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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Canon Rock Oder: Guitar Heroes im Bett

Autor: Lutz Neitzert Redaktion: Felicitas Ott

Sendung in SWR2 Dschungel: Montag, 25.01.10 um 19.20 Uhr in SWR2 Wiederholung in SWR2 Tandem: Freitag, 01.08.12 um 19.20 Uhr in SWR2

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Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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1 MANUSKRIPT

Musik: "Canon Rock" FunTwo-Version

Sprecher: Links ein ungemachtes Bett, rechts ein PC, die Sonne scheint durchs Fenster - auf eine schwarzgoldene E-Gitarre der Marke ESP Alfee Custom und einen schmächtigen Jungen in einem türkisblauen T-Shirt. Eine beigefarbene Baseballkappe verdeckt sein Gesicht während er spielt - ganz versunken und konzentriert - ein Stück klassischer Musik - einen Kanon aus dem späten 17. Jahrhundert.

Musik: "Canon Rock" FunTwo-Version Übergang zum zweiten, virtuoseren Part

Interview mit FunTwo: FunTwo: Some of my friends in New Zealand, they actually know the truth. Moderator: And what do they think? FunTwo: They think like: „Mmmh, how can you be a kind of star? You're not even handsome“, or something like that. Übersetzung: FunTwo: Einige meiner neuseeländischen Freunde, wissen Bescheid, Sie sagen: „Du kannst doch kein Star sein, so wie Du aussiehst!“

Kommentare zu FunTwo: Moderator: Take a listen to this man play Pachelbel's famous canon. This composition is originally written for three violins and this gentleman with his stratocaster plays all the parts. And watch him as he really gets cranking here. Self taught! Self taught! Moderatorin: Is this the one who said, he didn't want to show his face because he said: „I'm not that handsome?“ That's very cute in my opinion, deeply cute!" Übersetzung: Moderator: Hören Sie einmal diesem Mann zu, wie er den berühmten Kanon von Pachelbel spielt. Die Komposition ist für drei Violinen geschrieben und dieser Gentleman spielt alles ganz allein. Und das als Autodidakt! Moderatorin: Ist das nicht der Junge, der sein Gesicht nicht zeigen möchte, weil er meint, er sei nicht hübsch genug? Ich finde das so süß, richtig süß!" FunTwo: Drei Wochen hatte ich das Stück geübt, ganz für mich allein, und dann wollte ich endlich mal ein bisschen Feedback haben.

Sprecher: Unter dem Usernamen FunTwo hatte er das 5 Minuten 23 Sekunden lange Video "Canon Rock" ins Internet gestellt - trotz eher lausiger Tonqualität und dilettantisch geschnitten - erregte es sofort Aufsehen und sorgte für heftige Diskussionen in Guestbooks, Chatrooms und Newsgroups:

Zitate: (Reaktionen aus Guestbooks, Chatrooms und Newsgroups, nachgesprochen) - Damn he's good! - A new comment every 10 minutes?! That's totally crazy! - Thumbs up!

2 - Absolut perfekt! - O my God - this is awesome! - Vraiment super! - This is too good to be played in a room! You deserve much more man! - Von mir gibt's jedenfalls 5 Sterne! - Good job! - The deal is that he is a genius! - Einfach nur geil! - 64.174.941 views! Wow! - If every video in Youtube would be gone except for this, I would still be happy! - I also love that guy - but that's because I'm a homosexual! - So rock on brother!

Sprecher: Er konnte also durchaus zufrieden sein mit den ersten Reaktionen. Aber natürlich gab es auch die unvermeidlichen Neider, Nörgler, Korinthenkacker und Fachsimpel:

Zitate: (Reaktionen aus Guestbooks, Chatrooms und Newsgroups, nachgesprochen) - By the way - he did a mistake! Check between 2:12 and 2:16 and you will hear it. - Und hier, bei 2:41, hat er auch danebengehauen! Und die Modulation bei 3:50 ist ebenfalls verkehrt! - And I think I just heard yet another terrible tone - wait - let me listen again! Oh yeah, it’s at 3:33! (Musikbeispiele)

Sprecher: Zudem argwöhnten Einige, misstrauisch gemacht durch eine winzige Asynchronität zwischen Bild- und Tonspur, das Ganze sei vielleicht ein Fake. Er habe die Musik im Computer generiert und dann bloß die Finger dazu bewegt. Auch ein Schnitt in der Mitte des Films wurde bemerkt und abschätzig kommentiert.

Zitat: (Reaktion aus Guestbooks, Chatrooms oder Newsgroups, nachgesprochen) Das Ding scheint ja aus zwei Teilen zu bestehen. Ich vermute, weil er nicht in der Lage ist, das gesamte Stück einmal fehlerfrei durchzuspielen!"

FunTwo: Übersetzung Ich hatte Bild- und Tonspur getrennt aufgenommen und dann wohl nicht so ganz exakt zusammengefügt und, ja, ich habe das Stück tatsächlich in zwei Teilen eingespielt!

Sprecher: Aber auch Grundsätzlicheres wurde kritisiert. Vor allem Klassikpuristen meldeten sich empört zu Wort.

Zitate: (Reaktionen aus Guestbooks, Chatrooms und Newsgroups, nachgesprochen) - Ich hatte die Originalfassung des Pachelbel-Kanons als Hochzeitsmusik - und die ist so viel besser als das hier! - Well, that's just another way to ruin - thanks!

3 Sprecher: Die meisten aber waren völlig begeistert und etwas später wurde man dann auch in den alten Medien auf den erstaunlichen Hype um ein so kurzes Stückchen Instrumentalmusik aufmerksam. Die Zeitung "The Independent" titelte:

Zitator: The Axeman cometh! Pachelbel makeover makes a web superstar!

Sprecher: ...und schrieb:

Zitator: Asiens neues Gitarrenwunder nennt sich selbst FunTwo und sein Video auf Youtube wurde bereits millionenfach angeklickt. Alles was von seinem Gesicht zu sehen ist, ist sein Kinn, während er die komplizierten Arpeggien eines alten Barockmeisterwerks spielt. Dieses völlige Fehlen von Mimik kontrastiert faszinierend mit der aberwitzigen Fingerfertigkeit und das einströmende Sonnenlicht gibt dem Ganzen dazu noch etwas irgendwie Traumhaftes. Dieser Clip erlangte eine Online- Prominenz wie sonst vielleicht höchstens noch ein Paris Hilton-Sexvideo!

Sprecher: Aber wer verbarg sich hinter dem Pseudonym und der Baseballkappe? Eine investigative Journalistin der New York Times enthüllte am 27. August 2006 schließlich FunTwo's Inkognito:

Journalistin: (Zitatorin) Web Guitar Wizard revealed at last! Internet Gitarren-Hexer enttarnt! Vor acht Monaten tauchte jenes mysteriöse Musikvideo auf, das in einem schwarz- weißen Vorspann einen gewissen FunTwo als Interpreten nennt. Es erreichte schnell eine Publicity, vergleichbar nur mit Promisex oder einer Marienerscheinung. Auf Gitarren-Portalen, MySpace-Seiten und Videoplattformen wurden unzählige Links plaziert, provozierte Bewunderung, Kritik, Skepsis oder Missgunst. Und immer wieder tauchte die Frage auf: „Wer zum Teufel ist das?“

Sprecher: Ein Gitarrist aus Malaysia behauptete fälschlicherweise, jener FunTwo zu sein, ebenso ein zwölfjähriger Amerikaner. Aber die entscheidende Fährte, die hatte er selbst gelegt. Im Intro zu seinem Clip hatte er korrekterweise auch den Namen des Arrangeurs jener rockigen Pachelbel-Coverversion genannt - ein gewisser JerryC, alias Jerry Chang, ein semiprofessioneller Musiker aus Taipeh, der Hauptstadt von , auf dessen Homepage die Urfassung zu finden war. JerryC hatte den Kanon für die Onlinepräsenz seiner eigenen Heavy Metal-Band eingespielt. Er kannte den Titel aus dem elterlichen Plattenschrank, machte daraus ein hochvirtuoses Übungsstück und, wie gesagt, eine etwas schräge Promo für seine C-Band. Und auch er saß dabei ganz allein in seinem Schlafzimmer.

Musik: "Canon Rock" JerryC-Version

4 Sprecher: FunTwo jedenfalls hatte sich die von JerryC zum Download angebotenen Noten und das Playback heruntergeladen, Grüße zurückgelassen - und dabei offenbar digitale Spuren gelegt, denen die New Yorker Journalistin dann detektivisch nachging.

Journalistin: (übersetzt) Indem ich bestimmten Hinweisen und Verbindungsdaten auf JerryC's Messageboard folgte, stieß ich schließlich auf den 23-jährigen Südkoreaner Lim Jeong-Hyun aus Seoul. Es bestand kein Zweifel daran, dass er FunTwo war!

Sprecher: Sie nahm also Kontakt auf:

Journalistin: (übersetzt) In einer E-Mail erklärte er mir, wie es zum Canon Rock gekommen ist!

FunTwo: (übersetzt) Als ich JerryC's Video zum ersten Mal sah, war ich tief beeindruckt ..

Musik: "Canon Rock" JerryC-Version

FunTwo: (übersetzt) Das wollte ich auch spielen können! Ich übte und übte und schließlich postete ich meine eigene Version in einem koreanischen Musikportal namens Mule. Und dann hat es - ohne mein Wissen - irgendein Unbekannter, der sich Guitar 90 nennt, am 23. Oktober 2005 auf Youtube eingestellt.

Sprecher: Mit dem ebenso kurzen wie prägnanten Hinweis "This guy iz great!" und unter dem noch kürzeren und noch prägnanteren Titel "Guitar" - was sicher auch dazu geführt hat, dass fast jeder nach irgendwelcher Gitarrenmusik suchende User darauf stoßen musste.

Journalistin: (übersetzt) Als ich Mr. Lim fragte, warum er sein Gesicht nicht gezeigt habe, schrieb er mir:

FunTwo: (übersetzt) Ich wollte nur mein Spiel beurteilt haben. Und ich dachte, es würde nur ablenken von meinen Fingern und von meinem Sound!

Sprecher: Von nun an aber ist auch sein Gesicht bekannt. Und schließlich begrüßen zwei etwas überdrehte Moderatoren das verlegen kichernde Wunderkind in einer koreanischen Fernsehshow:

Ausschnitt aus einer koreanischen TV-Sendung: (übersetzt) Moderator: Ein junger Koreaner überrascht Internetnutzer auf der ganzen Welt. Sogar in der New York Times wurde er schon vorgestellt. Lim Jeong-Hyun heißt er und war vorher ein völlig unbekannter Hobbygitarrist. Wir haben ihn vorhin erst erreicht, um ihn einzuladen, und er ist tatsächlich spontan gekommen. Wo haben wir Dich denn hergeholt? FunTwo: Aus einem Internetcafé in Shinchon, ich war gerade am Computerspielen.

5 Moderator: Dann hast Du wahrscheinlich schon gesehen, dass Dein Name in den Suchmaschinen an erster Stelle steht, oder? FunTwo: Ja, habe ich. Moderator: Und, wie hast Du Dich da gefühlt? FunTwo: Ich bin total überwältigt. / Moderator: Ja, Du stehst auf der ganzen Welt im Mittelpunkt, wie findest Du das denn? FunTwo: Ich fühlte mich total betrübt! Moderator: Betäubt, meinst Du? FunTwo: Genau! Moderator: Also, Du bist jetzt gut drauf, oder? FunTwo: Ja ja, es geht mir gut!

Sprecher: In einem anderen Interview befragte man ihn zu seinen musikalischen Vorlieben und er erzählte von seiner allerersten Begegnung mit einer elektrischen Gitarre:

FunTwo: The first motivation was Nirvana. I first heard the song called „Smells like teen spirit“, the guitar-riff was so impressive for me. I thought like, „How, what's the fucking name of an instrument that sounds like this?" Übersetzer: Alles fing mit Nirvana an. Ich hörte ihren Song „Smells like teen spirit“ und dieser Gitarrenriff beeindruckte mich schwer. Ich dachte, `was, zum Teufel, ist denn das für ein Instrument?´ -

Sprecher: Mittlerweile war auch das Ur-Video jenes Taiwanesen auf Youtube aufgetaucht. Und sofort gab es diverse Parallelvergleiche beider Aufnahmen - stilisiert zu einer Art Showdown: "JerryC versus FunTwo!“ Letzterer ist hier im linken Kanal zu hören:

Musik: JerryC vs FunTwo Showdown-Version

Sprecher: Bald kursierten auch die ersten - ebenfalls selbstgemachten - mehr oder weniger brauchbaren Lehrvideos, in denen die Tricks und Licks, die Fingersätze und die im Stück verwendeten Spezialitäten aus der Hohen Schule der Rockgitarre beschrieben und vorexerziert werden. Das virtuose und feinmotorisch äußerst knifflige Sweep- Picking etwa, das Tapping – Klopfen - oder das Muting - Abdämpfen der Saiten- oder auch die sogenannten Pinch-Harmonics - durch eine bestimmte Anschlagstechnik erzeugte singende Obertöne.

Ausschnitte aus drei Lehrvideos Hey, I'm Alex and I'm here to show you how to play Canon Rock. It's just the Intro and the Main-Riff and - going on - I hope you learn from this... It's going to start on the 19th fret of the B-String - 17 - 15 - 14 - 12 - 10. [Hi, ich bin Alex und will Euch zeigen, wie man den Canon Rock spielt... Es beginnt im 19ten Bund der H-Saite, dann runter 17ter, 15ter, 14ter, 12ter, 10ter.]

6 Use the powerchord, the E-powerchord on the 3rd fret - and on the G-string you hit the 4th, 6th and 7th fret and go back down to the 6th. [Nimm einen Powerchord, den E-Powerchord im 3ten Bund - und auf der G-Saite greifst Du den 4ten, 6ten, 7ten und dann wieder den 6ten Bund.] And then slide from the 4th fret to the 6th fret on the G-string - then do a pull-off between the 7th fret and the 6th fret. [Dann kommt ein Slide vom 4ten in den 6ten Bund der G-Saite und dann ein Pull-Off zwischen dem 7ten und dem 6ten Bund.]

Sprecher: So instruiert begann dann eine regelrechte Canon Rock-Olympiade. Überall auf der Welt versuchen seither Dutzende pubertierender Guitar Heroes einander zu übertrumpfen.

Reaktionen zu den Lehrvideos: (nachgesprochen) - I challenge that -guitar-star to a duel! - Ach, so toll ist das ja gar nicht, es klingt viel komplizierter, als es ist! Okay! Ich nehme die Herausforderung an! - I'm better than You and I'm calling you out FunTwo!

Sprecher: Eine brauchbare Gitarre, einen PC und eine Webcam hat ja heute fast jeder Nachwuchsmusiker - ein ungemachtes Bett sowieso. Also zunächst einmal den Backing Track auf den Rechner geladen, ausreichend geübt und Selbstbewusstsein getankt - dann die Boxen angeschaltet, das Kabel in den Verstärker gestöpselt und los! Und die meisten veröffentlichten Ergebnisse sind durchaus konkurrenzfähig und können sich hören lassen.

Zitator: The Ultimate Canon Rock Medley

Sprecher: Ein Zusammenschnitt aus 40 der besten Clips:

Musik: "The Ultimate Canon Rock Medley!" aus der Sampler-Version

Sprecher: Und als dann auch noch die ersten mutigen Mädchen mitmischen wollten, mit ihren eigenen Gitarren auf ihren eigenen Betten, da gab es für sie natürlich gleich die typischen Macho-Sprüche:

Musik: aus der Cute Girl-Version

Reaktionen zu der Cute Girl-Versio: (nachgesprochen) - Schaut nur, was für kleine Händchen sie hat! - A guitar and a cute girl - that's hot! - Ja, gar nicht soo schlecht! Aber versuch doch mal, das Ganze ein bisschen aufzupeppen - vielleicht könntest Du ja dabei herumhüpfen, durchs Zimmer tanzen oder so!?

Musik: die Anfangstakte des Pachelbel-Kanon in D, aus I Musici

7 Sprecher: Johann Pachelbel aus Nürnberg, geboren im Jahr 1653, dessen "Kanon in D Dur" auf keinem "Barock Greatest Hits"-Sampler fehlen darf, gilt als so eine Art One-Hit- Wonder seiner Epoche. Sein Instrument war die Orgel - und auch sein Kanon erinnert nicht zufällig an eine festliche Orgelmusik. Im Laufe seines Lebens komponierte Pachelbel viele Choräle, Fugen und Toccaten - aber allein dieses kleine, eher beiläufig entstandene Neben-Werk, geschrieben für 3 Geigen, ein Cello und ein Cembalo, sicherte ihm seinen Nachruhm. Ungezählte Coverversionen und Arrangements entstanden und sogar Loblieder - wie das des Singer-Songwriters Roger Charles:

Musik: Roger Charles "Pachelbel" Oh Pachelbel (er singt: Pätschebell) how can I begin to tell you while you're smiling down at me in my local galery? Oh Pachelbel, Pachelbel ...)

Sprecher: Pachelbel heißt der Mann, Pach-Elbel! Eine simple aber in sich schlüssige, gemächlich dahinschreitende zweitaktige Bassfigur, die sich achtundzwanzigmal unverändert wiederholt D-A-H-Fis-G-D-G-A. (die ersten acht Basstöne aus der I Musici-Aufnahme) Dann setzen die Melodieinstrumente ein, dreistimmig, in einem sich immer weiter fortspinnenden und variierenden Kanon. Im Barock gab es noch keine Trennung in E- und U-Musik und so übten sich auch die seriösesten Komponisten in der Produktion von Ohrwürmern. Und Pachelbel kannte offenbar ein sehr gutes Rezept dafür. Seine Komposition wurde zu einem Evergreen, der über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zeitgemäß neu interpretiert worden ist.

Musik: Collage aus: Canadian Brass "Pachelbel Canon"; Brian Eno "Fullness of Wind (Variation on 'The Canon in D Major')"; Vanessa Mae "Pachelbel's Canon" und Naturally 7 "Pachelbel's Canon in D".

Sprecher: Auch als Gebrauchsmusik wurde und wird der „Kanon in D“ oft verwendet. Die Melodie ist zumindest in der engeren - Wahl als hymnischer Einzugsmarsch glücklicher Paare bei romantischen Hochzeitsfeiern, als Berieselungsmusik in Fahrstühlen oder Warteschleifen, als Soundtrack in Liebesfilmen, Werbespots oder Videogames - und die einprägsame Akkordfolge - mit ihren schönen Dur-Moll- Wechseln - lieferte außerdem - originalgetreu oder leicht variiert - die Schablone für so manchen bekannten Popsong. Liedermachern und Hitfabrikanten der unterschiedlichsten Stilrichtungen ist die "Pachelbel-Formel" längst ein Begriff:

Zitator: Tonika - Dominante - Tonikamollparallele - Dominantmollparallel - Subdominante - Tonika - Subdominante - Dominante...

Musik: Collage aus auf dem Pachelbel-Kanon basierenden Popsongs: Coolio "C U when U get there"; Aphrodite's Child "Rain & Tears"; Ralph McTell "Streets of London"; Fool's Garden "Lemon Tree"; Die Ärzte "Langweilig" und Scatman John "Scatman's World"

8 Sprecher: Eine Sparte der Rockmusik scheint ein ganz besonderes Interesse an Barockmusik zu haben, eine auf den ersten Blick erstaunliche Vorliebe. Nicht nur JerryC, auch viele andere ambitionierte Heavy Metal-Gitarristen sehen in den ebenso eingängigen wie raffiniert gestrickten Stücken der alten Tonkünstler offenbar ein ideales Spielmaterial - für Fingerübungen oder auch für das spektakuläre Showcase - etwa in den Konzerten des schwedischen Gitarrengotts und bekennenden Johann Sebastian Bach-Fans Yngwie Malmsteen:

Musik: Yngwie Malmsteen "Far beyond the Sun (inkl. Air von Bach)"

Sprecher: Im Phänomen Canon Rock spiegeln sich die neuen musikalischen Möglichkeiten des Cyberspace. Was an Soundqualität - im Reich der MP3 - vielleicht fehlen mag, wird kompensiert durch eine in der Bohlen'schen Plastikpopwelt von heute weitgehend verloren gegangene Aura des Echten, Authentischen und Handgemachten. Ein schönes Beispiel dafür ist auch ein anderer Wohnzimmer-Gitarrist, der ein zum Web 2.0-Star geworden ist - Andy McKee:

Musik: Andy McKee "Drifting"

Sprecher: Immerhin auch schon 25 Millionen Klicks zählt Youtube für sein Video "Drifting". Anders als im grellen Rampenlicht einer Liveperformance oder umzingelt von bedrohlichem Equipment und schlecht gelaunten Tontechnikern in einem Aufnahmestudio entstehen im intimen Ambiente der eigenen vier Wände wesentlich - und hörbar - adrenalinreduzierte Musiken. Musiken, die offenbar dem Wunsch vieler junger Hörer entsprechen, obwohl - oder gerade - weil sie eben nicht perfekt durchgestylt daherkommen. Wie hätte denn wohl ein MTV-kompatibles Video ausgesehen zum Canon Rock? Irgendein romantischer Plot vermutlich, in hollywood- barockem Design, vielleicht mit ein paar einschlägigen Blackmetal-Schockeffekten aufgeschreckt. Die Hit-Werdung des Canon Rock vollzog sich jenseits aller vorgezeichneten und kontrollierten Pfade des Musikbusiness. Und bis heute weigert sich FunTwo, den kommerziellen Verlockungen nachzugeben. Denn natürlich witterten auch die großen Labels ihre Chance auf ein lukratives Geschäft.

FunTwo: Übersetzung: Musik bleibt mein Hobby. Ich spiele in meiner eigenen kleinen Band „Lolita“ - und das wird auch so bleiben - selbst wenn „Metallica“ anrufen sollte!

Sprecher: Offenbar plant er eine andere Karriere und studiert mittlerweile an der Universität von Auckland/Neuseeland:

FunTwo: Übersetzung: I'm currently studying computer science and information system at the Auckland University and I'm on second year!

9 Sprecher: Und was FunTwos Kultstatus im Web 2.0 angeht, so gefällt er sich offenbar darin, in typisch asiatischem Understatement abzuwiegeln.

FunTwo: Übersetzung: Einige sagen, ganz zu Recht, mein Vibrato sei etwas schlampig und auch an meinem Sound müsse ich noch einiges verbessern. Von 100 möglichen Punkten erreiche ich vielleicht 50 oder 60! Also werde ich wohl noch ein wenig üben müssen!

Musik: "Canon Rock" FunTwo-Version

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