Ausgabe Bern

Nr. 70 Oktober 2008 | 6. Jahrgang

ensuitekulturmagazin

Kurz und schnittig Auf den Punkt gebracht Seite 4 Internationaler Tanz in Bern Ein Neustart Seite 11 Teufelszeug im Kleid eines Engels Die Königin in der Küche Seite 17 Kultur-Casino Bern 2008 eintauchen... $SFEJU4VJTTF4BBCQSFTFOU %POOFSTUBH 25.10.07 6IS BradMEHLDAU Solo Piano

4POOUBH 2.12.07 6IS JanGARBAREKGroup

feat.ManuKatché +BO(BSCBSFLTBYt3BJOFS#SŸOJOHIBVTQJBOPLFZCPBSET &CFSIBSE8FCFSCBTTt.BOV,BUDI±ESVNTQFSDVTTJPO "%2. !,,-%.$ n/+4/"%2 VORVERKAUF: Tel. 0900 800 800 (CHF 1.19/min.) XXXBMMCMVFTDI 6/26%2+!5& alle Ticketcorner, Manor, SBB, Die Post  WWWCIRCUS MONTICH #&3/0MNP5JDLFU $IPQ3FDPSET 5IBMJBtXXXUJDLFUDPSOFSDPN #IRCUSKASSE VERANSTALTER: AllBlues Konzert AG in Zusammenarbeit mit MusicLine & BeJazz #)2#532%34!52!.4 JEWEILS VOR DER !BENDVORSTEL LUNGAB5HR

Kunsthalle Bern CAPPELLA NOVA _ SHAKESPEARE PLUS ASAX

LUZERN MARIANISCHER SAAL

ZÜRICHGROSSER SAAL DES KONSERVATORIUMS

Öffentliche Führungen: BASEL GARE DU NORD Sonntag, 5.10. 11.00 Uhr Dienstag, 21.10. 18.00 Uhr BERNGROSSER SAAL DES KONSERVATORIUMS TIGHT, REPEATING BOREDOM Künstlergespräch für Kunststudierende: Freitag, 3.10. 14.00 Uhr Koenraad Dedobbeleer & Rita McBride _ Lehrereinführung: Montag, 6.10. 17.30 Uhr

GERIWI Kunstsitzung für Seniorinnen und Senioren: VORVERKAUF: 0900 55 222 5 (CHF 1.–/MIN.) WWW.EVENTIM.CH Aloïs Godinat Mittwoch, 8.10. 14.00 Uhr VERKAUFSPREISE SIND IN LUZERN, ZÜRICH, BERN CHF 45/35, IN BASEL CHF 30/20

Kunst zum Sattwerden: 4.10. – 30.11.2008 Dienstag, 28.10. 12.30 – 13.30 Uhr, Anmeldung bis zum Vortag 17.00 Uhr unter T: 031 350 00 40 [email protected] www.kunsthalle-bern.ch Photo: André Morin, Paris, © Frac Bourgogne WWW.CAPPELLANOVA.CH Junge Vokalkunst mit 16 Stimmen Titelseite und Bild links: Tanz in. Bern mit Susanne Linke: Schritte verfolgen (2007); am 15. und 16., INHALT Oktober in der Dampfzentrale Bern. Bild: Gert Weigelt

KULTUR & GESELLSCHAFT le cœur en beurre 17 | über den dächern von bern 21 | insomnia 28 | tratschundlaber 31 | nicht zu mir! 38 | umstadtläufer 39 | eine heikle gratwan- derung... 40 | von menschen und medien / fauser cartoon 41 | senioren im web 42 | kinder-konsi- fest 42 | die zeit in holz und farbe gestanzt 43

LITERATUR im lesesessel 35 | joe mcginnis, franziska sperr, Impressum ENSUITE IM OKTOBER dirk vaihinger 36 | perlenmanufaktur mannhart 37 | fi losofenecke 37 | lesezeit 38 Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang ■ Nach dem verregneten Frühling, dem sehr (vl); Anna Vershinova (av) // Robert Alther, Jasmin Amsler, Clau- dia Badertscher (cb), Peter J. Betts (pjb), Simon Chen, Jean-Luc kurzen Sommer und dem verfrüht kalten Herbst BÜHNE Froidevaux (jlf), Sabine Gysi, Isabelle Haklar, Till Hillbrecht (th), drückt es auf die Stimmung – ein richtiges Schalt- «es empfiehlt sich, mein buch laut zu lesen» 6 | Sonja Hugentobler-Zurfl üh (sh), Andy Limacher (al), Irina Mahl- jahr. Dazu kommt noch eine Prise Finanzkrise, calamity jane - cd-taufe im westernsaloon 9 | stein, Belinda Meier (bm), Monique Meyer (mm), Magdalena Na- dolska (man), Eva Pfi rter (ep), Tatjana Rüegsegger, Barbara Roelli, Wahlen in Amerika und ein paar Scharmützel zwi- arsch contra vernunft 10 | tanz in. bern 11 | aus- Monika Schäfer (ms), Anne-Sophie Scholl (ass), Christoph Simon, schen den Grossmächten. Kein Wunder, dass die blick tanz 14 | barsch und egli und ihr fisch 15 | Kristina Soldati (kso), Tabea Steiner (ts), Antonio Suárez Varela Herzen schwach werden und die Gesundheit sich spagat über den röstigraben im deux-pièces 18 (asv), Willy Vogelsang, Simone Wahli (sw), Konrad Weber, Sonja Wenger (sjw), Gabriela Wild (gw), Katja Zellweger, Ueli Zingg, zu Wort meldet. In den letzten Tagen haben sich Micha Zollinger (mz) Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Telefon 031 312 viele Menschen fl uchtartig in die Ferien verzogen KINO / FILM 64 76 Kulturagenda: kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin, – wer interessiert sich da noch für die Saisoneröff- «egal ob rasant, dramatisch, unter die haut ge- allevents, Biel; Abteilung für Kulturelles Biel, Abteilung für Kul- turelles Thun, interwerk gmbh. Korrektorat: Lukas Ramseyer, nungsprogramme der verschiedenen Kulturveran- hend, polarisierend oder einfach schön.» 4 | kino Monique Meyer stalter? ohne museum 27 | auf den boden gekommen 28 Mir ist in den Jahren aufgefallen, dass die Kul- | nordwand 29 | the love guru 30 | elegy 30 | Abonnemente: 58 Franken für ein Jahr / 11 Ausgaben. tursaison immer kürzer wird. Wo früher die Sai- lemon tree 31 | das andere kino 32 Abodienst: 031 318 60 50 son bereits im August mit Pauken und Trompeten ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich. Aufl age: 10‘000 losging, starten jetzt viele erst Ende Oktober. Nach MUSIK Gesamtaufl age 30‘000 (Bern und Zürich) den Ferien eben. Und weil zwischen Sommer- und cd-tipps 22 | «auch jazz kann poppig sein» 24

Anzeigenverkauf: [email protected] Layout: interwerk gmbh: Herbstferien kaum Zeit bleibt, die Koffer auszuräu- Lukas Vogelsang Produktion & Druckvorstufe: interwerk gmbh, men und die Kleider zu waschen, bleiben viele Kul- KULTUR-PUBLIREPORTAGE Druck: Vertrieb: Bern Fischer AG für Data und Print Abonne- turlokale von Mitte Mai bis Ende Oktober still. Was lausige affen und eine oper für drei groschen 51 mente, Gratisaufl age an 350 Orten im Kanton Bern; passive at- tack, Telefon 031 398 38 66 Web: interwerk gmbh arbeiten die Leute, die an so einem Ort arbeiten, in diesen fast fünf Monaten? Sind die Kultursubven- KULTURAGENDA Hinweise für redaktionelle Themen (nicht Agendaeinträge!) tionen so lukrativ, dass man die Hälfte des Jahres kulturagenda bern 45 | biel 66 | thun 70 erwünscht bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikation entscheidet die Redaktion. Bildmaterial digital oder im Original unter dem Solarium verbringen kann? Sicher nicht senden. Wir senden kein Material zurück. Es besteht keine Pu- – aber sichtbar ist trotzdem nicht, was in dieser blikationspfl icht. Zeit geschieht.

Agendahinweise bis spätestens am 18. des Vormonates über un- Ich frage ich manchmal sowieso, ob eine städ- sere Webseiten eingeben. Redaktionsschluss der Ausgabe ist tische Kulturpolitik nicht nur ein getarntes Unter- Mit Dank an die fi nanzielle Unterstützung: jeweils am 18. des Vormonates. (siehe www.kulturagenda.ch) haltungsprogramm für die Wohlstandsgesellschaft

Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist politisch, wirtschaft- darstellt. Denken wir bei Kulturpolitik an eine Mo- lich und ethisch unabhängig und selbständig. Die Texte repräsen- ral oder an unsere Gesellschaft? An Wertvorstel- tieren die Meinungen der Autoren/innen, nicht jene der Redaktion. lungen? Wenn ja, an welche? Oder dreht sich alles Copyrights für alle Informationen und Bilder liegen beim Ver- nur um Geld und volle Zuschauerränge, damit die ein WE ARE in Bern und der edition ■ ensuite. «ensuite» ist ein Kasse stimmt? eingetragener Markenname. Überprüfen wir das. Dieser Herbst startet mit

Redaktionsadresse: vielen grossen Anlässen und Festivals. Hoffentlich vergessen wir vor lauter Grösse dabei nicht, dass ensuite – kulturmagazin es auch kleine kulturelle und künstlerische Dinge Sandrainstrasse 3 CH-3007 Bern gibt. Telefon 031 318 6050 [email protected] E-Mail: Lukas Vogelsang Chefredaktor www.ensuite.ch

ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 3 Fookuskus

KINO «egal ob rasant, dramatisch, unter die haut gehend, polarisierend oder einfach schön.» Interview von Till Hillbrecht Bilder: Impressionen oben zVg. / rechts: Festivalleitung: Oliver Bakker, Reta Guetg, Mike Bucher

■ Das Leben ist zu kurz für einen langen Film: die als eigenständiges Werk überzeugen. Das ist der Gestaltung der Blocks liegt? Das shnit-Festival für Kurzfi lme geht vom 8. bis unsere Dienstleistung für den Zuschauer, der sich Olivier Bakker: Es ist so, wie wenn du in ein gu- 12. Oktober über die Bühne und ist mehr als eine im Internet durch die Massen von selbstgedrehten tes Museum gehst: Natürlich schätzt man den Rah- Best-of-YouTube-Ausgabe. Über hundert Filme im Videos durchschlagen muss. men, aber es geht schlussendlich doch um Kunst. Wettbewerb, Film-Karaoke und die Slam Movie Darüber hinaus hat ein Block von Kurzfi lmen Wir erwarten also nicht vom Besucher, dass er uns Night sorgen dafür, dass wir uns alle ein wenig vor- an einem Festival mindestens die gleiche emotio- wegen des Rahmens lobt, sondern er soll kommen kommen wie im richtigen Film. Als Vorspann ein nale Tiefe und denselben Erlebnisreichtum wie ein und Spass haben und die Filme geniessen. Interview mit Reta Guetg und Oliver Bakker, zwei Langspielfi lm. Reta Guetg: Wir versuchen mit unserem Setting Drittel der Festivalleitung. Damit dann niemand Reta Guetg: Im Grunde sind wir alle bestens ver- schon einen Rahmen zu schaffen, die Zuschauer in kommt und sagt, man habe von nichts gewusst, traut mit dem Format Kurzfi lm, schliesslich ist ja eine Welt zu entführen. Beispielsweise, indem wir weil es keinen Trailer gab. sogar das Gute-Nacht-Gschichtli ein Kurzfi lm. Zeit einen kleinen alten Bus anschaffen, der im Progr- ist zu einem wertvollen gut geworden, weil man Hof steht, oder indem für das ganze Festival eine Zeitungen liest man heute in zwanzig Mi- jederzeit hunderttausende Möglichkeiten angebo- eigene visuelle Ausstrahlung und Atmosphäre ge- nuten, es gibt eine kürzere Zigarette für das ten kriegt. Da liegt der Kurzfi lm im Trend. Ein guter schaffen wird - im Kinossaal genauso wie auf dem schnelle Rauchen und ein Song hat keine Chan- Kurzfi lm ist wie ein Zitat, er bringt etwas auf den gesamten Festivalgelände. ce im Radio, wenn er länger als 3 Minuten 30 Punkt, das so treffend ist, dass es keiner andern Ihr habt es bereits angesprochen: Niemand ist. Der Kurzfi lm muss wohl das Medium der Zu- Form bedarf. Ein Festival mit Kurzfi lmblocks hat zu klein, einen Kurzfi lm zu drehen. Wie wirkt kunft sein... auch den Vorteil, dass die kurzen Filme arrangiert sich die Tatsache, dass man heute relativ ein- Olivier Bakker: Der Kurzfi lm ist auf jeden Fall werden und über mehrere voneinander unabhän- fach auf gutes Equipment zurückgreifen kann, das Medium der Zukunft. Die Zukunft ist doch gige Filme ein Spannungsbogen gezogen werden auf den Film aus? Fördert es den Ideenreichtum diese: Du gehst zwar an einem Festival Langspiel- kann. Wir können also über das Medium heraus mit oder wird nur Masse produziert? fi lme schauen, aber auf dem Heimweg kannst du der Programmation eine gewisse Dramaturgie bie- Reta Guetg: Daraus entsteht ein grosses Spek- auf deinem iPod keine langen Filme reinziehen. ten. trum: One-Man-Shows bestehen neben grossen Plattformen wie YouTube leben von diesem For- Funktioniert vielleicht deshalb der Kurzfi lm Schulabschlussproduktionen und einem wachsen- mat – dabei gibt es eine Unterscheidung: Aus un- am Festival besser, weil beim Besucher Gedan- den Anteil an grossen freien Produktionen. Davon zähligen Einreichungen selektionieren wir Filme, ken angeregt werden, welche Überlegung hinter schaffen es jene in den Wettbewerb, die als eigen-

4 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 Fookuskus ständiger Kurzfi lm funktionieren, unabhängig von Das shnit-Festival in Sachen Wachstum eine Interessen angesprochen werden. Interessieren Budget oder Sparte. Erfolgsgeschichte, die Besucherzahlen sind seit dich beispielsweise indische Independent-Filme, Olivier Bakker: Dieser Umstand ist unter an- 2002 enorm gestiegen. Wie sind die Erwartun- gehst du den NoMasala-Block anschauen. Für mich derem auch der Grund, weshalb shnit überhaupt gen an das Jahr 2008? steht der Wettbewerb jedoch im Vordergrund. entstanden ist. Weil Freunde und Bekannte Filme Olivier Bakker: Das Wachstum und die Popula- Denn es sind die Filme im shnit open, welche das gemacht haben, von denen wir dachten: Hey, die rität ist erstaunlich. Das wird natürlich nicht ewig Publikum auf eine Reise durch ungeahnte Welten könnte man auch in einem etwas grösseren Kreis weitergehen und soll es auch nicht. Die Erwartun- mitnehmen. Ausserdem freue ich mich sehr auf präsentieren. gen sind deshalb hauptsächlich, dass das Publikum den REALTIME-Filmwettstreit, bei dem drei Filme- Die Auswirkungen sind aber klar zweischnei- die Kurzfi lme im selben Mass schätzt, wie wir das macher mit den gleichen Voraussetzungen live auf dig: Es wird eine Masse generiert, da es noch nie tun. Denn die Kurzfi lme in diesem Jahr, die sind dem Festivalgelände dieselbe Geschichte mit den- so einfach war, einen Film zu machen wie heute. wirklich: Hervorragend! selben Schauspieler verfi lmen. Ein einzigartiger Das Schöne daran aber ist, dass es dem Einzelnen Das Wachstum und die Wichtigkeit widerspie- Regie-Wettstreit! die Möglichkeit gibt, eine wirklich gute Idee um- gelt sich ja auch im Preisgeld, welches sich von Neben den Kurzfi lmen gibt es die Slam-Night, zusetzen. Und das sind dann jene Filme, die her- 7000 im letzten Jahr auf 70’000 Franken ver- eine Filmkaraoke-Show und den Realtime-Film- ausstechen. Aber dafür vielleicht eine einmalige zehnfacht hat. Auch weil wir den Teilnehmern wettstreit. Braucht ein Filmfestival ein solches Meisterleistung bleiben. Neben grossen aufwendig einen Preis bieten wollen, der ihren Leistungen Programm? produzierten Filmen haben wir auch dieses Jahr entspricht. Gerade auch deshalb haben wir im in- Olivier Bakker: In meinen Augen braucht es die- wieder Filme dabei, die extrem einfach sind: Ein ternationalen Wettbewerb drei Kategorien einge- se Dinge, weil sie dem Besucher zeigen, was ein Film, ein Typ, eine Einstellung, kein Schnitt, zu führt: So werden dieses Jahr der LONG JOHN, der Kurzfi lm alles zu bieten hat, wie divers das Medium Hause mit miniDV-Heimkamera aufgenommen MAGIC JACK und der SAMRT JOE vergeben. Die sein kann. Der Gegenstand Kurzfi lm ist diverser als – und voilà. Deshalb heisst der Wettbewerb auch drei Namen stehen für die Kategorien unter vier man denkt. Und wenn man ein Festival ohne Inter- shnit open: Es ist ein offener Wettbewerb, an dem Minuten, bis zehn Minuten und über zehn Minuten. aktivität macht, kann man einfach ein Kino mieten, alle teilnehmen können und die besten schaffen es Dies entspricht den Filmen viel mehr, denn die Er- Licht ausmachen und Film zeigen. ins Programm. zählform eines Vier-Minüters ist eine andere als Wir wollen, dass sich der Besucher sagt: shnit Kurzum mit wenig allerhand auf den Punkt die eines 15-minütigen Films. Ob er als Animation ist wieder da, vier Tage Programm, welches man zu bringen - so stelle ich mir einen schnittigen realisiert ist, als Spielfi lm oder als Clip ist dabei sich reinziehen kann, vier Tage sprudelnde Atmo- Kurzfi lm vor. weniger entscheidend. sphäre. Und der Besucher ist beim shnit-Festival Olivier Bakker: Ein schnittiger Kurzfi lm zeichnet In vier Minuten bleibt wenig Zeit für Höhe- zentral. Er steht ja sogar im Rampenlicht, weil er sich einerseits dadurch aus, dass er sich ähnlich punkte, eigentlich braucht es auch nur einen bei der Preisvergabe mitgestaltet. Der REALTIME- wie ein schnittiges Auto präsentiert. Andererseits einzigen. In vier Tagen Festival gibt es jedoch Preis ist sogar ausschliesslich ein Publikumspreis. schnittig, weil ein guter Kurzfi lm wie ein Bild ist, mehrere davon. Was wird der Höhepunkt für das Das Publikum soll nicht eine graue Masse sein, die welches man so stehen lassen kann und es be- shnit-OK sein? Film konsumiert. Es ist aktiv, es erlebt und bringt sticht, da es funktioniert und genauso sein soll, wie Reta Guetg: Die Kurzfi lme auf der grossen Lein- sich ein. es ist. Egal ob rasant, dramatisch, unter die Haut wand bleiben das Herzstück des Festivals. Die Spe- gehend, polarisierend oder einfach schön. zialblöcke sind so divers, dass unterschiedlichste Info und Programm: www.shnit.ch

ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 5 VVeranstaltungeneranstaltungen

BÜHNE / LITERATUR «es empfi ehlt sich, mein buch laut zu lesen» Von Sabine Gysi Bild: Solarplexus / Lisa Küttel ■ Für ein paar Augenblicke hält es den Atem an, das Buch «Plötzlech hets di am Füdle», das im Doch heute, in der Barfussbar, am letzten Som- das Publikum in der Barfussbar am letzten Som- Cosmos-Verlag erscheint. Ein Mundart-Buch. Es merabend des Jahres, steht Pedro Lenz allein auf merabend des Jahres; nur Fetzen von Musik von ir- wird einige Texte enthalten, die wir schon von der der Bühne. Er ahmt jetzt einen Secondo-Slang gendwoher und eine Polizeisirene am Limmatquai letzten CD kennen, aber auch neue Texte. «Es han- nach und wir merken, dass es nicht darum geht, unterlegen Pedro Lenz’ Stimme. Die Holzbretter delt sich um den Versuch, Spoken Word schriftlich sich darüber lustig zu machen, sondern dass er der alten Badeanstalt schaukeln mit der Limmat. festzuhalten. Freilich empfi ehlt es sich, das Buch den Slang als eigenständige Sprache anerkennt, Im nächsten Moment lachen alle verlegen los, laut zu lesen», sagt Pedro Lenz dazu. sich deren Besonderheiten und Rhythmen aneig- denn Pedro Lenz sagt Dinge, die wir nicht ganz zu Beim Schreiben denkt Pedro Lenz immer dar- net. Bis es plötzlich nicht mehr nachgeahmt klingt. Ende zu denken wagen, Dinge, die wir im Alltag wie an, wie der Text gesprochen klingen würde: «Um Es ist nicht mehr Pedro Lenz, der da vorne spricht, einen lästigen Mückenschwarm verscheuchen. meinen Rhythmus beim Lesen nicht zu verlieren, und doch ist es unverkennbar Pedro Lenz. Pedro Lenz gibt diesen Gedankenfragmenten mache ich beim Schreiben immer dort Zeilenum- eine Gestalt. Präzis formuliert er, was wir eigent- brüche, wo ich ein wenig Luft hole oder absetze. lich von der hippen kulturellen Veranstaltung in Ausserdem lese ich mir den Text beim Schreiben jenem Keller in Basel halten, wo man einfach hin ständig laut vor. Und immer dort, wo ich den Ein- muss. Was wir insgeheim wirklich über unseren druck habe, etwas passe rhythmisch nicht, ändere Nachbarn denken. Er erzählt auch über jenen Jun- ich so lange, bis ich den Rhythmus gefunden habe, gen, der in der Schule immer gehänselt wurde, und der mich logisch dünkt.» Das neue Buch von Pedro Lenz der es jetzt zu etwas gebracht hat – weil er sich nie Pedro Lenz blickt auf keine typische Schriftstel- ist ab Oktober erhältlich: etwas daraus machte, was die Leute von ihm dach- lerlaufbahn zurück, wenn es denn eine solche gibt. ten. Pedro Lenz blickt beim Erzählen etwas traurig Er war schon Maurer, Student der spanischen Li- «Plötzlech hets di am Füdle». Cosmos-Verlag. und etwas träge in die Welt, und wenn er «Dehr, teratur, Jugendarbeiter. Vielleicht ist dieser eigen- das het mi möge» sagt, wobei er das «Dehr» cha- willige Weg die Voraussetzung dafür, dass wir nie Donnerstag, 23. Oktober, 20:00 h rakteristisch langgezogen ausspricht, wird sein etwas Abgehobenes in Pedro Lenz’ Texten fi nden. Buchvernissage in Zofi ngen Blick noch eine Spur trauriger, während die Zuhö- Und wenn wir für einen Moment abheben beim Zu- Buchhandlung Mattmann, Kirchplatz 14, 4800 rer schmunzeln. hören, dann landen wir ziemlich unsanft dort, wo Zofi ngen Im Oktober veröffentlicht Pedro Lenz ein Buch. wir herkommen: Nein, ich bin in Wirklichkeit keine Ein Buch? Nicht etwa, dass er bisher nichts Ge- verführerische Kubanerin, sondern ein Mädchen Mittwoch, 5. November, 20:00 h schriebenes veröffentlicht hätte: Verfasst er doch aus Bern; nein, wir waren nicht ganz im Tessin, Buchvernissage in Bern regelmässig Kolumnen für verschiedene Zeitun- sondern haben’s knapp bis in den Jura geschafft. Thalia Bücher, Im Loeb, Spitalgasse 47/51, Bern gen. Auch sein «Lexikon der Provinzliteratur», das Nicht genug der Auftritte und Publikationen: 2005 im Zürcher Bilgerverlag erschien, ist uns in Pedro Lenz wirkt an verschiedenen Projekten ak- Donnerstag, 6. November, 20:30 h bester Erinnerung. Da gibt es einen Gedichtband. tiv mit, in deren Mittelpunkt das gesprochene Wort Buchvernissage in Zürich Und trotzdem – in den letzten Jahren hat sich Ped- steht. Sie heissen «Hohe Stirnen», «Tintensaufen» Orell Füssli am Bellevue, Theaterstrasse 8, ro Lenz uns eingeprägt als einer, der auf den Büh- und «Bern ist überall». Bei «Bern ist überall» ist Zürich nen des gesprochenen Wortes steht. Als Sieger der Autor Guy Krneta mit dabei. Gemeinsam mit von Poetry Slams. Wenn wir an Pedro Lenz den- ihm hat Pedro Lenz vor wenigen Wochen allabend- Die Website von Pedro Lenz: ken, hören wir seine Stimme und sein melodisches lich das Geschehen am Zürcher Theater Spektakel www.pedrolenz.ch Berndeutsch. kommentiert – in der Rolle eines Sportjournalisten, Nach den beiden Mundart-CDs «I wott nüt gseit der sich in die Welt der Kultur wagt. Und gerade Texte, mit denen Pedro Lenz und Guy Krneta am ha. Monologe des Kummers» und «Angeri näh durch seinen unverbrauchten Blick den gestande- diesjährigen Theater Spektakel auftraten: Ruschgift. Monologe der Leidenschaft» nun also nen Kulturjournalisten überfl ügelt. www.theaterkritik.ch

6 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 Monatsverlosung Foto: www.malubarben.com Foto:

ensuite – kulturmagazin verlost 2 x 10 Festivalpässe für die ILLUSTRATIVE 08 IN ZÜRICH

Vom 18. Oktober bis zum 26. Oktober 2008 fi ndet in den Messehallen in Zürich die IL- LUSTRATIVE, das 4. Forum für illustrative Kunst und Grafi k, statt. Die ILLUSTRA- TIVE ist das einzige Kunstforum weltweit, das die aktuellen Tendenzen und die ge- samte Bandbreite der künstlerischen Illustration und Grafi k im Rahmen einer Ausstellung zusammenführt. Die illustrative Kunst ist frisch, humorvoll, zugänglich: Das Spektrum der auf der ILLUSTRATIVE gezeigten Arbeiten reicht von psychedelischen Wandmal- ereien und erotischer Neo-Pop-Art über monumentale Stadtpanoramen bis zu Zeichnun- gen von fast fotorealistischer Schärfe. Die besondere Sensibilität für gestalterische Qual- ität und der Mix aus analogen und digitalen Techniken verleihen der illustrativen Kunst eine spezielle Progressivität, die seit einiger Zeit die Entwicklung der Gegenwartskunst entscheidend mitprägt. Die neueste Ausgabe der ILLUSTRATIVE hat sich gegenüber den Vorjahren erweitert. Sie umfasst einen zentralen Ausstellungsbereich, Sektionsausstel- lungen, temporäre Projekträume sowie ein Forum für Präsentationen und Gespräche. Teilnahmebedingungen: Einfach den untenstehenden Talon per Post an die Redaktionsadresse einsenden. Einsendeschluss ist 15. Oktober 2008. Pro Teilnehmer gilt nur ein Talon. Nicht teilnahmeberechtigt sind VerlagsmitarbeiterInnen, Redaktions-

mitglieder von ensuite – kulturmagazin oder der interwerk GmbH und deren Angehörige.

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Einsendeschluss ist ✂ der 15. Oktobär 2008 Immer Ich nehme an der Eilverlosung der Illustrative-Festivalpässe teil:

Herr / Frau mehr Firmen inserieren im Vorname

TIVE 08 Adresse ensuite. PLZ / Ort Warum wohl? E-Mail

Unterschrift TALON: ILLUSTRA TALON: Ausschneiden und einsenden an: www.ensuite.ch ensuite - kulturmagazin | Sandrainstrasse 3 | 3007 Bern BE ensuite

ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 7 1 von 311 Haltestellen: Tierpark. VVeranstaltungeneranstaltungen

BÜHNE calamity jane – cd-taufe im westernsaloon Von Gabriela Wild Bild: zVg. ■ Am Freitag, 19. September, wurde das Hörbuch Erst nach ihrem Tod sollte die Tochter die Briefe Schienenlegerin oder Kundschafterin der Armee «Calamity Jane – Briefe an meine Tochter» von erhalten und somit erfahren, wer ihre Mutter war. ab. Bornhausers Stimme fehlt aber auch der war- Sylvia Garatti in einer richtigen Wildwestshow im Sylvia Garatti liess sich von den Texten inspirie- me, mütterliche Ton nicht, so dass die zärtliche Tojo getauft. Sylvia Garatti hielt ein Streichholz an ren, tauchte in die Cowboy-Colt-Calamity-Welt ein Seite von Calamity Jane ebenfalls zum Tragen die quer über die Bühne verlaufende und in einem und verlor während der jahrelangen Recherche- kommt. Pulverfass endende Zündschnur. Gebannt starrte arbeit ihr Ziel nicht aus den Augen: Nämlich ein Martin Hägler untermalt die Lesestücke mit einer das Publikum auf die sich langsam vorwärtszün- Hörstück zu produzieren, das das Western-Genre assoziativen Klang- und Geräuschecollage, die mit gelnde Flamme. Als sie zum Pulverfass hochkroch, um eine weibliche Perspektive bereichert. Dabei Westernklischees spielt, ohne ihnen zu verfallen. hielten sich die Ersten die Ohren zu. Würde die ging es ihr weniger um die historische Person der Er zitiert typische Instrumente der Country-Musik Explosion den Deckel wegsprengen und ein Call- Martha Jane Cannary – ihre biografi schen Daten wie die Mundharmonika, die Zither oder das Banjo. girl in Glitzerkostüm, behängt mit Calamity-Jane- lassen sich schwerlich genau überprüfen - als viel- Mit sphärischen Klängen erzeugt er eine Lager- CDs, hervorbringen? Nichts dergleichen geschah. mehr um die schillernde Figur Calamity Jane, die feuerstimmung oder lässt an das Heulen der Wölfe Mit schnödem «pfft» erlosch die Flamme im Fass. in erstaunlich literarischem Ton aus ihren Briefen erinnern. Und hört man da nicht die Pferde über Das Licht im Saal ging an. «Was habt ihr denn ge- spricht. die Prärie traben? Hägler unterstreicht dezent das dacht», rief Frau Garatti ins Mikrofon, «wir sind «28. September 1877. Wieder ist ein Tag vor- Erzählte mit Geräuschen und verleiht dem Hör- hier in einer Wildwestshow!» Ein Riesenbluff also! bei, Liebes. Nein, tatsächlich sind es drei Tage stück stellenweise Hörspielcharakter. Perkussive Etwas Erleichterung über die geschonten Trom- her, seitdem ich dir zuletzt geschrieben habe. Es Tafelmusik nennt er den Sound, den er auf seinem melfelle war dennoch auszumachen. ist Nacht und ich sitze neben meinem Lagerfeuer. selbstgebauten Instrument produziert. Kein Bluff ist die CD, die Garatti mit ihrer Crew Mein Pferd Seiton ist in der Nähe angepfl ockt. Du «Calamity Jane – Briefe an meine Tochter» ist ein präsentierte, bestehend aus der Schauspielerin solltest ihn sehen mit seinen weissen Fesseln und wunderbar stimmiges Hörstück über eine schuss- Patricia Bornhauser, dem Musik-Geräuschemi- dem weissen Fleck zwischen den Augen. Das Licht sichere und schlagfertige Westernheldin, die oben- scher Martin Hägler und dem Produzenten Bobby des Feuers spielt auf seinem schlanken Hals und drein noch kochen konnte. In den Briefdokumen- Gertsch, sowie Jasmina Courti, Susanne Garatti seinen glänzenden muskulösen Schultern. Er sieht ten fehlt auch ein Omeletten-Rezept nicht. Zum und Veronika Neruda, sondern ein gelungenes aus wie der Inbegriff aller Schönheit. Ich bin so Nachkochen empfohlen! Hörbuch: «Calamity Jane - Briefe an meine Toch- stolz auf ihn. Dein Vater hat ihn mir gegeben. (...) Die CD kann bei Sylvia Garatti unter calamity. ter». Das legendenumwobene Flintenweib Martha Ich kann Koyoten, Wölfe und das Stakkatogeheul [email protected] oder beim Verlag www.hoermal.ch Jane Cannary, genannt Calamity Jane, schrieb der Hunde in der Nähe der Indianerlager hören. Es bestellt werden. in tagebuchähnlichem Stil Briefe an ihre Tochter gibt Tausende von Sioux in diesem Tal. Aber ich Janey, die sie nicht selber grossziehen konnte. habe keine Angst vor ihnen. Sie denken, ich bin ein Die Briefe wurden nach Marthas Tod veröffent- verrücktes Weib und belästigen mich nie.» Calamity Jane – Briefe an meine Tochter licht und erschienen 1980 im Stroemfeld Verlag, Mit Patricia Bornhauser hat Sylvia Garatti die Regie und Produktion: Sylvia Garatti Basel und Frankfurt a. M., erstmals auf Deutsch. Idealbesetzung für Calamity Jane gefunden. Born- Stimme Calamity Jane: Patricia Bornhauser Sie bilden eine Mischung aus Tagebuch, Abenteu- hausers dunkle Erzählstimme suggeriert dem Hö- Klänge und Musik: Martin Hägler erbericht und Zeitdokument. Über 25 Jahre lang rer das Bild einer gestandenen Frau. Man nimmt Aufnahme und Schnitt: Bobby Gertsch schrieb Martha Jane Briefe, die sie nie abschickte. ihr die harten Arbeiten als Postkutschenfahrerin, Erschienen im hörmal.ch-Verlag ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 9 VVeranstaltungeneranstaltungen

BÜHNE

arsch contra vernunft Bilder: zVg. / Die Lüge und Mama Bumba Von Magdalena Nadolska – Die werkstatt 14a feiert diesen Monat gleich zwei Premieren im Berner Tojo ■ Eine alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Schauspielerin die Problematik weiblicher Identi- Schein existieren? Braucht es Wahrheit, um au- Kindern entscheidet sich eines Morgens, vor ihrem tät in der postmodernen, postfeministischen Zeit thentisch zu sein?» In der Umsetzung suchte das ritualisierten und stumpfen Leben wegzulaufen. in einer ungemein prägnanten, tragikomischen Team mit Regisseurin Luise Helle nach einer Na- Auf der Flucht vor dem inneren Tod, der ihr durch und (besonders aus Frauensicht) selbstironischen türlichkeit und Unmittelbarkeit im Spiel. Das Stück den alltäglichen Wahnsinn droht, begibt sie sich Form auf die Bühne des Kasemattentheaters.» ist in einer Sprache geschrieben, die vieles offen auf eine abenteuerliche, träumerische Reise ins Die aussergewöhnliche Situation von Autorin und lässt und zwischen den Zeilen spricht. Ergänzt Unbekannte. Begleitet wird sie von Mama Bumba, Schauspielerin in Personalunion hat sie gemein- werden Sprache und Spiel durch die Livemusik von ihrem Alter Ego, welcher sich als der sprechende sam mit dem Regisseur Eberhard Köhler spiele- Cédric Monnier, welcher Synthesizer-Klangwelten Hintern der Frau entpuppt. Die zwei Figuren haben risch gelöst: «Wir hatten im Vorfeld abgemacht, eröffnet. Der Inhalt des Stücks behandelt die Kli- absolut gegensätzliche Bedürfnisse und es kommt dass wir meine Person ‹trennen›. Es gab die Au- maerwärmung: Das Land hat grosse Schwierigkei- ständig zu Reibungen. Als Mama Bumba auch noch torin Fabienne und die Schauspielerin Fabienne. ten, da es immer wärmer und den Menschen heiss den Tangoman ins Spiel bringt, geht das der Frau Wir machten immer ganz klar fest mit wem wir es wird. Der Präsident belügt das Volk und lässt es eindeutig zu weit. Moral und Pfl ichtgefühle ihrer gerade zu tun haben.» glauben, dass alles in Ordnung sei. Doch das Land Vergangenheit machen sich bemerkbar und die Der Tango (Choreografi e Luc Müller) ist im steht in einem Beinahe-Krieg mit den Nachbarlän- unersättliche Lebens- und Liebeslust von Mama Stück präsent, wird jedoch sparsam eingesetzt: dern, das Wasser wird knapp und die Lage fordert Bumba wird unerträglich. Wird die Frau ihrem All- «Die Tanzeinlagen sollen etwas Neues erzählen, dringend Lösungen. Um das Klimaproblem zu lö- tag für immer entfl iehen oder fi ndet die Reise le- einen anderen Aspekt beleuchten, der nicht über sen, wollen die Minister 500’000 Menschen in diglich in ihrer Phantasie statt? Sprache oder Inhalt geht. Diese von Ehrgeiz, Ver- Kühltruhen sperren, denn zu viele Menschen pro- «Mama Bumba, mein Hintern, der Tango und nunft und Verantwortungsgefühl zerfressene Frau duzieren zuviel Körperwärme. Doch jeder denkt ich», ein Tango-Theater von und mit Fabienne begegnet ihrem verantwortungslosen Hintern, der nur an Macht und Intrigen, Lösungen sind zu teuer Biever, breitet den Zwiespalt der Sehnsüchte und nur an sich und seine eigene Befriedigung denkt. und zu kompliziert. Alle Pläne, die Welt zu retten, Pfl ichtgefühle einer alleinerziehenden Mutter aus. Der Tango stellt eine Einheit her», so Biever über scheitern daran, dass die Welt untergeht. Als der Bis es zur Uraufführung in Luxemburg kam, hatte diese dritte Ebene des Stücks. «Im Tango kommt Präsident am Ende die Wahrheit sagt, glaubt ihm das Projekt einen zweijährigen Entstehungspro- eine Sinnlichkeit zustande, die der Frau wirklich niemand mehr. zess hinter sich: «Zunächst hatte ich gar nicht vor, helfen kann: Ein Loslassen und gleichzeitiges Ge- ein Stück zu schreiben; am Anfang gab es ledig- halten-Sein.» Neben den Darstellern Luc Müller «Mama Bumba, mein lich persönliche Notizen und eine Form von Tage- und Piotre Tollik sieht Fabienne Biever einen wei- Hintern, der Tango und ich» bucheinträgen. Es gab aber auch bereits die fi ktive teren Spielpartner im Bühnenbild (Piotre Tollik): 1. - 4. Oktober, 20:30h Grundlage von ‹was wäre, wenn...›. Also was wäre, «Der Kubus lässt sich verwandeln und ganz unter- Ermässigter Eintritt für alleinerziehende Mütter wenn ich eine Frau wäre, die eines Tages auf den schiedlich bespielen. Er ist wie ein Spielplatz und oder Väter! Am 4. Oktober gibt es einen Tango- Zug geht und alles hinter sich lässt. Wo würde ich nicht nur Dekor oder Hintergrund.» Ball im Anschluss an die Vorstellung. hingehen? Was würde ich machen? Ich habe Spass Das Ensemble der werkstatt 14a wird diesen an diesem Kino in meinem Kopf gefunden, es war Monat auch in einem weiteren Stück zu sehen «Die Lüge oder es wird wärmer» Teil 2 eine Art Flucht aus meinem Alltag. Je mehr ich sein. Die zweite Premiere im Tojo trägt den Titel 8., 10. und 11. Oktober, 20:30h geschrieben hatte und je mehr Phantasien ich ent- «Die Lüge oder es wird immer wärmer Teil 2» und 12. Oktober, 19:00h wickelt hatte, desto mehr interessierte es mich, da- stammt von Nina Engel und Luc Müller. Die beiden 10. und 11. Cocktailbar und DJs im Anschluss an raus ein Stück zu machen», erzählt Biever über den möchten das Thema Lüge in Zusammenhang mit die Vorstellung Anfang des Projekts. Die Zeitung «Luxemburger Theater erforschen und stellten sich folgende Fra- Wort» schrieb dann über die erfolgreiche Urauf- gen: «Ist Theater eine Lüge? Lügt man, wenn man www.werkstatt14a.com führung: «Fabienne Biever bringt als Autorin und eine Rolle spielt? Kann Theater ohne Lüge, ohne www.tojo.ch

10 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 VVeranstaltungeneranstaltungen

BÜHNE tanz in. bern Von Kristina Soldati - Frische oder eine Neuaufl age des alten Festivals? Bild: Anna Huber / Foto: Caroline Minjolle

■ TANZ IN. BERN löst das Festival Berner Tanzta- chen lang. Mit bis zu zwei Vorstellungen täglich Nun, das tat auch schon das Tanztheater; ge ab. Mit dem neuen Festivalleiter Roger Merguin ist TANZ IN. BERN anspruchsvoller als das vor- und der neue Konzepttanz, der so arbeitet, be- und anschliessend mit drei beteiligten Choreogra- angehende Festival. Wie schafft Ihr das? friedigt nicht alle Zuschauer. fen sprach ensuite - kulturmagazin. Vom Festival- Der Beitrag der Stadt Bern wurde schon vor Ich setze auf eine gute Information über das leiter wollte es wissen, was er am Konzept weiter- dem Ende der Berner Tanztage von 80’000 auf Programm und hoffe, dass Qualität einfach ge- zuführen und was er zu erneuern gedenke. 200’000 Schweizer Franken aufgestockt und wir schätzt wird. Deshalb bieten wir Publikumsgesprä- können auch auf die Unterstützung des Kantons che an, Stückeinführungen öffnen Einblicke in die Roger Merguin: Innerhalb von zwanzig Jahren Bern zählen. Dann haben wir ein Fundraising für Werke. Stückausschnitte sind auch auf unserer haben es die Berner Tanztage geschafft, sich als TANZ IN. BERN gemacht. Wir wollten uns aber Website zu fi nden - niemand soll auf eine falsche eine Art Institution in der Schweiz zu etablieren. nicht nur in die Abhängigkeit von Sponsoren be- Fährte geleitet werden. Transparenz ist uns sehr Sie entwickelten eine grosse Dynamik, weckten die geben und setzen auf die Zusammenarbeit mit lo- wichtig. freie Tanzszene, die sich vor zwanzig Jahren erst- kalen Institutionen wie der Tanzaktiven Plattform, mals wirklich manifestierte. dem Institut für Theaterwissenschaften, der HKB, ■ Jean-Claude Gallotta und der Optimismus Diese Frische möchte ich dem Festival wieder dem Stadttheater und anderen. Auch Botschaften der Jugend Copyleft ist das Motto der ersten Aus- zurückgeben. Ich werde neben etablierten Cho- der Gastländer konnten wir für das Programm gabe des TANZ.IN BERN Festivals, der Nachfolge reografen wie Susanne Linke und Jean-Claude begeistern. Wir nutzen auch Synenergien mit der der Berner Tanztage. Was soll kopiert werden, was Gallotta auch internationale Neuentdeckungen Dampfzentrale, ihrer Verwaltung und technischem aufgefrischt, um kein Abklatsch zu sein? Nicht nur präsentieren, die ich gerne mit dem Berner Publi- Personal. Festivalleiter Roger Merguin, sondern auch viele kum teilen möchte. Es wird eine stilistische Vielfalt Dem Festivalzentrum rund um die Dampfzen- Künstler scheinen sich mit ihrer Tradition ausei- geboten, die experimentelle Werke, Installationen trale wird ein neues Gesicht verliehen, das Pu- nandersetzen zu wollen. Jean-Claude Gallotta, aber auch bewährten Tanz umfasst. Damit das blikum wird sofort die Festivalstimmung erleben seit über 25 Jahren Leiter des Centre Choréogra- Publikum nicht nur die namhaften Produktionen können – hier sei nur die Geisterbahn vor der phique National de Grenoble, hat sein frühes Stück herauspicken muss, haben wir einen Festival-Pass Dampfzentrale erwähnt. Zur Auffrischung des Fes- Ulysses, das grosse Beachtung erfuhr, wieder her- eingeführt, der während drei Wochen erlaubt, so tivals gehört wohl auch, dass ihm durch die neue vorgeholt. Der Choreograf erzählt ensuite - kultur- viele Stücke zu schauen wie man will. Das soll die Leitung eine neue Handschrift verliehen wird. Ich magazin, wie das Anknüpfen und Neuschöpfen im Lust am Experiment erhöhen und zum Ausprobie- schätze Ironie, Intelligenz und Humor beim Zugang jüngsten Werk «Cher Ulysses» inhaltlich und stilis- ren ermutigen. Die Bandbreite des zeitgenössi- zu Tanzstücken. Das Gesamtkunstwerk, in dem der tisch bedeutsam ist. schen Tanzes, von den neuen Choreografen über Tanz sich vertieft an verschiedenen Kunstformen die Grand Dame des Tanztheaters, Susanne Linke, wie Installationen, bildender Kunst, Video, Litera- Jean-Claude Gallotta: Ulysses habe ich 1981 bis hin zu einem Tanzparcours in der Stadt Bern tur und Musik bedient, sich also in einen zeitgenös- kreiert, nach meinem USA-Aufenthalt, wo Cunning- soll erlebbar und bezahlbar sein. sischen Kontext stellt, ist ein Schwerpunkt, den ich ham und seine Neubehandlung des Raums und der ensuite - kulturmagazin: Und das drei Wo- dabei setze. Zeit einen grossen Eindruck auf mich machten. ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 11 DAS NEUE ZEITGENÖSSISCHE TANZFESTIVAL DER DAMPFZENTRALE 15. OKTOBER – 2. NOVEMBER 2008 COPYLEFT

Susanne Linke (D) «Schritte verfolgen (2007)» — Rachid Ouramdane (F) «Loin …» — Aughterlony / Emch / Fistarol / Kapusta / Smith «Geisterburger» — Olga de Soto (B) «histoire(s)» — Karin Hermes (CH) «Flügel an Flügel» — Olivier Dubois (F) «Faune(s)» — Alain Buffard (F) «(Not) A Love Song» — Vincent Dupont (F) «Hauts Cris (miniature)» — Cie. Willi Dorner (A) «bodies in urban spaces» — Boris Charmatz (F) «La danseuse malade» — tanz aktive plattform & Dampfzentrale «Copy-Battle» — Alias (CH) «Approcher la poussière» — Anna Huber (CH) «Eine Frage der Zeit» — Fabrice Lambert (F) «Gravité» — Jean-Claude Gallotta (F) «Cher Ulysse» — Stadttheater Bern: Kylián /Armitage / Marston — Specials: Institut für Theaterwissenschaft – Universität Bern: Symposium «Original und Revival – Geschichts- Schreibung im Tanz» — ProTanz: Schweizer Tanz- und Choreografiepreis 2008

VVK: WWW.STARTICKET.CH INFOS: WWW.DAMPFZENTRALE.CH

MEDIENPARTNER: FRANCE DANSE EUROPE ProTanz VVeranstaltungeneranstaltungen Es ist ein fl inkes, zuversichtliches und verspieltes ungebrochene Dynamik. Die Wiederaufnahme von Ein Tag wie jeder andere entfaltet sich auf der Stück mit weissgekleideten Tänzern vor weissem Ulysses ist also eine Art Paradox: Obwohl die Hoff- kargen Bühne. Ein Mann arbeitet zu Hause am Bühnenbild. Es würfelt das klassische Vokabular nungen meiner jungen Jahre auf die Korrigierbar- Computer, die Frau betritt die Wohnung, worauf er ebenso wie das des modernen Tanzes durcheinan- keit der Welt argen Blechschaden erlitten, habe ich bald aufbricht. An einer Haltestelle ruft er ein Taxi der. den ursprünglichen Elan aufgegriffen. Manchmal und fährt zum Hautarzt. Die ersten zehn Minuten Die fl iessende Bewegung, die das gesamte ist dieser Elan dann wie ein Leerlauf, er setzt sich zeigen diesen gewöhnlichen Tag mit wenigen mar- Stück durchzieht, ist wie eine aufgedrehte Ver- fort, weil die Maschinerie einmal in Fahrt kam. Die kanten Bewegungen in einer dekorlosen Szene, sion vom Limon-Stil. Haben Sie alle vorzufi n- Ambiguität spiegelt sich im Dekor wieder: Die gros- ganz ohne Tanz. Nach der Heimkehr des Mannes denden Stile dekonstruiert? sen weissen Segeltücher rings um die Bühne sind wiederholt sich die Episode wie ein Reigen, und Das ist interessant. Ich habe selbst nie Limon nur halb gehisst, sozusagen auf Halbmast. Sind sie es kommen Feinheiten und kleine getanzte Ab- gemacht, aber das Schroffe bei Cunningham hat halb hoch oder halb runter, oder ist die Maschine- wandlungen zum Vorschein. Als ob beim näheren mich so abgeschreckt, dass ich vielleicht in diese rie kaputt? Hinsehen die Beschaffenheit der Oberfl äche sich Richtung gefl ohen bin. Die Schaffensjahre danach Bei so viel verkopftem Tanz derzeit wird der preisgäbe: «Approcher la Poussière» ist eine Schu- lassen sich fast wie eine Abwendung vom Ulysses Zuschauer sich über Ihre Bewegungslust freu- le des Sehens. verstehen. Es folgten interdisziplinäre Stücke - ich en... hatte vor dem Tanzen bildende Kunst studiert Ich kann die zeitgenössische Tendenz dennoch Guilherme Botelho: Das Thema des Stückes -, auch fi lmische Werke. Und vor allem pessimis- nachvollziehen. Es gibt künstlerische Moden, die ist die Realität hinter der Realität. Wie die nähe- tische... man durchstehen muss. Es gibt darunter inter- re Untersuchung unter dem Mikroskop eine neue Das Tanzstück «Cher Ulysses» ist also ein essante Vorschläge. Allerdings wagt man heute Wirklichkeit aufdeckt, so lüften scheinbar normale bewusstes Wiederanknüpfen, doch mit Abwand- kaum, ein Optimist zu sein und der Bewegung zu Begebenheiten so manches psychologische Ge- lungen? frönen. Ich denke, der Mensch hat derzeit einen heimnis und Unausgesprochenes. Und die Struk- Bei der neuen Version habe ich das Original- Hauch Schwung verdient, ein Durchatmen. Kurz, tur des Stückes folgt dieser Thematik. Mit jeder werk technisch und stilistisch sehr reduziert. Die ich fühle mich auf den Festivals am wohlsten, wo Wiederholung ufert die Episode an der einen oder Gesten und Zeichen habe ich so weit vereinfacht, die Vielfalt waltet. anderen Stelle aus. dass sie auch für Amateure ausführbar wurden. Die Einschübe und Abwandlungen an diesen Denn meine derzeitige Companie umfasst sowohl ■ «Die Präzision in der Subjektivität» bei Alias überbordenden Stellen sind reine Bewegungs- junge ausgebildete Tänzer als auch Amateure. Die Der diesjährige Schweizer Tanzpreis geht an Guil- sequenzen. Sie sind sehr ausdrucksvoll und Frage war, sie miteinander zu konfrontieren, zu se- herme Botelho und seine Companie Alias. Der Gen- verraten viel vom jeweiligen Seelenzustand der hen, was ihnen gemeinsam war, und zu vermitteln. fer Choreograf hat die Schweizer Tanzlandschaft betroffenen Person. Die Geschichte selbst wird Ich mag zwar Technik, aber die Tänzer müssen sie seit den 90ern geprägt und sich einen guten Ruf dagegen von recht schauspielerischen Bewe- auch wieder loslassen können. Die auch alters- auch im Ausland gesichert. Wir werden im Rahmen gungen vorangetragen. mässige Mischung der derzeitigen Gruppe fi nde des Festivals TANZ IN. BERN die Gelegenheit ha- Ich habe da wirklich keine Prioritäten. Ich arbei- ich interessant. Was ich beibehielt, ist das allumfas- ben, die Preisverleihung und sein jüngstes Werk te sehr wenig am Bewegungstext. Aber reine Be- sende Weiss des Bühnendekors und die verspielte «Approcher la Poussière» zu erleben: wegung? Ich verstehe nicht, was reine Bewegung

Bild: Tanzkompanie Alias / Foto: Jean-Yves Genoud

ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 13 VVeranstaltungeneranstaltungen ist. Für mich kann eine kleine Geste, eine einfache sie nach New York und setzte sie in eine Vorstel- AUSBLICK TANZ Pose so treffend und rein sein. In meinen Augen lung der Merce Cunningham Company. Von dort geht es darum, die Präzision in der Subjektivität kehrte sie nicht mehr zurück. Sie tanzte für Merce des Einzelnen nachzuzeichnen und herauszubil- sechs Jahre lang. MAFALDA in Zürich den, selbst wenn das paradox klingt. Ich suche im Was sie von seiner Arbeit erben möchte? «Sei- ■ Wie kann sich der Körper den Raum einver- Alltag. Er ist mein Forschungsfeld und meine Inspi- nen hierarchiefreien Raum», antwortet Karole leiben? Eine gute Idee hat da die Company MA- rationsquelle, was die Essenz der Companie Alias Armitage. Er war nicht voreingenommen, welche FALDA, wenn sie ihre Tänzer durch von der De- ausmacht. Die Tänzer und ich gehen zum Bahnhof Stellen der Bühne zwecks Wirkung vorzuziehen cke hängende Klebestreifen schleust. Raum als und studieren Persönlichkeiten. Deshalb interes- seien. Sie sind alle gleichwertig, wie auch seine Behinderung von Bewegung wird schöpferisch sieren mich auch Tänzer, die sich nicht hinter ihrer Tänzer, am liebsten hätte er auch einen variab- nutzbar: Bleiben die Streifen haften, ist eine Technik und einem erlernten Stil verstecken. Jeder len Blickwinkel des Zuschauers. Überraschende Raumlandschaft geschaffen und in die Körper- Tänzer trägt ein gewisses Gepäck an Bewegungen Tänzer-Konstellationen hatten so eine Chance, hülle integriert. Dass die Idee sich nicht nur in mit sich herum, das ihm das Leben aufgebürdet wir wissen, dank Cages Zufallssystem, eine reelle. starken Bildern niederschlägt, sondern auch die hat. Wenn er aus dieser individuellen Sammlung In Karole Armitages neuem Stück ist allerdings Tanzsprache der Beteiligten bestimmt, ist zu auspacken kann, schätze ich das. nichts dem Zufall überlassen, schon gar nicht Kon- hoffen. Die bewegungsgewandte Choreografi n Das macht Ihre Stücke dann entsprechend stellationen: Die Formationsverliebtheit Balanchi- Teresa Rotemberg zeigte kürzlich in Bern4 am eklektisch. Jeder hat seine charakteristische nes schlägt immer wieder durch. Wir sehen mal Theater diese Stärke. Bewegungssprache. So faszinierend das ist, gerade Linien quer über die Bühne ziehen oder Tanzhaus Zürich, Wasserwerkstrasse 129 birgt das nicht auch choreografi sche Einschrän- blumige Rankungen eines sich anfassenden Quar- 9., 10. und 11. Oktober, 20:00 h kungen? Sie werden wohl beispielsweise kaum tetts. Seine dekorativen Arm-Bein-Verfl echtungen 12. Oktober 18:00 h einmal dieselbe Bewegunsphrase teilen? zitieren die Serenade Balanchines, das grosse Vor- Doch, das habe ich einmal für mein Stück «Fran- bild der Choreografi n. Ob Karole Armitage sich der kenstein» genutzt. Da defi lieren Frauen in hautfar- Unangepasstheit ihrer ausladenden Bewegungs- Gast in Luzern benen Plastikkorsetten und -busen. Trotz ihres un- phrasen in Zeiten der Fragmentierungen bewusst ■ Nanine Linning ist eine vielfach gepriesene terschiedlichen Wuchses sind sie in die identische ist? «Naja. Der Tanz hat in den 60ern mit der Choreografi n aus Amsterdam. Sie schloss an Grösse gepfercht. Sie reihen uniform den gleichen Postmoderne bewiesen, dass er unabhängig ist. der Rotterdam Danse Academie ab und wurde Tanzschritt. Das kann sehr eindrücklich sein... Keine Story, keine Musik, keine Bedeutung, keine Hauschoreografi n am berühmten Scapino Bal- Zurück zu Ihrem Werk «Approcher la Poussi- Virtuosität. Nun kann man bewusst wieder an sol- lett. Nun kann man sie als Gastchoreografi n in ère». Die Reaktion des Mannes im Stück an einer che überholt geglaubten Werte anknüpfen», meint Luzern mit «Cry Love» erleben. Sie setzt Körper Stelle der Episode, die Sie in einer Tanzsequenz sie. «An musikalische Phrasen wie beim frühen, gerne mit Wucht ein, der Schwung wird trotz al- unter die Lupe nehmen, ist wie elektrisiert, wie romantischen Janacek?» Diese Frage lockt sie aus ler menschlichen Zerbrechlichkeit in der Thema- unter Strom. Das haben Sie doch nicht im Alltag der Reserve. «Ja und nein, Phrasen sind ja schon tik gewiss nicht zur Unkenntlichkeit zerpfl ückt. gefunden, oder? der Bewegung inhärent… Phrasen sind vielleicht Luzerner Theater, Theaterstrasse 2 Naja, nach dem Alltagsfund kommt die Arbeit, meine choreografi sche Eigenart überhaupt. Nicht 11., 16., 19., 24. und 29. Oktober, 19:30 h wir entstellen und verfremden das Material. die Posen sind mir wichtig, sondern wie man hin- Dann mögen Sie wohl auch Pina Bausch? kommt. Bei mir sind es Kurven und Kreise. Das hat Ja sicher. Sie ist grossartig. Sie sagte einmal, mich lange Jahre gekostet, dem Ballett das ein- TANZ IN. BERN sie schätze Tanzbewegungen zu sehr, um sie be- zubauen. Den Weg der Kurven und Kreise in den ■ Das vielfältige Programm des neuen Festi- ständig einzusetzen und abzunutzen. Der Tanz und Tänzern zu verankern, in ihrem Zusammenspiel vals rät zum Aussondern, denn Installation-Per- seine Bewegungen sind wie ein festliches Kostüm. herauszuarbeiten und ihn spüren zu lassen, war formance steht neben Tanztheater und Ballett Es kommt nur bei ausgewähltem Anlass zur Gel- eine Herausforderung. Auch hier am Berner Bal- - oder zum Ausprobieren. Auch die Künstlerin tung. Aber beeinfl usst bin ich wohl auch durch Fil- lett.» Bleibt abzuwarten, ob sich das Publikum von Anna Huber steuert eine Premiere bei mit ihren me von David Lynch. den Posen und akrobatischen Hebungen nicht täu- ehrlich suchenden, wenn auch oft verhaltenen schen lässt - denn: Der Weg ist das Ziel. Ein Tipp: Bewegungsstudien. ■ Karole Armitage zurück in der Schweiz Karo- Man folge den Kurven - auch wenn sie in die Luft Dampfzentrale, Marzilistrasse 47, Bern le Armitage liefert im Rahmen des Festivals TANZ gemalt und ephemer sind. 15. Oktober bis 2. November IN. BERN tanztechnisch den anspruchsvollsten Und mit einem liebenswerten, unschuldigen Beitrag. Kein Wunder, wurde sie doch auch schon Blick fragt sie zum Abschied: «Wer hat noch mal von Rudolf Nureyev an der Pariser Oper für Cho- mit fragmentierten Bewegungen was Interessan- reografi e beauftragt, von Mickail Baryshnikov für tes gemacht?», und dann: «Ähm ja, und ausser das ABT. Nach den Durchlaufproben ihres jüngs- Forsythe?» ten Stücks in Bern beantwortet sie Fragen zur Herkunft ihres Stils. Sie erzählt von den Anfängen ihrer professionellen Laufbahn in der Schweiz. Moderne Bewegungen hat die Amerikanerin zu den Balanchine-Zeiten der Genfer Companie in WWW.TANZKRITIK.NET Sie wissen den frühen 70ern als Solistin nicht vermisst. Sie kannte modernen Tanz gar nicht. (Erinnern wir uns, die Spaltung zwischen Ballett und modernem nicht wohin? Tanz war in Amerika, und nicht nur dort, tief. Man Die nächsten Folgen von «Tanz der Gegenwart»: sprach sich nicht, man sah sich nicht.) Sie wollte al- 5. Folge: Multikulti-Stilmix [email protected] lerdings beim Tanzen schon etwas mit unserer Zeit 6. Folge: Betanzte Plätze zu tun haben. So brachte ihre Schweizer Kollegin 7. Folge: Software & Tanz

14 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 VVeranstaltungeneranstaltungen

BÜHNE barsch und egli und ihr fi sch Von Barbara Neugel Bild: zVg.

■ Die beiden biederen Angler Barsch und Egli he- Unterwasserwelt mit leuchtenden Quallen und deutet auch, dass der Zirkus mit verhältnismässig cheln einem kleinen Fisch hinterher, der ihnen von Phantasiegetier. Eine Meerjungfrau bekommt’s mit wenig Technik auskommt und auf herkömmliche einer übermütigen Truppe von Artistinnen und Ar- einem Sägefi sch zu tun. Wenn das nur gut geht. Zirkus-Sensationen, -Attraktionen, und Nervenkit- tisten stibitzt worden ist. Die beiden Biedermänner Aber allzu viel soll hier nicht verraten werden. Nur zel verzichtet. Auch Glitzer und Glamour fehlen. schaffen es, die Zirkusleute durcheinander zu brin- soviel: Niemand nimmt Schaden, alle tauchen wie- Das Programm ist auf das Wesentliche reduziert. gen. Aber diese drehen den Spiess um und führen der heil in die Alltagswelt auf. Die Zuschauerinnen Umso mehr stehen die Artistinnen und Artisten, Barsch und Egli unversehens an der Nase herum. und Zuschauer tummeln sich, bevor sie den Heim- ihr Können und ihre Darbietung im Mittelpunkt. Alle zusammen tauchen ein in eine zauberhafte weg antreten, im Foyer und atmen noch ein wenig Umso mehr wird ihre Ausstrahlung wahrgenom- Zirkuswelt. Zirkusluft ein, verzaubert von einer Vorstellung, men. Umso überzeugender wirken sie. Und umso «Eintauchen» heisst das aktuelle Programm die den Alltag in den Hintergrund gestellt und ein- wichtiger und wahrnehmbarer wird die Ambiance. des Circus Monti. Eintauchen heisst es auch fürs fach nur Spass gemacht hat. Zwei Stunden voller In der Manege und im Vorzelt wirkt nichts über- Publikum - eintauchen in die Geschichte um Barsch Überraschungen, Musik, Kunst und Spielfreude, laden, alles strahlt eine fast vornehme Zurück- und Egli, eintauchen in diese Zirkuswelt. Und diese das bietet das diesjährige Programm des Circus haltung aus, alles scheint mit Liebe zur Sache ge- Zirkuswelt ist eine etwas andere, eine leise, feine, Monti, der vom 8. bis 19. Oktober 2008 in Bern macht und alles hat einen ganz eigenen Charme. poetische. In dieser Welt werden Elemente des gastiert. Und eine schöne Geste auch: Artisten verkaufen klassischen Zirkus verwoben mit Kleinkunst. Da Der Circus Moti ist ein Familienunternehmen während der Pause im Foyer Popcorn und Glacé, ist Komödiantisches, Gauklerhaftes, Tänzerisches. mit insgesamt rund 70 Mitarbeitenden und einem wie es sich gehört, mit umgehängtem Bauchladen, Und da ist Musik, jazzig-funkig-folkige Musik, die Hauptzelt, in dem 800 Leute Platz fi nden. Wäh- versteht sich. Ebenso spür- und vielleicht auch eigens für das jeweilige Programm komponiert rend gut sieben Monaten reist der Zirkus durch die sichtbar ist der Teamgeist und das Engagement wird. ganze Schweiz, bevor er Ende Oktober die Saison der Mitarbeitenden für das Unternehmen, für den Um die beiden Fischer ist grosse Zirkuskunst beendet und in sein Winterquartier zurückkehrt. Circus Monti. zu sehen. Da wirbeln und springen Artistinnen und Neben Reparatur- und Instandstellungsarbeiten Artisten durch die Manege, da turnen und jonglie- an den verschiedenen Zelten und am beachtlichen Circus Monti ren sie, dass es eine Freude ist. Und immer wieder Wagenpark laufen dort bereits die Vorbereitungen 8. bis 19. Oktober 2008, Allmend Bern tauchen Barsch und Egli auf, auf der Suche nach für die nächste Saison. Markenzeichen des Circus Informationen und Reservationen: ihrem Fisch... Die Zuschauerinnen und Zuschauer Monti ist es, wie bereits oben erwähnt, klassische Telefon 056 622 11 22 oder werden nach und nach entführt in eine (trockene) Zirkuskunst mit Kleinkunst zu verweben. Das be- www.circus-monti.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 15 Informationstag Hochschule der Künste Bern / Biel Journée d’information Haute école des arts de Berne / Bienne

22. 10. 2008 www.hkb-infotag.ch 14 –17 NOVEMBER14th International Contemporary Art Fair | ABB Hall 550 | Zürich-Oerlikon Friday 4pm to 10pm | Saturday 2pm to 9pm | Sunday, Monday 12pm to 6pm

Der erfolgreichste tschechische Film aller Zeiten !

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LEERGUT «Vratné Lahve» Eine verschmitzte und lebensfrohe Komödie von Oscar-Preisträger Jan Sverák (KOLYA) MMagazinagazin

KULTUR & GESELLSCHAFT le cœur en beurre von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli

■ Die Butter, the butter, le beurre, il burro, boter Küche schlüpft sie gar in die Rolle des Chamäleons rinieren. Sie ist die Königin in der Küche. Ohne sie auf holländisch. Butterzart, butterweich, buttrig. und nimmt Aromen von Kräutern, Knoblauch und wäre der Teig nicht mürbe, gäbe es keine köstliche «Anke» in Mundart. Das Naturprodukt, ausschliess- Sardellen genauso auf wie die von Zitronenzeste «beurre noisette» über Fisch und Spargeln geträu- lich hergestellt aus Milchfett, verschmilzt auf der und Honig. Ihr Milchfett ist einfach ein idealer Ge- felt, keine Sauce béarnaise, keine Buttercrème Zunge. Im Milchfett sind sogar die Vitamine A, D, E schmacksträger. Aber irgendwas Süchtigmachen- im Bûche de Noël und auch keinen Butterscotch. und rund 400 verschiedene Fettsäuren enthalten. des scheint in ihr zu stecken. Etwas, das einem Natürlich dominiert sie auch in diversen Gebäcken Drum spielt die Butter in unseren Mündern gerne den Speichelfl uss antreibt und weiche Knie macht. wie dem englischen «Shortbread» und den franzö- die Hauptrolle. Später dann auch auf den Hüften. Etwas, das tief in unser Inneres dringt, uns willen- sischen «Galettes Bretonnes», worin sie als gesal- Eine Kalorienbombe sei sie, sagt man. Trotzdem ist los macht und uns Glückseligkeit aufs Gesicht zau- zene Butter enthalten ist. Bei uns bekannt ist das sie das, was das Gipfeli erst zum Gipfel des Genus- bert. Die Butter hinterlässt Spuren und kümmert «Petit Beurre» - wie liebenswürdig das klingt. Da ses macht. Seit der neuen Kampagne von Floralp sich dabei nicht um die Linie. Lieber lässt sie Nähte kann man einfach nicht nein sagen. frisst sie sogar ganze Löcher in Plakatwände. Über platzen. Ja, sie ist die wahre Förderin von Pirellis, In Deutschland ist der Butter sogar ein Frau- die Butter kann man sich auslassen. Lässt man sie Lovehandles und Kinderspeck. Sie ist Teufelszeug enname gewidmet: Anke. Und «Ankebock» heisst jedoch aus, fehlt das Essenzielle. Ihr Geschmack ist im Kleid eines Engels. Weiss bis hellgelb ist ihre dort Butterbrot. Mühsam wird’s mit der Butter, nämlich einmalig. Und die Umwandlung von Milch- Erscheinung, zartschmelzend ihr Wesen. Sonn- wenn sie zum Streichen zu kalt ist. Dann reisst zucker in Milchsäure und die aromabildende Rei- tags lässt sie sich gerne im Teig zum Zopf fl ech- sie ganze Löcher ins Brot. Oder wenn sie an den fung ist unnachahmlich. Aber es gibt ja nicht nur ten. Und an Feiertagen nimmt sie sogar die Form Fingern kleben bleibt, wenn man Butterreste auf die Eine, sondern diverse Sorten: Vorzugsbutter; eines frommen Lämmchens an oder schmückt als dem Geschirr mit kaltem Wasser abwäscht. Wie dabei unterscheidet man zwischen Sauerrahm- aufrichtiger Hase den Brunchtisch. Sehr dekorativ wunderbar meditativ ist es jedoch, kalte Butter an butter mit zugegebenen Milchsäurebakterien und wirkt sie auch als klassische Butterröllchen oder der Röstiraffel zu reiben und sie danach mit Mehl, Süssrahmbutter aus ungesäuertem Milchrahm. Es fl oral verziertes «Ankemödeli» aus dem Holzmo- Zucker und einer Prise Salz zwischen den Fingern gibt mildgesäuerte Butter, Käsereibutter, gesal- del. Auch in meinen kulinarischen Kindersünden zu zerbröseln... «Für Butter gibt es keinen Ersatz», zene Butter, Bratbutter. In Indien nennt man ge- spielte die Butter eine wichtige Rolle: Ich mischte wirbt www.butter.ch. Pfl anzliche Alternativen bluf- klärte Butter «Ghee». Die geschmacklich kräftige sie unter die Spaghetti und bestreute das ganze fen mit ihrer Linienfreundlichkeit und geringerem Maibutter stammt von Kühen, die nach dem Win- mit Aromat. Nur sonntags durften wir uns zu Hau- Cholesteringehalt. Nie vermögen sie aber mit dem ter wieder frisches Grün zu fressen bekommen. se ein Zuckerbrot machen. Dafür strichen wir dick einzigartigen Buttergeschmack zu konkurrieren. Zudem wird die Butter nach Geruch, Geschmack, Butter auf eine Scheibe Sonntagsbutterzopf, streu- Butter ist zudem ökologisch sinnvoll, da es für sie Gefüge, Aussehen und Konsistenz bewertet und in ten Zucker auf die Fläche und klopfen anschliess- weder lange Transportwege braucht noch aufwän- verschiedene Handelsklassen eingeteilt. Stammt end den überschüssigen Zucker vom Brot. Ich dige Herstellungsprozesse wie etwa bei der Mar- bei uns das Milchfett von der Kuhmilch, wird in an- liebte das kühle Fett, das auf der Zunge schmolz garine. «Butter» tönt nach Fleisch und Blut – echt deren Ländern auch Milch von Büffeln, Kamelen, und das Knistern der Zuckerkristalle zwischen den eben. Dafür steht auch ihre Werbung: Mister Blu- Ziegen, Schafen und Yaks zu Butter verarbeitet. Zähnen. menthal isst Butter, der geölte Bodybuilder neben Pur ist sie ein Genuss, als Brotaufstrich auf fri- Die Butter kennt keine Grenzen, sie ist eine ihm nicht. Natur macht eben schön – dann ist ja schem Brot. Sie brilliert aber auch in Kombination Alleskönnerin: Verfeinert, schmeckt ab, bindet alles in Butter. mit verschiedenen Geschmacksrichtungen. In der Saucen, eignet sich zum Backen, Dünsten und Ma- ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 17 VVeranstaltungeneranstaltungen

BÜHNE spagat über den röstigraben im deux-pièces Interview von Jean-Philippe Tilliot Bild: Joseph Gorgoni alias Marie-Thérèse Porchet / Foto: Jean-Philippe Tilliot ■ Der aus Genf stammende Tänzer, Sänger und Deutsch war, dass ich schon als Kind ein grosser Romandie? Emil Steinberger und - ? Schauspieler Joseph Gorgoni, geboren am 10. Mai Fan von Nina Hagen war. Weil ich ihre Songs verste- Emil ist der einzige. Aber kein Mensch kennt 1966, hat eine der populärsten Frauen der Roman- hen wollte, hab ich Deutsch gelernt. Aber ich war Marco Rima, Viktor Giacobbo, Oropax oder Ursus die erfunden: Marie-Thérèse Porchet. Wir haben dann doch zu wenig fl eissig. & Nadeschkin. In der Musik ist es dasselbe: Nie- den erfolgreichen Komiker in der Künstlergarde- Nun spielen Sie auf Deutschschweizer Büh- mand kennt Udo Jürgens. Genauso wenig kennen robe des Theaters Fauteuil in Basel getroffen. Wie nen einen Text, den Sie kaum verstehen… die Leute Marie-Thérèse Porchet in der deutschen fühlt sich Joseph Gorgoni als Hardcore-Welsche Ich habe den Text mit meinem Partner Pierre Schweiz. Die Sprache ist eine schier unüberwindli- im Deux-Pièces auf der Bühne? Wie schafft er den Naftule zusammen geschrieben. Toni Caradonna che Grenze. Das war für mich auch die Motivation, Sprung über den Röstigraben, wie meistert er den hat ihn für uns in Schweizer Dialekt übertragen in die Deutschschweiz zu kommen und die Mundart Spagat zwischen Mann und Frau? Und wie kommt – genauer gesagt ins Berndeutsche. Also weiss zu lernen. der schrille Charme der von ihm verkörperten blon- ich natürlich, wovon ich spreche. Aber ich könnte Wann hat Marie-Thérèse, die ewig Fünfzigjäh- dierten Mittfünfzigerin in Bern an? keinesfalls auf Fragen aus dem Publikum antwor- rige, das Licht der Welt erblickt? ten oder ein Gespräch führen. Dennoch: Würde ich Das war 1993, in einem satirischen Spektakel in Sie sind in Meyrin aufgewachsen, einem Vor- meinen eigenen Text nicht verstehen, wär’ ich ja Genf namens «La Revue», das die lokale, regionale ort von Genf. Wann haben Sie als Kind zum ers- wie Mireille Mathieu. und internationale Politik auf die Schippe nimmt. ten Mal von der Deutschschweiz gehört? Stimmt, der weltberühmte «Spatz von Avignon» Marie-Thérèse ist ein Kind dieser Revue. Sie ist als Joseph Gorgoni: Meine Grossmutter hatte eine soll 1200 Lieder in elf Sprachen gesungen haben. Zufallsprodukt entstanden. Dann hatte sie aber ei- Nachbarin, die aus der Deutschschweiz stammte. Oft ohne zu verstehen, was der Text bedeutet… nen so enormen Erfolg, dass wir beschlossen, sie im Ihr Akzent hat mich immer zum Lachen gebracht, In der Westschweiz ist Marie-Thérèse Por- folgenden Jahr wieder in die Show aufzunehmen – schon als kleines Kind. chet beinahe so bekannt wie Mireille Mathieu. diesmal bewaffnet mit ihren Tupperware-Boxen. Sie mussten wie alle Schweizer Kinder in der Marie-Thérèse ist in der Romandie und zum Teil Das Fernsehen kam und hat die Show aufge- Schule Deutsch lernen. auch in Frankreich sehr berühmt, jedes Kind kennt zeichnet – so begann die Erfolgsstory von Marie- Genau, wir mussten Hochdeutsch lernen – das ihre kleinen Geschichten, ihren Hund Bijou, ihre Thérèse Porchet. Ich war von dem Erfolg ziemlich war obligatorisch. Und Deutsch ist für Französisch- Tupperware-Partys… überrumpelt. Seit zwölf Jahren konzentriere ich sprechende eine sehr schwierige Sprache. Damals Apropos Tupperware. Für Marie-Thérèse sind mich ausschliesslich auf die Figur von Marie-Thé- wurde Deutsch erst in der Sekundarschule unter- die Frischhalteboxen das Symbol der kultur- und rèse. Vorher arbeitete ich als Tänzer, etwa im Fern- richtet. So habe ich nur drei Jahre lang Deutsch- grenzüberschreitenden Frauensolidarität: Sie ver- sehen bei Musikshows und ich hatte Rollen in Musi- unterricht gehabt. Anschliessend, in der Handels- binden für sie Israelinnen und Palästinenserinnen, cals wie «Cats» und «Rocky Horror Picture Show» schule, habe ich mich für Englisch entschieden. Russinnen und Tschetscheninnen, Welsche und in Paris. In Genf gibt es wohl nicht besonders viele Ge- «Zwetschgen»… Marie-Thérèse Porchet war ja auch in Paris… legenheiten, deutsch zu sprechen? Wenn wir schon vom berühmten Röstigraben Ja. Das erste Programm spielten wir 400 Mal, Nein. Englisch ist viel nützlicher und vor allem sprechen: Welche Künstlerinnen und Künstler dass zweite 150 Mal in einem grösseren Theater. viel einfacher zu lernen. Mein einziges Interesse an aus der Deutschschweiz kennt man auch in der Marie-Thérèse trat auch fünfmal im legendären

18 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 «Olympia» auf. 50-jährigen Dame ein zehn Jahre jüngerer Mann sich von den grossen Städten bewegt, umso herzli- Wie kommt es, dass sich halb Paris für den verbirgt? cher ist das Publikum. Genf hat ein gutes, aber eher Röstigraben und die kleinen Sorgen von Marie- Am Anfang ist das noch recht oft passiert, heu- kühles Publikum. Thérèse Porchet interessiert? te immer weniger. Lustigerweise passierte es vor Die Deutschschweizer sind wesentlich leben- Marie-Thérèse verliebt sich in einen Deutsch- allem bei Fernsehauftritten, ausgerechnet da, wo diger als die Romands. Sie lachen und klatschen schweizer, und damit steckt sie ganz schön in der die Kamera ganz nah ans Gesicht herankommt. lauter, machen sich auch sonst mehr bemerkbar. In Klemme. Also mussten wir dem Pariser Publikum Das fi nd ich schon ziemlich krass, schauen Sie Bern in der Cappella hatten wir im Dezember ein erklären, was es mit der Deutsch- und der West- mich doch mal von nahe an… (zeigt sein stark ge- absolut unglaubliches Publikum. So mitreissend schweiz auf sich hat. Mit einer Schweizerkarte schminktes Gesicht…) hab ich die Leute noch kaum je erlebt – und dies in erklärt Marie-Thérèse dem Publikum die Mentali- Ob die Menschen in der Deutschschweiz Be- einem so kleinen Theater. tätsunterschiede diesseits und jenseits des Rös- scheid wissen, kann ich noch nicht sagen – noch ist Welche Beziehung haben Sie zu Bern? tigrabens. Das hat die Pariserinnen und Pariser Marie-Thérèse hier ein unbeschriebenes Blatt. Bern ist natürlich die Hauptstadt! Und man enorm zum Lachen gebracht. Und die Sprache der Sie haben diesen Sommer während der Euro sagt, es sei eine ruhige, etwas verschlafene Stadt. Deutschschweizer ist für französische Ohren über- mit einem Spezialprogramm Furore gemacht. Die Altstadt ist wunderschön. Viel mehr kenne ich aus komisch. Genau. Ich habe ein Programm unter dem Ti- nicht von der Stadt. Gelegentlich besuche ich die Sie machen mit Marie-Thérèse nicht nur ei- tel «Europorchet» gespielt, das in der Romandie Familie Knie, wenn sie in Bern gastiert – um die alte nen Spagat über den Röstigraben, sondern auch enormen Erfolg hatte. Von Fussball verstehe ich Freundschaft zu pfl egen. einen Spagat zwischen den Geschlechtern… nun wirklich nichts, aber wir haben uns wunderbar Sie waren ja mit dem Circus Knie zweimal un- Für mich ist sie eine Rolle, die ich spiele. Es ist amüsiert. Die letzte von rund 40 Vorstellungen – terwegs – in den Jahren 2001 und 2004. jetzt zufälligerweise Marie-Thérèse, aber es könnte am Vorabend des Finals – wurde vom Schweizer Leider nur in den frankophonen Kantonen und auch irgendein «Hanspeter» sein. Ich spiele eine Fernsehen live übertragen – mit einer unglaubli- im Tessin. Vielleicht darf ich irgendwann wieder mit Frau, das ist lustig – aber ich hatte nie den Wunsch, chen Einschaltquote von 43 Prozent! für eine Saison – und dann die ganze Schweiz be- eine Frau zu sein! Ich verkleide mich zu Hause oder Sie schreiben die Texte zusammen mit Pierre reisen. Sowohl die Knies wie auch ich hätten Lust zum Ausgehen nie als Frau – das ist für mich aus- Naftule. Wie entstehen Ihre Programme? dazu… Das wäre doch eine schöne Wiedervereini- schliesslich ein berufl icher Vorgang. Wir treffen uns regelmässig. Ich erzähle meine gung! Also hat Ihre Rolle nichts mit Travestie oder Ideen und Einfälle, manchmal auch ziemlichen Un- Worauf muss man als Komiker achten, wenn Drag zu tun? fug – und Pierre macht daraus ein Programm. Seit man im Zirkus auftritt? Ich habe am Anfang meiner Karriere in vielen 15 Jahren schreiben wir alle Programme zusam- Szenen oder Pointen, die auf der Bühne funkti- Travestie-Shows mitgemacht. Seit ich klein bin, men. Pierre versteht es, zu formulieren, das kann onieren, kommen im Zirkus nicht automatisch gut habe ich es stets geliebt, mich zu verkleiden. Als er viel besser als ich. Ich habe viele Ideen, aber an. Man muss die Dinge einfach und gut verständ- grosser Fan von Nina Hagen bin ich selbstverständ- Pierre weiss, wie man Gags baut und mit Worten lich rüberbringen und darf nie vergessen, dass lich als Nina Hagen aufgetreten und habe ihre jongliert. auch viele Kinder im Publikum sitzen. Aber es ist Lieder gesungen. Aber ich habe nie versucht, eine Marie-Thérèse singt auf der Bühne gern ein sehr schwierig, gute Texte für Kinder zu schreiben. «schöne» Frau zu sein – dann viel eher ein Teufel, lüpfi ges Liedchen - wie entstehen ihre Songs? Kinder sind das kritischste Publikum, das es gibt. oder eben Marie-Thérèse… Die Songtexte stammen ebenfalls von Pierre Wenn sie etwas nicht lustig fi nden, geben sie es den Von den Menschen in der Romandie und in Naftule. Wir suchen zusammen Stücke aus und Künstlern auch zu spüren. Frankreich wurde Marie-Thérèse nie als Travestie- lassen sie dann arrangieren und von erstklassigen Ich fi nde es eine sehr schöne Idee, dass der Nummer betrachtet. Auch wenn sie wissen, dass Musikern als Playback einspielen. Es wäre natürlich Circus Knie jedes Jahr Komiker in sein Programm ich unter der Perücke stecke, existiert Marie-Thé- schön, die Musiker live auf der Bühne zu haben, einbaut. Aber die Theaterleute müssen ihren Bei- rèse für sie – sie ist ein richtiger Mensch! Natürlich aber das liegt fi nanziell nicht drin. trag an den Zirkus anpassen. Das ist eine grosse kommt ein grosser Teil des Publikums aus der Gay- Nun haben Sie die Deutschschweiz in Angriff Herausforderung, da das Publikum in der Manege Szene, gerade in Paris. Das erste Stück beschreibt genommen. Im letzten Winter mit Pilotversu- fast rundherum sitzt und es kein Bühnenbild gibt. ja, wie Marie-Thérèse mit Entsetzen entdeckt, dass chen in Basel, Bern, Winterthur und Zürich. Nun Eine kniffl ige Aufgabe – ich habe sie geliebt! ihr Sohn homosexuell ist. Ich kenne dieses Thema touren Sie monatelang durch diese Städte. Ge- Warum kommt Marie-Thérèse in die Deutsch- natürlich bestens. fällt den Deutschschweizern, was sie zu sehen schweiz, wo sie die «Zwetschgen» nicht aus- Wie haben denn Ihre Eltern reagiert, als sie bekommen? stehen kann? Geht es um die Erweiterung des erfuhren, dass sie einen schwulen Sohn haben? Die ersten Erfahrungen waren sehr vielverspre- Marktes? Das Programm ist in dieser Hinsicht überhaupt chend – wir hatten volle Säle und das Publikum hat Natürlich ist es keine Frage des Geldes – viel nicht autobiografi sch. Ich habe sehr verständnis- enorm gelacht. verdienen werden wir vorerst nicht. Aber für volle Eltern und Marie-Thérèse ist überhaupt nicht Für mich war es sehr schwierig, dieses Pro- Pierre Naftule und mich ist es ein Spass, diese wie meine Mutter! Mein Vater als Italiener hatte et- gramm in einer völlig fremden Sprache zu lernen. Herausforderung anzunehmen. Auch als wir nach was mehr Mühe, das zu akzeptieren. Heutzutage ist Ich kann mich nicht erinnern, für ein anderes Pro- Paris gingen mit Marie-Thérèse, haben uns alle es ja zum Glück nicht mehr ganz so schwierig, sich jekt so geschuftet zu haben – das Auswendiglernen gewarnt, dass dies dort nie funktionieren werde. zu outen. des berndeutschen Textes war Knochenarbeit. Aber Sie hatten – zum Glück – Unrecht. Ich kenne keine Viele Geschichten, die mir meine Freunde über dieser Aufwand hat sich offensichtlich gelohnt. Die anderen Komiker, die den Sprung über den Rösti- ihr Outing und die Reaktionen ihrer Eltern erzählt Leute verstehen, was ich sage – und fi nden es lus- graben gewagt haben. Wir wollen versuchen, die haben, haben mich für das Programm inspiriert. tig. ganze Schweiz zum Lachen zu bringen – über sich Sie zelebrieren mit Marie-Thérèse lustvoll Welche Unterschiede nehmen Sie zwischen und ihre kleinen Sprachbarrieren. ein paar Klischees: Noch schlimmer als seine dem französisch- und dem deutschsprachigen Homosexualität fi ndet sie, dass ihr Sohn an die Publikum wahr? Marie Thérèse Porchet: uf düütsch! Streetparade fährt – ins verhasste Zürich! Pas- Jedes Publikum ist anders. Zwischen Genf und 8. bis 12. und 16. bis 19. Oktober 2008 siert es, dass Besucherinnen und Besucher dort Lausanne gibt es Unterschiede und in Freiburg sind La Cappella, Bern oder anderswo nicht wissen, dass sich hinter der die Leute schon wieder anders. Je weiter weg man www.la-cappella.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 19 www.danaron.com und lebenswertesBern! Für einfortschrittliches 2x aufjedeListe Stadtrat am 30.NovemberindenBerner Dan Aron Riesen RESTAURANT BAR TAKE AWAY BEIM BAHNHOF, BERN interwerk gmbh-

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KULTUR & GESELLSCHAFT über den dächern von bern Von Bettina Hersberger Bild: Marie-Therese Lauper

■ Sechsundachtzig, siebenundachtzig, acht- «Sie sind also die höchste Bernerin», spricht ein Punkt drei Uhr nachmittags hat die Betglocke undachtzig… Die einen zählen laut, andere leise, einheimischer Besucher sie schmunzelnd an. Auf ihren Auftritt. Die mehrere Tonnen schwere Glocke wieder andere werden sich vielleicht ärgern, dass jeden Fall hat sie die Stadt Bern unter sich und mit hängt exzentrisch in der unteren Glockenstube und sie nicht rechtzeitig mit dem Zählen angefangen grosser Wahrscheinlichkeit ist sie die «höchste» versetzt mit ihrem Schwingen den 100 Meter ho- haben. Hundertachtundsechzig, hundertneunund- Angestellte der Schweizer Hauptstadt. Die ehema- hen Münsterturm in ein Ungleichgewicht, so dass sechzig – wie viele kommen da noch? 222 Stufen lige Lehrerin mit St. Galler Dialekt und strahlen- dieser ins Wanken gerät. Aber eine Münsterwartin dauert’s, bis man sich die Wendeltreppe zur ersten den blauen Augen ist Münsterwartin mit Leib und ist wind- und wetterfest und garantiert schwindel- Galerie des Berner Münsterturms hochgeschraubt Seele. Sie spricht mindestens fünf Sprachen und frei. So leicht bringt sie nichts aus der Ruhe. Auch hat. Ganz schön atemberaubend – nicht nur der versteht es, sich mit den Touristen aus aller Welt nicht an Silvester, wenn ihr eine ganz besondere Aufstieg, auch die Aussicht auf das rote Dächer- zu unterhalten. Japanisch würde sie gerne lernen. Aufgabe zukommt: Um Mitternacht muss sie zwölf meer aus 46 Metern Höhe. Dort oben herrscht ein Auf den japanischen Reiseplan gehört seit jüngs- Mal die Burgerglocke schlagen – eigenhändig und guter Turmgeist. ter Zeit auch ein Besuch des Berner Münsters, von mit Militärohrenschutz. So wird das neue Jahr tra- Marie-Therese Lauper zählt die Stufen nicht. dessen Turm aus Eiger, Mönch und Jungfrau zum ditionell eingeläutet und ein uralter Brauch fortge- Auch kommt sie schon lange nicht mehr ins Greifen nah sind. setzt. Schnaufen beim Aufstieg zu ihrem Büro auf der Manche Leute erklimmen den Turm nur, um sich Schulklassen, Reisegruppen, verliebte Paare ersten Galerie. Der ungewöhnliche Arbeitsweg ei- mit der Münsterwartin zu unterhalten. Sie hat ein und Familien drängen sich auf der Plattform. Der ner ungewöhnlichen Frau: Seit dem 1. September offenes Ohr für alle und weiss eine Menge zu er- Turmwartin sind alle Besucher willkommen. Dann 2007 ist Marie-Therese Lauper Münsterwartin von zählen: über Bern, über das Münster, über die Men- und wann jagt sie einem verirrten Turmgast hin- Bern. Nicht die erste Münsterwartin, aber die ers- schen. Woher sie all ihr Wissen nimmt? 25 Jahre terher, der – die Hinweisschilder übersehend – ge- te, die nicht im Turm wohnt. lang war sie Stadtführerin von Bern. «Da kann ich rade durch das falsche Treppenhaus absteigen will. Mehr als fünfhundert Jahre Geschichte schreibt aus dem Vollen schöpfen», sagt sie vergnügt. Ob Eine stattliche Seniorengruppe hat sich versehent- der Münsterturm. Beim Rundgang auf der ersten es sich um die Substanz des Bauwerks, um Sagen lich aufgemacht, gegen den Strom zu schwimmen. Galerie begegnet man Zeitzeugen des späten 19. und Mythen oder um tierische Turmgäste handelt, Da hilft nur noch eins: Bauch einziehen. Aber nor- Jahrhunderts an der Turmmauer: Konsolenfi guren sie weiss auf jede Frage eine Antwort. Gar mit den malerweise geht der Abstieg leichter und rascher, von Personen, die am Ausbau des Turms beteiligt Engelhierarchien kennt sie sich aus. Kein Wunder, obwohl da die Treppe 32 Stufen mehr zählt als waren – vom Präsidenten des Münsterbauvereins wenn man so nah am Himmel arbeitet. Woher auch beim Aufstieg. Hinunter wendelnd wird Gast we- bis hin zum Steinmetz. Zusammen mit diesen he- immer sie die Inspiration nimmt, die Turmchefi n niger von Atemnot als vielmehr vom Drehwurm rausragenden Persönlichkeiten hält Marie-Therese setzt ihre Ideen um: Sie entwickelt neue Führun- befallen. Lauper Wacht auf dem Turm. Während früher die gen, produziert Prospekte, zeigt das Münster und Turmwächter noch Ausschau hielten nach Feuer- seinen Turm immer wieder von einer neuen Seite. zeichen – sogenannten Chutzenfeuern –, so betreut Die Aufnahmen für die Postkarten, die im Ständer die heutige Turmwartin umsichtig die Touristen. zum Kauf bereit stehen, macht sie selber. www.bernermuenster.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 21 MMusikusik

cd-tipps von Antonio Suárez Varela

Blues Traveler – North Hollywood Shootout (Minnie Riperton), «Body Heat» (Quincy Jones) oder haften geblieben ist. Das mit zwölf Songs aufwarten- ■ Obwohl in den USA das Genrebewusstsein weit- «If I Ever Lose This Heaven» (Quincy Jones / Average de neue ist ein Groove-Feuerwerk erster Güte aus stärker ausgeprägt ist als in Europa, schaffen White Band) mit Leon Ware in Verbindung zu setzen. und macht Lust auf mehr. Die Band ist am 1. Novem- es jenseits des Atlantiks immer wieder Bands in den Seine Arbeit erstreckt sich aber auch auf die nächste ber am Zürcher JazzNoJazz zu Gast. Mainstream, die ebendiese Grenzen überbrücken. Zu Generation. So produzierte er u. a. für Maxwell, Omar, Info: Brooklyn Funk Essentials, «Watcha Playin’» (Tro- diesem Typ Band gehören Rockgruppen wie Dave John Legend, Zhané oder Ice Cube. Die wohl beste pical Music / Sony BMG) Matthews Band oder Robert Randolph & The Family Zeit als eigenständiger Künstler hatte der grosse www.brooklynfunkessentialsmusic.com Band. Ihnen gemeinsam ist, dass sie es trotz grossem Liebhaber brasilianischer Musik in der zweiten Hälfte Erfolg, in Europa nicht geschafft haben. Ähnlich ver- der 70er und Anfang der 80er Jahre. «Musical Mas- Keziah Jones – Nigerian Wood hält es sich mit der seit zwanzig Jahren bestehenden sage» von 1976 bleibt ein Meilenstein seines Schaf- ■ Der Botschafter und Erfi nder des «Blufunk» — ei- Band Blues Traveler. Das von Frontmann John Popper fens. Seinem Stil ist der «Sensualist of Soul» über ner Mischung aus Funk und akustischem Blues — ist (Gesang / Harmonika) 1987 in Princeton mitbegrün- die Jahre treu geblieben. Seine geschmeidig-warme zurück mit einem neuen Album. «Nigerian Wood» detes Quintett vermischt gekonnt Blues mit Rock und Bettfl üsterstimme und erotischen Liebesoden prä- ist, wie der Name schon andeutet, eine Hommage Folk zu einem Mix, der besonders beim Live-Publikum gen sowohl seine frühen wie seine neueren Werke. an sein Heimatland Nigeria. Keziah beschreibt sein ankommt. Die aus der Jam-Band-Szene entstandene Nach vier in Eigenregie produzierten Alben, gibt er neues Album als Afro-Soul mit politischer Sozialkri- Formation hat bisher acht Studio- und vier Live-Alben nun mit «Moon Ride» sein Debüt auf dem neubeleb- tik. Es ist auch Ausdruck seines Stolzes, dem Volk der aufgenommen, wovon sechs Gold oder Platin er- ten Stax-Label. Wenn von den zwölf Titeln überhaupt Yoruba anzugehören. Der vor 17 Jahren in der Pariser reicht haben. Nach diversen Schicksalsschlägen hat welche besonders hervorzuheben sind, dann wohl am Metro entdeckte Künstler frönt zwar weiterhin seiner sich die Band wieder aufgefangen und ist bereit, Eu- ehesten «Smoovin’» und «I Never Loved So Much». gewohnten Melange aus Afro-Beat, Funk, Rock und ropa zu erobern. Ihr neues Album «North Hollywood Nicht nur Kennern wärmstens zu empfehlen. Blues, diesmal aber ist der Sound «grooviger», vor al- Shootout» entstand in Zusammenarbeit mit dem Info: Leon Ware, «Moon Ride» (Stax Records / UMG) lem weil Perkussion, Schlagzeug und Bläser verstärkt Grammy-Gewinner David Bianco. Obwohl ihrem cha- www.leonware.com zum Einsatz gelangen. In «Blue Is The Mind» ist dies rakteristischen Blues-Rock mit jazzigen Untertönen dank dem Baritonsaxophon und der Bassklarinette verpfl ichtet, öffnet sich der Sound der neuen Platte Brooklyn Funk Essentials - Watcha Playin’ besonders augenfällig. Für die Perkussion war Produ- dem Pop-Mainstream. «You, Me And Everything» so- ■ Nach achtjähriger Pause feiert das Bandkollektiv zent Karriem Riggins aus dem Nu-Soul-Bereich ver- wie «Orange In The Sun» fügen sich noch am ehes- Brooklyn Funk Essentials mit «Watcha Playin’» das antwortlich. Das Resultat ist die Verschmelzung zwei- ten ins klassische Songrepertoire ein. Für die Über- lang ersehnte Comeback und gleichzeitig das 15-jäh- er Musiktraditionen: afrikanischer Avantgardismus raschung sorgt der groovende Abschlusstrack mit rige Bestehen. Die neue Studioproduktion entstand und Black Music. Die teilweise völlig verschiedenen einem Gastauftritt von Bruce Willis. Zu den grossen unter der Leitung von Gründungsmitglied Lati Kron- musikalischen Ingredienzien machen aus «Nigerian Leidenschaften des Helden von «Stirb Langsam» ge- lund und baut auf dem klassischen Line-up auf. Neu Wood» ein sehr spannendes und komplettes Werk. hört ja bekanntlich die Musik. dazu gestossen für das vierte Studioalbum sind der Aus dem starken Album heben sich «Beautifulblack- Info: Blues Traveler, «North Hollywood Shootout» türkische Klarinettist Hüsnu Senlendirici, die tunesi- butterfl y», «My Kinda Girl», «Long Distance Love» (Verve / UMG) - www.bluestraveler.com sche Rai-Diva Amina Annabi und der Gitarrist Masa oder «Lagos Vs. New York» ab. Auch lyrisch geht er Shimizu. Die in den frühen 90er Jahren in der New verschiedene Wege. Liebestexte wechseln sich ab mit Leon Ware – Moon Ride Yorker Hip-Hop-Jazz-Szene gegründete Formation Songs wie «1973 (Jokers Reparation)», wo es um Glo- ■ Sehr wahrscheinlich gibt es viel mehr Leute, die entwarf die neuen Songs auf der Reunion-Tour von balisierungskritik geht und namentlich die Schweiz zwar seine Songs, nicht jedoch den Musiker kennen. 2007. Aufgenommen wurde in New York, Paris, Ams- als internationale Bankdrehscheibe für Fluchtgelder Leon Ware ist längst eine lebende Legende. Der Song- terdam, Stockholm und Istanbul. Der kosmopolitische nicht gerade gut wegkommt. Der Einstieg in die hiesi- writer, Produzent und Sänger aus Detroit ist in erster Rahmen und das farbige Cover passen zum Sound. gen Charts war aber trotzdem vielversprechend. Linie bekannt für das Album «I Want You» (1976), das Die Band schlägt den Bogen von Balkan-Ska über jaz- Info: Keziah Jones, «Nigerian Wood» (Because Music/ er für Marvin Gaye geschrieben und produziert hat, zigen House zu Dub-Reggae und mischt Afrobeat mit Warner) - www.keziahjones.com obwohl das Material ursprünglich für eine eigene LP orientalischen Melodiebögen. Der wilde Stilritt erin- vorgesehen war. Die Liste seiner Zusammenarbeiten nert an das legendäre Debütalbum «Cool and Steady Brown Sugar Presents: Funk Ain’t A Word der letzten vier Jahrzehnte ist erdrückend. Nicht vie- and Easy» von 1994, das vor allem dank der herrli- ■ Eine der besten Rare-Groove-Compilations der le kämen auf den Gedanken, Songs wie «I Wanna Be chen Coverversion von Pharao Sanders’ Klassiker letzten Jahre ist zweifelsohne die vom Brown-Sugar- Where You Are» (Michael Jackson), «Inside My Love» «The Creater Has A Master Plan» in der Erinnerung Team zusammengestellte Reihe «The Manifesto Of

22 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 MMusikusik

Groove». Allen bisher erschienenen CDs ist gemein- früher auf die Idee gekommen ist. Zwar ist die Wahl sam, dass sie im Titel das Wort «Funk» enthalten. ■ Gerald Albright gehört zu den vielseitigsten Sa- des Repertoires nicht besonders originell, doch wer In der Tat wird dem Funk auf diesen Sammelalben xophonisten des zeitgenössischen Jazz. Zu den hat schon einmal eine «fl amencoisierte» Version grossen Platz eingeräumt. Auch die neueste Veröf- prägenden Einfl üssen des seit Mitte der 80er Jahre des Flack-Klassikers «Killing Me Softly» gehört. Der fentlichung aus dem Hause Brown Sugar wartet mit aktiven Kaliforniers gehören der Funk des ehemali- Weg führte ihn von Ayamonte nach Mississippi und einigen musikalischen Leckerbissen aus den 70er gen James-Brown-Saxophonisten Maceo Parker und Chicago, wo er mit den Grössen des Fachs auftrat: Jahren auf. Da treffen der Souljazz eines Jimmy der Souljazz von Cannonball Adderley. Der gefragte Paco de Lucía und José Mercé. Auf Tournee wird McGriff auf den Space-Funk der Headhunters und der Sessionmusiker hat bereits mit Künstlern wie Anita er begleitet von den Gitarristen des Habichuela-Fla- Fusion-Jazz von Joe Farrell auf den Jazz-Funk eines Baker, Ray Parker Jr., The Temptations, Quincy Jones, mencoclans und dem Gospelchor The Black Heritage Eddie Henderson und den P-Funk von Cameo auf- Patrice Rushen, Alphonse Mouzon, Jeff Lorber, Teena Singers. Der Erfolg ist für einen konventionellen Fla- einander. Eines der ultrararen Stücke ist «Who Got Marie oder Chaka Khan zusammengearbeitet. Zum mencosänger beispiellos. Das Album ist in die Top Ten De Funk?» des Funkateers Andrew White. Ein weite- zweiten Mal seit 1998 veröffentlicht Albright nun mit vorgestossen und hat nach über 40’000 Tonträgern res Highlight ist der Song «Funk – O – Notes» von den «Sax for Stax» ein Album als Hommage zu der Musik, Goldstatus in Spanien erreicht. Seine Konzerte sind Ohio Players. Das Sammelalbum gibt es für Freunde die ihn geprägt hat. War «Pleasures Of The Night» restlos ausverkauft. In gewisser Weise rückt Pitingo des Vinyls übrigens als Doppelalbum im Gatefold- mit Sänger noch dem Motown-Sound mit «Soulería» in ein Gebiet nach, das vor ihm bereits Format. Selbstverständlich enthält das Booklet Ab- gewidmet, so erweist er diesmal mit «Sax for Stax» die Mallorquinerin Concha Buika mit ihrer Fusion aus bildungen des Originalcovers und informiert in Kurz- dem Memphis-Soul seine Reverenz. Als letztes Jahr Flamenco, House und Funk erschlossen hat. überblicken über die Bands. zum fünfzigjährigen Jubiläum von Stax Records, die Info: Pitingo, «Soulería» (Emarcy / Universal) Info: «Brown Sugar Presents: Funk Ain’t A Word » Concord Music Group, die mittlerweile die Rechte an (Brown Sugar Records / ZYX Music) den alten Stax-Aufnahmen besitzt, das Label wieder Brian Culbertson • Bringing Back The Funk www.o-tonemusic.com belebte, entstand die Idee eines Coveralbums. Das 11. ■ Das neue Album des Jazz-Keyboarders Brian Cul- Studioalbum von Albright enthält nebst acht Neuin- bertson ist das, was man die Verwirklichung eines Bu- Recloose - Perfect Timing terpretationen von Stax-Klassikern auch drei Eigen- bentraums nennt. Der Titel ist nicht hohles Statement, ■ Das dritte Studioalbum von Matthew Chicoine alias titel, die im Duktus des Southern Soul gehalten sind. sondern Programm. Mehr noch: im Line-up vertreten Recloose ist bester Elektrofunk mit Retroanklängen Auch diesmal übernimmt Albright verschiedene Parts ist die Crème de la Crème der besten Sessionmusiker an die frühen 80er Jahre. Dem DJ aus Chicago dien- (Alt-, Bariton-, Tenorsaxophon, Bassgitarre, u. a.). Für des Westcoast-Funk. Larry Graham von Sly & The Fa- te der Soul und Funk aus dieser Zeit als Inspiration. die Stücke mit Vokalparts setzte er nebst Will Dow- mily Stone und Graham Central Station, Larry Dunn Der Wahlneuseeländer ist im Techno zu Hause. Sein ning auf von Earth Wind & Fire sowie auf und Sheldon Reynolds von Earth Wind & Fire, Greg Einstieg ins Musikgeschäft geht auf die Zusammen- Shootingstar Ledisi, die «Respect Yourself» von den Adams von Tower Of Power, Tony Maiden und Bobby arbeit mit Technopionier Carl Craig zurück. Nach Staple Singers mit ihrer Stimmgewalt den nötigen Watson (von Rufus), Michael Bland, Cora Dunham und acht Jahren Musikstudium und Saxophonausbildung Drive verpasst. Alles in allem eine gelungene Smooth- Rhonda Smith (von Prince) sowie namhafte Solostars richtete er seinen Fokus verstärkt auf die Arbeit im Jazz-Variation der alten Stax-Hits. wie Ray Parker Jr., David T. Walker, Ronnie Laws, Ge- Studio und hinter den Plattentellern. Seit 2001 schon Info: Gerald Albright, «Sax For Stax» (Peak Records / rald Albright, Tom Scott, ausserdem die Gastmusiker existiert das Projekt Recloose. Für Live-Auftritte kann UMG) - www.geraldalbright.com Bootsy Collins und Maceo Parker. Weitere Featurings Chicoine seit 2005 auf eine achtköpfi ge Band zählen. sind die beiden Soul-Newcomer Musiq Soulchild und Der Sound auf «Perfect Timing» ist eine Mischung Pitingo - Soulería Ledisi. Das Album wurde von EWF-Gründer Maurice aus elektrisierender Dance-Musik, erdigem Funk ■ Mit dem zweiten Album des aus Huelva stammend- White produziert und in nur fünf Tagen in einem und weichen Soul-Harmonien. Was auffällt, sind die en Sängers Antonio Álvarez Vélez alias Pitingo bahnt Live-Set aufgenommen. Culbertson erfüllte sich mit knackigen Beats. Heiss sind die tanzbaren Uptempo- sich im Mutterland des Flamenco eine Revolution an. diesem Projekt einen Jugendtraum. «Das Bild mit Nummern «So Cool» oder «Emotional Funk», aber Puristen des Establishments werden wettern gegen dem kleinen Jungen auf dem Cover ist ein Foto, das auch die Lowtempo-Tracks «Daydream» und «Deeper den Erfolg dieses erst 27-jährigen Cantaors, denn er meine Mutter 1975 aufgenommen hat. Es zeigt mich, Waters» mit Joe Dukie (vocals) haben es in sich. wagt es, klassische Flamenco-Themen mit bekannten wie ich mir am Boden sitzend eine Platte von Earth Recloose ist in der Sparte Dance und Elektro für den Soulsongs und Pophits zu vermischen und fügt sich Wind & Fire anhöre», schreibt er in den Liner Notes. New Zealand Music Award nominiert, der Anfang Ok- auch auch in Habitus und modischer Erscheinung Das Album enthält sechs Originale und vier Funkklas- tober verliehen wird. Das Album wird in Europa vom nicht so recht ins Fach. Seine genial einfache Formel siker der 70er, unter anderem eine Neuinterpretation Berliner Label Sonar Kollektiv vertrieben, das Jaz- lautet: Soul + Bulería = Soulería. Der frisch vermählte von Kool & The Gangs «Hollywood Swinging». Resul- zanova gegründet hat. Sprössling einer Musikerfamilie kam mit elf Jahren in tat dieses Allstars-Livekonzepts ist ein zeitgemässes Info: Recloose, «Perfect Timing» (Sonar Kollektiv) Berührung mit der Schwarzen Musik und sang sechs Funkalbum, das nicht nur den Afi cionado begeistern www.recloose.com Jahre lang in einem Gospelchor. Die Fusion von Cante wird. und Soul ist so verblüffend frisch und zugänglich, Info: Brian Culbertson, «Bringing Back The Funk» dass man sich fragen muss, weshalb man nicht schon (GRP Records / UMG) - www.brianculbertson.com ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 23 MMusikusik

JAZZ «auch jazz kann poppig sein» Interview von Konrad Weber mit Stephan «Gesa» Geiser, Leadtrompeter des Swiss Jazz Orchestra und Produzent

der CD «Buebetröim» Bild: Stephan Geiser / Foto von Reto Andreoli ■ Fünf Wochen war sie in den nationalen und Wir wären mit weniger Zuhörern nicht weniger mo- mich, zumal wir ja mit 35 Musikern und Technikern über ein Jahr in den i-Tunes-Charts: Die Pop-Platte tiviert zu spielen, doch mit diesem Zuhörerzuwachs unterwegs waren. «Buebetröim» des Swiss Jazz Orchestra (SJO). Es erhielten wir nach fünf Jahren harter Aufbauar- Kann denn heutzutage nur noch mit Popmu- war das erste Mal, dass es einer Big Band gelang, beit den lang ersehnten Dank und die Gewissheit, sik bei der grossen Masse gepunktet werden und mit ihrer CD die Schweizer Hitparade zu stürmen. dass unsere Musik auch in Zukunft erwünscht ist. wurde der Jazz als musikalische Stilrichtung Grund genug, um die Band genauer unter die Lupe Denn sicherlich auch ein Ziel des «Buebetröim»- demnach an den Rand gedrängt? zu nehmen und sie auch in Zukunft genau zu beob- Projektes war es, ein etwas anderes Publikum an- Dies ist eine schwierige Frage. Bedenkt man achten. zusprechen. Vor allem erfreute mich aber, dass das die Entwicklung der musikalischen Stilrichtungen, ensuite - kulturmagazin sprach mit dem Produ- Publikum nicht nur wegen dem bekannten Projekt kommt man zum Schluss, dass der Jazz vor allem zenten des Erfolgsprojekts, Stephan «Gesa» Geiser uns anhören kam, sondern auch regelmässig bei in den 30er bis in die 60er Jahre die Tanzmusik über erfüllte Buebetröim, anstehende Projekte und anderen, eher klassischen Monday Jazz Nights im prägte. Diese Stücke waren denn meist auch in die Kunst, ein Topteam von Musikern bei Stange zu Bierhübeli auftauchte. den Charts anzutreffen. Doch es entstanden neue halten. Weshalb entschied man sich in der Projekt- Stilrichtungen, die schlussendlich den Jazz aus phase für die Verbindung Pop und Big Band? den Hitparaden verdrängten. Deshalb dürfen wir Stephan Geiser, Sie müssen ein rund um Wir haben traditionell eine starke Pop- und von einem Erfolg sprechen, dass wir nach Robbie glücklicher Mensch sein. Haben sich Ihre Buben- Mundartmusikszene in Bern. Die Verbindung der Williams mit einer Big-Band-Platte den Weg zurück träume in den letzten Monaten erfüllt? verschiedenen Stilrichtungen war deshalb nahe- in die Charts schafften. Leider beweist dies aber Vor fünf Jahren war mein grösster Traum, eine liegend. Zudem spielen einige SJO-Musiker in den auch, dass heutzutage nur mit poppigem Jazz die nationale Big Band mit internationalem Ruf aufzu- Horn Sections einzelner Mundartbands mit. Der Kategorie der erfolgreichen Musikstücke erobert bauen. Ein Orchester, das auf hohem Niveau spielt als einmalig gedachte Gala-Auftritt einiger Berner werden kann. Dies kann manchmal etwas frustrie- und zugleich Bestand hat. Damit meine ich regel- Sänger mit dem SJO im Bierhübeli im November rend sein, vor allem, weil wir Jazzer im Gegensatz mässigen Proben- und Konzertbetrieb und profes- 2006 gab mir dann quasi die Initialzündung zu zu den Popmusikern in meist viel kleineren Dimen- sionelle Organisationsabläufe im Hintergrund. Das «Buebetröim». Schmidi Schmidhausers eigene sionen rechnen müssen. Aber wir kennen diese SJO konnte glücklicherweise in den letzten Jahren Songs liessen sich bestens für Orchester arrangie- Unterschiede seit langem und haben uns irgendwie zu einem solchen Orchester auf- und ausgebaut ren und interpretieren. Die Idee war geboren… damit arrangiert. werden. Eine grosse Ausnahme! Haben Sie denn auch im Vorfeld der Platten- Über die Wintermonate tritt das SJO jeden Der zweite Traum betrifft tatsächlich das veröffentlichung von guter Kritik geträumt? Montagabend im Bierhübeli auf. Vermisst man «Buebetröim»-Projekt. Ich bringe leidenschaftlich Eigentlich war es kein Träumen oder Hoffen. als Musiker während der Sommerzeit diese Kon- gerne unterschiedlichste Leute zusammen, um Viel mehr hatte ich das Gefühl, dass die Platte ein zerte? diese anschliessend für ein gemeinsames Projekt Erfolg wird. (lacht) Es war ein Bauchgefühl, das mir Jedes Mal, wenn im Mai die Saison zu Ende begeistern zu können. sagte: dieses Projekt wird in irgendeiner Form für geht, bin ich etwas erleichtert. Denn acht Monate Sie begeisterten allem Anschein nach mit Furore sorgen. Einerseits war da die Mischung von wöchentlich ein anderes Programm einzustudieren dem Projekt «Buebetröim» nicht nur die Mu- Mundartsongs mit englischsprachigen Songs und und darzubieten, ist ziemlich anstrengend. Aber siker, sondern auch das Publikum. Bald einmal auf der anderen Seite sah das Projekt vor, Sänger kaum beginnt die Sommerpause vermisst man waren ihre wöchentlichen Montagskonzerte im nicht zu überreden, Jazzstandards zu singen. Das die Konzerte und die musikalische Abwechslung. Bierhübeli randvoll. Wie erlebten Sie als Musiker führte dazu, dass sich die Sängerinnen und Sänger Das führt dazu, dass sich kurz vor Saisonstart alle das plötzliche Interesse am SJO? mit ihren eigenen Songs extrem wohl fühlten. Was Bandmitglieder wieder extrem auf die neue Saison Das hat natürlich enorm motivierend. Wir Mu- jedoch über das Konzept hinaus entstanden ist – freuen. Hinzu kommt, dass man einige Mitmusiker siker waren jeden Montag von Neuem überrascht, dass zum Beispiel plötzlich Anfragen da waren, an in den Sommerferien etwas aus den Augen verliert, wie viele Leute im Saal sassen oder sogar standen. grossen Festivals aufzutreten – überraschte auch denn die meisten Bandmitglieder haben ihre eige-

24 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 nen Projekte, treten zum Beispiel mit Popbands an und uns auch bewusst. Wir sind ihnen dafür auch Als Gegenpol zur leichteren Kost wie «Buebe- Festivals auf oder gehen ins Ausland. Unser Zu- sehr dankbar. Ihre Zusagen für das Mitwirken auf tröim» versuchen wir in musikalisch anspruchsvol- sammenhalt im Orchester und die Freude an der «Buebetröim» hat die Hemmschwelle des gesam- len Projekten wie das Klee- oder das Stockhausen- Musik, die wir auch auf der Bühne ausleben, sind ten Projekts etwas gesenkt und unsere Zuversicht Projekt mit der Berner Camerata, uns selbst zu sicherlich Punkte, die das SJO wesentlich auszeich- für ein erfolgreiches Gelingen einer etwas unge- fordern. Damit halten wir auch unsere eigenen nen. wöhnlichen musikalischen Verbindung gestärkt. Qualitätsansprüche hoch. Deshalb planen wir auch Man spürt förmlich die Vorfreude auf das Beide hatten aber auch extrem Spass, am Projekt unser nächstes klassisches Jazzprojekt zusammen kommende Jahr. Welche Highlights werden im teilzunehmen und haben ihre Freude spürbar ins mit Bert Joris und Michael Zismann. Auch hier eine 2009 auf dem Programm stehen? Orchester einfl iessen lassen. Dies hat wiederum eher unkonventionelle Verbindung von Bandoneon Wir planen erneut zwei verschiedene CD-Pro- alle anderen Musiker befl ügelt. Ein schönes Ge- und Big Band. Wir freuen uns schon riesig auf diese jekte. Im März 2009 produzieren wir zusammen fühl. Zusammenarbeit. mit Bert Joris (Conductor, Arrangeur) und Micha- Ich kann mich an ein «Buebetröim»-Kon- Nun feiert das Swiss Jazz Orchestra in die- el Zismann (Bandoneon) eine Platte, die wir Ende zert des SJO erinnern, bei welchem Polo Hofer ser Saison auch sein fünfjähriges Bestehen. Wie Mai im Bierhübeli taufen möchten. Im Herbst, also krankheitshalber ausfi el. Man ersetzte ihn durch steht es um die Big Band in fünf weiteren Jah- Mitte Oktober 2009 sollte dann «Buebetröim» Vol. den Frontsänger von Plüsch, Andreas «Ritschi» ren, beim zehnjährigen Jubiläum? 2 erscheinen. Dazu haben wir erneut acht Schwei- Ritschard. Wie steht es um ihn in der zweiten Ich werde alles daran setzen, diese Big Band zer Rock- und Popsänger und -sängerinnen einge- Ausgabe? aufrechtzuerhalten. Zehn Jahre wären für mich zu laden. Ihre Songs werden erneut für das SJO von Ich merke schon, du möchtest mehr Namen aus wenig. Da immer wieder junge Hochschulabgänger unseren Arrangeuren, Philip Henzi und Johannes mir rauskriegen. (lacht) Na gut, ich denke, dass Rit- in die Big Band integriert werden, habe ich auch Walter massgeschneidert. Ende 2009 sollte dann schi ein sehr würdiger Ersatz für Polo Hofer war, keine Bedenken, dass sich mein Wunsch erfüllt. die Tournee zur «Buebetröim»-CD Vol. 2 mit etwa er machte einen super Job. Die Herausforderung, Zentral bleibt aber auch in fünf Jahren die Freude zwölf Konzerten starten. Lieder von Polo zu übernehmen und sie mit eben- und Begeisterung an der Musik. Ich bin mir sicher, Die «Buebetröim» sind also noch nicht aus- so viel Engagement vorzutragen, war sicher nicht dass wir diese auch in fünfzehn Jahren noch haben geträumt, wie versucht man sich da von der ganz einfach. Nicht zuletzt auch als Dankeschön werden. Und an Ideen für weitere Projekte mangelt ersten Platte abzuheben, damit nicht eine Kopie für seine spontane Zusammenarbeit, war es mir es mir und uns bestimmt nicht. Lasst euch überra- des ersten Werks entsteht? völlig klar, dass er bei einer zweiten «Buebetröim»- schen, was das SJO in Zukunft noch alles bietet. Die zweite «Buebetröim»-CD muss sich über- Runde mit von der Partie sein würde. Ritschi hat haupt nicht von der ersten abheben. Das wäre völ- es verdient, diese spezielle Plattform zu erhalten. Das Swiss Jazz Orchestra spielt jeden Montag lig falsch. Ich sehe dies vielmehr als eine künstleri- Abgesehen davon können auch wir stolz sein, ihn ab 20:00 h im Bierhübeli. Weiter Informationen zur sche Fortsetzung einer geglückten Verbindung von an Bord zu haben, denn er ist unbestritten einer Big Band fi nden Sie unter: Popmusikern mit einem Jazzorchester. Warum soll der grössten Stimmungsmacher im Schweizer Pop www.swissjazzorchestra.com. ein Projekt nicht weiterverfolgt werden, wenn so und zudem ein ausgezeichneter Sänger. Die Konzertsaison 08/09 beginnt am Montag, viele beteiligte Musiker ihren Spass dabei hatten. Wie stellt ihr sicher, nicht nur auf die 6. Oktober mit dem Specialguest Jim McNeely. Das Andererseits wechselten wir die Sänger grössten- «Buebetröim»-Platte reduziert zu werden? Jubiläumskonzert zum fünfjährigen Bestehen fi n- teils aus, was wiederum zu neuen Herausforderun- Ich traf vor einigen Tagen Bert Joris, der kürz- det am 10. November 08 statt. gen führt. Selbstverständlich kann ich zu diesem lich in New York das be- Zeitpunkt noch nicht alle Sänger bekanntgeben. rühmte Village Vangu- Nur eine Kleinigkeit sei hier festgehalten: In der ard Orchester dirigierte. Schweiz gibt es genügend gute Künstlerinnen und Als er wieder in der Künstler, mit welchen es sich lohnt, ein solches Pro- Schweiz war, erzählte er jekt mit einer Big Band zu realisieren. Ich habe sehr mir, dass das SJO in der lange darüber nachgedacht, welche Sänger für Vol. amerikanischen Jazz- 2 zum SJO passen würden. Meine Erfahrung und szene in aller Munde mein Gefühl sagen mir, welche acht Sängerinnen sei. Man nehme unsere und Sänger zusammen mit dem SJO an den Erfolg Big Band sehr wohl als der ersten Platte anknüpfen könnten. So kann ich eines der europäischen bereits heute verraten, dass Sina und Freda Good- Toporchester wahr. Dies lett bei der zweiten Ausgabe erneut mit von der aber vor allem mit den Partie sein werden. Für beide Sängerinnen hatte klassischen Jazzkompo- ich echt Mühe, Pendants an Frauenstimmen auf sitionen, wie wir sie zum diesem Level zu fi nden. Sina ist für mich unbestrit- Beispiel auf der Paul- ten die Mundartsängerin Nummer 1 der Schweiz Klee-Platte zusammen und Freda ihr Pendant in Englisch. Beide verfügen mit Jim McNeely inter- über eine starke Stimme, um mit einer Big Band pretierten. Im Gegen- interwerk gmbh zu harmonieren. Ich bedaure es etwas, dass es in satz dazu erlangte das Kulturmanagement | Consulting der Schweiz vor allem an starken Frauenstimmen «Buebetröim»-Projekt mangelt. Aber wer weiss, vielleicht fi nde ich ja noch vor allem in der Schweiz eine zusätzlich passende Lady… Anerkennung, denn Sandrainstrasse 3 | CH-3007 Bern Aber nicht nur die Frauenstimmen trumpften schlussendlich versteht Telefon +41(0)31 318 6050 auf. Grossen Erfolg konntet ihr auch dank den man ja ausserhalb un- Email [email protected] beiden Berner Sängern, Büne Huber und Kuno serer Grenzen kaum ein www.interwerk.ch Lauener feiern? Wort der Mundartge- Dass sie uns beim Erfolg mithalfen, ist völlig klar sangstexte. ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 25 66 Saiten.Saiten.

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Künstler, Zauberer, Visionär und Dandy auf der Suche nach Perfektion. The World Famous Eröffnung: 11.9.08, 18h30

© Estate of James Lee Byars; Courtesy Galerie Michael Werner, Köln, Berlin und New York CountBASIE Emil Zbinden

Orchestra Swing Swing Swing! Für und wider die Zeit 'SFJUBH  ,VMUVS$BTJOP#FSO6IS 19.9.08 – 18.1.09 &JO[JHFT,PO[FSUJOEFS4DIXFJ[ Die Retrospektive anlässlich des 100. Geburtsjahres zeigt das engagierte Werk des Berner Holzschnittkünstlers. VORVERKAUF: XXXBMMCMVFTDItXXXUJDLFUDPSOFSDPN Eröffnung: 18.9.08, 18h30 5FM $)'NJO .BOPS 4## %JF1PTU #&3/0MNP5JDLFU 5IBMJBt'3*#063(0GGJDFEV 5PVSJTNFt7&3"/45"-5&3"MM#MVFT,PO[FSU"( XXXBMMCMVFTDI JO;VTBNNFOBSCFJUNJU.VTJD-JOF#F+B[[ © 2008 Nachlass Emil Zbinden Kunstmuseum Bern CCinémainéma

KINO kino ohne museum Von Jasmin Amsler – Warum das Kino Kunstmuseum mit dem Kunstmuseum nicht (mehr) viel verbindet Bild: zVg.

■ Kino Kunstmuseum - ein Name, der nicht ganz «Klein, aber fein», so oder ähnlich könnte das massen. Ausserdem wirkt sich die räumliche Nähe hält, was er verspricht. Obwohl in den Räumlich- Motto des Kinos Kunstmuseum heute heissen. zum Kunstmuseum, trotz allem, bis heute auf den keiten des Berner Kunstmuseums untergebracht, «Klein» sind die Räumlichkeiten im Untergeschoss Inhalt aus. Kunstfi lme oder Künstlerportraits sind hat das Kino mit dem Museum wenig gemeinsam. des Museums. Neben dem Foyer mit einer winzi- durchaus häufi g im Programm zu fi nden. Ganz Im Gegenteil. Den Kinobetreibern ist es wichtig, als gen Bar liegt der Kinosaal. 119 Filmliebhaber fi nden allgemein versucht das Kino aber alle Genres und selbständiger Kulturbetrieb und unabhängig vom darin Platz und auf deren Besuch hofft das Kino Epochen abzudecken und will einen Beitrag zur angrenzenden Museum wahrgenommen zu wer- sehr, denn als teilsubventionierte Institution muss fi lmhistorischen Bildung leisten, letzteres ist auch den. es rund die Hälfte des Budgets von durchschnitt- im Leistungsauftrag der Stadt festgelegt. Mit ande- Das war natürlich nicht immer so. Gegründet lich 380’000 Franken selbst erwirtschaften. «Fein» ren Schweizer Programmkinos wie das Stadtkino in wurde das Kino 1983 durch das Kunstmuseum. sind dagegen die Filme. Nicht Events stehen hier Basel oder das Xenix in Zürich verbindet das Kino Das damalige Kino im Kunstmuseum und einzige im Vordergrund, sondern das bewegte Bild. Bei Kunstmuseum zudem ein reger Kontakt. Nicht sel- Schweizer Museumskino war eng mit der Kunst- Premieren schauen oft bekannte Gesichter vorbei: ten werden Filme gemeinsam eingekauft oder Ret- institution verbunden und entsprechend stark ins Filmemacher, Filmwissenschaftler und Kuratoren rospektiven ausgetauscht. Auf diese Weise lassen Ausstellungsprogramm integriert. Anfangs 2003 erlauben dem meist sehr bunt gemischten Kino- sich Kosten einsparen und Synergien nutzen. Denn wurde alles anders. Das Kunstmuseum musste sein publikum einen vertieften Einblick in ihr Schaffen. eins steht fest: Kinomachen geht ins Geld, egal ob Kino aus Spargründen schliessen, was einige poli- Durch die Filmauswahl und dank der Zusammen- als Museums- oder als Stadtkino. tische und gesellschaftliche Reaktionen provozier- arbeit mit verschiedenen Institutionen aus Kultur, Übrigens: Im November feiert das Kino Kunst- te. Auf Initiative der städtischen und kantonalen Bildung, Politik und Gesellschaft setzt sich das Kino museum seinen 25. Geburtstag. Zwanzig Jahre un- Filmkommission wurde daraufhin der Verein Ciné- zudem für die Pfl ege der Film- und Kinokultur ein. ter der Ägide des Kunstmuseums und fünf Jahre ville gegründet, der das Kino seither leitet und das Darüber hinaus steckten die Betreiber viel Geld als unabhängiges Kino. Gefeiert wird in kleinem, Lichtspielhaus nach fast einjährigem Filmriss im und Mühe in die Gestaltung der Flyer, Plakate und aber feinem Rahmen mit guten Filmen. November 2003 wieder eröffnete. Aus dem Kino im Programmbroschüren. Ein einheitliches grafi sches Kunstmuseum wurde das an einen städtischen Leis- Erscheinungsbild ist dem Kinoteam wichtig. tungsvertrag gebundene Kino Kunstmuseum. Im Müsste man das Kino Kunstmuseum einer Gegensatz zu früher ist die Zusammenarbeit zwi- Schublade zuordnen, so wäre das nicht eine, son- schen den beiden Nachbarn heute bescheiden. So dern gleich mehrere. Retrospektiven grosser Filmer werden noch gelegentlich Filme im Zusammenhang wie Michelangelo Antonioni oder Roman Polanski Kino Kunstmuseum, Hodlerstrasse 8, 3011 Bern mit den laufenden Ausstellungen im Kunstmuseum werden genauso gezeigt wie Werkschauen und Vorführungen jeweils von Samstag bis Dienstag. gezeigt. Von den 360 bis 400 Vorstellungen, die im thematische Reihen. Das Kino berücksichtigt dabei Weitere Informationen: Kino jährlich laufen, sind das aber nur rund 50. nationales und internationales Schaffen gleicher- www.kinokunstmuseum.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 27 CCinémainéma INSOMNIA DIETRO LA CHIESA Von Eva Pfi rter

■ Neulich diskutierte ich mit einigen römischen Freunden über die Zukunft der Kirche. Stefano war soeben von einer studentischen Reise nach Holland zurückgekehrt, wo er in einer selbigen – etwas umgebaut natürlich - übernachtet hatte. Diese Geschichte führte zu so grossem Staunen, dass ich als Nicht-Katholikin gerade noch einen draufsetzte, indem ich erzählte, dass in der Basler Elisabethenkirche regelmässig Parties veranstal- tet würden. «Che cosa??» Ein kleiner Sturm der Entrüstung brach über mich, die Personifi kation nordischen Unglaubens, herein. Als ich aber in die Runde fragte, wer denn von ihnen am Sonn- tag noch in die Messe ginge, schwiegen alle leicht beschämt. Einige Tage später aber war dann ich diejeni- ge, die staunte. Wir wollten una partita di calcio spielen – gemischt, versteht sich. Die Italiener nennen das calcio cavaliere, weil nur die Frauen Tore schiessen dürfen. Sehr amüsant übrigens, KINO da es für den normalen Mann sehr hart ist, KEINE Tore schiessen zu dürfen. Aber was tut ein echter cavaliere nicht alles, um die Frauen glücklich zu auf den boden gekommen machen. Von Lukas Vogelsang - Brahms Tierleben über die Wüste wird umgeschrieben Ich freute mich also auf einen lustigen Abend und hatte mir auch nichts dabei gedacht, dass ■ Die Wüste als magischer Ort unserer Phanta- der Kinofi lm angepriesen, das mag vielleicht etwas sich der Fussballplatz dietro la chiesa befand. sie, als Brutstätte für allerhand Unfassbares und übertrieben sein, denn diese Geschichten gehören Ich dachte, es handle sich dabei um eine grobe Unentdecktes. «Die Wüste lebt» möchte man wirk- zum Heute und haben mit unserer Zukunft oder geografi sche Umschreibung. Doch der Platz lag lich sagen, denn die Filmdokumentation von Felix Vergangenheit hoffentlich nicht viel gemeinsam. wirklich unmittelbar dietro la chiesa! Nebst den Tissi «Desert - Who is the man?» zeigt uns die ver- Wer sich in die Wüste begibt, hat einen guten Grund grünen Fussball-Teppich-Feldern gab es noch ei- meintlichen Einöden als Brutstätte von allerhand im Jetzt. Das Leben ist für den Menschen dort nen Volleyballplatz, Umziehkabinen und ein Klub- Menschlich-skurrilem. Da ist die Bernerin Cécile nicht einfach und es braucht einen überzeugenden häuschen mit Bar. Alles in nächster Nähe zur wun- Keller, welche performanceartig einen Selbstexperi- Grund, sich diesen Qualen auszusetzen. Wer mit der derschönen byzantinischen Kirche Sant’Agnese, ment mitfi lmt und mit Fliegen kämpft; da sind Wis- Wüste in Kontakt kommt, versteht vor allem eines: die sich gutmütig vom Flutlicht der Sportplätze senschafter, welcher versuchen die Wüstenzeich- Der Mensch ist sehr klein – auch geistig. bestrahlen liess und ihr Haupt majestätisch über nungen zu lesen – aber auch allerhand «Grusiges» Übrigens werden die Wüsten nicht benannt noch den schwarz in die Nacht ragenden Pinien trug. vorfi nden. Beeindruckend der religionsfanatische weiss man, welche Bilder von wo kommen. Das ist Als ich nachfragte, ob das üblich sei, dass man Selbstkünstler, der mitten in der Wüste einen Berg schön umgesetzt worden. So werden die Bilder tat- den kirchlichen Garten zu einem campo sportivo baut und bemalt – eine sehr kreative Lebensaufga- sächlich zu Sinnbildern und können als Metapher umfunktioniere, nickten alle. Keine Spur von Be- be. Religiös gibt sich auch die Pilgergruppe, welche herhalten. Der Film besteht aber hauptsächlich aus fremden über diese Tradition. Im Gegenteil: Auf- mit Fotogeräten an einem «heiligen Ort» ein digita- einer Aneinanderreihung von Geschichten, die bei grund der gemeinsamen sportlichen Aktivitäten les Erinnerungsbild knipsen. Sehr heilig. Und nicht der Recherche gefunden wurden. Eine «Botschaft» wird die römische Quartierkirche zu einem festen fehlen darf das wohl absurdeste Wüstenspektakel oder ein Ziel ist schwer auszumachen. Dies wieder- Treffpunkt der ansässigen Jugend, die ihr auch ei- «The burning man» – in diesem Universum wohl um spielt weniger eine Rolle, denn es gibt nichts Er- nige Jahre später noch die Treue halten – und sei der grösste Freaktreff überhaupt. Neben all diesen nüchterndes, als wenn der Mensch sein Spiegelbild es nur, um Fussball zu spielen. Ob der Papst wohl «Wilden» bevölkern aber auch tragische Stimmen zu lange selber betrachten muss. Wir können froh davon weiss? Und ob er wohl toleriert, dass die den oft sandigen Boden. Diese sind im Film recht sein, dass hinter diesem Selbstporträt Mensch kein ganz harten Schüsse aufs Tor manchmal abpral- leise und gehen im grotesken Lärm ein wenig unter. absichtlicher Wille steht – es wäre kaum auszuhal- len und hinaus gegen Sant’Agneses Mauer fl iegen Spannend hingegen sind die Archivaufnahmen der ten. und der Märtyrerin Ruhe stören? Offensichtlich Atomexperimente. Kaum zu glauben, zu was der Felix Tissi hat keine der Episoden zu Ende ge- muss sich auch die katholische Kirche für die Zu- Mensch fähig ist. In den Wüsten scheint sich ein fas- fi lmt. Es sind nur Ausschnitte, kleine Rätsel, die ir- kunft wappnen. Und vielleicht ist es ja gar nicht zinierendes Abbild der menschlichen Intelligenz zu gendwo beginnen und irgendwo enden. So wie die so abwegig, dietro la chiesa Fussball zu spielen, vereinen. «Desert - Who is the man?» beantwortet Wüste. So wie der Mensch. schliesslich ist kaum irgendwo Fussball heiliger als gar nichts. Der Film gibt aber zu denken. Der Film läuft ab 22. November in den Kinos. im katholischen Italien. Als «archäologischer Science-Fiction-Film» wird

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FILM DEMNÄCHST nordwand Von Simon Chen Bild: zVg.

■ Die Schweiz ist Mittelmass. Zumindest, wenn sches Bild für die deutsche Einwanderung, denn so man ihre Berge mit dem Himalaya vergleicht. Die wie anno dazumal lassen wir Schweizer uns auch Eigernordwand hingegen ist eine der berühmt-be- heute auf eigenem Terrain von Ausländern über- rüchtigtsten Kletterrouten, an der sich Bergsteiger trumpfen; offenbar verfügen wir nicht über genü- aus allen Herren Länder die Zähne ausgebissen, gend eigene qualifi zierte Kräfte. Damals besetzten beziehungsweise die Zehen abgefroren haben. die Deutschen unsere Bergspitzen, heute unsere Der deutsche Regisseur Philipp Stölzl hat das Spitzenposten. Aber statt sich einzugestehen, historische Drama um die Erstbesteigung der Ei- dass er es ist, der sie anstellt, fühlt sich der von gernordwand nun als Vorlage (um nicht zu sagen Neid und Minderwertigkeitskomplexen zernagte Vorwand) genommen, um in brechtscher Manier Eidgenosse von den «Schwaben» überfahren und eine aktuelle Problematik zu behandeln. So wie verwechselt ihre Direktheit mit Arroganz und ihre der Lehrmeister der Dialektik seine Theaterstücke Eloquenz mit Lautstärke. Statt sie willkommen zu in der Antike oder im Mittelalter ansiedelte, aber heissen, baut der Kuhschweizer eine zwischen- die Situation im Nachkriegsdeutschland meinte, menschliche Nordwand auf, eine Mauer gegen sei- so ist Stölzls Film nichts anderes als ein Gleichnis ne nördlichen Nachbarn. So liegt es auch nicht an auf die grassierende deutsche Einwanderung in Toni und Andreas Unvermögen, dass sie das Gip- Werbung tut die Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mit felkreuz des Eigers nicht erreichen, sondern daran, Brechts Verfremdungseffekt (hat nichts zu tun mit dass es sich um ein unnahbares Schweizer Kreuz weh - vor allem Überfremdung) wagt er sich an ein delikates The- handelt. Es sollte nachdenklich stimmen, dass sich ma, das gewöhnlich nur mit wenig konstruktiven die dazuerfundene Liebesgeschichte nicht, wie es wenn man Klischees breitgewalzt wird. sich anbieten würde, zwischen dem Schönling Kurz Die Filmstory: Im Jahre 1936 schicken sich die (Benno Führmann) und einer hübschen Einheimi- vergisst, zu zwei jungen deutschen Bergsteiger Toni Kurz und schen abspielt; wie siebzig Jahre später in Reali- Andreas Hinterstoisser an, als erste die Eigernord- tät, bleiben die Deutschen auch im Film in Sachen wand zu bezwingen. Und da das Nazi-Regime Hel- Freundschaft und Liebe gezwungenermassen un- ➜ buchen... den braucht, um ihre Macht zu unterstreichen, und ter sich; den Einstieg in die Nordwand fi nden die die beiden blonden Recken sich dafür wunderbar zwei aufstrebenden Alpinisten ungleich besser als eignen, wird das Vorhaben von einem ganzen den Zugang zu den Berner Oberländern. Und so Journalisten-Tross medial begleitet. Mit der Erst- schnappt mit Johanna Wokalek als Tonis Geliebte Klassischer Fall: Sie haben das neue besteigung winkte den beiden übrigens nicht nur auch hier eine Deutsche einer Schweizer Schau- ensuite in den Händen und stellen fest, der soziale Aufstieg, sondern auch olympisches spielerin einen attraktiven Arbeitsplatz weg. dass Ihr Inserat nicht gebucht wur- Gold (sic!), ein Umstand, der - sozusagen mit um- Wenn «Nordwand» ein guter Film ist, so des- de. Das können wir nicht mehr kor- gekehrtem V-Effekt - an den nationalistischen halb, weil die Deutschen uns eben auch in Sachen rigieren! Im nächsten Monat können Medaillenwahn der Chinesen im August 2008 erin- Leinwand ein paar Seillängen voraus sind. Immer- wir Sie aber daran erinnern! Rufen Sie nert (nein, dies war kein Vergleich Chinas mit Nazi- hin dürfen wir ein paar Nebendarsteller und die an: Telefon 031 318 6050 - oder informie- Deutschland!). Und so wie Chinas Goldmedaillen- prächtige Kulisse liefern. ren Sie sich auf www.ensuite.ch garant, der Hürdenspringer Liu Xiang, dem Druck nicht gewachsen war, so scheitern am Ende auch CH-Kinostart: 9. Oktober die beiden Deutschen an der Nordwand. Der Autor der Filmversprechung legt Wert auf die Die historische Begebenheit ist ein exemplari- Feststellung, dass er den Film nicht gesehen hat! ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 29 CCinémainéma FILM-TIPP THE LOVE GURU Von Sonja Wenger

■ Von wegen Namaste! Wenn man sich Mike Myers neuestes, von seinen Fans vermutlich lange ersehntes Machwerk «The Love Guru» an- gesehen hat, ist man weder erleuchtet noch mit mehr Weisheit gesegnet. Vielmehr möchte man einfach Myers, den Hauptdarsteller, Drehbuchau- tor und Produzenten dieses sogenannten Films, am falschen Bart rupfen und sein Werk in die Luft schmeissen, um es dort mit scharfen Sushi- messern in kleine Häppchen zu zerteilen. Denn nur in dieser Form wäre Myers Anein- KINO anderreihung dümmlicher Ulknummern, die gespickt sind mit Versatzstücken aus geistigen Tieffl ügen und Fäkalhumor, vielleicht noch er- elegy träglich. Vielleicht. Doch da dies dem Publikum Von Sonja Wenger Bild: zVg. nicht vergönnt ist, muss es bei einem eventuellen Kinobesuch von «The Love Guru» wohl Übles in ■ Die Einsamkeit endet mit der Liebe. Das ist mit einer unterschwelligen Angst vor dem Alter Kauf nehmen: Die schlimmsten Symptome zei- wohl wahr. Doch wie soll ein Mensch die Liebe und einer wachsenden Panik davor, dass ihn Con- gen sich darin, dass bereits nach zwei Minuten erkennen und festhalten, der Zeit seines Lebens suela eines Tages verlassen könnte. Doch weder die Gesichtsmuskulatur erschlafft, die Hirnaktivi- die Fahne der Unabhängigkeit hochgehalten hat der grosse Altersunterschied noch Davids Miss- tät aussetzt und es im Weiteren ein gigantisches und entsprechend aus jeder Beziehung gefl üchtet trauen lassen die Beziehung zerbrechen. Es ist Wohlwollen erfordert, diesen Mist auf Zelluloid ist, sobald sie zu intim wurde? seine Unfähigkeit, für Consuela über sich selbst bis zum Ende durchzustehen. «Die Einsamkeit endet mit der Liebe» ist auch hinauszuwachsen. Als sie ihn verlässt, ist er ein Dabei wäre die Grundidee von «The Love der Titel eines Musikstücks, das die Geschichte gebrochener Mann. Erst als sich Consuela Jahre Guru» nicht mal so übel, obwohl jeder Anfl ug von «Elegy» begleitet. Die spanische Regisseurin später wieder meldet, erhält David nochmals eine von möglicher Sympathie oder echtem Humor Isabel Coixet hat sich an die Verfi lmung des Ro- Chance. bereits im Keim erstickt wird. Guru Maurice Pitka mans «Das sterbende Tier» von US-Schriftsteller Das «Elegy» trotz einer melancholischen, bei- (Myers) leidet darunter, dass er im Geschäft mit Philip Roth gewagt. Es ist ihr gelungen, trotz des nahe traurigen Grundstimmung durchgehend zu der Erleuchtung nur an zweiter Stelle steht und dominanten Untertons männlicher Ängste und Ei- packen und zu unterhalten vermag, ist dem exzel- als der «Deepak Chopra der armen Leute» gilt. telkeiten, daraus einen überaus feinfühligen, lenten Zusammenspiel zwischen der Regisseurin Um das zu ändern, will er in die Show von Oprah berührenden und teilweise sinnlichen Film zu ma- und den Schauspielern zu verdanken. Mal lässt Winfrey. Und um dieses Ziel zu erreichen, nimmt chen. Coixet es zu, dass die Figuren intellektuell absch- er den medienwirksamen Auftrag an, die eheli- Die Regisseurin von «The secret life of words» weifen, manchmal gar nerven und kalt wirken. chen Probleme des Starspielers eines Eishockey- und «My life without me» erzählt dabei in streck- Dann versöhnt sie das Publikum wieder mit hu- teams zu lösen. Dabei verliebt er sich in Jane enweise intimen Bildern und mit schonungsloser morvollen und warmherzigen Momenten oder in- Bullard (Jessica Alba), die Besitzerin des Teams, Nähe die Geschichte der Beziehung zwischen telligenten Dialogen. und muss sich deshalb endlich seinen eigenen dem Literaturprofessor David Kepesh (Ben King- Der von jeglichem Ballast befreite Erzählstil Ängsten stellen. sley) und seiner ehemaligen Studentin Consuela vermag es, die verschiedenen Charaktere schnell Dazwischen wird jede Menge gefurzt, über Castillo (Penélope Cruz). Als Consuela in Davids und präzise zu zeichnen, und lässt doch stets dort die Penisgrösse Witze gemacht und die Schmerz- Leben tritt, führt er ein komfortables Leben in Zeit, wo ein ruhiger Grundton notwendig ist. Bei- grenze des Brachialhumors neu ausgelotet. Aller- einer berufl ich und fi nanziell privilegierten Posi- nahe scheint das Metronom, welches die vielen lei Rückblenden zeigen zudem, weshalb Guru Pit- tion und einem geistigen Kokon. Für seine emotio- Klavierstücke der Filmmusik begleitet, auch den ka zu Guru Pitka wurde und beweisen, dass auch nale Freiheit hat David seine Ehe aufgegeben. Für Rhythmus des Films anzugeben. Die Regisseu- die besten Schauspieler eine grottenschlechte den Sex gibt es seine langjährige Geliebte Carolyn rin verliert zudem nie die Balance zwischen Be- Geschichte nicht zu retten vermögen. So hat das (brilliant: Patricia Clarkson), wobei beide glauben, trachten und Teilhaben, zwischen Nachdenken und Mitwirken von Gandhi-Darsteller Ben Kingsley über Besitzansprüche aneinander erhaben zu Mitfühlen. als Guru Tugginmypudha (!), Pitkas schielendem sein. Und für die Inspiration gibt es die pointierten Doch wahre Hochachtung ist in «Elegy» Ben Lehrer, wenig mit der «Vertreibung der geisti- Gespräche mit seinem besten und einzigen Freund Kingsley und Penélope Cruz zu zollen. Beide wach- gen Dunkelheit» zu tun, für die Gurus bekannt George (Dennis Hopper) sowie gelegentliche Af- sen als Schauspieler wie auch in ihren Rollen über sind. Vielmehr muss es sich um eine temporäre fären mit seinen Studentinnen. sich hinaus. So wie David seine Augen nicht von geistige Umnachtung gehandelt haben, der aber Doch mit Consuela ändert sich alles. Obwohl er Consuela lassen kann, starrt man gebannt auf die wohl jeder anheimfällt, der sich diese 87 Minuten sich zuerst und vor allem von ihrer Schönheit an- Nuancen ihres Spiels und hofft dabei, dass sich die Stuss zu Gemüte führt. gezogen fühlt, schmelzen seine so solid geglaubten Vergänglichkeit von Liebe und Leben nicht bereits Der Film kommt leider am 2. Oktober ins Kino. Prinzipien dahin. Consuelas Offenheit und Liebe im eigenen Körper festgesetzt hat. fordern von David Dinge, die er nicht geben kann. Der Film dauert 108 Minuten und kommt am 9. Seine offene Eifersucht geht zudem Hand in Hand Oktober ins Kino.

30 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 CCinémainéma TRATSCHUNDLABER

Von Sonja Wenger

■ Da sind wir aber froh! Nur wenige Tage vor der Wahl der nächsten Miss Schweiz war der «IQ- Streit unter den Kandidatinnen vorderhand (!) bereinigt». Nach zwei Wochen Schlammschlacht auf diversen Titelseiten zum Thema «Wie doof dürfen Missen sein?», hatten sich die Kandida- tinnen im «Missenlager ausgesprochen». Und die Ringier-Redaktoren wohl einen Crashkurs in Sachen «Must-have»-Literatur belegt. Oder kann es Zufall sein, dass im «Magazin zur Wahl 2008» plötzlich die Frage nach dem «Buch, das man un- bedingt gelesen haben sollte» gestellt wird? KINO Doch ganz ohne Propaganda läuft es auch da nicht. So fi nden sich bei den Antworten Werke wie «Die Bibel», «Gottes Werk und Teufels Bei- lemon tree trag» oder «Der Gott der kleinen Dinge» sowie mein persönlicher Favorit: «Fünf Jahre meines Von Sonja Wenger Bild: zVg. Lebens. Ein Bericht aus Guantánamo» von Mu- ■ Dem israelisch-arabischen Kino gelingt seit Jah- Erst der Anwalt Ziad Daud (Ali Suliman) nimmt sich rat Kurnaz. Von einem Lager ins nächste - oder: ren, was Heerscharen von Politikern und Militärs des Falls an - und zieht mit Salma bis vor den Obers- Dabei sein ist alles! Immerhin hat sich das Nest- beider Seiten nicht zustande bringen - oder nicht ten Gerichtshof. Doch obwohl Salma monatelang häckchen der Kandidatinnen den Vorwurf, nicht zustande bringen wollen: Das Kunststück, das ver- kämpft, ihre Geschichte es in die internationalen mal alle Mitglieder des Bundesrats zu kennen, zu schiedene Kulturen nebeneinander bestehen kön- Medien schafft und sie sogar von der Frau des Ver- Herzen genommen und liest nun «Institutions nen und so etwas wie einen Hoffnungsschimmer teidigungsministers Unterstützung erhält, kann sie politiques suisses». Da soll noch jemand behaup- auf eine bessere Zukunft aufrecht erhalten wird. schlussendlich ihre Bäume nicht retten. ten, Miss-Wahlen seien verlorene Zeit. Filme wie beispielsweise «The Syrian Bride» oder Die Geschichte von Salma hat kein Happy End. Doch egal, wie und woher sie sich heute ihre «The Band’s Visit» erzählen Geschichten darüber, Doch das sollte man auch nicht erwarten. «Lemon Bildung holen, die Zeit als Miss holt jede irgend- wie einfache Menschen ihr Schicksal meistern oder Tree» bildet im Kleinen viele jener Probleme ab, die wann ein. Sei es bei der jährlich wiederkehren- dem teilweise bizarren Alltag trotzen. Diese Filme für den gesamten israelisch-arabischen Konfl ikt den «Galerie der Schönsten» mit allen Haarsün- zeichnen sich häufi g durch einen phantastischen bezeichnend sind: Die Frage nach den rechtlichen den der Vergangenheit oder als Kandidatin für Humor aus und thematisieren gleichzeitig die gröss- Grundlagen der Landenteignungen von Palästi- das US-Vizepräsidentenamt. So ist seit Anfang ten Ungerechtigkeiten und menschlichen Tragödien nensern; eine israelische Justiz, die mit ungleichen September von der früheren Vize-Miss-Alaska - ohne sich um die vordergründigen Widersprüche Waagschalen misst; und die verhärteten Fronten die «Sarah Palin Action Figure» auf www.hero- zu kümmern. Nun gelangt mit «Lemon Tree» von auf beiden Seiten, die eine Lösung des Konfl ikts builders.com erhältlich - in drei Ausführungen: Regisseur Eran Riklis ein weiteres Glanzstück zum noch lange verhindern werden. als Businessfrau, als Schulmädchen und als Lara- Thema israelisch-arabischer Absurditäten in unsere Insofern ist der Zitronenhain auch ein Symbol Croft-Verschnitt. Endlich kann schon den kleinen Kinos. für die unfassbare Sinnlosigkeit des politischen Mädchen im Kinderzimmer der richtige Mix aus Drei Jahre nach seinem Erfolgsfi lm «The Syrian Konfl ikts. Für Salma ist der Hain nicht nur die Le- martialisch und devot vermittelt werden. Aller- Bride» erzählt Riklis einmal mehr die Geschichte ei- bensgrundlage, sondern das Werk von mehreren dings diskriminieren die Heldenmacher nicht. ner starken Frau. «Lemon Tree» handelt vom Mut Generationen. Die Zitronenbäume sind für sie bei- Auf derselben Webseite fi nden sich auch Action- einer einzelnen Person, gegen ein ganzes System nahe wie Menschen: tief verwurzelt, wunderschön Figuren von Barack Obama und John McCain. aufzubegehren. Und er handelt von der Mauer, die anzusehen, aber ihre Früchte nur mit etwas Süssem Apropos alt und unbelehrbar: Die besten Israel nicht nur vom Westjordanland trennt, son- geniessbar. Dies sollte aber nicht zur Annahme ver- Geschichten schreibt tatsächlich das Leben - dern auch in den Köpfen vieler Menschen vorhan- leiten, dass bei «Lemon Tree» irgendwelcher Pa- und die «Schweizer Illustrierte» druckt sie. So den ist. Salma Zidane (Hiam Abbas) ist Mitte vierzig thos, erzählerischer Schnickschnack oder schwüls- kommentierte ausgerechnet Ex-Bundesrätin und verwitwet. Die Kinder sind schon lange aus dem tige Ausschweifungen einen Platz fi nden. Regisseur Elisabeth Kopp, die frühere Justizministerin, Haus und fi nden kaum noch den Weg zur Mutter. Sie Riklin verliert nie den rationalen, radikal realen Blick die 1989 wegen dem Vorwurf der Amtsgeheim- lebt allein in einem Palästinenserdorf im Westjord- auf die absurde Situation und hält Traurigkeit und nisverletzung zurücktreten musste, kürzlich in anland und mehr schlecht als recht vom Ertrag aus Lebensmut stets in einem feinen Gleichgewicht. der «SI» die Probleme von Samuel Schmid mit ihrem Zitronenhain. Sie hat die Bäume von ihrem Bei der diesjährigen Berlinale hat «Lemon Tree» der Glaubwürdigkeit. Das Ganze unter dem Titel Vater geerbt und pfl egt sie mit Hingabe und Ge- den Panorama Publikumspreis erhalten. Zu Recht. «Jeder ist seines Unglücks Schmid» und mit dem schick. Es sollte mehr dieser kleinen schönen Filme geben, Satz: «Der Bürger wünscht sich eine Regierung, Als auf dem Nachbargrundstück aber der israe- die dem Publikum nicht nur einen erstaunlichen zu der er Vertrauen haben kann.» Bei so viel Ver- lische Verteidigungsminister einzieht, wird ihr Hain Seelenfrieden schenken, sondern es erst möglich drängungspotenzial bleibt einem nur noch eines plötzlich zum Sicherheitsrisiko. Der Geheimdienst machen zu verstehen, was in anderen Winkeln die- zu sagen: «Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. besteht darauf, dass die Bäume weg müssen. Von ser Welt geschieht. Warum nur bin ich wach, ich Schaf?» israelischer wie auch palästinensischer Seite kann Der Film dauert 106 Minuten und kommt am 9. Salma keine rechtliche Unterstützung erwarten. Oktober ins Kino. ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 31 DDasas aanderendere KKinoino

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■ Schwert und Ehre - Samurai-Filme Die oft ■ WONDERFUL TOWN Von Aditya Assarat, Thai- ■ SPACE FICTION – WELTRAUMFANTASIEN als Meister der Tugenden beschriebenen Samurai land 2007, 92›, Thai/d/f, Spielfi lm - Takua Pa ist eine IM WANDEL DER ZEIT Als Neil Armstrong vor boten Stoff für unzählige Heldensagen und Filme. kleine Stadt im Süden Thailands. Seit dem Tsunami bald vierzig Jahren am 20. Juli 1969 als erster Der Filmzyklus legt sein Augenmerk aber nicht auf haben die Menschen, die hier leben, ihre Arbeits- Mensch seinen Fuss auf den Mond setzte, holte er Heldenepen und kriegsverherrlichende Werke, son- plätze verloren. Junge Leute fahren auf ihren Mo- im Grunde nur nach, was der Film längst vorge- dern auf Filme über gescheiterte Helden, über die torrädern umher, alte Menschen erinnern sich an macht hatte: Auf der Leinwand waren die ersten manchmal entstehende Kluft zwischen Heldentum bessere Zeiten. Eines Tages kommt ein Fremder Schritte auf dem Mond bereits 1902 erfolgt. und Menschlichkeit, über die Folgen welche ein Aus- in die Stadt. Ton ist Architekt. Er nimmt sich ein Mit einer schönen Filmreihe zeigt das Kino bruch aus einer streng hierarchisch reglementier- Zimmer in einem kleinen Hotel, das Na gehört. Die Kunstmuseum anhand von Klassikern und Unbe- ten Gesellschaft für Einzelne haben kann. Gezeigt beiden beginnen eine zärtliche Liebesgeschichte kannterem, wie sich Fantasien über das Reisen im werden klassische Werke und moderne Interpreta- miteinander. Bald wird über sie geredet. Die Stadt Weltraum im Lauf der Zeit gewandelt haben: von tionen des Genres. hat ihren Feind gefunden. Der Film handelt von ei- Méliès’ weltberühmten Le voyage dans la lune, ner Liebe, die an einem Ort, an dem es keine Liebe dem tschechoslowakischen Science-Fiction-Klas- Specials mehr gibt, wie eine Blume im Schmutz blüht. Und siker Ikarie XB1 über Stanley Kubricks 2001: A 100 Jahre Salvador Allende Der 11. September er handelt von einer Stadt, die die Schönheit zu Space Odyssey bis zu Star Trek: First Contact. 1973 ist ein denkwürdiges Datum: An diesem Tag zerstören versucht, die sie für sich selbst nicht ha- Die Reihe entstand durch die Unterstützung des wurde in Chile durch den US-amerikanischen CIA ben kann. Collegium generale der Universtität Bern, welches der demokratisch gewählte Präsident Salvador Al- QUÉ TAN LEJOS Von Tania Hermida, Ecuador eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe «Sci- lende gestürzt und die Demokratie durch eine der 2007, 92›, Spanisch/d/f, Spielfi lm - Ecuador und ence & Fiction: Imagination und Realität des Welt- brutalsten Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts die Anden bilden das wunderbare Dekor für dieses raums» organisiert. Bis 28. Oktober ersetzt. Der Chilene Patricio Guzmán nähert sich Roadmovie, in dem zwei junge Frauen unterwegs ELLA MAILLART & ANNEMARIE SCHWAR- in seinem Doku sehr persönlich und einfühlsam der sind nach Cuenca, der friedlichen Gartenstadt im ZENBACH Ella Maillart reiste zusammen mit Figur Salvador Allendes, der zu den raren integren Süden. Esperanza kommt aus Spanien und reist Annemarie Schwarzenbach 1939 von Genf nach Persönlichkeiten auf dem politischen Parkett ge- durch Ecuador auf der Suche nach Entdeckungen Afghanistan und dokumentierte die Reise im Film hörte. > Do, 9. Oktober 20h und auf den touristisch empfohlenen Spuren. Tris- Nomades Afghans. Die stummen Aufnahmen Gegen die Wand Fatih Akin gelang mit seinem teza lebt in Quito, der Hauptstadt Ecuadors, und werden von der Filmhistorikerin Mariann Sträuli kraftvoll-radikalen Liebesdrama ein beeindrucken- macht sich auf den Weg, ihren Geliebten daran zu anhand der originalen Vortragsskripte live kom- des Stück Kino, das die Beachtung (goldener Bär, hindern, eine andere Frau zu heiraten. Unterwegs mentiert. 18. Oktober Berlinale 2004) mehr als verdient hat. Gegen die lernen die beiden, die der Zufall im Bus zusam- ROMAN POLANSKI – HOMMAGE ZUM 75. Wand handelt vom Hunger nach Leben, Freiheit und menbringt, einander und zwei Männer aus dem GEBURTSTAG Dank ihrer enormen Publikums- Selbstbestimmung. > Do, 2. Oktober 21h Dekor des fernen Landes kennen. Sie durchqueren wirksamkeit und Verankerung in den Konventio- EXIT - Das Recht zu Sterben Fernand Melgars die halluzinierende Bergwelt Ecuadors und fahren nen des Genrekinos bieten Polanskis Filme spek- Doku ist nicht nur eine Erzählung über das Sterben, zunächst an die Küste, weil ein Streik den Verkehr takuläre Unterhaltung auf höchstem Niveau. Noch sondern viel mehr ein Film über das Ende des Lei- lahm gelegt hat. bis 26. Oktober dens, und vor allem ein Film über die Frage nach QUE TAN LEJOS ist ein ausgesprochen sanfter bill – das absolute augenmass Der neue Film der letzten Freiheit, der letzten Entscheidung. EXIT Film über das Reisen, das Unterwegssein und über von Erich Schmid über Max Bill (1908–1994), der - das Recht zu sterben erzäht die Geschichte von Begegnungen zwischen Menschen. Die Ecuado- zu den bedeutendsten Schweizer Künstler des 20. Menschen, deren Situation ausweglos, deren Lei- rianerin Tania Hermida lässt uns in ihrem ersten Jahrhunderts gezählt wird. Noch bis 26. Oktober den für sie unerträglich geworden ist; und die des- Spielfi lm sinnieren über das, was wir so treiben, FILMGESCHICHTE: EINE GESCHICHTE IN halb die Entscheidung zum begleiteten Freitod ge- wenn wir unterwegs sind. Und sie hat den erfolg- 50 FILMEN Franz Schnyders Käserei in der Ve- troffen haben. Ein Film, der anregt, aufwühlt, packt, reichsten Film in ihrer Heimat gedreht, der nicht hfreude in restaurierter Kopie und Alfred Hitch- und vor allem berührt. > Do, 16. Oktober 18.30h. umsonst so erfolgreich war: Er strahlt bei aller Un- cocks Vertigo. 14. und 28. Oktober Einführung: NR Alec von Graffenried, Mitglied der aufgeregtheit Natürlichkeit aus, bis in die kleinsten Die genauen Spielzeiten der Filme und weitere Rechtskommission Details hinein. Informationen fi nden Sie auf Science et Cité Cinéma. 17. und 18. Oktober www.kinokunstmuseum.ch 2008 www.science-et-cite.ch Details zu den Filmen fi nden Sie unter cinematte.ch.

32 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 Für das Tagesprogramm die Tageszeitung oder das Internet www.bernerkino.ch KI N O in der Reitschule LICHTSPIEL www.reitschule.ch / Telefon 031 306 69 69 www.lichtspiel.ch / Telefon 031 381 15 05 www.pasquart.ch / Telefon 032 322 71 01

■ RAF-Film In einem Schreiben, das im April ■ SINGERS IN FILM Callas Assoluta (F 2007) von ■ Filmpodium Biel Im Moment wächst nun eine 1998 bei Reuters einging heisst es: « Vor fast 28 Philippe Kohly, eine spannende Dokumentation über neue FilmerInnengeneration heran, die sich den al- Jahren, ..., entstand in einer Befreiungsaktion die das bewegte Leben der Königin des Belcanto, bildet ten Meistern, im speziellen jener des Neorealismo RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadt- den Auftakt zur gemeinsam mit dem Schweizeri- verpfl ichtet fühlt. FilmemacherInnen wie z. B. Pao- guerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.» schen Musikpädagogischen Verband organisierten lo Sorrentino oder Paolo Franchi werfen einen sehr Das Kino in der Reitschule nimmt die Geschich- sechsteiligen Filmreihe über die Kunst des Gesangs. genauen Blick auf die soziale Realität des heutigen te der RAF wieder auf. (2.10., 20h) Italiens und setzen sich differenziert damit ausei- In Die Stille nach dem Schuss von V. Schlön- LA MEGLIO GIOVENTÚ Ballo a tre passi von nander. Sie erzählen Geschichten von Einsamkeit, dorff (Fr, 3.10, 21h und Do, 9.10, 20.30h) taucht Salvatore Mereu begleitet vier Frauen im ländli- zerbrochenen Familienbanden und der Suche nach eine Ex-Terroristin in der DDR unter. Doch nach chen Sardinien in wichtigen Momenten ihres Leb- dem richtigen Platz im Leben. Die Filmschaffenden dem Mauerfall ist sie auch dort nicht mehr sicher. ens (6.10., 20h). In La spettatrice nimmt eine junge stehen solidarisch auf der Seite der VerliererInnen. Angelehnt an die Biografi e der RAF-Aktivistin Gud- Dolmetscherin nur durch Beobachten anderer Men- Sie prangern ein unterdrückerisches und ausbeu- run Ensslin erzählt M. von Trotta in Die bleierne schen am Leben teil (13.10., 20h), während Texas terisches System an und scheuen sich nicht vor Zeit (Sa, 4.10, 21h und Fr, 10.10, 22.30h) die Ge- eine Gruppe Jugendlicher auf ihrem Weg von der einer engagierten Kritik gegenüber der Machtgier schichte zweier Schwestern, die sich in den 60er Unbeschwertheit der Jugend ins Erwachsenenalter italienischer Politiker. Jahren politisch engagieren. begleitet. (20.10., 20h) Im Filmpodium sind vier Filmpremieren zu se- Am Fr, 10.10, 20.15h stellt Karl-Heinz Dellwo, FUCK MICKEY MOUSE Erneut präsentiert der hen: L’uomo in più von Paolo Sorrentino. Der als Mitglied der RAF an der Besetzung der Deut- Amerikaner Dennis Nyback eine Animationsfi lm- 1970 geborene Regisseur refl ektiert in seinem Film schen Botschaft in Stockholm 1975 beteiligt, verur- rolle aus seiner einzigartigen Sammlung - diesmal über zwei Freunde mit erst gemeinsamen, dann teilt und 20 Jahre in Knast, sein Buch Das Projektil beziehen sich die Kurzfi lme auf bekannte Disney- sehr unterschiedlichen Lebenslinien, welche eine sind wir vor. Eine kritische Analyse des «Konzept Cartoons oder parodieren diese gar. (Fr 17.10., 20h) vorzeitige Bilanz ihres Lebens und ihrer Beziehung Stadtguerilla» und ein politisch refl ektierter Le- EINE GESCHICHTE IN 50 FILMEN Wildwest zu leisten haben. (3./4.10.). bensbericht. Mit anschliessender Diskussion. Elf im Emmental mit geldgierigen Bauern, wüsten Mas- La spettatrice von Paolo Franchi ist das Por- deutsche Regisseure (u.a. Schlöndorff, Böll, Fass- senschlägereien und einer spektakulären Verfol- trät einer verschlossenen Frau, die sich mehr und binder etc) versuchen in Deutschland im Herbst gunsjagd bietet Franz Schnyders Käserei in der Ve- mehr in einer Fantasiewelt verliert (17./18.10.). Die (Sa, 11.10, 21h und Do, 23.10, 20.30h) die Stim- hfreude (1958) (8.10., 20h). Alfred Hitchcock spannt Hafenstadt Bari und unlautere Geschäfte dubioser mung in Deutschland nach der Ermordung von das Publikum mit seinem Seelendrama Vertigo auf Personen sind Thema im Gangsterfi lm La capagi- Hanns Martin Schleyer und den Selbstmorden der die Folter - der Thriller wird am 22.10. fi lmgeschich- ra von Alessandro Piva. (24.10). Ballo a tre passi in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder zu re- tlich und am 23.10. im Rahmen von CinemAnalyse von Salvatore Mereu ist ein Episodenfi lm aus dem fl ektieren. Black Box BRD von A. Veiel (Fr, 17.10. psychoanalytisch eingeführt. (22./23.10., 20h) sardischen Hinterland. Die vier Jahreszeiten ste- und Sa, 1.11, 21h) zeichnet anhand von Aussagen PAOLO BIANCHINI Paolo Bianchini schildert in hen darin sinnbildlich für das Leben selbst. (25.10). von Bekannten die Biografi en des von der RAF er- Il giorno, la notte poi l›alba (I 2008) die Begegnung Zu diesen Filmpremieren zeigen wir einige Repri- mordeten Vorstandssprechers der Deutschen Bank von Friedrich II und Franz von Assisi im Jahre 1220. sen von und mit Nanni Moretti: Moretti als Schau- und des RAF-Mitglieds nach. Wie die Pubertät der Die beiden sind von der Sinnlosigkeit religiöser spieler in Caos calma, als Regisseur in Il Caimano Tochter von Eltern mit terroristischer Vergangen- Kriege überzeugt und streben nach Ausgleich und und als Regisseur und Schauspieler in La stanza heit zu einem Sicherheitsrisiko werden kann, zeigt Harmonie. Franz sucht sie in Mystik und Religion, del fi glio. (26./27.10. / 31.10.-3.11.) Die innere Sicherheit (Sa, 18.10. und Fr, 31.10, Friedrich in Natur und Politik. (25.10., 20h, in An- Ebenfalls als Bieler Filmpremiere zeigen wir 21h) von Ch. Petzold. wesenheit von Paolo Bianchini) Callas Assoluta. Das turbulente Leben der schil- Am 24. und 25.10. werden im Kino im Rahmen TIRAMI-VIA Auf eine aufwühlende Rolle mit lernden Operndiva Maria Callas zeichnet Philippe des Reitschulfestes 2008 Anti-AKW-Filme ge- Knatsch- und Knutschfi lmen aus dem Lichtspiel- Kohly in seinem Dokumentarfi lm facettenreich zeigt. Archiv folgt ein heiteres, lustvoll-leidenschaftliches auf. (1.-3.11.) UNCUT- Warme Filme am Donnerstag Live-Konzert des A-cappella-Ensembles Tirami-Via. Anlässlich des Welttages des psychisch kran- (20.30h) zeigt: Mit Gefühlen wird im Programm «Knatsch und ken Menschen am 10. Oktober ist der Film von Ken 2.10: HOLDING TREVOR von R. Goodman Knutsch» nicht gespart - auch nicht bei den Ko- Loach My name is Joe zu sehen. Das Thema des 16.10: JULIE JOHNSON von B. Gosse stümen. Ein Augen- und Ohrenschmaus. (27.10. + diesjährigen Welttages ist Wer hilft am besten? 30.10: DREAM BOY von J. Bolton 8.11., 20h) Darüber diskutieren anschliessend an den Film www.reitschule.ch/reitschule/kino/ eingeladene Gäste. ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 33 Alther&Zingg Ein filosofisches Gespräch:

«Schon möglich, dass es keinen Grund dafür gibt, dass es ist, wie es ist.»

Alain de Botton 2004

Mittwoch, 29. Oktober 2008 // 19:15 h tonus-labor, Kramgasse 10, 3011 Bern

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5 x DIE WOCHE GRATIS

LITERATUR im lesesessel Von Andy Limacher - Auftakt der zweiten Lesesessel-Runde mit Ehrengästen ■ Das Verfassen dieses Artikels bringt mich in terInnen eine Zwischenbilanz: Das Konglomerat einen Gewissenskonfl ikt – ich versuche, Ihnen eine – so nennt sich die Gruppe, die unter anderem Veranstaltungsreihe näherzubringen, von der ich den Lesesessel organisiert – kann sich nicht über selbst einmal Teil gewesen bin. Aber Sie wissen ja, mangelndes Interesse beklagen. An jedem der fünf wie die Kulturszene funktioniert: Jemand kennt je- durchgeführten Abende haben sich mehr Lesewil- manden, der jemanden kennt, der wiederum... lige gemeldet als Startplätze zur Verfügung stand- Aber von Anfang an. An einem kalten Februar- en. «Das zeigt, dass der Lesesessel einem Bedürf- abend steige ich die steile Treppe ins ONO hinab. nis entspricht», so Lambrecht. «Grundsätzlich kann Es ist kurz nach sieben Uhr, noch ist die Bar leer. weiterhin jeder und jede mitmachen. Durch die Ich inspiziere die Bühne: Eine Wohnzimmerlampe, grosse Auswahl an Interessierten können wir jetzt ein Tischchen und ein alter Sessel stehen da. Jeden allerdings auf eine gute Mischung von geübten und ersten Mittwoch des Monats schleppen die Veran- weniger geübten Lesenden und von leichteren und stalterinnen die Requisiten vom vierten Stock eines ernsthafteren Texten achten. Dadurch verbessert Nachbarhauses in den Keller runter, um dem Publi- sich auch die Qualität der Veranstaltung.» kum eine Lesung der etwas anderen Art zu bieten. Das Konglomerat will den offenen Charakter der Ich bestelle ein Glas Wein und stelle mich an Veranstaltung auch in Zukunft beibehalten. Zum die Bar. Noch lässt sich nicht erahnen, wer von den Auftakt der zweiten Runde am ersten Oktober fi n- eintreffenden Gästen später auf der Bühne sitzen det allerdings erst einmal ein Spezial-Lesesessel wird, und das gehört zur Idee des Lesesessels: Die mit den etablierten AutorInnen Katharina Faber FÜR DEINE STADT Grenze zwischen Lesenden und Zuhörenden ist («Manchmal sehe ich am Himmel einen endlos fl iessend. «Wir bieten eine Mischung aus Lesung, weiten Strand»), Lukas Hartmann («Die Deutsche Diskussionsforum und Textkultur. Mit dem Leseses- im Dorf») und Jürgen Theobaldy («Trilogie der sel wollen wir verdecktes Literaturgeschehen in nächsten Ziele») sowie dem Sessel-Stammgast vom Bern sichtbar machen», erzählt Tobias Lambrecht, Bieler Literaturinstitut Luke J. Wilkins statt. Danach Mitveranstalter, im Vorfeld der Premiere. Ich lasse steht die Bühne wieder für alle offen: Interessierte Jetzt kostenlos abonnieren den Wein stehen und nehme es mir übel, mich auf melden sich bei [email protected]. unter www.ronorp.net diesen Selbstversuch eingelassen zu haben. Ich werde durch die Moderation angekündigt und nehme Platz. Durch den einzigen Scheinwerfer, der auf mich gerichtet ist, kann ich das Publikum 1. Oktober: Lesesessel mit literarischer Pro- Veranstaltungen, Bars, nicht sehen – das erleichtert mir den Start wesent- minenz im ONO: Katharina Faber, Lukas Hart- lich. Nach nur zehn Minuten und ein paar Fragen mann, Jürgen Theobaldy, Luke J. Wilkins. Mit Si- Tipps, Jobs, Wohnungen, aus dem Publikum ist der Spuk für mich vorbei. Ich mon Bucher am Klavier. Diskussionen und was sich bin froh darüber, es hinter mir zu haben, und den- Tür 19:00 h, Start 20:00 h sonst in deiner Stadt noch: Ich würde es sofort wieder tun. Jetzt, wo die Weitere Lesessessel immer am ersten Mittwoch Nervosität vorbei ist, habe ich den Kopf dazu, auch des Monats. bewegt. den anderen zuzuhören – insgesamt acht Personen tragen an diesem Abend ihre Texte vor. Weitere Infos: Ein halbes Jahr später ziehen die Veranstal- www.myspace.ch/lesesessel ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 35 LLiteraturiteratur

McGinnis Jr., Joe: The Delivery Man. Die Schweizerreise. Erzählungen aus Roman. Englisch. Atlantics Book. Sperr, Franziska: Das Revier der Amsel. den Kantonen, hrsg. von Dirk Vaihinger. London 2008. Roman. Fahrenheit. München 2008. Nagel & Kimche. München 2008. ISBN 978 1 84354 731 0. ISBN 978 3 940813 12 1. ISBN 978 3 312 00421 8.

Die positive Seite des Kantönligeists In der Wüste gestrandet Neben der Spur Die Schweizerreise. Erzählungen aus den Kantonen, Joe McGinnis Jr.: The Delivery Man. Roman. Franziska Sperr: Das Revier der Amsel. Roman. hrsg. von Dirk Vaihinger.

■ Sie sind jung, sie sind schön, die Welt steht ihnen ■ Was wie ein Krimi beginnt, entpuppt sich als Fa- ■ «Der Kanton ist in Bezug auf die Nation jene offen. Und doch scheinen sie aus unerfi ndlichen milientragödie: Klara wird, nachdem sie das Baby gemeinsame Grösse, die, konkret genug, um das Gründen und entgegen aller guten Vorsätze ihre ihres Stalking-Objekts, eines Mannes in der Öffent- Lebensgefühl auszudrücken, und abstrakt genug, Heimatstadt Las Vegas nicht verlassen zu können. lichkeit, entführt hat, in die psychiatrische Klinik um den politischen und geographischen Überblick Allen voran Chase, Antiheld in McGinnis phantasti- eingewiesen. Ihr dementer Vater, den sie nach dem zu sichern, mit der Identität des einzelnen vital ver- schem Debütroman, auf welchen in San Francisco Tod der Mutter jahrelang gepfl egt hat, ist im Heim knüpft ist.» So schreibt Dirk Vaihinger, Herausgeber die schöne Julia wartet. Doch gerade weil er, poten- untergebracht. Einzig die in Wien lebende Schwes- einer literarischen Reise durch die schweizerischen zieller Kunstmaler, frustrierter High-School-Lehrer, ter Sonja scheint auf der Sonnenseite des Lebens Kantone anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des allen Grund hat, der Wüstenstadt, die ihn immer zu stehen. Glücklich mit dem um Jahre jüngeren Verlags Nagel & Kimche. Und 25, zumeist essayisti- weiter ins Verderben zieht, den Rücken zu kehren, Schuhhändler Ivo verheiratet, ist sie mit ihm für ei- sche, Erzählungen von durchwegs namhaften Auto- will ihm das nicht gelingen. Die Angst, da draussen nen einzigen Tag nach München gereist, um nicht ren sind es auch, die Vaihinger in der vorliegenden in der wirklichen Welt, wo das Leben nicht allein am nur das elterliche Haus zu verkaufen, sondern auch Anthologie versammelt hat. Der bevölkerungs- Roulette-Tisch und in auswechselbaren Hotelsuiten ihrer Schwester einen Geburtstagsbesuch abzustat- reichste Kanton Zürich sowie der zweisprachige stattfi ndet, wo einer wie Chase sich mit seinem Ta- ten und ihren Vater zu besuchen. Ein dicht gedräng- Kanton Graubünden sind jeweils mit zwei Beiträgen lent beweisen müsste, lähmt ihn und seine Freunde. tes Programm, welches keine unvorhergesehenen vertreten. Immer weiter wird er durch Michele, Busenfreundin Zwischenfälle zulässt. Doch gerade diese lassen Nicht alle der Erzählungen spielen in den Hei- seiner unter tragischen Umständen verstorbener sich nicht umgehen. matkantonen der Autoren und nicht alle Autoren Schwester Carly, und deren fl orierendem Massage- In der Klinik versucht der junge Psychiater Dr. sind, aufgrund ihrer regen Mobilität, mit ihrem Hei- Service, vorwiegend bestehend aus High-School- Schöpf in der Zwischenzeit hinter des Rätsels Lö- matkanton vertreten. Manche der Erzählungen, wie Schülerinnen, nach unten gezogen. Beschleunigt sung in Sachen Klara zu kommen. etwa der Schwyzer Beitrag von Gertrud Leuteneg- wird sein Abstieg durch die üblichen Ingredienzien Franziska Sperr gelingt es mit der wechselnden ger «Eine Million Rosen aus Odessa», sind, wie der Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Erzählperspektive zwischen den beiden Schwestern Name bereits andeutet, sogar an einem ganz und Eine tätliche Auseinandersetzung mit einem tatsächlich die Spannung eines Kriminalromans zu gar unschweizerischen Ort angesiedelt. Schüler kostet ihn nicht nur seinen Job an der Cen- erzeugen. Atemlos warten wir auf die Enthüllung Ein Grossteil der Erzählungen ist auch nicht tennial High, sondern beinahe auch seinen Kopf. Er, des grossen Geheimnisses, welches Klara entglei- eigens für «Die Schweizerreise» entstanden. Und der delivery man, der die Mädchen in seinem Mus- sen liess. Doch gerade in dieser Beziehung macht es dennoch vermittelt die Auswahl ebendieser Auto- tang zu ihren Dates bringt und in der kalten Wüsten- sich die Autorin nicht einfach, im Bewusstsein, dass ren mit ebendiesen Geschichten, welche alle in den nacht im Wagen auf ihre Rückkehr wartet, wird zur der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn bei uns letzten fünfundzwanzig Jahren entstanden sind, Zielscheibe eines Gewaltakts, der in seiner Sinnlo- allen ein schmaler ist. Lediglich ein Tag im Leben einen guten Eindruck in das literarische Schaffen sigkeit seinesgeleichen sucht. von Klara und Sonja wird beschrieben, dennoch tun der Schweiz. Dieses zeichnet sich unter anderem Joe McGinnis Jr. ist ganz nah an seinen Charak- sich Abgründe in mehrere Jahrzehnte Familienhis- gerade dadurch aus, das es die Vielfalt der Schweiz teren und lässt zu, dass wir ihnen auch als Leser na- torie auf. Der Pianisten-Vater und die Femme-fatale- in seiner Vielfältigkeit wiederspiegelt. So reisen wir hekommen, so nahe, dass sie uns am Ende das Herz Mutter scheinen das Ihrige zum Jetzt-Zustand von mit diesem Buch von A wie Aarau nach Z wie Zü- zu brechen vermögen. Denn «The Delivery Man» ist Klara beizutragen. Auch der Nennonkel Bert, der, rich und nehmen es im hoffentlich goldenen Herbst eindeutig kein Roman mit einem Happy End, einer obwohl er eigentlich mit Klara zum Skilaufen fahren vielleicht sogar zum Anlass zu einer tatsächlichen jedoch, dessen scharf gezeichnete Bilder uns noch will, stets mit Sonja fährt, ist eine prägende Figur. Reise durch die Schweiz. (sw) lange begleiten. (sw) Diesem intelligenten Debüt könnte einzig vorge- worfen werden, dass sein Ende so bar jeder Hoff- nung ist. (sw)

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36 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 LLiteraturiteratur FILOSOFENECKE

«Schon möglich, dass es keinen Grund dafür gibt, dass es ist, wie es ist.» Alain de Botton 2004

■ In unserem Verständnis werden Ursache (ein Grund) und Wirkung (eine Erfahrung) oft als ein sich bedingendes System aufgenommen. Fehlt eine Ursache, lässt sich daraus auch keine Wir- kung ableiten. Durch Beobachtung der Wirkung lässt sich also auch auf den Grund schliessen. LITERATUR Dieser Satz wird in der Philosophie als syntheti- sches Urteil a posteriori bezeichnet. Spätestens seit Immanuel Kant wissen wir perlenmanufaktur aber, dass auch synthetische Urteile a priori möglich sind. Diese erweitern unser Wissen über mannhart einen Grund, ohne dabei auf die Erfahrung zu- rückzugreifen. Kant bezeichnet diese syntheti- Von Christoph Simon Bild: Urs Mannhart / zVg. sche Urteile a priori als erkenntniserweiternde ■ 1975 wurde zu unser aller Glück der Schrift- möchte, der wird vom Kurierbuch nicht enttäuscht Urteile, da sie sowohl unsere Kenntnisse über die steller Urs Mannhart geboren, und zu unser aller werden. Welt erweitern, als auch notwendig und allgemein Glück liess er seine Karrieren als Heizungszeich- Versteckt in der zweiten Hälfte des Buches fi n- gültig sind. Übersetzt man diese synthetische Ur- ner und Student versanden. Mannhart erlernte det sich Mannharts jüngstes Schmuckwerk: Die teile a priori in die Metaphysik – der Disziplin der in der Folge das literarische Schreiben, das Fahr- «Kuriernovelle oder Der heimlich noch zu über- «ersten Gründe» oder «letzten Fragen» – kommt rad- und Nachtzugfahren und leistete Zivildienst bringende Schlüsselbund der Antonia Settemb- man zu Sätzen wie «Gibt es einen freien Willen in in den Berner Alpen. Zwei Romane sind von ihm rini». Die Kuriernovelle erzählt die Geschichte ei- mir?», «Existiert Gott?» oder «Gibt es Zustände, erschienen: In «Luchs» (2004) erzählt er von den nes vormaligen Bürolisten, der auf seiner ersten welche sich nie verändern werden?» Schwierigkeiten der Wiederansiedelung des Luch- Schicht als Velokurier, wie Mannhart Radio DRS An diesen Fragen offenbart sich, dass die Su- ses in der Schweiz, von den Konfl ikten zwischen anvertraut hat, «ein paar Sachen falsch macht che nach den Gründen offenbar so alt wie die Bauern im Oberland und Grosswildbiologen in der und genug richtig, und ohne sein Verschulden in Menschheit selbst ist und sich das Bedürfnis, Feldstation, von den Gegensätzen Landwirtschaft Umstände verwickelt wird, die sein Privatleben diese zu kennen, nicht verändert hat. Einzig die und Artenschutz. tangieren». In seiner viereinhalbstündigen Schicht Antworten darauf haben sich im Laufe der Zeit Der Tatsache, dass die italienische Eisenbahn füllt sich sein Rucksack mit Blumensträussen, Kuh- stets gewandelt. Kant fordert uns aber auch nicht nur den Gesetzen der Bewegung und des augen, Visa-Anträgen, heimlich noch zu überbrin- dazu auf, aus der «selbstverschuldeten Unmün- Fahrplans gehorcht, widmete Mannhart sein zwei- genden Hausschlüsseln und weiteren Kuriositäten, digkeit» auszubrechen und unseren Verstand in tes Buch: «Die Anomalie des geomagnetischen die, wie wir gern zu glauben gewillt sind, zur alltäg- den Dienst der Vernunft zu stellen. Dabei geht Feldes südöstlich von Domodossola» – eine Liebes- lichen Fracht eines Kuriers gehören. Die Kurierno- es nicht mehr nur darum, den Grund als etwas ballade, eine Unschuldsvermutung, ein Loblied auf velle eröffnet Einblick in Kreisel, Büros und Lifte, Statisches, Absolutes zu erfahren. Es soll uns viel Kaffeeersatzgetränke. Der Erzähler sieht sich auf was entsteht ist ein Stadtporträt Berns und ein mehr animieren, über unsere Gedankengänge dem Weg zu seiner Geliebten in Rom in Domodos- empfi ndsamer und gedankenverspielter Beitrag dem Leben stets einen neuen Sinn zu erteilen sola bestreikt. Also erkundet er den Bahnhof, die zur Rubrik «ein Tag im Leben von». und den menschlichen Entdeckungsdrang und Nacht und seine Gestalten, beobachtet Innen und Was unterscheidet einen Velokurier von einem Wissensdurst zu stillen. Dogmas und Exegesen Aussen auf eine Art, die uns Leserschaft wieder an normalen Menschen? «Es ist schwer, ihn und sein werden durch diese Sicht der Dinge in ihrer Subs- eine Sprache jenseits von Pendlerinformationen Rad nicht als Einheit wahrzunehmen, während ich tanz bedroht. Kein Wunder, haben die kantischen glauben lässt. Mannhart reiht wundervolle Sätze als Mensch und mein Rad eine Dualität darstellen. Gedanken mitunter zur Aufklärung und Loslö- aneinander, zieht Perle um Perle auf eine Schnur. Ich fahre noch mit der Lunge, während er schon sung der Menschen von der Kirche geführt. Sechs Jahre lang arbeitete Mannhart als Velo- lange dazu übergegangen ist, mit den Waden zu Liest sich aus diesem Blickwinkel dieser Ge- kurier, und was er dabei erfahren hat, kann man fahren.» danken das Zitat von de Botton nicht wie ein nachlesen im Velokurierbuch, das sich der Velo- Sie lesen Mannhart bereits? Mögen seine bis- Anachronismus? Man könnte versucht sein zu sa- kurier Bern zu seinem zwanzig jährigen Bestehen herigen Bücher? Seien Sie beruhigt, er war nie gen: Ja klar ist es möglich, dass es keinen Grund geschenkt hat. (Ein unerhört schön gestaltetes, besser – «Die Kuriernovelle» ist bislang sein Meis- gibt und das ist auch gut so. Damit bin ich als reich illustriertes Buch zum lächerlichen Preis von terwerk. denkender, also mündiger, Mensch in der Lage, dreissig Franken. Man fragt sich: Wie machen die mein Leben in voller Verantwortung zu gestalten, das? Wieviele Schichten fahren Velokuriere in Zu- ohne dafür einem höheren Grund hörig zu sein. kunft bis in alle Ewigkeit gratis für die Druckerei?) Wie ist Ihre Wahrnehmung zum Zitat? Tre- Wer Einblicke ins Fahrradkurierwesen zu gewinnen ten Sie mit uns in eine Diskussion. Am Mitt- sucht, wer von Anekdoten und Wissenswertem Urs Mannhart: Kuriernovelle oder Der heimlich woch, 29. Oktober, um 19:15 h im Tonus Musik- rund um einen genossenschaftlich organisier- noch zu überbringende Schlüsselbund der Anto- keller an der Kramgasse 10, Bern. ten ökologischen Betrieb überschwemmt werden nia Settembrini, in: Kurierbuch, edition Eigenart. ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 37 MMagazinagazin LESEZEIT

Von Gabriela Wild

■ Der Herbst hält mit graubraunen Feldern und chloropyhlabbauenden Blättern Einzug. Hebe deine Augen auf zu den Bergen und sie werden dir goldgelb entgegen blinken, sofern du nicht ge- rade unter einer Nebeldecke steckst. Die Wander- lust packt dich und du schulterst den Rucksack. Eingepackt Ovo-Sport, Sportmint und Cervelat. Oben auf dem Gipfel macht dich ein 360°-Pa- norama glücklich. Bergspitzen bauschen sich wie die Rüschen der Appenzeller Sonntagstracht. Du weisst zwar nicht, wie die aussieht, aber irgendwo sind da schon Rüschen dran und ganz bestimmt an der Sonntagstracht. Überhaupt ist sie schon noch schön, die Schweiz, und etwas Nachhilfe im Folkloreunterricht könnte dir auch nicht scha- den. Drum gehst du wandern und schaust die Berge an. Die sind auch Folklore. Ist das nicht der Männlichen dort drüben und das Schreckhorn da vorne links? Und dort, wo sie Schlange stehen, das ist die Eiger Nordwand. Soso, auf dem Titlis kann man das ganze Jahr Skifahren und Vrenelis Gärtli ist keine Erfi ndung von Tim Krohn? Wer sich vor Muskelkater scheut und den KULTUR & GESELLSCHAFT Sonntag lieber zu Hause verbringt, der kann seine Schweizreise dank Kimche&Nagel bequem vom Sofa aus tätigen. 25 Schweizer Autoren und nicht zu mir! Autorinnen erzählen aus ihren Heimatregionen. Von Isabelle Haklar Die Reise durch die literarische Topografi e des Landes beginnt im Aargau, wo Klaus Merz mit ■ Sechserrunde, Viererabteil, Zweiersitz oder legt? Wie sich verhalten, wenn der riesige, vom Blick auf den legendären Sender Beromünster Einzelplatz sind die uns allen bekannten Sitzgele- Regen triefende Hund mit seiner Zunge liebevoll an ein berühmtes Geschwisterpaar erinnert, das genheiten in Zügen, Bussen oder im Tram. Gepols- über unsere Schuhe leckt? für kurze Zeit Menschheitsträume wahr machte. tert oder aus Holz, am Fenster oder in Gangnähe, Überforderung pur. Situationen, mit denen wir In Basel erzählt Adelheid Duvanel von der uner- mit Sitzheizung oder ohne. Eigentlich nichts Spezi- nicht konfrontiert werden möchten, ohne explizit widerten Liebe zu einem Pianisten. Silvio Huon- elles. Speziell jedoch die Verteilung der Fahrgäste darum gebeten zu haben. Ein Zustand, der uns den der berichtet aus Graubünden von der dunklen auf Denselbigen. Wo vier sitzen könnten, trohnt Moment, in dem wir uns für das Tram und gegen Seiten des Mondes. Und wo sonst als in Zürich einer, wo zwei nebeneinander Platz fänden, macht das Fahrrad entschieden haben, verfl uchen lässt. wird darüber gefachsimpelt, was schlussendlich sich eine Person breit. Kurz: Eine Begebenheit, die der Einzelgänger in die «Willensnation» ausmacht? Um alleine zu sein, lassen wir uns so Manches uns kaum erträgt, ihm die Freude einer noch so Wer es lieber philosophisch mag und eben- einfallen: Durchwandern das ganze Gefährt, täu- kurzen Fahrt rapide mindert. falls aufs Sofa nicht verzichten kann, der sollte schen Müdigkeit vor, platzieren gekonnt unzählige Und dann die Frage nach dem «Warum?». War- unbedingt mit Hans Stilett wandern gehen. Er kleine Taschen neben und vis-à-vis von uns oder um musste sich die ältere Dame, der ipod-hörende führt durch Montaignes Denkwelten, indem er künden Freunde an, auf die wir angeblich warten. Jüngling ausgerechnet mir gegenüber platzieren, ausgewählte Essays kommentiert. Hier geht’s Doch angekündigte Freunde bleiben aus, Taschen wo sie sich doch auch im Viererabteil zu meiner um nichts Geringeres als Ehebruch, Religions- wandern, kaum hat der Zug Schritttempo erreicht, Linken hätten hinsetzen können? Warum hört der krieg, Ess- und Trinkgelüste, um den Turm, Ge- dezent auf den Boden und müde Fahrgäste greifen Knabe nicht wenigstens Musik, die auch ich mag? dankenfl uchten und um die hohe Kunst des Ge- bereits nach wenigen Fahrtminuten zu äusserst Und warum muss er dazu noch eines dieser streng sprächführens. Muskelkater zeigt sich höchstens komplizierten Sachbüchern. riechenden Dosen-Energy-Getränke schlürfen? in Form von Kopfschmerzen. Hans Stilett sorgt Mit solchen Handlungen erreichen wir jedoch Und wann gedenkt er denn eigentlich auszustei- aber immer wieder für Lockerungsübungen. ein erstes Ziel schon kurz nach der Abreise: Den gen? wohlverdienten Einzelsitzplatz. Die Reise fängt so- Dass ebendieser ungebetene Gast sich eventu- Die Schweizerreise. Herausgegeben von Dirk Vai- mit gut an, die erste Hürde ist genommen. Denn ell auch an mir stören könnte, an dem Buch, das hinger, Kimche&Nagel 2008. der Gedanke, Zytglogge-Kursaal, Bern-Thun oder ich lese oder der Mahlzeit, die ich verschlinge, zie- Hans Stilett: Von der Lust, auf dieser Erde zu die Retourfahrt von Berlin neben einer uns frem- he ich nicht in Betracht. Auch, dass er vielleicht leben. Wanderungen durch Montaignes Welten. den Person sitzen zu müssen, ist uns ein Gräuel, den halben Wagen auf der Suche nach einem Ein- Eichborn, Berlin 2008. entlockt unseren Poren auch zur kältesten Jahres- zelplatz abgeschritten ist und sich eher widerwillig zeit den Schweiss. Was, wenn der uns unbekann- zu mir setzte, steht für mich ausser Frage. Denn te Weggefährte urplötzlich zu schwatzen beginnt ich bin schliesslich Libero. Libero ja, doch leider oder uns beim Einnicken den Kopf auf die Schulter nur auf dem Papier, wie es den Anschein macht.

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KULTUR & GESELLSCHAFT umstadtläufer Von Andy Limacher (Text) und Raphael Hünerfauth (Bilder)

Nr. 46 // Vierte Etappe. Ausgangspunkt dieser Wir nehmen uns Zeit für den Baumlehrpfad, der genkuchen und Tee unter den Bäumen. Wir sind die vierten Etappe unserer Grenzwanderung ist der kurz nach der Ara Worblaufen beginnt. Ich notiere einzigen Gäste und schätzen die Exklusivität, die Israelitische Friedhof. Ein friedlicher kleiner Ort, mir Trauerweide, Platane, Spitzahorn, Feldahorn uns zu Teil wird: Während der Hauptsaison ist es wenn man bedenkt, dass er direkt neben dem Au- und Akazie. Die Sonne kommt und geht, der Wind für gewöhnlich schwierig, einen Platz zu fi nden. Wir tobahnkreuz und unweit des Wankdorfplatzes liegt, frischt auf, einige Exemplare verlieren bereits ihre gehen eine Weile zwischen den Gewächshäusern wo die Bauarbeiten zum neuen doppelstöckigen Blätter. Wir schwelgen in Kindheitserinnerungen umher, schauen uns die Hängebauchschweine und Kreisel bereits begonnen haben. Die alten, mit Moos und erzählen uns, wie gern wir als Kinder das Laub Sandsteinfelsen an und versäumen viel zu viel Zeit. überwachsenen Grabsteine und das ungemähte am Wegrand zum Rascheln gebracht haben. Und Aber dafür ist der Herbst ja schliesslich bestens ge- Gras erinnern mich an Friedhöfe im hohen Norden – wie sehr sich die Erwachsenen darüber ärgerten, eignet: Um sich Dinge vorzunehmen und sie dann der Lärm der Motoren hingegen nicht. wenn wir in Laubhaufen spielten, die sie mühsam wieder zu verschieben. Gegen Mittag machen wir uns auf den Weg. Nach zusammengetragen hatten. Dann hängen wir für Irgendwie gewinne ich den Eindruck, dass diese einem knappen Kilometer entlang der Worblaufen- eine Weile unseren Gedanken nach. Wir begegnen Etappe unserer Stadtumwanderung nur aus Pausen strasse knickt die Stadtgrenze nach Südwesten ab. kaum jemandem: Einem älteren Fischer hier, einer besteht, aber was gibt es Schöneres, als die Land- Wir schlagen uns durchs Unterholz, stapfen über jungen Studentin da; sie ist in ihr Buch vertieft. schaft im Herbstlicht zu betrachten? Wir tun dies die feuchte Wiese und stehen schliesslich vor einer Das äussere Ufer der Engehalbinsel teilen sich für heute zum letzten Mal unterhalb des Rossfelds steilen, mit Dornen überwucherten Böschung. Der die Gemeinden Ittigen, Zollikofen und Bremgarten; und blicken zur kleinen Kirche auf Bremgartener Uferweg liegt nur wenige Höhenmeter unter uns, die Halbinsel selbst ist auf Berner Boden. Dass wir Boden hinüber. Wir ritzen unsere Namen in einen aber wir wollen nichts riskieren. Ein paar Schritte uns in Zollikofen befi nden, realisieren wir erst kurz grossen Sandsteinblock, wie es schon viele vor weiter, beim Schmiedeweg, führt sowieso eine Trep- vor der Reichenbach-Fähre: Ein Schild weist uns uns getan haben. Wenig später erreichen wir un- pe zur Aare runter. auf den ortsansässigen Angelfi scherverein hin. Auf ser Etappenziel: Die Felsenaubrücke, die Bern mit Wir passieren das Hammerwerk, das Clubhaus dem Baumlehrpfad haben wir unmerklich die Ge- Bremgarten verbindet. des Pontonier-Fahrvereins und verweilen für einen meinde gewechselt. Die Sonne geht bereits unter und lässt die Aare Moment bei der Slalomanlage des Paddelclubs un- Auf der leeren Gartenterrasse des Restaurants glitzern – sie wird uns auf unserer Reise noch für ter der Tiefenaubrücke. Die Gegend ist wie ausge- Schloss studiere ich die Speisekarte und male mir eine Weile begleiten. storben. Die Menschen, so scheint es, verkriechen aus, was ich bestellen würde: Einen Nüsslersalat sich bei den ersten Anzeichen des Herbstes in ihren mit Ei und eine Bauernbratwurst mit Zwiebelsauce Mehr Fotos der Expedition unter: Wohnungen. Wir sind uns sicher, dass wir uns auf und Rösti für insgesamt 30 Franken (mit Trinkgeld). www.tink.ch/bernaround dem ruhigsten Abschnitt unserer Stadtumwande- Leider ist die Beiz montags geschlossen. Auch die rung befi nden: Für die nächsten zwölf Kilometer Fährfrau hat zum Wochenbeginn Ruhetag. Raphi verläuft die Stadtgrenze mitten in der Aare. schiesst ein paar Fotos vom Schloss, während ich Ursprünglich hatten wir geplant, diesen Streckenab- mir vorstelle, von einem der grossen Fenster zum schnitt mit dem Gummiboot zu bewältigen, aber der Reichenbachwald rüberzublicken. Wasserstand, die damit verbundene hohe Fliessge- Eine halbe Stunde später lassen wir uns von der schwindigkeit und der Temperatursturz haben uns Fähre beim Zehndermätteli zum anderen Ufer über- davon abgehalten. Als Alternative werden wir dem setzen. Wir setzen uns auf einen Holzbank im Garten Uferweg folgen und ab und zu die Seite wechseln. des Restaurants und geniessen ein Stück Zwetsch- ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 39 MMagazinagazin

KULTUR & GESELLSCHAFT eine heikle gratwanderung... von Peter J. Betts

■ Eine heikle Gratwanderung: Der Versuch, Ver- sen, was unter dem Begriff »Klassische Musik» läuft lich oder erwünscht wie deren direktes Eingreifen ständnis und Verstehen und Verstehenwollen zu - und Text - eine wunderschöne, heikle Mischung in die Tätigkeit der RKK), sondern um das Fördern wecken und zu entwickeln – nicht selten aber, im von geistreicher Spielfreudigkeit, unterkühlten und des gegenseitigen Verständnisses und um das ge- engsten Wortsinn, eine not-wendige Voraussetzung aufgesetzten Pointen, lapidar fallengelassenen Un- meinsame Erörtern von allenfalls nötigen oder für das Überleben, beispielweise von Kulturschaf- geheuerlichkeiten, Information: leicht, nebenher, wünschbaren Kurskorrekturen hüben oder drüben. fen und damit der Gesundheit einer Gesellschaft. zentral. Verstehenkönnen schenken! Das - vielleicht Man diskutierte hauptsächlich den folgenden Fra- Hören Sie morgens jeweils in die «Mattinata» hi- nicht vor allem auf der Bewusstseinsebene - war genkomplex: Welche inhaltlichen, personellen oder nein? Im Musikunterricht – meine Pfl egemutter, auch von der Exekutive der Stadt Bern angestrebt infrastrukturellen Ziele standen für uns im Vorder- prominent und wohl lautstark im Frauenchor tätig, worden, als ihr Gemeinderat sein «Kulturpolitisches grund? Was haben wir davon erreicht, was nicht? und meine erste Lehrerin hatten mir glaubwürdig Konzept für die Jahre 1996 bis 2008» und unter Warum? Mit welchen unerwarteten oder vorausseh- und nachhaltig erklärt, ich sei total unmusikalisch anderem darin das «Controlling» für die Institutio- baren Schwierigkeiten mussten wir fertig werden? – hörte ich nie zu: Ich kann keine Noten lesen, kein nen, die für die Förderung des Kulturschaffens ihre Mit welcher Kritik (von innen oder aussen) mussten Instrument spielen und weiss, dass ich nicht singen Vertragspartnerinnen waren, verabschiedete. Con- wir uns auseinandersetzen? Welche Folgerungen kann. Punkt. Ich liebe es aber, der Musik zu lau- trolling: Das gegenseitige Verstehen durch Zuhören, ziehen wir aus der Tätigkeit des Berichtsjahres? schen. Und Musik verändert einiges in mir. Schon eine existentiell wichtige vertrauensbildende Mass- Wie wollen wir die neuen Ziele formulieren? Durch als Kind. Während Jahrzehnten hat mir DRS 2 vieles nahme hüben und drüben: für alle! Ziele waren: Mit das Controlling lernten viele der Institutionen erst in der Musik verstehen gelehrt: Etwa in der Mattina- allen grösseren und für die kulturelle Entwicklung Probleme und Ziele und Tätigkeiten der anderen In- ta. Eine Gratwanderung, was dort geboten wird. Da von Region, Kanton, Stadt wichtigen kleineren In- stitutionen kennen. Theatermenschen lernen plötz- gibt es Klänge und Text, und beim Zuhören lernen stitutionen sollten mehrjährige Leistungsvereinba- lich Menschen aus der Ausstellungswelt kennen, sogar Menschen wie ich Zusammenhänge erken- rungen abgeschlossen werden. Die vier Ecken des Jazz-, Pop- und klassische Musikerinnen kommen in nen, ohne sich einem Lernprozess unterworfen zu solidarischen Vierecks, der «Regionalen Kulturkon- Kontakt mit sehr unterschiedlichen Fächern und so fühlen. Man erfährt etwa über Umstände: pekuni- ferenz, Bern» (RKK): Die gegen hundert Regionsge- weiter. Durch die Mitglieder der Fachkommissionen äre, zwischenmenschliche, gesundheitliche, unter meinden, die Burgergemeinde (eine Spezialität im können eher museal orientierte Institutionen (auch denen komponiert wurde; über Höhenfl üge von Kanton Bern), die Einwohnergemeinde (Stadt), der im Theaterbereich) in den Kontakt mit den Mög- Sängerinnen und ihr Überwinden von Tiefs; dass Kanton sind die Finanzierungsträgerinnen und der lichkeiten des zeitgenössischen Kulturschaffens die Sendung gleich durch die Nachrichten mit den -träger. Gemeinsam verpfl ichteten sie sich, durch kommen. Vielleicht wird es so eher möglich, dass obligaten Börsekursen unterbrochen werde; über feste fi nanzielle Jahresbeiträge an die gemeinsam zusätzlich heutige Komponistinnen für das Sym- vielfältige Reaktionen von Publikum zu verschie- bestimmte Gruppe von «Kulturinstitutionen» deren phonieorchester schreiben oder Dramatiker für das denen Zeiten und in unterschiedlichen (etwa politi- Weiterexistenz und Weiterentwicklung bei genügen- Stadttheater. Und Verwaltungsmenschen sehen in schen) Verhältnissen; über Aufbau und ungewohnte den fi nanziellen Eigenleistungen fi nanziell sicher- die Probleme der Kunstschaffenden hinein, hören Strukturen (beispielsweise, warum bei einem Kon- zustellen. Jede dieser Institutionen – ob gross oder deren Sprache und lernen sie verstehen; Kultur- zert das Soloinstrument gleich am Anfang promi- klein, teuer oder günstig – galt für die ganze RKK schaffende kommen Bürokratinnen näher, Landbe- nent erklingen kann, ohne längeres Palaver des Or- und ihre Gesamtbevölkerung als wichtig. Die Regi- wohner und Gemeindepolitikerinnen lernen die Pro- chesters als gebührendes Vorstellungsritual); man onsgemeinden beschränkten sich etwa der Einfach- bleme und Denkweisen ihrer Spiegelbilder aus der hört, wie unterschiedlich eine klassische Klarinette heit wegen darauf, stellvertretend für alle übrigen Stadt kennen und umgekehrt. Es geht um Verste- oder eine moderne im gleichen Stück (das man viel- nur die grossen Institutionen zu unterstützen, aber hen, um Verstehenwollen, Verstehenkönnen. Eine leicht nach wie vor in der Interpretation von Benny – mit der Zielvorstellung – in dem Mass, welches Idylle? Eine Überlebensfrage? Natürlich ginge alles Goodman am liebsten hat) klingen... Und plötzlich die Stadt genügend entlastet, den kleineren Insti- leichter und reibungsloser aneinander vorbei, rati- versteht («versteht», nicht «weiss»!) man vielleicht, tutionen hinreichende Beiträge zu garantieren; die onaler gewissermassen, wenn sich einige Verwal- warum einen etwas berührt hatte, warum einen et- Burgergemeinde bezahlte – ihrer Tradition gemäss – tungsmenschen über den Rest der Einrichtungen was kalt lässt. Es wird nicht Wissen vermittelt, und fast vollumfänglich die Beiträge an das Historische für alle absprächen. Dann brauchte man sich nicht dann abgefragt. Es ist (scheint?) zufällig, wer was Museum. Nicht alle bezahlten also an alle Institution, mit dem mühseligen und zeitaufwendigen Problem wann erfährt (die meisten, oft erst mühsam erwa- fühlten sich aber für alle, die ganze Gruppe fi nanzi- des Verstehens auseinander zu setzen. Man kann, chend, können eh nur Bruchteile von Stunden da- ell verantwortlich! Mit jeder Institution wurden im ohne Rücksicht auf Verluste, vereinfachen und in bei sein, dann gehen, rennen, fahren sie zur Arbeit, gemeinsamen Gespräch die gegenseitig zu erbrin- zeitgemässe Terminologien hineinrutschen. Natür- zur Begegnung mit unzumutbaren Vorgesetzten, genden Leistungen ausgehandelt. Eine Vertretung lich kann man Controlling auch ganz anders orga- unlösbaren Problemen oder Leere und Langewei- aus jeder Institution unterhielt sich im jährlichen nisieren: DRS 2 zum Beispiel hatte das «Wort zum le, die Privilegierteren mit einer Spur von Sinn). Controllinggespräch jeweils mit einer Vertretung Tag» durch die oft nicht weniger faszinierenden Macht nichts; etwas bleibt hängen; nicht selten ist aus der RKK (ergänzt durch Fachpersonen aus den «Zwischenrufe» der DRS-2-Crew und diese dann lei- man sich dessen gar nicht bewusst. Und plötzlich städtischen Kommissionen für die direkte Förde- der durch die keineswegs gänzlich uninteressanten merkt man, dass man etwas – vielleicht scheint das rung – Einzelförderung – des zeitgenössischen Kul- «Hundert Sekunden Wissen» ersetzt – Häppchen gar nichts mit Musik zu tun zu haben - ein bisschen turschaffens, was Fachkenntnisse einbrachte). Es von Wissen sind in... anders versteht, dass man vielleicht selber ein biss- ging nicht um Kontrolle (ein inhaltliches Eingreifen chen anders ist. Klänge – ein breites Spektrum des- in die Arbeit der Institutionen war so wenig mög-

40 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 MMagazinagazin CARTOON www.fauser.ch

VON MENSCHEN UND MEDIEN gute idee für die falsche demokratie Von Lukas Vogelsang

■ Das Internet – allem voran das neue «News- damit erhalten die Medien die verlorengegangene Eine Journalistin oder ein Journalist, der heu- netz» des unübersehbaren Tamedia-Konzerns - ist LeserInnen-Identifi zierung zurück – aber eben nur te noch öffentlich eine Frage stellt, ist berufsmä- ein prächtiger Tummelplatz für halbstarke Politi- vermeintlich. ssig gestorben. Die neue Medienschule bringt nur ker oder solche, die davon keine Ahnung haben. Das «Newsnetz» ist in den drei Städten Zürich, noch bei, wie man einen PR-Text umschreibt oder Das betrifft nicht nur die JournalistInnen, welche Basel und Bern aktiv. Das heisst, die Plattformen wie man sich als Journalist besser verkaufen kann. in letzter Zeit immer mehr Meinungen manipulie- sind für diese Städte massgeschneidert im Inhalt, Die Macht über Informationen haben die Medien ren statt Bericht zu erstatten, sondern das betrifft die Artikel aber sind oftmals die gleichen. Wenn ein gewonnen und auch gleich verspielt. Information auch die Internet-KommentatorInnen. Das sind Artikel also 140 Kommentare aufweist (wobei eben ist heute nichts mehr wert, Meinungen werden jene anonymen Zeilenschreiber, die das «News- viele Kommentare von den gleichen Schreibern nur noch pauschal akzeptiert, die Bildung der Be- netz» am Rande bevölkern und zu jedem Bericht unter anderem Namen verfasst werden), ist das völkerung ist egal und die Kommentarfunktion im einen Nachsatz schreiben müssen. Weil es dabei bei einer theoretisch möglichen Leserschaft von «Newsnetz» soll die Welt retten. Ich glaube, wir keinen Personaliencheck gibt und die Einwürfe von Schätzungsweise 1’500’000 Personen ein mick- sind mit der Finanzkrise noch ganz gut bedient. der Redaktion nur mit einem Auge geprüft werden, riges Ergebnis. Das Einzige was diese pseudo-de- Die JournalistInnen kritisiere ich in diesem kann sich hier jeder und jede vermeintliche Besser- mokratische Bürgerpresseplattform bewegen oder Spiel, weil sie den Journalismus, die Presse als 4. wisserIn publizieren. Natürlich darf die Redaktion darstellen könnte, ist das Niveau und das Wissen politische Meinungsinstanz in der Schweiz, miss- auch selber unter irgendeinem Namen Einwürfe über die schweizerische Politik, gesellschaftliche brauchen und eine falsche Demokratie suggerieren. publizieren – nur um die gemeinte Diskussion ein- Anteilnahme oder das Interesse überhaupt. Sie spielen die EinheizerInnen, das jeweilige Thema zuheizen. Das nimmt oft geradezu groteske Züge Dabei wäre die Idee mit der Bürgerpresse nicht fährt die Lokomotive für den Verlag Richtung Ge- an und wird zu einem schlechten B-Movie-Ersatz. so dumm und fi ndet lustigerweise schon lange winn und darum geht’s. Oder vielleicht sind es die «Ich habe nun wirklich genug von der Rufmord- statt: Wenn eine Zeitung eine «Bürgerin» oder ei- Verlage, die dazu drücken – aber die JournalistIn- Kampagne des ‹Tagesanzeigers› und der ‹Sonn- nen «Bürger» auswählt, die oder der was zu schrei- nen demonstrieren nicht auf der Strasse, weil die tagszeitung› und einiger anderer Medien gegen ben hat, so ist das journalistisch legitim. Wenn aber Verlage nur noch die Gewinne sehen wollen. Dabei unsere Bundesräte. Jeder neue Bericht ekelt mich eine «Bürgerin» oder ein «Bürger» sich selber aktiv wären gerade sie jene «BürgerInnen», welchen wir an», war da in einem Kommentar zu lesen, als die der Schreiberzunft anschliessen will, so wird diese glauben und welche wir unterstützen würden. Medienwelt wieder einen Anlauf unternommen Stimme als nicht würdig erklärt – ausser die Person Die Medienwelt ist so belanglos und auswech- hatte, einen Bundesrat mit billigen Schlagzeilen wäre verfreundet mit den Medien oder Freund von selbar geworden, dass kein Internetkommentar und polemisch-journalistischer Kampfstrategie aus der Chefredaktion. Das macht überhaupt keinen sie noch retten könnte. Aber wir sollten uns selber dem Amt zu hissen. Genau der Aufschrei des Kom- Sinn und vor allem täte es einigen JournalistInnen retten, indem wir wieder inhaltliche Leserbriefe mentators ist das grosse Futter für diese Bewegung. sehr gut, wenn sie Wissende einbeziehen würden, schreiben und den Verlagen und Chefredaktoren Ein polemischer Artikel mit der Möglichkeit zur wenn sie keine Ahnung von einer Sache haben. Was die Meinungen sagen. Darum ginge es eigentlich. Stellungsnahme ohne grosse Personifi zierungshür- wir aber im «Newsnetz» erleben, ist keine Revoluti- de bringt Stimmung in die Online-Leserschaft und on – höchstens jene, der Pressedeformation. ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 41 MMagazinagazin SENIOREN IM WEB

Von Willy Vogelsang, Senior

■ «C’est le ton qui fait la musique!» Ein be- kanntes französisches Sprichwort, das sich ei- gentlich gar nicht dafür eignet, auf geschriebene Texte angewendet zu werden. Im August habe ich über die Interaktion geschrieben, die im Internet, zum Beispiel auf der Seite von seniorweb.ch, in den Foren gepfl egt wird. Jeder registrierte Be- nutzer kann dort seine Beiträge eingeben, seine «Stimme» einbringen. Dabei scharen sich in den vielfältigen Fo- renthemen ebenso vielfältige Menschen – also einfältig wäre hier ja sicher nicht richtig! Da sind ernsthafte, humorvolle, sachliche, emotionale Beiträge zu lesen, oder aber einfach Stichworte für ein Rätsel, ein Rat zu einem Problem, des öf- teren aber auch ein Wutausbruch, eine harsche Reklamation oder heftige Kritik. Da die Teilnehmer einer Diskussion sich in den wenigsten Fällen persönlich kennen, wird der «Ton» eben aus den Worten herausgehört. Das Programm stellt zwar zusätzlich sogenannte Emoticons (eine Sammlung von Smilies) zur Ver- fügung. Mit diesen kann der Schreiber oder die KULTUR & GESELLSCHAFT Autorin ihre Gefühle – oder ihr aktuelles Gesicht – zeigen. Gut gemeint, meist aber eher eine Spie- lerei. kinder-konsi-fest Der eigentliche «Ton» kommt aus den Worten, den Sätzen, der Sprache. Der geneigte Leser hört Von Barbara Neugel Bild: aus «Kalif Storch» von W. Hauff, Illustration: Margrit Roelli aus dem Geschriebenen die Musik heraus; harte, ■ Das letzte Fest, das im Konservatorium Bern im künstler. Nein, diese Artistinnen und Artisten sind schroffe Takte und weiche, fl iessende, freundliche Jahr 1994 stattgefunden hat, hiess «Konsi-Fescht». Kinder, Jugendliche und Menschen mit einer Behin- Töne unterscheiden sich sehr wohl. Im ganzen Haus an der Kramgasse wurde damals derung. Sie lernen während einer Woche Zirkusele- Nur schon diese musikalische Vielfalt macht es während eines Wochenendes musiziert und ge- mente wie Jonglieren, Balancieren oder Akrobatik. nun interessant, sich in die Foren hinein zu hören, spielt, und mit essbaren Köstlichkeiten wurde für Zum Abschluss dieser sicher anstrengenden, aber beziehungsweise zu lesen. Im Unterschied zum das leibliche Wohl der Teilnehmenden gesorgt. auch spannenden Arbeits- und Lernwoche treten Chat wird der Mitleser ja nicht sichtbar angezeigt. Im Jubiläumsjahr nun soll wieder ein solches die jungen Artistinnen und Artisten vor Publikum So kann ein Thema verfolgt werden ohne eigene Fest stattfi nden und diesmal soll besonders mit Kin- und zeigen, was sie gelernt haben, während das Beteiligung an der Diskussion. Fast so, wie wir uns dern gefeiert werden. Deshalb heisst das Fest auch Wunderplunder-Team im Hintergrund bleibt und für in einer Gesprächsrunde verhalten würden. «Kinder-Konsi-Fest». Am Wochennde vom 1. und 2. Hilfestellungen zur Verfügung steht. Wichtig ist bei Die Anonymität hinter dem Nicknamen und November 2008 können neugierige und abenteu- dieser Sache, dass die Kinder Spass an dieser Ar- dem oft verborgenen Profi l führt jedoch immer erlustige Kinder im Konsi auf Entdeckungsreise beit und dem Drum und Dran fi nden und zugleich wieder zu unbedachten Äusserungen, Vorurtei- gehen. Überall, in Zimmern und Korridoren, werden ihr Selbstvertrauen gestärkt und die Freude an der len, Anwürfen, die andere schmerzhaft treffen, sie auf Überraschungen stossen. Da werden seltsa- eigenen Leistung geweckt wird. beleidigen. Reaktionen und Missverständnisse me Töne zu hören sein oder auch elfenhafte Klän- Am Wochenende vom 25. und 26. Oktober 2008 sind dann nicht zu vermeiden. Trotz Nettiket- ge, da wird gezaubert und gespielt werden. organisiert das Konsi zusammen mit einigen Mit- te bricht ein Streit aus, der im schlimmsten Fall Im Grossen Saal wird ein musikalisches Tierquiz gliedern des Wunderplunder-Teams einen Work- durch den Moderator des Forums abgeblockt wer- veranstaltet (Samstag und Sonntag) und am Sams- shop. Teilnehmen können Konsi-Schülerinnen und den muss. Geschriebenes Wort im Netz lässt sich tagnachmittag fi ndet die Aufführung des Singspiels –Schüler, aber auch weitere Kinder, die ein wenig eben kaum mehr korrigieren. Das «Protokoll» in zwei Akten von Josef Rheinberger, «Das Zauber- Zirkusluft schnuppern und etwas Besonderes ler- hält den Konfl ikt fest. wort», statt. Auch das klingt vielversprechend. Aber nen möchten (Teilnehmerzahl beschränkt; Tel. 031 Da hilft eigentlich nur, seine eigenen Saiten ab das ist noch nicht alles. Neben weiteren Aufführun- 326 53 53; E-Mail: [email protected]). Das und zu neu zu stimmen. So wird eine Melodie er- gen und Attraktionen steht als Gast der «Theater- Gelernte wird am Kinder-Konsi-Fest dem Publikum klingen, die Sinn macht, hörbar, verstehbar wird. zirkus Wunderplunder,» der für seinen grossartigen vorgeführt werden. Vielleicht versuchen Sie es auch einmal, im «Or- Einsatz mit dem Kulturpreis 2008 der Burgerge- Man darf gespannt sein auf das vielfältige An- chester» mitzuspielen. Sie werden staunen, wie meinde ausgezeichnet worden ist, auf dem Pro- gebot und möchte selber nochmals Kind sein und gemeinsames Musizieren gut tut! gramm. Der «Theaterzirkus Wunderplunder» ist ein mitmachen. Lassen Sie sich überraschen! ganz besonderer Zirkus. Seine Artistinnen und Ar- www.seniorweb.ch tisten sind keine Berufskünstlerinnen und Berufs- Informationen: www.konsibern.ch

42 ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 MMagazinagazin Bild: Nachlass Emil Zbinden

KULTUR & GESELLSCHAFT die zeit in holz und farbe gestanzt Von Anne-Sophie Scholl - Zum 100. Geburtstag des Berner Holzstechers, Illustrators und Künstlers Emil Zbinden ■ Steigt man die Treppe im Stettlerbau des Kunst- land der 20er-Jahre gegründet, während dem Krieg die Welt zweiteilte, hat lange den Blick auf Zbindens museums hinunter, rückt als Erstes eine grosse mit Ablegern in Zürich und Lausanne, später wieder Werk verzerrt. Seine Gotthelf-Illustrationen wurden Druckerpresse ins Blickfeld: Den grafi schen Künsten in Deutschland, war die Gilde Hauptauftraggeberin in der Schweiz dem Kontext der Geistigen Landes- verbunden, blieb Zbinden zeitlebens der Druckkunst für den gelernten Setzer und Meister der Grafi schen verteidigung zugeordnet, umgekehrt wurde Zbinden treu, unbeirrt von der Kunstwelt, welche die Grafi k Kunst. Für dieses gewerkschaftliche Unternehmen, in Leipzig als politischer Künstler gefeiert. Eher hu- nach und nach in den Schatten der Malerei und der aber auch für andere Verlage war Zbinden über die manistischer Art ist Zbindens Interesse für den Men- Medienkunst stellte. Sinnbildlich steht die Presse Illustrationen hinaus für die umfassende Ausstat- schen und sein Leben. Als «dauernde Beschäftigung auch für das sorgfältige Handwerk des Berners, der tung der Bücher einschliesslich Rückentitel, Einband, mit dem Wesen des Menschen» erinnert der Sohn sich mit seiner Buchkunst einen Namen gemacht hat. Vorsatzpapier, Titelseite und Initialen besorgt. Karl Zbinden das Zeichnen des Vaters auf den vielen Und für seine Verbundenheit mit der Arbeiterschaft: Das buchgestalterische Schaffen Emil Zbindens Recherchereisen, die diesen durch die Schweiz und Jene Menschen, die er in seinem Werk zeichnete, für zeichnet die sorgfältig gestaltete Ausstellung in der darüber hinaus führten. die er aber auch die Mehrheit seiner Illustrationsar- Zentralbibliothek nach. Nachvollziehbar wird hier, Landschaftsbilder offenbaren die künstlerische beiten gefertigt hat. wie die hohen Aufl agen der Bücher Zbindens Vignet- Suche: Das Sujet eines Baumes wird zum Vorwand Drei Blätter zum Ikarus-Motiv spannen das Spek- ten bei einer breiten Bevölkerungsschicht bekannt für Textur, Rhythmus und Komposition dominieren in trum der grafi schen Werke von Zbinden auf, ver- machten. «Die Bücher bleiben», hatte der Gründer einer städtischen Landschaft, das Nachspüren von weisen in malerischen Anklängen darüber hinaus der Büchergilde, Bruno Dressler, dem jungen, su- Hodlers Handschrift wird erkennbar, vereinzelt fi ndet auf die kaum bekannten freien Arbeiten, die in der chenden Zbinden versichert. sich ein Aquarell. Die grossen Reportagebilder, die Retrospektive des Künstlers, der dieses Jahr 100 Das Wesen des Menschen Wie der künstlerische Zbinden von den Staumauern Oberaar, Lienne in der geworden wäre, im Kunstmuseum nun erstmals zu Fundus erscheint das im Kunstmuseum gezeigte Westschweiz oder Albigna im Bergell malt, bringen sehen sind. Poetisch und scharf gestochen zeichnet freie Schaffen. Erkennbar wird hier, wie Zbinden in die Faszination für die Ästhetik der Industrie zum sich die Figur des herabstürzenden Ikarus, in der Dia- der Arbeit seismografi sch seine Zeit festhielt, mit Ausdruck. Das künstlerisch erfasste Nebeneinander gonale daneben in dokumentarischer Prägnanz eine Stift, Stichel und Pinsel Bildreportagen fertigte, den von Strukturen im Fels wie im gebauten Werk oder in Bohrinsel und ihre Arbeiter. Blau erstreckt sich da- künstlerischen Ausdruck suchte und Techniken aus- den Baustellen hinterlässt hier einen etwas zwiespäl- zwischen das Meer in einer grossen Welle, in Schnitt- probierte – verschiedene Linien, die sich in Zbindens tigen Eindruck. technik ins längsseitige Holz geschnitten, weicher Werk kreuzen, verschlingen, aber auch mal in einer Gesellschaftspolitische Themen tauchen im Spät- in den Konturen und die natürliche Faserung des Sackgasse enden, so die Kuratorin Anna Schafroth. werk wieder verstärkt auf. Mit dem unfertigen Ge- Holzes ins Bild integrierend. Der griechische Mythos Engagierte Kunst spiegelt die Eindrücke, die den sicht eines russischen Bergarbeiters, welches beim erscheint hier ins 20. Jahrhundert gesetzt. Befl ügelt jungen Zbinden in der politisch und gesellschaftlich Tod des Künstlers auf der Staffelei stand, schliesst von technischer Machbarkeit stieg Ikarus mit den aufgewühlten Zeit der Weltwirtschaftskrise und des sich das Schaufenster auf Menschen und Leben ei- selbst gebastelten Flügeln so hoch in den Himmel, aufsteigenden Nationalsozialismus in seinen Aus- ner Zeit, deren einfühlsamer und künstlerisch sen- bis seine Federn in der Sonne versengten. bildungsjahren 1928–31 in Berlin und Leipzig tief sibler Chronist Zbinden war. Das Buch als Kulturgut Die präzisen Drucke im berührten. Nach seiner Rückkehr nach Bern hängt Kleinformat, auf die harte Stirnseite des Holzes ge- er in seiner Wohnung Porträts von zwei hingerich- Ausstellung im Kunstmuseum Bern: «Emil Zbinden stochen, bedingte die Arbeit als Buchgestalter und teten Künstlerfreunden auf. In Bern fertigt er einen 1908–1991. Für und wider die Zeit». Bis 18.1.2009. Illustrator. Zum Markenzeichen von Zbinden sind Druck zu dem Schauprozess des Reichstagsbrandes Info: www.kunstmuseumbern.ch Stiche geworden, wie sie etwa in den «Schönsten Sa- und zeichnet den Hauptangeklagten Kommunisten Katalog: Anna M. Schafroth. «Emil Zbinden. Für gen des Klassischen Altertums» von Gustav Schwab Dimitroff als Ankläger des aufsteigenden National- und wider die Zeit». Benteli Verlag, 2008. zu sehen sind, vor allem aber die Illustrationen der sozialismus. Ein politisch engagiertes Anfangswerk, Ausstellung in der Zentralbibliothek Bern: «Emil sechzehnbändigen Gotthelf-Gesamtausgabe der Bü- das den Künstler unter generellen Kommunistenver- Zbinden und das Buch. Das buchgestalterische chergilde Gutenberg. Druckerei, Verlag und Buchklub dacht stellte. Werk der Berner Zeichners, Holzschneiders und Ty- für Arbeiterinnen und Arbeiter, zunächst im Deutsch- Leben und Leute Die Optik, die im Kalten Krieg pografen». Bis 28.2.2009. Info: www.ub.unibe.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 43 MMagazinagazin ➜ ➜ ➜ ➜ ➜ KLEINANZEIGEN

KLASSIK 5 Jahre Konzertreihe Musik am Sonntag: «Sait- DER BESTE LESERBRIEF en und Pfeifen», ein Konzert mit Schülerinnen und Schülern der Musikschule Worblental/Kiesental. ■ Der Kulturminister der Schweiz von 2007–2009, Kollekte, keine Vorreservation. Vechigen, Kirche, Dominik Riedo, vergibt 2008 und 2009 einen Preis, 17:00 Uhr. www.musikschuleworb.ch der die aktive kulturelle, gesellschaftliche und/ oder politische Partizipation sowie literarisches seit 1998 und rhetorisches Handwerk fördert. Ausgezeich- der beste Leserbrief. nur VORLESUNG net wird: Lesung mit Raeto Meier, Autor mit Psychiatrieer- Einzureichen sind ein Text im Umfang von fahrung, mit anschliessendem Vortrag, Diskussion maximal 2500 Zeichen sowie als Beilage dazu ein zum Thema «Wege aus der Krise» und Apéro. Am Beitrag aus einem Schweizer Presseerzeugnis, auf 10.10.08, Tag des psychisch kranken Menschen, den sich der Leserbrief konkret bezieht und re- um 18.30 Uhr im Psychiatriezentrum Münsingen, agiert. gute Haus 42, 2. Stock, Kollekte. Texte können in deutscher und französischer Sprache eingereicht werden.

GESUNDHEIT / MANN / ... Eingabefrist: 2. November 2008 (Poststempel) AUF ZUR KRAFT DER MITTE... Der Kurs für Texte sind zu schicken an: Männer (Becken-)Boden fi nden, Rücken entlasten, Musik Kopf befreien. Ab 25. Okt. 08, 9.30 - 12.30h, 4-teil- Kulturministerium.ch iger Kurs (Fortsetzung 8. & 22. 11. & 13. 12.) mit Beat c/o p&s netzwerk kultur Hänsli. Info: www.taichidao.ch Tel. 031 302 55 65 Herdschwandstr. 7 Wir haben keinen Computer für die 6020 Emmenbrücke Musikauswahl sondern Fachjourna- Kleinanzeigen: Über unsere Webseite können mail: [email protected] die Kleinanzeigen für nur Fr. 45.00 pro Mo- listInnen, Fans, Singer-Songwriter, nat aufgegeben werden. Dazu müssen Sie auf INSERIEREN und die Seite nach unten bewe- Mehr Informationen, Teilnahmebedingungen sowie Sammler, Nischenbeobachter, Sport- gen. Alles weitere steht da geschrieben... Preisgeld unter: www.kultuministerium.ch redakteure, Verlags-Lektoren und Auslandkorrespondenten, die nur die neuen Platten besprechen, die sie für gut befunden haben. Diese zehn Mal im ABO BE 10/08 jährlich erscheinende Sammlung von ensuitekulturmagazin Empfehlungsschreiben ist für unsere Sie wissen nicht mehr wohin? ensuite - kulturmagazin im ABO lässt Sie Monat für Monat Kultur und Kunst entdecken (inklusive die Beilage artensuite)! AutorInnen auch eine Spielwiese und

❑ Ausgabe Bern ❑ Ausgabe Zürich Vorname das merkt man den Texten an. Auch ❑ Abonnement je Stadt Fr. 58.00 für viele treue AbonnentInnen ist ❑ Abo für Studierende / AHV / IV Fr. 32.00 Name ❑ Ich möchte GönnerIn werden (ab Fr. 300.00) LOOP seit zehn Jahren die letzte ❑ Ich möchte ein Abo verschenken. Hier mein Adresse Name, Adresse und Wohnort: Oase in der Musikwüste, die sie PLZ / Ort nicht mehr missen möchten, selbst E-Mail wenn sie im Ausland arbeiten. Zum Beispiel in Peking. Datum / Ort / Unterschrift

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