THOMAS REITER 64

4|185|18 DER Mittelstand. | Bundeswirtschaftssenat 65 Der „All“-wissende

Für Thomas Reiter ist Grenzenlosigkeit nicht nur ein Begriff, sondern etwas, was er hautnah erleben durfte. Von 1992 bis 2007 war er ESA- und der erste Deutsche im All, der einen Weltraumausstieg unternahm. Bis heute bestimmt die Raumfahrt sein Leben.

Prof. Dr. Jo Groebel: Herr Reiter, Sie waren der achte anderes als jede noch so gute Simulation. Geschweige bei deutsche Astronaut im All und der erste Deutsche über- einer Dauer von neunzig Minuten für eine Erdumrundung haupt, der außerhalb der Station im Weltraum „spa- alle anderthalb Stunden einen Sonnenaufgang und einen zieren ging“, sich also dort frei bewegte. Einige Ihrer Mis- Sonnenuntergang mitzubekommen. Das ist schlicht über- sionen waren internationale Premieren, zum Beispiel die wältigend. In der gesamten Zeit im Orbit wurde der Aus- Langzeitlüge von und ISS. Bitte erläutern Sie doch blick niemals langweilig. kurz die Schwerpunkte der ESA. Thomas Reiter: Die ESA, die European Space Agency, Bekommt man da nicht eine unglaubliche Sehnsucht ist eine zwischenstaatliche Organisation, die 1975 in danach, das alles häuiger zu erleben? dieser Form von zehn Staaten gegründet wurde. Inzwi- Ich würde keine Sekunde zögern, wieder ins All zu gehen. schen wird sie von 22 Ländern getragen und hat rund Aber die Erinnerungsbilder sind auf der anderen Seite 2.200 Mitarbeiter, verteilt über acht Zentren in ganz Eu- ständig präsent. Und vor allem ist es auch sehr schön, ropa. Der Hauptsitz ist in Paris, in Deutschland sind Köln den Staffelstab an die nächste Generation, wie jetzt an und Darmstadt, wo auch ich arbeite, zentrale Standorte. , weiterzugeben. Für das europäische Raumfahrtprogramm unter dem ESA- Dach steht ein jährliches Budget von 5,6 Milliarden Euro Zweifellos eine sehr kluge Erkenntnis auch für den zur Verfügung. Zu unseren Aufgaben zählen die Entwick- Mittelstand. Die nächste Generation muss die Erfolge lung von Trägerraketen, die Einrichtung von Satelliten weiterführen können, dafür lohnt es sich loszulassen. für Telekommunikation und Navigation, Erdbeobachtung Zurück zum All: Gibt es bei einem so langen Aufenthalt und wissenschaftliche Studien, natürlich die bemannte auf engstem Raum Momente der Klaustrophobie? und robotische Weltraumexploration, die Erforschung Wir müssen als Team, ob zu dritt oder zu sechst, in einer und Anwendung neuer Technologien und der Betrieb von extrem lebensfeindlichen Umgebung vollständig aufein- Satelliten. Letzteres ist hier in Darmstadt am „European ander eingespielt sein und uns ständig aufeinander ver- Space Operations Centre“ unser Schwerpunkt. lassen können. Das erfordert höchste Konzentration, für negative Gefühle ist da kein Platz. Zudem hilft auch der Können Sie auch noch etwas zu den Projekten Mir und notwendige, täglich rund zweieinhalbstündige Sport, um ISS sagen? den Organismus it zu halten. Man hat gar keine Zeit für Die russische Raumstation Mir wurde 1986 in Betrieb ge- eine Art Koller, dafür gibt es viel zu viele herausfordernde nommen, war dann bis 2001 im Orbit, mit 15 Jahren eine Aufgaben zu bewältigen. recht lange Laufzeit. Ich selbst war 1995/1996 für sechs Monate an Bord. 1998 begann dann unter amerikanischer Bleibt das Team, das gemeinsam im All gearbeitet hat, Ägide, der NASA, der Aufbau der ISS in Kooperation mit zurück auf der Erde eine eingeschworene Gemein- Russland, Kanada, Japan und Europa. Dabei vergrößerten schaft? sich durch den technologischen Fortschritt und die wis- Auf jeden Fall. Einmal im Jahr trifft man sich während senschaftlichen Anforderungen auch die Dimensionen. eines Fachkongresses, da führt man Gespräche über die Die Mir hatte eine Masse von 135 Tonnen, die ISS von gemeinsamen Erlebnisse und zukünftige Pläne in der rund 400. Raumfahrt, tauscht sich aus. Insgesamt ist die internati- onale Gruppe der Astronauten ja immer noch eine recht Weltraumfahrt heißt ja zunächst Technologie und For- überschaubare Community. schung. Aber es muss doch auch emotional überwälti- gend sein, sich zum ersten Mal im All zu bewegen und auf Wie wichtig sind Soft Skills wie Teamkompetenz und die Erde zu schauen. Belastungsresistenz bei einer Weltraummission? Zunächst muss man sich zwangsläuig auf die Arbeit an Für Einzelkämpfer ist so etwas jedenfalls nichts. Das wird Bord konzentrieren. Aber natürlich zieht es einen in den im Auswahlverfahren bereits psychologisch getestet. Bann, Schwerelosigkeit zu erleben. Vor allem aber, aus ei- Teamkompetenz ist einer der Schlüssel zu diesem Beruf. ner Höhe von über 350 Kilometern zum Beispiel den eu- Zudem gibt es auch intensive Trainings für Überlebens- ropäischen Kontinent und den größten Teil unseres Plane- strategien, in denen man an seine Grenzen geführt wird. ten mit seiner Krümmung zu überblicken. Da stockt einem Nicht zuletzt, um gegebenenfalls nach einer Notlandung

Foto: © Jürgen Mai der Atem, das ist in der Realität noch einmal etwas ganz auf der Erde überleben zu können.

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Thomas Reiter war der erste Deutsche im All, der einen Weltraumausstieg unternahm.

Nicht zu vergessen natürlich die Kernausbildung in den grenzenlose Begeisterung über die Schöpfung. Übrigens Grundlagen von Weltraumfahrt und Technologie … nicht nur beim Blick auf die Erde, sondern erst recht, Man wird mehrere Jahre auf eine Mission vorbereitet. wenn man auf der Nachtseite des Orbits in die Tiefe des Nach dem ersten Auswahlverfahren, an dem Kandidaten Weltraums mit seiner Unendlichkeit schaut. Die Sterne unterschiedlicher Berufsgruppen wie zum Beispiel Wis- sind gestochen scharf, denn ohne den Filter der Erdat- senschaftler, Ingenieure oder Piloten teilnehmen, wird die mosphäre sieht man ein Vielfaches von ihnen. Und all das verbliebene Kerngruppe zunächst auf einen gemeinsamen nimmt man auf, ohne den eigenen Körper zu spüren durch Wissensstand gebracht. Das beginnt mit wissenschaftli- die Schwerelosigkeit. Unbeschreiblich, jenseits jeder Wis- chen Grundlagen der Raumfahrt, gefolgt von der Einwei- senschaft. sung in die Bordtechnologie. Nach einer erneuten Auswahl wird dann ein kleineres Team auf eine konkrete Mission Waren Sie schon als Kind fasziniert von der Raumfahrt? hin sehr speziisch trainiert. Das schließt die geplante For- Meine Eltern waren begeisterte Segellieger, in die Lüfte schung, aber auch nötige Wartungsarbeiten ein. Allein die- zu gehen war also schon frühzeitig positiv besetzt. Das se Phase kann nochmal bis zu zwei Jahren dauern. setzte sich fort in meinem großen Interesse für Raum- fahrtmissionen in Lektüre und TV. Selbst heute bekom- Gibt es an Bord auch eine Art Wochenendfreizeit? Und me ich eine Gänsehaut bei der Vorstellung, dass meine auf wieviel Schlaf kommt man pro Nacht? Abhängig von der erforderlichen Arbeit ist selten vor Mit- ternacht an Bettruhe zu denken. Und mit Glück kommt VITA man dann auf fünf bis sechs Stunden Schlaf. Häuig aber gibt es Situationen, die sofortigen Einsatz erfordern, dann Thomas Reiter, Jahrgang 1958, studierte Luft- und sind auch vier Stunden schon gut. Allerdings braucht man Raumfahrttechnik und wurde 1992 in das Astronau- aufgrund der Schwerelosigkeit etwas weniger Schlaf. Eine tenkorps der ESA (European Space Agency) beru- geregelte Dienstzeit gibt es nur auf dem Papier. Aber auch fen und 1995 für die bis dahin längste bemannte im Orbit sind Phasen der Ruhe und Erholung für die Re- ESA-Weltraummission „ 95“ nominiert. Von generation unverzichtbar. Den Blick einfach nur ein paar Juli bis Dezember 2006 war Reiter Flugingenieur Minuten in den Weltraum schweifen zu lassen, ist dabei der Internationalen Raumstation ISS. Damit ist er der europäische Astronaut mit der längsten Welt- immer wieder unbeschreiblich inspirierend. raumerfahrung (insgesamt 350 Tage). Im Anschluss an seine beruliche Laufbahn als Astronaut wurde Bei aller Ratio, entstehen da auch spirituelle Gefühle, Thomas Reiter 2007 in den Vorstand des Deutschen Gefühle des Geheimnisses und der eigenen Endlichkeit? Zentrums für Luft- und Raumfahrt berufen. Heute Auf den Punkt. Auch der unsentimentalste Ingenieur ist er ESA Koordinator Internationale Agenturen kann sich dieser Demut, diesem kindlichen Staunen nicht und Berater des Generaldirektors.

entziehen. Da entsteht schlicht eine im wörtlichen Sinne Foto: © NASA

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damalige Begeisterung mich schließlich wirklich in den um die zukünftige Entwicklung der mittelständischen Weltraum geführt hat. Dazwischen lagen ein Studium der Wirtschaft geht. Raumfahrttechnologie und die Ausbildung zum Piloten bei der Luftwaffe. Ich werde nie den Moment vergessen, Eine persönlich schwierige Entscheidung? als mich mein damaliger Kommandeur fragte, ob ich an Als es um die Weichenstellung rund um die Balance zwi- der Ausbildung zum Astronauten interessiert sei. schen wirtschaftlichen und allgemeinen Interessen beim Raumfahrtprogramm ging. Traumhaft! Zurück zum wirtschaftlichen Aspekt der Raumfahrt. Welchen Stellenwert hat dieser? Ihre beste Entscheidung? Vielen mag es nicht bewusst sein, aber die Raumfahrt Die Familie. Ohne sie könnte man niemals diese langjäh- und die Ergebnisse der Raumfahrtforschung sind heu- rigen Belastungen durchhalten. Ihr bin ich angesichts der te schon ein unverzichtbarer Bestandteil unseres All- Opfer, die sie zwangsläuig für Wochen, für Monate brin- tags und gehören mit zu den wichtigsten Motoren für gen musste, unendlich dankbar. wirtschaftliche Innovation überhaupt. Denken Sie an Themen wie Telekommunikation, Satellitennavigation, Was sind Ihre Freizeitvorlieben? Immer noch Fliegen? Erdbeobachtung – Dienste, die wir tagtäglich nutzen. Das geht leider kaum noch. Aber nur zu gerne Gärtnern Das weite Spektrum wissenschaftlicher Forschung unter und auch das Gitarrenspiel. Weltraumbedingungen ermöglicht neue Erkenntnisse und technologische Durchbrüche in vielen Disziplinen, Musik passiv im Raum und aktiv am Boden. Und nach der wie beispielsweise in der Materialforschung. Raumfahrt Reise in das Universum das Graben in die Erde. Vielen indet statt an der Grenze des technisch Machbaren. Dank für das wunderbare Gespräch. Extremer Leichtbau, minimaler Verbrauch von Energie und Treibstoff und höchste Zuverlässigkeit sind in der Raumfahrt zwingend erforderlich – das sind Entwick- lungskriterien, die vielen Anwendungen auf der Erde zugutekommen. Der Fokus unserer Arbeit ist also nicht zuletzt kommerziell.

Welche Rolle spielen hier die wichtigen Industrieplayer wie China neben Russland und den USA? China ist hier absolut auf Augenhöhe. Inzwischen gibt es sehr intensive Kooperationen. Früher war gerade die as- tronautische Raumfahrt eher ein Wettlauf in den Welt- raum, doch jetzt dienen die Missionen vor allem dem Wohl der Menschheit insgesamt.

Wohin geht es als nächstes mit der Weltraumfahrt? In der Exploration unterscheiden wir verschiedene Ziel- bereiche: den erdnahen Orbit, den Mond, der wieder stärker ins Blickfeld für Anwendungs- und Wissenschafts- interessen rückt, und den Mars. Der Mond kann zudem Ausgangspunkt für astronautische Expeditionen zum Mars sein, die mindestens zwei Jahre dauern würden. DAS UNTERNEHMEN

Ihre Wünsche an den BVMW und an die Politik? Gründung: Budget: Die USA setzen im Moment gerade in der Raumfahrt 1975 5,6 Milliarden Euro massiv auf Deregulierung, um die Bedingungen für eine Ausweitung der kommerziellen Nutzung des Weltraums Sitz: Tätigkeitsfeld: zu verbessern. Das sollten wir in Deutschland und Europa Paris (Hauptsitz), Entwicklung und intensiv verfolgen, uns auf nationaler und europäischer weitere Zentren u. a. Koordination der euro- Ebene besser abstimmen, und wo immer erforderlich, in Darmstadt, Köln, päischen Raumfahrt entsprechende Maßnahmen einleiten, um die Wettbe- Noordwijk (NL) werbsfähigkeit unserer Industrie zu gewährleisten. Er- Webseiten: Generaldirektor: www.esa.int fahrungsgemäß ist man bei der Festlegung nationaler Johann-Dietrich www.esa.de Schwerpunkte, ob in der Raumfahrt oder in anderen Be- Wörner reichen der Wirtschaft, in Frankreich schon recht gut ab- gestimmt, doch in Deutschland sehe ich da noch Raum für Mitarbeiter: Verbesserungen. Vor diesem Hintergrund kann auch der 2200

Foto: © ESA CNES Arianespace Optique Video du CSG BVMW ein wichtiger Motor sein, da es nicht zuletzt auch

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