte? der anderen Seite ist Frankreich, das momentan den um- fassendsten rechtlichen Schutz von Ersatzteilen hat. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz interessant ist es, dazu die Renault-Rechtspre- Seit wann ist Mercedes ein Monopol?) chung zu lesen. Wir müssen uns einmal vergegenwärtigen, um was es Dirk Manzewski (SPD): eigentlich in diesem Zusammenhang geht. Als Ge- Kollege Funke, ich würde da schon differenzieren. schmacksmuster wird, vereinfacht gesagt, die äußere Ich kann das nicht so stehen lassen, wie Sie das sagen. Formgebung von Erzeugnissen geschützt. Es geht hier Es ist ja auch vom Kollegen Krings behauptet worden, also um geistiges Eigentum. Sie haben immer nur die dass ein Monopol auf die Ersatzteilproduktion bestehen Wirtschaftsbelange angesprochen. Mich hat gewundert, würde, wenn wir diese Reparaturklausel nicht einführen dass Sie den Begriff des geistigen Eigentums hier über- würden. haupt nicht erwähnen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Richtig!) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Den habe ich auch erwähnt!) Das würde gegenüber den Einzelteilherstellern ausgenutzt Mir ist nicht klar, warum der Kotflügel eines fabrik- werden, was wiederum zu Arbeitsplatzverlust führen (B) neuen Fahrzeuges dem Schutz unterliegen soll, dieser würde. Der Kollege Montag hat aber schon darauf hinge- (D) Schutz aber bei einem unfallbedingten Ersatz verloren wiesen, dass gerade der boomende Ersatzteilhandel in gehen soll. Das ist für mich unter der Prämisse des geis- Deutschland genau das Gegenteil zeigt. tigen Eigentums nicht erklärlich. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben NEN]: So ist es!) schlecht zugehört!) Die Automobilhersteller, Kollege Funke, haben aus uns Sie mögen mir einmal – das werden Sie vielleicht Juristen bekannten Gründen kein großes Interesse – blei- nächste Woche tun, wenn wir im Rechtsausschuss darü- ben Sie bitte stehen, ich bin mit der Beantwortung der ber diskutieren – die Rechtssystematik dazu erklären, Frage noch nicht fertig; ich will das noch ein bisschen auch im Zusammenhang mit dem bisherigen deutschen ausnutzen, weil sonst meine Zeit abgelaufen wäre –, Geschmacksmusterrecht. (Heiterkeit im ganzen Hause) Sie verweisen einfach auf England oder andere Län- der. Ich empfehle Ihnen, sich anzuschauen, wie diese dieses geltend zu machen. Wir wissen doch, dass das Ge- Problematik dort geregelt ist. Wir können unsere Situa- schmacksmusterrecht – so deutlich muss man das sagen – tion nicht mit dem britischen Rechtssystem vergleichen. ein Anmelderecht ist. Es erfolgt keine Überprüfung. Dort sieht es völlig anders aus, Kollege Krings. Das ist Eine Überprüfung würde erst stattfinden, Kollege Funke, auch das große Problem der entsprechenden Richtlinien, wenn es tatsächlich zu einem Verfahren kommt. Das über die wir heute debattieren, weil die Systeme des heißt, dass es ganz schnell passieren kann, dass der Klä- Schutzes völlig unterschiedlich sind. Die Briten – das ist ger zum Beklagten wird. Aus diesem Grund ist es auch das Entscheidende – lassen zum Beispiel noch nicht ein- erklärlich, dass in den letzten Jahren nur ganz wenige mal die Zulassung des Geschmacksmusters auf alle Ori- Verfahren tatsächlich betrieben worden sind. ginalteile und dementsprechend natürlich auch nicht auf Reparaturteile zu. Das muss man wissen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Manzewski, jetzt muss ich Sie doch da- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: rauf aufmerksam machen, dass ich Ihre Redezeit nicht so Herr Kollege Manzewski, möchten Sie kurz vor Ende lange verlängern kann, wie Sie den Kollegen Funke Ihrer Redezeit gerne stehen ließen. (Heiterkeit im ganzen Hause) (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) 4440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Dirk Manzewski (SPD): zu müssen, halte ich unabhängig von der Frage des geis- (C) Herr Präsident, ich lasse ihn ja nicht im Regen stehen. tigen Eigentums derzeit nicht für vernünftig. Ich plädiere dafür, dass wir gemeinsam dem Vorschlag der Bundesre- Ganz kurz noch zwei Sätze dazu. Kollege Funke, wir gierung folgen, den ich für sehr vernünftig halte. Ich sind ja Rechtspolitiker. Das ist eigentlich für mich bei sehe dazu keine Alternative. dieser Frage das entscheidende Argument. Ich danke Ihnen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das wäre eigentlich ein schöner Schlusssatz gewesen. DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Wenig Inhalt, aber sonst ganz gut! – (Heiterkeit im ganzen Hause) Gegenruf des Abg. Dirk Manzewski [SPD]: Der Einzige mit Inhalt, glaube ich!) Dirk Manzewski (SPD): Nein. – Kollege Funke, die Liberalisierung ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: meintlicher Monopole kann doch nicht die Aufgabe des Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Geschmacksmusterrechts sein. Kollege Kurt Segner für die CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Warum denn nicht?) Kurt Segner (CDU/CSU): Hier geht es um die Frage des Schutzes von geistigem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das über Eigentum und von nichts anderem. Mich wundert schon 125 Jahre alte Geschmacksmustergesetz soll durch ein sehr, dass diejenigen, die beim Urheberrecht hier noch neues Gesetz abgelöst und der Richtlinie der Europäi- die Rächer der Enterbten gegeben haben, weil wir im schen Union angepasst werden. Rahmen der zulässigen Schrankenregelung, immerhin unter Beibehaltung des Urheberrechtsschutzes, für Bil- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE dung und Forschung Ausnahmen gemacht haben, nun GRÜNEN]: Das wissen wir schon!) das geistige Eigentum wegen des schnöden Mammons Dieser Gesetzentwurf hat eine große Bedeutung für un- verhökern wollen. Das kann ich offen gestanden nicht sere heimische Wirtschaft. nachvollziehen. Wir begrüßen den Gesetzentwurf im Ansatz, da es (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich bei dem Geschmacksmuster um ein ausschließliches NEN]: Aber jetzt darf er sich setzen!) (B) Recht mit Sperrwirkung handelt. Damit verbleibt die- (D) – Jetzt darf er sich setzen. Ich komme auch gleich zum ses Schutzrecht in der Tradition des deutschen gewerbli- Schluss. chen Rechtsschutzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe bereits Erfinderische und gestalterische Leistungen werden dargestellt – Sie wissen es auch selbst –, dass innerhalb als ein absolutes Recht festgelegt. Mit der EU-Verord- der EU sehr verhärtete Fronten bestehen. Ich glaube of- nung wurde ein für die gesamte EU wirksames Gemein- fen gestanden nicht, dass sich eine der Maximalpositio- schaftsgeschmacksmuster mit einer Reparaturklausel nen durchsetzen wird. Ich glaube nicht, dass es zu einem zum Schutz des Ersatzteilmarktes eingeführt. so weit reichenden Schutz wie in Frankreich kommen In dem vorliegenden Gesetzentwurf hat Rot-Grün lei- wird. Ich glaube allerdings auch nicht, dass eine Repara- der auf die Einführung einer Reparaturklausel verzichtet. turklausel nach britischem Vorbild eingeführt wird, und zwar schon deshalb nicht, weil die EU-Richtlinie in (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Art. 3 Abs. 3 von einer selbstständigen Schutzfähigkeit GRÜNEN]: Was?) von Ersatzteilen ausgeht. Ich befürchte fast, dass Sie das übersehen haben. Damit geht Rot-Grün wieder einen eigenen Weg Meiner Auffassung nach wird das Ergebnis irgendwo (Zuruf von der CDU/CSU: Den falschen!) dazwischen liegen. Denkbar wäre zum Beispiel eine Lö- und schadet Handwerk, Handel und Verbrauchern. sung – meines Wissens haben Sie, Herr Kollege Funke, das in der Vergangenheit präferiert – in Form von Li- Durch die Nichtübernahme der Reparaturklausel wird zenzgebühren. Das würde aber bedeuten, dass der der Wettbewerb auf dem deutschen Ersatzteilmarkt weit- Schutz weiterhin den Automobilherstellern obliegt. gehend ausgeschaltet. Freie mittelständische Zulieferer oder Teilehersteller – wie viele von Ihnen sie in Ihrem Eine andere Lösung, die ich mir vorstellen könnte, eigenen Wahlkreis haben – verlieren ihren Absatzmarkt. wäre ein befristeter Rechtsschutz, der, meine ich, in Der Jobmotor Mittelstand wird dadurch weiterhin ge- Griechenland bereits praktiziert wird. Dort läuft der schwächt, Rechtsschutz fünf Jahre nach dem In-Verkehr-Bringen eines Fahrzeugs aus. Griechenland soll damit gute Er- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE fahrungen gemacht haben. GRÜNEN]: Das ist doch nicht richtig!) Ich komme zum Schluss. Einer Entscheidung der EU und das bei einer Zahl von mehr als 4,7 Millionen Ar- vorzugreifen, um nach kurzer Zeit wieder zurückrudern beitslosen. Aber der Gesetzentwurf ohne Reparaturklau- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4441

Kurt Segner (A) sel hat auch Auswirkungen auf die 48 Millionen Auto- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (C) besitzer als Verbraucher in Deutschland. Haushaltsausschuss Ich frage mich, ob es die Absicht der rot-grünen Bun- Interfraktionell sind für die Aussprache 30 Minuten desregierung ist, den Verbraucher zu bevormunden. vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau! Wir wollen die Autobesitzer Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als quälen!) Erstem dem Kollegen Siegfried Kauder für die CDU/ CSU-Fraktion. Wir von der CDU/CSU jedenfalls wollen den Ver- braucher selber entscheiden lassen, welches Produkt er Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): in sein Fahrzeug einbaut. Wir von der CDU/CSU wollen den mündigen Verbraucher und nicht den „gefesselten“ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Verbraucher. Sie mich über Margery Fry und Ingeborg Geisendörfer berichten und lassen Sie mich außerdem für diejenigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sprechen, die im Ausland Opfer von Straftaten geworden Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE sind. Ich finde es betrüblich, dass niemand vom zustän- GRÜNEN]: Das ist ja etwas ganz Neues! Das digen Fachministerium Solidarität mit diesen Opfern fällt Ihnen aber erst in der Opposition ein!) zeigt; denn man muss wissen, dass die zuständige Fach- Denn ohne die Reparaturklausel schaffen Sie weniger ministerin nicht die Frau Justizministerin – sie ist dan- Wettbewerb. Wir wollen dagegen mehr Wettbewerb und kenswerterweise anwesend –, sondern die Bundesminis- weniger Bürokratie. terin für Gesundheit und Soziale Sicherung ist. Nach Aussage der Bundesregierung sollen die Aus- Lassen Sie mich die Geschichte der Opferentschä- wirkungen der Richtlinie Ende 2004 von der Europäi- digung in drei Bildern schildern. Wenn man diese drei schen Kommission überprüft werden und eventuell soll Bilder nebeneinander hält, stellt man fest, dass sie na- 2005 die Reparaturklausel übernommen werden. hezu Kopien voneinander sind. Im Jahr 1957 berichtete Margery Fry, die erste Frau, die in England zum Richter- (Dirk Manzewski [SPD]: Nein, das hat sie amt zugelassen wurde, unter der Überschrift „Justice for nicht gesagt!) Victims“ im „Observer“ über einen dramatischen Fall. Ich frage Sie: Wollen Sie wirklich in zwei Jahren schon Das Opfer eines Überfalls war erblindet. Das englische wieder einen Gesetzentwurf vorlegen und damit die Bü- Zivilgericht hatte dem Opfer eine Entschädigung von rokratie aufblähen? 11 500 Pfund zugesprochen, für die die beiden Täter auf- (B) kommen sollten. Da sie aber im Gefängnis saßen, wurde (D) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, geben Sie ihnen zugestanden, diese Summe in monatlichen Raten sich einen Ruck und machen Sie ein Gesetz aus einem von je 20 Schilling zu zahlen. Danach hätte das Opfer Guss! erst nach 422 Jahren seine gesamte Entschädigung ge- Danke schön. habt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- So etwas kann noch heute deutschen Staatsbürgern neten der FDP) und ihnen gleichgestellten EU-Ausländern zustoßen; denn das deutsche Opferentschädigungsgesetz deckt Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Schäden im Ausland nicht ab. Ich schließe die Aussprache. Der erwähnte Artikel von Margery Fry hat England und viele andere Länder dazu bewegt, Opferentschädi- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- gungsgesetze zu verabschieden. Sie waren aber nicht wurfs auf Drucksache 15/1075 an die in der Tagesord- Vorbild für Deutschland. Konnten wir zu wenig Eng- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu lisch? Es war wieder einmal die Presse, die auf die be- gibt es offenkundig keine anderweitigen Vorschläge. sondere Gefahren- und Gefährdungslage der Opfer von Dann ist das so beschlossen. Straftaten hingewiesen hat. Es war im Jahr 1970, als Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: „Quick“ anklagte: Der Staat lässt hilflose Menschen im Stich! Wir müssen Ingeborg Geisendörfer dankbar sein, Erste Beratung des von den Abgeordneten dass sie im selben Jahr eine Anfrage in den Deutschen Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Nobert Bundestag eingebracht hat, in der sie von der damaligen Röttgen, Andreas Storm, weiteren Abgeordneten Bundesregierung wissen wollte, wie sie dieses Problem und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten beurteilt. Die Antwort war so, wie ich es auch heute im- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Op- mer wieder erlebe. Der zuständige Parlamentarische ferentschädigungsgesetzes Staatssekretär erklärte der Kollegin Geisendörfer, man – Drucksache 15/1002 – habe sich im Ministerium der Justiz seit längerem dieses Überweisungsvorschlag: Problems angenommen. Dann war Ruhe. Doch Ingeborg Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Geisendörfer hakte nach. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Im Jahr 1971 bat sie um Auskunft darüber, ob die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Probleme im damaligen Justizministerium – es war unter 4442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) der Regierung Brandt/Scheel – inzwischen behoben einen ausformulierten Änderungsantrag einzureichen. (C) seien. Sie waren aber nicht behoben. Dieses Versprechen habe ich gehalten. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legte deshalb am Ich bin der Meinung, dass Opferentschädigung und 27. Juli 1971 mit einem Gesetzentwurf zur Entschädi- das Schicksal von Tatopfern kein parteipolitisches gung von Opfern nach. Grundlage war der Gedanke, Thema sein sollte. dass man Opfer in ihrer sozialen Not, in die sie aufgrund (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie einer Straftat geraten seien, nicht allein lassen dürfe. Es bei Abgeordneten der SPD) ging bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 1972 nicht weiter. Dann war alles versackt. Dieses Hohe Haus ist herausgefordert, die Lücke im Opferentschädigungsgesetz zügig zu schließen. Im Jahr 1974 ging man dieses Problem noch einmal an. Es dauerte aber bis zum 16. Mai 1976, bis in Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben Deutschland das Opferentschädigungsgesetz erlassen uns sehr viel Mühe gegeben, das zu berücksichtigen, was worden ist. Man hat sich an das Verbrechensentschädi- Abgeordnete anderer Fraktionen in diese Debatte einge- gungsgesetz, das bereits wenige Jahre vorher in Öster- bracht haben. Wir haben versucht, einen ausgewogenen reich erlassen worden war, gehalten. Das österreichische Gesetzentwurf vorzulegen, durch den nicht nur den deut- Gesetz enthielt allerdings eine wichtige Abweichung: schen Staatsangehörigen nach einer Straftat im Ausland Österreich gewährte schon damals auch den Opfern von eine Entschädigung zugestanden wird, sondern auch ih- Straftaten, die im Ausland Opfer geworden sind, eine nen gleichgestellten ausländischen Mitbürgern, die be- Entschädigung. In Deutschland hat man das Territoriali- reits eine gewisse Zeit in Deutschland leben. tätsprinzip vorgezogen: Nur wer in Deutschland Opfer (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE einer Straftat wird, kann eine Entschädigung erhalten. GRÜNEN]: Aber nicht alle!) Ich habe einen Fall betreut, in dem es um eine junge – Man kann das Fass ganz aufmachen; aber beim Erlas- Deutsche ging, die auf einem Campingplatz in Spanien sen eines Gesetzes spielen auch fiskalische Gesichts- vergewaltigt worden ist. Sie hat bis heute keine Opfer- punkte eine Rolle. Das wissen Sie so gut wie ich. entschädigung erhalten, obwohl es in Spanien ein Ent- schädigungssystem gibt, das allerdings anders als in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Deutschland ausgestaltet ist. Diese Lücke gilt es zu GRÜNEN]: Genau!) schließen. Deswegen haben wir gesagt: Nicht alle deutschen Tat- opfer im Ausland, nämlich nicht diejenigen, die ihren In der letzten Legislaturperiode gab es mehrfach An- ständigen Wohnsitz im Ausland haben, sondern nur die- (B) fragen und Anregungen, allerdings im Wesentlichen auf (D) jenigen, die noch einen engen räumlichen Bezug zum die Opfer von terroristischen Gewalttaten fokussiert. Für Heimatland haben – grob gesagt: die Touristen –, sollen das Opfer ist es aber völlig egal, ob der Täter Terrorist, entschädigt werden. Ich bin der Meinung, dass dieser rechts- oder linksradikal ist. Für das Opfer ist der Aus- Entwurf wohl ausgewogen ist. gleich der sozialen Notlage, die durch die Straftat ent- standen ist, entscheidend. Nun kann man die Einwendung erheben, das sei für die ausländischen Behörden, für die Konsulate, ein zu- Wir haben am 11. April 2003 über die Opferent- sätzlicher personeller Aufwand. Wir haben uns in unserer schädigung diskutiert. Die CDU/CSU-Bundestagsfrak- Fraktion kundig gemacht und haben einen Sach- tion hat einen Antrag eingebracht, der bewirken sollte, bearbeiter der zuständigen Behörde aus Österreich – ös- dass die Bundesregierung das Opferentschädigungsge- terreichische Staatsangehörige können nach dem dorti- setz korrigiert. Wie schon in zurückliegenden Zeiten gen Recht auch als Opfer im Ausland eine kam der Einwand, das alles sei so schwierig und furcht- Entschädigung erhalten – bei uns gehabt. Nach dessen bar kompliziert; man kenne das Problem und werde es Informationen sind es nur wenige Fälle, die zu bearbeiten bearbeiten. Diese Reaktion war mir durch das, was ich sein werden. Man darf auch nicht verkennen: Der Auf- gerade geschildert habe, noch in Erinnerung. Deswegen wand ist schon heute vorhanden. Wohin anders als an die befürchtete ich, alles werde genauso wie damals bei im Ausland befindlichen deutschen Behörden soll sich Ingeborg Geisendörfer ablaufen: dass man über die An- ein deutsches Tatopfer im Ausland wenden? gelegenheit diskutiert und dass irgendwann am Ende der Legislaturperiode alles versackt. Wir wissen, dass diese Gesetzesänderung Kosten ver- ursacht. 40 Prozent der Opferentschädigung trägt der Im Hinterkopf hatte ich immer noch den Fall der Bund, 60 Prozent tragen die Länder. Ich danke der Frau Deutschen, die in Spanien Opfer einer Verbrechens ge- Bundesjustizministerin, dass sie hier ist. Wir wissen, dass worden ist. Dieser Frau konnte ich bis heute nicht helfen. es zwei Titel im Haushalt des Bundesjustizministeriums Das hat mich bewegt. Ich kam zu dem Ergebnis: Wir gibt, die nicht ausgeschöpft sind. Das betrifft den Fonds dürfen es nicht dabei bewenden lassen, zu sagen, das al- für die Opfer terroristischer und rechtsextremer Gewalt- les sei so schwierig und kompliziert. Deswegen habe ich taten. Dieses Geld steht den Opfern zu. Ich bin der Mei- am Ende dieser Debatte zugesagt, kurzfristig, am nächs- nung, dass man mit den Ländern verhandeln kann und ten Tag – zugegebenermaßen war es der übernächste dann, wenn ein gesetzlicher Anspruch begründet wird, Tag; denn es war ein Sonntag, Herr Kollege Montag – einen Teil dieser Fondsmittel auf sie übertragen kann. (Heiterkeit) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4443

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Auch wenn es nur wenige sind, die von dieser Ände- Das Auswärtige Amt geht von einer fortbestehenden (C) rung profitieren, wäre es ein deutliches Zeichen dafür, weltweiten Gefahr von terroristischen Anschlägen aus. dass sich der Deutsche Bundestag der Bedürfnisse von Das betrifft nicht nur die Länder des Nahen und Mittle- Tatopfern gewärtig ist, dass er bereit und in der Lage ist, ren Ostens. Eine terroristische Bedrohung besteht kurzfristiger als in den Anfängen der Opferentschädi- ebenso in Europa und nach wie vor natürlich in den gung solche Gesetzgebungsvorhaben umzusetzen. Ich USA. Von Reisen in elf Länder rät das Auswärtige Amt freue mich auf die Diskussion in den Ausschüssen. derzeit ganz ab. Darunter befinden sich nicht nur offen- sichtlich gefährliche Staaten wie Afghanistan und Irak, Vielen Dank. sondern auch Haiti oder der Jemen, wo sich jedes Jahr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sehr viele Touristen aufhalten. Geltungsbereich des OEG ist das Territorium der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bundesrepublik. Vor dem eben geschilderten Hinter- Nun hat der Kollege Karsten Schönfeld für die SPD- grund sehen wir einen zunehmenden Handlungsbedarf; Fraktion das Wort. denn immer mehr Deutsche werden im Ausland Opfer von Verbrechen. Die Regierungskoalition hat sich dieses Problems aufgrund seiner Dringlichkeit angenommen. Karsten Schönfeld (SPD): Wir haben bereits am 11. April einen Antrag im Bundes- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die tag eingebracht, in dem wir die Bundesregierung auffor- Kriminalstatistik zeigt: Deutschland ist eines der sichers- dern, entsprechende Möglichkeiten zu prüfen. Wir wis- ten Länder in der Welt. Doch auch wenn wir statistisch sen, dass das nicht nur ein Problem ist, das in den von einem Rückgang der Zahl schwerer Straftaten spre- Aufgabenbereich des Bundesministeriums für Gesund- chen können, so dürfen wir nicht vergessen, dass hinter heit und Soziale Sicherung fällt; es ist natürlich auch ein jeder Zahl ein Einzelschicksal steht. juristisches Problem. Ich glaube, dass es deshalb auch Viele Tausende von Menschen werden jedes Jahr di- gut ist, dass die Bundesregierung mit der Bundesjustiz- rekt oder indirekt Opfer von Gewalt und Kriminalität. Es ministerin und der Parlamentarischen Staatssekretärin ist schwer vorstellbar, was viele dieser Opfer durchge- im Bundesgesundheitsministerium hier vertreten ist. macht haben und oft ein Leben lang durchmachen müs- Es geht insbesondere um die Frage, ob der Geltungs- sen. Wenn wir von Opferhilfe sprechen, dann geht es da- bereich des OEG auf Straftaten, die an Deutschen im bei nicht allein um Geld. Die Menschen brauchen Ausland begangen werden, ausgedehnt werden kann seelischen und psychischen Beistand. Viele Organisatio- oder ob diesen Opfern in anderer Weise ein Anspruch nen nehmen sich dieser Aufgabe an. Bundesweit einzig- auf Entschädigung zuerkannt werden kann. Die derzei- (B) (D) artig ist sicherlich der Weiße Ring. Seit seiner Gründung tige Prüfung, ob die Stellung der Opfer verbessert wer- vor 25 Jahren wurden über 150 000 Gewaltopfer, Ge- den kann, findet nicht nur auf Bundesebene statt. Diese schädigte vom Weißen Ring materiell unterstützt. Min- Frage hat zumindest eine europäische Dimension. destens ebenso wichtig ist aber auch die psychische Betreuung der Opfer und deren Angehörigen. Hierbei Auf der Grundlage des Grünbuchs „Entschädigung für leisten Organisationen wie der Weiße Ring eine hervor- Opfer von Straftaten“ hat die EU-Kommission im Herbst ragende Arbeit. letzten Jahres eine Richtlinie zur Harmonisierung der Opferentschädigung erlassen. Dabei werden von der Wir dürfen Verbrechensopfer nicht allein auf die Kommission drei zentrale Forderungen erhoben: erstens rechtlichen Ansprüche gegenüber den Tätern verweisen; die Gewährleistung, dass Opfer in der Europäischen denn dann würden sie wohl oft ganz leer ausgehen, wie Union eine staatliche Entschädigung erhalten können, das auch das Beispiel, das Sie, Kollege Kauder, angespro- heißt ein Sicherheitsnetz für alle, die in der Europäischen chen haben, belegt. Union ihren Wohnsitz haben; zweitens die Aufhebung von Ungerechtigkeiten, die sich aus dem unterschiedli- Mit dem Opferentschädigungsgesetz hat die Bundes- chen Entschädigungsniveau in den einzelnen Mitglied- republik ein Rechtsmittel geschaffen, um für die Betrof- staaten für die Bürger ergeben – es darf zukünftig eben fenen eine schnelle Hilfe unabhängig von ihren Rechts- nicht mehr entscheidend sein, ob man in Österreich, in ansprüchen zu gewährleisten. Wie sich an den Zahlen Spanien oder in Deutschland lebt – und drittens die Er- zeigt, ist dies nicht nur ein Lippenbekenntnis. Fast leichterung des Zugangs zu staatlicher Entschädigung für 10 000 Anträge werden jedes Jahr gestellt und Mittel in Opfer in Situationen mit grenzüberschreitenden Bezügen. Höhe von über 100 Millionen Euro werden von Bund Das heißt, für eine Entschädigung darf es keine Rolle und Ländern bereitgestellt. Dennoch: Wir müssen auf spielen, in welchem Land die Straftat begangen wurde. diese Zahlen nicht stolz sein. Mir wäre es lieber – das gilt, glaube ich, für uns alle –, wenn weniger Menschen Die Richtlinie wird derzeit in den Ländern der Euro- einen Antrag stellen müssten. päischen Union kontrovers diskutiert. Vor allem Länder wie Italien oder Griechenland, die bislang noch gar Leider erleben wir in jüngster Zeit immer öfter, dass keine Opferentschädigung kennen, müssen hier mit ins deutsche Staatsangehörige Opfer von Straftaten oder von Boot geholt werden. Anschlägen im Ausland werden. Der Terroranschlag von Djerba ist ein solch erschreckendes Beispiel; das trifft Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns be- ebenso auf die Anschläge von Bali oder jüngst auf die wusst, dass das Thema sehr wichtig ist, zu wichtig, um Entführung von Saharatouristen in Algerien zu. es weiter auf die lange Bank zu schieben. Unabhängig 4444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Karsten Schönfeld (A) von den derzeitigen rechtlichen Überlegungen hat die Ende wahrscheinlich große Schwierigkeiten bei der Ab- (C) Bundesregierung deshalb schnell auf aktuelle Ereignisse grenzung und Aufklärung bekommen! Fraglich ist auch, reagiert. Das Kabinett hat unmittelbar nach den Anschlä- ob eine bewusste Selbstgefährdung von Touristen be- gen von Djerba am 11. April letzten Jahres als Zeichen rücksichtigt werden sollte. Ich habe von den Warnungen, der Solidarität mit den Opfern einen Hilfsfonds einge- die vom Auswärtigen Amt herausgegeben werden, ge- richtet. Im Bundeshaushalt 2002 wurden dafür außer- sprochen. In diesem Zusammenhang muss man auch die planmäßige Mittel in Höhe von 10 Millionen Euro zur Frage erörtern, ob Straftaten an Menschen, die sich ganz Verfügung gestellt; in diesem Haushaltsjahr sind es bewusst in Regionen bewegen, in denen Gefahren beste- 9 Millionen. Zahlungen aus dem Fonds können rückwir- hen, genauso bewertet werden sollen wie entsprechende kend für Fälle ab dem 1. Januar 2001 geltend gemacht Straftaten in Frankreich oder Italien. werden, sodass Betroffene und Angehörige der An- schläge vom 11. September, von Djerba, von Bali und zuletzt auch Entführungsopfer aus der Sahara entschä- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: digt werden können. Lassen Sie noch eine Zusatzfrage des Kollegen Kauder zu? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns wohl darin einig, dass in einer Zeit, in der sich Bundesbürger auf der ganzen Welt bewegen, die aber durch größere Karsten Schönfeld (SPD): weltweite Gefahren gekennzeichnet ist, etwas für die In meiner restlichen Redezeit möchte ich gerne im Opfer von Verbrechen im Ausland getan werden muss. Zusammenhang vortragen. Ich glaube jedoch, dass wir den vorliegenden Entwurf (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ der Union kritisch betrachten müssen; denn er enthält ei- CSU]: Das ist ein Ausschlusstatbestand nach nige Problempunkte, die hier noch zu klären sind. So OEG!) stellt sich die Frage, ob wir wirklich alle Straftaten im Ausland aufnehmen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss an die Menschen appellieren, sich der Risiken einer Reise im Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Vorfeld bewusst zu sein. Dazu gehört auch, sich darüber Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Klarheit zu verschaffen, ob der Versicherungsschutz, den Kollegen Kauder? man in Deutschland genießt, im Ausland gleichermaßen gilt oder ob man sich oder seine Familie zusätzlich schützen muss, beispielsweise durch eine Unfall- oder Karsten Schönfeld (SPD): Auslandskrankenversicherung. In einer Zeit, in der viel (B) Ja, bitte. über die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (D) geredet wird und gerade von Ihnen in der Union mehr Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Eigenverantwortung gefordert wird, kann es nicht sein, Herr Kollege, sind Sie mit mir einig, dass erhebliche dass der Staat eine Pauschalversicherung für Abenteuer- Bedenken in Bezug auf die Regelungskompetenz der touristen übernimmt. europäischen Ebene hinsichtlich der Opferentschädi- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ gung bestehen? Weder die sozialrechtlichen Vorschriften CSU]: Nichts verstanden!) sind einschlägig, weil diese Entschädigung nicht mit dem Arbeitsmarkt in Zusammenhang steht, noch ist der Was ich in Ihrem Entwurf ebenfalls nicht nachvollzie- interjustizielle Bereiche betroffen, weil Opferentschädi- hen kann, ist die Dreimonatsausschlussfrist. Das Krite- gung nicht mit strafrechtlichen Sanktionen, sondern mit rium des vorübergehenden Aufenthalts für längstens drei Sozialrecht zusammenhängt; auch die Subsidiaritäts- Monate scheint – Sie haben es in Ihrer Rede bestätigt, klausel spielt eine Rolle. Herr Kollege Kauder – weitgehend auf Touristen zuge- schnitten zu sein. Eine plausible Begründung dafür, wa- Sind Sie mit mir einig, dass aus dem von Ihnen er- rum ein deutscher Staatsbürger, der sich länger im Aus- wähnten Fonds das von mir angesprochene Opfer, dem land aufhält, keinen Anspruch auf Opferentschädigung in Spanien eine Straftat widerfuhr, nicht entschädigt haben soll, gibt es nicht. So hätte beispielsweise ein Ar- werden kann? beitnehmer, der für länger als drei Monate – sei es auch (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das nur für ein halbes Jahr – von seinem Arbeitgeber ins kann doch alles geprüft werden!) Ausland entsandt wird, keinen Anspruch auf Opferent- schädigung, seine Familie, die ihn für ein paar Tage oder Karsten Schönfeld (SPD): Wochen besucht, aber gleichwohl. Da ich den konkreten Fall des von Ihnen angespro- Sie sehen, es gibt noch viel zu klären. Dazu werden chenen Opfers in Spanien nicht kenne, kann ich auf die- wir das parlamentarische Verfahren nutzen. Ich wünsche sen Punkt nicht eingehen. Ich glaube dennoch, dass es in mir, dass wir möglichst bald eine Regelung – möglichst Zeiten zunehmender europäischer Harmonisierung da- eine EU-einheitliche Regelung – hinbekommen. rauf ankommt, hierzu eine europäische Regelung zu tref- fen; darauf richtet sich auch unser Bemühen. Ich bedanke mich. Aber noch einmal zurück zu Ihrem Antrag: Wenn wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ alle Straftaten im Ausland aufnehmen, werden wir am DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4445

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Ausland für erforderlich erachtet. Ich halte diese For- (C) Das Wort hat nun die Kollegin Sibylle Laurischk, derung nach wie vor für dringlich und würde es sehr be- FDP-Fraktion. grüßen, wenn im Interesse der Opfer auch dieser Ge- sichtspunkt Eingang in die Gesetzgebung finden könnte. Die Durchsetzung von Ansprüchen vor Ort kann nämlich Sibylle Laurischk (FDP): von Fall zu Fall im Rahmen einer Kollisionsregelung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits im Ansprüche nach deutschem Opferentschädigungsrecht April des vergangenen Jahres wurde von der FDP-Frak- nachrangig gestalten, sodass eine effektive Unterstüt- tion eine Ergänzung des Opferentschädigungsgesetzes zung der Durchsetzung von Ansprüchen im Ausland beantragt, weil angesichts der internationalen Terroran- gleichermaßen im Interesse von Opfern und deutschem schläge in den vergangenen Jahren offenkundig wurde, Fiskus sein kann. dass davon betroffene deutsche Opfer keine Entschädi- gung nach dem Opferentschädigungsgesetz erhalten In diesem Zusammenhang möchte ich auf § 2 des Op- konnten. Hier besteht nach wie vor eine Regelungslücke, ferentschädigungsgesetzes hinweisen: Es gibt auch Ver- die angesichts der Belastung der Opfer nicht länger hin- sagungsgründe; man muss sich im Ausland kümmern zunehmen ist. Dementsprechend hat die FDP-Fraktion können und braucht dazu von Fall zu Fall Unterstützung. im November des vergangenen Jahres die Bundesregie- Ich gehe davon aus, dass in diesen Detailfragen in der rung erneut aufgefordert, das Opferentschädigungsge- Ausschussberatung vernünftige Lösungen zu finden sind setz zugunsten von Opfern von Terroranschlägen im und Opfer von Straftaten im Ausland letztendlich eine Ausland zu ergänzen. Wir verlangen weiter, zu prüfen, Entschädigung bekommen können, sofern die Vorausset- ob die Opfer bei der Durchsetzung rechtlicher Ansprü- zungen für eine Entschädigung nach dem Opferentschä- che durch die Bundesregierung oder die deutschen Bot- digungsgesetz vorliegen. schaften unterstützt werden können. Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Frak- Wir diskutieren über eine Regelungslücke, die bei tion hat die von der FDP-Fraktion verfolgte Zielsetzung entsprechender Initiative der Bundesregierung längst ge- aufgegriffen. Die Bundesregierung hat noch in der ver- schlossen sein könnte. Die FDP-Fraktion begrüßt eine gangenen Legislaturperiode erklärt, dass sie die erste baldige Lösung dieses Problems. Initiative der FDP-Fraktion ebenfalls unterstütze. Ich danke Ihnen. Es wird ständig über terroristische Übergriffe im Aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) land berichtet, sodass es deutschen Bürgerinnen und Bürgern nicht länger zuzumuten ist, im Ausland hin- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (B) sichtlich ihrer Opferentschädigungsansprüche schlechter (D) gestellt zu sein als in Deutschland, nur weil sie nicht in Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Deutschland Schaden erleiden. Wie in der Begründung Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grü- zum Antrag auch ausgeführt, handelt es sich aber eben nen. nicht nur um die Entschädigung von Terroropfern, son- dern auch von Opfern allgemeiner Straftaten. Als Bei- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE spiel wird unter anderem der Fall einer traumatisierten GRÜNEN): Mutter angeführt, die vom Bundessozialgericht keine Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Opferentschädigung zuerkannt bekam, nachdem ihre Herr Kollege Kauder, aus Ihren Zwischenfragen und Zu- Kinder vom Vater im Ausland ermordet wurden. Auf- rufen kann man ein wenig den Eindruck gewinnen, dass grund entsprechender Traumatisierung hätte sie wohl Sie es als Aufgabe des Deutschen Bundestages ansehen, eine Opferentschädigung bekommen, wenn sich dieser Ihre Opfer – damit meinen Sie wohl die von Ihnen ver- Fall in Deutschland, also im Inland, ereignet hätte. tretenen Opfer – zu versorgen, also für sie eine Regelung Herr Kollege Kauder, Sie haben auch sehr persönlich zu finden. von Fällen gesprochen, die Sie selbst begleitet haben. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Ich habe einen solchen Fall wie den gerade geschilderten CSU]: Das ist zynisch gegenüber den Opfern, selbst in meiner beruflichen Praxis begleitet. Ich muss Herr Kollege!) sagen, es ist einer der dramatischsten Fälle, die ich erlebt habe, gerade auch angesichts der Hilflosigkeit solcher Das Problem ist aber wesentlich umfassender und weist Opfer, die auf weitere Begleitung und Hilfestellung sehr viel mehr Details auf. staatlicherseits angewiesen sind. Nur weil das Ausland (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ der entscheidende Faktor ist, bekommen sie keinen An- CSU]: Das ist zynisch gegenüber Kollegen, spruch auf Entschädigung zuerkannt. Solche Konse- die sich für Opfer interessieren!) quenzen sind Opfern von Gewalttaten nicht vermittelbar. Für sie ist es unerheblich, wo sie betroffen werden; sie Ich habe vor etwa zehn Jahren die Angehörigen der müssen letztendlich eine angemessene Versorgung ha- türkischstämmigen Opfer des Anschlages von Mölln an- ben, unabhängig vom Ort der Straftat. waltlich vertreten. Die FDP hat in ihrer Aufforderung an die Bundesre- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ gierung, gesetzgeberisch tätig zu werden, auch die Unter- CSU]: Da geht es auch um Ihre Opfer! Es geht stützung der Opfer bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche aber um alle Opfer!) 4446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

Hans-Christian Ströbele (A) Wir mussten feststellen, dass die Angehörigen der Ich muss Ihnen zugestehen, dass das aus CDU/CSU- (C) Nichte – bei den Angehörigen der ermordeten Mutter lag Sicht ein Schritt in die richtige Richtung gewesen ist. der Fall anders –, die dort zu Besuch war und ebenfalls (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: bei dem Brandanschlag ermordet worden ist, keine Ent- Jetzt muss nur noch Ihr Schritt kommen!) schädigung bekommen konnten, weil die Regelung in Deutschland vorsieht, dass man mit dem getöteten Fami- Denn vorher haben Sie nur von denjenigen Deutschen lienangehörigen in gerader Linie verwandt oder mit ihm gesprochen, die, wenn sie im Ausland durch eine Ge- verheiratet sein muss. Das war bei der Nichte nicht der walttat einen Körperschaden erleiden, entschädigt wer- Fall. Deswegen bekamen ihre Angehörigen keine Ent- den sollen. Lassen Sie uns also gemeinsam in diese schädigung. Wir haben uns Mitte der 90er-Jahre an die Richtung weitergehen! damalige Bundesregierung und auch an den Bundestag (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Machen gewandt, weil den Angehörigen nur sehr schwer zu ver- Sie doch einmal einen Vorschlag!) mitteln war, dass es diese Unterscheidung gibt. Lassen Sie uns ein Gesetz finden, das zu einer gerechten Sie erkennen also, dass auch ich einen Regelungsbe- Lösung führt! Da können wir zusammenarbeiten. Sie darf sehe. Die Koalition hat bereits im letzten Jahr die sind aufgerufen, daran mitzuwirken. Initiative ergriffen und eine Reihe von Forderungen auf- gestellt. Auch wir sehen natürlich nicht ein, warum Op- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fer einer Tat in Deutschland, zum Beispiel auf Sylt, ent- und bei der SPD) schädigt werden, aber Opfer einer Tat auf Mallorca – das war ein konkreter Fall –, einer Tat auf Djerba oder auf Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bali nicht entschädigt werden bzw. keinen Rechtsan- Ich schließe die Aussprache. spruch auf Entschädigung haben. In dem konkreten Fall Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- ist versucht worden, zu helfen. Das war richtig, aber wurfes auf Drucksache 15/1002 an die in der Tagesord- trotzdem muss man nachbessern. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Herr Kollege Kauder, man kann es sich aber nicht so dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich leicht wie Sie machen. Es sind schon eine ganze Reihe nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. von Problemen aufgezeigt worden. Es gibt beispiels- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: weise fiskalische Probleme, die man natürlich im Auge haben muss. Wir können nämlich nicht Geld verspre- Beratung des Antrags der Abgeordneten Clemens chen und Ansprüche schaffen, die nachher nur schwer Binninger, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Frak- (B) oder überhaupt nicht erfüllt werden können. Dieser As- (D) pekt muss also genau überdacht werden. tion der CDU/CSU Mehr Sicherheit im Luftverkehr Es muss aber auch überlegt werden, wer unter eine solche Regelung fallen soll. Sie haben einen Vorschlag – Drucksache 15/747 – gemacht, der – wenn ich das richtig verstanden habe – Überweisungsvorschlag: einen Schritt weiter geht als der Vorschlag, den Sie in Innenausschuss (f) der letzten Debatte gemacht haben. Jetzt wollen Sie EU- Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Bürgern aus Deutschland, die im Ausland betroffen sind, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit einen Anspruch auf Entschädigung zubilligen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Aber Sie gehen diesen Schritt nicht weit genug. Wir Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union meinen, dass auch Nicht-EU-Bürger, die in Deutsch- Hierzu geben die Kollegen Frank Hofmann land drei Jahre oder länger wohnen und die während ei- 1) nes Urlaubs nicht nur in der Türkei, sondern auch in an- (Volkach) , Clemens Binninger, Silke Stokar von deren Ländern wie beispielsweise Griechenland von Neuforn, Dr. Max Stadler und für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper einer Tat betroffen sind, nicht anders behandelt werden ihre Reden zu Protokoll2). sollen als der Deutsche oder der EU-Bürger aus der Nachbarschaft, der mit ihm zusammen dort Urlaub Bevor ich Tagesordnungspunkt 16 aufrufe, sollten wir macht. Es gibt also vieles zu bedenken, um eine gerechte der Ordnung halber die Überweisung der Vorlage auf und richtige Lösung zu erreichen. Drucksache 15/747 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse beschließen. Dazu besteht offenkun- Es ist auch zu überlegen, ob etwa mit den Ländern, in dig Einverständnis. – Dann ist das so beschlossen. denen sich viele Deutsche aufhalten, weil sie dort bevor- zugt Urlaub machen, Gegenseitigkeitsregelungen ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: troffen werden können, was eine Erstreckung deutscher Beratung des Antrags der Abgeordneten Regelungen auf diese Länder überflüssig macht. All das Katherina Reiche, Hubert Hüppe, Thomas müssen wir beobachten, prüfen und im Ausschuss erör- Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion tern. der CDU/CSU Dann sollten wir zu einer Regelung kommen, die über das hinausgeht, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf in Be- 1) Wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt. zug auf einen Paragraphen vorgelegt haben. 2) Anlage 5. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4447

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Gentests in Medizin, Arbeitsleben und Versi- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf (C) cherungen Drucksache 15/543 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- – Drucksache 15/543 – verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- Überweisungsvorschlag: sen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und nung. Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich wünsche den verbliebenen Kollegen und Kolle- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ginnen einen schönen Rest dieses Abends. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Die hierzu vorgesehenen Redner Wolfgang Wodarg, destages auf morgen, Freitag, den 27. Juni 2003, 9 Uhr, Katherina Reiche, Jerzy Montag und Detlef Parr geben ein. ihre Reden ebenfalls zu Protokoll1). Die Sitzung ist geschlossen.

1) Anlage 6. (Schluss: 21.32 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4449

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden entschuldigt bis zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes Abgeordnete(r) einschließlich über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Verwal- Adam, Ulrich CDU/CSU 26.06.2003* tungsdatenverwendungsgesetz – VwDVG) (Zu- satztagesordnungspunkt 12) Bindig, Rudolf SPD 26.06.2003* Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bürokra- Breuer, Paul CDU/CSU 26.06.2003 tieabbau sollte bereits bei der Überschrift von Gesetzen beginnen. Warum sagen wir nicht einfach: „Abbau von Deittert, Hubert CDU/CSU 26.06.2003* Wirtschaftsstatistiken durch Nutzung von Daten der öf- fentlichen Verwaltung“? Dann wissen gleich alle, was Dr. Flachsbarth, Maria CDU/CSU 26.06.2003 Kerninhalt des Gesetzes ist. Zum Aufbau der Bürokratie haben alle ihren Beitrag Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 26.06.2003 geleistet. Wir sollten jetzt nicht herummäkeln, dass hier lediglich ein kleiner Schritt zum Bürokratieabbau gegan- Haack (Extertal), SPD 26.06.2003 gen wird. Wir sind nicht gehindert, weiter zu gehen. Karl Hermann Statistik muss sein. Gerade wirtschafts- und finanzpo- Höfer, Gerd SPD 26.06.2003* litische Entscheidungen müssen auf einer gesicherten Datengrundlage gefällt werden. Nutzen und Kosten von Jäger, Renate SPD 26.06.2003* statistischen Erhebungen müssen allerdings in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Selbstkritisch müssen Kauch, Michael FDP 26.06.2003 wir immer wieder fragen, ob die Erhebungen, die wir ge- setzlich verordnen, auch notwendig sind. Mit dem vor- Lamp, Helmut CDU/CSU 26.06.2003 liegenden Gesetz sollen Informationsnetze aufgebaut und Doppelerhebungen abgebaut werden. Lintner, Eduard CDU/CSU 26.06.2003* (B) Wir verwenden mehr Verwaltungsdaten und entlasten (D) Lohmann, Götz-Peter SPD 26.06.2003 so die Wirtschaft. Einfach gesagt, wir müssen nicht all das erneut abfragen, was wir an anderer Stelle längst Rauber, Helmut CDU/CSU 26.06.2003* wissen. Wir erleichtern die Übermittlung von Daten der Finanzbehörden und der Bundesanstalt für Arbeit und Riester, Walter SPD 26.06.2003* verzichten auf Abfragen bei den Unternehmen. Auf Wunsch der Länder ist dieses Gesetz befristet. Die Län- Dr. Scheer, Hermann SPD 26.06.2003* der befürchten zusätzliche Kostenbelastungen. Wir ge- hen allerdings davon aus, dass langfristig dieses Gesetz Schmidt (Ingolstadt), BÜNDNIS 90/ 26.06.2003 Kosten einsparen wird. Die Länder sind gebeten worden, Albert DIE GRÜNEN kurzfristig konkrete Vorschläge zur weiteren Reduzie- rung von Wirtschaftsstatistiken zu unterbreiten. Schösser, Fritz SPD 26.06.2003 Lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Wir haben Sehn, Marita FDP 26.06.2003 diesen Wust an Wirtschaftsstatistiken parteiübergreifend aufgebaut. Lassen Sie uns gemeinsam Verantwortung Seib, Marion CDU/CSU 26.06.2003 übernehmen! Offensichtlicher Unsinn sollte als solcher offen benannt und korrigiert werden. Schön, wenn wir Siebert, Bernd CDU/CSU 26.06.2003* uns dabei gegenseitig überflügeln. Nur auf die Bremse treten soll niemand. Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 26.06.2003 DIE GRÜNEN Gisela Piltz (FDP): „Verwaltungsdatenverwen- Vaatz, Arnold CDU/CSU 26.06.2003 dungsgesetz!“ Wenn man sich dieses Wort auf der Zunge zergehen lässt, kann man kaum glauben, dass mit diesem Gesetz weniger Verwaltung und Bürokratie erzielt wer- den soll. Jedoch ist es wirklich so, dass dadurch eine * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung Verwaltungsvereinfachung und die Entlastung der Wirt- des Europarates schaft bezweckt werden soll, und das von Rot-Grün! Sie entschuldigen, wenn ich mich einen Augenblick wun- dern muss. Denn bisher lehnen Sie alle unsere Vor- schläge zum Bürokratieabbau ab. 4450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) In formeller Hinsicht ist in diesem Entwurf hervorzu- schaffen – der Bund ebenso wie die Länder und die Ge- (C) heben, dass eine alte Forderung der FDP, Gesetze mit ei- meinden, aber auch die europäischen Partner in Brüssel. nem Verfallsdatum zu versehen, hier berücksichtigt wurde. Die Bundesregierung lernt! Die Absichten hinter dem Bürokratieaufbau waren dabei ja zumeist durchaus wohl gemeint: Diese Testphase ist bis 2008 sehr lang geworden. Viereinhalb Jahre Testfall, das gibt es nur bei Rot-Grün. Wir wollten Rechtssicherheit für Verwaltungsakte, Ob dieser Weg funktioniert oder nicht, wird sich wohl um wirtschaftliches Handeln zu erleichtern. Tatsächlich schneller herausstellen. aber verkomplizierten und verlängerten wir dadurch Ge- nehmigungsverfahren und erschwerten Investitionen am Auch frage ich mich, warum in § 6 des Gesetzent- Standort Deutschland. wurfs die Bundesregierung, zwar mit Zustimmung des Bundesrates, die Anwendung des Gesetzes aussetzen Wir haben hohe Ansprüche an die Handwerksaus- darf. Die Entscheidung darüber sollte doch beim Parla- übung gestellt, um die Qualität der Leistungen und der ment bleiben und nicht an die Bundesregierung abgege- Ausbildung zu sichern. Tatsächlich aber haben wir den ben werden. Berufszugang zu stark abgeschottet und behindern Exis- tenzgründungen. Es wäre besser, wenn wir im Rahmen der so genann- ten Jo-Jo-Klausel bei der Rücknahme dieser Testphase Wir wollten – damit komme ich zum aktuellen Tages- als Bundestag beteiligt wären. Mit dieser speziellen Re- ordnungspunkt – bessere statistische Informationen über gelung für eine Rechtsverordnung hätten wir nicht die die Wirtschaft, um deren Lage analysieren und gegebe- Pflicht, sondern das Recht, uns zu beteiligen. Wenn nenfalls Handlungsbedarf frühzeitig erkennen zu kön- schon in die richtige Richtung, dann bitte konsequent. nen. Wenn es Ihnen wirklich Ernst mit dem Bürokratieab- Tatsächlich belasten wir die Wirtschaft mit Fragebö- bau wäre, dann sollten Sie endlich die monatliche Um- gen, deren Beantwortung Stunden dauert und zusätzliche satzsteuer-Voranmeldung für mittelständische Unterneh- Erhebungen erfordert und deren Nichtbeantwortung men an das Finanzamt abschaffen. Alle drei Monate strafbewehrt ist. Sicherlich brauchen wir, brauchen ins- reicht völlig aus. Das, meine Damen und Herren von besondere auch Wissenschaft und Forschung aktuelles Rot-Grün, wäre echter Bürokratieabbau! und belastbares statistisches Zahlenmaterial – aber wirk- lich in dem Umfang wie heute? Ist es immer noch nötig, Der Datenschutzbeauftragte hat zwar keine Bedenken das meiste durch Direkterhebungen zu erfragen? Oder gegen dieses Gesetz gehabt, aber an manchen Stellen zeigt der Weg in die Informationsgesellschaft nicht auch (B) fragen wir uns, ob der Grundsatz der „Datensparsam- Möglichkeiten auf, durch Informationsnetze ohnehin (D) keit“ eingehalten wird. Wir werden die Testphase im vorhandene Daten zu nutzen, statt sie in anderem Zu- Hinblick auf den Datenschutz kritisch begleiten. sammenhang nochmals zu erheben? Als Letztes ist noch auf die Kritik des Bundesrates Mit dem Verwaltungsdatenverwendungsgesetz stre- einzugehen, der ja richtigerweise darauf hinwies, dass ben wir an, die Dinge einfacher zu machen. Die Abfrage auch die Kosten zum Aufbau und der Führung der erfor- von Daten bei Unternehmen soll ersetzt werden durch derlichen Datenbanken auszuweisen sind, damit eine die Nutzung von Verwaltungsdaten der Finanzbehörden Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit gewahrt und der Bundesanstalt für Arbeit. bleibt. Auch ist es bedenklich, dass den Ländern erheb- lich höhere Kosten als bisher entstehen. Trotz dieser Dabei geht es zunächst um die Angaben für Umsätze Mängel werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. und die Zahl der versicherungspflichtigen Beschäftigten. Liebe Kollegen und Kolleginnen von Rot-Grün, se- Es soll untersucht werden, ob diese Verwaltungsdaten hen Sie es als Motivationshilfe für die Bundesregierung sich vor allem für konjunkturstatistische Zwecke eignen. an, weiter Bürokratie abzubauen. Das vorliegende Gesetz schafft die rechtlichen Vo- raussetzungen dafür, dass die benötigten Daten künftig Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- zusammengeführt werden können, und auch dafür, die minister für Wirtschaft und Arbeit: Ein enges Geflecht Verwendbarkeit für den angestrebten Zweck zu testen. von Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften, Auflagen, Fallen diese Tests positiv aus, bestätigt sich die Eignung Meldepflichten schränkt die Spielräume der Unterneh- der Verwaltungsdaten für statistische Zwecke, werden men ein und lähmt ihre Initiative. Das Regelwerk, das sie künftig die entsprechenden Unternehmensbefragun- Selbstständige in unserem Land beim Gründen und Fort- gen obsolet machen. Wir sind überzeugt, dass durch die- führen ihrer Betriebe zu beachten haben, füllt Regale, ses Verfahren mittelfristig beträchtliche Kosten einge- und durch die Meldungen, die sie während der laufenden spart werden können. Geschäfte zu erstatten haben, kommen ständig neue Ak- tenordner hinzu. Eine solche Entlastung von statistischen Berichts- pflichten ist in unserem gemeinsamen Interesse. Denn Dieser bürokratische Aufwuchs behindert den Auf- nicht das Ausfüllen statistischer Fragebögen, sondern und Ausbau von Unternehmen, er hemmt Investitionen der Erfolg am Markt und das Schaffen neuer Arbeits- und Innovationen, er kostet viel Zeit, viel Geld und Ner- plätze sind die originären unternehmerischen Aufgaben ven. Wir alle haben dazu beigetragen, dieses Dickicht zu und Ziele. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4451

(A) Der Gesetzentwurf ist Bestandteil des Masterplans Man kann es auf die einfache Formel bringen: Die (C) Bürokratieabbau und ein wichtiges Projekt für das Ziel Gesetzgebungskompetenz liegt beim Bund, die Bediens- der Bundesregierung, Bürokratie im Bereich der amtli- teten und damit die Kosten liegen bei den Ländern und chen Statistik abzubauen. Er beruht auf einem mehrjäh- Kommunen. Das darf aber nicht dazu führen, dass nun rigen Abstimmungsprozess zwischen Bund und Län- völlig unkritisch jede Landesforderung übernommen dern. wird – bei allem Verständnis für deren prekäre Finanzsi- tuation. Der Bund ist den Ländern bei der jetzt vorgelegten Fassung nochmals entgegengekommen. So haben wir Es gilt seit langem als ausgemacht, dass die Beamten- eine neue Kostenermittlung in Auftrag gegeben, die den besoldung den Tarifabschlüssen im öffentlichen Dienst Gesetzentwurf ergänzt und erneut die beträchtlichen mit- folgen soll. telfristigen Entlastungsmöglichkeiten durch das in Aus- Es gibt ein großes Maß an Übereinstimmung, dass das sicht genommene Vorgehen bestätigt. Tarifergebnis inhaltsgleich, nämlich 4,4 Prozent Erhö- Die weitergehenden Forderungen des Bundesrates hung in drei Schritten, auf die Beamten übertragen wer- sind mit diesem Ziel nicht vereinbar. Den Zweck des Ge- den soll. Dies haben sowohl der Bundesinnenminister setzes nur auf Untersuchungen zur Eignung der Verwal- als auch die innenpolitischen Sprecher aller Parteien und tungsdaten allein für konjunkturstatistische Zwecke zu die Berichterstatter deutlich gemacht. An diesem Grund- beschränken und den Übergang in den Echtbetrieb zu satz wollen wir und werden wir festhalten. Wir werden streichen würde die erzielbaren Einsparungen und den für eine inhaltsgleiche Übernahme des Tarifergebnisses beabsichtigten Bürokratieabbau infrage stellen. sorgen. Dies trifft auch auf das dem Bundestag übermittelte Zwischen den Innenpolitikern aller Fraktionen war Schreiben des Wirtschaftsministeriums von Baden- aber auch Konsens, dass der Kompensationsteil aus dem Württemberg – Ausschussdrucksache 15(9)361 vom Tarifabschluss ebenfalls auf die Besoldung und Versor- 4. April 2003 – zu. Hier werden im Wesentlichen die Ar- gung übertragen werden muss. Aus diesem Grunde soll gumente wiederholt, die schon im Beschluss des Bun- die Besoldungserhöhung erst mit dreimonatiger Ver- desrates genannt sind und die von der Bundesregierung schiebung gegenüber dem Tarifbereich in Kraft treten. in ihrer Gegenäußerung nicht akzeptiert wurden. Das bedeutet eine Besoldungserhöhung zum 1. April für die unteren Besoldungsgruppen und eine Besoldungser- Jetzt sollten wir erst einmal die Ergebnisse der Tests höhung zum 1. Juli für die höheren Besoldungsgruppen. abwarten. Hierbei handelt es sich lediglich um den Ausgleich Ich bitte um Ihre Zustimmung zum Gesetz in der Ih- für Regelungen im Tarifbereich, die in dieser Form nicht (B) nen vorliegenden Fassung. (D) auf Besoldung und Versorgung übertragen werden kön- nen, wie zum Beispiel Wegfall des AZV-Tages, künftige Verschiebung des Zahlungstermins etc. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden Nun hat der Bundesrat mit großer Mehrheit eine Öff- nungsklausel für eine nochmalige bis zu dreimonatige zur Beratung über Verschiebung der Besoldungsanpassung beschlossen. Wir wollen diesem Votum des Bundesrates nicht folgen, – Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung sondern es bei dieser dreimonatigen Verschiebung als von Dienst- und Versorgungsbezügen in Kompensationslösung belassen. Für eine weitere Ver- Bund und Ländern 2003/2004 (Bundesbesol- schiebung gibt es keine überzeugende Begründung, au- dungs- und -versorgungsanpassungsgesetz ßer dem Diktat der leeren Kassen. Das aber würde eine 2003/2004 – BBVAnpG 2003/2004) Beamtenbesoldung nach Haushaltslage bedeuten. Bei al- – Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung len vergangenen und auch künftigen Veränderungen dienstrechtlicher Vorschriften muss der Grundsatz beachtet werden: keine besonderen Privilegien, aber auch keine Sonderopfer für die Beam- – Unterrichtung: Zweiter Versorgungsbericht ten. der Bundesregierung Der Staat erwartet von seinen Beamten zu Recht volle (Tagesordnungspunkt 7 a bis c) Hingabe. Das bedeute motivierte und engagierte Arbeit Hans-Peter Kemper (SPD): Die Situation, in der zum Wohl der Bürger. Die Beamten dürfen allerdings ih- wir die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen rerseits auch zu Recht eine ausreichende Alimentation in Bund, Ländern und Kommunen diskutieren und be- durch den Staat erwarten. schließen, ist sehr schwierig. Die Finanzsituationen von Die Länder haben darüber hinaus strukturelle Verän- Kommunen, Ländern und Bund ist – gelinde gesagt, – derungen in Form von Öffnungsklauseln für die Einmal- dramatisch und das wirkt sich ohne Zweifel auch auf die zahlungen, sprich Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld, be- Stimmung und auf unser Gesetzgebungsvorhaben aus. schlossen. Dem werden wir zustimmen; zum einen, um Ich will vorausschicken, dass ich großes Verständnis den Ländern die dringend nötigen Finanzspielräume ein- für die Wünsche der Länder und Kommunen habe; denn zuräumen, zum anderen aber auch, weil dieser Gesetz- die große Mehrzahl der öffentlich Bediensteten bzw. der entwurf nur mit Bund und Ländern gemeinsam beschlos- Beamten ist bei Ländern und Kommunen beschäftigt. sen werden kann. 4452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Nach unserem Dafürhalten sollen aber Bund und Län- sowohl das Subsidiaritätsprinzip als auch die Erhöhung (C) der für sich und gesondert entscheiden können, ob und in des Wettbewerbsföderalismus sprechen dafür, den Län- welchem Maße sie die so geschaffenen Möglichkeiten dern das wieder zurückzugeben, was sie freiwillig An- der Öffnungsklausel nutzen wollen. Im Gesetzentwurf fang der 70er-Jahre an den Bund delegiert haben, näm- des Bundesrates waren diese Ermessensspielräume nur lich die Höhe des Urlaubs- und des Weihnachtsgeldes für die Länder vorgesehen. Wir sind der Meinung, dass festzulegen. Auch der Umstand, dass der überwiegende Bund und Ländern hier gleiche Kompetenzen einge- Teil der 1,7 Millionen Beamte in Deutschland Landes- räumt werden sollen, und werden eine entsprechende bzw. Kommunalbeamte sind, spricht für die Gewährung Gesetzesänderung beschließen. der Öffnungsklausel. Aber ganz so leicht ist die Sache, Ich wäre sehr froh – wir werden es auch auf jeden Fall denke ich, doch nicht; denn ich möchte die Länder, aber versuchen –, wenn hier gleichzeitig schrittweise die be- auch die Bundesregierung davor warnen, sich der Illu- stehenden Unterschiede bei dem Bemessungsfaktor von sion hinzugeben, bei den Beamten das große Einsparpo- Sonderzuwendungen zwischen Ost und West beseitigt tenzial zu sehen – auch wenn die Versuchung groß ist. werden könnten. Bisher ist es immer noch so, dass im Eines ist ganz klar festzustellen: Die Kasse des Bundes Jahre 2002 ein Bemessungsfaktor von 86 Prozent bei und die Kassen vieler Länder sind insbesondere wegen den Sonderzuwendungen in Westdeutschland und von der katastrophalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik 75 Prozent in Ostdeutschland bestand. Das wird von vie- und der unterbliebenen Strukturreformen durch die rot- len gerade in den neuen Bundesländern als ungerecht grüne Bundesregierung leer. Im Jahr 2002 machten die empfunden. Personalausgaben beim Bund 10,8 Prozent, bei den Län- dern 37,7 Prozent und bei den Kommunen 26,8 Prozent Ich möchte auch noch eine kurze Bemerkung zu dem der Gesamtausgaben aus. Dies darf allerdings nicht dazu Begehren des Landes Sachsen-Anhalt machen, hier in führen, dass die Beamten nunmehr zu den „Spareseln“ besonderer Weise Vorruhestandsregelungen einzuführen, der Nation gemacht werden. An dieser Stelle muss auch und zwar Regelungen mit einer 25-prozentigen Arbeits- klargestellt werden, dass die Beamten vollkommen zu leistung bei 83 Prozent Gehalt. Unrecht mit einem teilweise negativen Image behaftet Ich habe gerade für die neuen Bundesländer sehr viel sind. Der weit überwiegende Teil der Beamtenschaft ist Verständnis. Sie haben noch aus der Vergangenheit ein außerordentlich leistungsbereit, service- und bürgerori- Überangebot an Beamten. Es hat schon früher ähnliche entiert. Diese hohe Motivation und dieses enorme En- Versuche anderer Länder gegeben, die in die gleiche gagement dürfen nicht dadurch beeinträchtigt werden, Richtung gingen und die wir ebenfalls abgelehnt haben. dass die Beamten zu „Melkkühen“ degradiert werden.

(B) Wir vermögen außerdem einen Spareffekt bei der von Sowohl der Bund als auch die Länder haben eine Für- (D) Sachsen-Anhalt angedachten Lösung nicht zu erkennen – es sorgepflicht gegenüber den Beamten, da sie für jeden sei denn, man unterstellt, dass die auf diesem Wege dann Einzelnen durch Parlamentsbeschluss eine entspre- vorzeitig aus dem Dienst ausscheidenden Beamten keine chende Planstelle geschaffen haben. Auch muss vermie- Leistungen erbracht hätten. den werden, dass die Beamten zu den Leidtragenden des Lassen Sie mich aber zur formalen Abwicklung noch in meinen Augen überhöhten und nicht realistischen Ta- einige Punkte sagen: Wir sprechen heute über zwei rifabschlusses im öffentlichen Dienst werden. Es darf rechtlich unterschiedliche Bereiche. Einmal geht es um nicht so weit kommen, dass der Staat das, was er dem an die Übernahme des Tarifergebnisses für Besoldung und der einen Seite des Schreibtisches sitzenden Mitarbeiter Versorgung, zum anderen geht es um Strukturverände- zusätzlich gewährt, sich von dem auf der anderen Seite rungen. Wir werden diese beiden Bereiche zu einer Ein- des Schreibtisches sitzenden Mitarbeiter wieder einspart. heit zusammenführen. Das ist logisch und absolut sinn- Diese Gefahr ist nicht konstruiert, sondern vielmehr voll. Inhaltlich gibt es zwischen beiden Bereichen eine ganz konkret. sehr große Nähe. Was mir besonders wichtig erscheint: Von den Betroffenen werden diese Bereiche im Zusam- Wird beispielsweise das Tarifergebnis mit dreimonati- menhang gesehen. Es handelt sich in beiden Fällen um ger Verzögerung übertragen und gleichzeitig das Weih- Bestandteile von Besoldung und Versorgung, die in ih- nachtsgeld um 25 Prozent gesenkt, ist das Jahresgehalt ren Veränderungen positive oder negative Auswirkungen 2003 im Westen nur um 0,1 Prozent und im Osten um auf die Beamteneinkommen haben. 0,5 Prozent höher als 2002. Ab der Besoldungsgruppe A 12 käme es gegenüber 2002 sogar zu echten Gehalts- Ich weiß, dass die jetzigen Regelungen bei den Beam- verlusten: minus 0,1 Prozent in den neuen und minus ten, aber auch bei ihren Berufsorganisationen nicht nur 0,5 Prozent in den alten Bundesländern. Ein vergleichba- Freude auslösen. Wir müssen heute und auch in Zukunft rer Angestellter bekommt dagegen auf das Jahr gerech- dem öffentlichen Dienst eine Menge zumuten. Es gibt net in den unteren Vergütungsgruppen 2,4 Prozent bzw. allerdings keinen anderen Weg, wenn wir einen leis- in den oberen Vergütungsgruppen 1,8 Prozent mehr. tungsstarken öffentlichen Dienst und die langfristige Be- Diese Ungleichbehandlung wäre nicht vermittelbar. Eine zahlbarkeit von Besoldung und Versorgung sichern wol- um drei Monate verzögerte Anpassung der Beamtenbe- len. soldung an den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist in meinen Augen das Höchste der Gefühle. Daher ist der Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): An sich am vergangenen Freitag getroffene Beschluss des Fi- könnten wir uns heute die Sache einfach machen. Denn nanzausschusses des Bundesrates, den Länden eine ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4453

(A) zögerte Anpassung um bis zu sechs Monaten zu gewäh- beamte, Krankenschwestern oder auch Soldaten auf der (C) ren, alles andere als akzeptabel und hinnehmbar. anderen Seite, die unter schwierigsten Bedingungen ihre Aufgaben erfüllen und zu Recht an der Gehaltsentwick- An dieser Stelle muss man sich auch in aller Deutlich- lung teilhaben wollen. Es ist auch eine Debatte, die sich keit klarmachen, über was wir eigentlich sprechen. Es ist mit den Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und dem nicht so, dass die Beamten die Spitzenverdiener der Verhältnis zwischen Beamten und den Angestellten und deutschen Gesellschaft sind. Ein Hauptwachtmeister, Arbeitern des öffentlichen Dienstes befasst und hoffent- 38 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, der in der Besol- lich auch eine Debatte, die uns zeigt, was eigentlich noch dungsstufe A 4 eingruppiert ist, verdient in den alten zu tun wäre, wenn wir das Kernproblem, die Personal- Bundesländern 2 083,43 und in den neuen Bundeslän- kostenbelastung für die öffentlichen Haushalte, wirklich dern 1 875,09 Euro im Monat. Ein Justizvollstreckungs- in den Griff bekommen wollen. sekretär, 40 Jahre, ledig, der in A 6 eingruppiert ist, kommt in den neuen Bundesländern gerade einmal auf Wir unterstützen es nachdrücklich, dass die Ergeb- 1 704,82 Euro und in den alten Bundesländern auf nisse der Tarifverhandlungen jetzt auch für die Beamten 1 894,25 Euro monatlich. übernommen werden. Zu den vorgesehenen Terminen: Weitere Verschiebungen um noch einmal drei Monate, In diesen Besoldungsstufen spüren es die Beamten wie in der Vorlage genannt, lehnen wir kategorisch ab. sehr wohl und deutlich, wenn ihnen das Urlaubsgeld komplett und das Weihnachtsgeld anteilig gestrichen Dass der Tarifabschluss und auch die Übertragung auf wird. Außerdem gilt es, entschieden darauf hinzuweisen, die Gruppe der Beamten die öffentlichen Haushalte vor dass die Streichung des Urlaubsgeldes sozial nicht aus- eine Kraftprobe stellt, ist unbestritten und gleichermaßen gewogen ist, da es in erster Linie die sozial Schwachen die Überleitung zum zweiten, ungleich sensibleren trifft. Bei dem Urlaubsgeld handelt es sich um einen fes- Thema und schwierigeren Thema, der Öffnungsklausel ten Betrag, der bei den unteren Besoldungsgruppen we- für die Sonderzuwendung, also das Weihnachtsgeld und sentlich stärker ins Gewicht fällt als bei den höheren. die Streichung des Urlaubsgeldes. Dass die Länder ihre Um die Bandbreite zu verdeutlichen: Im Westen beträgt Personalkosten zumindest teilweise selbst beeinflussen das Urlaubsgeld in der Besoldungsgruppe A 2 spürbare möchten, ist verständlich. Was wir aber dabei nicht über- 23,5 Prozent eines Anfangsgrundgehaltes und bei B 11 sehen dürfen, ist der Umstand, dass diese Öffnung und lediglich nur noch 2,5 Prozent. deren Gestaltung auch Grenzen haben muss. Wir haben von Beginn an den Vorschlag der rot-roten Regierung Ähnlich gravierende Wirkungen sind beim Weih- aus Berlin, nämlich eine Öffnungsklausel auch für das nachtsgeld zu beachten. Es beträgt derzeit im Westen Grundgehalt einzuführen, kategorisch abgelehnt. Wir 86,31 Prozent und im Osten 64,73 Prozent der für De- hätten uns gleichermaßen gewünscht, dass der Vorschlag (B) (D) zember maßgebenden Bezüge. Es macht damit im Wes- des Deutschen Beamtenbundes, das Weihnachtsgeld zu ten 6,7 Prozent und im Osten 5,1 Prozent des Jahresge- kürzen, dabei aber zu zwölfteln und in das Grundgehalt haltes aus. Wird das Weihnachtsgeld um beispielsweise zu integrieren, bei den Ländern eine Mehrheit findet. 25 Prozent gekürzt, entspricht dies einer Absenkung des Dies war, trotz anfänglich positiver Zeichen, leider nicht Jahresgehaltes um 1,7 Prozent in den alten bzw. 1,3 Pro- möglich. zent in den neuen Bundesländern. Was ich aber an dieser Stelle schon noch einmal beto- Bei allem sachlichen Für und Wider spricht meines nen und auch herausstreichen muss, ist das Verhalten des Erachtens für die Gewährung der Zulassung der Öff- Deutschen Beamtenbundes. Es ist in diesen Tagen nicht nungsklausel ganz deutlich der Umstand, dass das, was selbstverständlich, dass eine Berufsvertretung, eine Ge- der Bundesrat jetzt beantragt, vielerorts bereits Realität werkschaft, von sich aus einen Vorschlag macht, der ist. Viele Städte und Gemeinden, insbesondere in den letztendlich als Ergebnis eine Gehaltsreduzierung für neuen Bundesländern, weichen bereits heute in vollem seine Mitglieder beinhaltet. Während wir heute das Ver- Einvernehmen zwischen Dienstvorgesetzten und Mitar- halten der IG Metall erleben müssen, die einen völlig un- beitern von der tariflichen Bezahlung nach unten ab, ein- sinnigen Streik für die 35-Stunden-Woche provoziert zig und allein um Entlassungen zu vermeiden. Deshalb und produziert, ist für mich in dieser Zeit das Verhalten halte ich es nur für sachgerecht, dass, was in der Praxis des Deutschen Beamtenbundes ein sehr positives Zei- ohnehin de facto existiert, rechtlich den Ländern zu er- chen, das es auch zu würdigen gilt. möglichen. Ich hoffe nur, dass es sich die Länder nicht in einigen Jahren wieder anders überlegen, und uns dieses Im Ergebnis haben wir jetzt einen Vorschlag, der den „Geschenk“ wieder zurück übertragen wollen. Meines Ländern die Möglichkeit eröffnet, das Weihnachtsgeld bis Erachtens ist das Thema Beamtenbesoldung zu wichtig, auf Null herunterzufahren, in wirtschaftlich besseren Zei- um es zum ewigen Spielball zwischen Bund und Län- ten dieses Weihnachtsgeld aber wieder anzuheben oder es dern zu machen. zu belassen, wie es heute ist. Wenn dieser Vorschlag eine Mehrheit findet, ist es nun an den Ländern, dafür Sorge zu tragen, dass dieses Instrument sozial gerecht angewandt Clemens Binninger (CDU/CSU): Wenn wir heute wird und es mit den wirtschaftlichen Lebensverhältnissen über Besoldungsanpassungen für Beamte und Öffnungs- im jeweiligen Bundesland übereinstimmt. klauseln debattieren, so ist dies eine Debatte im Span- nungsfeld zwischen staatlichen Haushalten auf der einen Dabei dürfen wir das Kernproblem nicht aus den Au- Seite – denen an jeder Ecke das Geld fehlt und die zur gen verlieren: Die Belastung der öffentlichen Haushalte Einsparung gezwungen sind – und Berufen wie Polizei- mit Personalausgaben liegt doch nicht daran, dass der 4454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) einzelne Beamte zu viel verdient. Wer wird denn ernst- nen. Wir wollen Klarheit für die Beamtinnen und Beam- (C) haft behaupten, dass ein Polizeibeamter, nach Ausbil- ten und fordern jetzt eine zügige Verabschiedung des dung, Mitte 30 oder Anfang 40, in einem mittleren Gesetzentwurfes im Bundesrat. Dienstgrad mit etwa 2 200 Euro brutto – eine Kranken- schwester noch weniger, ein Soldat in etwa gleichen Ver- Zur Anwendung der Öffnungsklausel im Bund konn- hältnissen – zu viel verdient? Doch ernsthaft niemand! ten wir in den vergangenen Tagen in den Medien viele widersprüchliche Meldungen lesen. Fakt ist, es ist vieles Deshalb müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass möglich, aber nichts entschieden. 2003 werden die Be- wir diesen Weg einer durch die Öffnung möglichen Kür- amtinnen und Beamten des Bundes ihr Weihnachts- und zung, die durch die Gehaltserhöhung zwar kompensiert Urlaubsgeld ungekürzt erhalten. Der Haushaltsentwurf wird, aber letztendlich doch eine Kürzung darstellt, nicht für das Jahr 2004 liegt noch nicht vor. Natürlich werden beliebig oft gehen können. Wir sollten endlich auch an- auch globale Minderausgaben im Personalbereich disku- erkennen, dass die Beamten hier wirklich auch ein Opfer tiert. erbringen würden, auch die niedrigen Einkommensgrup- pen. Deshalb ist auch die Schlagzeile, die man jedes Jahr Meine Fraktion wird Vorschläge machen, wie diese von Neuem lesen muss: „Jetzt sollen auch mal die Be- zu erwirtschaften sind. Möglich sind: Personaleinspa- amten ein Opfer bringen“, definitiv falsch. Sie haben es rungen, neue Arbeitszeitregelungen; für Bundesbeamte erbracht, die Polizeibeamten, die Krankenschwestern, gilt die 38,5-Stunden-Regelung. Sollten auch Kürzungen die Soldaten. der Sonderzuwendungen diskutiert werden, müssen diese nach unserer Ansicht sozial gestaffelt sein. Die Kernbotschaft dieser Debatte lautet daher: Nicht Gehaltskürzungen bei Einzelnen, sondern die Reduzie- Lassen Sie mich zum Schluss sagen. Wir sind gegen rung von staatlichen Aufgaben sind der Weg zum weite- Sonderopfer von Beamtinnen und Beamte. Die Ein- ren Abbau des Personalkostenanteils in den öffentlichen schnitte, die zur Entlastung der öffentliche Haushalte im Haushalten. öffentlichen Dienst vorgenommen werden müssen, stehen im Kontext der Agenda 2010. Sie sind Teil der gesamt- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gesellschaftlichen Anstrengungen zur Konsolidierung der NEN): Gemeinsam haben Bund und Länder den Ergeb- öffentlichen Haushalte. Der öffentliche Dienst braucht nissen der Tarifverhandlungen für den öffentlichen eine verlässliche Zukunftsperspektive. Notwendige Ein- Dienst vom 9. Januar 2003 zugestimmt. Mit dem Gesetz- sparungen müssen in eine umfassende Reform des öffent- entwurf zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbe- lichen Tarifrechts eingebunden werden. Kernpunkte die- züge stellt die Bundesregierung die inhalts- und wir- ser Reform müssen aus grüner Sicht sein: ein transparentes (B) kungsgleiche Übernahme für die Beamtinnen und einheitliches Dienstrecht, ein leistungsorientiertes Ent- (D) Beamten und Versorgungsempfänger sicher. geltsystem und die Durchlässigkeit des Systems. Wir sind immer wieder gefragt worden, warum die Übernahme der Tarifvereinbarungen für die Beamtinnen Ernst Burgbacher (FDP): Mit ihrem Entwurf eines und Beamten so lange dauert. Die Bundesregierung hat Bundesbesoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes sich in intensiven Gesprächen mit den Ländern bemüht, 2003/2004 verlangt die Bundesregierung erneut ein Son- die Übernahme einvernehmlich zu regeln. Wie an den deropfer von den Beamten. Sie nutzt und unterstützt damit zahlreichen Bundesratsanträgen aus den Ländern für je- bestehende Vorurteile und wird ihrem Versprechen einer den deutlich wird, sind es die Länder, die das Einverneh- zeit- und inhaltsgleichen Umsetzung des Tarifergebnisses men infrage stellen. im öffentlichen Dienst auf die Beamten nicht gerecht. Die Bundesregierung ist in der Frage der Öffnungs- Die FDP-Bundestagsfraktion hat beim Abschluss der klauseln nicht von sich aus gesetzgeberisch tätig gewor- Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst kritisiert, den. Sie ist dem einmütigen Wunsch aus den Ländern dass die Verhandlungsführer, insbesondere Bundesmi- entgegen gekommen und lässt lediglich im engen Rah- nister Schily, damals eingeknickt sind und einem zu ho- men der Sonderzahlungen eine „Öffnungsklausel“ zu: hen Abschluss zugestimmt haben. Die Folgen davon Die Gestaltung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes wird sind bekannt: Einige Länder überlegen den Ausstieg aus in das Ermessen der Länder gestellt. der Tarifgemeinschaft. Baden-Württemberg hat den Austrittsbeschluss gefasst und diesen Montag bestätigt. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass die Rahmengesetzgebung des Bundes und damit die Bun- Das Land Berlin ist bereits ausgetreten. Auch die Dis- deseinheitlichkeit gewahrt werden muss. Weiter gehende kussion über Öffnungsklauseln ist eine Folge dieses zu Wünsche der Länder nach Streckung der linearen Über- hohen Abschlusses. Nun sollen die Beamten dafür be- nahme um weitere drei Monate lehnen wir ab. Der ge- zahlen. Tatsache ist jedoch, dass die Beamten in den ver- meinsam getragene Tarifabschluss für den öffentlichen gangenen Jahren weit mehr Sonderopfer gebracht haben Dienst kann jetzt nicht zulasten der Beamtinnen, Beam- als andere Berufsgruppen. Tatsache ist auch, dass wir als ten und Versorgungsempfänger finanziert werden. Diese Staat Gefahr laufen, im Wettbewerb auf dem Arbeits- Schieflage lassen wir nicht zu. markt um gute Köpfe den Kürzeren zu ziehen. Ein at- traktiver öffentlicher Dienst ist auf hoch qualifizierte Es muss aber auch völlig klar sein, dass die Über- und motivierte Beamte angewiesen. Deshalb muss mit nahme des Tarifabschlusses und die Ermöglichung einer den vordergründigen und populistischen Maßnahmen Öffnungsklausel nur im Paket beschlossen werden kön- Schluss sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4455

(A) Die FDP wird als Konsequenz aus diesem völlig Gleichwohl besteht ein enger sachlicher und auch finan- (C) unbefriedigenden Handeln der Bundesregierung Vor- zieller Zusammenhang. Nicht nur die Dienstherren be- schläge für ein modernes Besoldungsrecht vorlegen. Wir trachten die Personalkosten in ihren jeweiligen Haushal- wollen darin die Einheitlichkeit der Besoldung in ten als Gesamtheit, sondern auch die Mitarbeiterinnen Deutschland weiter gewährleisten, wir werden darin zu- und Mitarbeiter bewerten stets das, „was im Jahr unterm sätzliche Möglichkeiten der Dienstherren für mehr Fle- Strich bleibt“. Dies haben die Reaktionen und Stellung- xibilität schaffen. Insbesondere müssen Motivation und nahmen der Verbände und der Mitarbeiterinnen und Mit- Leistungsbereitschaft gefördert werden. arbeiter zu beiden Gesetzesvorhaben in den letzten Wo- chen und Monaten gezeigt. Leider haben die meisten Bundesländer die schon be- stehenden Möglichkeiten bisher kaum wahrgenommen. Deshalb begrüße ich es, dass beide Gesetzesvorhaben Die bestehenden Differenzierungsmöglichkeiten in der in den parlamentarischen Beratungen des Bundestages Bezahlung im öffentlichen Dienst werden nicht genutzt. parallel beraten werden. Möglich geworden ist dies Insbesondere in den Ländern werden Elemente der Leis- durch die verfahrensmäßige und inhaltliche Abstimmung tungsbezahlung im Beamtenbereich unzulänglich prak- beider Regelungsinitiativen während der vergangenen tiziert. Seit Jahren erzielen die Länder so einseitig Ein- Monate zwischen Bundesrat und Bundesregierung. sparungen auf Kosten der Beamten. Die Freigabe der Diese Abstimmung mit den Ländern ist einmal mehr Stellenobergrenzen durch den Bund wird nicht genutzt. notwendig, weil von den Mehrbelastungen, die durch die Innerhalb der bestehenden Stellenobergrenzen hätten Anpassung der Bezüge in den Jahren 2003 und 2004 ent- Bund, Länder und Gemeinden ihre Gestaltungsmöglich- stehen, in erster Linie die Haushalte der Länder und keiten seit langem auch zur Straffung von Behörden und Kommunen betroffen sind. Wenn auch die konkurrie- zu Einsparungen nutzen können. rende Gesetzgebungskompetenz für Besoldung und Ver- Die FDP hält an dem Ziel fest, dass der öffentliche sorgung dem Bundesgesetzgeber zusteht, so sind doch Dienst zu modernisieren ist. Modernisierung des öffent- die weitaus meisten Beamtinnen und Beamten – etwa lichen Dienstes ist Daueraufgabe im Interesse von Bür- 80 Prozent – im Landes- und Kommunaldienst. Nicht gern, Gesellschaft und Staat. Die öffentliche Verwaltung zuletzt deshalb hat die Bundesregierung mit der Vorlage muss auf ihre Kernaufgaben konzentriert werden. Dazu ihres Gesetzentwurfs zur Besoldungsanpassung abge- gehören die Eingriffsverwaltung, aber auch andere Be- wartet, bis sich der Bundesrat auf eine Lösung für die reiche, wo es die Sicherheit des Staates und des öffent- begrenzte Öffnung des Besoldungsrechts beim Weih- lichen Lebens, die Stabilität staatlichen Handelns und nachts- und beim Urlaubsgeld verständigt hat. Das Er- die staatliche Daseinsvorsorge zu gewährleisten gilt. gebnis liegt nunmehr mit den beiden Gesetzentwürfen (B) Aufgrund ihrer Organisationshoheit müssen Bund und auf dem Tisch. (D) Länder diesen Kernbereich ausfüllen. Beginnen möchte ich mit dem Regierungsentwurf Ein funktionsfähiger öffentlicher Dienst ist eine wich- eines Gesetzes über die Anpassung der Dienst- und tige Säule unseres demokratischen Rechtsstaats. Dabei Versorgungsbezüge in Bund und Ländern 2003/2004: hat sich auch das Berufsbeamtentum bei der politischen Der Gesetzentwurf setzt wirkungsgleich den Tarif- Entwicklung Deutschlands bewährt. Die FDP hält daher abschluss um. Das heißt, wie im Tarifbereich werden die auch weiterhin am Grundsatz der amtsangemessenen Dienst- und Versorgungsbezüge für die Beamten, Rich- Alimentation fest. Dies schließt den Erhalt des Gleich- ter und Soldaten in drei Schritten linear um insgesamt klangs von Besoldung und Tarif und die Gleichbehand- 4,4 Prozent angehoben und werden auch die tariflich ver- lung aller Statusgruppen im öffentlichen Dienst ein, so- einbarten Einmalzahlungen übertragen. Untrennbarer Be- weit nicht die Statusunterschiede Unterschiedlichkeit standteil des Tarifabschlusses sind die im Tarifrecht ver- erfordern. Sonderopfer zulasten der Beamten lehnen wir einbarten Entlastungsmaßnahmen. Diese Entlastungen ab. Nicht kurzfristiges Sparen, sondern Modernisierung, werden mit dem Gesetzentwurf wirkungsgleich durch Motivationssteigerung und Leistungsoptimierung müs- Verschiebung der Erhöhungszeitpunkte um jeweils drei sen unsere Ziele sein. Dazu tragen beide vorliegenden Monate nachvollzogen. Gesetzentwürfe leider nicht bei. Durch den Gesetzentwurf ist sichergestellt, dass auch die Beamten, Richter und Soldaten sowie Versorgungs- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- empfänger trotz schwieriger Rahmenbedingungen an der desminister des Innern: Unter diesem Tagesordnungs- allgemeinen Einkommensentwicklung teilnehmen. Ich punkt werden heute drei Vorlagen beraten. Schwerpunkt gehe davon aus, dass über den vorliegenden Regierungs- der Aussprache ist aus meiner Sicht die erste Lesung des entwurf zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfes eines 2003/2004 in diesem Hause bereits Einvernehmen be- Gesetzes über die Anpassung der Dienst- und Versor- steht und es keinen Anlass zu langen Erläuterungen gibt. gungsbezüge in Bund und Ländern 2003/2004 sowie des Die wirkungsgleiche Übertragung des Tarifergebnisses vom Bundesrat eingebrachten Entwurfes eines Gesetzes auf die Beamtinnen und Beamten war von Anfang an un- zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften. Beide Ge- ser gemeinsames Regelungsziel. setzentwürfe haben nicht nur unterschiedliche „Urheber“ – die Bundesregierung auf der einen und den Bundesrat Der vom Bundesrat eingebrachte Entwurf eines auf der anderen Seite –, sondern haben vor allem Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften verschiedene Regelungsmotive und -ziele zum Inhalt. hat in den vergangenen Wochen und Monaten zu 4456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) kontroversen Diskussionen geführt. Der Bundesrat hat – Rechtssicherheit für biotechnologische Er- (C) der Gesetzesinitiative im März diesen Jahres nach findungen durch schnelle Umsetzung der langen Beratungen ohne Gegenstimmen zugestimmt. Biopatentrichtlinie Damit erhalten die Länder die Möglichkeit, eigenstän- dige Regelungen im Bereich des Weihnachts- und des (Tagesordnungspunkt 12, Zusatztagesordnungs- Urlaubsgeldes zu erlassen. punkt 13) Mit Blick auf die von mir bereits angesprochene un- terschiedliche Verteilung der Personalkosten hat die Christoph Strässer (SPD): Es ist schön, dass sich Bundesregierung in ihrer Stellungnahme dem Wunsch nach langer Zeit auch die Opposition eines Themas nä- der Länder nach mehr Gestaltungsspielraum bei der hert, das viele gesellschaftliche Gruppen aus den unter- Festlegung von Weihnachts- und Urlaubsgeld entspro- schiedlichsten Bereichen und auch die Koalitionsfraktio- chen. Ich denke, es ist aber auch eine Selbstverständlich- nen in den letzten Jahren sehr intensiv beschäftigt hat. keit, dass der Bund dabei für seinen Bereich dieselben Regelungsmöglichkeiten für sich in Anspruch nimmt. Gerade angesichts der Tatsache, dass die Bundes- Dies hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme regierung den von der CDU/CSU geforderten Gesetz- ausdrücklich klargestellt. Im Ergebnis bedeutet das, entwurf nunmehr vorgelegt hat und die parlamentarische Bund und Länder können zukünftig durch eigene bun- Debatte über diesen Entwurf beginnen kann, kann ich des- und landesgesetzliche Regelungen das Weihnachts- mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hier und des Urlaubsgeld selbst festlegen. wieder einmal um den Versuch handelt, Regierung und Koalition vorzuführen, und ich sage Ihnen dazu: Bei Die Diskussion um so genannte Öffnungsklauseln ha- diesem Thema, dass in Teilbereichen ethische, wissen- ben die dienstrechtlichen Foren der vergangenen Monate schaftliche, ökonomische und auch rechtliche Grenzzie- bestimmt. Dabei wird etwa einer „Besoldung nach Kas- hungen erfordert, ist dies unangemessen und wird von senlage“ das Wort geredet. Wer dies durch die Öffnungs- uns zurückgewiesen! klausel ermöglicht sieht, überschätzt jedoch die Trag- weite dieser Regelungen. Ihr Antrag ist aber auch in sich widersprüchlich und inhaltlich nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Zum einen Einheitliche Grundstrukturen und dabei einheitliche fordern Sie die sofortige Umsetzung der europäischen Standards in der Besoldung sollen auch in Zukunft erhal- ten bleiben. Nur dann kann die Funktionsfähigkeit unse- Biopatentrichtlinie in nationales Recht. Gleichzeitig wol- res öffentlichen Dienstes in allen Bereichen gewahrt len Sie eine nicht näher beschriebene „Weiterentwick- werden. Wenn wir jedoch diese einheitliche Grundstruk- lung“ der Richtlinie durch die Europäische Kommission, wohl wissend, dass ein entsprechendes Initiativrecht (B) turen im öffentlichen Dienst erhalten wollen, müssen wir (D) auch außerhalb dieser Grundstrukturen eine gewisse ausschließlich bei der Kommission liegt. Elastizität ermöglichen. Wenn wir uns differenzierten Auch wir sind der Auffassung, dass die Entwicklung Lösungen für unterschiedliche Verhältnisse verschlie- seit 1998 in der biotechnologischen Entwicklung wie der ßen, gerät auf lange Sicht das ganze System ins Wanken. bioethischen Diskussion nicht stehen geblieben ist. Ich Daher befürwortet die Bundesregierung eine be- darf Sie aber darauf hinweisen, dass die Kommission grenzte Flexibilisierung. Der Besoldung soll eine Flexi- trotz auch dort vorhandener kritischer Bewertungen der bilität ermöglicht werden, die aber nicht grenzenlos sein Entwicklung darauf besteht – ich zitiere aus dem Bericht soll, sondern sich vielmehr auf den Bereich von Weih- der Kommission an das Parlament und den Rat vom nachts- und Urlaubsgeld beschränken soll. Dies sind die 1. Oktober 2002 –, „dass die Richtlinie unverzüglich zwei Seiten der Medaille, die sich auch in der Stellung- vollständig in einzelstaatliches Recht umgesetzt wird, nahme der Bundesregierung widerspiegeln. wo dies noch nicht geschehen ist.“ Ob und welche Länder eigene Gesetze zum Weih- Dies – und nur dies – ist die Aufgabe, die nun in der nachts- und Urlaubsgeld erlassen, also von der Öff- parlamentarischen Beratung vor uns liegt. Dabei gab und nungsklausel Gebrauch machen, müssen wir abwarten. gibt es fraktionsübergreifend Differenzen über den In- Der Bund wird im Jahr 2003 keine entsprechenden Maß- halt und den Umfang der Umsetzung, Differenzen, die nahmen vornehmen. Hier sollte auch nicht spekuliert, im Übrigen auch von der Kommission durchaus gesehen sondern abgewartet werden. Ich bin davon überzeugt, werden. In dem zitierten Bericht werden die zentralen dass die Mehrheit der Beamtinnen und Beamten sich Fragen angesprochen, über die wir uns hier in diesem notwendigen Maßnahmen nicht verweigern und als Teil Hause noch sehr ernsthaft werden auseinander setzen der Solidargemeinschaft ihren Beitrag leisten wird, wenn müssen: die Frage des Schutzumfangs von Patenten auf ein solcher notwendig werden sollte. aus dem menschlichen Körper stammende isolierte Gen- sequenzen bzw. Teilsequenzen sowie der Patentierbar- keit menschlicher Stammzellen bzw. daraus hergestellter Anlage 4 Zellreihen, die Frage also der Geltung des in anderen Zu Protokoll gegebene Reden Bereichen des deutschen und europäischen Patentrechts anerkannten umfassenden Stoffschutzes auch für bio- zur Beratung über die Anträge: technologische Erfindungen. Es ergeben sich weitere – Die europäische Biopatentrichtlinie von Fragen, die im Entwurf des BMJ dankenswerterweise 1998 umsetzen aufgegriffen worden sind, so die Frage des Herkunfts- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4457

(A) nachweises, die jetzt im Entwurf in § 34 a geregelt ist, Sie ist vor allem auch deshalb ein Fortschritt, weil (C) oder des Landwirteprivilegs in § 9 c. erstmals eindeutige ethische Grundsätze im Patentrecht, welches ansonsten ein reines Wirtschaftsrecht ist, veran- Gestatten Sie mir auch einen Hinweis auf Ziffer 4 b kert werden. So wird der menschliche Körper ebenso vor Ihres Antrages, in der Sie fordern, dass Pflanzensorten Missbrauch geschützt wie Tiere und Pflanzen. Es wer- und Tierrassen gemäß dem Urteil des EuGH vom 9. Ok- den das Verbot des Eingriffs in die Keimbahn, das Ver- tober 2001 weitgehend vom Patentschutz unberücksich- bot des Klonens und die Einhaltung des deutschen Em- tigt bleiben sollen. Hier argumentieren Sie unsauber, da bryonenschutzgesetzes fest verankert. Diese Fortschritte bereits nach der Richtlinie lediglich Eigenschaften wie werden von den Kritikern der Richtlinie gerne überse- zum Beispiel eine Resistenz berücksichtigt werden, hen. wenn sie einzelne Tierarten oder Pflanzensorten über- schreiten. Andererseits bringt sie den Forschern und Unterneh- mern ein robustes Patentrecht, den so genannten Stoff- Die SPD-Fraktion wird die Erörterung des jetzt vor- schutz, für ihre Erfindungen. Dies ist unumgänglich, gelegten Regierungsentwurfs zügig vorantreiben; zum weil nur mit einem unanfechtbaren Patentschutz die ho- einen natürlich zur Vermeidung eines Vertragsverlet- hen Kapitalinvestitionen gesichert werden können, die zungsverfahrens, zum anderen aber auch gerade deshalb, heute notwendig sind, um biotechnologische Entwick- weil wir sehen, dass Forschung und Wirtschaft, aber lungen bis zur Produktreife zu bringen. Ohne einen sol- auch gesellschaftliche Gruppen wie Gewerkschaften und chen Schutz würde die deutsche Biotechnikindustrie ge- Greenpeace zu Recht nach Rechtssicherheit rufen. Ver- genüber ihren Wettbewerbern deutlich beeinträchtigt. lässlichkeit ist erforderlich für unsere Wirtschaft. Sie Auch in dieser Richtung haben wir mit unserer Initiative darf und wird aber nicht unter Aufgabe ethischer Grund- heute offensichtlich einen Durchbruch für Wirtschaft überzeugungen in unserer Gesellschaft hergestellt wer- und Forschung in Deutschland geschafft. den. Dies ist eine schwierige Gratwanderung, aber sie Wir lassen aber auch nicht außer Acht, welche Ent- wird uns gelingen. Der Umstand, dass erst sechs EU- wicklungen dieser Bereich seit dem europäischen Be- Mitgliedstaaten die Biopatentrichtlinie in nationales schluss der Richtlinie, also in den letzten fünf Jahren, ge- Recht umgesetzt haben, zeigt, dass nicht nur wir uns in nommen hat. So haben sich damalige Befürchtungen, Deutschland schwer tun, und zwar zu Recht, wie ich durch die Gensequenzierung und die entsprechende Pa- meine. tentierung werde der Mensch sozusagen Eigentum der Treten Sie mit uns in einen konstruktiven Dialog über Erfinder, nicht bestätigt. Auch die stets wiederholte Be- diese wichtige Zukunftsfrage ein. Der Gesetzentwurf der hauptung, die großen globalen Konzerne würden die Claims unter sich aufteilen, wurde nicht Realität. (B) Bundesregierung bietet eine geeignete Grundlage für die (D) Fortsetzung der Diskussion im Parlament. Die SPD- Trotzdem gibt es nach dem Urteil des Europäischen Fraktion ist hier zu einem offenen, aber ergebnisorien- Gerichtshofs von 2001, den Erfahrungen des Europäi- tierten Diskurs bereit. schen Patentamts, den zahlreichen Diskussionen ver- schiedenster Ethikräte sowie parlamentarischer und an- derer Gruppen einige Punkte, denen wir besondere Helmut Heiderich (CDU/CSU): Wir begrüßen es na- türlich, dass Sie auf unsere Initiative, welche ja die Beachtung geschenkt haben. Grundlage der heutigen Debatte ist, nun kurzfristig mit Dazu gehört der möglichst weit gehende Ausschluss einer Gesetzesvorlage reagiert haben. Es ist ja ganz of- strategischer Patente, wie sie der Präsident des Europäi- fensichtlich, dass wir, die CDU/CSU, mit unserer Akti- schen Patentamts, Ingo Kober, kürzlich beklagt hat. Des- vität die Regierung in Zugzwang gebracht haben. Oder halb wollen wir die bereits im Erwägungsgrund 25 der wie soll man es erklären, dass Sie nach mehr als vier Richtlinie geforderte Beschränkung auf den notwendi- Jahren Stillstand nun ausgerechnet zur heutigen Debatte gen Kernbereich der beanspruchten Gensequenz ver- endlich aus den Puschen kommen? stärkt berücksichtigen. Damit wird eine eventuell beab- sichtigte Blockade später kommender Erfinder durch zu Sie haben sich die Überschrift unseres Antrags zur Ma- breite Patentansprüche ausgeschlossen. xime genommen. Die Regierung sollte öfter solch direkte Reaktion zeigen. Wenn man Ihre Vorlage betrachtet, fragt Dem gleichen Ziel gilt die Erleichterung bei der Ertei- man sich allerdings, warum Sie so lange handlungsunfä- lung von Zwangslizenzen für ein abhängiges Patent. hig waren und wieso die deutsche Biotechnikbranche so Ebenso klar muss die Freiheit der Forschung berücksich- lange auf die notwendigen rechtlichen Rahmenbedin- tigt sein, welche als Forschungsprivileg von der deut- gungen warten musste. Immerhin widerlegen Sie nun ih- schen Rechtsprechung garantiert ist. ren Koalitionspartner, der Ihnen noch vor vier Wochen Letztlich wollen wir bei der Erteilung von Patenten vorgehalten hat: „die kann nix, will nix, macht nix“. besonders genau bei humanen Gensequenzen hin- schauen. Dies gebietet die besondere ethische Problema- Ich stimme mit Ihnen überein, dass diese Biopatent- tik an dieser Stelle. richtlinie ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem bishe- rigen Rechtszustand ist; Fortschritt nicht nur deswegen, War man 1998 noch im Wesentlichen von der Vorstel- weil für die neuen Erkenntnisse, die neuen Technologien lung „ein Gen – eine Funktion – eine Anwendung“ aus- und Verfahren spezielle Regelungen getroffen werden, gegangen, wissen wir heute, dass aus einem Gen sehr die im bisherigen Patentrecht so nicht vorhanden waren. unterschiedliche Funktionen entstehen können. Deshalb 4458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) muss der Schutzumfang eines Patents an dieser Stelle Trotz der heutigen Mängel der Richtlinie bringt sie (C) möglichst konkret festgelegt werden. Unser Vorschlag mehr Vorteile als Nachteile. Und deshalb wollen wir sie ist, dem Patentanspruch des Anmelders zu folgen und umsetzen. das zu schützen, was er selbst in seinem Anspruch for- muliert hat. Dies bedeutet zwar einerseits eine gewisse Wir zeigen Ihnen mit unserem Antrag, wie aus der Einschränkung des Stoffschutzes bei einem solchen Pa- EU-Richtlinie ein zugleich innovationsförderndes und tent, gibt aber andererseits die Möglichkeit eines eigen- ethisch abgestimmtes Gesetz wird. ständigen Patents einer nachfolgenden unabhängigen Er- Ich will aus unseren Vorschlägen nur den besonders findung auf demselben Genabschnitt. wichtigen Punkt „Reichweite des Patentschutzes“ he- rausgreifen. Die Abwägung zwischen einer Überbelohnung des Ersterfinders durch einen zu weit gehenden Schutzum- Patentrecht ist Wirtschaftsrecht, aber kein wertneutra- fang und der Möglichkeit eines Zweiterfinders, ebenfalls les Feld. Wir müssen das Interesse an einer Stärkung der Patentschutz zu erlangen, ist zugegebenermaßen schwie- Innovations- und Wettbewerbskraft unseres Landes in rig und deshalb im Rahmen dieses Gesetzgebungsver- Einklang bringen mit der Sorge, die in dem Satz zusam- fahrens noch weiter zu konkretisieren. mengefasst wird: Kein Patent auf Leben. Was den Schutz der Pflanzen und Tiere angeht, muss In der Vergangenheit wurden in einer Art Goldrausch der Vorrang des bewährten deutschen Sortenschutzrech- große Claims im Land des menschlichen Genoms abge- tes erhalten bleiben. Das heißt, die Patentansprüche müs- steckt, buchstäblich Exklusivrechte an der Nutzung des sen zwischen Sortenzüchter und Patentinhaber geregelt menschlichen Lebens. Dies wollen wir für Deutschland werden. Der Landwirt darf davon in seiner täglichen und die EU ausschließen. Praxis nicht beeinträchtigt werden. Auf der anderen Seite gilt: Forschung verlangt viel Wir alle gehen heute einen deutlichen, aber längst Zeit und Geld. 10 bis 12 Jahre dauert die Entwicklung überfälligen Schritt nach vorn. Aber die Dynamik dieses eines Arzneimittels. Und sie kostet circa 750 Millionen Wissenschafts- und Wirtschaftsbereichs hat schon wie- Euro. der neue Fragen aufgeworfen. Deshalb wird es notwen- Das Patent sichert die Rentabilität solcher Investitio- dig sein, auf europäischer Ebene über die Fortentwick- nen. Es ist der Treibstoff, ohne den der Motor Bio- und lung dieses Patentrechts zu sprechen. Dabei muss sich Gentechnologie nicht läuft. Deshalb muss der Biopatent- die Bundesregierung von Anfang an einbringen und darf schutz sachlich und gerecht ausgestaltet werden. nicht wieder vier Jahre zum Nachteil des eigenen Landes ungenutzt verstreichen lassen. Wir schlagen ein funktionsbeschränktes Stoffpatent (B) vor. Warum? Das menschliche Gen als Material biotech- (D) nologischer Erfindungen ist nicht irgendeine Substanz, Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Der Schutz bio- sondern Teil des Bauplans Mensch, ein Teil von uns. technologischer Erfindungen ist ein wichtiger Faktor des Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist internationalen Wettbewerbs. Deshalb muss die EU-Bio- die Zahl der bekannten krankheitsrelevanten Gene von patentrichtlinie ins deutsche Patentrecht umgesetzt wer- rund 500 auf 50 000 explodiert. den. Wenn in einer menschlichen Zelle nur 10 000 Prote- Die Bundesregierung hat gestern einen Gesetzentwurf ine wirken – wir können das bisher nur schätzen –, illus- beschlossen. Nachdem jahrelang nichts passierte, ist triert das die unvorstellbare Komplexität möglicher Zu- diese Beschleunigung der Dinge offenbar eine Reaktion sammenhänge im Organismus. auf unseren Antrag. Wenn die menschliche Gensequenz ein Grundstück Frau Ministerin, die Bundesregierung hat viel wert- ist, auf dem etwas Segensreiches angebaut werden kann, volle Zeit für interne Abstimmungsversuche vertan. dann soll – nach unserer Vorstellung gerechter Beloh- Es ist richtig: Biopatentschutz ist ein rechtlich und nung – nicht der ganze Kontinent mitpatentiert werden, ethisch anspruchsvolles Thema. jedenfalls nicht, solange der größte Teil der Landkarte weiß ist. Die lange Zeit ist leider nicht für eine intensive politi- Denn die Isolation eines Gens und die Prüfung seiner sche Diskussion genutzt worden. Der Grund war ein an- pharmakologischen oder medizinischen Relevanz sind derer: Wenn man Ihre Ankündigungen und die Aussagen heute automatisiert. Damit fehlt der Touch des Genialen, Ihrer Vorgängerin oder des damaligen Staatssekretärs wie er etwa in der gedanklichen Leistung der Erfindung Pick zusammennimmt, dann hat die rot-grüne Bundesre- des Penicillins steckte. gierung ihre Meinung zum Patentschutz seit 1998 immer wieder verändert. Professor Winnacker hat gesagt: „Sollen die Entde- cker einer einzigen dieser Eigenschaften zugleich auch Wir wollen von uns aus Klarheit in das Verwirrspiel die Rechte für bislang nicht entdeckte Anwendungen er- bringen: Die Richtlinie muss auf den aktuellen Stand der halten? Wohl kaum!“ wissenschaftlichen und ethischen Diskussion gebracht werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, Wir wollen – ich bleibe in meinem Bild –, dass mög- auf europäischer Ebene sofort Verhandlungen über eine lichst viele auf Entdeckungstour ins Unbekannte auf- Weiterentwicklung zu beginnen. brechen, ohne einem Erstpatentinhaber ständig Wegezoll Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4459

(A) zahlen zu müssen. Mit einem funktionsbezogenen Stoff- Ich will nicht verhehlen, dass innerhalb der Bundesre- (C) schutz begrenzen wir deshalb das Patent auf eine kon- gierung unterschiedliche Auffassungen über die Ausle- krete gewerbliche Anwendbarkeit. gung der Richtlinie bestehen. Das Umwelt- und das Ver- braucherschutzministerium haben dafür gesorgt, dass der Das ist kein absoluter Stoffschutz wie von der Bun- Gesetzentwurf in einigen Punkten verbessert werden desregierung vorgeschlagen, das wäre zu viel Beloh- konnte: Das gilt vor allem für den Herkunftsnachweis nung, aber auch kein reines Verfahrenspatent, das wäre des genetischen Materials, der als Soll-Bestimmung auf- zu wenig und vermutlich auch mit der EU-Richtlinie genommen wurde. Das ist vor allem für die Nord-Süd- nicht vereinbar. Beziehungen – Stichwort Biopiraterie – von Bedeutung. Deutschland hat sich in mehreren internationalen Ab- Mit einem funktionsbeschränkten Stoffschutz erhö- kommen zum Schutz der biologischen Vielfalt und der hen wir die Chance kleinerer Firmen auf Erstpatente und Rechte von Entwicklungsländern verpflichtet. Ein wich- fördern damit den Wettbewerb. tiges Instrument dabei ist, die Herkunft von biologi- Und ganz wichtig ist: Wir geben damit auch den Men- schem Material nachvollziehbar zu gestalten. Im Ent- schen in unserem Land eine überzeugende Antwort, die wurf ist nun die Forderung aufgenommen, dass die verhindern wollen, dass sich einige Wenige den Men- Anmeldungen Angaben zum geographischen Herkunftsort schen als Teil der Schöpfung aneignen. dieses Materials umfassen müssen, soweit dieser bekannt ist. Darüber hinaus verpflichtet sich die Bundesregierung in In einem alten Lehrbuch zum Patentrecht aus dem dem Kabinettsbeschluss, sich auf internationaler Ebene da- Jahr 1878 – Kohler, Deutsches Patentrecht – ist zu lesen, für einzusetzen, dass die Herkunft des in einer Erfindung was Sinn und Zweck des gewerblichen Rechtsschutzes genutzten biologischen Materials in der Patentanmel- ist: „den Vortheil des Producenten mit dem Vortheil des dung zwingend angegeben werden muss. Publikums zu verbinden“. Unser Vorschlag bringt diese Zudem ist der Schutz von Bauern vor ungewollter Synthese aus kommerziellem Interesse und Allgemein- Auskreuzung von gentechnisch verändertem Material wohl. berücksichtigt. Das ist positiv. Landwirte müssen vor einer zufälligen Verunreinigung ihres Saatgutes – zum Meine Damen und Herren, wir müssen, wenn es um Beispiel durch Pollenflug vom Nachbaracker – und da- ethische Grundentscheidungen geht, und die Patentie- mit verbundenen patentrechtlichen Ansprüchen ge- rung eines menschlichen Gens ist sicher eine solche Ent- schützt werden. Hierzu ist im Gesetzentwurf nun ein ent- scheidung, den Willen haben, einen breiten Konsens zu sprechender Passus enthalten, dass der Patentschutz für erzielen und damit ein Signal in unsere Gesellschaft zu biologisches Material, das im Bereich der Landwirt- senden. Wir sind bereit, mit Ihnen ein innovationsför- (B) schaft zufällig oder technisch nicht vermeidbar gewon- (D) derndes und ethisch tragfähiges Gesetz zur Umsetzung nen wurde, ausgeschlossen ist. Weiterhin trägt – sollte es der EU-Biopatentrichtlinie zu erarbeiten. zu einer Auskreuzung kommen – nicht der Landwirt, sondern der Patentrechtsinhaber die Beweislast. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Suboptimal ist, dass im jetzigen Gesetzentwurf nicht Die EU-Richtlinie zu Biopatenten hat deutliche Schwä- die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, das Stoffpatent chen: Sie ist zu weit gehend und sie ist vom wissen- auf nationaler Ebene deutlich einzuschränken. Gene sind schaftlichen Fortschritt überholt. Sie muss überarbeitet keine Stoffe im üblichen Sinn, sondern beinhalten Infor- werden. Nur unter Ausschöpfung der Interpretations- mationen, deren Bedeutung von ihrer Position innerhalb spielräume ist eine Umsetzung in nationales Recht ein des Genoms und der Interaktion zwischen Zellen und Fortschritt gegenüber der geltenden Rechtslage. Bereits Umwelt abhängt. Der Entwurf der Bundesregierung im März haben wir aus diesem Grund eine Doppelstrate- sieht vor, dass Patentanmelder eine Funktion eines Gens gie vorgestellt: Umsetzung unter Ausnutzung der vor- angeben müssen, um nur ein Patent zu bekommen, das handenen Spielräume, aber auch Neuverhandlung der den Stoff umfasst. So bekommen sie alle aufgefundenen EU-Richtlinie. Ich begrüße es sehr, dass inzwischen Funktionen mit patentiert, die später gefunden werden. auch die Union dazugelernt hat und unsere vorgeschla- Dies führt zu Vorratspatentierungen und zu Monopolen gene Doppelstrategie – Umsetzung und gleichzeitig einzelner Forscher oder Firmen auf Gene und behindert Neuverhandlung der EU-Richtlinie – unterstützt. künftige Forschung. Die Zunahme dieser strategischen Der seit gestern vorliegende Gesetzentwurf ist ein Patente wurde erst vor wenigen Wochen von dem Direk- tor des Europäischen Patentamtes, EPA, kritisiert. Wir erster Schritt in die richtige Richtung: Er nutzt beste- setzen uns weiterhin dafür ein, dass solche ungerechtfer- hende Spielräume aus – Stichworte sind Herkunftsnach- tigten Vorteile durch einen uneingeschränkten Stoff- weis und Auskreuzung. Mit Verabschiedung des Gesetz- schutz, die weit über die angemessene Erfinderbeloh- entwurfs hat die Bundesregierung außerdem den nung hinausgehen, im Biopatentgesetz eingeschränkt Beschluss gefasst, sich in Brüssel mit Nachdruck für werden. Alles andere wäre forschungsfeindlich und un- eine Überarbeitung der Richtlinie einzusetzen. Damit ist gerecht. eine ganz wichtige Forderung, die wir immer erhoben haben, als Zusage berücksichtigt. Die Regierung will Um hier zu einer international wirksamen Lösung zu sich auch dafür einsetzen, dass der Herkunftsnachweis kommen, ist es wichtig, die EU-Richtlinie zu verbessern. im Rahmen internationaler Verhandlungen verbindlich Dazu gehört, dass die Patentierung von Verfahren zum eingefordert wird. Klonen menschlicher Lebewesen eindeutig ausgeschlos- 4460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) sen werden kann und dass Stoffpatente auf konkret be- der, ein absoluter Stoffschutz notwendig. Die Patentan- (C) schriebene Funktionen beschränkt werden können; nicht meldung dient ja auch dazu, den Stoff der Allgemeinheit nur beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen und Tie- bekannt zu machen und somit eine Grundlage für wei- ren. Nur so können Vorratspatentierungen und Monopole tere Forschung zu schaffen. einzelner Firmen auf Gene verhindert werden. Schon heute melden Konzerne ein Patent an, indem sie nur eine Der Antrag der Unionsfraktionen bedeutet einen Funktion des Gens angeben. Nachträglich werden alle Rückschritt gegenüber dem, was wir heute haben. Das später aufgefundenen Funktionen dieses Gens mit paten- ist die Botschaft, die wir aus der Wissenschaft und von tiert. den Unternehmen erhalten. Die EU-Richtlinie selbst stellt hohe Anforderungen Die Nutzung der Spielräume bei der Umsetzung hilft an die Erfindungshöhe und legt fest, dass Verfahren zum jedoch wenig, wenn es um grundsätzliche Probleme der Klonen von Menschen oder zur Veränderung ihrer gene- EU-Richtlinie geht. So ist es zum Beispiel – anders als tischen Identität nicht patentierbar sind. Damit wird die CDU behauptet – derzeit möglich, dass die Patente deutlich, dass es kein Patent auf Leben geben kann. Dies auch Pflanzensorten umfassen. Der jüngste Streitfall findet sich im Gesetzentwurf wieder. beim EPA um ein Patent auf Sojabohnen hat dies wieder deutlich bestätigt. Darum setzen wir uns dafür ein, dass Ein einheitliches europäisches Patentrecht für bio- die Richtlinie auf EU-Ebene überarbeitet wird. technologische Erfindungen bietet große Chancen für die Forschung. Ohne einen wirksamen Patentschutz wer- Ulrike Flach (FDP): Ich hatte in meinen Redeentwurf den aber die Unternehmen – und sie erbringen den weit- bereits heftige Kritik an der Bundesregierung hineinge- aus größten Anteil an Forschungsmitteln – nicht in For- schrieben, weil Sie noch immer keinen Gesetzentwurf schung investieren und der therapeutische Fortschritt zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie in nationales wird verlangsamt. Recht vorgelegt hatte. Vorgestern erfuhren wir, dass nun Sicher, neue Medikamente gibt es nicht von heute auf doch ein Entwurf das Kabinett passiert hat. Ein Lob kön- morgen, aber es gibt sie erst recht nicht ohne einen ver- nen Sie nur für den Inhalt, nicht aber für die lange Ver- bindlichen rechtlichen Patentschutz. Gerade Start-up- schleppungszeit erwarten. Unternehmen sind darauf angewiesen, über Patente für Der Gesetzentwurf hält sich nach erster Durchsicht Kooperationen mit großen Firmen attraktiv zu werden weitgehend an die Vorgaben der EU-Richtlinie und und Zugang zu Wagniskapital zu erhalten. kommt unserer Forderung nach einer 1:1-Umsetzung Ich freue mich, dass die Bundesregierung nun doch sehr nahe. einen Entwurf vorgelegt hat und erwarte, dass dieser (B) Besorgnis erregend sind aber die Töne, die vom grü- bald ins Parlament kommt. Eine Einbringung zunächst (D) nen Koalitionspartner zu hören sind. Der Abgeordnete in den Bundesrat, wie sie in den Medien angeklungen ist, Loske teilt mit, die Grünen werden – gemeinsam mit halten wir für eine überflüssige Verzögerungstaktik. einigen SPD-Kollegen – Änderungsanträge einbringen, Wer will, dass der Biotechnologie-Standort Deutsch- die den absoluten Stoffschutz weiter einschränken sol- land Rechtssicherheit erhält, der sollte nicht taktieren, len. Sogar von schwarz-grünen Anträgen kann man in sondern handeln. Auf unsere Unterstützung können Sie der Frankfurter Rundschau lesen. dabei rechnen. Das ist die Übertragung der nordrhein-westfälischen Taktik auf den Bund. Im Kabinett stimmen die Grünen Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Der zu, draußen organisieren sie den Widerstand. Das mag Antrag der CDU/CSU-Fraktion greift ein Thema auf, gut für das grüne Image sein, dem Standort Deutschland welches auch der Bundesregierung am Herzen liegt. Es hilft es allerdings nicht weiter. Wir brauchen eine geht um die Umsetzung der Richtlinie des Europäischen schnelle Umsetzung und nicht weitere quälende Debat- Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz ten. biotechnologischer Erfindungen, kurz: die Biopatent- richtlinie. Herr Loske kritisiert, dass sich ein Patent auch auf Funktionen eines Gens beziehen würde, die später ent- Es handelt sich um eine wichtige Richtlinie. Sie bietet deckt werden. Das ist aber nun einmal im Patentrecht gerade für biotechnologische Erfindungen mehr Rechts- ganz normal. Wenn Sie ein Patent für ein Medikament sicherheit und mehr Klarheit. So werden die ethischen gegen eine bestimmte Krankheit erhalten und Sie stellen Grenzen der Patentierbarkeit konkreter festgelegt als im später fest, dass das Medikament auch gegen eine andere geltenden deutschen Recht. Ein solcher verlässlicher Krankheit hilft, dann kann es doch nicht sein, dass sie Rahmen im rechtlichen Bereich ist für die Nutzer des Pa- dafür ein separates Patent beantragen müssen. Es ist tentsystems, insbesondere die deutsche Forschung und schließlich derselbe Stoff. die deutsche Industrie, von größter Wichtigkeit. Die be- troffene Wirtschaft und die zuständige Gewerkschaft set- Die FDP steht zur Freiheit der Forschung. Zwar ist zen sich ebenso wie die öffentliche und private For- der uneingeschränkte Schutz eines Patents dort nicht ge- schung uneingeschränkt für die 1:1-Umsetzung der rechtfertigt, wo die Weiterentwicklung der Technik be- Richtlinie ein. hindert würde, denn wir wollen Erfindergeist anspornen. Aber wenn erstmals mit technischen Mitteln ein bisher Ich begrüße daher, dass sich auch die CDU/CSU- nicht bekannter Stoff gewonnen wird, ist ein umfassen- Fraktion nunmehr uneingeschränkt zur Umsetzungsver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4461

(A) pflichtung bekennt. Bei der ersten Lesung des Regie- spiel der Teilsequenz eines Genes, einschließlich seiner (C) rungsentwurfs in der vergangenen Legislaturperiode Funktionen. Wir haben hier die vom Patenrecht vorgege- hatte sich nämlich der Vertreter der CDU/CSU deutlich bene grundsätzliche Geltung des absoluten Stoffschutzes skeptischer und eher distanziert geäußert. Das hatte da- mit Regelungen flankiert, die dem Missbrauch entgegen- mit zu tun, dass wir es uns alle mit dem Thema Biotech- wirken werden. Wir wollen vermeiden, dass unange- nologie aus guten Gründen nicht leicht machen. Dies messen weit reichende Stoffansprüche auf genetische sind wir den ethischen und den wirtschaftspolitischen Sequenzen erteilt oder solche Stoffe im Ergebnis mono- Fragen schuldig, die diesem Thema zugrunde liegen. polisiert werden. Trotzdem – auch darauf gilt es in diesem Zusammen- hang nochmals hinzuweisen – mit der Richtlinie und mit Unser Gesetzentwurf ist damit auch forschungs- und ihrer Umsetzung in deutsches Recht wird kein neues Pa- wirtschaftspolitisch notwendig, um Investitionen und In- tentrecht für biotechnologische Erfindungen geschaffen. novationen in der Biotechnologie effektiv zu fördern. Die Patentierung biotechnologischer Erfindungen erfolgt Das kommt nicht zuletzt der Forschung und der Ent- in Deutschland und Europa bereits seit über 30 Jahren wicklung wirksamer neuer Medikamente zugute. und ist durch die Rechtsprechung anerkannt. Das Gesetz Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Gesetzentwurf soll vor allem Patentrecht und Patentrechtspraxis in eine gute Grundlage für eine intensive, aber zügige par- Europa harmonisieren. Auf dieser Grundlage wollen und lamentarische Beratung haben. Ich freue mich darauf. werden wir das Ergebnis einer ernsthaften und sachge- rechten Interessenabwägung in Gesetzesform bringen. Die Bundesregierung hat hier ihre Hausaufgaben erle- Anlage 5 digt: Wir haben bereits im Oktober 2000 unseren Ent- Zu Protokoll gegebene Reden wurf zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie vorgelegt, zu dem in diesem Hause verschiedene Anhörungen statt- zur Beratung des Antrags: Mehr Sicherheit im gefunden haben. Leider konnte das Gesetzgebungsver- Luftverkehr (Tagesordnungspunkt 15) fahren nicht mehr abgeschlossen werden, sodass der Entwurf der Diskontinuität anheim fiel. Die Bundesre- Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Dieser Antrag der gierung hat nun einen neuen Regierungsentwurf be- CDU/CSU behandelt zentral die Luftverkehrssicherheit. schlossen. Wir unterstreichen damit unseren Handlungs- Sie wollen den Eindruck erwecken, die Opposition willen in dieser Zukunftstechnologie. Der neue Entwurf müsste die Regierung in diesem Bereich zum Jagen tra- ist mit seinem Vorgänger im Wesentlichen identisch. gen. Das hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Fritz Rudolf Körper, ein- (B) Viele Forderungen aus dem heute hier diskutierten (D) Antrag der CDU/CSU-Fraktion waren bereits in dem drucksvoll widerlegt. Sie haben das Hase-Igel-Spiel ver- ersten Regierungsentwurf umgesetzt und sind auch im loren, denn während Sie bei Ihrem Antrag noch dabei neuen Entwurf enthalten: von der Erleichterung der waren, die richtige Formulierung zu finden, hat die Re- Zwangslizenzierung bei abhängigen Patenten bis zur Be- gierung bereits gehandelt. rücksichtigung des Embryonenschutzgesetzes bei der Der Schutz der Bevölkerung hat für die rot-grüne Auflistung der Patentierungsverbote. Besonders hinwei- Bundesregierung eine herausragende Bedeutung. Aber sen möchte ich in diesem Zusammenhang auf den von uns ist nicht daran gelegen, mit dem Sicherheitsgefühl uns neu geschaffenen § 34 a des Entwurfs, der eine Ver- der Bürgerinnen und Bürger zu spielen. Sie versuchen pflichtung des Anmelders zur Angabe der Herkunft des Unsicherheitsgefühle bei der Bevölkerung zu erzeugen in der Erfindung verwendeten biologischen Materials und wenn Ihnen das gelungen ist, dann wollen Sie die einführt: Damit setzen wir ein deutliches Zeichen im Bundesregierung dafür verantwortlich machen. Sinne der Konvention zur Biodiversität! So betreibt man permanenten Wahlkampf, und zwar Natürlich wissen wir, dass die Biopatentrichtlinie rücksichtslos. Dem Schutz der Bevölkerung aber dient nicht das letzte Wort in diesem komplexen Rechtsgebiet dies nicht. Wir dagegen wollen die Sicherheit und das ist. Die Bundesregierung hat die Europäische Kommis- Sicherheitsgefühl einer wachsamen Bürgergesellschaft sion bereits Anfang 2001 darauf hingewiesen. Die Kom- stärken. Dazu sollten und könnten auch Sie einen Bei- mission hat auf die Entwicklung – nicht nur in Deutsch- trag leisten. land – bereits reagiert. In ihrem Bericht vom Oktober 2002 lehnt sie mögliche Verbesserungen und Präzisie- Die Sicherheit im Luftverkehr war vor dem 9. Novem- rungen der Richtlinie keineswegs mehr grundsätzlich ab. ber 2001 in Europa und insbesondere in Deutschland hoch und wir haben permanent Verbesserungen vorgenommen. Die Bundesregierung wird sich deshalb auch nach In- Nicht umsonst spielen sich Flugzeugentführungen gerade Kraft-Treten des Gesetzes weiterhin bei der Europäi- dort ab, wo die bei uns vorhandenen Sicherheitsmaßnah- schen Kommission für erforderliche Verbesserungen und men gerade nicht zum Tragen kommen. Schauen Sie Präzisierungen der Richtlinie einsetzen. doch einmal in die Statistiken und Analysen zur Krimi- nalität rund ums Flugzeug. Ein Wort zu der auch in diesem Hause intensiv disku- tierten Frage des so genannten Stoffschutzes, also dem Für uns steht die Luftverkehrssicherheit nicht isoliert. rechtlichen Schutz des durch die Erfindung der Öffent- Wir haben ein ineinander greifendes, abgestuftes Kon- lichkeit neu zur Verfügung gestellten Stoffes, zum Bei- zept zum Schutz der Bevölkerung und der Passagiere. 4462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Der vorliegende Antrag konzentriert sich auf einen oder der Bundesinnenminister hat seinen Laden nicht im (C) einzigen Punkt. Das ist ungefähr so, als ob wir uns Griff – im Zweifel beides. beim Schutz vor Wohnungseinbrüchen ausschließlich um die Haustüre kümmern würden. Die Haustüre ist Die Unzuverlässigkeit der Bundesregierung im Be- wichtig. Aber die Beratungsstellen der Polizei würden reich konkreter Maßnahmen für mehr Luftsicherheit hat ein ineinander greifendes, abgestuftes Konzept empfeh- einen Namen: Otto Schily. len und die Haustüre, die Fenster, den Vorbereich, die Der Minister hat den Innenministern der Länder zuge- Straße und auch gute Beziehungen zu den Nachbarn in sichert, noch vor der Sommerpause ein Air-Police-Ge- den Schutz des Hauses einbeziehen. setz vorzulegen – bislang Fehlanzeige! Genau so, wie wir versuchen, mit einem abgestuften Am 19. April 2003 hätte das von der Europäischen Konzept das Haus zu schützen, verfahren wir auch im Union verlangte nationale Sicherheitsprogramm für den Bereich der Terrorismusbekämpfung. Es wäre fatal, sich Luftverkehr vorliegen müssen – bislang Fehlanzeige! nur auf einen Teilbereich zu beschränken. Die geschilderten Versäumnisse gehen zulasten der Der vorliegende Antrag legt einen Schwerpunkt auf Sicherheit der Menschen in unserem Land, die tagtäglich die technischen Standards bei den biometrischen Erken- auf die Nutzung von Flughäfen und Flugzeugen ange- nungsmerkmalen. Die Technik ist wichtig, aber wir soll- wiesen sind. Für die Erfüllung der Sicherheitsanforde- ten nicht auf die Technik alleine setzen. Der Schwer- rungen sind bei Verkehrsflughäfen Organisationen des punkt muss ebenso auf geschultem Personal liegen. Da Bundes, der Länder sowie private Sicherheitsorganisati- haben wir unsere Hausaufgaben längst gemacht, wie Sie onen Flughafenbetreiber und Luftverkehrsunternehmen vom Parlamentarischen Staatssekretär erfahren mussten. zuständig. Diese Vielfalt zeigt, dass Reibungsverluste Unsere Erfahrung zeigt: Immer, wenn man die techni- nicht ausgeschlossen sind und zu gravierenden Sicher- schen Sicherungen verbessert, verbessern sich auch die heitslücken führen können. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der Umgehung, siehe Euro. Dies zeigt: technischen Standards innerhalb der Bundesländer äu- Die Technikgläubigkeit hat ihre Grenzen und darf nicht ßerst unterschiedlich. Hier besteht dringender Hand- die Wachsamkeit der Beschäftigten und der Passagiere lungsbedarf. ersetzen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung in unserem Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Baustein des Kon- Antrag auf, endlich aktiv zu werden. Wir fordern die zepts, mit dem Frau Merkel, Herr Schäuble und auch Sie Vereinheitlichung der technischen Standards bei der Ab- in Deutschland ein „Washington en miniature“ – Bettina wicklung der Abfragen zur Zuverlässigkeitsüberprüfung Gauss, „taz“ – schaffen wollen. innerhalb der Bundesländer durch den Bund. Wir for- (B) (D) Wir erreichen nicht mehr Sicherheit, indem versucht dern, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, dass wird, die USA zu kopieren. Wir müssen unseren eigenen in der Zuverlässigkeitsüberprüfung von Flughafenperso- Weg gehen, wir gehen diesen eigenen Weg und sichern nal Anfragen an das Ausländerzentralregister und das so den Schutz der Passagiere und der Bevölkerung. Einwohnermeldeamt Rahmen der Identitätsprüfung obli- gatorisch werden. Wir fordern die Einrichtung einer zen- tral gefühlten Datenbank über Entscheidungen in Visa- Clemens Binninger (CDU/CSU): Mit dem Antrag verfahren auf die die Länder zurückgreifen können. „Mehr Sicherheit im Luftverkehr“ beraten wir heute über ein Thema, dass eine der zentralen Herausforderun- Als der Innenausschuss vor einigen Wochen den gen für die innere Sicherheit seit den Anschlägen vom Frankfurter Flughafen besucht hat, konnten wir uns alle 11. September darstellt. Dass wir dieses Thema, fast überzeugen, dass wir bei diesen Dimensionen nicht län- zwei Jahre nach den Anschlägen von New York und ger auf modernste Technik zur Identitätsüberprüfung Washington heute debattieren, liegt an den Versäumnis- verzichten können. sen der rot-grünen Regierung auf diesem Gebiet. Nicht erst die Entführung eines Kleinflugzeuges Anfang Ja- Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, biome- nuar 2003 hat die Defizite bei der Luftsicherheit deutlich trische Daten zur Identitätssicherung bei den Zugangs- zu Tage treten lassen. Bis heute steht die Bundesregie- und Vorfeldkontrollen von Flughäfen grundsätzlich auch rung zum Thema „Flugzeug als Waffe von Terroristen“ für Passagiere zu ermöglichen. Außerdem muss der Ein- mit praktisch mit leeren Händen da. satz biometrischer Merkmale umfassend auf Pässe und Personalausweise ausgedehnt werden. Zu beiden Vorha- Auch ihr gestern vorgelegter und als vertraulich ein- ben hören nur Absichtserklärungen bzw. erleben das gestufter „Ergebnisbericht der Arbeitsgruppe Sicherheit halbherzige Vorantreiben von Pilotversuchen. Hierzu im Luftraum“ ändert nichts an der Tatsache, dass nach fordern wir, dem Deutschen Bundestag einen Zeitplan wie vor die zaghaften Ansätze in den Sicherheitspaketen vorzulegen. Denn eines ist klar: Sicherheit in der Luft der Bundesregierung nicht konkret weiterentwickelt beginnt am Boden. worden sind. Und wenn – wie gestern geschehen Kern- ergebnisse dieses vertraulich eingestuften Berichts schon Neben den notwendigen gesetzlichen Änderungen wenig später in der Tageszeitung nachzulesen sind, dann muss sich die Bundesregierung aber auch hinsichtlich muss ich schon sagen: des Grundgesetzes entscheiden: Wenn sie die Abwehr der Gefahren aus der Luft ernsthaft betreiben will, muss Mit seriöser Sicherheitspolitik hat das nichts mehr zu sie im Grundgesetz den notwendigen Rahmen für den tun. Da geht es offensichtlich nur um den Showeffekt Einsatz der Bundeswehr im Inneren schaffen. Wir sind Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4463

(A) dazu bereit. Offensichtlich sieht dies die Bundesregie- gegen von der FDP nicht unterstützt. Wir haben schon (C) rung zwischenzeitlich auch so; denn wenn sie auch nur bei der Beratung von Schily II klar im Bundestag die einen Teil des Maßnahmenkatalogs aus dem Ergebnis- Auffassung vertreten, dass es zur Abwehr terroristischer bericht der Arbeitsgruppe „Sicherheit im Luftraum“ um- Gefahren nicht am notwendigen gesetzlichen Instrumen- setzen will, kommt dies einer zusätzlichen Ermächti- tarium fehlt, sondern dass der beste Schutz in einer opti- gungsgrundlage gleich, für es wiederum ohnehin einer malen personellen, technischen und finanziellen Aus- Grundgesetzänderung bedarf. stattung der Sicherheitsorgane liegt. In dieser Haltung sehen wir uns durch die Äußerungen vieler Praktiker be- Ich fordere Rot-Grün auf, auf der Grundlage unseres stätigt. Es bleibt also dabei: Auf dem Gebiete der inne- Antrages im Ausschuss über die notwendigen Schritte zu ren Sicherheit besteht in Deutschland kein Gesetzesdefi- sprechen. zit, sondern ein Vollzugsdefizit.

Dr. Max Stadler (FDP): Nach Aufsehen erregenden Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Ereignissen, insbesondere nach spektakulären Unglücks- Bundesminister des Innern: Mit dem Antrag „Mehr fällen und Verbrechen, setzt häufig eine hektische Ge- Sicherheit im Luftraum“ hat die CDU/CSU-Fraktion ein setzgebungsaktivität ein. Auch nach der Entführung ei- Eigentor geschossen. Der Antrag verdeutlicht nicht die nes Kleinflugzeuges in Frankfurt am Main Anfang vermeintlichen Versäumnisse der Bundesregierung, son- Januar dieses Jahres kam verständlicherweise sofort eine dern vielmehr die Unkenntnis der CDU/CSU-Fraktion. intensive öffentliche Diskussion in Gang, ob die gesetz- Ich will daher zunächst einmal zur Sachinformation bei- lichen Bestimmungen ausreichen würden, um mit sol- tragen. chen Vorfällen fertig zu werden. Unmittelbar im Nachgang zu den Terroranschlägen Dann setzte aber offenbar eine anderer Mechanismus des 11. September 2001, bei denen erstmals in der ein, nämlich derjenige der Verdrängung. Jedenfalls ist Geschichte der zivilen Luftfahrt Passagierflugzeuge als das Thema aus der öffentlichen Debatte praktisch wieder Waffen benutzt worden sind, wurde das gesamte System verschwunden, ohne dass man wüsste, welche Position der sich bereits auf einem hohen Niveau befindlichen na- denn die Bundesregierung und die Koalition zu den ur- tionalen Luftsicherheitsmaßnahmen überprüft und auf sprünglich diskutierten Gesetzesänderungen einnehmen. diese neue Qualität der Bedrohung erweitert. Entspre- Daher ist es ein Verdienst des Antrags der CDU/CSU- chend wurden zahlreiche Maßnahmen im Bereich der Bundestagsfraktion, dass das Parlament gezwungen Luftsicherheit umgesetzt. Ziel ist die Schaffung eines wird, sich mit dieser Frage doch noch einmal eingehend gestaffelten Schutzsystems, mit dem sicherstellt wird, dass auch beim Ausfall einer Maßnahme die weiteren (B) zu befassen. Freilich schießt der Antrag im wahrsten (D) Sinne des Wortes über das Ziel hinaus, wenn er von not- Stufen eine Straftat dennoch verhindern. wendigen verfassungsrechtlichen Änderungen für den Zusätzlich wurden auch Verbesserungen auf den ein- Einsatz der Bundeswehr bei der Abwehr von Gefahren zelnen Kontrollstufen vorgenommen. Ich will hier nur aus der Luft spricht. die wesentlichen Maßnahmen anführen: Die FDP-Bundestagsfraktion hat hierzu stets die Mei- Bei der Fluggast- und Handgepäckkontrolle erfolgten nung vertreten, dass die Sicherung des Luftraums schon mit dem Erlass eines nationalen Ausbildungsprogramms jetzt ganz eindeutig zu den Aufgaben und Befugnissen für Fluggastkontrollkräfte und der Vorgabe einer einheit- der Bundeswehr gehört. Deshalb ist eine Verfassungsän- lichen Prüfungsordnung sowie eines Prüfungsfragenka- derung nicht notwendig. talogs die entscheidenden Schritte hin zu einer dringend Auch dann, wenn es sich nicht um einen Angriff von erforderlichen Harmonisierung des Kontrollstandards. Außen handelt, sondern wenn im Inland ein Flugzeug Auch bei der Kontrolle des aufgegebenen Gepäcks entführt wird und dadurch eine Gefahr ähnlich den An- hat das Bundesinnenministerium schon vor dem 11. Sep- schlägen in den USA am 11. September 2001entsteht, tember mit Nachdruck auf eine lückenlose Überprüfung kann die Bundeswehr in Amtshilfe zur Gefahrenabwehr hingewirkt. Seit dem 1. Januar 2003 wird das aufgege- tätig werden. Es ist offenkundig, dass die eigentlich hier- bene Gepäck auf allen deutschen Verkehrsflughäfen lü- für zuständige Polizei hierzu alleine nicht in der Lage ckenlos kontrolliert. wäre. Die Regelung des Art. 35 GG erscheint uns ausrei- chend. Zum Schutz vor Innentätern wurde unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine Ad-hoc- Selbstverständlich ist die FDP-Fraktion bereit, diese Zuverlässigkeitsüberprüfung von rund 260 000 Beschäf- Frage in den Ausschüssen noch einmal gründlich zu erör- tigten der Luftfahrt- und Flugplatzunternehmen durchge- tern. Es bietet sich an, dass wir als Abgeordnete uns hier- führt. Zusätzlich wurden die rechtlichen Voraussetzun- bei durch Sachverständige, Verfassungsexperten und Bun- gen für bundeseinheitliche, verschärfte und jährliche deswehr- sowie Polizeipraktiker beraten lassen. Dabei Zuverlässigkeitsüberprüfungen geschaffen. kann auch der vom Kollegen Dr. Wiefelspütz eingeführte Gedanke eines Ausführungsgesetzes zu Art. 35 GG noch Weiterhin wurden in einer Arbeitsgruppe unter der einmal diskutiert werden. Leitung des Bundesministeriums für Verkehr die Mög- lichkeiten zur Verbesserung der technischen Sicherheit Die pauschale Forderung in dem Unionsantrag, die des Flugzeugs selbst untersucht. Auf internationaler Sicherheitspakete I und II weiterzuentwickeln, wird da- Ebene konnte sehr schnell Einigkeit über den Einbau 4464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) verstärkter Cockpittüren erzielt werden. Die deutschen Lage- und Führungszentrum aufgebaut, das der zentrale (C) Fluggesellschaften haben diese Vorgabe für ihre Transat- Anlaufpunkt für alle die Sicherheit im Luftraum betref- lantikflüge bereits im April erfüllt. fenden Meldungen sein soll. Dieses Führungszentrum wird Anfang Juli 2003 seinen vorläufigen Betrieb auf- Seit dem 24. September 2001 setzt der Bundesgrenz- nehmen und zum 1. Oktober 2003 vollständig einsatzbe- schutz an Bord deutscher Luftfahrzeuge Flugsicherheits- reit sein. begleiter ein. Des Weiteren ist im Bundesministerium des Innern Zusätzliche Maßnahmen werden fortlaufend auf der kurzfristig ein Referentenentwurf eines Luftsicherheits- Grundlage der Gefährdungsbewertungen der Sicher- gesetzes (LuftSiG-E) erarbeitet worden, der sich derzeit heitsbehörden angepasst. in der Ressortabstimmung befindet. Der Entwurf eines In der Natur des Luftverkehrs liegt es, dass die ergrif- Luftsicherheitsgesetzes zielt darauf ab, für Gefahren- fenen nationalen Maßnahmen nur in einem internationa- lagen wie den Terroranschlägen am 11. September 2001 len Zusammenhang erfolgreich sein können. Dies gilt oder der Entführung eines Motorseglers am 5. Januar insbesondere in Europa, wo die Nachbarstaaten oft nur 2003 in Frankfurt/Main klare Zuständigkeiten zwischen wenige Flugminuten auseinander liegen. Sowohl auf in- Bund und Ländern zu schaffen. Mit den Entwurfsrege- ternationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene lungen wird die Grundlage für schnelle und effiziente In- wurden wesentliche Fortschritte erzielt. Durch die am formations- und Entscheidungsstrukturen geschaffen. 19. Januar 2003 in Kraft getretene EG-Verordnung über Ausdrücklich geregelt wird der Bundeswehreinsatz in die Festlegung einheitlicher Maßnahmen für die Sicher- den Fällen, in denen die für die Gefahrenabwehr zustän- heit im Luftverkehr wurden in der EU einheitliche, de- digen Stellen der Länder nicht über die personelle und taillierte Standards für die Luftsicherheit festgelegt. technische Ausstattung zum Handeln verfügen. Im Ent- wurf ist auch eine Novellierung der Regelungen für Zu- Die Behauptung von Versäumnissen bezüglich der verlässigkeitsüberprüfungen im Bereich des Luftver- Umsetzung der EG-Luftsicherheitsverordnung sind im kehrs vorgesehen, um den Schutz vor Innentätern noch Hinblick auf das nationale Luftsicherheitsprogramm weiter zu verbessern. überholt, im Hinblick auf das nationale Qualitätssiche- rungsprogramm verfrüht; in beiden Fällen jedenfalls Der Vorwurf, dass die Bundesregierung untätig gewe- haltlos: sen sei, ist daher absolut verfehlt. Wenn es Ihnen tatsäch- lich auf eine verbesserte Luftsicherheit ankommt, kann Das nationale Luftsicherheitsprogramm wurde zeitge- ich Sie nur dazu auffordern, sich konstruktiv an dem Ge- recht zum 19. April 2003 unter Federführung durch das setzgebungsverfahren zu beteiligen. BMVBW gemeinsam mit dem BMI erstellt und von den (B) Ministern gebilligt. Im Hinblick auf den Einsatz biometrischer Erken- (D) nungsmerkmale erscheint der Antrag wenig zielführend: Das nationale Qualitätssicherungsprogramm muss Ein Pilotversuch in Hessen im Hinblick auf Zugangs- nach der EG-Verordnung bis 19. Juli diesen Jahres fer- und Zutrittskontrollen zu den Sicherheitsbereichen von tiggestellt sein. Ein entsprechender Entwurf wird derzeit Flughäfen ist der Bundesregierung nicht bekannt. Sie abgestimmt und wird fristgerecht vorgelegt. Das Kon- müssen hier etwas durcheinander gebracht haben. zept enthält im Wesentlichen alle Maßnahmen zur Quali- tätssicherung, also zur Überprüfung, ob die Luftsicher- Das von Ihnen angesprochene Ziel, biometrische heitsmaßnahmen umfassend und fehlerfrei durchgeführt Merkmale in Personaldokumente aufzunehmen, wird werden. Zu diesem Zweck wird neben den Fachauf- von der Bundesregierung bereits konsequent verfolgt: sichtsmaßnahmen zusätzlich ein Auditsystem für alle Schon mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz wurden deutschen Verkehrsflughäfen eingeführt, durch das zu- die Voraussetzungen zur Aufnahme biometrischer Merk- künftig regelmäßig umfassende Prüfungen der Luftsi- male in deutsche Personaldokumente geschaffen. Der cherheitsmaßnahmen durch unabhängige Experten erfol- Entwurf eines Gesetzes, das die Einzelheiten des Verfah- gen werden. Da die Programme aus Sicherheitsgründen rens regelt, wird noch im Verlauf dieser Legislaturperi- unter dem Verschlusssachengrad „VS – Nur für den ode ausgearbeitet werden. Dienstgebrauch“ eingestuft werden, kann eine Veröffent- lichung nicht erfolgen. Dies mag die in dem Antrag der Das Bundesamt für die Sicherheit in der Informa- Opposition zutage tretende Unkenntnis erklären. tionstechnik führt gemeinsam mit dem Bundeskriminal- amt umfangreiche Tests über biometrische Verfahren Aber auch in den weiteren Punkten läuft Ihr Antrag von Fingerabdrücken, Iris und Gesichtserkennung durch. ins Leere: Die Tests sollen bis Mitte 2004 abgeschlossen sein. Zu- dem entwickelt das Bundesministerium des Innern mit Die durch den Chef des Bundeskanzleramts im Som- der Bundesdruckerei ein modifiziertes Passmuster. Wenn mer 2002 beauftragte ressortübergreifende Arbeits- die Entwicklung des neuen Passmusters Mitte nächsten gruppe „Sicherheit im Luftraum“ hat Anfang 2003 kon- Jahres abgeschlossen ist, wird auch über das anzuwen- krete Empfehlungen zu den erforderlichen Strukturen dende biometrische Verfahren entschieden werden. zur Abwehr von Gefahren durch den Missbrauch von Flugzeugen als Waffe vorgelegt. Diese Empfehlungen Auf der Höhe der Zeit sind Sie auch nicht mit der wurden durch die jeweiligen Leitungsebenen gebilligt Forderung nach Schaffung einer zentral geführten Da- und werden, soweit sie Kompetenzen des Bundes betref- tenbank über Entscheidungen im Visaverfahren. Es ist fen, bereits umgesetzt. So wird derzeit ein Nationales Ihnen ganz offensichtlich entgangen, dass im Terro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4465

(A) rismusbekämpfungsgesetz längst eine entsprechende diese Veranlagung überhaupt je realisiert? Und liegt da- (C) Rechtsgrundlage geschaffen wurde. Nachdem die infor- rin nicht die Gefahr massiver Diskriminierung derjeni- mationstechnischen Voraussetzungen gegeben sind, wer- gen, bei denen solche erhöhten Wahrscheinlichkeiten den in Kürze Daten aller Visaentscheidungen zentral in festgestellt werden, zumal dann, wenn sie sich nicht ein- der im Bundesverwaltungsamt geführten AZR-Visadatei mal manifestieren. gespeichert. Auf diese Daten können viele Länderstel- len, wie zum Beispiel Polizeivollzugsbehörden und Die Gendiagnostik droht hier gewissermaßen eine Ausländerbehörden, zugreifen. Vielzahl von „Kranken ohne Symptom“ zu schaffen. Zu- gleich liefert sie häufig Daten, die nicht nur etwas über Nach diesem Überblick dürfte deutlich geworden den Menschen aussagen, bei dem sie erhoben wurden, sein, dass der Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem sondern zugleich über Familienangehörige – und das Titel „Mehr Sicherheit im Luftraum“ sicher nicht zu kann manchmal erhebliche soziale und psychologische mehr Sicherheit im Luftraum führen wird, da nur Sach- Folgen haben. So könnte beispielsweise eine Diagnostik, verhalte und Vorhaben wieder aufgerollt wurden, deren die in einer Familie zu medizinischen Zwecken vorge- Bedeutung die Bundesregierung längst erkannt hat, die nommen wird, als „Nebeneffekt“ die Information zutage bereits umgesetzt sind bzw. deren Realisierung sehr bald fördern, dass der „Vater“ des Kindes in Wirklichkeit gar zu einem Abschluss gebracht werden wird. nicht der biologische Vater ist. Der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbe- Anlage 6 stimmung und der Schutz vor genetischer Diskriminie- rung im Arbeitsleben, im Versicherungswesen usw. müs- Zu Protokoll gegebene Reden sen daher die leitenden Prinzipien der Gesetzgebung zur Gendiagnostik sein. Was die Gefahren der Diskriminie- zur Beratung über den Antrag: Gentests in Me- rung anbetrifft, haben die Arbeiten der Enquete-Kom- dizin, Arbeitsleben und Versicherungen (Tages- mission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ der ordnungspunkt 16) 14. Wahlperiode schon mit dazu beigetragen, dass in die Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Lassen sich mich zu- Grundrechte-Charta der Europäischen Union ein Artikel nächst einmal ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen aufgenommen wurde, der dem Bürger Schutz vor geneti- von der CDU/CSU-Fraktion richten: Sie werden es scher Diskriminierung garantiert. kaum glauben, aber ich war beim Lesen ihres Antrags Des Weiteren ist es im Rahmen des Rechts auf infor- richtiggehend erfreut. Schließlich sind darin praktisch mationelle Selbstbestimmung gerade der Schutz des im Verhältnis 1:1 die Forderungen und Empfehlungen Rechts auf Nichtwissen, der uns vor knifflige juristische wiederzufinden, die die Enquete-Kommission „Recht (B) Probleme stellt. Ebenso müssen wir klarstellen, wie das (D) und Ethik der modernen Medizin“ in der 14. Wahlperi- Recht auf informationelle Selbstbestimmung von Nicht- ode zur Gendiagnostik ausgearbeitet hat. Und man freut einwilligungsfähigen zu wahren ist. Dass bei ihnen aus- sich doch immer, wenn eine Arbeit, an der man selbst schließlich solche genetischen Untersuchungen durchge- beteiligt war, Früchte trägt. führt werden dürfen, die ihrem Wohl dienen, für sie Ihre Fraktion ist allerdings nicht die erste, die sich bei einen medizinischen Nutzen haben, ist ein Grundsatz, der Ausarbeitung von Eckpunkten zur Gendiagnostik auf den wir hier klar umsetzen müssen. Das gilt übrigens die Vorarbeiten der Enquete-Kommission bezogen hat. auch für die pränatale Diagnostik, wo das Recht auf in- Das Eckpunktepapier nämlich, das die SPD schon im formationelle Selbstbestimmung bislang leider oft genug vergangenen Juli nach eingehenden Beratungen inner- verletzt wird, indem an nicht einwilligungsfähigen Föten halb der Fraktion vorgelegt hat, hat sich ebenfalls die auch Tests durchgeführt werden, die keinerlei medizini- Empfehlungen der Enquete-Kommission zu Eigen ge- schen Nutzen für sie versprechen. Dass eine solche Pra- macht. Diese Übereinstimmung zeigt mir, dass die tra- xis auf den sensiblen Bereich der prädiktiven geneti- genden ethischen Grundsätze, von denen ausgehend das schen Diagnostik ausgedehnt wird, müssen wir in jedem schwierige Thema „genetische Diagnostik“ rechtlich zu Fall vermeiden. regeln ist, offenbar breiteste Anerkennung finden. Abschließend möchte ich Ihnen noch einmal sagen, Angesichts der besonderen Sensibilität der Daten, mit dass ich es grundsätzlich begrüße, dass die CDU/CSU denen wir es hier zu tun haben, ist das ja auch kaum ver- beim Nachdenken über das Thema Gendiagnostik zu wunderlich; denn genetische Daten unterscheiden sich ähnlichen Schlüssen gekommen ist wie die SPD schon von allen anderen biologischen Daten dadurch, dass sie vor über einem Jahr. Ich möchte Sie allerdings zur Ge- den Kernbereich unserer körperlichen Existenz, unser duld mahnen. Wenn wir uns auch in den Eckpunkten individuelles Genom betreffen. Gendiagnostik liefert weitgehend einig sein mögen, so steckt bei der Gentest- häufig nicht Daten, die sich auf den aktuellen Zustand gesetzgebung doch häufig der Teufel im Detail. Wir soll- eines Menschen beziehen, sondern auf Veranlagungen, ten daher nichts über das Knie brechen, sehr verehrte zukünftige Entwicklungen etc. Ihre Ergebnisse sagen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion. häufig nur etwas über Wahrscheinlichkeiten und Mög- Sie wissen selbst, wie kompliziert bei einem so umfang- lichkeiten. Was hilft es jemandem aber, wenn jemand reichen Projekt, an dem zahllose verschiedene Ressorts weiß, dass bei ihm ein um 60 Prozent erhöhtes Risiko beteiligt sind, die Abstimmungsprozesse sind. Lassen besteht, einen Herzinfarkt zu bekommen oder an Brust- Sie uns dem nicht durch Schnellschüsse vorgreifen, son- krebs zu erkranken, wenn nicht einmal klar ist, ob sich dern die wichtigen Fragen Punkt für Punkt abarbeiten! 4466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) Trotz der Komplexität der Materie wird die Bundes- Fortschritten im Bereich der Diagnose, der Prävention (C) regierung schon nach der Sommerpause im September und der Therapie genetisch bedingter Krankheiten füh- einen entsprechenden Referentenentwurf vorlegen. Aber ren. Bei den verschiedenen Testmöglichkeiten unter- Sie wissen ja, wie viele Ressourcen andere Themen der scheiden wir diagnostische und prädiktive Gentests. Gesundheitspolitik gegenwärtig beanspruchen. Und dass Während die Untersuchung mittels eines diagnostischen es im Gesundheitsbereich innerhalb einer Fraktion Gentests der Bestätigung einer bestehenden Diagnose manchmal aufreibend werden kann, erleben gerade Sie dient, verstehen wir unter einem prädiktiven Test eine ja derzeit täglich am eigenen Leib. vorhersagende Untersuchung auf das Vorliegen einer Erbgutveränderung. Unser Antrag bezieht sich im Fol- Nichtsdestotrotz: Wenn der Referentenentwurf vor- genden auf die Problematik der prädiktiven Gentests. liegt, können wir die Details gemeinsam durchgehen. Da Sie als größte Oppositionsfraktion die Grundlinien ge- Aufgrund der neuen Diagnosemöglichkeiten kann be- nauso sehen wie wir, bin ich zuversichtlich, dass wir das reits heute schon die Veranlagung zu einer genetischen Gentestgesetz dann zügig und auf einer breiten parla- Krankheit festgestellt werden und somit das Risiko oder mentarischen Basis werden verabschieden können. der Ausbruch unter Umständen verhindert werden. Krankheiten wie Alzheimer, Multiple Sklerose oder Hä- Katherina Reiche (CDU/CSU): Wir befassen uns mophilie sind heute ebenso leicht in einem Gen nach- heute mit einem Thema, dass fast auf den Tag genau vor weisbar wie bestimmte Krebsarten, etwa Brust-, Eier- einem Jahr Gegenstand der Debatte in diesem Hause ge- stock- und Hautkrebs. Es bedarf der Orientierung an der wesen ist. Bereits damals hat die öffentliche Anhörung grundgesetzlich geschützten Menschenwürde, der Res- der Sachverständigen im Gesundheitsausschuss zu dem pektierung des Selbstbestimmungsrechtes, des Gleich- Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Anwendung heitsgrundsatzes, der Vertraulichkeit, der Schweige- von Gentests in Medizin und Versicherungen eindrucks- pflicht, der Freiwilligkeit und einer umfassenden voll belegt, dass wir in Deutschland dringend eine gesetz- Aufklärung der Probanden durch qualifizierte Fachärzte. liche Regelung für den Umgang mit Gentests benötigen. Ziel rechtlicher Regelungen muss es sein, den indivi- Das Parlament ist aufgerufen, beim Umgang mit Genda- duellen und gesellschaftlichen Risiken prädiktiver gene- ten Leitplanken zu setzen, um die Entwicklung in die von tischer Diagnostik so weit wie möglich entgegenzuwir- uns vorgeschlagenen gewünschten Bahnen zu lenken. ken und zugleich die Chancen von diagnostischen Ich frage Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Gentests so weit wie möglich zur Entfaltung zu bringen. Koalition, was haben Sie in diesem Jahr getan, um dieser Die gesellschaftliche Herausforderung besteht also da- Aufforderung nach zu kommen? Antwort ist: Nichts! Ich rin, einerseits die Rahmenbedingungen für die viel ver- sprechende Forschung in Bezug auf die Vermeidung und (B) möchte hierzu gern den Bundesbeauftragten für den Da- (D) tenschutz, Joachim Jacobs, zitieren, der in seinem Tätig- Behandlung schwerer Krankheiten zu verbessern und keitsbericht für die Jahre 2001 und 2002 ausführte: andererseits die im Rahmen der Verfassung, Ethik und „Wiederholt habe ich in meinen Tätigkeitsberichten da- Kultur selbstverständlichen individuellen Ansprüche auf rauf hingewiesen, dass die Schaffung eines bereichsspe- informationelle Selbstbestimmung und auf Schutz vor zifischen Arbeitnehmerdatenschutzgesetzes dringlicher genetischer Diskriminierung und Stigmatisierung zu si- denn je ist.“ Und weiter heißt es: „Mehrfach hat die Bun- chern. Beiden Aspekten sind wir in unserem Antrag ge- desregierung angekündigt, dass sie unter Einbeziehung recht geworden. von Wissenschaft und Praxis einen Gesetzentwurf zu ei- Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen, dass niemand nem Arbeitnehmerdatenschutz vorlegen will.“ Mittler- wegen seiner genetischen Disposition Nachteile beim weile liegen bereits mehrere wissenschaftliche Stellung- Abschluss von Versicherungen oder Arbeitsverträgen er- nahmen zum Thema Gentest vor. Ich erinnere hier nur an fahren muss. Wir möchten vielmehr sicherstellen, dass den Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und die Möglichkeiten der Gentechnik dem Einzelnen zugute Ethik in der modernen Medizin“ aus der letzten Legisla- kommen und nicht einseitig von Dritten zu deren Vorteil turperiode oder die Stellungnahme der Senatskommis- genutzt werden. sion für Grundsatzfragen der Genforschung der DFG, in der der politische Handlungsbedarf im Arbeitsrecht for- Die CDU/CSU-Fraktion legt Ihnen deshalb heute ei- muliert worden ist. nen erweiterten Antrag zur Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen vor, der einen Leitfaden für Die Bundesregierung hat jedoch bis zum heutigen weitere gesetzliche Regelungen bilden soll. Es reicht Tage keinen Gesetzentwurf hierzu vorgelegt. Im Gegen- eben nicht aus, zu sagen, dass man den gläsernen Men- satz zu Deutschland existieren bereits in vielen europäi- schen verhindern will, es ist notwendig, jetzt schleunigst schen Ländern spezifische Regelungen zur Anwendung rechtliche Schritte einzuleiten. von Gentests. Deshalb fordere ich Sie auf, handeln Sie endlich und legen diesem Hause auf der Grundlage unse- Wir haben in unserem Antrag einen umfangreichen rer Eckpunkte einen Gesetzentwurf zum Umgang mit Maßnahmenkatalog zum Schutz vor dem Mißbrauch von Gentests vor! Gendaten aufgestellt. Damit möchten wir sicherstellen, dass niemand zu einem Gentest gezwungen werden Die Einführung molekulargenetischer Methoden hat kann. Versicherungen dürfen die Durchführung eines eine neue Ära der Medizin begründet. Die Entschlüsse- prädiktiven Gentests nicht veranlassen. Dazu hat sich die lung des menschlichen Erbgutes und die daraus resultie- deutsche Versicherungswirtschaft im Rahmen eines frei- rende Entwicklung von Gentests können zu beachtlichen willigen Moratoriums verpflichtet. Die eigene geneti- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003 4467

(A) sche Disposition muss für jeden Menschen ein Geheim- ermöglichen. Es besteht die Gefahr, dass Dritte Informa- (C) nis bleiben. Ebenso muss die Gefahr ausgeschlossen tionen über die genetische Konstitution von Menschen werden, dass Nutzer aus Angst vor einer möglichen Dis- ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen erfahren. Ge- kriminierung auf die Durchführung eines vom Arzt ver- nauso besteht die Gefahr, dass Menschen Informationen anlassten medizinisch indizierten Gentests verzichten über ihre eigenen genetischen Daten aufgedrängt werden bzw. einen solchen anonym und ohne ärztliche Beratung oder sie unter Druck geraten, von solchen Daten gegen durchführen. ihren Willen Kenntnis nehmen zu müssen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch ein- Hieraus können – je nach Schwere und Maß der Unge- mal unterstreichen, dass Gentests und die entsprechende wissheit der Information – erhebliche psychische Pro- Beratung in die Hand des Facharztes gehören und nicht bleme für alle Beteiligten entstehen. Denn für die meisten für Hobbymediziner geeignet sind. Angesichts eines ins der genetisch beinflussten oder begründeten Krankheiten Haus stehenden „freien Testmarktes“, auf dem Anbieter gibt es heute noch keine Therapie. Das Wissen weitet von insgesamt 1001 genetische Tests über das Internet sich rasant aus, die Hilfe kommt aber nicht hinterher. viel Geld verdienen und durch unzureichende Infor- Der genetische Hintergrund vieler Krankheiten bedingt, mation und Interpretation großer Schaden angerichtet dass diese über Generationen in Familien anzutreffen werden kann, erscheinen uns entsprechende gesetzliche sind und Wissen und Gewissheit eines Familienmit- Regelungen angebracht. Auch der Abschluss von Ar- glieds sich niemals auf dieses Mitglied beschränken beitsverträgen darf nicht von Gentests abhängig gemacht lässt. werden, denn es gilt die Gefahr einer ungerechtfertigten Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieht aus diesen Arbeitnehmerselektion und Diskriminierung gleich von und vielen weiteren Gründen dringenden Regelungsbe- vornherein auszuschließen. Vielmehr sind Regelungen darf auf dem Gebiet der genetischen Diagnostik. For- notwendig, die die Freiwilligkeit und Vertraulichkeit von schungs- und Wissenschaftsfreiheit, das allgemeine Per- Gentests garantieren und dem Schutz der Arbeitnehmer sönlichkeitsrecht, zu dem das Recht auf Nichtwissen und dienen. Unser Antrag berücksichtigt zu dem die Forde- das informationelle Selbstbestimmungsrecht gehören, rung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, aber auch Verbraucherschutz- und Datenschutzinteres- Joachim Jacob, unerlaubte Gentests unter Strafe zu stel- sen müssen dabei abgewogen werden. len. Im Forschungsbereich müssen Standards definiert Die Bundesregierung ist nun aufgefordert, auf der werden, die gewährleisten, dass keine Forschung ohne Grundlage dieser Eckpunkte einen entsprechenden Ge- informierte Zustimmung und mit dem Recht des Wider- setzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen. rufs durchgeführt wird und Anonymisierungen nicht (B) Wir unterbreiten Ihnen damit ein Angebot, mit uns in durchbrochen werden können. Hohe Qualitätsstandards (D) den Dialog zu treten und im Interesse der Menschen zu hinsichtlich der Testverfahren und der Labore, die die einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Tests durchführen, müssen gewährleisten, dass die Er- gebnisse exakt, zuverlässig und nicht überschüssig Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hinsichtlich der Fragestellungen sind. Wir wollen eine menschliche Genom ist weitgehend entschlüsselt. Die Gendiagnostikkommission aus unabhängigen Wissen- wissenschaftlichen Kenntnisse auf dem Gebiet der Hu- schaftlern verschiedener Fachrichtungen, die diese Quali- mangenetik schreiten mit hohem Tempo voran. tätsstandards näher definiert und überwacht. Sie sollte auch Forschungsvorhaben bewerten und bewilligen, um Aus dieser Entwicklung können sich Chancen zu ei- nicht einwilligungsfähige Menschen vor Ausbeutung ih- ner Erforschung, Diagnose und vielleicht auch Heilung res Erbmaterials ohne wissenschaftlichen Nutzen für sie von Krankheiten ergeben. Durch so genannte Prädisposi- zu schützen. tionstests können manche Krankheiten schon vor dem Ausbrechen erkannt werden. Hier liegt eine Chance, das Das Gesetz muss ein Diskriminierungsverbot fest- Ausbrechen solcher Krankheiten durch präventive Maß- schreiben. Niemand darf aufgrund seiner genetischen nahmen zu verzögern oder gar zu verhindern. Diagnosti- Disposition benachteiligt werden. Genauso wenig darf sche Gentests ermöglichen eine effektivere Diagnose jemand benachteiligt oder stigmatisiert werden, der sich von Krankheiten. weigert, an sich einen Gentest durchführen zu lassen. Je- der sollte zudem davor geschützt werden, seine geneti- Mit Gentests werden vielleicht auch Empfindlichkei- schen Daten und die Erkenntnisse, die sich daraus ablei- ten hinsichtlich bestimmter Stoffe festgestellt werden ten lassen, gegen seinen Willen zur Kenntnis nehmen zu können. Dann wird es – so die Hoffnung – möglich, indi- müssen. Das Recht auf Nichtwissen ist zu gewährleisten. viduell festzustellen, ob ein Patient bestimmte Medika- mente verträgt oder welche Medikamente in welcher Der Drittbezug von Gentests wirft große Probleme Wirkstoffzusammensetzung bei ihm am effektivsten wir- auf. Einen angemessenen Ausgleich zwischen dem ken. Recht auf Nichtwissen der Verwandten und dem Inte- resse desjenigen, der sich testen lassen will, weil er seine Der Einsatz von Gentests birgt aber auch eine Reihe Lebensplanung darauf einrichten will oder weil er auf von ernsten und schwerwiegenden Gefahren für den ein- eine Erkennung und Heilung seiner Krankheit hofft, zu zelnen Menschen und das gesellschaftliche Zusammen- finden, ist schwer. Er kann nach unserer Auffassung leben. Die umfassende genetische Analyse kann Diskri- noch am besten dadurch erreicht werden, dass die freie minierung und Selektion in verschiedensten Formen Verfügbarkeit von Gentests für jedermann strikt unter- 4468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

(A) sagt wird. Gentests dürfen nur durch fachlich qualifi- auf europäischer Ebene in der Biomedizin-Konvention (C) zierte Ärzte angeordnet werden und müssen einen klaren in Art. 11 festgelegt ist, dass „jede Form der Diskri- medizinischen Nutzen haben. Vor der Durchführung ei- minierung gegen eine Person wegen ihres genetischen nes Gentests und vor Bekanntgabe der Ergebnisse muss Erbes verboten ist“. Damit ist die Biomedizin-Konven- eine umfassende und fachlich hochwertige Beratung tion das einzige internationale Vertragswerk, das aus- durchgeführt werden, die nicht nur medizinische, son- drücklich das genetische Erbe als Grund für die Nicht- dern auch psychische und soziale Aspekte umfasst. diskriminierung erwähnt. Deutschland sollte diese Konvention nicht nur aus diesem Grund schnellstens Die Gendiagnostik wirft aber auch in anderen Berei- unterzeichnen. chen Fragen auf, die geklärt werden müssen und von uns geklärt werden. So muss es Versicherungen grundsätz- Obwohl sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft lich untersagt sein, von ihren Versicherungsnehmern die noch 1999 in einer Stellungnahme zu prädikativen Gen- Durchführung eines Gentests vor dem Abschluss eines tests gegen gesetzliche Regelungen ausgesprochen und Versicherungsvertrages zu verlangen oder entsprechende auf die Verantwortung von Wissenschaft und Berufsver- Testergebnisse anzunehmen. Arbeitgeber dürfen weder bänden verwiesen hat, sprechen drei Gründe für eine ge- die Durchführung eines Tests noch die Offenlegung von setzliche Regelung, wie sie von der Union vorgeschla- bereits durchgeführten Tests verlangen oder annehmen. gen wird. Erstens. Es ist fraglich, ob bei einer Dies ist zwingend geboten, um Diskriminierung und Se- Ausweitung der Testpraxis die Instrumente der berufs- lektion aufgrund einer genetischen Disposition zu ver- rechtlichen Selbstregulierung ausreichen, um Fehlent- meiden. Etwaige Ausnahmen müssen unabweisbar sein wicklungen zu verhindern. Zweitens. Die Empfehlungen und dürfen weder das Diskriminierungsverbot noch das der Berufsorganisationen haben keinen verbindlichen Persönlichkeitsrecht unterlaufen. Charakter, solange sie nicht in die ärztliche Berufsord- Die Koalition wird einen Gesetzentwurf vorlegen, der nung übernommen werden. Drittens. Es muss mit einer alle diese Facetten berücksichtigt. Der Antrag der CDU/ Ausweitung der genetischen Diagnostik in vielen An- CSU, dem ich ausdrücklich bescheinigen will, dass er wendungsfeldern gerechnet werden. Dazu gehört auch sich sorgfältig und umfassend mit den Problemen der die Zunahme nicht medizinischer Tests. Gendiagnostik auseinander setzt, ermutigt mich in der Hoffnung, dass es nach Abschluss der parlamentarischen Es hat bereits in der 14. Legislaturperiode der Ent- Debatten zu einem Gentestgesetz kommen wird, dem wurf eines Gentestgesetzes vorgelegen. Die Enquete- alle Fraktionen werden zustimmen können. Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ empfiehlt ein umfassendes Gendiagnostik-Gesetz. Wir sollten dieser Empfehlung folgen und darauf drängen, (B) Detlef Parr (FDP): Das Schicksal von Terry dass die bereits laufenden Vorbereitungen eines neuen (D) Seargent, einer 46-jährigen Amerikanerin, sollte uns zu Entwurfs beschleunigt werden. Dabei sind für die FDP denken geben. Sie ist aufgrund eines Gentests, nach dem folgende Prinzipien wesentlich. Erstens das Prinzip, dass eine Erbkrankheit diagnostiziert wurde, arbeitslos und sich die Nutzung von Gendiagnostik auf medizinische ohne Krankenversicherungsschutz – ein Fall von geneti- Zwecke beschränkt, zweitens der Arztvorbehalt bzw. scher Diskriminierung, weil es keine klare gesetzliche eine fachärztliche Qualifikation, drittens das Selbstbe- Regelung in den USA gibt. So stellen wir uns den Fort- stimmungsrecht – Weitergabe der Daten nur mit aus- schritt der Humangenetik nicht vor. Eine solche Schre- drücklicher Zustimmung des Einzelnen – und viertens ckensvision der Selektion durch Arbeitgeber oder Kran- die Qualitätssicherung von Beratung und Diagnose kenversicherungen aufgrund von Informationen über das durch staatliche Zulassung der Einrichtungen. Außer- Erbgut darf bei uns nie Realität werden. dem darf die Einführung genetischer Tests nicht dem Das Recht, nicht diskriminiert zu werden, stellt ein Markt überlassen werden. Wir müssen jede Art von fundamentales Menschenrecht dar. Es ist ein Segen, dass Wildwuchs in diesem Bereich vermeiden.

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