perspektiven des demokratischen sozialismus Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik 29. Jahrgang 2012 Heft 2 ISBN 978-3-89472-588-4 ISSN 0939-3013 Gesellschaftsreform

Herausgegeben im Auftrag des Vorstandes und ökologisches der HDS von Nils Diederich, Iring Fetscher, Helga Grebing, Leo Kißler und Karl Theodor Schuon Wirtschaften

Redaktion: Bernhard Claußen, Klaus Faber, Horst Heimann, Arne Heise, Ulrich Heyder, Jens Kreibaum, Thomas Meyer, Thomas Noetzel, Roland Popp, Walter Reese-Schäfer, Hans-Joachim Schabedoth, Klaus-Jürgen Scherer, Joachim Spangenberg.

Redaktionsleitung: Roland Popp eMail: [email protected]

HDS-Geschäftsstelle: c/o Kulturforum WBH, Wilhelmstr. 141 10963 x ı 8 Í o … Å ä x ı 8 é Ø ß ¨ … Weitere Informationen unter: À � 6 www.hds-perspektiven.de www.perspektiven-ds.de

Verlag und Abo-Vertrieb: Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg Informationen zu perspektiven ds und zum Verlagsprogramm des Schüren Verlags finden Sie im Internet: www.schueren-verlag.de Die perspektiven ds erscheinen zweimal im Jahr. Einzelpreis 9,90 , Jahresabo 16,90 incl. Versand. Der Bezugspreis für HDS- Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. © Schüren Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte Manu- skripte wird keine Haftung übernommen. Anzeigenverwaltung: Schüren Verlag Druck: Gruner-Druck, Erlangen

Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidari- schen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie. perspektivends Hamburger Grundsatzprogramm der SPD 2/12 Inhalt Eckart Kuhlwein Die SPD und die Nachhaltigkeit 101

Nina Scheer Editorial 4 Energiewende aus politischer und unternehmerischer Sicht 107

Aktueller Beitrag Beiträge und Diskussionen Die Grundlage sozialdemokratischer Ridvan Cifti Menschenbilder und ihre Bedeutung Der Staat als Einheit von politischer für eine gerechte Gesellschaft. Gesellschaft und Zivilgesellschaft. Rede zur Buchvorstellung Sozial- Zum 75. Todestag von Antonio demokratie und Menschenbild 6 Gramsci 112

Horst Heimann Themenschwerpunkt: Anmerkungen und Fragen eines Gesellschaftsreform und ökologisches Sozialisten zu: Sigmar Gabriel (Hg): Wirtschaften Die Kraft einer großen Idee. Europäische Moderne und Soziale Ulrich Heyder Demokratie 125 Zum Reformbedarf in der Krise. Oder: Wozu nutzen wir Klaus Faber unsere Freiheit? 17 Die Rückkehr des Bundes in die Hochschul- und Bildungspolitik. Holger Rogall Neue Bund-Länder-Hochschulpakte Wirtschaftliches Wachstum in und die Abschaffung des einer nachhaltigen Ökonomie – Kooperationsverbots im Ein Widerspruch? 46 Bildungsbereich 139

Arne Heise Demokratie und Sozialstaat – Berichte und Rezensionen Einblicke in eine kontroverse Beziehung 69 Peter Brandt Bemerkungen und Rede zur Buchvor- Joachim H. Spangenberg stellung zu Bernd Faulenbach: Das Finanzmarktkrisen und sozialdemokratische Jahrzehnt 148 Nachhaltigkeit 88

2 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Inhalt

Petra Hoffmann Roland Popp Rezension zu: Lutz Brangsch, Judith Rezension zu: Heinz Bude, Thomas Dellheim, Joachim H. Spangenberg: Medicus, Andreas Willisch (Hrsg.): Den Krisen entkommen – Sozial- ÜberLeben im Umbruch 158 ökologische Transformation 152

Nils Diederich Autorinnen und Autoren 163 Rezension zu: Richard Saage, Helga Grebing, Klaus Faber (Hrsg.): Sozialdemokratie und Menschenbild 155

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 3 Editorial sinnigen Produktions- und Wachstums- raten vieles wieder zunichte zu machen. Die neue Wirtschaftsordnung und das neue ökologische Wirtschaften ist grundsätzlich kein Exklusiv-Thema Stehen wir am Übergang zu einer neu- der Sozialdemokratie. Auch konserva- en Wirtschaftsordnung? Benötigen wir tive Parteien und die stärksten kapita- eine neue Vorstellung von Wachstum? listischen Wirtschaftskreise sind mitt- Zumindest hat es den Anschein, dass lerweile vom „Umdenken“ überzeugt, wir aufgrund der katastrophalen Folgen obwohl sie über viele Jahre seriöse öko- des industriellen Wirtschaftswachstums logische Einschätzungen blockiert, de- und der damit verbundenen bisherigen nunziert und diffamiert haben. Sie wis- Energieproduktion ein fundamenta- sen aber nun, dass die kapitalistischen les gesellschaftspolitisches Umschwen- Wirtschaftssysteme – und eben auch die ken benötigen. Die Reaktorexplosion bundesdeutsche Variante der sozialen in Fukushima war einer der gewaltigs- Marktwirtschaft – nur dann eine über- ten Auslöser für die Fragen nach einer lebensfähige Grundlage für Gewinnrea- überlebensfähigen Energieproduktion. lisierung und Kapitalakkumulation bie- Man hat den Eindruck, dass wir tet, wenn „ökologisches Wachstum mit heute Debatten führen, die wir zum Teil Nachhaltigkeitsgarantien“ das Funda- schon in den 1970er und 1980er Jahren ment für Produktion, Distribution und geführt haben. Wer erinnert sich nicht Konsumtion bietet. Der Gesellschafts- an die scharfen Auseinandersetzungen konsens lautet mittlerweile (manchmal um den Unterschied zwischen „quan- ganz vernünftig, manchmal ganz ner- titativem“ (böses) und „qualitativem“ vig): Wer überleben will, muss ökolo- (gutes) Wachstum? Wer erinnert sich gisch leben. nicht an die vielen überzeugenden (zum Wenn man sich nur die Anzeigen in Teil auch weniger überzeugenden) Pu- den großen deutschen Tages- und Wo- blikationen zur ökologischen Moder- chenzeitungen ansieht, ist auffällig, wie nisierung? Zurzeit scheinen diese De- dort mittlerweile auf den Putz gehau- batten wieder re-vitalisiert zu werden. en wird mit einer ökologischen Wirt- Sie gewinnen aber zugleich eine andere schaftsweise, mit umweltschonenden Dynamik, wenn man bedenkt, dass die und nachhaltigen Produktionsverfah- „aufkommenden“ großen Industrielän- ren in der Automobilindustrie, beim In- der wie China, Indien oder Brasilien dustrie- und Wohnungsbau, selbst bei die westlichen „Ökologisten“ in Angst Finanzprodukten – und hierbei ließe und Panik versetzen. Hat mittlerwei- sich noch auf viele andere Werbekam- le die „heimische“ Wirtschaftsbranche pagnen in anderen Wirtschaftsbranchen den ökologischen Umbau als notwen- verweisen. Die klassische ökonomische dig für die eigene Überlebensfähigkeit Theorie des Wirtschaftswachstums wird anerkannt und eingesehen, scheinen die – so scheint es – abgelöst durch einen neuen Industriewalzen mit ihren wahn- Ökö-Ökonomismus mit Nachhaltigkeit.

4 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Editorial

Soweit sich auf den ersten Blick der nanziell und mental beteiligt und belas- große Öko-Konsens als neues Gesell- tet werden kann. schaftsparadigma auch durchgesetzt In unserem Themenschwerpunkt haben mag, bleiben bei genauerer Be- bieten wir dazu einige grundsätzliche trachtung aber doch noch ein paar wi- theoretische und politische Einschät- derständige Fragen: Wie teuer wird zungen und Ausblicke. Und alle unse- denn ökologisches Wirtschaften? Wer rer Autoren zeigen, dass der notwendige bezahlt die Energiewende? Und wer Abschied von der klassischen Wachs- kann sie überhaupt bezahlen? tumsgesellschaft auch mit einer funda- Der Öko-Konsens wird also kein mentalen Gesellschaftsreform korres- friedliches Umschwenken auf den Tu- pondieren muss. gendpfad, sondern er wird mit poli- tischen Auseinandersetzungen und Viele Anregungen beim Lesen wünscht Kämpfen verbunden sein. Diese Auseinandersetzungen wer- Roland Popp den dabei mehrere Frontverläufe in der Gesellschaftskonstellation ziehen: Ge- genüber einer wirtschaftsfreundlichen Öko-Politik wird klarzumachen sein, dass ökologisches Wirtschaften nicht für die einen „schöne“ Steuererleichte- rungen, Förderungen und Subventio- nen unterschiedlichster Art bedeuten kann – die am Ende dann wieder von der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger zu bezahlen sind. Und gleichzei- tig kann ökologische Modernisierung auch nicht bedeuten, dass eine wohlha- bende Mittelschicht rücksichtslos ihre ökologische Gesinnung als Politik für alle durchzusetzen versteht. Nicht um- sonst tauchen in vielen Städten immer mehr Bewegungen und Initiativen auf, die sich den Spruch „Kampf der öko- liberalen Mittelschicht“ auf die Fahnen geschrieben haben. Eine gerechte öko- logische Politik wird diese Frontlinien aufnehmen müssen. Eine sozialdemo- kratische Gesellschaftspolitik darf diese Frontlinien nicht übersehen, und muss politisch-pragmatisch klären, wer mit wie viel an der ökologischen Wende fi-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 5 Aktueller Beitrag

Redaktionelle Vorbemerkung (RP): Im März 2012 erschien in der HDS-Schriftenreihe der Sammelband „Sozialdemokratie und Menschenbild. Historische Dimension und aktuelle Bedeutung“, Schüren Verlag, Marburg 2011, herausgeben von Helga Grebing, Richard Saage und Klaus Faber. Die in diesem Band versammelten Beiträge behan- deln die historischen Entwicklungen, Herausforderungen und Perspektiven sozialde- mokratischer Menschenbilder. Am 31.05.2012 fand im Willy-Brandt-Haus eine Buch- vorstellung dazu statt. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hielt den Hauptbeitrag bei dieser Veranstaltung. Wir dokumentieren hier seine Rede.

Sigmar Gabriel Die Grundlage sozialdemokratischer Menschenbilder und ihre Bedeutung für eine gerechte Gesellschaft

Rede zur Buchvorstellung „Sozialdemokratie und Menschenbild1

Das ist gar nicht so einfach, hier zu re- Ich habe ja noch im analogen Zeitalter den. Wenn man als ehemaliger Student meine Arbeiten an der Universität Göt- von Helga Grebing und von Richard tingen geschrieben, deswegen sind die- Saage hier vorne steht, fühlt man sich se hoffentlich nicht mehr auffindbar. doch wieder in eine Prüfungssituation Jedenfalls war ich so nicht in Gefahr, zurückversetzt. Wenn mir das vor rund Plagiate zu verfassen. 30 Jahren jemand prophezeit hätte, dass Ich freue mich sehr darüber, dass ich einmal ein Buch von Euch vorstel- Ihr heute hier seid und wir das Buch le, ich hätte es wahrscheinlich nicht ge- vorstellen können. Und ich freue mich glaubt, und Ihr hättet herzlich gelacht. sehr über den Gegenstand – das sozial- demokratische Menschenbild. Denn in 1 Der Redestil wurde in der Schriftfassung bei- der Tat ist es ja so gewesen, dass wir – behalten. Titel und Zwischenüberschriften zumindest war das die Auffassung vie- wurden redaktionell hinzugefügt. ler Liberaler und Konservativer in der

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Politik – in den letzten Jahren den Ein- mit der Wertschätzung und der Wür- druck hatten, als sei die Frage nach dem de von Arbeit, aber auch der gegensei- Menschenbild spätestens mit dem Zu- tigen Verantwortung und Solidarität sammenbruch des sogenannten „real für die Entwicklung einer Gesellschaft, existierenden Sozialismus“ und dem relativ wenig zu tun hat. Insofern ist es weltweiten Siegeszug bürgerlicher De- eine gute Zeit, über Menschenbilder mokratien mit einer kapitalistischen und das Bild vom Zusammenleben der Wirtschaftsordnung beantwortet: Je- Menschen in Deutschland, aber auch der könne nach seiner Fasson selig wer- in anderen Ländern der Erde zu reden, den. The Pursuit of Happiness aus der weil die Ideologie der freien Märkte – amerikanischen Verfassung lag in den also die, bei der jeder seines Glückes Händen jedes Einzelnen, der am frei- Schmied sei – ebenso gescheitert ist, en Markt der Möglichkeiten versu- wie die eher libertären Vorstellungen, chen kann, im Wettbewerb mit ande- die wir aktuell wieder erleben in der ren endlich seines Glückes Schmied zu politischen Debatte. Denn ein Teil der werden. Das wurde zur wesentlichen sich individualisierenden Gesellschaft Ausdrucksform des Menschenbildes in meint, sich das Recht auf ihre Selbstent- unseren entwickelten kapitalistischen faltung nehmen zu können, die andere Industriegesellschaften. bezahlen sollen. Hierbei spielt die Fra- ge, was Arbeit eigentlich mit dem Men- Doppelbödige Freiheit schenbild und der Konstitution von Ge- Aber genau da steckte dann eben auch sellschaften zu tun hat – also die Frage, das Problem. Eine Gesellschaft der auf die die Sozialdemokratie seit fast 150 ihren Vorteil bedachten „Ichlinge“ ent- Jahren bewegt – eine ganz andere Rol- wickelt sich keineswegs zu einer im- le als in der Ideengeschichte unserer mer freieren und dynamischeren Ge- Partei. So beginnen sich die Gegensät- sellschaft. Wir haben sehr schön in den ze zwischen den unterschiedlichen Tei- letzten Jahren sehen können, wie die len der Gesellschaft wieder zu verschär- Idee, dass jeder auf den freien Märkten fen. Nicht jeder Schmied hat Glück, und seine Selbstverwirklichung betreiben wird deshalb auch nicht zu seines Glü- könne und dass es nur an ihm hänge, ckes Schmied. wie weit er dabei komme, gescheitert ist. Übrigens: Diese Debatte über das Men- Freiheit und Verantwortung schenbild, bei dem das freie Individu- Wir werden in den nächsten Monaten um das Recht auf Glück hat, aber auch und Jahren vermutlich viel damit zu die Verpflichtung, darum zu kämpfen, tun haben über die Frage zu reden, wie erlebt gerade auf der anderen Seite der wir eigentlich die wachsenden kulturel- politischen Medaille eine Wiederge- len und sozialen Aufspaltungen unserer burt. Denn auch bei der Diskussion Gesellschaft wieder einigermaßen zu- um das bedingungslose Grundeinkom- sammenfügen können. Ich glaube je- men wird ein Menschenbild sichtbar, denfalls, dass wir an einer Zeitenwende das mit dem Sozialdemokratischen, stehen, bei der das Bewusstsein davon,

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 7 Aktueller Beitrag dass eine Gesellschaft immer beides Wandel sozialdemokatischer Weltbilder braucht, wieder geschärft wird: Freiheit, Wir Sozialdemokraten wissen schon aus seinem Leben etwas zu machen, lange, dass die Hoffnung auf die be- aber eben auch Verantwortung für an- freiende Macht des Eigennutzes trügt. dere zu empfinden, weil nur dann eine Deshalb kommt die Erinnerung an ver- Gesellschaft sich gut entwickeln kann. schiedene sozialdemokratische Men- Wenn beides im Blickwinkel der in ihr schenbilder der letzten 150 Jahre – so alt lebenden Menschen steht, wird das werden wir im nächsten Jahr – von Hel- Pendel wieder in diese Richtung zurück ga Grebing, Klaus Faber und Richard schlagen. Saage aus meiner Sicht zu einer guten Zeit. Sie haben eine Problematik auf- Das „Miteinander“ als bereitet und ausgebreitet, die erst rela- Gesellschaftsgrundlage tiv spät in die sozialdemokratische Pro- Wir haben ein schönes Beispiel dafür im grammatik Eingang gefunden hat. Man letzten Jahr erlebt. Die Bremer Sozialde- kann aus dem Sammelband der drei He- mokratie hat einen Wahlkampf geführt rausgeber lernen, dass zwar die Debat- mit einem einzigen Wort. Und wenn te über das Bild vom Menschen so alt man da im Wahlkampf war, dann hat ist wie die SPD, dass aber erst seit dem man gemerkt, dass das Wort eine Saite Godesberger Programm das Menschen- zum Schwingen gebracht hat, die eine bild der Partei auch richtig ausbuchsta- ganze Zeit stillgelegt schien in unserer biert wird. Im Berliner und erst recht Gesellschaft. Das Wort hieß „Miteinan- im Hamburger Programm geschieht der“. Das war das einzige Wort, das auf das aus meiner Sicht sehr ausführlich, Plakaten der Bremer Sozialdemokra- und – wie ich auch finde – beeindru- tie in ihrem Wahlkampf zu finden war. ckend. Klar wird bei dem Blick auf die Da waren nicht Forderungen wie „Kei- Programme: Je pluraler die SPD gewor- ne Kindertagesstätten-Gebühren mehr“, den ist, je unterschiedlicher die Motive, „Nur noch Ganztags- oder Gesamt- warum Menschen sich der Sozialdemo- schulen“, oder was man immer in Land- kratie anschließen, desto größer wur- tagswahlkämpfen plakatieren kann, de der Bedarf, sich auf eine gemeinsa- sondern die Bremer Sozialdemokratie me Vorstellung davon zu einigen, wie hat die gemeinsame Entwicklung ihrer eine Welt aussehen sollte, die den Men- Stadt, aller darin lebenden Menschen schen gerecht wird. In dem hier vorlie- in diesem einen Wort zusammenge- genden Sammelband gehen die Auto- fasst. Sie bildete damit ab, dass in unse- ren dem Wandel sozialdemokratischer rer Gesellschaft wieder stärker darüber Menschenbilder nach. Der Leser erfährt nachgedacht wird, was uns miteinander viel über den Einfluss historischer Er- verbindet, und nicht mehr nur darüber, fahrungen und Umbrüche auf das Men- was uns voneinander trennt und uns in schenbild der Sozialdemokratie. Auch gegenseitigen Wettbewerb führt. die Auseinandersetzung sozialdemo- kratischer Theoretiker mit dem jeweils herrschenden Zeitgeist spielt eine gro-

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ße Rolle im Buch. Das reicht vom So- Arbeitsprozess, das etwas beizutragen zialdarwinismus bis hin zur Kritik am hat, das sich äußert, das aber eben auch Neoliberalismus der Gegenwart. für sein Leben und seine Persönlichkeit mit diesem Arbeitsprozess verbindet: Menschenbild und Gesellschaftsbild All das prägt sehr stark den Mitbestim- als Konstante mungsgedanken der Sozialdemokratie Bei der Lektüre wurde für mich eines und ist dort praktischer Ausfluss eines deutlich: Selbst wenn Sozialdemokra- ganz bestimmten Bildes vom Menschen tinnen und Sozialdemokraten durch und seinen Eigenschaften. die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Die Konstante kommt auch im viel von ihrem historischen Optimis- Hamburger Programm von 2007 zum mus – ihrem naiven Optimismus, der Ausdruck. Dort heißt es: „Die gleiche historische ist ihr hoffentlich geblieben Würde aller Menschen ist Ausgangs- – eingebüßt haben, so gibt es doch Kon- punkt und Ziel unserer Politik. Men- stanten. Eine Konstante will ich beson- schen tragen verschiedene Möglichkei- ders hervorheben. Die Diskussion über ten in sich. Sie sind weder zum Guten das Menschenbild ist für Sozialdemo- noch zum Bösen festgelegt. Sie sind ver- kraten immer auch eine Debatte über nunftbegabt und lernfähig. Daher ist die Gesellschaftsform, in der Menschen Demokratie möglich. Sie sind fehlbar, im doppelten Sinn frei leben sollen. Frei können irren und in Unmenschlich- natürlich von Not und Unterdrückung, keit zurückfallen. Darum ist Demokra- aber auch frei zur Entfaltung ihrer Per- tie nötig.“ sönlichkeit. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Man kann das an der praktischen in den letzten 20 Jahren – in der Poli- Politik ganz gut deutlich machen an der tik erlebe ich das im Alltag immer stär- Diskussion der Sozialdemokratie über ker – hinsichtlich der Demokratie und Mitbestimmung und Betriebsverfas- der gleichen Würde des Menschen – das sung. Das ist in der Entwicklung die- sind die Voraussetzungen der Demokra- ser Idee nicht nur die eher technokra- tie – das Misstrauen in unserem Land tische Norm, Arbeitnehmerinteressen und vermutlich in allen westlichen In- innerhalb eines Betriebes oder Unter- dustrienationen immer stärker gewach- nehmens zu berücksichtigen. Dahin- sen ist. Je mehr Menschen Ungleich- ter steckt vielmehr ein ganz bestimmtes heit durch Mangel oder Not erfahren, Bild vom Menschen, das Arbeitneh- je mehr sie erleben, dass sie selbst eben merinnen und Arbeitnehmer eben nicht nicht Subjekt, sondern Objekt einer an- zu Objekten von Direktionsentschei- geblich höheren wirtschaftlichen Lo- dungen degradiert; es berücksichtigt, gik werden, wenn es etwa um ihre Ar- dass sie auch in ihrem Arbeitsprozess beitsplätze geht, und je mehr sie anderen Subjekte bleiben und im Übrigen am Menschen und anderen Nationen zual- Betriebstor kein Schild steht „Hier en- lererst als Konkurrenten gegenüberge- det der demokratische Sektor der Bun- stellt werden und nicht als Partner, desto desrepublik“. Das Bild vom Subjekt im stärker haben sie sich auch von diesem

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 9 Aktueller Beitrag

Optimismus gegenüber einer demokra- Gestaltungskraft von Politik und de- tischen Gesellschaft entfernt. ren Gestaltungswillen glauben, sondern eher die Auffassung haben, die Welt teile Politik gegen Ohnmachtsgefühle sich in die da oben und wir hier unten. Von all den Dingen, die wir in unserem In diesem dichotomischen Bewusstsein Land und in Europa und darüber hin- nehmen viele Bürgerinnen und Bürger aus zu regeln haben, erscheint mir eines Abschied von politischer Beteiligung. das schwierigste: Das ist der Umgang mit den Ohnmachtsgefühlen in unserer Pessimismus als Gegner der Gesellschaft. Die hat ganz unterschied- Sozialdemokratie liche Ausprägungen. Die eine, der man Die Sozialdemokratie hat immer von noch am einfachsten begegnen kann, einem optimistischen Hoffnungsüber- ist, dass Menschen glauben, der Spruch schuss von Menschen gelebt. Sie hat es „Geld regiert die Welt“ sei richtig und schwer in einer Gesellschaft zu agie- deshalb seien Parlamente, Politiker und ren, bei der es eher einen Überschuss Regierungen eigentlich gar nicht in der an Pessimismus gibt. Das, glaube ich, ist Lage, die Lebensbedingungen von Men- der größte Gegner der Sozialdemokratie schen nachhaltig zu beeinflussen. Da- und ihrer Idee. Das ist nicht die CDU gegen kann man im Zweifel mit politi- oder die FDP oder die Grünen, sondern schem Engagement und auch besserer dieses Ohnmachtsgefühl in der Gesell- Politik etwas tun. schaft. Und man muss fast froh sein, Ein zweites Ohnmachtsgefühl – und dass es einen Teil von Menschen gibt, das drückt das ganze Misstrauen gegen- die sagen, wir sind mit dem, was wir er- über den etablierten demokratischen leben, unzufrieden und beteiligen uns Institutionen, Parteien und Struktu- bei der Gründung einer neuen Partei ren in Deutschland aus – ist das Ohn- erneut im parlamentarischen System. machtsgefühl von Menschen gegenüber Jedenfalls ist das allemal besser, als sie der Politik selbst. Wir werden erlebt als völlig als Gesprächspartner zu verlieren. Teil einer eigenen Klasse mit eigenen Regeln, abgehoben vom Alltag der Be- Wie debattieren wir Sarrazins Thesen? völkerung, nicht wissend, wie der All- Es gibt also Grund darüber zu reden, tag in Wahrheit aussieht, und mögli- wie unsere Vorstellung vom Menschen cherweise nicht mal daran interessiert. und von menschlichem Zusammenle- Das hat viele Gründe, auch in den Er- ben aussieht. Und natürlich habe ich ge- scheinungsformen von Politik. Eine Ur- sehen, dass die Debatte über die Thesen sache liegt sicher auch darin, wie Poli- von Thilo Sarrazin auch für die Auto- tik sich heute entwickelt und woher sie ren einer der Gründe gewesen ist, die- kommt. Aber das ist natürlich eine un- ses Projekt anzugehen. Wir erleben ja, geheuer gefährliche Entwicklung für dass bei der Veröffentlichung dieses Bu- die Demokratie insgesamt und für die ches – immerhin sind 1,5 Mio. Exemp- Sozialdemokratie insbesondere, wenn lare gekauft, vermutlich aber nicht alle Menschen letztlich nicht mehr an die gelesen worden – wie groß die verdeck-

10 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Aktueller Beitrag te Sehnsucht danach war, eben nicht rem Land. Das ganze Grundgesetz ist, von der gleichen Würde aller Menschen den Nürnberger Ärzteprozess vor Au- ausgehen zu müssen, sondern eine un- gen, gegen diese Verbindung von gene- terschiedliche Würde zu vermuten und tischen und sozialen Fragen geschrie- endlich jemanden zu finden, der in einer ben worden, weil nie wieder ein Staat pseudowissenschaftlichen Argumenta- und eine Gesellschaft entstehen sollte, tion versucht, dafür scheinbar wissen- bei der genetische Auswahlprozesse or- schaftliche Argumente vorzustellen. ganisiert werden sollten zur Verbesse- Die Sozialdemokratie hat über die- rung der gesellschaftlichen, der sozialen se Thesen Sarrazins und sein Men- Verhältnisse in einem Land. schenbild – er selbst bezeichnet sich als Sozialdemokraten – eine Stellver- Das ist ja ein Menschenbild gewesen, treterauseinandersetzung geführt. Die das auch in der Sozialdemokratie und Auseinandersetzung in der SPD ist stell- auch in der Linken im Wechsel vom 19. vertretend für eine geführt worden, die zum 20. Jahrhundert außerordentlich in der Gesellschaft nur zum Teil statt- modern war und populär. In fast allen gefunden hat. Und man muss zugeben, damaligen ideologischen oder ideen- dass wir diese Auseinandersetzung ver- geschichtlichen Entwicklungen galt es, loren haben. Selbst in der Entscheidung den neuen Menschen zu schaffen. Das des Schiedsgerichts innerhalb der SPD wollten auch Sozialdemokraten. ist es nicht gelungen, das Kernproblem dieses Buches zum Gegenstand der De- „Wir sind das Bauvolk batte zu machen, nämlich sein Men- der kommenden Welt, schenbild. In den veröffentlichten Me- wir sind der Sämann, dien, in der innerparteilichen Debatte die Saat und das Feld, gab es stattdessen immer folgenden wir sind die Schnitter Versuch, sich damit nicht auseinander der kommenden Mahd, zu setzen: Ja, da habe der sicher irgend- wir sind die Zukunft welchen biologistischen Quatsch ge- und wir sind die Tat.“ schrieben, aber im Grunde sei das doch gut, dass einer endlich mal erklärt, wie Das ist ein anderes Lied der Arbeiter- schwierig die Integration in Deutsch- bewegung aus dem Roten Wien. Die land eigentlich sei. Kommunisten mit der Idee eines neu- Das ist die Behauptung, die beiden en Menschen, die sie mit jeder Brutali- Dinge könnte man voneinander tren- tät durchzusetzen bereit waren, und die nen. Aber das Buch Sarrazins trägt nicht Nationalsozialisten, die sich auf Sozial- ohne Grund den Titel „Deutschland demokraten aus Schweden beriefen – schafft sich ab“ und zum ersten Mal be- Ende der 1920er und Anfang der 1930er lebt eine respektierte Persönlichkeit des Jahre – Alva und Gunnar Myrdal, die öffentlichen Lebens nach dem Zweiten diese Idee genetischer Selektion zur Weltkrieg die Verbindung zwischen ge- Verbesserung der Bedingungen für eine netischen und sozialen Fragen in unse- sozial gerechte und sozialistische Ge-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 11 Aktueller Beitrag sellschaft in Schweden zur Regierungs- rüber ist nicht geredet worden, sondern politik erhoben hatten. Bis in die 1970er es ist über andere Dinge geredet wor- Jahre hinein wurden auf dieser Grund- den. Und Sarrazin selbst hat vermutlich lage Menschen in Schweden sterilisiert, irgendwann erlebt, dass er diese Debat- um ihre Fortpflanzung zu verhindern. te auch nicht überstehen könnte, und er Auf nichts anderes haben sich National- hat deshalb selbst auch nicht mehr dar- sozialisten berufen. Und übrigens: Sar- über gesprochen. Aber das zeigt, da ist razin beruft sich ebenfalls auf Gunnar etwas im Kern unserer Gesellschaft, das und Alva Myrdal, ohne allerdings die mobilisierungsfähig ist. Konsequenzen dieser Ideengeschichte zu beschreiben. Also eigentlich nichts Dünnes Eis in der Integrationsdebatte Neues, aber zum ersten Mal – weil wir Lieber Richard Saage, ich erinnere mich eben im ersten Teil des 20. Jahrhunderts an unsere Debatten über Konservativis- erlebt haben, zu welcher Katastrophe mustheorien und die neue Rechte und das führt – hat ein Politiker diese Idee über das, was damals Ernst August Ro- des Genetischen und der Verbindung loff über Adorno und seine Studien zum von Genetischem und Sozialem erneut autoritären Charakter in Göttingen ver- belebt. Er hat dafür entweder ungeheuer öffentlicht hat. Damals haben wir ge- viel Zuspruch bekommen oder zumin- lernt, dass autoritäre Charakterstruktu- dest doch vom beschwichtigenden Ver- ren in jeder Gesellschaft, die so komplex such profitiert, diese Kernthese seines und kompliziert ist wie Industriegesell- Buches zu verschweigen. schaften, entstehen, aber dass es darauf ankommt, ob sie sich Bahn brechen. Niederlage in der Debatte Und das ist tatsächlich die Frage. Mitent- Ich habe vorhin gesagt, wir haben die- scheidend ist, ob solche Ideologien von se Debatte verloren, weil es weder in- oben in der Gesellschaft salonfähig ge- nerhalb der SPD noch außerhalb der macht werden. Und Sarrazin kam von SPD gelungen ist, den Kern von Sar- oben. Und wenn ein Bundesbankvor- razins Menschenbild zum Gegenstand stand, ein ehemaliger Finanzminister, der öffentlichen Debatte zu machen. ein Sozialdemokrat, ein solches Men- Diskutiert worden ist über all das, über schenbild veröffentlichen kann, dann was man zu recht in Deutschland strei- trauen sich tausende aus dem Zentrum tend diskutieren darf: Vor allem über der Gesellschaft johlend und applau- gelungene und misslungene Integrati- dierend in der Berliner Urania zu sitzen on. Aber es ist nicht diskutiert worden und jeden Ansatz von Kritik so nieder über die Frage, welches Bild vom Men- zu schreien, dass die Kritiker in einer öf- schen uns eigentlich auszeichnet. Wel- fentlichen Debatte keine Chance mehr ches Menschenbild liegt unserem de- hatten, zu Wort zu kommen. Das zeigt, mokratischen Gemeinwesen und einem wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns be- friedlichen gesellschaftlichen Zusam- wegen, und wie wichtig es ist, in unserer menlebens in Deutschland, in Europa Gesellschaft über unser Bild vom Men- und in der ganzen Welt zugrunde? Da- schen und über unser Bild vom Zusam-

12 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Aktueller Beitrag menleben zwischen Menschen zu reden gen an Griechenland. Er wird die Eu- und klar zu machen, dass solche Verbin- ropäisierung dieses nationalen Gefühls dungen von Genetik und Sozialem in sofort erleben. Man sollte sich in Acht Deutschland, in Europa und in der Welt nehmen vor vorschnellen Erklärungen. ausschließlich einen Weg nehmen kön- Aber können einen solche Einstellungen nen, nämlich den in die Katastrophe. wirklich wundern, wenn seit mehr als 20 Jahren der Abbau von Wohlstand in Ökonomisierung des Sozialen den entwickelten Industrienationen mit Mich beunruhigt, wie viele Menschen dem gnadenlosen internationalen Wett- das Publizieren solcher Thesen als einen bewerb begründet wird, dem man sich Akt der Befreiung erlebt haben, eine Be- eben zu stellen habe und bei dem nur freiung auch von einem Menschenbild der auch als Nation, als Standort über- gleicher Würde unter den Menschen. leben kann, indem die Nützlichen sich Denn nichts anderes ist dabei passiert. durchsetzen? In dem Menschenbild, das Schaut man sich Untersuchungser- zu solch einem Weltbild passt, sind die gebnisse von Wilhelm Heitmeyer und Schwachen und die scheinbar Unnüt- Anna Klein aus dem letzten Jahr an, zen nicht nur Ballast. Sie sind mehr als dann weicht das Erstaunen doch deut- das. Sie werden schnell zu angeblichen lich der Beunruhigung. Die beiden un- Schädlingen, weil sie die Wettbewerbs- tersuchen die Ökonomisierung des So- situation des eigenen Landes und da- zialen. Hinter diesem sehr soziologisch mit das eigene Einkommen gefährden. klingenden Titel verbirgt sich die Be- Dazu passen dann übrigens Begriffe schäftigung mit einem Bereich, den So- wie „Sozialschmarotzer“ oder „Hartz- zialdemokraten als ein Feld der Koope- IV-Betrüger“, die in vielen Medien und ration und des friedlichen Ausgleichs auch in unserer politischen Alltagsspra- von Interessen verstehen, während die che längst Eingang gefunden haben. Neo-Liberalen auch das Soziale einem In derselben Befragung gaben fast reinen Nutzen-Kalkül unterwerfen wol- 65 Prozent an, dass „Leute wie ich so- len. Ich will Ihnen mit ein paar Zahlen wieso keinen Einfluss darauf haben, was illustrieren, wie sehr Ungleichheit in die Regierung tut“. Welche Aufgabe wir unserem Land schon zu Ungleichwer- als Politiker haben, zeigt diese Zahl: 83 tigkeit geworden ist. Prozent der Befragten sind der Mei- Fast ein Drittel der Befragten in nung, dass „sich Politiker mehr Rech- Heitmeyers und Kleins Befragung fin- te herausnehmen als normale Bürger“. den beispielsweise, dass sich „keine Und man muss wohl sagen, leider gibt Gesellschaft Menschen leisten kann, es dafür eine ganze Menge an Belegen. die wenig nützlich sind“. So lautete die Beispiele, wie die gerade genannten, Ausgangsfrage. Fast ebenso viele sind zeigen, dass es gute Gründe dafür gibt, der Meinung, dass wir in unserer Ge- sich mit dem Bild und der Idee über den sellschaft zu viel Rücksicht auf Versager Menschen und das Zusammenleben von nehmen. Ich empfehle jedem aktuell mal Menschen zu beschäftigen. Denn weder eine Debatte über deutsche Hilfszahlun- um unser gemeinsames Ziel der glei-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 13 Aktueller Beitrag chen Würde aller Menschen, noch um zu lassen – aus der Not heraus geboren, das dafür notwendige solidarische Zu- aber sicher auch um zu zeigen, dass ein sammenwirken steht es besonders gut. anderes Leben möglich ist – und gleich- Aber beim Warnen dürfen wir als Sozi- zeitig in der politischen Arbeit der Par- aldemokraten eben nicht stehenbleiben. lamente insgesamt die Gesellschaft zu Zu unserem Menschenbild gehört auch, verändern. dass Menschen ihre Geschichte selbst Aber schon im Erfurter Programm machen können, wenn auch nicht unter der SPD von 1891 sagen die Sozialde- selbstgewählten Umständen. mokraten, dass nur die Demokratie die Voraussetzung für eine den Menschen Praktische Solidarität gerecht werdende Form eines solidari- Seit 150 Jahren glauben wir Sozialdemo- schen Umgangs schafft. Die Demokra- kraten fest daran, und haben auch un- tie ist die politische Form, in der Soli- glaubliche Erfolge dabei erzielt, dass die darität eingeübt wird. Eine erleb- und Welt gestaltbar ist, wenn wir solidarisch praktizierbare, alle Bereiche des Lebens daran herangehen. Auch an diesen Fort- regelnde Demokratie – um nichts ande- schrittsoptimismus der Sozialdemokra- res geht es bei Willy Brandts Ankündi- tie erinnert übrigens der eine oder an- gung „Mehr Demokratie wagen“. De- dere Artikel in Helga Grebings, Richard mokratie, demokratische Praxis selbst, Saages und Klaus Fabers Sammelband, erzieht zu friedlicher Kooperation, zum ebenso wie an die Enttäuschungen, wel- Kompromiss und auch zur Solidarität. che die Partei erlebt, und welche sie ei- Das ist nicht nur die Aufgabe einer po- nen gesunden Realismus gelehrt haben. litischen Avantgarde, sondern das ist Im Rückblick auf die nun fast 150jähri- das Kennzeichen sozialdemokratischer ge Geschichte unserer Partei zeigt sich, Politik. Ich glaube, dass diese doppelte dass die SPD sich dabei meist in einer Aufgabe es wert ist, sich heute wieder an Doppelrolle gesehen hat. Sie hat ganz sie zu erinnern und übrigens auch dar- praktisch in den Kommunen, in den über nachzudenken, dass wir uns in ei- Betrieben, in den Bildungseinrichtun- ner weit besser gebildeten und auch in- gen, auch in den Parlamenten für die formierten Gesellschaft neue Formen Schaffung von Lebensumständen ge- demokratischer Partizipation zutrauen kämpft, unter denen ein menschenwür- können. diges Leben in Freiheit und Gerechtig- keit möglich sind. Darüber hinaus ist Für Bürgerbeteiligung – gegen einen sie eingetreten für eine politische Pra- zynische Politikvorstellung xis, die Solidarität erfahrbar und da- Ich kenne alle Argumente, die gegen mit zu einem Modus des täglichen Um- Volksentscheide sprechen, jeder ver- gangs miteinander macht. In den ersten sucht natürlich mitten in der Euro-Kri- Jahrzehnten war es das Ziel der Partei- se zu zeigen, siehst du, wenn du da die arbeit und der Praxis in der Arbeiter- Menschen fragen würdest, würden sie bewegung, Solidarität in dem eigenen alle raus aus dem Euro wollen und den Teil der Gesellschaft erfahrbar werden Griechen keinen Cent mehr schicken.

14 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Aktueller Beitrag

Aber es geht mir ganz grundsätzlich da- rer Bürgerinnen und Bürger zu verbrei- rum, dass nur über den Weg der demo- tern: durch die Öffnung der Parteien, kratischen Auseinandersetzung auch durch Mitwirkungsmöglichkeiten auch mit unseren Bürgerinnen und Bürgern für Menschen, die sich nicht ein Leben in unserer Gesellschaft demokratischer lang zu einer Partei bekennen wollen, Fortschritt, auch europäischer Fort- und auch durch die Verankerung des schritt zu erzielen ist, weil wir nur auf Rechts auf Volksentscheide und auf die diesem Weg den Zynismus in unserer Überprüfung parlamentarisch getroffe- Gesellschaft und in der Politik bekämp- ner Entscheidungen in unserer Verfas- fen können. Der Zynismus ist ganz we- sung. Auch da muss das Menschenbild sentlich auch dadurch entstanden, dass der Sozialdemokratie wieder sichtbar Parteien – auch die Sozialdemokrati- werden, dass wir den Menschen etwas sche Partei wie alle anderen – in der zutrauen. Wir sind eine Partei der Auf- Vergangenheit in der Alltagspraxis ihrer klärung, und wenn wir selbst nicht mehr Politik nicht in ausreichendem Maße an die Kraft des Arguments und an die die in ihrer Ideologie, in ihrer Vorstel- Kraft der Emanzipationsfähigkeit und lungswelt vorhandenen Wertvorstellun- Aufklärung glauben, warum sollten es gen vom Menschen und seinem Zusam- die Menschen tun, um deren Vertrauen menleben berücksichtigt haben. wir werben. Ein sozialdemokratischer Regie- rungschef aus Schweden hat mal als Eine progressive Version vom Leitlinie für sozialdemokratisches Re- selbstbestimmten Bürger gierungshandeln ausgegeben: Do it Ein neuer Anlauf zur Belebung der De- quick and dirty. Etwas frei übersetzt, mokratie in unserem Land muss sich heißt das: Mach sie ganz schnell nach allerdings dem ökonomischen Men- den Wahlen, die schlimmen Dinge, die schenbild des Neoliberalismus entgegen Du vorher verschwiegen hast. Bis zur stellen und ihm eine menschliche, zu- nächsten Wahl werden Deine Wählerin- gleich progressive Version eines selbst- nen und Wähler das wieder vergessen bestimmten Bürgers gegenüberstellen. haben. Das ist wohl das Motto, das fast Ich habe schon gesagt, dass ich glaube, alle Regierungen irgendwann einmal die Chancen dafür wachsen wieder, dass für sich in Anspruch genommen haben. Menschen merken, dass sie nur gemein- Aber wer so zynisch mit der eigenen Be- schaftlich aus ihrem Leben etwas ma- völkerung umgeht, darf sich eben auch chen können, und dass dieser Wester- nicht wundern, wenn nach längerer Er- welle-Spruch, wenn jeder an sich selbst fahrung die Gesellschaft ebenso zynisch denkt, ist an alle gedacht, für eine mo- denjenigen antwortet, die sich einen auf- derne Gesellschaft eben nicht sehr er - geklärten Umgang auch mit schwieri- folgversprechend ist. Unser Anspruch gen Entscheidungen in der Gesellschaft als Sozialdemokratie ist es, das Miss- nicht zutrauen. Deswegen glaube ich, verhältnis zwischen dem Anspruch der dass uns nur ein Ausweg bleibt, näm- Demokratie und der gesellschaftlichen lich die demokratische Teilhabe unse- Wirklichkeit wieder zurechtzurücken

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 15 Aktueller Beitrag und eine Balance zu schaffen, in der nehme Aufgabe der Sozialdemokratie, Freiheit und Gerechtigkeit sich gegen- ihre praktische Politik aus ihrem Ver- seitig bedingen, damit Solidarität und ständnis des Bildes vom Menschen und gesellschaftlicher Zusammenhalt neu des Zusammenlebens von Menschen entstehen. Das Lesen unzeitgemäßer heraus zu entwickeln und an den poli- Bücher, die zur rechten Zeit kommen, tischen Entscheidungen ihre Werthal- um die aktuellen Aufgaben der Politik tungen im Alltag sichtbar werden zu las- mit den historischen Erfahrungen ver- sen. Es gibt keine bedeutende politische knüpfen, ist dabei ausgesprochen hilf- Kraft in Deutschland, die sich diesem reich. Ich danke deshalb Helga Grebing, historischen Auftrag so sehr verpflichtet Richard Saage, Klaus Faber und allen, weiß wie die Sozialdemokratie, und das die zu diesem Buch beigetragen ha- muss auch in den kommenden Jahren ben, für ihre Arbeit. Es bleibt die vor- und Jahrzehnten so bleiben.

16 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Themenschwerpunkt: Gesellschaftsreform und ökologisches Wirtschaften

Ulrich Heyder Zum Reformbedarf in der Krise oder: Wozu nutzen wir unsere Freiheit?

Der gesellschaftliche Erneuerungsbedarf plätzen einigen. Auf dieser Basis könn- wird immer noch verkannt te im Weiteren ein europäisches Sozial- Wir bekommen die Staatsverschuldung modell entstehen, das weltweit beispiel- in Europa und bei uns selbst nicht in den gebend ist, so drei führende Sozialde- Griff, wir perpetuieren eine verhängnis- mokraten in der Frankfurter Allgemei- volle Blasenökonomie ohne echte Wert- nen Sonntagszeitung im Frühjahr 2012. schöpfung und wir denken die zentra- Und das wird nicht nur in der Sozialde- len Begriffe unserer Ökonomie nicht mokratie diskutiert. Das wirft die Frage neu, genau so wenig, wie wir die Grund- auf, wo es anfängt und welche Voraus- lagen von Staat, Gesellschaft und Wirt- setzungen das hat, nachhaltiges Wirt- schaft, den Problemen in der Krise ge- schaften und ein gestaltender und be- mäß, neu entwerfen. Was ist es, das uns zahlbarer Staat. blockiert? Warum tun wir das nicht – Wo der wirkliche Erneuerungsbe- aus unserer Freiheit? Warum gelingt es darf für die Lösung der Probleme liegt, uns nicht, die Hauptursachen der Krise anstelle neuer Schulden, tritt dabei nur zu korrigieren und das Verhältnis von wenig in das Bewusstsein. Allerlei Politi- Bürger und Staat neu zu ordnen? Da- sches wird erwogen, die Grundlagen für bei ist eine Zukunftsvision, mittelfris- den gesellschaftlichen Zusammenhalt, tig doch da: ein Europa als Vorreiter ei- der dabei auf dem Prüfstand steht, wer- ner nachhaltigen Ökonomie! Das meint den noch kaum reflektiert, geschwei- als ein Erstes die Möglichkeit, dass sich ge denn eine wirkliche gesellschaftliche zunächst in Kontinentaleuropa die Eu- Reformperspektive entwickelt. Wir sol- roländer für ein neues supranationales len den Schuldensumpf bei uns selber Regelwerk mit Beschränkungen und austrocknen, was durch die verfassungs- Kontrollen auf den wichtigsten Finanz- mäßige Verankerung einer Schulden-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 17 Ulrich Heyder bremse angeregt worden ist, gleichzeitig nen persönlichen Vorteil suchen muss, sollten wir nachhaltige Wachstumsim- gleichzeitig als politischer Bürger in pulse fördern und die Finanzmärkte an der Zivilgesellschaft gegen die Folgen den Kosten der Krise angemessen be- davon protestieren darf. Unsere Ver- teiligen. Letzteres beinhaltet eine euro- gesellschaftungsgrundlagen vom Indi- päische Bankenaufsicht, Trennung von viduum her stimmen nicht mehr. Erst klassischem Kreditgeschäft und Invest- die Gesellschaft selber schädigen und ment, Entwicklung eines bankenfinan- dieses dann, Schulden produzierend, zierten Risikofonds, Umsatzsteuern auf wieder korrigieren, das ist unsere Pro- Finanzmarktprodukte und vieles mehr. blemlösungspraxis. Wir müssen dem- Der wirklichen Krise in unserem Den- gegenüber vom Wirtschaften her anders ken und den Bedingungen gesellschaft- werden, wir, jeder Bürger und wir in un- licher Erneuerung wird dabei nicht ins serer Wirtschaftsverfasstheit. Auge geschaut. Damit meine ich die Dabei sind die erwähnten politi- schizophrene Form der Vergesellschaf- schen Maßnahmen in Bezug auf den tung, die sich in der sozialen Marktwirt- Bankensektor absolut erforderlich und schaft heraus gebildet hat: Wachsende notwendig, weil stabilitätsfördernd und gesellschaftliche Armut in Form prekä- Gefahren abwendend. Nicht überwun- rer Lebens- und Arbeitsverhältnisse bei den wird jedoch die allgemein zu beob- gleichzeitig ca. acht Mal nicht bezahlten achtende Verholzung unseres sozialen Staatshaushalten. Zwei Billionen Staats- Denkens, das die Probleme, hier die zu- schulden und eine staatlich sogar noch nehmende gesellschaftliche Entsolidari- angeregte Finanzschmarotzerei durch sierung, durch alte Gedankenschemata jährliche Zinszahlungen von über 50 zu bewältigen versucht. Neuen Gedan- Milliarden Euro an die Spekulanten, et- ken im Hinblick auf die Grundlagen der was grob ausgedrückt. Schizophrenie Vergesellschaftung wird ausgewichen. auch in dem Sinne, dass wir als Wirt- Die bestehende Arbeitsteilung zwischen schaftsbürger gegeneinander und ge- Staat und Gesellschaft wird nicht hin- gen die Umwelt in die sozialen Prozesse terfragt, ebenso nicht das Sozialstaats- eintreten, das nennen wir Wettbewerb, versagen im Schuldenberg und unse- und dann als politische Bürger die Fol- re soziale Verantwortungslosigkeit als gen davon sehr kostspielig wieder abar- Marktteilnehmer, überhaupt das ganze beiten, anstatt uns von der Wirtschaft Institutionengefüge, das unsere Leis- her eine verantwortete Sozialgestalt zu tungsfähigkeit und zugleich sein Ver- geben – aus Freiheit. Die sozialstaatlich sagen zur Erscheinung bringt. Durch produzierte Solidarität erweist sich als die aktuelle politische Krisenrhetorik nicht mehr tragfähig, aber neue Wege hindurch ist kein wirklicher ursachen- werden nicht beschritten. Das Flick- bezogener ordnungspolitischer Neuan- werk setzt sich fort. fang zu erkennen. Dabei sitzt die Krise Die Schizophrenie besteht weiter- ganz tief im System der sozialen Markt- hin darin, dass der gleiche Bürger, der wirtschaft. Die Finanzkrise geht aus in der Wirtschaft im Wettbewerb sei- dem Markt hervor, so wie er in diesem

18 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise

System ist, und die Schuldenkrise geht Ganz im Gegenteil. Es stinkt mehrfach: aus dem Staat hervor, so wie er in die- nach Drogen, Kriegsgewinnen, Waffen- sem System ist. Die soziale Marktwirt- handel, wirtschaftlicher Übervorteilung schaft ist vom Markt her sozial verant- und Betrug in undurchschaubaren Fi- wortungslos und vom Staat her in der nanzprodukten. Das Gewebe des Sozi- Folgenbearbeitung überfordert. Wenn alen löst sich in diesen Phänomenen auf wir die soziale Marktwirtschaft für uns und zerfällt. Es geht aber heute um die erhalten wollen, wofür es gute Grün- Vergesellschaftung von bald sieben Mil- de gibt, müssen wir sie radikal erneu- liarden Menschen. Die Schere zwischen ern und nicht bloß rückwärtsgewandt, Arm und Reich klafft ins Unerträgliche. unter heute völlig veränderten globa- Von den uns geschenkten natürlichen len Bedingungen gegenüber den ersten Ressourcen der Erde wurde weltweit zwanzig Jahren ihres Bestehens, immer in den wenigen Jahrzehnten seit dem wieder zu restaurieren versuchen. Zweiten Weltkrieg mehr verbraucht als Die zu beobachtende Entsolidarisie- die gesamte Menschheitsgeschichte da- rung und die mit ihr verbundenen Prob- vor. Und wie sehen die Sozialverhältnis- leme, weltweit eine Milliarde Menschen se aus? ohne Verdienst, dem eigenen Lebens- Zur Lösung der sozialen und öko- auftrag entfremdet, ohne Zugang zu logischen Fragen brauchen wir wie- sauberem Trinkwasser, ausreichender der mehr Gesellschaftsentwicklung. Es Nahrung, Bildung, Gesundheit, weiter- fehlt eine Sozialentwicklung, die es er- hin zunehmende Wirtschaftskriminali- möglicht, dass wir als Akteure schon tät (Drogengeschäft), lokale Kriege, die gesellschaftlich verantwortlich werden, Milliarden verpulvern, eine zunehmen- füreinander und für die Natur. Es feh- de Verwüstung der Biosphäre, grenzen- len jedoch besonders in der Wirtschaft lose Gier im Finanzverhalten, Funda- die strukturellen Vorgaben dafür, sozi- mentalismus, Terrorismus, der Zerfall al unmittelbar wirken zu können. Wir von Staatlichkeit, fordern die Grundla- überleben durch den Wettbewerb, in gen unserer überkommenen Lebenswei- diesem stehen wir gegeneinander, nicht se heraus. Im Finanzwesen fehlen nicht für die selbst erzeugten sozialen Proble- nur Regeln, sondern eine grundlegende me eintretend, jedenfalls nicht als Pri- Revision unserer falschen Auffassung märorientierung unseres Handelns. Ein vom Geld, wie sie in den rasant schnell Interesse, das nicht individualistisch- immer wieder neu erfunden Finanzpro- interessenbezogen in die Sozialprozesse dukten zum Ausdruck kommt. Der Ur- eintritt und ein entsprechender Modus sprung des Geldes, die wertschöpfende der Kooperation wird von den gegebe- Leistung, verliert sich aus dem Bewusst- nen Strukturen her nicht gefördert. An- sein. Nur Arbeiten schafft Geld, und gesichts der sozialen Dysfunktionen in Geld ist auch nicht neutral. Kaiser Ves- der Wirtschaft und einer überproporti- pasians Spruch, dass Geld nicht stinkt onalen Schuldenanhäufung in der Poli- (pecunia non olet), stimmt in diesem tik wird es zwingend anzufangen, dar- Zusammenhang ganz und gar nicht. an zu arbeiten, die wohlfahrtsstaatliche

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 19 Ulrich Heyder

Handlungsorientierung in gesellschaft- ständnisses werden heute zum Nachteil liche Lebensformen umzuwandeln. unserer gesellschaftlichen Entwicklung Eine Sozialentwicklung über die Markt- immer deutlicher. Als besonders pro- wirtschaft und den Wohlfahrtsstaat hi- minentes Beispiel hierfür kann das Frei- naus, so wie sie heute voneinander ab- heitsbekenntnis von Bundespräsident hängen, muss angestoßen werden, nicht Joachim Gauck herangezogen werden. als Kompensationsprogramm, sondern Gauck bezeichnet sich immer wieder als als Revision der primären Handlungs- einen „Liebhaber der Freiheit“ und das prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. erscheint auf den ersten Blick glaubhaft, Die bestehende Arbeitsteilung zwi- weil existentiell durch sein Leben und schen Individuen und Staat, so wie sie Wirken fundiert. Für Gauck ist Freiheit aus den gegebenen sozialen Strukturen „das Allerwichtigste im Zusammenle- hervorgeht, bedarf einer völligen Um- ben“. (Gauck 2012: 5) Damit verbindet kehr. Alle beklagen zwar die Problem- sich bei ihm zugleich ein ganz hoher lösungsunfähigkeit in den bestehenden Anspruch und doch auch eine charak- Strukturen. Aber keiner will diese än- teristische Begrenzung. „Wer heute da- dern. Es fehlt die Perspektive. Der Staat nach fragt, was unsere Gesellschaft aus- ist hoch verschuldet. Die Probleme, die macht, was sie prägt und ihr Gestalt in der Gesellschaft entstehen, werden verleiht, wird auf drei Wesensmerk- immer größer. Der Staat holt sich das male stoßen: Freiheit, Verantwortung, Geld von den Zockern, die auf den ge- Toleranz“. Und das gehört für Gauck sellschaftlichen Zusammenhalt pfei- untrennbar zusammen, wird persön- fen. Wer haftet eigentlich für diese Po- lich vorgelebt und impliziert für ihn litik? Oder besteht längst ein Konsens, auch, dass dieser Dreiklang zugleich als dass es die Inflation besorgen soll? Und „Grundlage einer globalen Leitkultur“ wann erfolgt die strukturelle Korrektur wirksam werden sollte. (Gauck 2012: 3) im gesellschaftlichen Raum selber, die Verfolgen wir die Ableitungen zu- es ermöglichen würde, den Staat wieder nächst ganz wörtlich. Eine erste Kon- gestaltend, problemlösend und nicht ka- kretisierung der Freiheit bedeutet für schierend zur Erscheinung zu bringen. Gauck ungebunden zu sein, nicht kom- mandiert zu werden, sich die Maßstä- Unser Freiheitsbekenntnis ist be des eigenen Lebens selber setzen zu erweiterungsfähig – das Beispiel können. Das führte ihn in der DDR zu Joachim Gauck der Erfahrung, dem sind hier durch die Dies führt uns zu der Frage, wozu nut- Verhältnisse unzulässige Grenzen ge- zen wir eigentlich unsere Freiheit? Ge- setzt, aber „in mir gibt es ein Reich der meint ist eine Freiheit, die sich nicht nur Freiheit“, beispielhaft repräsentiert in individualistisch auslebt, sondern als dem allseits bekannten Lied: „Die Ge- eine soziale Freiheit, als eine freiheitlich danken sind frei…“, aber, so Gauck, gewollte Sozialität in Erscheinung tritt. das „wärmte eine Zeit lang, machte uns Die bisher noch ungenutzten Potentiale aber politisch nicht satt“. Wichtig wird eines möglichen sozialen Freiheitsver- für ihn eine ganz wesentliche Erweite-

20 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise rung, die auch die Wendezeit existen- te aus dem Impetus der Liberalität und tiell ermöglichte, nämlich dass aus der der Bürgerrechte, wahrlich ein immer Sehnsucht nach Freiheit die „Gestal- wieder hart auf die Probe gestellter An- tung“, ja „Mitgestaltung“ von Freiheit spruch. Eine besondere soziale Idee war wurde (Gauck 2012: 24ff.). Und das darin aber nicht enthalten, schon gar vertieft sich bei ihm auch in eine sozi- keine Vision für ein erneuertes Zusam- ale Dimension: „Ich nenne die Freiheit menleben in einer defizitären bürgerli- der Erwachsenen Verantwortung“, und chen Gesellschaft, so wie es die heutigen das bedeutet „Hingabe“ und „Aufga- Krisenphänomene der sozialen Markt- be“ und es bedeutet die „Bezogenheit wirtschaft unübersehbar herausfordern. auf das eigene Selbst hinten an zu stel- Aus der erfahrbaren sozialen Krise len“. Wir sind geboren zur „Lebens- der Marktwirtschaft wird bei Gauck kei- form der Bezogenheit“ (Gauck 2012: ne weiterführende gesellschaftliche und 29) auch „Glück der Bezogenheit“, was ordnungspolitische Perspektive. „Wenn meint: „Verantwortung übernehmen“… wir die politische Freiheit gestalten wol- „Erfüllung durch Verantwortung“ wird len, gibt es nicht allzu viele Varianten “. zum Leitmotiv, bei Gauck existentiell (Gauck 2012: 58) Und weiter, „ich sehe fundiert und wie zu sehen ist auch per- jedenfalls keine, die den Grundsätzen sönlich präsent in seiner gegenwärtigen dieser westlichen Variante von Eigen- Amtsführung und wohltuend entgegen- verantwortung vorzuziehen wäre“. Und: genommen von den politischen Part- „Es gibt keinen Grund, eine neue Vari- nern bei seinen Auslandsbesuchen. Das ante von Antikapitalismus in die politi- überzeugt und wird auch vielfach wirk- sche Debatte zu bringen.“ (Gauck 2012: sam, wie z. B. in Gaucks Position zu den 60) So kann man jedoch eigentlich nur Menschenrechten und im Asylrecht. Es sprechen, wenn man ordnungspoli- gibt, so Gauck, auch eine „schützende tisch nichts anderes als die Alternative Freiheit“. (Gauck 2012: 35f.) Kapitalismus oder Sozialismus kennt. Gaucks Freiheitsverständnis zeigt Eigenverantwortung, das ist der Aus- zugleich aber auch und nicht untypisch gangspunkt, aber zu welcher sozialen für DDR-Biographien, charakteristische Verpflichtung führt sie denn und, falls Grenzen im Sinne einer Zurückhaltung als erforderlich erkannt, zu welchem in der sozialen Dimensionierung der der Problemlösung adäquaten freiheit- Freiheit. Die Revolution in Osteuropa lichen Wandel der Gesellschaftsord- war ja keine Erneuerung einer sozialen nung? Diese Frage wird nicht gestellt. Denkweise, sondern der Übergang von Der gesellschaftspolitische Vorstel- einer nicht mehr lebensfähigen defizi- lungshorizont bleibt seltsam eingebun- tären Lebensform in eine andere, ohne den: „Freilich möchte ich gerne, dass dieser anderen, ebenfalls hoch prob- wir den kapitalistischen Wirtschaftssys- lembehafteten, einen neuen Impuls zu temen so kritisch gegenüber treten wie geben. Dies ist etwas, was Gauck mit den verschiedenen politischen Richtun- V. Havel, M. Gorbatschov oder auch gen. Es soll und muss debattiert wer- D. Tusk vereint. Ihre Wirkung erfolg- den, ob konservative, liberale oder linke

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 21 Ulrich Heyder

Vorstellungen einer sozialen Marktwirt- aber haben Sie mehr Mut das ursäch- schaft eher gerecht werden oder bessere lich zu benennen, um aus einer sozialen Lösungen für künftige Krisen anbieten Freiheitsanstrengung neue Formen der werden.“ (Ebenda) Es fehlt die Pers- Lebens- und Gesellschaftsgestaltung zu pektive einer zukunftsbezogenen Al- entdecken. Tun Sie das ungebunden und ternative zum Gegenwärtigen, eine in mit Weitblick, das Etablierte kritisch Freiheit weiter zu entwickelnde sozial- hinterfragend. Lüften Sie die Systemli- reformerische Perspektive für die Be- nientreue auch in diesem System, den arbeitung der zunehmenden Probleme, marktlich zwingend gewordenen und wie sie das Markthandeln hervorbringt. staatlich geförderten unreflektierten „Ich wünsche mir, dass sich unsere Ge- Habitus des Konsumierens auf Schul- sellschaft tolerant, wertbewusst und vor denbasis, was uns zu einem im Kern allen Dingen in Liebe zur Freiheit ent- immer noch destruktiven Wachstum wickelt und nicht vergisst, dass die Frei- zwingt, um jeden Preis. Im Pazifik treibt heit der Erwachsenen Verantwortung eine zehn Meter dicke Müllschicht, alle heißt.“ (Ebenda) Das könnte es sein und Meere sind überfischt. Eine Bankenre- ist doch zu wenig. Eine ordnungspoliti- form tut not, wird heute angestrebt, aber sche Ausformulierung für eine soziale sozial nicht schöpferisch, und das Rou- Integration der Freiheit in die Markt- lette an den Börsen wird weiter gehen. wirtschaft fehlt. Das liberale Freiheits- In der sozialen Marktwirtschaft wird verständnis abstrahiert von den realen Freiheit fortwährend missbraucht, ohne Machtverhältnissen in der Wirtschaft, dass jemand die Verantwortung dafür es thematisiert sich nicht als soziale übernimmt. Noch problematischer ist Freiheit. Der innere Aspekt der Freiheit, jedoch, dass unsere Freiheit nicht ge- den Gauck repräsentiert, die Verbin- nutzt wird, nämlich zur Schaffung neu- dung von Willen, Erkenntnis und Han- er Lebens- und Wirtschaftsformen, die deln, die Willensfreiheit, entwickelt sich die genannten Trends nicht nur ein we- nicht wirklich weiter zu einer sozialphi- nig abbremsen, wie die bisherigen Po- losophischen Perspektive auch äußerer litiken, sondern umkehren und unsere Freiheit, zu einer sozialen Integration Lebensweise korrigieren. Das aber be- der Freiheit in unsere soziale Marktwirt- dingt eine neue Geburt der Freiheit aus schaft, die sich heute immer mehr durch einer wahrgenommenen sozialen Frei- Entsolidarisierung selber bedroht. heit, konkretisiert durch gesellschafts- Man möchte dem unbedingt ach- strukturelle Reformen. tenswerten Bundespräsidenten Folgen- Unser Wirtschaftsleben ist krank- des zurufen: Wissen Sie, dass wir in ei- haft und außer Kontrolle geraten. Unse- nem freiheitlichen System leben, das re Politik ist zu einem Getöse verkom- massiv daran beteiligt ist, fortschrei- men, parteiübergreifend. Alle dienen tend und unwiderruflich die Erde zu ungewollt vornehmlich den monetä- zerstören und die Grundlagen des so- ren Bedürfnissen einer kleinen Gruppe zialen Zusammenhalts immer stärker weltbeherrschender Akteure. Ein kon- zu schwächen? Natürlich wissen Sie es, sumfixierter maßloser Lebensstil, an

22 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise dem aber viele nie partizipieren werden, wirken eine kontinuierliche und lautlo- wird von diesen her zur allgemeinen se Umverteilung von unten nach oben. Norm. Wir leben unter einem Wachs- Das ist heute der Kern der Politik: Frei- tumszwang. Wir brauchen das Wachs- räume werden immer stärker einge- tum vor allem auch, damit wir unsere schränkt. Schamlose Spekulation, Rati- Schulden und den in ihnen steckenden onalisierung durch Wettbewerbsdruck maßlosen Lebensstil weiterhin kaschie- treten an die Stelle von sozial verant- ren können. Ist das das Erbe für die wortlicher Zusammenarbeit schon in kommende Generation? Systemwandel der Wirtschaft durch frei sich bilden- denken in der sozialen Marktwirtschaft, de verantwortliche neue Zusammenar- den bereits vergangenen Sozialismus beitsformen. Private Gewinnmaximie- dabei vergessen, einfach sozial schöp- rung einerseits und Staatsverschuldung ferisch werden und in kleinen machba- andererseits erzeugen vor allem eines: ren Schritten das Neue implementieren, ein auseinander driftendes Gemeinwe- das ist die Aufgabe vor der wir stehen. sen. Das ist unser System, es kann die Unser System rücksichtsloser marktli- Menschen nicht zu einer freiheitlich ge- cher Freiheit und erst nachträglich aus- leisteten Solidarität bewegen, von den gleichender sozialstaatlicher Aktivität Strukturen her. Gesellschaftswandel tut erweist sich immer mehr als zu wenig not! Wozu nutzen wir unsere Freiheit? innovationsfähig. In ihm hat eine nati- onalstaatlich nicht mehr zu kontrollie- Soziale Erneuerung setzt kulturelle rende Konzernwirtschaft das Regiment Erneuerung voraus übernommen und produziert Folgen Wir brauchen eine fundamentale in- über Folgen, die sich aus den gesell- stitutionelle Erneuerung der sozialen schaftlichen Lebensverhältnissen her- Marktwirtschaft aus einer neuen sozia- aus nicht mehr bearbeiten und korri- len Idee und das setzt kulturelle Erneue- gieren lassen. Unser mittelständischer rung voraus. Wir bekommen die Folgen Wohlstand wird von den Armen in der aus der gesellschaftlichen Differenzie- Welt zu Hungerlöhnen produziert. Der rung, Fragmentierung und Spezialisie- Staat als Sachwalter der Bürgergemein- rung, die unsere Leistungsfähigkeit er- schaft gibt mehr Geld aus als er von den möglichen, nicht mehr in den Griff. Das Bürgern erhalten kann und zahlt beden- Leben fällt auseinander, auf zu schwach kenlos über Jahrzehnte Milliarden an gewordenen ordnungspolitischen Vo- Zinsen an die Geldschmarotzer, die alles raussetzungen stehend. Wissenschaft, andere sind als Anleger, von der Tages- Technik, Kunst, Religion, Wirtschaft, schau allabendlich von den Börsen her Ethik und Ästhetik, alles erscheint heu- gefeiert. Diese wechseln die Anlagen te voneinander getrennt wirksam. Die im Sekundentakt und computergestützt Gesellschaft als sozialer Zusammenhalt noch schneller. Welche Verantwortung geht dabei verloren, und damit gerade drückt sich denn hier freiheitlich aus? das, was der Bundespräsident anmahnt, Die verschuldeten Staatshaushalte ver- Bezogenheit und Verantwortung. Es schärfen die soziale Problematik, sie be- fehlt eine durchgehende Erkenntnis

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 23 Ulrich Heyder und sozialstrukturelle Darstellung der bei der Marktfähigkeit von Verfahren Zusammenhänge, anstelle immer neuer und Produkten, sondern bei den „for- spezieller Fragen, die isoliert gelöst wer- menden Kräften“. In ihrer heute sichtba- den können. Wir müssen lernen wie- ren Gestalt sieht Klee als Künstler nicht der zusammen zu denken, was heute die einzig mögliche aller Welten. Die getrennt verhandelt wird. Das bedingt Schöpfung ist noch nicht abgeschlos- neuartige kreative Kooperationen und sen, es gehe darum, der Genesis Dauer Bündnisse zwischen Partnern, die heu- zu verleihen (zit. nach Kurt 2010: 46). te kaum noch etwas miteinander zu tun Dafür muss aber die heutige Selbstbe- haben. Dieses wiederum setzt ein Den- züglichkeit des Denkens in den ausdif- ken voraus, das Verbindendes und Ver- ferenzierten Lebensbereichen kritisch bindliches schafft, eine „Kultur des in- zum Thema werden. Diese folgen nur neren Menschen“ (E. Fromm). Das ist ihren eigenen Mechanismen und Wich- nicht Rückzug in eine Innerlichkeit, tigkeiten. Sie sind nicht eingebettet in sondern der Versuch, Wege in die In- einen größeren Zusammenhang, der nenseite der Welt zu eröffnen, um der die menschliche Existenz als Ganzes Nachhaltigkeit eine Seele zu geben so- und damit auch die natürliche Mitwelt wie die formgebenden Lebensprinzipi- umfasst. Durch die fehlende Empfäng- en neu zu erfassen und Lernorte bzw. lichkeit für Belange und Impulse von Möglichkeitsräume für Alternativen zu außerhalb kommt es unter den geschäf- schaffen. J. Beuys fragt nach einer Richt- tigen Oberflächen der getrennten Berei- kraft des Denkens und Handelns, die che zu einer Erstarrung, die einem kon- schöpferisch ebenso wie verantwortlich struktiven Miteinander massiv im Wege ist, ein Kultivieren des inneren Men- steht. „Im Bereich der Wissenschaft gilt schen, das den Machtphantasien, die im Grunde nur wissenschaftliches Wis- uns beherrschen, den Boden entzieht. sen als vollwertig. Und es herrscht die Durch die Kunst, aber nicht nur durch Tendenz, das eigene Feld als letztgülti- sie, sollte die Welt zum Reden gebracht ge Deutungsinstanz für sämtliche Berei- werden, für eine neue Lebenspraxis, ei- che der Gesellschaft anzusehen. Auch nen längst fälligen Paradigmenwechsel ist hier einfach nicht bekannt, dass die in der Ausrichtung der gesellschaftli- Kunst seit der Moderne immer mehr chen Prozesse hin zu sozialen Zielen zu einer Wissensform geworden ist: zu (zit. nach Kurt 2010: 16-20). einem Medium des Erkundens, Erken- Ein umfassender zivilisatorischer nens und Veränderns von Welt. Zu ei- Wandel setzt einen Wandel des Be- nem freiheitlichen Denken, das zu- wusstseins voraus. Aber noch immer sätzlich zur Ratio auch den intuitiven, bestehen kapitale Hindernisse zwischen imaginativen und emotionalen Wesens- einem substantiellen Austausch von anteilen des Menschen Wahrheitsgehalt Wissenschaft und Kunst. Es fehlt ein dy- zubilligt – was die Wissensform Kunst namisches und transformatives Mitein- von der Wissenschaft unterscheidet und ander, das nicht an den von Paul Klee ihr zugleich ebenbürtig macht.“ (Kurt benannten „Form-Enden“ ansetzt, z.B. 2010: 70)

24 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise

Eine Erweiterung unserer Wissens- Moore, die zusammen mit dem Wald bilanz um ein schöpferisches Denken das Landschaftsbild Finnlands prägen, würde uns auch helfen, den ökonomi- für die Papier- und Zellstoffindustrie schen Wachstumsprozess neu zu fassen. trocken gelegt.“ (Kurt 2010: 152) Im Natürliches und seelisches Wachstum Film erzählt eine Beteiligte: „Früher als verharren nie im Linear-Quantitativen, es noch ein paar Stellen gab, an denen sonst wären wir am Ende unseres Le- nicht gefällt worden war, stieg ich dort bens vielleicht sieben Meter groß. Unser manchmal auf einen Hügel, und von gegenwärtiges Wirtschaftswachstum,dort oben sah man bloß noch ein kleines von dem alles abhängt, ist ein reines schmales Stück des früheren Waldes. Es Akkumulieren, ein „additives Weiter- war, als würde meine Seele sich in die- wuchern von irgendwelchen Interessen, sem Anblick ausruhen und Frieden fin- die der Mensch nicht mehr in der Hand den. Wenige Jahre später aber hat man hat“ (Beuys, zit. nach Kurt 2010: 71). Es auch dort gefällt. Und dann war alles gibt keine wirkliche Reifung, keine Me- weg.“ Oder ein ehemaliger Holzhänd- tamorphose als eine immer neue Viel- ler: „Die Wege durch den Wald sind ver- falt in immer komplexeren Formen und schwunden. Die waren gut. Man konnte keine größere Freiheit aus einem „Stirb dort sogar barfuß gehen. Ich ging auf ih- und Werde“ (Goethe). nen zur Schule. Sogar durch die Sümp- H. Kurt erzählt von zwei finnischen fe gingen wir barfuß. Die Kühe und die Dokumentarfilmen: „End oft the Rain- Schafe in den Sümpfen benutzten die- bow“ und „Last Yoik in Saami Forests“ selben Wege. Auch mit den Wegen um eigentlich Bekanntes, aber uns tatsäch- die Seen war das so. Jetzt ist alles an- lich nicht mehr Bewegendes. Im ersten ders. Wenn es nun Lücken gibt, stam- Film wird eine Landschaft in Karelien men sie von den Holzarbeitern. Deren porträtiert und es erscheint eine Rea- Maschinen wühlen die ganze Erde auf, lität, die sprachlos macht. „Aufgrund und der Kahlschlag hinterlässt ein einzi- der intensiven Fortwirtschaft, wie man ges Chaos. Wer Beeren pflücken oder fi- sie in Finnland seit den sechziger Jah- schen möchte, kommt kaum noch über ren praktiziert, gibt es, abgesehen vom diese Trümmerfelder, höchstens viel- Norden Lapplands, im ganzen Land nur leicht auf allen Vieren.“ Und eine wei- noch kaum mehr als ein Prozent Na- tere Beteiligte: „Es ist, als sei eine ganze turwälder. Nahezu alles, was man heu- Epoche getilgt und verschwunden. Und te dort an Wald sieht, sind industrielle wir werden sie nie zurück bekommen. Schonungen mit Monokulturen. Hun- Das tut wirklich weh. Ich hätte mir ge- derte von lokalen Pflanzen- und Tier- wünscht, dass man die Gegend für die arten sind akut vom Verschwinden be- kommenden Generationen so lässt, wie droht. In den letzten Jahren wurde in sie war…. Und wie wichtig wäre es doch Finnland mehr gerodet als je zuvor. für die Kinder, auch diese Schönheit Den Behörden zufolge ist der Ertrag an sehen zu können, so wie damals. Aber Holz in den Wäldern größer denn je. In offenbar ist das nicht möglich. Wo im- Wirklichkeit aber werden Sümpfe und mer man jetzt etwas Schönes sieht, kann

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 25 Ulrich Heyder man sicher sein, dass es bald zerstört schaften der Welt zählt, systematisch ei- sein wird…“ Und schließlich erzählen nem nachhaltigen und vielfältigen Le- die Filmmacherinnen selbst: „Allmäh- ben die Grundlage zu entziehen und lich zeigte sich uns das ganze Bild: Wie zwar durch ein Bündnis von Wirtschaft systematisch die fünfzig Jahre industri- und Politik. Man braucht gar nicht zu eller Forstwirtschaft nahezu jeden ein- fragen, welche Partei denn regiert. Und zelnen Quadratkilometer in unserer es erübrigt sich auch die Frage, zu wes- Wildnis zermalmt, zerfetzt, zerhackt sen Nutzen das stattfindet. Hilft dieses und klein gemacht haben… Wir haben Wachstum den hungernden eine Mil- begonnen, Wälder in Minuten zu mes- liarde Menschen weltweit und jenen in sen: Wie lange es dauert, zu Fuß durch den prekären Lebensverhältnissen mit- den Wald zu gehen von einer Lichtun- ten in unseren Wohlstandsgesellschaf- gen zur nächsten oder zu einer Scho- ten? Baut es die Staatsschulden ab oder nung. Es gibt Drei-Minuten-Wälder hilft es lediglich, diese wieder einmal und Fünf-Minuten-Wälder und ganz klein zu reden? Haben wir diese Art von wenige Dreissig-Minuten-Wälder.“ Ge- Wachstum nicht überall und wer über- zeigt wird auch die gigantische „Zellu- nimmt die Verantwortung dafür? Gibt losemühle Stora Enso, von der aus ein es überhaupt ein Wachstum, das unsere immer enger werdendes Netz von Stra- Probleme noch lösen kann ohne einen ßen sich in die Wälder frisst, für hoch breiten Mentalitäts-, Einstellungs- und mit Stämmen beladene Sattelschlepper. Gesellschaftswandel, von dem keiner Der Spitzenmanager von Metsähallitus, mehr weiß, wie er denn zu bewirken dem größten Holzkonzern, der zugleich wäre? Die Lebensgrundlage zerstören ist einen hohen Posten in der finnischen die Grundmelodie unserer politischen Regierung bekleidet. Das Kreischen Beschwichtigungsrethorik und unserer der Sägen inmitten alter Bäume vol- Lebensweise geworden. Und die Betrof- ler Hängeflechten. Dreihundertjährige fenen haben keine Lobby. In unserem Nadelbäume, gefällt, um Papier oder Beispiel die dort lebende Bevölkerung Eisenbahnschwellen herzustellen. Ren- der Samen nicht, die Wälder nicht, die tierherden, reglos und stumm auf einem Rentiere nicht, die Beeren, Pilze, Farne, soeben kahl geschlagenen Areal, unmit- Fische, Vögel, die Sümpfe und Moore telbar neben ihrem Dorf. Schikanen der nicht. Und die Kinder nicht, weder die Holzarbeiter gegen Umweltaktivisten, heutigen und viel weniger noch die zu- vom Arbeitgeber und den örtlichen Be- künftigen. (Vgl. Kurt 2010: 156) hörden geduldet…“ (Kurt 2010: 154ff.) Man möchte mit H. Kurt fragen, wie Soziale Erneuerung aus sozialer ist es möglich, dass weder das finnische Freiheit, mikrosozial – Ein Beispiel noch das EU-Recht solche Praxen ver- In der Erneuerung kommt es generell hindert? Was veranlasst ein Land, des- weniger auf die besondere institutio- sen Image in der Welt geprägt ist von nelle Umsetzung einer neuen sozialen malerischen Landschaften und das zu Idee an, denn viele Umsetzungen sind den ausgesprochenen Wohlfahrtsgesell- jeweils möglich, als darauf zu achten,

26 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise dass erheblich andere Kräfte als bisher in Ägypten begann. Und doch wollte ich dafür mobilisiert werden müssen und eigentlich mehr: Ich wollte, dass sich die auch ein anderer Geist, der diesem Neu- ganze Welt entwickelt.“ (Abouleish, zit. en, welche Gestalt es auch immer an- nach Kurt 2010: 162) nimmt, das Leben einhaucht, anders, Abouleish gründete auf 70 Hektar als wir das aus den bisherigen Wachs- 1977 die Sekem-Initiative, auf steinigen tumsprozessen heraus kennen, so dass Böden im Nildelta. Meerwasser, in die wirklich sozialer Zusammenhalt und Flussarme eingedrungen, hatte bereits eine nachhaltige Ökonomie entstehen. den fruchtbaren Ackerboden versalzen. Ägypten in den 70er Jahren: verarmte Schon zahlreiche Initiativen hatte vor Menschen, wuchernde Städte, zerstörte ihm mit Wasser, großen Maschinen- Landschaften, vergiftete Böden, Krank- parks und Unmengen von Kunstdün- heiten, Bildungsnotstand, Notstand in ger und Pestiziden etwas aus dem kar- der Landwirtschaft durch ausbleibende gen Land heraus holen können, nach Nilüberschwemmungen als Bodensatz kurzer Zeit hinterließen sie jedoch nur einer allgemeinen Perspektivlosigkeit. eine verbrannte Erde. Abouleish ging Es scheint zu spät, nicht jedoch für Ibra- bewusst einen anderen Weg. Der pro- him Abouleish, Chemiker und Pharma- fitorientierten Agrarindustrie setzte kologe und nach 20 Jahren in Europa in eine neue Agrar-Kultur entgegen. Mit- seine Heimat zurück gekehrt. Seine Vi- tels der biologisch-dynamischen Land- sion: „Mitten in Wüste und Sand sehe wirtschaft machte er sich zunächst dar- ich mich aus einem Brunnen Wasser an die erstorbenen und kranken Böden schöpfen. Achtsam pflanze ich Bäume, zu heilen, sie Schritt um Schritt wieder Kräuter und Blumen und tränke ihre zu beleben, um von da aus sein neu- Wurzeln mit dem kostbaren Nass. Das es Ökosystem aufzubauen. Von Beginn kühle Brunnenwasser lockt Tiere und an ging es ihm darum, die Belange des Menschen an, die sich erquicken und la- Sozialen, der Bildung und der Kultur ben. Bäume spenden Schatten, das Land nicht Profitinteressen unter zu ordnen. wird grün, Blumen verströmen ihren Heute betreibt die Sekem-Initiative Duft, Insekten, Vögel und Schmetterlin- auf 6000 Hektar eine biologisch-dyna- ge zeigen ihre Hingebung an Gott den mische Landwirtschaft, bald sollen es Schöpfer, als sprächen sie die erste Sure 20000 Hektar sein. Als Unternehmen- des Korans. Die Menschen, das gehei- Holdingaus sechs erfolgreichen Firmen- me Gotteslob vernehmend, pflegen und töchtern werden Kräuter und Gewür- achten alles Geschaffene als Abglanz ze für medizinische Produkte erzeugt des Paradiesesgartens auf Erden. Dieses und verarbeitet sowie Getreide, Saaten Bild einer Oase inmitten einer lebens- und Öle nach Europa exportiert. Me- feindlichen Umgebung ist für mich wie dizinische Produkte und Kinderklei- ein Auferstehungsmotiv in der Frühe dung aus selbst erzeugter Baumwolle nach einer langen Wanderung durch die kommen hinzu. Mehr als 2000 Men- nächtliche Wüste. Es stand modellhaft schen sind bei Sekem beschäftigt und vor mir, noch bevor die konkrete Arbeit mittlerweile haben 10.000 Kleinbauern

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 27 Ulrich Heyder der Region einen Anbau nach gleichen deln in Sekem. Abouleish zitiert auch Methoden entwickelt dessen Produkte gerne den Koran, Sure 55, Vers 59: „Die bei Sekem verarbeitet werden. Was ist Sonne und der Mond laufen ihre vorge- denn anders, die gleiche Freiheit, die schriebene Bahn. Die Sterne und Bäu- ansonsten individualistisch für eigene me verneigen sich vor dem Herrn. Und Profitinteressen zur Wirkung kommt, die Himmel hat er emporgehoben und sucht sich hier ein sozial-wirtschaftli- in Balance gebracht. Stört das Gleichge- ches Feld der Betätigung. Die erwirt- wicht nicht und haltet das rechte Maß schafteten Interessen dienen nicht Ka- und verliert es nicht“. Oder Sure 13, pitalinteressen, sondern ermöglichen Vers 11: „Allah verändert nicht den Zu- Kindergärten, eine Polyklinik, Schulen, stand der Menschen, bis sie selbst ihren Erwachsenenbildung, Behindertenein- eigenen Zustand verändern.“ Die Er- richtungen und Aktivitäten für Stra- neuerung hat eine geistige Dimension, ßenkinder, ein Nachhaltigkeitsmanage- wie auch immer erfasst. (Zit. nach Kurt ment und berufsbezogenes Training. Es 2010: 162–165) wird eine wirtschaftliche soziale Frei- heit zur Wirksamkeit gebracht, die to- Gesellschaftliche Erneuerung tes Land wieder belebt, Menschen über aus sozialer Freiheit, makrosozial – die Arbeit bildet, transparente Vermark- Grundlagen tungsstrukturen aufbaut und den Alter- Die Gegenwartskrise zeigt, wir müs- nativen Nobelpreis erhalten hat. Alles sen immer wieder auch sozial innovativ freiheitlich und gesellschaftsunmittel- werden, von den Strukturen her, denn bar hervorgebracht! aus diesen handelnd werden die Pro- Gleichwohl sind die Bedingungen bleme erzeugt. Die Aufgabe, dem Zu- für Sekem extrem schwierig geblieben. sammenleben aus Freiheit die Richtung Die Bildungslage im Land ist desolat, zum Sozialen immer wieder neu zu ge- die Bevölkerung wächst rasant. Die Ar- ben, stellt sich auch makrosoziologisch beitslosigkeit steigt, soziale Spaltungen im Hinblick auf unsere ordnungspoli- vertiefen sich und der religiöse Funda- tische Denkweise und im Hinblick auf mentalismus breitet sich aus, ein stei- einen gesamtgesellschaftlichen Wandel. gende Meeresspiegel und der Klima- Es sind die Probleme selbst, die das Um- wandel machen weitere Ackerflächen denken vieler ökonomischer und sozi- unfruchtbar. Hinzu kommen Konflikte aler Begriffe erforderlich machen: das von Sekem mit den Behörden und der globale Problem der Arbeitslosigkeit Agrarindustrie. Dabei ging es auch um und die Nicht-Kooperation der Unter- Schädlingsbekämpfung aus Flugzeugen, nehmerwirtschaft in den sozialen Fra- die in Ägypten für den Baumwollanbau gen sowie die weltweite Zunahme von inzwischen verboten ist. Freiheitliches Egoismus und Gewalt. Es fehlt ein zu- sozial orientiertes Wirtschaften anstel- kunftsfähiges Gesellschafts- und Wirt- le eines großindustriellen Raubbaus, schaftsmodell. Dabei geht es nie um eine ganzheitliches Denken und Ehrfurcht final-ideale Lösung sondern um einen vor der Schöpfung bestimmen das Han- neuen Versuch dem Zusammenleben

28 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise die Richtung zum Sozialen den Proble- nicht nur durch die dabei entstehen- men gemäß zu geben. Das bezieht sich den Schuldenberge, sondern auch durch auf neue Begriffe, neue Strukturen aber die damit verbundene Nicht-Gestaltung auch die Fähigkeit zum sozialen Wirken. und Verantwortungsverschiebung, denn Es gibt keine theoretische und keine rein die Verhältnisse ändern sich im staat- technische Lösung der sozialen Fragen. lich verordneten Eingriff nicht wirklich, Bewusstseinsentwicklung und nicht von den Ursachen der sozialen Strukturen, die uns zu einer wachsen- Dysfunktionen her und nicht im Sinne den Sozialität auffordern, brauchen wir: einer wirklichen Fehlerbehebung. Eine soziale Eigentumsordnung, eine Sozialität als freiheitliche primäre soziale Marktreform, und Arbeitneh- Ausgangsrichtung der Vergesellschaf- mer, die sich zu freien Gesellschaftern tung heißt, unmittelbar, in der primären ihres Unternehmens weiterentwickeln, Vergesellschaftung, aus einem sozialen denn die Entwicklung zur freien Ar- Interesse in die Lebensprozesse eintre- beit ist noch nicht abgeschlossen. Über- ten wollen. Gesellschaftlichkeit und das haupt eine andere Richtung der Verge- Wohl aller muss in Zukunft gleich ge- sellschaftung von den Individuen her sucht und gewollt werden und nicht erst tut Not, ein soziales Lernen. als ein Sekundäreffekt entstehen. Ein Wir denken die Gesellschaft zu sehr sich ausbreitendes Interesse von Mensch von unseren privaten Interessen her. zu Mensch als Quellpunkt des Sozia- Sind diese befriedigt, ergibt sich die so- len, eine lebensunmittelbare Sozialität, ziale Realität als ein sekundärer Effekt. begünstigt durch neue Strukturen der Eintreten in die sozialen Verhältnisse, Wirtschaft und der Politik, muss zur Er- um etwas für sich heraus zu holen, den scheinung gebracht werden. Sozialität, Beitrag für ihre Erhaltung und Fortbil- das ist das gegenseitige Interesse an der dung möglichst klein haltend und auf Entwicklung des anderen Menschen. die sog. Regeln achtend, daraus soll die Dem sozialen Ganzen geht es besser, je Sozialgestalt des Lebens hervorgehen. mehr wir uns als Bedarfswesen fürein- Das Gegenteil ist der Fall! Die Freiheit ander interessieren und füreinander sor- wendet sich dem Sozialen noch zu we- gen, je mehr wir uns als mündige Wesen nig unmittelbar zu. Freiheit wird zu anerkennen und in unseren Rechten ge- wenig direkt für soziale Bindung und genseitig fördern, und je mehr wir uns soziale Verantwortung wirksam, im allen einen kulturellen Raum freier Ent- Wirtschaften, in den gesellschaftlichen faltung der persönlichen Kräfte und In- Primärprozessen. Die soziale Dimensi- itiative gewähren! (Vgl. Lindenau 1983) on wird erst sekundär vermittelt wirk- Eine neue Vergesellschaftungsrich- sam, über Steuern und einen chronisch tung gewinnt sich nur direkt und nicht aufgabenüberlasteten Staat. Die sekun- erst nach der Befriedigung von Indivi- däre staatliche Ausbügelei der Defizite dualinteressen. Aus Freiheit! Aus sozi- der primären Vergesellschaftung aber aler Freiheit! Das bedingt ein soziales hinkt den Problemen immer hinterher Lernen. Ein wachsender sozialer Raum und ist auch selber problembehaftet, in die Gegenwartsgesellschaft hinein

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 29 Ulrich Heyder könnte entstehen, der Staat würde ent- gen von damals lassen sich heute jedoch lastet und welche Möglichkeiten für nicht mehr einholen: eine überschau- die Bereitstellung öffentlicher Güter bare technologische Entwicklung und durch den Staat hätten wir dann. Gesell- eine stabile weltwirtschaftliche Arbeits- schaftsentwicklung ist ein langfristiger teilung zwischen Zentrum und Periphe- Prozess, nur in kleinen Schritten voll- rie, aus der wir noch besondere Profite ziehbar, aber immer im Kontext sich an ziehen konnten. Demgegenüber ist heu- den Erfahrungen weiter entwickelnden te aus anderen Entwicklungsvorausset- orientierenden Leitbildern, einer Stra- zungen heraus ganz neu zu fragen: Wel- tegie unseres Handelns. Wir müssen es che Sozialformen schafft sich der sich lernen unsere Wohlfahrtssteigerung als immer stärker durchsetzende moderne soziales Wachstum zu begreifen. Die Individualisierungsprozess? sozialen Strukturen werden dann zum Entwicklungsfeld des Menschen, der Die Zivilgesellschaft, kein Privileg – sich aus individueller Freiheit den sozi- jeder in Staat und Wirtschaft sollte alen Aufgaben stellt. sich an ihr beteiligen! Wir schulden der Gemeinschaft den Die Zivilgesellschaft mit ihren Netzwer- individuellen sozialen Betrag, da wir ken und Bewegungen ist vielleicht eine alle nur aus ihr leben können. Es ent- der wichtigsten kulturellen Erneuerun- steht eine Perspektive ich-begründeter gen der letzten Jahrzehnte und das hängt Sozialität. Im Ich liegt der Ort, an dem mit den Individualisierungstendenzen sich die Gemeinschaft sozialethisch ent- in der Moderne zusammen. Gleichwohl deckt, in einem Interesse vom Menschen sollte sie nicht zum Privileg einiger zum Menschen. Die sozialstrukturellen Menschen neben Wirtschaft und Staat und institutionellen Voraussetzungen werden, sondern jeden, besonders auch hierfür als Lebensform zu schaffen, wird in seiner Rolle als Wirtschaftsbürger zum Ziel. Das ist nicht eine delegierba- und als Staatsbürger ergreifen. Wir sind re Aufgabe an die Zivilgesellschaft. Das ja dieselben Personen in unserer Markt- liegt in der Freiheit aller. Wirtschaft und zugehörigkeit, in unseren verschiede- Politik müssen das in erster Linie wol- nen Rollen als politisch Engagierte und len und sich dabei selbst wandeln. Das als zivil verfasste Individuen. Uns dabei sind doch immer nur wir selber, als in völlig entgegengesetzte Rollenmuster Wirtschaftsbürger in die Marktprozes- zu zwängen, ist unproduktiv. Die Ge- se als Konsumenten eintretend und als fährdung der Welt kann in jeder Rolle politische Bürger, uns eine rechtliche erkannt werden. Die Zivilgesellschaft Form dafür gebend. Aber die Umkehr sollte nicht als ein ausgrenzbarer ge- hin zu direkter gesellschaftlicher Ver- sellschaftlicher Sektor wahrgenommen antwortung aus Freiheit findet nicht werden, sondern als eine der Hand- statt. Wir bleiben in Gewohnheiten ste- lungsformen in allen gesellschaftlichen cken, orientiert an den Leitlinien der Bereichen. U. Beck hat gezeigt, dass ihr 60er Jahre und den diese bedingenden Kern der zur Verantwortlichkeit erwa- Verhältnissen. Die Rahmenbedingun- chende einzelne Mensch ist, der sich

30 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise mit anderen zusammenschließt, und es in Staat und Wirtschaft, die nicht mehr kann hinzu gefügt werden, häufig leider hinausgeschoben werden dürfen. Wir außerhalb der funktional-systemischen brauchen heute mehr Räume sozialer gesellschaftlichen Bereiche. (Steinkell- Kooperation auch in der hierarchischen ner 2012: 161ff.) Steuerung des Staates. Das New Public Es geht in der Zivilgesellschaft um Management aus den USA hat solche die Wahrnehmung von Zusammen- Möglichkeiten im Ansatz aufgezeigt: An hängen aus einem globalen Verant- die Stelle bürokratischer Regeln – aber wortungsgefühl. Die gemeinschaftliche auch an die Stelle von Handeln nach Dimension in den Funktionssystemen Maßgabe professioneller Ethiken – tre- des Sozialen wird zum besonderen An- ten Kontraktmanagement, Output-Ori- liegen, eine humane Gesellschaft, in entierung, Kundenservice, weniger um der man in Würde leben kann. Die In- der Erfüllung der alten Zwecke willen, teraktionsform der Zivilgesellschaft ist als vielmehr wegen einer veränderten Kooperation und gerade hier liegt der Sicht auf die soziale Praxis, einer Ver- gesellschaftliche Reformbedarf heute: änderung nicht nur der Mittel sondern nämlich auch in die wettbewerbsbe- auch der Zwecke und der Sozialisati- stimmte Wirtschaft durch Assoziierung on der nachfolgenden Generationen. der Wirtschaftsteilnehmer Kooperati- (Münch 2009: 19) onslinien einzubauen, mittels derer die Der Einzelne wird durch eine zivil- Wirtschaftenden die von ihnen selbst gesellschaftliche Haltung in den Orga- erzeugte Probleme gemeinsam lösen nisationen vom funktionalen Rollen- und soziale Verantwortung überneh- erfüller zum Initiativträger in einem men können, d.h. ohne ein Weiterleiten Selbstverständnis, in dem es nicht um der Folgen des eigenen Handelns an den rein persönliche Ansprüche geht, son- Staat. Diese Arbeitsteilung, wir küm- dern um gelebte und geleistete Solida- mern uns nur um uns selbst, und was rität. Das ist kein Privileg weniger Netz- zu kurz kommt, das erledigt der Staat, werke neben der Wirtschaft und neben erweist sich als zunehmend unproduk- der staatlichen Bürokratie, das kann tiv. Die Zivilgesellschaft würde durch zum Lebensprinzip überall werden, wo neue Zusammenarbeitsformen schon Probleme anfallen, die nur durch Zu- der Wirtschaftenden zum Quellort ei- sammenarbeit gelöst werden können. ner gesellschaftsunmittelbaren Soziali- Eine sozial nachhaltige Entwicklung ist tät, unterstützt durch den Staat. anders überhaupt nicht zu erreichen, au- Auch die hierarchische Steuerungs- ßer, dass dieses Ziel von allen Akteuren form des staatlichen Handelns sollte in den gesellschaftlichen Bereichen er- durch überfachliche und überpartei- griffen wird und die Selbstdarstellung liche Kooperationsformen mitgeprägt bestimmt. (Steinkellner 2012: 172f.) Der werden, wiederum, um gemeinsame Dualismus von wirtschaftlichem Ego- Probleme endlich lösen zu können an- ismus und staatlich-bürokratischer Re- statt sie zu verschleppen. Das sind Prob- gulierung sollte durch neu entstehende leme einer institutionellen Sozialreform Kooperationen in der Wirtschaft und

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 31 Ulrich Heyder im politischen allmählich überwunden Einzelnen entstehen zu lassen. Soziale werden. Lebensformen entstehen und entlasten Von der Wirtschaft wird dabei zu- das Gemeinwesen, das sich seinen ei- nehmend erwartet, dass sie sich verant- gentlichen Aufgaben widmen kann. Die wortlich zeigt und nicht nur für priva- staatliche Aufgabenüberforderung wird tes Profitstreben zuständig. Dem Staat gemindert durch eine wohlfahrtsstaat- könnte vonseiten der Bürger immer liche Handlungsorientierung schon in mehr auf Augenhöhe begegnet werden, den sozialen Lebensformen. durch mehr Demokratie und transpa- rente Rechtsstaatlichkeit, welche die Die soziale Integration der Freiheit Gleichheit der Menschen vor dem Ge- Das alles hat etwas mit unserer Freiheit setz ernst nimmt. Konkrete Zusammen- zu tun. Es besteht ein enger Zusam- arbeit auch durch die Assoziationen menhang zwischen innerer und äußerer innerhalb und zwischen den verschie- Freiheit, zwischen persönlicher Freiheit denen gesellschaftlichen Bereichen er- und institutionalisierter Sozialität. Frei- setzt dann das „Denken für andere“. heit lässt sich nicht isoliert von anderen (Steinkellner 2012: 168) Aspekten des Lebens sehen, sie steht in Immer mehr selbstverwaltete Be- Verbindung mit Willen, Erkenntnis und reiche können entstehen, wenn die Zi- Handeln des Einzelnen ebenso wie mit vilgesellschaft das Leben der Gesell- der Tatsache, dass jeder von uns ein ge- schaft von der Wirtschaft her immer sellschaftliches Wesen ist. (Vgl. Hegge tiefer durchdringt. Individuelle Initia- 1992: 12) Freiheit ist zunächst allerdings tive, freie Vernetzung, Handeln aus Er- immer die Freiheit des einzelnen Men- kenntnis und öffentlicher Dialog stär- schen, die freie Entfaltung seiner Indi- ken das Recht auf Selbstbestimmung vidualität, die Anerkennung des Eigen- und sorgen für Transparenz im staat- wertes und der Verantwortlichkeit des lichen Handeln sowie für unmittelbar Menschen für sein Handeln. Wir erstre- sozial ausgleichende Entscheidungen ben das Gute nicht an sich, sondern aus in den wirtschaftlichen Assoziationen. uns selbst heraus. Das setzt persönli- Der Zusammenschluss wird notwendig, che Integrität und Wahlfreiheit voraus. denn im Wettbewerb kann keiner für (Hegge 1992: 25) sich allein vernünftig und sozial verant- Seit Sokrates wissen wir aber auch, wortlich werden, er wäre der Dumme! dass Individualität und Selbstbewusst- Verträge und Gesetze erhalten durch sein im eigenen Denken gründen. Es die Zusammenarbeit eine neue Quali- gibt eine enge Verbindung zwischen tät. Eine Gemeinwohlökonomie wird Freiheit und Autonomie im Denken denkbar und eine Demokratie, die sich und in der Erkenntnis. Und das be- nicht auf Stimmabgabe und Ämterpro- rührt den Bereich, in dem der Mensch fessionalität beschränkt. Die Bürger in am deutlichsten sich selber beherrscht Wirtschaft und im Staat verbinden sich, und bestimmt, seine Vernunft. Die freie um in den Assoziationen ein umfassen- Wahl folgt dem Urteil der Vernunft über deres Bild der Wirklichkeit für jeden die Dinge, auf die sich die Handlung be-

32 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise zieht. Dem Menschen ist die Verpflich- dass ein solches nur Bestand hat, wenn tung auferlegt, zu wissen, was er tut. Nur es allen Individuen zukommt. Die In- ein Handeln aus eigener Einsicht kann dividualitätsidee beinhaltet durch ihre frei genannt werden. Ein Handeln aus unterschiedslose Gültigkeit für alle In- freier Wahl, das sich lediglich auf gat- dividuen keinen prinzipiellen Konflikt tungsmäßige Triebe und Bedürfnisse zwischen diesen, sondern trägt dadurch stützt, wird irgendwann entdecken, dass den Keim der Sozialität, der Gegensei- es rauchen, trinken, etc. muss, also un- tigkeit, in sich. Insoweit sind Individua- frei geworden ist. Denn es fehlt das er- lität und Sozialität zwei Seiten einer Sa- kennende Maß. che. Der Respekt vor der Bestimmung Innere Freiheit bedarf der Vervoll- der eigenen Person bedingt den Res- kommnung durch äußere Freiheit. Es pekt vor den anderen Menschen. Sozi- hat jedoch viele Jahrhunderte gedau- alität und Freiheit haben ihre gemein- ert, bis auch äußere institutionalisierte same Wurzel in der Individualität des Freiheit, Glaubens- und Gedankenfrei- Menschen, die allen gleich zukommt. heit sowie Freiheit von willkürlichen so- Sozialität ist dadurch ebenso wenig mit zialen Machtverhältnissen realisierbar Druck und Zwang vereinbar wie das wurden. Findet die Freiheit des Indivi- wahre Verhältnis des Menschen zu sich duums nur jenseits des gesellschaftli- selbst und zu Gott. Natürlich bleibt es chen Lebens ihre Realisierung, entste- bis heute ein Problem der verschiede- hen Anarchie oder Zwangsverhältnisse. nen Zeiten, wie dieses Verhältnis der Hier liegt der zentrale Fehler in der neu- Menschen zueinander institutionell zeitlichen Sozialtheorie seit Th. Hobbes. ausgeformt werden kann, so dass Frei- Individuen werden als isolierte Einhei- heit und Sozialität in den sozialen Pro- ten gesehen, die in sich selbst keine So- zessen zusammenwirken. zialität begründen können, so dass jede Ebenso wie die moderne Staatsthe- Gesellschaftsordnung diesen von außen orie hat sich der Liberalismus als weit- auferlegt werden muss. Nur eine poten- gehend blind gegenüber dem nach der te Staatsmacht, kann den Kampf jedes Freiheit weiteren Aspekt der Individua- gegen jeden in Schach halten, woraus lität gezeigt, ihrer Sozialität. Individuali- wiederum entsprechende Freiheits- tät wird jetzt gleichbedeutend mit Ego- einschränkungen zwingend folgen, als zentrizität. Die Verteidigung der Freiheit könne der einzelne freie Mensch nicht gerät zur Verteidigung der Egoismen im auch auf sozialem Felde mündig in Er- freien Spiel der Kräfte auf dem Markt, scheinung treten. (Vgl. Hegge 1992: 38) dort aber selber unsägliche Unfreiheiten Sichtbar wird hier, dass sich in die- und Machtverhältnisse hervorbringend. ser Auffassung des Verhältnisses von Als Folge eines verkannten Verständnis- Freiheit und Sozialität zu wenig ein ses der Sozialität des Menschen kann in Verständnis von Individualität reflek- der gesellschaftlichen Praxis der Markt- tiert, das wohl den Eigenwert und die wirtschaft die Freiheit des einzelnen Unantastbarkeit des einzelnen Men- nicht adäquat gewahrt werden. (Vgl. schen impliziert und zugleich weiß, Hegge 1992: 39f.) Es erfolgt der sozial-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 33 Ulrich Heyder staatliche Eingriff mit der langfristigen sinnvolle Kommunikation ermöglicht Folge, dass sich aus dem Markt heraus und damit politisches und soziales Le- die Entfaltung von Sozialität nicht mehr ben überhaupt. Rationalität impliziert vollzieht, ohne welche aber keine, wie immer eine gewisse Einschränkung der die heutigen Verhältnisse zeigen, trag- individuellen Freiheit. Denn es geht fähige Lösung der im Markt erzeugten um allgemeine Gesetze und Einsichten, sozialen Fragen gefunden werden kann. die nicht im Einzelnen schon veran- Freiheit (Sozialität) steht, wie wir kert sind. Es sei denn, er wäre in Strenge gesehen haben, nicht nur im Einklang sein eigener Gesetzgeber, der auch sei- mit Individualität sondern auch mit Ra- ne Handlungsmotive uneingeschränkt tionalität. Das entwickelt sich in einem selbst hervorbringt. Dieser Möglichkeit historischen Prozess, an dessen Anfang verweigert sich am Ende aber auch der die Auffassung steht, man folgt einem Rationalismus der Aufklärung und noch Gesetz aus Einsicht und nicht nur aus mehr der darauf folgende Positivismus, reiner Pflicht. Gesetze aber sind dem der die Individuen als kausal bestimmt einzelnen vorgegeben und das berührt und in ihrem Handeln durch die wissen- seine Freiheit. Wie umfassend auch im- schaftlich erkannten Gesetze determi- mer die Erkenntnis von der Notwendig- niert sieht. Das Verhältnis von Individu- keit des Gesetzes ist, der Mensch muss alität und Sozialität bleibt spannungsvoll sich von ihm leiten lassen. Das Gesetz ist vor dem Anspruch der Freiheit. Es soll- nicht etwas Individuelles sondern etwas te jedoch prinzipiell auch möglich sein, Allgemeines, allen in gleicher Weise zu- dass Sozialität der Individualität ent- kommend, gemeinsam verpflichtende springt, also eine freie Wesensäußerung Norm, der wir uns unterwerfen. Zwar des individuellen Menschen ist und können Gesetze nicht so verfasst wer- nicht nur Einsicht in allgemeine Geset- den, dass sie das Leben auch im Detail ze, die Position der Aufklärung. zu regulieren imstande wären, eine ge- Hieraus folgt die Frage, wie Rationa- wisse Individualisierung wird hier erfor- lität begriffen werden muss, dass durch derlich durch ihre situative Anpassung sie Individualität und Freiheit nicht an an die Lebensverhältnisse, was durch allgemeinen Gesetzen zerrieben wer- eine mehr oder weniger schöpferische den, sondern Individualität und Frei- Verwaltung auch geschieht, doch ge- heit durch sie erst wirklich begründet nerell wird durch Gesetze die Sozialität werden. Kann unser Denken denn nur auf Kosten von Individualität und Frei- daran gemessen werden, wie es das All- heit gefördert. Dass sich das Individuum gemeine in Form erkannten Gesetzmä- durch seine Erkenntnistätigkeit Einsicht ßigkeiten vorgibt? Wie steht das Den- in ihre Notwendigkeit verschafft, ändert ken zum Ich des Menschen. Suchte der daran nur wenig. Ohne Gesetze wäre Mensch im Denken nur Einsicht in all- eine wirkliche Gemeinschaft nicht mög- gemeine Gesetze, denen wir uns zu un- lich. (Vgl. Hegge 1992: 42f.) terwerfen haben, würden wir sowohl Rationalität ist aber auch eine Vo- unseren Status als Individualität ge- raussetzung für Sozialität, weil sie erst fährden, wie auch unsere Freiheit. Aus

34 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise der inneren Erkenntnisbeziehung zur stimmung oder ihren Begriff hervor- Welt würden wir in ein Kausalgesetz bringen. Wir selber generieren also die eintreten und als ihr Produkt erschei- Intention, aus der heraus wir handeln.“ nen müssen. Ohne zu leugnen, dass das (Hegge 1992: 67) Seiende durch viele allgemeine Gesetze Wir geben uns jetzt das Gesetz des bestimmt ist, kann zugleich gesagt wer- Handelns selber, wie auch die Norm. den, dass dieses der Möglichkeit nach Die dabei wirksame Rationalität (Er- sich dort anders verhält, wo der Mensch kenntnis) steht nicht im Konflikt mit als Erkennender und Handelnder selbst dem Individuellen. Es handelt sich um zum Objekt der Erkenntnis wird. Hier eine Erkenntnis des Menschen von sich entsteht Rationalität auf eine Weise, die selbst als Handelndem. „Wenn nämlich ein wirklich autonomes Subjekt bein- der Mensch aus der Erkenntnis seiner halten kann und damit auch Freiheit. Handlungssituation heraus handelt, so Im Denken, durch das die Dinge er- wird der individuelle, gänzlich aus ihm scheinen, liegt der Grund ihrer Wirk- selbst entspringende Begriff zur Inten- lichkeit. Erst im Erkennen wird aus der tion oder zum Motiv seiner Handlung. Handlungssituation des Individuums Und das impliziert: Er handelt in jeder eine Wirklichkeit. „Als Objekt unserer Hinsicht aus sich selbst heraus; einer- Erkenntnis ist die Handlungssituation seits als Subjekt der (ihrerseits nicht auf andererseits von allen anderen Erkennt- Kausalgesetze reduzierbaren) Erkennt- nisobjekten deutlich verschieden. Im nis, aber zugleich auch als autonomes, Falle der Handlungssituation sind Be- real existierendes (handelndes) Subjekt. stimmung und Zusammenhang (bevor Mit anderen Worten: er handelt frei. Sei- wir sie erkennen) in der Wirklichkeit ne Handlungsmotive gehen nicht auf nicht da; während es bei der Erkennt- die Einsicht in allgemeine, vorgegebene nis aller anderen Objekte um die Auf- Gesetze, schablonenhafte Normen oder deckung einer Bestimmung oder eines von außen kommende Gesetze zurück. Zusammenhanges geht, die im voraus Durch seine Erkenntnis gibt er sich sel- gegeben ist, wenn sich diese Bestim- ber die „Gesetze“, nach denen er sein mung auch nicht ohne die erkennende Handeln ausrichtet. Die christliche Leh- Mitwirkung des Menschen offenbart. re, das „Gesetz“ (sei) in jedem einzelnen Wir kommen also zu dem Schluss, dass verankert“, scheint hier ihre ethische und das erkennende Subjekt dem Objekt – erkenntnistheoretische Begründung zu im Fall der Handlungssituation – seine erfahren.“ Der Mensch wird sein „eige- Bestimmung und seinen Zusammen- ner Gesetzgeber“. (Hegge 1992: 68) hang überhaupt erst gibt. Anders ausge- Es darf jedoch nicht übersehen wer- drückt: Während alle anderen Objekte den, dass der Mensch nicht ohne Weite- in der Wirklichkeit vollendet sind, auch res an dieser Möglichkeit teil hat. Die- wenn dies nicht unmittelbar erscheint, ses Freiheitsverständnis setzt vielmehr ist unsere Handlungssituation auch in voraus, dass der Mensch in allerhöchs- der Wirklichkeit unvollendet, bis wir tem Maße mitwirkt und zwar durch selbst als erkennendes Subjekt ihre Be- seine aktive Erkenntniskraft. Begriffs-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 35 Ulrich Heyder bildend werden wir schöpferisch. Das Erkenntnis hat für die Freiheitserfah- hebt zwar die Gültigkeit von Gesetzen rung eine doppelte Bedeutung. So wie nicht auf, aber es können situationsrich- das Streben nach Wahrheit die einzel- tig ganz neue „Gesetze“ frei geschöpft nen Individuen befreit, vereint sie zu- werden. Wir stehen in einer einzigarti- gleich die Individuen in einem allge- gen Situation, in der wir eine einzigar- mein Menschlichen. (Vgl. Hegge 1992: tige Antwort finden, aber „der morali- 141) Das verweist auf die aus dem bis- sche Inhalt der allgemeinen ethischen her Gedachten hervorgehende soziale Normenselbst wird durch die indivi- Praxis: Und das bedeutet hier, zu fragen duelle, freie Handlung keinesfalls auf- nach einer Sozialität, die aus Individua- gehoben. Diese Normen, die sich bei- lität und Freiheit hervorgeht. spielsweise am ‚Gemeinwohl‘, am Ideal Vielen erscheint heute die kommer- einer ‚gerechten Gesellschaft‘ orientie- zialisierte Gesellschaft auf der Grundla- ren oder die ethisch-religiöse Botschaft ge der sozialen Marktwirtschaft mit ih- der ‚Nächstenliebe‘ vertreten, behal- rer freien Konkurrenz auf einem freien ten an sich ihre volle Gültigkeit. Doch Markt als der Inbegriff einer institutio- ihre Geltung erlangen sie durch die freie nalisierten Freiheit. Im Zentrum steht Handlungen der Individuen in jedem dabei die freie Wahl, die allerdings einem Einzelfall erneut, und nicht durch von antisozialen Egoismus Tür und Tore öff- außen kommende Handlungsvorschrif- net. Die in unserer freiheitlichen Wirt- ten.“ (Hegge 1992: 70) Das Individu- schaftsordnung entfesselten Egoismen um handelt nicht, weil es sich äußeren können, weil durch unsere Erkenntnis- Geboten unterwirft, sondern weil die kraft zu wenig durchschaut, auch repres- moralisch gute Handlung seinem eige- siv gegenüber Freiheit und Individuali- nen Begriff der Handlungssituation ent- tät auftreten, ganz zu schweigen von der springt. Nicht der Gehorsam gegenüber damit auch akzeptierten Antisozialität. der Norm ist entscheidend, sondern die Der grundlegende Fehler liegt dabei in innere Verbindung des Individuums der mangelnden Unterscheidung von mit der Handlung durch seine Erkennt- Individualität und Egoismus. Das Ausle- nis. Christlich gesehen geht es nicht da- ben eines gattungsbedingten Egoismus rum, das „Gesetz aufzuheben“ sondern und seine Verfestigung zu Gesellschafts- es zu „erfüllen“. (Hegge 1992: 71) mustern begründet überhaupt keine Daraus folgt insgesamt, es besteht freie Willenshandlung des Menschen. ein innerer Zusammenhang zwischen Der Preis, der nämlich für diese Schein- Freiheit, Individualität, Rationalität ei- freiheit zu zahlen ist, ist die Unterwer- nerseits und Sozialität andererseits. Da- fung unter die sog. „ökonomischen Ge- bei geht es erst seit der neueren Zeit setze“, bzw. die sog. „Marktlogik“. Die darum, der Freiheit auch eine äußere, dabei entstehende Form der Sozialität institutionelle Gestalt zu verschaffen. sollte eher als eine Kränkung des Indi- Jeder Mensch lebt in einem sozialen Zu- viduellen wahrgenommen werden. So- sammenhang und aus einem Verhält- ziale Ordnung erscheint dann staatlich nis zu anderen Menschen. Rationale durch von außen auferlegte Regeln, die

36 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise die übelsten Auswüchse des Egoismus und Verantwortung werden wir hier abmildern können aber nie ausreichen an den Börsen eigentlich aufgefordert? und sie werden vielfältig von uns um- Das Resultat für die soziale Praxis aus gangen. (Vgl. Hegge 1992: 149) „diesem Treiben ist schließlich ein po- Individuen nehmen sich in der litisches Leben, in dem Offenheit und Marktgesellschaft gegenseitig als Mit- dialogische Kommunikation verdrängt tel zur eigenen Nutzenoptimierung in werden durch ein dezisionistisches Ver- Anspruch, deren gesellschaftliche Vo- hältnis von Fachwissen und politischen raussetzungen und Folgen werden je- Entscheidungen.“ (Habermas, nach doch eher nicht reflektiert. Die Gesell- Hegge 1992: 164ff.) schaft entsteht nicht primär gewollt. Vor allem in der Rolle der Mei- Die moderne Konkurrenz- und Kon- nungsumfragen wird deutlich, dass kri- sumgesellschaft wirkt dadurch nicht tische Reflexion sich auf dem Rückzug nur repressiv auf eine erkenntnisgetra- befindet. Politische und wirtschaftliche gene Willenshandlung, sondern auch Macht organisiert die Menschen anstatt repressiv auf eine frei gewollte Soziali- ihrer Sozialität als Organ zu dienen. tät. Die sog. „Sachzwänge“, die das po- Welche Möglichkeiten einer sozialen In- litische Handeln bestimmen, spiegeln tegration der Freiheit werden dabei ver- den ideologischen Schein, in den das spielt und welche Sozialformen würde gesamte reduktionistische Menschen- sich ein auf Individualität anstatt Ego- bild dieser Lebensform eingehüllt wird. ismus gründendes Gesellschaftsleben Dem Konsummaterialismus gesellt sich schaffen, das ist die eigentliche Frage. ein Konformitätsdruck, der die indi- Die wachsenden prekären Lebensver- viduelle Handlungsbereitschaft lähmt, hältnisse, auch in den Wohlfahrtsge- ebenso wie ein mögliches aktives sozi- sellschaften zeigen, die Freiheitsfrage ales Leben. Der Geist, der das Treiben ist heute vor allem eine soziale Frei- letztlich beherrscht wird sichtbar in den heitsfrage geworden. Der personelle Be- allabendlich von den Nachrichten vor- zug auf Verantwortung reicht für deren geführten Berichten von den Börsen. Ausgestaltung nicht aus, es geht dabei Mangels einer aktiven realitätsgerech- immer auch um Institutionalisierung. ten Begriffsbildung werden hier immer Grundsätzlich haben Strukturen nur wieder Spekulanten mit Anlegern ver- die Bestimmung, die der Mensch ihnen wechselt und es unterbleibt auch völlig gibt. Das wiederum führt heute zu der die Analyse des antisozialen Antriebes, Frage, kann statt des Egoismus auch sei- der die medienwirksam vorgetrage- ne Sozialität den Ausgangspunkt im Ge- ne Geldgier beseelt. Den Verantwor- sellschaftsaufbau bilden. tungshorizont dieses Zentrums unserer Der neuzeitliche individuelle Frei- Wirtschaftsordnung für gesellschaftlich heitsimpuls kann nur in der Sozialität notwendige Investitionen und für die seine Erfüllung finden. Zur Lösung der Lebensbedürfnisse in einer freiheitli- Zukunftsfragen bedarf es einer sozialen chen Ordnung erfahren wir gerade in Ordnung, die von den Strukturen her der aktuellen Krise. Zu welcher Freiheit kulturelle und soziale Produktivität för-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 37 Ulrich Heyder dert. Es gilt die Entwicklung des indivi- te geworden sind und im Verstehen des duellen Menschen und die der sozialen Ganzen, dessen Teil man ist. Dabei be- Strukturen unter dem Gesichtspunkt darf es „voraussetzungsvoller Einsichten der Freiheit parallel zu denken. In den in Relationen und Relativitäten, die an modernen Gesellschaften werden sich ein ‚Verstehen‘ der Funktions- und Ent- zunehmend zwei Evolutionsprozesse wicklungsbedingungen anderer betrof- zum Problem, funktionale Differenzie- fener Systeme gebunden sind“. (Willke rung bei gleichzeitiger Interdependenz 1992: 77) Die Errungenschaft individu- aufgrund der Spezialisierung und ope- eller Autonomie muss trotz der gesell- rative Geschlossenheit, das heißt, die aus- schaftlichen Differenzierung erhalten differenzierten Teilsysteme lassen sich bleiben. nur selektiv von ihrer Umwelt beein- Die gegenwärtige Individualisie- flussen. (Willke 1992: 60f.) An die Stel- rungsstufe des Menschen führt die wei- le eines Ordo ist eine Vielzahl von sozi- tere Sozialentwicklung vor eine Wegga- alen Interaktionssystemen entstanden, belung: die sich selber normieren und versu- • Die Individualisierung so fortzuset- chen frei von Interferenzen zu bleiben. zen, dass sie in Antisozialität mün- Der Fragmentierung der Gesellschaft det, welche nur mühsam in Form entspricht die Teilung des Menschen. staatlicher Regelungen durch eine Er explodiert in die Richtungslosigkeit von außen auferlegte Sozialität ge- und Beliebigkeit des gesellschaftlichen zähmt werden kann oder Raumes. Die Re-Integration funktio- • Eine Ausweitung der Individualität nal differenzierter Gesellschaften aus in Richtung einer vom Individuum ordnungspolitischen Prinzipien wird frei gewollten Sozialität als Grund- zu einem immer größeren Problem. lage der Vergesellschaftung. In der Über- und Unterordnungsbeziehungen Fortentwicklung zu einer Sozialität können funktional differenzierte Ge- aus persönlicher Freiheit wird die sellschaften nicht ordnen. Das bedeutet Gesellschaft zu einem Verband, der einen Formwandel für die Politik, die die Individualität des Menschen för- heute immer mehr als eine nicht-hier- dert und will. archische Abstimmung durch Verhand- lungen begriffen wird. Es bedeutet aber Planerisch bedeutet das, die Forderung auch die Chance für eine dezentrale nach einer Politik an den Nahtstellen Selbstorganisation und Selbststeuerung zwischen Privatexistenz und instituti- in den einzelnen Bereichen. Und daraus onellen Strukturen. Es wird versucht wiederum entsteht die Frage nach der die soziale Seite der individuellen Be- „Grundidee polyzentrischer Architek- wusstseinsentwicklung zu fördern und tur gesellschaftlicher Ordnung“ (Wilke zu konkretisieren, d.h. Institutionen zu 1990: 79). Es wird zum einen eine In- schaffen, durch welche die Freiheit des tegrationsleistung erforderlich, die nur Menschen sozial wirksam werden kann. durch Individuen vollzogen werden Drei Ebenen des Sozialen müssen dabei kann, die nicht ganz Systemkomponen- unterschieden werden:

38 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise

• die Ebene der Interaktionen mus wie die Interaktionen des Marktes • die Ebene der Organisationen so gänzlich über die subjektiven Moti- • die Ebene der gesamtgesellschaftli- ve des Handelns dominieren zu lassen? chen Funktionssysteme. (Vgl. Klages 1968: 20) Die liberalen Klassiker konzipier- Einer weiteren Abtrennung der sozia- ten die Wirtschaft nicht als ein aus der len Beziehungen von der Identität und menschlichen Sozialität hervorgehen- Weltauffassung der handelnden Akteu- des Beziehungsgefüge, wie es von der re muss entgegengewirkt werden, denn Arbeitsteilung her und den durch sie jede soziale Initiative unterliegt nach ei- bedingten kooperativen Vereinbarungs- ner gewissen Zeit den Prozessen der In- prozessen im Hinblick auf Arbeitsbedin- stitutionalisierung. Es entstehen dann gungen, Gütermengen und -qualitäten, Bereiche organisationsförmiger forma- Preisen etc. nahe gelegen hätte sondern lisierter Sozialbeziehungen, die iden- als einen „natürlichen Zustand“. Das so- titätsbildende Zugehörigkeiten kaum ziale Ganze wurde als ein großer eigen- noch zulassen. Moralisch-praktische gesetzlicher, rationaler Zusammenhang und ästhetisch-expressive Akte werden wirtschaftlich Handelnder gedacht, der zugunsten einer instrumentellen Orien- keiner besonderen Normierung bedurf- tierung verdrängt. Organisierte Bezie- te. Eine bewusst eingebrachte Sozialität hungsgeflechte dieser Art tragen den Be- konnte hier nur störend wirken. Das sonderheiten individueller und sozialer führte in der Realität jedoch zu nahezu Situationen kaum mehr Rechnung. Wei- unbeschränkter Machtausübung in der te Bereiche politischer und wirtschaftli- Wirtschaft selbst, deren Folgen heute cher Beziehungen werden heute durch weltweit an den Hungernden und pre- formal organisierte Instanzen geregelt kären Lebensverhältnissen zu erkennen oder durch ein Gefüge kooperierender, sind. In der weiteren Folge wurde aus bzw. konkurrierender Organisationen. der illusionären Utopie vom freien Spiel (Hegner 1980: 70f.) Die gesellschaftli- der Kräfte zunächst eine Abwehr politi- chen Formen sind in ihrer Entfaltung scher Eingriffe und wiederum in Folge der persönlichen Individuationsge- ein gesellschaftlicher Interessenkampf schichte des modernen Menschen nicht um Ansprüche an das Sozialprodukt, parallel gegangen. Individuelles Sozial- der bei weitem keine echte Ausbalan- engagement wird oft strukturell erstickt. cierung divergierender Strebungen mit Die Systemzusammenhänge des Han- sich bringt. Die Instrumentalisierung delns und die individuelle Initiativkraft des sozialen Handelns erzeugt darüber des Handelns müssen auf völlig neue hinaus Probleme, mit denen die gegen- Weise zusammengedacht werden. Wie wärtige Sozialentwicklung nicht fertig kann man es heute noch hinnehmen zu werden scheint. Die Sozialverträg- einen quasi naturgesetzlich verstande- lichkeits- und Nachhaltigkeitsdiskussi- nen Marktpreis als leitende Norm des on zeugt davon. Hinzu kommt aus der eigenen Handels zu akzeptieren und ei- Erfahrung der Interdependenz ein ent- nen unpersönlichen Ablaufmechanis- historisierendes systemisches Denken,

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 39 Ulrich Heyder das die sozialen Beziehungen als aufei- lität der Individuen, führt zu einem Sys- nander abzustimmende Einzelfunkti- temfunktionalismus, den kein soziales onen bestimmt, gemäß zu erfüllenden Bewusstsein mehr impulsiert. Funktionen für das Ganze. Ein aktiver Die Ansprüche des modernen In- Konformismus wird zum Inbegriff der dividuums an die Institutionen der Ge- sozialen Rationalität. Der Blick richtet sellschaft konkretisieren sich allerdings sich auf eine vom einzelnen Handlungs- in einer ganzen Skala von Wertideen, subjekt her nicht mehr zu bewältigende z.B. Freiheit, Gleichheit, Solidarität etc., Komplexität. (Klages 1968: 42) um die prominentesten zu nennen. Sie Humanität dagegen ist von der Au- alle müssen eine Entsprechung in der tonomie- und Spontaneitätschance des Sozialstruktur finden. Das grenzt auch Handelnden her zu sehen. Dies betrifft ihren möglichen Geltungsbereich ge- in besonderem Maße den Bereich so- nauer ein. Es muss angegeben werden zialer Innovativität. Generell kann ge- können, welcher ordnungskonstituie- sagt werden, „dass die bei den einzelnen rende Wertbegriff in welchem Maße Handelnden ansetzende instrumentelle das Handeln in welchem Strukturbe- Rationalisierung den objektiv gegebe- reich und in den Organisationen in nen Humanisierungsspielraum der mo- welchen Entscheidungsfragen berech- dernen Gesellschaft nicht zuverlässig tigterweise anleiten kann. Struktur- ausschöpft, sondern dass sie im Grenz- bereiche und Wertdefinitionen müs- fall sogar umgekehrt zu seiner Senkung sen in einer Weise zugeordnet werden beizutragen vermag“. (Klages 1968: 40) können, dass die daraus resultierende Durch die wachsende Systemhaftig- Gesamtordnung sozial funktionsfähig keit der sozialen Prozesse wird das so- wird, und die Individuen in ihnen ihre ziale Potential der Individuen immer einzelmenschlichen und kollektiven mehr geschwächt. Das impliziert auch Ziele wieder erkennen können. Das, die Gefahr, dass sich auf der Ebene von was die Individuen persönlich sozial übersubjektiven Plänen soziale Interde- wollen, könnte in die Regeln und Nor- pendenz auf solche Weise in politische men der Institutionen und der Gesamt- Kompromissentscheidungen umsetzt, gesellschaft als Möglichkeitsraum, viel- dass aktuelle Macht- und Einflussge- leicht auch als Anforderung eingebaut wichte stärker mitentscheiden als ein tat- sein. In ähnlicher Weise finden wir ja sächliches innovatives soziales Potential. bereits den Egoismus in den Mechanis- Der Status quo wird zur rationalsten Lö- mus des Markthandelns eingebaut vor. sung. Es breitet sich ein Risikobewusst- Jetzt geht es aber um einen sozialen sein aus, das die Entschlussfähigkeit Kontext, der sich auf freie Fähigkeitsent- und Innovativität im sozialen Handeln faltung gründet. Aber die moderne Ge- lähmt. Das führt in einer weiteren Kon- sellschaft misstraut zutiefst der Freiheit sequenz zum Einfrieren der innovativen des Menschen. Der Grund dafür ist, dass sozialen Potenzen auf einem gegebenen sie diese nicht sozial positiv bestimmt. Niveau. Der bloße Blick auf die Gesell- Die Unterscheidung von Individualität schaft, ohne die in ihr wirkende Sozia- und Egoismus wird dabei wichtig. Das

40 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise eine meint Fähigkeiten, das andere meint denen persönliche Fähigkeiten, Motive Besitzergreifen. Während die einen den und Ziele den Schlüssel für ein bewuss- Egoismus bekämpfen in dem Glauben, tes soziales Wirken bilden, und zwar dieser sei individuelle Freiheit, bekämp- dort, wo es am Wichtigsten erscheint, fen die anderen die freie Initiative, weil im Markt. sie diese mit unsolidarischer Privatheit Erkennen von Gewinnchancen, je- gleichsetzen. (Hegge 1992: 327) Aus Ide- der darf sich seinen Vorteil verschaffen, alen gewinnt der Mensch die Richtung und bewusstseinsmäßige Isolation der seines Handelns. Die Kraft dazu ent- Wirtschaftsbürger voneinander sind die springt seiner Vitalität. Im menschlichen heute auf dem Markt vorhandenen Vor- Ich können die besonderen Qualitäten gaben des Handelns. Soziale Bewusst- des einen Bereiches verwandelt und für seinsverengung wird zum strukturellen den anderen wirksam werden. Egoismus Gebot. Außerhalb des individuellen Be- und Altruismus als menschliche Hand- wusstseins, im Preismechanismus, also lungsmöglichkeiten dürfen nicht alterna- gemäß rein statistischen Verhältnissen tiv verabsolutiert werden. In den „reinen von Angebot und Nachfrage, soll sich Fällen“ liegen Wahrnehmungsstörungen der soziale Ausgleich herstellen. Über vor: beim Egoisten nach außen, beim Al- nichts auf die Gemeinschaft Bezoge- truisten nach innen. Überzogenes Hel- nes braucht man sich Gedanken zu ma- fen-Wollen kann auch in Solidarität mit chen. Der Beweis der Marktwirtschaft, sich selbst umschlagen. Wer sich selbst die Größe des Erwirtschafteten wird nicht wahrnimmt, kann auch den ande- rein quantitativ geführt, ohne Bewusst- ren nicht erleben. Worauf es im sozialen sein in die sozialen Verbindungslinien Leben ankommt ist, dass sich die Subjek- des Handelns zu bringen, durch welche tivität ausweitet, dass sie nicht nur an der die Gesamtwirkung auf das Wohl der eigenen Person Anteil nimmt, sondern Menschen differenziert festgestellt und an der ganzen Welt. Nicht nur Interesse die Entscheidungen modifiziert wer- an sich selber zu haben, sondern an der den könnten. Was dabei herauskommt ganzen Menschheit, ist der entscheiden- ist zumindest gegenwärtig eine erschre- de Punkt. Selbstlosigkeit ist eine Lüge. Es ckende Zunahme prekärer Lebensver- kommt darauf an, die höchsten Interes- hältnisse. Es ist aber nicht der Markt, es sen in uns einzupflanzen und an diese ist die Weise, wie wir uns in ihm verge- Selbstsucht zu heften. An der reinen For- sellschaftet haben, die antisozial wirkt. derung nach der Selbstlosigkeit muss der Der Markt ließe sich auch als kommu- Mensch scheitern. (Denger 1992: 25ff.) nikativ ausgehandelter Prozess organi- sieren, in welchem die Individuen das Womit könnten wir anfangen – aus Wirtschaftlichkeitsprinzip sozial konst- sozialer Freiheit? ruktiv zur Wirkung bringen. Hier liegt Anzudenken bleibt noch, was wir inner- ein erstes, das freiheitlich in unsere sozi- halb des Systems aus Freiheit zu seiner ale Marktwirtschaft implementiert wer- Weiterentwicklung bewirken könnten. den könnte: Soziale Bezogenheit und Natürlich Sozialformen entwickeln, in Verantwortung in den Entscheidun-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 41 Ulrich Heyder gen, einschließlich einer institutionellen bleme. Die Sozialordnung entsteht in Grundlage dafür. unserem System erst jenseits der Markt- Eine gesellschaftstheoretisch fun- ordnung, ihrem eigentlichen Kern. Die dierte Reformdebatte in die soziale gesellschaftlichen Voraussetzungen für Marktwirtschaft hinein ist überfällig. das Wirtschaften werden durch den Die Marktordnung kann in Zukunft Staat vermittelt. Gleichzeitig produziert nicht mehr als ein unpersönlicher Koor- der Markt externe Kosten für die er nicht dinationsmechanismus privater Einzel- aufkommt. Die Tauschpartner verlie- entscheidungen angesehen werden. Der ren einander in der Anonymität und in Markt muss vielmehr zu einem Hand- räumlicher Ferne. Die Bedingungen des lungsfeld weiter entwickelt werden, in Produzierens und Konsumierens verges- dem die volle Gegenseitigkeit der Wirt- sen sich auf den Handelswegen. Wem schaftenden hergestellt wird. Jeder muss es gelingt teuer zu verkaufen und billig wahrnehmen können, mit welchen einzukaufender ist der Erfolgreiche. Ge- Wirkungen für andere er seine Tausch- rechtigkeit wird zum Gleichgewicht der leistung erhält. Hier läge ein wichtiges Egoismen, kein Ausgleich der Lebensla- Stück anfangender Gesellschaftsent- gen. Die Wahrnehmung der Wirklich- wicklung über die gegebene Realität keit bleibt dabei unvollständig. Denn hinaus. Es fehlen im Markt jedoch die jeder wirtschaftlichen Handlung in der Institutionen, die es ermöglichen den Welt entspricht immer eine Gegenbu- Gesamtzusammenhang zwischen den chung. Wenn sich der eine egoistisch Wirtschaftenden auch kommunikativ bereichert, wird ein anderer arm. Roh- herzustellen, um dann die einzelwirt- stoffverschwendung und Umweltver- schaftlichen Entscheidungen gemein- brauch beeinträchtigen das Leben in der sam mit einem sozialen Bewusstsein Zukunft. Die Exportüberschüsse der ei- zu durchdringen. Der Probleme sind nen sind die Schulden der anderen. Kein genug: Arbeitslosigkeit, Umweltschädi- Wunder, dass es eine Wanderung in die gung, Ressourcenverbrauch, Gemein- Überflussgebiete gibt, gegen welche ein- schaftsbedürfnisse, Regionalentwick- seitige Dämme bald nicht mehr halten lung etc. Es fehlt aus dem Markt heraus werden. (Herrmannstorfer 1991: 12) ein Verhandeln über gesellschaftliche In einer arbeitsteiligen Welt ist al- Bedarfe, Preise und Lebensbedingun- les verflochten. Nichts sollte getrennt gen der Menschen. Aber unter den ge- betrachtet werden. Wollen wir soziale gebenen Bedingungen kann das soziale Gestaltung im Markt ohne lähmende Bewusstsein, das alle Beteiligten doch bürokratische Kontrollen, müssen bei mehr oder weniger haben, den zentralen den Beteiligten andere Motive des Wirt- Sozialprozess unserer Gesellschaft, das schaftens wirksam werden als bisher. Tauschen auf dem Markt, nicht errei- Zur Marktsteuerung der Wirtschaft gibt chen. Die Vergesellschaftung im Markt es keine Alternative, aber die sozialen bleibt sozial unentwickelt und defizitär. Erkenntnisgrenzen des Marktes müs- Der Markt versagt als soziale Ord- sen heute überschritten werden. Das nung. Dies ist die Ursache vieler Pro- Bewusstsein und Handeln der Markt-

42 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise partner muss sich aus Freiheit der ge- voraussetzungen der Tauschhandlun- samtwirtschaftlichen und sozialen Ver- gen für alle kommunikativ ermitteln. antwortung stellen. Wir brauchen sozial Der reine Konkurrenzkampf wirkt nicht wahrnehmungsfähige und erfahrungs- nur leistungssteigernd, sondern begüns- gesättigte Tauschbeziehungen. Dies tigt auch antisoziale Verhaltensweisen. kann jedoch nicht vom einzelnen her Weil die Marktpartner sich nicht or- geleistet werden, sondern unter Wettbe- ganisieren, ist ergänzend ja bereits ein werbsbedingungen nur als gemeinsam System der Interessenkoordination ent- zu ergreifende Aufgabe. Hieraus folgt standen, in welchem der Staat mitwirkt, strukturell, dass sich die Marktpartner, das sich aber als völlig unzureichend er- d.h. einander entgegengesetzte Inter- weist. Verhaltensweisen wie Protektion, , assoziieren müssen. Nur so kön- Subventionen, Selbstbeschränkungs- nen die sozialen Erkenntnisgrenzen, abkommen sind an der Tagesordnung. die das Folgen über Folgen produzie- (Wilken 1985: 15f.) rende Markthandeln bestimmen, über- Eine auf Verhandlungen beruhen- wunden werden. Nur durch die Bildung de Verständigung über die Gesamter- von Assoziationen über die Gräben des zeugung findet in der Marktwirtschaft Marktes hinweg, können Denk- und nicht statt. Der durch den Preismecha- Handlungsweisen zur Erscheinung ge- nismus gesteuerte Markt schirmt die bracht werden, in welche die sozialen Produzenten und Konsumenten vor Konsequenzen der ökonomischen Ent- kommunikativen Akten über Sinn und scheidungen dynamisch einbezogen Zweck, sowie Nebenfolgen ihres Ver- sind. (Herrmanstorfer 1991: 21ff.) haltens ab. Es fehlt eine kommunikative Hier liegt die eigentliche Wurzel Marktöffentlichkeit. „Wo aber das Inter- der sozialen Umgestaltung heute. Der esse der Gesellschaft an den Wirkungen Mensch richtet sich nicht nur nach sich unternehmerischen Handelns steigt, wo selbst, gestützt auf seinen Selbstbehaup- öffentliche Themen mit Verbindlichkeit tungs- und Selbsterhaltungstrieb, son- an die Unternehmen adressiert werden, dern nimmt wahr, dass seine Arbeit, und wo schließlich die Unternehmen trotz eines Wettbewerbs um die beste quasi als Treuhänder der Öffentlich- Leistung, Teil eines gemeinschaftsbil- keit fungieren, da büßt die rational- denden Prozesses ist. Ziel muss es sein, individualistische Leistungsethik des in die Tauschbeziehungen durch Bezug Wettbewerbs zumindest teilweise ihre auf die Folgenbearbeitung und sozialen traditionellen Funktionen ein.“ (Buss Anforderungen ein Äquivalenzprinzip 1985: 251) Wenn Nutzen und verständi- durchzusetzen und nicht ohne ein sozi- gungsorientierte Handlungsmuster sich ales Reflexionsmoment mit einem Mi- verschränken, hebt das die Rationali- nimum an Aufwand einen maximalen tät der einzelwirtschaftlichen Entschei- Ertrag zu erstreben, die erzeugten Ne- dungen. Damit vertieft sich zugleich benkosten anderen überlassend. Das die Integration der Wirtschaft in die bezieht die Verbraucher ein! In den As- Gesellschaft. Es geht darum, freiheit- soziationen lassen sich die Äquivalenz- lich ausgehandelt, das Ausmaß und die

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 43 Ulrich Heyder

Richtung der Produktion an einem so- Erfahrung vorbei, dass oft schon längst zial Wünschenswerten und nicht allein Verhandlungsregelungen, aber un- am privaten Erwerbsmotiv zu orientie- durchschaubar und defizitär, die reine ren. Es darf als fraglich bezeichnet wer- Marktregelung abgelöst haben. Freiheit den, dass die Preisbildung, welche unter scheut im Markt Verantwortung, eine Konkurrenzdruck stattfindet, den Be- soziale Erweiterung des Markthandelns darf der Menschen und ihrer Gemein- wird notwendig. schaft wirklich zum Ausdruck bringt. Die Trennung der Menschen von- Der Koordinationsmechanismus, der einander im Marktmechanismus muss bisher die Mängel ausgleicht, funktio- überwunden werden. Wir brauchen zur niert nur mangelhaft, was die häufigen Lösung vieler Fragen eine soziale Urteils- Übertreibungen (Dumping und Mono- bildung schon im Markt, d.h. im Zent- pole) nach oben und unten zeigen. Die rum des gesamten Wertschöpfungspro- Frage, ob ein „gerechter Preis“ entsteht, zesses und nicht erst nachträglich durch wird ohnehin gar nicht mehr gestellt. staatliche Planungsträger oder den Bür- Das Verhältnis der zu tauschenden gerprotest. Verständige Kooperation ist Leistungen ist jedoch immer auch ein aber das, was die Marktkräfte heute noch soziales Wertverhältnis. Überall in den nicht wollen. Das Ganze der sozialen Be- Tauschbeziehungen wird nach dem ge- züge des Wirtschaftens lässt sich aber rechten Preis gerufen, in der Landwirt- nur finden, wenn auch ein Bild von die- schaft, in den Austauschbeziehungen sem Ganzen durch assoziative Urteilsbil- zwischen Industrie- und Rohstofflän- dung hergestellt wird. Dadurch würde dern etc., und auch die staatlichen Ver- kein neues Konstrukt über die Individu- schuldungsprobleme zeugen mannig- en hinweg geschaffen. Das Gesamtbild fach von der sozialen Bewusstlosigkeit entsteht dadurch, dass jeder seine Teil- einer rein statistisch durch das Verhält- wirklichkeit in es einfügt. Sogar Kon- nis von Angebot und Nachfrage sich er- junkturschwankungen und die Arbeits- gebenden Preisbildung. Was in den Prei- losigkeit könnten dann als Probleme in sen nicht gefunden wird, weil durch die die Primärplanungen Eingang finden. Markttheorie nicht vorgesehen, ist ein Die Assoziationen diktieren nicht, durch Aushandlung entstandenes „Le- sie treiben keine Planwirtschaft, aber bensgleichgewicht“. Längst aber haben sie unterstützen Makroplanungen, da- sich auch Machttriebe der Preisbildung durch dass eine gleichsam planvolle angenommen, wodurch die Möglichkeit Wirtschaft aus freien Entscheidungen einer freien Zusammenarbeit und letzt- heraus entsteht. Die freie Preisbildung lich das liberale Freiheitsverständnis wird nicht außer Kraft gesetzt. Aber die selber verwirkt wird. Die Entwicklung Prozesse des Abbaus und des Verlustes von institutionalisierten Kooperations- werden in Regie genommen. Man ver- beziehungen in den Markt hinein ist ständigt sich über dasjenige, was sich heute durch ein nicht wirklichkeitsge- entwickeln soll, genauso wie über das- mäßes Marktverständnis blockiert und jenige, was sich in der Wirtschaft über- wird tabuisiert, und zwar völlig an der lebt hat und ausscheiden soll. Aber es

44 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Zum Reformbedarf in der Krise wird nicht von außen her entschieden, Bürgerinitiativen in der Gesellschaft. sondern aus dem Zusammenhang der Politische Dimensionen und Reaktio- in der Wirtschaft Tätigen, der Unter- nen, Villingen. nehmer, Mitarbeiter und Konsumenten, Hegge , H. (1992): Freiheit, Individuali- einschließlich der öffentlichen Hand. tät und Gesellschaft. Eine philosophi- Wie hoch der Anteil der Fehlinvestiti- sche Studie zur menschlichen Existenz, onen heute in der Marktwirtschaft ist, Stuttgart. erfährt man leider nie, auch nicht, was Herrmannstorfer, U. (1991): Scheinmarkt- durch den Wettbewerb an produktiven wirtschaft. Die Unverkäuflichkeit von Kräften laufend wieder zerstört wird. Arbeit, Boden und Kapital, Stuttgart. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten und Heyder, U. (1994): Reformperspektiven für Nebenkosten hierfür dürften erheblich die Industriegesellschaft. Neue Wege sein. Durch Ausweitung ihrer Markt- der sozialen Reform nach dem Schei- anteile und Erhöhung ihrer Gewinn- tern des Sozialismus, Chur. spanne suchen die einzelnen dafür eine Klages, H. (1968): Soziologie zwischen Absicherung. Durch assoziative Urteils- Wirklichkeit und Möglichkeit, Köln/ bildung könnte der Wirtschaft jedoch Opladen. auch der Zwang zur Größe genommen Kurt, H. (2010): Wachsen! Über das Geisti- werden. Wann wird der Mensch endlich ge in der Nachhaltigkeit, Stuttgart. auch im Hinblick auf die sozialen Fra- Lindenau, Ch. (1983): Soziale Dreigliede- gen, die er selber erzeugt, mündig und rung. Wege zu einer lernenden Gesell- mitverantwortlich? Diese Frage kann schaft, Stuttgart. heute nur aus einer sozial integrierten Münch, R. (2009): Globale Eliten, loka- Freiheit einer Lösung zugeführt werden. le Autoritäten. Bildung und Wissen- schaft unter dem Regime von Pisa, Frankfurt/M. Literatur Steinkellner, C. (2012): Menschenbildung in Buss, E. (1985): Lehrbuch der Wirtschafts- einer globalisierten Welt. Perspektiven soziologie, New York. einer zivilgesellschaftlichen Selbstver- Denger, J. (1992): Ideal und Wirklichkeit, waltung unserer Bildungsräume, Berlin. Stuttgart. Wilken , F. (1985, 2. überarb.Aufl.): Die Gauck, J. (2012): Freiheit. Ein Plädoyer, Selbstgestaltung der Wirtschaft als sozi- München. ale Lebensnotwendigkeit, Schaffhausen. Hegner, F. (1980): Historisch-gesellschaft- Willke, H. (1992): Ironie des Staates. liche Entstehungsbedingungen und Grundzüge einer Staatstheorie polyzen- politisch-soziale Funktionen von trischer Gesellschaft, Frankfurt/M. Bürgerinitiativen, in: Hauff, V. (Hg.):

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 45 Holger Rogall Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

Wirtschaftliches Wachstum – von al- triebswirtschaftlich orientierte „Nach- len Wirtschaftspolitikern der Welt er- haltigkeitsmanagement“. Im Zuge der wünscht – beschleunigt die globalen Arbeiten entstanden zwei Lehrbücher, Probleme des 21. Jahrhunderts, die zahlreiche weitere Publikationen und traditionelle Wirtschaftslehre zeigt je- vielfältige Lehrmaterialien, die in drei doch keinen Weg aus dieser Sackgas- nachhaltig­keits­orientierten Studien- se. Es scheint Zeit für eine neue, nach- gängen und weiteren Wahlpflichtfä- haltige Wirtschafts­lehre, die zeigt, wie chern der Hochschule eingesetzt wer- eine wirtschaftliche Entwicklung im den und kostenfrei heruntergeladen Rahmen der natürlichen Trag­fähigkeit werden können (http://www.holger-ro- erfolgen könnte. Der Beitrag zeigt die gall.de/index.php/lehre/vorlesungsun- Essentials dieser Nachhaltigen Ökono- terlagen). mie/Ökonomik und ihre Position zum Die zentralen Erkenntnisse wurden wirtschaftlichen Wachstum. von dem 2009 gegründeten Netzwerk Nachhaltige Ökonomie aufgenommen 1. Entstehung der Nachhaltigen und weiterentwickelt. Das Netzwerk Ökonomie hat heute mehr als 250 Mit­glieder, dar- Die heute meist gelehrte Volkswirt- unter über 90 Dozenten und Wissen- schaftslehre (Neoklassik) kann auf- schaftler aus Brasilien, Chile, Deutsch- grund ihrer Annahmen (z.B. Men- land, Österreich, der Schweiz, Polen schenbild vom homo oeconomicus, und Vietnam. Seit 2011 gibt ein Heraus- der stets rational und zu seinem eige- geberteam, zu dem so bekannte Nach- nen Besten handelt) und ihrer Zielen haltigkeitsforscher wie Hans Christoph (z.B. kurzfristige Gewinnmaximierung Binswanger, Ingomar Hauchler, Martin und stetiges wirtschaftliches Wachs- Jänicke, Hans Nutzinger und Gerhard tum) keine Lösungen für die Proble- Scherhorn gehören, das Jahrbuch Nach- me des 21. Jahrhunderts anbieten. Um haltige Ökonomie heraus. diese Lücke zu schließen, wird seit Ende der 1990er Jahre in der Hoch- 2. Kernaussagen der Nachhaltigen schule für Wirtschaft und Recht Ber- Ökonomie lin (HWR) an der Entwicklung einer Das Netzwerk hat sich auf die folgenden nachhaltigen Wirtschaftslehre gearbei- Kernaussagen für die nachhaltige Wirt- tet: Die gesamt­wirtschaftlich orientierte schaftslehre verständigt, sie sollen in al- „Nachhaltige Ökonomie“ und das be- len Hochschulen gelehrt werden:

46 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

1. Starke Nachhaltigkeit: Die derzeiti- Erde erreichen und so das intra- und ge Entwicklung der Menschheit ist intergenerative Gerechtigkeitsprinzip nicht zukunftsfähig, deshalb wird durchsetzen“. eine Position der starken Nach- 2. Reform der traditionellen Ökono- haltigkeit vertreten. D.h. die Wirt­ mie: Die Inhalte und Ziele der tra- schaft wird als ein Subsystem der ditionellen Ökonomie sollen auf Natur angesehen und die natürli- Basis eines Methodenpluralismus chen Ressourcen als größtenteils grundlegend geändert werden, d.h. nicht substituierbar betrachtet. Im die Nach­haltige Ökonomie erkennt Mittelpunkt steht hierbei die dau- bestimmte Erkenntnisse wie bei- erhafte Erhaltung und nicht der op- spielsweise die Notwendigkeit po- timale Verbrauch. Die Verände- litisch-rechtlicher Instrumente an, rung des Klimas, die Zerstörung verschärft bzw. erweitert sie aber um der Ozonschicht, die Ver­giftung der neue Modelle und Theorien. Böden, ausgestorbene Arten, ver- 3. Weiterentwicklung zur Nachhaltigen brauchte Rohstoffe und Energieträ- Ökonomie/Ökonomik: Eine Viel- ger schränken die Freiheit künfti- zahl der Modelle und Annahmen, ger Generationen unzulässig ein, da mit denen die traditionelle neoklas- die negativen Veränderungen nicht sische Ökonomie operiert – wie die in akzeptablen Zeitspannen rück- Vorstellung der Selbstheilungs- und gängig gemacht werden können. Steuerungskräfte der Märkte und Daraus folgt die Definition: „Eine die optimale Verteilung der Produk- Nachhaltige Entwicklung will für alle tionsfaktoren (Arbeit, Ressourcen, heute lebenden Menschen und künf- Kapital) und Güter durch den Preis- tigen Generationen ausreichend hohe mechanismus – sind unrealistisch. ökologische, ökonomische und sozi- Andere Annahmen, wie das Bild al-kulturelle Standards in den Gren- des rational handelnden Menschen zen der natürlichen Tragfähigkeit der (homo oeconomicus), wurden

Abb. 1: Zur Veranschaulichung die- ser Definition wird das Zieldreieck der Nachhaltigkeit in den Grenzen der natürlichen Tragfähigkeit verwen- det. (Quelle: Eigene Erstellung Rogall, Treschau 2009)

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 47 Holger Rogall

von der Verhaltens- und Gehirn- sourcenverbrauch Jahr für Jahr zu- forschung längst widerlegt (Selten rückgefahren wird. 1993, Kahneman 1986, Ockenfels 5. Das Leitbild der Nachhaltigkeit ist 1999). Die Vertreter der Nachhalti- ethisch begründet: Daraus folgen gen Ökonomie empfehlen stattdes- Prämissen für alle Entscheidungen sen das heterogene Menschenbild und Handlungen, die intra- und in- vom homo cooperativus, das dem tergenerative Gerechtigkeit wie etwa kooperativen Verhaltenspotential das Recht auf gleiche Ressourcen- des Menschen Rechnung trägt. Die nutzung, sowie Verantwortung und komplexen Handlungen der Wirt- Solidarität fordern. Zudem basie- schaftsteilnehmer können durch ren sie auf dem Vorsorgeprinzip, das die traditionellen Rechenmodelle an die Stelle des Nachsorgeprinzips dementsprechend nicht abgebildet tritt, dem Prinzip der Dauerhaf- werden. Die Deregulierung der Fi- tigkeit statt der kurzfristigen Ori- nanzmärkte zeigte z.B. eindrucks- entierung, dem Prinzip der Ange­ voll, dass falsche Ergebnisse durch messenheit, das sich auch auf das falsche Voraussetzungen zwangsläu- Ausmaß der Gewinnorientierung fig resultieren. Auch viele Ziele der von Unternehmen bezieht, und traditionellen Ökonomie müssen nicht zuletzt der Anerkennung der ersetzt werden, die natürliche Res- Prinzipien einer nachhaltigen Demo- sourcen bislang als quasi unendlich kratie, was die Mitbestimmung und verfügbaren Inputfaktor behandeln die Unterstützung der Politik bei und ihrer Knappheit nicht ausrei- der Entwicklung von sozial-ökolo­ chend Bedeutung beimessen. Dies gischen Leitplanken umfasst. betrifft sowohl die Aufnahmefähig- 6. Interdisziplinärer Ansatz: Künf- keit der Atmosphäre oder der Ge- tig müssen alle Entschei- wässer und Meere als auch die Ver- dungsteams (z.B. in den Entwick­ fügbarkeit von Energieträgern und lungsabteilungen von Unternehmen Metallen. Eine Wirtschaftsweise, die und der Politik) interdisziplinär zu- ein stetiges wirtschaftliches Wachs- sammengesetzt sein. Hierbei sollen tum mit steigendem Ressourcenver- alle Entscheidungen immer vor dem brauch anstrebt, ist in einer endli- Hintergrund ihrer späteren Folgen chen Welt langfristig nicht möglich. gefällt werden (z.B.: Wie konstruie- 4. Ersetzung des Wachstumsparadig- re ich ein Produkt so, dass ich spä- mas durch ein Nachhaltigkeitspa- ter alle Werkstoffe wiedergewinnen radigma: Daher wird es zur not- kann?). wendigen Voraussetzung einer 7. Notwendigkeit der Änderung der Rah- zukunftsfähigen Entwicklung, das menbedingungen (Leitplanken): Mit heutige Wachs­tumsparadigma Hilfe politisch-rechtlicher Instru- durch ein Nachhaltigkeitsparadig- mente sollen die Rahmenbedingun- ma zu ersetzen, indem zunächst der gen für Produzenten und Konsu- europäische, dann der globale Res- menten so verändert werden, dass

48 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

die weitere wirtschaftliche Entwick- Ordnungsrahmen sind zukunfts- lung die Grenzen der natürlichen fähig. Danach muss die Politik ak- Tragfähigkeit einhält und die Vor- tiv eingreifen, um eine nachhaltige reiter der Nachhaltigkeit Wettbe- Entwicklung sicherzustellen und die werbsvorteile erhalten. Folgen von Marktversagen zu ver- 8. Notwendigkeit der Operationali- mindern. Hierbei sollen ausreichend sierung des Nachhaltigkeitsbegriffs, hohe ökonomische, ökologische neue Messsysteme: Die Sinnentlee- und sozial-kulturelle Standards an- rung des Nachhaltigkeitsbegriffs gestrebt sowie Freiheit und Lebens- soll durch eine Formulierung von qualität für alle Menschen durchge- Prinzipien, Managementregeln und setzt werden. neuen Messsystemen verhindert werden. Anders als die traditionel- Diese theoretischen Grundlagen müs- le Ökonomie, die Lebensqualität sen im Unterricht der Hochschulen und Wohlstand (gemessen am BIP durch Handlungs­felder konkretisiert pro Kopf) gleichsetzt, benötigt eine und durch praxistaugliche Strategien nachhaltige Entwicklung geeignete für die Studierenden nachvollziehbar Ziel- und Indikatorensysteme. werden. Hierzu werden Kapitel und 9. Globale Verantwortung: Als zentrale Lehrmaterialien zur nachhaltigen En- Bedingungen für eine Nachhaltige ergie-, Mobilitäts-, Ressourcenscho- Entwicklung werden u.a. die Einfüh- nungs- und Produktgestaltungspolitik rung eines globalen Ordnungsrah- sowie zur nachhaltigen Landwirtschaft mens (mit Regulierung der Finanz­ und dem Nachhaltigkeitsmanagement märkte, Abgaben auf die globalen auf der eingangs genannten Website zur Umweltgüter und Finanztransaktio- Verfügung gestellt. nen sowie sozial-öko­logische Min- deststandards u.v.a.m.) sowie die 3. Ziel des stetigen wirtschaftlichen Senkung des globalen Ressourcen­ Wachstums verbrauchs bis 2050 um 50 bis 60 Prozent anerkannt. Hierbei wird Wunsch und Wirklichkeit akzeptiert, dass die Industrieländer Nicht nur das deutsche Stabilitäts- und aufgrund der historischen Entwick- Wachstumsgesetz von 1967 strebt ein lung und der größeren Leistungsfä- stetiges, angemessenes wirtschaftliches higkeit eine Vorreiterrolle einneh- Wachstum an, sondern alle traditionel­ men müssen. len Ökonomen, unabhängig davon, 10. Nachhaltige (sozial-ökologische) welche inhaltlichen Kontro­versen sie Marktwirtschaft und nachhalti- ansonsten ausfechten. Dieses Wachs- ge Demokratie: Eine kapitalistische tumsparadigma kann als wichtigstes Marktwirtschaft wird ebenso abge- wirtschaftspolitisches Ziel fast aller lehnt wie eine zentrale Verwaltungs­ Wirtschaftspolitiker weltweit angesehen wirtschaft. Nur marktwirtschaftli- werden. Natürlich drängen sich hierbei che Systeme mit einem nachhaltigen die Fragen auf, welche Wachstumsraten

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 49 Holger Rogall dauerhaft „angemessen“ und welche mit in der Mehrzahl der OECD-Länder ein der natürlichen Tragfähigkeit der Erde lineares statt ein exponen­tielles Wachs- vereinbar sind (ausführlich SRU 2012: tum zu verfolgen ist (Deutschland 1950 35). Traditionelle Ökonomen, z.B. Gros- bis 2008 etwa 20 Mrd. € pro Jahr, mit sekettler u.a. (2008: 312), stellen sich leicht sinkender Tendenz; BMAS 1992 diese Fragen nicht und sprechen auch und 2011/09: 1.2). Die mit 3,6% über- heute noch von einer „Wunschwachs- durchschnittlich hohe Wachstumsrate­ tumsrate“ für Deutschland von 4%. von 2010 und 2011 ist nachkrisenbe- Andere Autoren und Institutionen for- dingt und kein neuer Trend. Dort, wo dern immerhin stetige Wachstums- die Staaten in den 1990er und 2000er raten von 3% (z.B. Europäischer Rat Jahren, noch Wachstumsraten­ von über in der Lissabon-Strategie, McKinsey), 2% erzielten (wie die USA), geschah das was eine Verdoppelung der Gütermen- i.d.R. auf Kosten einer enormen Ver- ge alle 23 Jahre bedeutet. In der Reali- schuldung. Diese ist, wie die globale Fi- tät sinken die Wachstumsraten in den nanz- und Wirtschaftskrise zeigte, nicht letzten Jahrzehnten tendenziell, so dass zukunftsfähig.

1960–69 1970–79 1980–89 1990–99 2000–08 Frankreich 5,7 4,2 2,3 1,9 1,9 Großbritannien 2,9 2,4 2,5 2,2 2,5 Italien 5,8 4,0 2,6 1,4 1,2 Japan 10,1 5,2 3,7 1,5 1,5 USA 4,7 2,4 3,1 3,1 2,3 OECD 5,2 3,8 3,0 2,5 2,4 Tab. 1: Wachstumsraten in ausgewählten OECD-Staaten (Quelle: Ameco in Dullien, Herr, Kellermann 2009: 24.)

Mögliche Gefahren einer auf Wachstum 2006, IPCC 2007). (2) Zerstörung fixierten Gesellschaft von Naturräumen und Artensterben. Wachstumskritiker verweisen auf die (3) Zunehmende Nutzung nicht-er- ökologischen und sozial-kulturellen Ge- neuerbarer Ressourcen bis zu ihrem fahren einer auf wirtschaftliches Wachs- vollständigen Verbrauch, z.B. fos- tum fixierten Gesellschaft. U. a. werden sile Energie­träger oder Flächenin- die folgenden Gefahren genannt (Seidel, anspruchnahme. (4) Übernutzung Zahrnt 2010): erneuerbarer Ressourcen mit der • Ökologische Gefahren (Kosten): Folge, dass das Naturkapital zerstört (1) Zunehmende Freisetzung von wird: z.B. Zerstörung der Fischbe- Treibhausgasen, mit einer Klimaer- stände, Wälder, Süßwasserreserven­ wärmung von 2-6°C in diesem Jahr- usw., dramatische Hungersnöte als hundert (zu den Folgen siehe Stern Konsequenz. (5) Zunehmende Frei-

50 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

setzung von Schadstoffen und Lärm • Sozial-kulturelle Gefahren (Probleme mit der möglichen Folge, dass die der Konsumgesellschaft): (1) Eine Biosphäre irreversibel geschädigt wachstumsfixierte Gesellschaft wird. kann zu einem Wachstumszwang • Ökonomische Risiken: Die in den für alle Gesellschaftsmitglieder füh- ökologischen Gefahren dargestell- ren. Weiterhin kann dieser Wachs- ten Entwicklungen führen auch zu tumszwang zu (2) einem extremen schwerwiegenden ökonomischen Flexibilisierungszwang führen, der Problemen. Mit der Übernutzung eine Bindungslosigkeit aller Gesell- der natür­lichen Ressourcen werden schaftsmitglieder nach sich zöge. in der Folge auch fast alle ökonomi- (3) Der Wachstumszwang kann so sche Ziele einer Nachhaltigen Ent- dominant werden, dass die gesamte wicklung tangiert: (1) Die Grundbe- Politik unter dieses Ziel gestellt wird. dürfnisse können für immer mehr Die knapper werdenden Ressourcen Menschen nicht mehr befriedigt führen zu Rohstoffsicherungspoliti- werden, da die Nahrungsmittelpro- ken, die zu gewaltsamen Konflikten duktion zurückgeht. (2) Der immer führen können (Ressourcenkriege). schnellere Verbrauch und die Über- (4) Ein gesellschaftlicher Wachs- nutzung der natürlichen Ressourcen tumszwang kann zu einem Innovati- führen seit der Jahr­tausendwende onszwang führen, indem nicht mehr zu drastischen Preissteigerungen, gefragt wird, was die Gesellschaft die sich nach Überwindung der glo- benötigt und wohin sich Technolo- balen Finanz- und Wirtschaftskrise gien entwickeln sollen, sondern wo verstärkt fortsetzen werden (zwi- es um Neues nur um der Neuartig- schen 2002 und 2006 stieg der Preis keit willen geht. für Kupfer, Zink und Wolfram um 400%, der Preis für Nickel, Blei, Ei- Was ein hohes stetiges Wachstum für Fol- senerz, Zinn und Aluminium um gen haben kann, zeigen auch die ökolo­ 100 bis 200%, Miegel 2010: 117).1 gischen Gefahren in den Entwicklungs- und Schwellenländern, die seit Anfang 1 Modellrechnung für ein exponentielles der 1990er Jahre hohe, teilweise zwei- Wachstum des Ressourcenverbrauchs und stellige Wachstumsraten erreichen (im der Schadstoffeinträge: Unterstellen wir ein Weiteren am Beispiel Chinas gezeigt). globales Wachstum des Ressourcenverbrauchs Nach Angaben des stellvertretenden und Schadstoffeinträge um jährlich 2,5%, verdoppeln sich der Verbrauch an Ressourcen Ministers für Umwelt Pan Yue sind u.a. und der Eintrag der Schadstoffe alle 28 Jah- folgende Umweltprobleme festzustellen: re. Das heißt, dass nach nur 280 Jahren sich (1) Die für Landwirtschaft nutzbare Flä- die Schadstoffeinträge und der Ressourcen- verbrauch gegenüber heute vertausendfacht hätten! Nimmt man als Berechnungsgrundla- US-Dollar bis zum Ende des Jahrhunderts auf ge ein – von vielen Ökonomen gefordertes – unvorstellbare 2.000 Billionen US-Dollar ge- jährliches Pro-Kopf Wachstum von 4%, wür- stiegen sein, eine 33-mal größere Gütermenge de das globale BIP von heute ca. 61 Billionen (Miegel 2010: 62).

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 51 Holger Rogall che hat sich aufgrund des Wachstums 950.000 an verunreinigtem­ Trinkwasser der Wüsten und Siedlungsflächen in den (Blume 2007/10: 20). letzten 50 Jahren halbiert. (2) Auf einem Als Zwischenfazit wollen wir fest- Drittel des chinesischen Territoriums halten, dass ein ungezügeltes Wachs- geht saurer Regen nieder. (3) Die Hälf- tum unvertretbar hohe sozial-ökologi- te des Wassers der sieben größten Flüs- sche Kosten mit sich bringt, die weder se ist völlig unbrauchbar und ein Viertel ethisch noch ökonomisch akzep­tabel der Bürger Chinas hat keinen Zugang sind. Daher erhält die Verhinderung zu sauberem Trinkwasser. (4) Ein Drit- dieser Entwicklungen die höchste tel der Einwohner von Städten muss gesellschaftspolitische­ Priorität. stark schadstoffbelastete Luft atmen, z.B. sind in Peking 70 bis 80% aller tödlichen Verhältnis von Einkommen zu Glück und Krebserkrankungen umweltbedingt. Lebenserwartung Lungenkrebs ist die häufigste Todesursa- Früher gingen Ökonomen davon aus, che. (5) Mehr als 80% des Abfalls wer- dass wirtschaftliches Wachstum (die den nicht umweltverträglich entsorgt Steigerung der Einkommen) die Men- und belasten damit die Umwelt. (6) Die schen immer glücklicher macht und Umweltbelastungen sorgen schon heute ihre Lebenserwartung steigert. Diese dafür, dass 8 bis 15% des BIP zu deren Aussagen müssen heute differenzierter Beseitigung verwendet werden müss- erfolgen. Seit den 1970er Jahren liegen ten. Hinzu kommen die erheblichen Ge- zahlreiche­ empirische Untersuchungen sundheitskosten und das menschliche vor, nach denen wir den Zusammen- Leid. Pan Yue kommt zu folgendem Fa- hang von Einkommen zu Lebenserwar- zit: „(…) die ökologisch belasteten Ge- tung und Zufriedenheit wie folgt be- biete können schon jetzt ihre Bewohner schreiben können: nicht mehr verkraften. Deshalb müssen Erstens: Es lässt sich ein signifikan- wir in Zukunft (...) rund 186 Mil­lionen ter Zusammenhang zwischen sehr ge- Bürger umsiedeln. Die anderen (chine- ringem durch­schnittlichen Pro-Kopf- sischen) Provinzen können aber nur 33 Einkommen zur Lebenserwartung und Millionen aufnehmen. China wird also Zufriedenheit der Bevölkerung nach- über 150 Millionen öko­logische Mig- weisen. Während Länder mit einem ranten, ja womöglich sogar ökologische Pro-Kopf-Einkommen von weniger als Flüchtlinge haben.“ (Yue 2005: 149). 5.000 US-Dollar pro Jahr eine Lebenser- In China kann man nicht mehr von wartung von 38 bis 75 Jahren aufweisen, Umweltrisiken sprechen, sondern von ei- erreichen Länder mit einem Pro-Kopf- ner ernsten Bedrohung, die schon heute Einkommen von über 20.000 US-Dol- jährlich Abertausenden den Tod bringt lar eine Lebenserwartung von 75 bis 84 und die Früchte der wirtschaftlichen­ Jahren (Wilkinson, Pickett 2009: 20). Entwicklung aufzehrt. So sterben nach Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich Angaben der Weltgesundheits­orga­ bis zu einem gewissen Mindesteinkom- nisation jährlich 650.000 Chinesen an men auch zwischen Einkommen und den Folgen der Luftverschmutzung und Glücksgefühl nachweisen. Zumindest

52 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch? in den meisten Ländern steigt mit dem tum nicht weiterhelfen, da sich die rela- Einkommen zunächst auch das Glücks­ tive Position (z. B Schichtzugehörigkeit)­ gefühl (Wilkinson, Pickett 2009: 22). hierdurch nicht ändert. Ähnliche empi- Zweitens: Sind die Grundbedürfnis- rische Ergebnisse liegen für die USA vor se erfüllt, steigt die Lebenserwartung (Hirsch 1980: 164; WI 2005: 163). So nur noch langsam, dass Glücksgefühl führt dieser Wettlauf nach „mehr als die nicht mehr. Auch ist nachgewiesen, dass anderen“ zu immer größerem Ressour- in den Industriestaaten seit etwa 40 Jah- cenverbrauch ohne mehr Zufriedenheit. ren – trotz steigender Einkommen – die Diese Erkenntnisse müssten eigentlich Zufriedenheit nicht mehr zugenommen­ die Gedankengebäude der Ökonomie hat (zu den empirischen Ergebnissen in revolutionieren, bislang werden aber Japan, USA, Europa: Frey, Stutzer 2002).2 die überholten Theorien weiter gelehrt Weiterhin spielt in den wohlhaben- (Heuser, Jungbluth 2007/07: 34; Scher- den Industriestaaten weniger die abso- horn 2004: 4). lute Höhe der Konsumgüterausstattung als vielmehr die relative Höhe die ent- Wachstumskritik: scheidende Rolle für die Zufriedenheit.­ Vier Positionen – Kurzbewertung Hier kommt es auf die Befriedigung an, Als Zwischenfazit wollen wir festhal- die sich aus der Knappheit als solcher ten, dass ein dauerhaftes Wachstum der ergibt (bzw. dem Status, den der Konsu- materiellen Güterproduktion, verbun- ment aus diesem knappen Gut bezieht: den mit einem steigenden Ressourcen­ Hirsch 1980: 43). Ein weiterer wichti- verbrauch (über viele Jahr­hunderte), ger Faktor für die Zufriedenheit ist das weder ökologisch vertretbar noch wirt­ Gefühl der Befragten, dass ihr Einkom- schaftlich wahrscheinlich ist. Ökono- men im Vergleich zu anderen gerecht men, die diese Position vertreten, kön­ ist. Nach den neusten Untersuchungen nen als Wachstumskritiker im weitesten scheint dieses Gefühl einer relativ ega- Sinne bezeichnet werden. In der wachs- litären Gesellschaft sogar zu den wich- tumskritischen Diskussion existie- tigsten Faktoren der Zufriedenheit­ zu ren die unterschiedlichsten Positio­nen gehören (Wilkinson, Pickett 2009: 44). und Schulen, mehr als wir hier erläu- Da das Zufriedenheitsgefühl in den In­ tern können, daher wollen wir die Po- dustriestaaten stark von der relativen sitionen modellhaft in vier Richtungen Position und dem Gerechtigkeitsgefühl gliedern, die Realität ist von diversen abhängt, kann wirtschaftliches Wachs- Mischpositionen geprägt.

2 Als entscheidende Faktoren der Zufrieden- (1) Technikstrategie: Die Vertreter der heit werden dann angesehen: (1) Stand der Technikstrategie gehen davon aus, dass Verteilungsgerechtigkeit (Gesellschaften mit die globalen Probleme des 21. Jh. durch wenig Ungleichheit sind glücklicher als jene eine konsequente Effizienzstrategie und mit hoher Ungleichheit). (2) Sicherheit und Art der Erwerbstätigkeit, (3) soziale Kontakte Teilen der Kon­sis­tenzstrategie­ zu lösen und Anerkennung (Beruf, Familie, Freunde sind. Sie gehen da­von aus, dass Zielkon- (BUND u.a. 2008: 234)). flikte zwischen Umweltbelastungen und

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 53 Holger Rogall der bis­herigen­ wirtschaftlichen Entwick- (2) Verzicht auf Wachstum und Ver- lung durch Umweltschutztechniken lös- teilung: In jüngster Zeit ist eine neue bar und beherrschbar sind. Die OECD wachstumskritische Position entstan- hat einen Teil dieser Position aufgenom- den, die die Aufrechterhaltung des men und 2009 eine „Grüne-Wachstums- Wachstumsziels als unrealistisch an- Strategie“ beschlossen (OECD 2011). sieht und in diesem Zusammenhang Hiermit sollte zugleich die globale Wirt- Lohn- und Verteilungspolitik als nicht schaftskrise be­kämpft werden. mehr zeitgemäß abtut. Darüber hinaus Kurzbewertung: Die Mehrzahl der sprechen sie sich für die Ausweitung des Vertreter der Nachhaltigen Ökonomie Niedriglohnsektors und den Abbau des geht davon aus, dass diese Strategie nicht Sozialstaates aus (Miegel 2010: 179, 190, weit genug geht, weil die zu er­wartenden 193). Rebound-Effekte die notwendige glo- Kurzbewertung: Der Position von bale Ressourcenminderung (-50% bis Miegel folgen die Vertreter der Nach­ 2050) nicht möglich machen würden. haltigen Ökonomie nicht. Sie bezeich- nen sie als „Wachstumskritik von rechts“, Rebound-Effekt (Mehrverbrauch trotz die bekannte wirtschaftsliberale Positio- Effizienzsteigerung): Unter R.E. wird nen aus den 1990er Jahren unter einer eine Entwicklung verstanden, die ent- neuen Überschrift vertritt: steht, wenn die Haushalte und Un- „Der Sozialstaat ist nicht nur hilfrei- ternehmen aufgrund von Effizienz­ cher Vater und gütige Mutter. Er ist auch steigerungen ihre Kosten für die strenger Vor­mund und mitunter selbst Nutzung­ natürlicher Ressourcen re- Tyrann, der seine Mündel nicht mün- duzieren (z.B. Ener­giekosten auf­ dig werden lässt. Diese Chance haben sie grund Wärmeschutzsanierung) und jetzt. Der Vormund schwächelt, und In- anschließend das eingesparte Geld für dividuen und Gesellschaft werden bald andere, mindes­tens ebenso ressour- spüren, dass auch dies kein Verlust sein cenintensive Tätigkeiten verwenden muss, sondern ein Gewinn sein kann. (z.B. Flugreisen, größere Wohnun- (...) die Menschen­ können Fähigkeiten gen usw.; BUND u.a. 2008: 105; Kopf­ und Kräfte nutzen, die bisher weit­gehend müller u.a. 2001: 101). Diesen Effekt brachliegen. (...) wahr­scheinlich ist, dass konnte schon William St. Jevons im sich dann viele Men­schen besser fühlen 19. Jh. nachweisen (sog. Jevons-Para- werden als bisher.“ (Miegel 2010: 205). doxon, Jevons 1865), indem er zeigte, Die im Zitat gepriesene Verschär- dass trotz der Effizienzsteigerungen fung der Armut als Chance zur Erhö­ der Dampfloks der Kohleverbrauch hung der gesell­schaft­lichen Kohäsion stark zunahm, weil Effizienzsteigerung und Zufriedenheit wird nicht von allen die Kosten pro Streckeneinheit senkte, Ökonomen geteilt. Das Ziel der Nach- was eine erhebliche Nachfragesteige- haltigen Ökonomie bleibt es vielmehr, rung und Überkompensation der Effi- ausreichend hohe ökologische, ökono- zienzsteigerungen zur Folge hatte. mische und sozial-kultu­relle Standards in den Grenzen der natürlichen Trag-

54 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch? fähigkeit zu schaffen, um so das intra- (4) Wirtschaftliche Entwicklung in den und intergenerative Gerechtigkeitsprin- Grenzen der natürlichen Tragfähigkeit zip durchzusetzen. Gesellschaftliche („selektives Wachstum“, Eppler 1981: Solidari­tät und eine gerechtere Ver­ 147; Rogall 2000: 71 u. 132). Sie verfolgt teilung der Ein­kommen und Vermö- das Ziel, innerhalb der kommenden 40 gen bleibt vielmehr unverzichtbar­ (s.a. Jahre ausreichend hohe ökologische, Möhring-Hesse 2010: 123). So ist heu- ökonomische und sozial-kulturelle­ Stan- te folgen­der Zusammenhang empirisch dards für alle Menschen zu erreichen erwiesen: Je ungleicher eine Gesellschaft und trotz moderater Wachs­tumsraten ist, umso schlechter ist es tendenziell durch einen nachhaltigen Umbau der um die sozial-kulturellen Indikato­ren globalen Volks­wirtschaften (Transfor- der Nachhaltigkeit bestellt (Wilkinson, mation) den globalen und nationalen Pickett 2009: 20, 44). Ressourcen­verbrauch mit Hilfe der drei Strategiepfade der Nachhaltigen Öko- (3) Steady-State-Economy, Postwachs- nomie (Effizienz, Konsistenz, Suffizienz) tumsgesellschaft: Die Steady-State- global absolut um 50% (in den Indus­ Economy verfolgt das Ziel, das globale trieländern um 80-95%) zu senken und Wirtschaftssystem so schnell wie mög- damit die wirtschaftliche Ent­wicklung lich zu einer Gleichgewichtsökonomie der natürlichen Trag­fähigkeit unterzu- (Steady-State) mit konstantem oder ordnen. Andere Autoren nennen diese schrumpfendem BIP umzubauen: Ein gesteuerte wirtschaftliche Entwicklung Wirtschafts­system, das darauf ausge- qualitatives Wachstum (Müller, Nie- richtet ist, eine konstante Ausstattung bert 2009: 99; Renn 2007: 32), Sustai- mit materiellen Gütern zu gewähr­ nable Growth oder green growth (Majer leis­ten, die für ein „gutes Leben“ aus- 1984). Eine besondere Bedeutung hat reicht. Dabei sollte die Bevölkerungs- der Begriff Green Economy erhalten, da höhe möglichst kon­stant bleiben (Daly das Schlussdokument der Weltkonfe- 1999). Eine Reihe von Autoren folgt renz Rio +20 ihn zur neuen Leitidee der dieser Position, indem sie davon aus­ globalen Wirtschaft erklärt hat (BMU, geht, dass eine „nachhaltige Weltwirt- UBA 2011/09: 10; Rogall, Scherhorn schaftsordnung (...) die Abkehr von ei- 2012). Eine derartige Entwicklung soll ner Fort­schritts- und Entwicklungsidee erreicht werden, indem die Rahmen­ voraus(setzt), die auf Wirtschaftswachs­ bedingungen mittels politisch-recht­ tum basiert.“ (Attac 2004/10: 17). Eine licher Instrumente geändert werden neuere Position fordert eine Postwachs- (Schaffung ökologischer Leitplanken). tumsgesellschaft. Sie halten eine Ent­ Nach den heutigen Erkenntnissen muss koppe­lung von Wachstum und Ressour- der absolute Ressourcenverbrauch­ in- cenverbrauch für nicht möglich (Seidel, nerhalb der nächsten 35 Jahre deutlich Zahrnt 2010; Jackson 2009, Paech 2009). (ca. um 50%) reduziert werden. Gleich- zeitig möchten die Men­schen in den Eine Art Brückenposition nimmt die Entwicklungsländern eine deutliche vierte Position ein: Wohlstandssteigerung. Hinzu kommen

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 55 Holger Rogall die dargestellten ökonomischen und so- Bewertung zialen Probleme, wenn kurzfristig auf Die Vertreter der Steady-State-Economy weiteres wirtschaftliches Wachstum und der wirtschaft­li­chen Entwicklung in verzichtet wird. Eine zentrale Aufgabe den Grenzen der natürlichen Tragfähig- der Nachhaltigen Ökonomie ist es, die keit vertreten auf lange Sicht die glei- Bedingun­gen herauszuarbeiten, für eine chen Ziele (Einhaltung der natürlichen überschaubare Zeit, z.B. 40 Jahre, den Tragfähigkeit), allerdings mit divergie- absolu­ ten­ Ressourcenverbrauch­ global renden Zeitperspektiven und Instru- zu halbieren und gleichzeitig ein selek­ menten. Unstrittig ist die Auffassung, tives Wachstum zuzulassen,­ um so die dass eine weitere wirtschaftliche Ent- ökologischen und sozialen Probleme wicklung nur in den Grenzen der natür- parallel zu lösen. Hierdurch soll künftig lichen Tragfähigkeit erfolgen darf (von im Sinne eines Paradigmenwechsels die anderen auch als ökologische Leitplan- wirtschaft­liche Entwicklung den natür- ken bezeichnet, Hinterberger u.a. 1996: lichen Grenzen unter­geordnet werden. 246). Ein kurzfristiges Schrumpfen der Wertschöpfung wird aber abgelehnt.

Position Zentrale Aussage (1) Technik- Konsequente Effizienzstrategie u. Teile der Konsistenzstra­ tegie­ kön- strategie nen Probleme lösen. (2) Verzicht auf Wachstumsziele unrealistisch. Lohn- und Verteilungspolitik nicht Wachstum und mehr zeitgemäß. Für die Ausweitung des Niedriglohn­sektors und den Verteilung Abbau des Sozialstaates (3) Steady-State- Das globale Wirtschaftssystem soll zu einer Gleichgewichts­ökonomie Economy mit konstantem o. schrumpfendem BIP umgebaut werden (4) Nachhaltig- Bis 2050 soll der globale u. nationale Ressourcenverbrauch mit Hilfe keitsparadigma eines „selektiven Wachstums“ (Ausbau u. Abbau) und drei Strategie- pfaden der Nachhaltigen Ökonomie (Effizienz,­ Konsistenz, Suffizi- enz) absolut gesenkt werden (Entwick­ lung­ des BIP zweitrangig). Übers. 1: Wachstumskritische Positionen (Quelle: Eigene Zusammenstellung 2011)

Schrumpfende Wirtschaft als Lösung? (1) Stagnation der Einkommen, Erwar- Hintergrund der Ablehnung von kurz- tungshaltung und Deflation: Die Ein­ fristigen Schrumpfungsprozessen des kommen werden nicht mehr gesteigert, BIP sind eine Reihe von ökonomischen was eine allgemeine negative Erwar- Problemen, die auftreten können, wenn tungshaltung der Gesellschaft zur Folge das gesamt­wirtschaftliche Ein­kommen haben kann und damit eine Deflation (das BIP) dauerhaft konstant bleibt oder mit sinkenden Preisen und steigender gar sinkt (zu den möglichen Lösungs- Arbeitslosigkeit. Ein Schrumpfen des strategien Rogall 2012): BIP führt „innerhalb der bestehenden

56 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

ökonomischen und sozialen Struktu- fahren zur Alterssicherung nicht fi- ren (...) zu Sozialkahlschlag, Verarmung nanzierbar.“ (SRU 2012: 58). und anderen Begleiterscheinungen ka- b) Rentensystem: Ohne eine Steige- pitalistischer Krisen.“ (Schmelzer, Pas- rung der Einkommen müssen künf- sadakis 2010/10). tig aufgrund des demo­grafischen Wandels entweder (a) immer größe- (2) Steigende Arbeitslosigkeit: Wird die re An­teile des Einkommens für die Produktivität weiter gesteigert, erhöht Finanzierung der Renten aufgewen- sich die Arbeitslosigkeit, da die Güter det, (b) die Renten im entsprechen- mit weniger Arbeit hergestellt werden, es den Umfang gesenkt oder (c) das sei denn die Arbeit würde anders verteilt Renteneintrittsalter deutlich erhöht (Arbeitszeitverkürzung). werden.

(3) Standard der meritorischen Güter- Diese Probleme sehen auch viele Auto- ausstattung stagniert: Bleibt die Steu- ren der Postwachstumsgesellschaft (z.B. erquote gleich, bleiben auch die Staats- Möhring-Hesse 2010: 121 und Mey- einnahmen konstant. Somit kann der er 2010: 168). Das Bruttoinlandspro- Ausstattungsstandard meritorischer­ dukt (BIP) stellt nicht nur die Summe Güter nicht steigen (Bildung, soziale Si- der erzeugten­ Güter dar, sondern als cherungssysteme und gesundheitliche Kehrseite auch die Summe des erzielten Vorsorge, Wärmesanierungsprogram- Volkseinkommens­ (Arbeitnehmerein- me, Umlage nach EEG, Ausbau des öf- kommen, Kapitaleinkommen und Ab- fentlichen Nah- und Fern­verkehrs). schreibungen) in einer Volkswirtschaft. Damit ist die Forderung, auf Wachstum (4) Kapitalkosten werden drückender: zu verzichten, gleichbedeutend mit der Zinszahlungen für öffentliche und pri- Forderung, die gesamtwirtschaftlichen­ vate Schulden (z.B. Hausbaukredite) Einkommen einzufrieren. Diese Forde- können nicht mehr aus den Zu­wächsen rung genießt aber – selbst in den relativ finanziert werden, die Lösung der wohlhabenden Industriestaaten – eine Schuldenkrise noch schwieriger. geringe Akzeptanz. Als Zwischenfazit halten wir fest, (5) Finanzierung des Sozialsystems (1) die Hoffnung, dass die ca. eine Mrd. wird noch schwieriger: wohlhabender Menschen allein durch a) Gesundheitssystem: Steigen die Kos- Umverteilung (Verzicht) eine ausrei­ ten (aufgrund des technischen Fort- chen­de Verbesserung der wirtschaft- schritts und des demografischen lichen und sozialen Verhältnisse der Wandels), wird die Finanzierung heute ca. sieben, im Jahr 2050 neun bis immer schwieriger. Der SRU kommt zwölf Mrd. Menschen erreichen könn- zu dem Fazit: „Wegen der absehba- ten, ist unrealistisch. Daher ist ein um- ren demografischen Entwicklung weltverträgliches Wachstum für diese wären ohne Wachstum sowohl Um- Staaten unverzichtbar. Hierbei muss der lage- als auch Kapitaldeckungsver- weltweit erhöhte Ressourcenverbrauch

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 57 Holger Rogall durch Reduk­tion in den Industriestaa- • 61% der befragten Deutschen, sie ten kompensiert werden. (2) Die ver- glaubten nicht an eine Steigerung gangenen Jahrzehnte­ zeigen, dass wirt- der eigenen Lebens­qualität in- schaftliches Wachstum nicht bedeutet, folge eines höheren Wirtschafts- dass die darge­stellten Probleme automa- wachstums (Bertelsmann-Stiftung tisch zufrieden stellend gelöst werden. 2010/08). (3) Allerdings zeigen sie auch, dass ein • 73% erklärten, dass für sie ein Zu- kurzfristiger, bewusst herbeigeführter wachs an materiellem Wohlstand Schrumpfungs­prozess des BIP in den weniger­ wichtig ist als der Schutz Industriestaaten die Lösung der ökono- der Umwelt für künftige Generatio- mischen Probleme des 21. Jahrhunderts nen und der Abbau der öffentlichen nicht gerade erleichtert (s. Griechen- Schulden. „Geld und Besitz meh- land). ren“ sind hingegen am unwichtigs- Vertreter einer schrumpfenden ten (nur 11% messen ihm eine sehr Wirtschaft müssen daher die Fragen hohe Wichtigkeit bei; Bertelsmann- beantwor­ten, wie ohne eine Steigerung Stiftung 2012/07: 3,4,5). der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit/ Einkommen die daraus folgenden öko- Gleichzeitig erklärten aber: nomischen Probleme zu lösen wären. • 88% wirtschaftliches Wachstum für Weiterhin, wie die Bevölkerung von ei- „sehr wichtig“ bzw. „wichtig“ (Ber- ner Strategie bewusst herbeigeführter telsmann-Stiftung 2012/07: 2). Einkommenssenkungen überzeugt wer- • 73% bejahten die Aussage „Ohne den soll, und schließlich, wie dieser „sy- wirtschaftliches Wachstum kann stemsprengende Transformationspro- Deutsch­land nicht überleben“ (Mie- zess“ bewerk­stelligt werden soll. Hans gel 2010: 28). Christoph­ Binswanger, einer der Vor- reiter und Vertreter der Nachhaltigen Somit ist die Akzeptanz für einen Ökonomie, spricht vom „Wachstums- Schrumpfungsprozess selbst in den re- zwang“ und einer minimalen Wachs- lativ wohlhabenden Industriegesell- tumsrate der Weltwirtschaft von etwa schaften nicht gegeben, die damit ver- 1,8%/Jahr, soll es nicht zu deutlichen bundenen Probleme erscheinen zu groß Schrump­fungsprozessen mit den da- und viele Menschen in den neuen auf- mit verbundenen sozialen Belastungen strebenden Verbrauchsstaaten (z.B. kommen (zum Wachstumszwang Bins- China) sehen in dieser Diskussion den wanger 2006: 368 und 2010: 21). Versuch, ihnen das vorzuenthalten, was ihnen die Menschen in den Industriege- Position der Bevölkerung sellschaften spätestens seit den 1970er Die Menschen in den wohlhabenden Jahren vorleben. „Die Alternative (zum Industrieländern vertreten zum Wachs- Wachstumsparadigma) heißt (daher) tum der Güter­aus­stattung eine wider- nicht Nullwachstum“ (Müller, Niebert sprüchliche Haltung. In einer Befragung 2009: 99), sondern Nachhaltigkeitspa- durch das Emnid-Institut 2010 erklärten radigma.

58 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

Entwicklung innerhalb der natürlichen absolute Entkoppelung; BUND u.a. Tragfähigkeit 2008: 101). Das soll durch die Strate- Bei dem Konzept einer wirtschaftlichen giepfade der Nachhaltigen Ökonomie Entwicklung in den Grenzen der natür­ (Effizienz, Konsistenz, Suffizienz) so- lichen Tragfähigkeit (selektives Wachs- wie von Wachstums- und Schrump- tum) geht es um den nachhaltigen fungsprozessen erreicht werden. Der Umbau (Transformation) der globalen Begriff S.W. stammt ursprünglich von Volkswirtschaften, bei dem die heuti- Eppler (1981). Zur Veranschaulichung gen nicht zukunftsfähigen Produkte, könnte man sich modellartig vorstel- Verfahren und Strukturen durch nach- len, dass Deutschland im Jahr 2010 ein haltige ersetzt werden. Um die Grenzen BIP von rund 2.500 Mrd. Euro erwirt- der natürlichen Tragfähigkeit bei dieser schaftet und im Zuge eines linearen Entwicklung einhalten zu können, muss selektiven Wachstums die nächsten die Formel für nachhaltiges Wirtschaf- 40 Jahre jährlich Güter im Wert von ten eingehalten werden. Die unbeding- 35 Mrd. bis 40 Mrd. mehr produziert.­ te Einhaltung dieser Formel bezeichnen Gleichzeitig sinkt der absolute Res- wir als Nachhaltigkeitsparadigma. sourcenverbrauch bis zum Jahr 2050 um 80–95%. Nachhaltigkeitsformel oder Nachhaltig- Nachhaltigkeitsparadigma: N. be- keitsparadigma (Rogall 2004: 44) deutet die Ausrichtung der Politik ΔRessourcenproduktivität > ΔBIP und Wirtschaft nach den Kriterien der Ressourcenproduktivität: Die R. drückt Nachhaltigkeit mit dem Ziel für aus­ das Verhältnis von hergestellter Güter- reichend hohe Standards in den Gren- menge zum Ressourceneinsatz (inkl. zen der natürlichen Tragfähigkeit zu Schadstofffreisetzung) aus (z.B. BIP sorgen. Hierfür sieht die Nachhaltige zu Materialverbrauch oder BIP zu Ökonomie die Einhaltung der Nach- Primärenergieverbrauch oder BIP zu haltigkeitsformel als essentiell an. Sie

CO2-Emissionen). Damit sagt die Ent- verfolgt also weder das Ziel einer Sen- wicklung der R. etwas darüber aus, wie kung noch das der Erhöhung des BIP, effizient eine Volkswirtschaft mit den sondern eine Entwick­lung, die die Le- natürlichen Ressourcen umgeht. bensqualität und Bildung erhöht und Selektives Wachstum: S.W. be- dabei den absoluten Ressourcenver- schreibt eine nachhaltige wirtschaft- brauch global bis 2050 halbiert. liche Entwicklung im Rahmen von Ökologische Leitplanken: Der Be- ökologischen Leitplanken. Dabei muss griff ö.L. soll bildhaft verdeutlichen, die Steigerung der Ressourcenproduk- dass die weitere wirtschaftliche Ent- tivität immer über der Steigerung der wicklung aller Volkswirtschaften nur wirtschaftlichen Wachstumsraten lie- noch in den Grenzen der natürlichen gen (SW = Δ RP > Δ BIP; Rogall 2004: Tragfähigkeit verlaufen darf. Die- 44), so dass Jahr für Jahr der absolute se Grenzen werden durch politisch- Ressourcenverbrauch auch bei wirt- rechtliche Instrumente (Gesetze und schaftlichem Wachstum sinkt (sog. Verordnungen) durchgesetzt.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 59 Holger Rogall

Die Einhaltung der Nachhaltigkeitsfor- schaft­lich Nachhaltigen Entwicklung mel – die langfristig für alle Länder gel- anzeigt. Das traditionelle Ziel des ste- ten und die importierten Güter berück- tigen wirtschaftlichen Wachstums (das sichtigen muss – könnte in Deutsch­land sog. Wachstumsparadigma) wird somit das Statistische Bundesamt mittels der aus der Perspektive der Nachhaltigen Indikatoren der Umweltökonomischen Ökonomie zu Gunsten eines Nachhal- Gesamtrechnung (UGR) überprüfen. tigkeitsparadigmas aufgegeben (BUND Wir empfehlen – im Rahmen eines u.a. 2008: 113). Nach dieser wirtschaft- umfassenden Policy Mix einer neuen lichen Entwicklung werden gemäß dem Ressourcen­effizienzpolitik­ – einen glo- Leitprinzip des selektiven Wachstums bal wirkenden Steuerungsmechanismus einige Sektoren wachsen (z.B. erneuer- einzuführen, der dazu beiträgt, dass bei bare Energien, Bildung und Forschung) Nicht-Einhaltung der Formel durch Res- und andere schrumpfen (z.B. der En- sourcenabgaben die Preise für Energie ergie- und Ressourcenverbrauch). und Rohstoffe um einen angemessenen Entscheidend­ ist, dass die Abkopplung Prozentsatz real erhöht werden (nach zwischen Wohlstandsentwicklung und dem Standard-Preis-Ansatz; vgl. Wup- Ressourcenverbrauch gelingt und dass pertal Institut, Materialeffizienz und der absolute Naturverbrauch sinkt. Ressourcenschonung (MaRess), 2010). Hierbei wird der nachhaltige Umbau Bei dem Versuch, diese Formel in (Transformation) der Volkswirtschaf- die Praxis umzusetzen, würde eine Rei- ten in den ausgewählten Strategiefel- he von offenen Fragen zu klären sein, dern (nachhaltige Energie-, Mobilitäts-, z.B. (detailliert Rogall 2012): (1) Reicht Produktgestaltungs-, Landwirtschafts-, die Absenkung des absoluten Ressour- Wasser-, Gesundheits-, Bildungs- und cenverbrauchs nach dieser Formel aus? Wissenschaftspolitik) zunächst eine (2) Wie kann die Ressourcenproduktivi- deutliche Steigerung der Wertschöpfung tät konkret gemessen werden? (3) Muss und Beschäftigung zur Folge haben (Ro- die Formel global dahingehend verän- gall 2012, Kap. 10.3). dert werden, dass den Schwel­lenländern ein gewisses Maß an zusätzlichem Res- Ist ein selektives Wachstum möglich? sourcenverbrauch zugestanden­ wird, Einige Wachstumskritiker halten eine der durch eine stärkere Senkung in den absolute Entkopplung des Ressour- Industrieländern kompensiert wird cenverbrauchs vom wirtschaftlichen (Wiegandt 2008: 17)? (4) Wie könnte Wachstum für unmöglich (z.B. Jackson der heutige Wachstumszwang vermin- 2009). In der Tat ist dies die entschei- dert werden? dende Frage des vorliegenden Beitrags. Als Zwischenfazit wollen wir fest- Hierzu wollen wir uns den absoluten halten, dass trotz vieler offener Fragen Ressourcenverbrauch Deutschlands die Umsetzung der oben genannten vorurteilslos ansehen. Formel des nachhaltigen Wirtschaftens Das Ergebnis ist vielleicht für viele des­halb angestrebt werden sollte, weil überraschend: Nach den Indikatoren sie eine robuste Richtung einer wirt­ der Umweltgesamtrechnung des Stati-

60 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch? stischen Bundesamtes (UGR) konnte gebnis, dass trotz der Rebound-Effekte die oben erläuterte Nachhaltigkeitsfor- durch politisch-rechtliche Instrumente mel seit 1990 eingehalten werden (Ta- eine absolute Abkopplung erreicht wer- belle 2). Eine Senkung des Ressour- den kann (Distelkamp 2010: 49). Die cenverbrauchs ist also auch bei einem Wissenschaftler des Ökoinstituts und (allerdings nur moderaten) Wachstum des FhG-ISI konnten in ihrer Studie zei- möglich (durchschnittlich 1,7% pro Jahr, gen, dass in verschiedenen Energiesek- 1990-2008). Diese Aussage wird durch toren der absolute Energieverbrauch Studien des Wuppertal-Instituts (WI) trotz Wachstums gesenkt werden konn- sowie des Ökoinstituts mit dem Fraun- te (z.B. der Endenergiewärmebedarf der hofer ISI-Institut (FhG-ISI) bestätigt. Haushalte trotz Wachstum der Wohn- Die Wissenschaftler des WI kommen fläche; UBA 2011/07: 5). in ihren Untersuchungen zu dem Er-

1960–80* 1981–90* 1991–99 2000–10 1. Primärenergieverbrauch +3,1% 0% -0,2% -0,24% 2. Abiotische Rohstoffent-­ +2,3% -1,1% -0,2% -1,1% nahme u. Importe 3. Wasserentnahme k.A. k.A. -1,5% -1,6%*** 4. Neue Siedlungs/­ +1,8% +1,4% +1,1% -2,7% Verkehrsfläche 5. Treibhausgase +1,8% -1,1% -1,7% -0,8% darunter: CO2 -0,7% 6. Versauerungsgase** +0,6% -7,5% -4,9% -2,2% darunter NOx -2,5% 7. Wasserabgabe k.A. k.A. -1,6% -1,6% Tendenz Deutliche Überwiegend Überwiegend Abnahme Zunahme Abnahme Abnahme Tab. 2: Einsatz von Umweltressourcen in Deutschland (pro Jahr)

* früheres Bundesgebiet, ** 1990er Jahre Schadstoffe, seit 2000 SO2, *** 2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2000/11: 814, 2007/11: 20, 2011/12: 25, 2011/12)

Das war die gute Nachricht. Die sammenbruch der besonders ineffizi- schlechte ist jedoch: Trotz des Erfolgs enten Industrie in den neuen Bundes- ist die erzielte Reduktion noch nicht ländern nach der Wende, die globale ausreichend. Bei gleichbleibender Ent- Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09). wicklung können die Minderungsziele Dennoch halten wir fest, dass bei ver- nicht erreicht werden. Auch stammen stärktem Einsatz politisch-rechtlicher Teile des Erfolgs aus Sondereffekten, die Instrumente, moderater Wachstums- nicht beliebig wiederholbar sind (Zu- raten und der konsequenten Umset-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 61 Holger Rogall zung der drei Strategiepfade die For- gebnis, dass 5-20% der THG-Minde- mel für nachhaltiges Wirtschaften für rungen einzelner Industriestaaten aus eine bestimmte Zeit (nicht für immer) der Verlage­rung stammen (BMU, UBA einhaltbar ist. Global gesehen sind wir 2011/09: 11). Eine Senkung des Ressour- allerdings von der Einhaltung der For- cenverbrauchs ist also auch bei einem mel weit entfernt, so ist in den letzten 20 (allerdings nur moderaten) Wachstum Jahren die globale Ressourcenproduk- möglich (Durch die steigenden Wachs- tivität um 25 % gestiegen, während das tumsraten 2010 stiegen wieder Energie- globale BIP um 82% wuchs (Bringezu, verbrauch und THG-Emissionen, aller- Bleiwitz 2009). dings war das auch witterungsbedingt; Wir halten fest, dass die Nachhal- StaBA 2012/02: 7 und 11). Der SRU tigkeitsformel in den 2000er Jahren für schließt sich diesen Aussagen an, wenn alle Indi­katoren der UGR eingehalten er formuliert: „Dabei ist es weder sinn- werden konnte. Diese Aussage wird voll noch planvoll steuerbar, Wachstum von zahlreichen Studien unterstützt, explizit zu beschränken oder gar zu ver- die z.B. zeigen, dass eine 100% Versor- hindern, aber es sollte auch nicht ohne gung mit erneuerbaren Energien un- Berücksichtigung ökologischer Folge- ter bestimmten Bedingungen möglich kosten forciert werden.“ (SRU 2012: 55) ist, und damit auch gegen eine absolu- te Entkoppelung keine unüberwindba- Strategiepfade des ren Gründe sprechen (SRU 2011). Prin- Nachhaltigkeitsparadigmas zipiell gilt diese Aussage auch global Für die nachhaltige Umgestaltung (SRU 2012: 54). Hiergegen wird einge- (Transformation) der Volkswirtschaf­ten wendet, dass Deutschland zunehmend reicht kein einzelnes Instrument oder Vorprodukte importiert, deren ökolo- eine Maßnahme aus. Eine nachhaltige gische Rucksäcke im Ausland bleiben Wirtschaftsweise verlangt bis 2050 die (pro Kilogramm importierter Güter ca. Reduktion der Stoffströme der Indust- 5 Kilogramm).­ Allerdings müssen hier- riestaaten um 80 bis 90% und eine Re- von die ökologischen Rucksäcke der duktion der THG-Emissionen um 80 Exporte abgezogen werden (pro Kilo- bis 95% bzw. den vollständigen Aus- gramm ausgeführter Waren ca. 6 Ki- stieg aus der fossilen Energiewirtschaft logramm Rohstoffe). Das Statistische bis 2050 (WBGU 2009/07). Diese Ziele Bundesamt kommt zu dem Fazit, dass haben aber nur bei Ausschöpfung aller der in­ländische Materialverbrauch ein- Nachhaltigkeitsstrategien Aussicht auf schließlich direkter und indirekter Im- Erfolg (Schmidt-Bleek 1994; Deutscher und Exporte zwischen 2000 und 2008 2002/07). Hierbei sind die um insgesamt 18,5% abgenommen hat im Kasten zusammengefass­ten Strate- (StaBA 2010/11: 14). Diese Aussage gilt giepfade einer Nachhaltigen Entwicklung auch für die Befürchtung,­ klimaschäd- (Ökonomie) konsequent umzusetzen liche Emissionen würden ins Ausland (detailliert anhand ausgewählter Hand- verlagert (sog. Carbon-Leakage-Effekt). lungsfelder Weizsäcker u.a. 1995 und Neuere Studien kommen zu dem Er- 2010; s.a. Rogall 2012, Kap. 11 bis 14).

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Die Unterteilung erfolgt aus didakti- gen ökologischen Leitplanken noch zu schen Gründen, in der Realität gehören inkonsequent eingeführt wur­den (zu die drei Strategiepfade zusammen und den möglichen Grenzen der „Öko- bilden letztlich eine Einheit (Müller, Effizienz“ s. Jänicke 2008: 51 und 72; Niebert 2009: 25). Zum Beispiel exis- BUND, Brot für die Welt 2008). tiert eine Reihe von Überschneidun- Konsistenzstrategie (früher auch gen, so kann die verstärkte Nutzung des als Substitutionsstrategie bezeichnet): Fahrrads als ein Teil der Konsistenz- wie Hierbei werden neue Produkte ent- der Suffizienzstrategie angesehen wer- wickelt, die in der Lage sind, die Ma- den, auch sind Null- oder Plusenergie- nagementregeln der Nachhaltigkeit häuser nur unter Einsatz der Effizienz- einzu­halten. Beispiele sind Plusener- und Konsistenzstrategie möglich. Im giehäuser und erneuerbare Ener- Zentrum aller Strategien steht die Leit- gietechniken. Hierzu zählt auch die idee, die Lebensqualität aller Menschen aus­schließliche­ Verwendung von Se- mit einer stetig abnehmenden Menge kundärstoffen (Schließung der Stoff- an natürlichen Ressourcen zu steigern kreisläufe, Recycling von Rohstoffen, (Sachs 2002: 49). vor allem von Metallen), deren Beitrag zur Ressourcenschonung besonders Strategiepfade einer Nachhaltigen Öko- hoch ist, wenn sie mittels erneuerbarer nomie (Huber 1995; Rogall 2000: 113), Energien gewonnen wurden. hier aus didaktischen Gründen in drei Pfade geteilt: (2) Suffizienzstrategie: Die S. umfasst mehrere Komponenten: (1) Effizienzstrategie: Die E. stellt ei- a) Selbstbeschränkung: S. meint die nen unverzichtbaren Strategiepfad der freiwillige Entscheidung von Men­ Nachhaltigen Ökonomie dar, um die schen, das eigene Leben ethisch Realisierung des Nachhaltigkeitspara- verantwortbar nach dem intra- digmas durchzusetzen. Vorhandene und intergenerativen Gerechtig- Produkte werden ressourceneffizienter keitsprinzip zu gestalten. Hierzu (inkl. schadstoffärmer) gestaltet. Leit- gehört, die Nutzung von natür­ ziel ist, die Ressourceneffizienz jähr- lichen Ressourcen zu Gunsten an- lich um 2,5 bis 3% bis zum Faktor 5 bis derer Men­schen und künftiger Ge- 10 zu steigern, d.h. die Nutzung der na- nerationen einzuschränken, weil türlichen Ressourcen pro Produkt und die Grenzen der natürlichen Trag- Serviceeinheit um 80 bis 90% zu sen- fähigkeit bereits überschritten sind ken (bis an die physikalischen Gren- (Scherhorn 1997: 162). zen). Ihre Beiträge zur Verhinderung b) Änderung der Lebensstile: Beinhal- der Erderwärmung, des Artenster- tet die strukturelle Änderungen bens, des Ver­brauchs und Übernut- der Lebensstile, die auf eine ver- zung der natürlichen Ressourcen sind änderte Wertorientierung ausge- noch lange nicht ausgeschöpft. Das richtet sind (z.B. gemeinschaftliche liegt auch daran, dass die hierfür nöti­ Nutzung von Produkten).

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 63 Holger Rogall

c) Strukturwandel: Hiermit ist die dass zunächst eine Strategie der Erhö- Änderung des Güterkorbes von hung der Lebensqualität durch Senkung materiellen Gütern zu Dienstlei- von gesundheitsbelastendem Konsum stungen gemeint, d.h. eine Dema- verfolgt wird (Stichworte: natürlichere terialisierung der Wirtschaft (Hen- Lebensstile wie Wasser aus der Wasser- nicke 2010). Die Bedeutung dieses leitung, Begrenzung der Klimaanlagen- innersektoralen Strukturwandels leistung, des Fleisch-, Zucker- und Fett- wird noch unzureichend gesehen, genusses u.v.a.m.; Weizsäcker u.a. 2010: so beträgt der Energieverbrauch im 358). Hiermit soll in den nächsten Jahr- privaten und öffentlichen Dienst- zehnten erreicht werden, dass die Sum- leistungsbereich je Euro Bruttow- me der materiellen Konsumgüter in den ertschöpfung knapp 2 Megajoule Industriestaaten nicht mehr zunimmt. während er im produzierenden Neue Produkte dienten dann nur noch Sektor bei 10 Megajoule liegt (hier­ dem Ersatz alter Pro­dukte, die res- bei in der Metallerzeugung und sourcenintensiver waren. Daraus folgt, -verarbeitung bei 46 Megajoule, dass die Wirtschaftspolitik die Zeit, die StaBA 2009/11). durch die Effizienz- und Konsistenz- strategie gewonnen wird, nutzen muss, um Konzepte zu entwickeln, wie die Fazit wichtigsten gesellschaftlichen Ziele spä- Vertreter der Nachhaltigen Ökonomie ter auch ohne oder sehr geringem wirt- gehen davon aus, dass die Industrie- schaftliches Wachstum erreicht werden gesellschaft parallel zur konsequenten könnten. Das setzt allerdings einen kul- Umsetzung der Effizienz- und Kon- turellen Wandel voraus, einen Wandel, sistenzstrategie auch einen kulturellen der auch das Wachstumsparadigma Wandel ihrer Ziele und Werte (ihres der traditionellen Wirtschaftswissen­ Entwicklungsmodells) vollziehen muss, schaften durch ein Nachhaltigkeitspa- weil die notwendigen Reduktionszie- radigma ersetzt, damit künftige Wirt­ le nicht durch Effizienz- und Konsis- schaftswissenschaftler die Chance für tenzstrategie zu erreichen sind, wenn ein nachhaltiges Denken erhalten, mit gleichzeitig eine hohe stetige Steigerung dem sie die Probleme das 21. Jh. ange- des BIP stattfindet (z.B. jährlich >2% hen können. Alle Befürworter des all­ bis zum Ende des Jahrhunderts). Daher mählichen Ausstiegs aus dem Wachs- kommt die Menschheit aus ihrer Sicht tumszwang müssen sich aber im Klaren mittelfristig nicht an der Suffizienzstra- darüber sein, dass dies eine vollständi- tegie vorbei, weil schon die heute als ge Umgestaltung der Grundprinzipien „normal“ angesehenen Lebensstile in und eine Abkehr von der kapitalisti- den Industriestaaten für die bald 9 Mrd. schen zu einer nachhaltigen­ Marktwirt- Menschen nicht zukunftsfähig sind schaft bedeutet (vgl. Rogall 2012, Kap. (zum Problem des Naturverbrauchs 10). Einer nachhaltigen Marktwirt­ beim „normalen“ Konsum s.a. Rogall schaft, in der viele zentrale Grundele- 2012, Kap. 5.5). Es läuft darauf hinaus, mente einer Marktwirtschaft erhalten

64 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch? bleiben, allerdings die sozial-ökologi- BMU, UBA (2011/09): Umweltwirtschafts- schen Leitplanken die ökonomische bericht 2011, Broschüre, Berlin. Entwicklung weit deutlicher beeinflus- Bringezu, S.; Bleischwitz, R. u.a. (2009): Sus- sen als heute. Ein Prozess, der zweifel­los tainable Resource Management. Global nur in Jahrzehnten zu bewerkstelligen Trends, Visions and Policies, Sheffield. ist (Binswanger 2006: 375) und dessen BUND; Brot für die Welt, Evangelischer sozioökonomische Transformations- Entwicklungsdienst (2008, Hrsg.): Zu- prozesse noch keineswegs alle verstan- kunftsfähiges Deutschland in einer glo- den, geschweige denn zum Thema eines balisierten Welt. Studie des Wuppertal breiten gesellschaftlichen Diskurses ge- Institutes für Klima, Umwelt, Energie, worden sind. Frankfurt a.M. Daly, H. (1999): Wirtschaft jenseits vom Wachstum – Die Volkswirtschaftsleh- Literatur und Quellen re nachhaltiger Entwicklung, Salzburg, Attac (2004/10): Diskussionen in Attac München, original: Beyond Growth, Deutschland zu einer Alternativen The Economics of sustainable Develpo- Weltwirtschaftsordnung,­ Verabschie- ment, Boston 1996. det vom Attac-Ratschlag. http://www. Deutscher Bundestag (2002/07): Endbericht kritische-wirtschaftswissenschaften.de/ der Enquete-Kommission Nachhaltige Download/awwo-041031b.pdf. Energieversorgung unter den Bedin- Bertelsmann Stiftung (2012/07): Kein gungen der Globalisierung und der Wachstum um jeden Preis, Kurz- Libera­lisierung, BT-Drs. 14/9400 vom bericht, Untersuchung von Emnid: 7.7.2002. online: http://www.bertelsmann- Distelkamp, M. u.a. (2010): Quantitative stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID- und qualitative Analyse der ökonomi- 693A85DE-DD4A3069/bst/xcms_bst_ schen Effekte einer forcierten Ressour- dms_36359_36360_2.pdf ceneffzienzstrategie. Abschlussbericht – (2010/08): Bürger wollen kein Wachs- zu AS5.2 und AS5.3 Ressourceneffizi- tum um jeden Preis, Untersuchung von enzpaper 5.5, Wuppertal Institut. Emnid, online: www.bertelsmann-stif- Dullien, S.; Herr, H., Kellermann (2009): tung.de/bst/de/media/ Der gute Kapitalismus, Bielefeld. xcms_bst_dms_ 32005_32006_2.pdf. Eppler, E. (1981): Wege aus der Gefahr, Binswanger, H. Ch. (2006): Die Wachstums- Reinbek. spirale, Marburg. Frey, B.; Stutzer, A. (2002): Happiness and – (2010): Vorwärts zur Mäßigung, 2. Auf- Economics, Princeton. lage, Hamburg. Grossekettler, H. u.a. (2008): Volkswirt- Blume, G. (2007/10: 20): Die rot-grüne Dik- schaftslehre, 2. Auflage, Konstanz. tatur, in: Die Zeit, Nr. 42, 11.10.2007. Hennicke, P. (2010): unveröffentlichtes BMAS (1992): Arbeits- und Sozialstatistik, Papier auf der Grundlage Kristof, K.; Broschüre. Hennicke,­ P. Policy Papers im Rahmen – (2011/09): Statistisches Taschenbuch: des Projektes: „Materialeffizienz und Arbeits- und Sozialstatistik, CD-Rom. Ressourcenschonung“.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 65 Holger Rogall

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66 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Wirtschaftliches Wachstum in einer nachhaltigen Ökonomie – Ein Widerspruch?

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Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 67 Holger Rogall

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68 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Arne Heise Demokratie und Sozialstaat

Einblicke in eine kontroverse Beziehung1

1. Einleitung: Die Transformation cker/Pierson (2010: 289ff.) gehen gar so- moderner Sozialstaatlichkeit1 weit, für die US-Entwicklung das marti- Ich beginne mit einer Behauptung, die alische Bild des ‚30-jährigen (Klassen-) allerdings angesichts der gegenwärtigen Kriegs‘ zu bemühen. Die westlichen Ge- weltweiten gesellschaftlichen Entwick- sellschaften haben Mitte der 1970er Jah- lungen nicht sehr gewagt erscheint: Wir befinden uns inmitten einer Transfor- Wohlfahrtsstaaten“ sehen (vgl. z.B. Vester mation der modernen Gesellschaft vom 2011, Reißig 2009). Das zumindest in Euro- Wohlfahrts- zum Minimalstaat2 – Ha- pa von „sozialem Lernen“ gegenwärtig nicht viel zu sehen ist, zeige ich in Heise (2011a). Ich könnte versuchen, die Behauptung durch Daten zur Entwicklung der Sozialausgaben- 1 Erste Versionen dieser Arbeit wurden auf der quote in hochentwickelten Ländern oder zur Konferenz „Demokratie! Welche Demokra- Entwicklung der primären und sekundären tie? Postdemokratie kritisch hinterfragt“ des Einkommensungleichheit zu belegen. Klar ist, Instituts für die Gesamtanalyse der Wirt- dass die primäre und sekundäre Einkommens- schaft der Johannes-Kepler Universität Linz verteilung in allen hochentwickelten Ländern vom 01.–02. 12. 2011 und im Rahmen des teilweise drastisch ungleicher geworden ist Siegfried-Landshut-Colloquiums des Zen- (vgl. OECD 2011). Klar ist aber auch, dass die trums für Ökonomische und Soziologische Sozialausgabenquote nur in wenigen Ländern Studien (ZÖSS) der Universität Hamburg am – bisher – deutlich gesunken ist. Allerdings 23.05.2012 vorgetragen. Eine frühere Version ist die Aussagekraft solcher Statistiken in wurde veröffentlicht unter „Die Transfor- Volkswirtschaften recht begrenzt, in denen mation der Gesellschaft in der Mediokratie. aufgrund von Alterung, medizinischem Fort- Einige offene Fragen“ in Nordmann, J., Hirte, schritt und zunehmender Inanspruchnahme K., Ötsch, W. (Hrsg.); Demokratie. Welche sozialstaatlicher Leistzungen in prekären Be- Demokratie? Postdemokratie kritisch hin- schäftigungsverhältnissenceteris paribus ein terfragt, Marburg 2012. Dank für wertvol- deutlicher Anstieg der Sozialleistungsquote le Kommentare geht insbesondere an Bob zu erwarten gewesen wäre. Es dürfte kaum in Jessop, Jürgen Nordmann, Walter Ötsch und Frage stehen, dass die verschiedenen Renten-, Andreas Merkens. Gesundheits- und Arbeitsmarktreformen seit 2 Damit stelle ich mich allerdings ausdrücklich Anfang der 1980er Jahre ( für Deutschland: in Gegensatz zu jenen Transformationspro- Bäcker et al. 2010: 58ff.) nicht nur das Lei- gnosen, die – gerade auch durch die jüngsten stungsniveau insgesamt deutlich gesenkt, son- Krisenentwicklungen gestützt und wohl auf dern auch die Fiskaläquivalenz erhöht, mithin „soziales Lernen“ bauend – Übergänge in den Umverteilungsgrad reduziert haben (vgl. Richtung erneuerter bzw. „partizipatorischer Clayton/Pontusson 1998).

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 69 Arne Heise ren den Höchststand ihrer sozialstaatli- „Preisstabilität als Grundbedingung für chen Entwicklung in Form des von den solides Wirtschaftswachstum“ begleitet Regulationstheoretikern so genannten und schafft den Rahmen für eine mo- „Nationalen keynesianischen Wohlfahrts- netäre Restriktion, die eine nachhalti- staat“ (NKWS) erreicht.3 Bei historisch ge wirtschaftliche Erholung nach der 2. einmalig hohen Sozialausgabenquoten, Ölpreiskrise Anfang der 1980er Jahre hohen Wirtschaftswachstumsraten und verunmöglicht, dafür aber die Arbeits- geringer Arbeitslosigkeit, erreichte die losigkeit ansteigen und gleichzeitig die (personelle) Einkommensdifferenzie- vormals überschüssigen öffentlichen rung ein gleichermassen historisches Haushalte ins Defizit rutschen lassen5. Minimum. Der weitgehend spannungs- In den 1990er Jahren wird die Transfor- freie Konjunkturverlauf erhält allerdings mation zum SWS durch die Liberalisie- durch äußere Einflüsse – die beiden Öl- rung von Arbeits- und Finanzmärkten, preisschocks Mitte und Ende der 1970er die Senkung von (vor allem) Unterneh- Jahre – erste härtere Dämpfer und mit mens- und Spitzeneinkommensteuern deren Auswirkungen auf die Inflations- und die Privatisierung der öffentlichen entwicklung jenes Einfallstor für die po- Güterbereitstellung – in Europa häu- litische Wende zum Neoliberalismus, die fig mit Blick auf die verschiedenen EU- „den kurzen Traum der immerwähren- Governance-Prozesse begründet (vgl. den Prosperität“ (Lutz 1984) jäh beendet Karrass 2009) – vollendet. Die Arbeits- und die Transformation zum „Schumpe- losigkeit verbleibt ebenso hoch wie das terianischen Wettbewerbsstaat“ (SWS) öffentliche Defizit, die Inflation hinge- einleitet4. Diese Transformation wird gen kann nur noch als Gespenst eine vom monetaristischen Mantra der weiterhin restriktive Geldpolitik recht- fertigen. Schließlich beginnt auch, nach dem Fall der „Berliner Mauer“ und dem 3 Der NKWS zeichnet sich durch breite wirt- Scheitern der egalitären Systemalterna- schafts- und sozialpolitische Eingriffe zur Herstellung ‚ausgleichender Gerechtigkeit‘ tive, die Einkommensdifferenzierung aus und kann deshalb als ergebnisortientiert zuzunehmen. (Umverteilung) bezeichnet werden. Zentrales In den 2000er Jahren hat nun die Handlungsmotiv ist die Stabilisierung der Ge- Transformation zum „Globalen No- sellschaft; vgl. u.a. Jessop/Sum (2006: 106 ff.). zickschen Minimalstaat“ (GNMS)6 be- 4 Der SWS reduziert die Eingriffsintensität des Staates erheblich, da lediglich „Teilnahme- 5 In Heise (2001) verweise ich auf die Selbst- gerechtigkeit“ angestrebt wird und er also verstärkungen, die aus geld- und finanzpo- ausgangs-, nicht zielorientiert ist. Zentrales litischer Restriktion, der sich auftuenden Handlungsmotiv ist hier der Standortwett- „Domarschen Verschuldungfalle“ (Domar bewerb. Wie auch im Falle des NKWS haben 1944) und der daraus wiederum abgeleiteten unterschiedliche Kulturen und Institutionen Konsolidierungsnotwendigkeit ergibt. eine Vielzahl von unterschiedlichen SWS entstehen lassen, die insbesondere in der „Va- 6 Robert Nozick (1974) beschreibt in seinem rieties of Capitalismus“-Forschung ausführ- Hauptwerk „Anarchy, State and Utopia“ ei- lich untersucht wurden (vgl. z.B. Hall/Soskice nen Minimalstaat als einzig zu rechtfertigen- 2001; Iversen 2006). de Form des Gemeinwesens, die Umvertei-

70 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat gonnen, den sich ein kleiner Zirkel ul- geln, die doch eigentlich die Präferenzen traliberaler Intellektueller 1947 bei der der Mehrheit abbilden sollten8 – dazu Gründung der Mont Pelerin Gesell- hat kommen können? Um den Gehalt schaft (MPG) erträumte7. Diese neu- dieser Frage noch zu präzisieren, sollte erliche Transformation, die überall darauf verwiesen werden, dass die un- maßgeblich von der „Neuen-Mitte-So- terstellte Transformation sicher durch zialdemokratie“ mitgetragen wird oder jenes Phänomen, das mit Globalisie- zumindest vorbereitet wurde (vgl. u.a. rung beschrieben wird und heute in fast Nachtwey 2009), ersetzt das Preisstabi- allen Begründungszusammenhängen litäts- durch das Haushaltskonsolidie- gebracht wird, beschleunigt wurde, sie rungs-Mantra zur Aufrechterhaltung letztlich aber politisch eingeleitet (z.B. der staatlichen Solvenz, das eine mas- auch durch die Liberalisierung der in- sive Sparpolitik auch und gerade nach ternationalen Finanzmärkte im Auftrag der Weltfinanzkrise am Ende der ersten der effizienten Ressourcenallokation) Dekade des 21. Jahrhunderts einfordert. und umgesetzt wurde und sich folglich Die Wirtschaftsentwicklung verbleibt der demokratischen Kontrolle stellen nicht nur stagnativ, sie wird auch kri- musste.9 Und klar ist auch – wie immer senanfälliger, die Arbeitslosigkeit bleibt man diese Transformation ideologisch hoch und die Einkommensungleichheit erreicht Ausmaße wie zu Beginn des vo- 8 Erstaunlicherweise ist die Frage, weshalb es rigen Jahrhunderts. nie zu der von Liberalen immer befürchteten Ich benötige die Annahme der Ge- „Ausbeutung“ der wenigen reichen durch die sellschaftstransformation vom „NKWS“ vielen weniger reichen oder gar armen Gesell- schaftsmitglieder („Soaking the rich“) gekom- zum „GNMS“, um die weiterführende men ist, selten gestellt worden vgl. Iversen Frage stellen zu können, wie es in „so- (2006). zialen Demokratien“ – also in Gemein- 9 So zeigen Bartels (2008) und Hacker/Pierson wesen mit kollektiven Entscheidungsre- (2010), dass die hier beschriebene Entwick- lung in den USA keineswegs durch anonyme Märktkräfte, sondern bewußte politische Entscheidungen („It’s the politics, stupid“) lung als Ziel allerdings nicht erlaubt. Es sei herbeigeführt wurde. Ähnlich zu bewerten ist andererseits vermerkt, dass Umverteilung als wohl das Argument, dass die Europäische In- Konsequenz einer naturrechtlich begründeten tegration – quasi jenseits der demokratischen Sozialsicherung möglich verbleibt, aber eben Kontrolle und durchaus als „hidden agenda“ nicht ein ausdrückliches Ziel darstellt. Und (Scharpf 2011: 35) – diese Entwicklungen selbst das Ausmaß der sozialstaatlichen Siche- erzwingt. Denn einerseits müssten dann deut- rung im GNMS kann durchaus erheblich sein lichere Unterschiede zwischen den EU-Län- – entscheidend ist, dass die Begründung rein dern mit starkem EU-Governance-Einfluss ausgangs-, nicht zielorientiert ist. (also den EWU-Ländern) und den anderen 7 Vgl. Walpen (2004: 251ff.). In Deutschland EU-Ländern (wie z.B. Großbritannien) oder kann die „Sloterdijk-Kontroverse“ als Auf- natürlich Ländern außerhalb der EU (also z.B. merksamkeit erheischender Aufschrei der die USA) festzustellen sein, andererseits spielt „Leistungselite“ gegen den (verbliebenen) die EU in der konkreten nationalen Diskussi- Sozialstaat gewertet werden; vgl. Sloterdijk on um die Sozialstaatsentwicklung eher eine (2009), Rehmann/Wagner (2010). untergeordnete Rolle.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 71 Arne Heise und ökonomisch-funktional bewerten wird nun hoffentlich ebenso deutlich12 mag –, dass sie eindeutig den materiel- wie die weiterführende Frage nach de- len Interessen der Kapitalbesitzer und mokratietheoretischen Konsequenzen. deren Agenten (insbesondere Manager) an der Spitze der Einkommensskala – 2. Alles demokratisch legitimiert, oder? also den wirtschaftlichen Eliten – dient10, Warum also unterstützen die Wähler keinesfalls aber als „erfolgreich“ im Sin- eine Politik, die so offensichtlich mehr- ne einer Verbesserung der Lebensum- heitlich nicht ihren materiellen Inte- stände der breiten Bevölkerungsmasse ressen entsprechen? Wieso also greift gewertet werden kann: Bis weit in die die Logik der „sozialen Demokratie“ mittleren Einkommen hinein sind die nicht (mehr)? Muss man in verschwö- Netto-Reallöhne in den letzten beiden rungstheoretischer Manier danach su- Dekaden kaum gestiegen, am unteren chen, ob die Mont-Pelerin-Gesellschaft Ende sogar absolut gesunken (vgl. Bren- in Verbindung mit den wirtschaftlichen ke 2009), die Beschäftigungssicherheit Eliten eine durch Korruption ausgelös- (Beschäftigungsdauer und Wiederbe- te Entkopplung von Wählerpräferen- schäftigungswahrscheinlichkeit) hat für zen und Regierungshandeln bewirkten, viele Menschen abgenommen (vgl. Möl- wie es Paul Krugman (2011) nahezule- ler/Schmillen 2008), das Niveau der so- gen scheint, wenn er schreibt: „Dies (die zialen Sicherung ist bereits mit der Be- Kapitalbesitzer, A.H.) ist nicht nur die gründung der ‚Marktinklusion‘ gesenkt Klasse, die viel Geld für Wahlkampag- worden und droht nun im Übergang nen spendet, sie hat auch persönlichen vom SWS zum GNMS weiter deutlich Zugang zu den massgeblichen Politi- reduziert zu werden.11 Die Erklärungs- kern – von denen dann viele, wenn sie bedürftigkeit dieser Entwicklung, die aus der Politik ausscheiden, in die Wirt- auf demokratisch legitimierter (Wirt- schaft wechseln.“ Wenngleich manche schafts-)Politik basiert und grosso modo (wirtschafts-)politische Entscheidung unabhängig von den spezifischen Regie- ohne Berücksichtigung von – vorsich- rungskonstellationen betrieben wurde, tig ausgedrückt – Lobby-Aktivitäten

12 Nach Rieger/Leibfried (1998) ermöglicht die 10 An anderer Stelle (Heise 2003; Heise 2008) Entwicklung des Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaa- haben ich die oben nur angedeutete Verbin- tes nach dem 2. Weltkrieg die Öffnung der dung zwischen restriktiver Makropolitik, nationalen Volkswirtschaften („free trade“) in Arbeitslosigkeit und Einkommensverteilung bislang unbekannter Weise, weil damit Ver- herausgearbeitet und von „Politischer Ökono- lierer dieses Internationalisierungs- bzw. Glo- mie der Meritokratie“ gesprochen. balisierungsprozesses kompensiert werden 11 Heise/Lierse (2011) haben die Auswirkungen konnten. Diese Funktionalität des Sozialstaa- der ersten Welle (bis Ende 2010) von Spar- tes muss aber natürlich politisch vermittelt programmen nach der Weltfinanzkrise auf und entsprechend demokratisch legitimiert das „Europäische Sozialmodell“ untersucht werden. Nimmt man die Argumentation – mittlerweile sind längst weitere Sparwellen ernst, dann verhindert diese Logik und Funk- über viele Länder (nicht nur) der Europäi- tionsweise der „sozialen Demokratie“ gerade schen Union gelaufen. jene Entwicklung, die wir hier unterstellen.

72 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat kaum nachvollziehbar erscheint, fällt es Politikentscheidungen das Ergebnis ra- doch schwer zu glauben, dass hier eine tionaler Wähler sind, die sich immer für Weltverschwörung am Werke sein soll.13 jene Politik entschieden, die ihren eige- Auch die mögliche Antwort, die Wäh- nen Präferenzen am nächsten kommt. ler verständen es einfach nicht, dass Da der Politik-Markt ein „Winner- sie sich gegen die eigenen Interessen takes-it-all“-Markt ist, impliziert dies entschieden,14 erscheint allenfalls in der bei „normaler“ eingipfliger Wählerver- Form haltbar, dass es vielen (wenn nicht teilung im Links-Rechts-Schema einer- allen) Wählern schwer fällt, bei der seits eine allmähliche Annäherung der Vielzahl von Informationen und Inter- Wahlprogamme der konkurrierenden pretationsmöglichkeiten von Kausalzu- Parteien (die damit zu „Allerweltspar- sammenhängen (wer weiss denn schon, teien“ werden15), andererseits die Be- ob die Reduktion von Sozialausgaben stimmung der Politikinhalte durch den funktionale Voraussetzung für Wachs- Median-Wähler. Nach dieser Erklä- tum und Beschäftigung ist?) – also un- rung müssten sich entweder die Präfe- ter Unsicherheit – rationale Entschei- renzen dieses Median-Wählers deutlich dungen zu treffen (vgl. Roemer 1998). vom solidarischen Kollektivisten zum Akzeptiert man diese Argumentation egoistischen Inividualisten verschoben – und die Konsequenzen müssen dann haben, wenn die Transformation vom später noch diskutiert werden –, dann NKWS zum GNMS das Ergebnis rati- wird damit zumindest die von der Rati- onaler Wahlentscheidungen sein sollte onal-Choice-Theorie gegebene Antwort oder die Charakteristik des Medianwäh- unterminiert: Dieser politökonomische lers müsste sich durch gesellschaftlichen Mainstream reklamiert nämlich, dass Strukturwandel entsprechend verändert gerade die langfristigen, strategischen haben. Die Wahlforschung zumindest für die Bundesrepublik zeigt allerdings, dass trotz unbestreitbarer Individuali- 13 Hacker und Piersons (2010) These, wonach keine Verschwörung, sondern starke Interes- sierungs- und sozialer Strukturierungs- senkoalitionen jenseits der gerade gewählten prozesse in den letzten drei Dekaden Regierungsideologie die Kontinuität einer die breite Wählermasse (und darunter Politik ohne Rücksichtnahme von Wählerprä- wohl auch der Median-Wähler) weiter- ferenzen bestimmt, ist sicher im politischen hin und sogar in zunehmendem Maβe System der USA nachvollziehbar, erklärt aber schwerlich die hier beschriebene Entwicklung bereit ist, durch Einkommensredistri- als quasi weltweites Phänomen. bution mittels Steuer- und Sozialsystem 14 Ich hielte es für sehr bedenklich, hierbei zwi- gesellschaftliche Solidarität zu honorie- schen Präferenzen und ‚wahren Interessen‘ der ren (vgl. z.B. Köcher 2010; Vester 2011: Menschen unterschieden zu wollen. Natürlich können Bedürfnisse und deren Wertigkeit (z.B. durch Werbung) beeinflusst werden – 15 Was auch erklären würde, weshalb die zu be- doch hieraus eine Diskrepanz zwischen sub- obachtende Transformation unabhängig von jektiven Präferenzen und wahren Interessen der aktuellen Regierungskonstellation stattge- zu machen, impliziert die Unmündigkeit der funden hat: die Parteienkonkurrenz hat zum Entscheider. „Politikmonopol“ geführt.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 73 Arne Heise

45)16. Und auch die Charakterisierung anschauung, etc. bestimmt werden und des deutschen Median-Wählers als ein recht stabil sind), die von medial ver- gut ausgebildeter Facharbeiter aus dem mittelten Konnotationsprozessen (The- mittleren Einkommensdezil17 korres- menrahmung bzw. „Framing“ und Per- pondiert nicht mit dem materiellen In- sonendarstellungen in der Mediokratie; teressenprofil, das die Transformation vgl. Meyer 2001; Meyer 2002) überla- vom NKWS über den SWS zum GNMS gert werden. Damit kommt der ideolo- erklären könnte.18 gischen Markenbildung in einem medi- Nun ist die Erklärungskraft einer alen Perzeptionsrahmen eine besondere Theorie, die auf die informierte Rati- Bedeutung ebenso zu wie den struktu- onalität der Wähler baut, ohnedies be- rellen Rahmenbedingungen (vgl. Heise schränkt, wenn die reale Welt durch 2005): Je homogener die ideologische Unsicherheit – also Informations- und Positionierung der gesellschaftlichen Informationsverarbeitungsmängel – Eliten und der Medienlandschaft (die gekennzeichnet ist. Unter diesen Um- heute wesentlich als Wirtschaftsunter- ständen kann keine rationale, sondern nehmen denn als religiöse oder politi- allenfalls eine heuristische Wahlent- sche Tendenzbetriebe wie in früheren scheidung (Kahneman/Slovic/Tversky Jahren zu verstehen ist)19 desto ein- 1982; Maurer 2008) getroffen werden, seitiger der Agenda-Setting-Prozess d.h. grundsätzlich orientieren sich Wäh- (Durchsetzung eines „Pensee Unique“) ler an ideologischen Grundausrichtun- und eingeschränkter der Diskursspiel- gen (die durch Herkunft, Millieu, Welt- raum, der mit einer positiven Kon- notation rechnen darf.20 Wenn dieser agenda-theoretische Ansatz nicht als 16 Osberg/Smeeding (2006) zeigen in einem Alternative (vgl. Heise 2005), sondern internationalen Vergleich, dass sich die Wählerpräferenzen in Richtung höherer Um- nur als subjektive Weiterentwicklung verteilungsbereitschaft verschoben haben. des Median-Wähler-Modells verstan- Carmines (2011) hebt allerdings für die USA den und insbesondere von einem uni- hervor, dass sich die politische Einstellung der tarischen, eingipflig verteilten, hoch- US-Parlamentarier in die andere Richtung mobilen Wählervolk ausgegangen wird, verschoben hat. Insgesamt hat es im US- Kongress eine klare Rechtsverschiebung (im lässt sich leicht einsehen und erklären, klassischen Links-Rechts-Ideologiespektrum) weshalb die großen politischen Massen- gegeben, die so nicht mit den Entwicklungen der Wählerpräferenzen übereinstimmt. 19 Wohl am intensivsten hat Noam Chomsky 17 So jedenfalls haben sich die Wahlstrategen (2006) die Bedeutung der Medien für demo- der Sozialdemokratischen Partei Deutschands kratische Entscheidungsprozesse untersucht (SPD) die wahlentscheidende Zielwähler- und entsprechend ein „Propaganda-Modell“ gruppe vorgestellt; vgl. Vester (2000: 17f.). entwickelt. 18 Milanovic (2000) zeigt, dass der Median- 20 Maurer (2008) zeigt, dass medial vermittelte Wähler im Rahmen des Rational Choice Mo- Konnotationen und Personenzuschreibungen dells ein relativ armes Individuum (d.h. mit und deren Veränderungen stark mit indivi- einem Einkommen unter dem Mittelwert) mit dueller Perzeption und deren Veränderung Umverteilungsinteressen ist. korreliert.

74 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat bewegungen (im allgemeinen wohl als diesem Sinne kann vom „Ende der „sozialdemokratisch“ und „konservativ- Ideologien“ gesprochen werden,24 was liberal“ zu kontrastieren) sich in kaum eigentlich besser als „Ende konkurrie- unterscheidbarer Weise einem als gege- render Ideologien in der Mediokratie“ benen akzeptierten Paradigma beugen21 bezeichnet würde und den Verlust ech- und somit den politischen Wettbewerb ter gesellschaftpolitischer Alternativen weitgehend einschränken: Wenn (wirt- impliziert, die die These von der Prä- schafts)politische Programme und kon- gungskraft der „sozialen Demokratie“ krete Instrumentarien sowohl in den als Voraussetzung benötigt. Massen- wie auch den wissenschaftli- chen Fachmedien fast ausschließlich in 3. Die EU-Schuldenkrise als neoliberaler Konnotation diskutiert und Transformationsmechanismus Alternativen marginalisiert und ridikü- Exemplarisch für diese Einschätzung lisiert werden, dann bedarf es schon ei- steht die Entwicklung der Wirtschafts- ner hohen Konflikt- und Nonkonformi- und Haushaltspolitik nach der Welt- tätsbereitschaft und einer noch größeren finanzkrise der Jahre 2008–2010: Die Befähigung, negative Aufmerksamkeit Weltfinanzkrise wurde von so genann- in Akzeptanz und Anerkennung zu ver- wandeln – was sich zumindest die gro- mokratische Parteien. Jedenfalls hat es der ßen Massen- und Volksparteien nicht Hamburger CDU nicht geschadet, mit der zutrauten.22 Selbst eine mögliche, das Schill-Partei zu koalieren, wie auch die öster- Wählerspektrum durch Parteineugrün- reichische ÖVP langjährig eine Koalition mit dung besser ausnutzende Arbeitsteilung der rechtsradikalen FPÖ eingehen konnte und die italienische Forza Italia bis heute mit Un- im „linken“ Politikspektrum wird dann terstützung der neofaschistischen Lega Nord verunmöglicht, wenn diese Partei(en) regiert, während der Versuch einer Koalition radikalisiert und tabuisiert wird23. In der SPD in Hessen mit den Linken zu einer massiven medialen Hetzjagd („Wählerbe- trug“) und einer Zerreißprobe der hessischen SPD-Landtagsfraktion führte, die letztlich die 21 In Heise (2005) habe ich dies am Beispiel der angestrebte Koalition im linken Wählerlager Agenda 2010-Politik der deutschen Sozialde- verhinderte. Auch hätte es nach der Bundes- mokratie versucht nachzuzeichnen. tagswahl 2005 zu einer rot-rot-grünen Regie- 22 Wie dies grundsätzlich funktionieren kann, rung statt einer großen Koalition kommen hat Gerhard Schröder mit seiner Ablehnung müssen, wenn die Schnittmengen politischer des Irak-Krieges Anfang der 2000er Jahre Ziele für Koalitionsbildungen ausschlagge- vorgemacht, als er sich gegen die „Kampf- bend wären; vgl. Heise (2012: 129ff.). Kraiker dem-Diktator“-Stimmung der Massenmedien (2011: 70f.) weist daraufhin, dass „Gefahr für stellte. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet hat den Erhalt der Herrschaftsstruktur“ das Kri- er eine solche Opposition offenbar nicht für terium für die medial gesteuerte Radikalisie- möglich gehalten bzw. zugetraut. rung und Tabuisierung sein kann. 23 Erstaunlicherweise können konservativ-libe- 24 Fukuyama (1989) nennt es zwar das „Ende rale Parteien leichter ohne Reputationsverlust der Geschichte“, meint aber das Ende der einen Tabubruch – d.h. Koalition mit einer ideologischen Konfrontation nach dem Zer- von dem Massenmedien als staatsgefährdend fall des sowjetischen Machtbereichs konstatie- konnotierte Partei – überstehen als sozialde- ren zu können.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 75 Arne Heise ten „Ponzi“-Spekulaten im amerika- steuer- und die Spitzeneinkommensteu- nischen Immobiliensektor ausgelöst, ersätze nach langer Phase des Sinkens deren „Wetten“ auf immersteigende Im- in der Transformation vom NKWS zum mobilienpreise irgendwann – wie jedes SWS auf Niveaus angehoben würden, Kettenbrief-Spiel – zusammenbrechen die den Stabilisierungsaufgaben des musste und, indem diese Kreditrisiken Staates angemessen sind,25 der sah sich durch Verbriefung (Securitisation) wei- vollkommen getäuscht. Überall werden tergereicht und durch die Konstrukti- die Staatsausgaben in Frage gestellt und on von schwer durchschaubaren Kre- massiv gekürzt (vgl. Heise/Lierse 2011), ditpakten (structured Securitisation) die Staatseinnahmen hingegen werden verschleiert wurden, sich durch die in- nur sekundär betrachtet und hier vor ternationalen Finanzmärkte weltweit allem die besonders regressiven Ver- verbreiteten. Da das Ausmaß dieser brauchssteuern und, natürlich, weitere Spekulationskrise und die Beteiligung Veräußerungen von Staatsvermögen ins des Bankensystems groß war, droh- Spiel gebracht. Zwar ist es ökonomisch te eine allgemeine Vertrauenskrise das richtig, daß Steuererhöhungen in kon- Weltfinanzsystem zum Kollabieren zu junkturellen Krisenzeiten unpassend bringen. Nur das beherzte Eingreifen sind – allein, massive Kürzungen von der Regierungen und nationalen Zent- Staatsausgaben, die wesentlich Transfe- ralbanken verhinderte dies – allerdings reinkommen für private Haushalte im mit teilweise drastischen Auswirkun- Niedrigeinkommensbereich darstellen, gen auf die öffentlichen Haushalte vie- sind zweifellos ökonomisch noch viel ler Staaten. So stieg die Staatsverschul- unsinniger (Arestis/Pelagidis 2010; Kit- dung in vielen Staaten in einem Ausmaß romilides 2011). Aufgrund der geringen wie allenfalls früher in Kriegszeiten ökonomischen Kenntnisse der meisten – und auch die Ursache des dramati- Bürger ist aber nicht die tatsächliche schen Anstiegs konnte nicht mit den Funktionalität wirtschaftspolitischer üblichen Verdächtigungen ausgabe- Maßnahmen entscheidend, sondern de- wütiger, unsolider Regierungen, son- ren Begründung und Legitimation. Und dern nur mit der Abwehr großer Schä- hier fällt auf, dass es eigentlich gar keine den für die Gesellschaft – eben wie in Begründung für die Konsolidierungs- Kriegszeiten – benannt werden. Wer maßnahmen, die die Transformation nun aber glaubte, dass zur Bewältigung zum GNMS vorantreiben werden, gibt. der zweifellos entstandenen Haushalts- Einerseits scheint sich die umgangs- probleme die Verursacher (die Finanz- sprachliche Gleichsetzung von „Konso- marktteilnehmer und, vor allem, deren lidierung“ und „Kürzung“ konnotativ „Big Player“ wie Großbanken, Versi- festgesetzt zu haben, andererseits mag cherungen und Anlagefonds), die Pro- fiteure des Vorkrisen-Booms (wie z.B. 25 So lagen die marginalen Spitzensteuersätze in die Investmentbanker) oder jedenfalls den 1950er und 1960er Jahren, im Gefolge des die wirtschaftlich Starken herangezogen 2. Weltkrieges, international bei 60–90%; vgl. werden, indem z.B. die Unternehmens- Hacker/Pierson (2010: 47ff.)!

76 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat selbst angesichts der Weltfinanzkrise, der Qualitätspresse das eingängige Bild die schnell zu einer Staatsfinanzkrise von den unsoliden Staatshaushältern (nicht nur in der EU) umgeschrieben und dem Unwillen zu „Reformen“ (ge- wurde, niemand dem seit über 2 Jahr- meint sind Sozialkürzungen) gezeich- zehnten eingeübten Einheitsdenken net27, während sich der ökonomische von der Notwendigkeit eines „schlan- Mainstream beeilt, alle Massnahmen, ken Staates“ als Wachstumsvorausset- die den Sparzwang mildern könnten, zu zung zu widersprechen.26 Statt also die diskreditieren.28 zugegebenermassen komplexeren Ver- Es erscheint deshalb wenig verwun- bindungen von Staatsausgaben, aggre- derlich, dass unter diesen Framing-Be- gierter gesamtwirtschaftlicher Nach- dingungen, die als harte Perzeptionsvor- frage, strukturellen (investiven) und gaben fungieren, eine offene Diskussion konjunkturellen (konsumtiven) Haus- über alternative finanz- und sozialpoli- haltsdefiziten zu beleuchten, wird nicht tische Entwicklungspfade deshalb nicht nur in der Boulevard-, sondern auch in mehr geführt werden kann, weil die von Gewerkschaften, linken Parteien, kriti- 26 C.F Friedrich (1960) spricht hier von „Auto- rität“ in der Kommunikation, da Äußerungen 27 Exemplarisch an der Bild-Zeitung als dem und soziale Handlungen zwar begründbar Boulevard-Blatt mit der größten Auflage in sein müssen, aber auf die Begründung aus Deutschland haben dies untersucht: Arlt/ Vereinfachungsgründen verzichtet werden Storz (2011). Nordmann (2009) konzentriert kann. Trotz der Geschehnisse der Weltfinanz- seine Betrachtungen auf die Qualitätspresse krise und entgegen den Hoffnungen vieler „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeut- kritischer Ökonomen auf eine diskursive Öff- sche Zeitung“, die „Neue Zürcher Zeitung“ nung der finanzpolitischen Diskussion wird und die „Weltwoche“. also „Sparpolitik“ eine große Autorität zuge- billigt und damit handlungsmächtig. Anders 28 So verfasst ein ‚Plenum der Ökonomen‘ – eine also als die „Hegemonie des Keynesianismus“, repräsentative Ansammlung deutscher aka- die Anfang der 1980er Jahre nach einer Phase demischer Ökonomen – eine „Stellungnah- der Stagflation schnell beendet war und von me zur EU-Schuldenkrise“, in der vor dem der „Hegemonie des Neoliberalismus“ abge- Europäischen Stabilitätsmechanismus, dem so löst wurde, zeigt sich dieser sehr viel wider- genannten „Euro-Rettungsschirm“, gewarnt standsfähiger – was Crouch (2011: 51) auf die wird, weil er „hoch verschuldeten Ländern dahinterstehenden Interessen zurückführt: massive Anreize biete(t), die Fehler der Ver- „Denn die Krise des Keynesianismus führte gangenheit zu wiederholen und eine Ver- nicht deshalb zu seiner Abschaffung statt zu schuldungspolitik zu Lasten der EU-Partner einer Reform oder Anpassung, weil irgend fortzusetzen“ (Plenum der Ökonomen 2011) – etwas an seinen Ideen grundsätzlich falsch hier wird eindeutig insinuiert, dass die Länder wäre, sondern weil die Schicht, deren Inter- für ihre hohe Verschuldung selbst verantwort- essen er vertrat – die Arbeiterschaft der west- lich sind und sich nicht weiter zulasten der lichen Industrieländer – sich im historischen „solideren“ anderen EU-Länder verschulden Niedergang befand und ihre gesellschaftliche können sollen. Wenn ein entsprechend solide- Macht zu verlieren begann. Im Gegensatz res Haushalten – z.B. durch Ausgabenkürzun- dazu haben die Kräfte, die heute vom Neo- gen – mittelfristig nicht durchsetzbar ist, dann liberalismus profitieren – globale Konzerne empfehlen die Autoren den Staatsbankrott insbesondere des Finanzsektors – keineswegs (der Verschuldung an Kapitalmärkten in der an Einfluss verloren.“ nächsten Zukunft verunmöglichen würde).

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 77 Arne Heise schen Wissenschaftlern und gar man- ren lassen, durch Entscheidung nach chen journalistischen Kommentatoren simplem Mehrheitswahlrecht zu einer eingebrachten Alternativvorschläge29 Formulierung des „Gemeinwohls“ zu nicht über den Status der belächelten kommen, kann selbst unter optimalen Minderheitenposition hinauskommt, Informationsbedingungen zu instabilen die nicht weiter ernst genommen wer- Entscheidungsverhältnissen führen. Die den und aufgrund der Autorität der besondere Bedeutung, die hierbei den „Konsolidierung = Sparen“-Konnotati- Agenda-Setting- und Framing-Kapazi- on gar mit dem Verlust der Glaubwür- täten der sozioökonomischen Akteure digkeit bezahlt werden müssten30. zur Durchsetzung der eigenen Interes- sen zukommt, wird unter eingeschränk- 4. Politikversagen, Demokratieversagen ten Informationsbedingungen, wie oder was? gesehen, noch verstärkt – mit der Kon- Aufgabe der Politik sollte es sein, das sequenz, dass das „Gemeinwohl“ unter Gemeinwohl zu maximieren. Nun wis- mediokratischen Voraussetzungen eher sen wir spätestens seit Arrows bahn- „elitär“ denn „gemein“ definiert wird31. brechender Arbeit „Social Choice and Dieses offensichliche „Demokratie- Individual Values“ (1951), dass die Be- versagen“, dass sich in der von der Ge- stimmung des Gemeinwohls in einer sellschaftsmehrheit nicht gewünschten heterogenen Gesellschaft nicht konsis- Transformation vom Wohlfahrts- zum tent erfolgen kann. Aber auch die Lö- Minimalstaat manifestiert, darf aber sung des Problems, die allein deshalb nicht als fundamentale Demokratiekri- anfechtbar ist, weil damit nicht dem Ge- tik verstanden werden. Denn Entschei- meininteresse zum Durchbruch verhol- dungen über die Bereitstellung kollek- fen werden kann, sondern bestenfalls tiver oder öffentlicher Güter (als was sich die Interessen der Mehrheit gegen Politik verstanden werden kann) müs- die Interessen der Minderheit formie- sen kollektiv und nicht etwa individu- ell (also durch einen mehr oder weniger benevolenten Diktator, den Platonschen 29 Vgl. z.B. Stiglitz (2010), die Kommentarsei- ten der Financial Times Deutschland oder die 31 Die strukturelle Identität der Interessen der Stellungnahmen und Veröffentlichungen des gesellschaftlichen Elite und der Medien als gewerkschaftsnahen European Trade Union Wirtschaftsunternehmen kann erklären, was Institute (ETUI) und des Instituts für Makro- Keith Dowding (1996: 71ff.) in seinem Buch ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) über „Macht“ als „systematisches Glück der in der Hans Böckler Stiftung. Kapitalisten“ bezeichnete. Der elitäre Bias 30 Für die Sozialdemokratie tut sich das Glaub- des ‚Gemeinwohlbegriffs‘ lässt sich übrigens würdigkeitsproblem auf, jetzt – nachdem die durch die gesamte Ideengeschichte verfol- Weltfinanzkrise die Zweifel an der Stabilität gen. Und Hirschman (1982) beschreibt einen des Kapitalismus und der Effizienz der Märkte zyklischen Prozess der Stimmungsänderun- genährt hat – jene (Wirtschafts)Politik zu hin- gen, der die Dominanz elitärer Zuschreibun- terfragen, die als „linke Angebotspolitik“ von gen und Interpretationen überlagert und so der „Neuen Mitte“-Sozialdemokratie noch temporäre „Renaissancen des Öffentlichen“ vehement vertreten wurde. ermöglicht.

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Philosophenkönig oder die Einheits- – während Marx auf eine Gesellschafts- partei) getroffen werden, um Legitimi- reform (klassenlose Gesellschaft, die die tät zu erlangen32. Es kann also allenfalls Probleme der Interessenaggregation zu darum gehen, die demokratischen Ent- überwinden verspricht33) baut, setzt die scheidungsprozesse zu verändern oder Rational Choice-Schule eher auf poli- die Rahmenbedingungen, unter denen tische und ökonomische Bildung (Bei- kollektiv entschieden wird. Auch sollte seitigung von Informationsproblemen) nicht so getan werden, als wenn das Er- und die Zerschlagung von Verteilungs- gebnis unserer bisherigen Ausführun- koalititonen (z.B. Gewerkschaften). gen neu wäre: Schon Karl Marx fügte Diese unterschiedlichen Reakti- der Demokratie in kapitalistischen Län- onsweisen – hier Marx’ Gesellschafts- dern das Adjektiv „bourgeois“ bei, um reform, dort die Prozessreformen des auf den elitären Bias zu verweisen und Rational Choice – sind durchaus zwin- die gesamte Rational Choice-Schule be- gend, ist doch Marx’ „Demokratiever- klagt den Einfluss der Sonderinteressen sagen“ in die Kategorie „Capitalism in Demokratien, versteckt diese Kri- subverts Democracy“ einzuordnen, tik aber unter den unverdächtigen Be- während die Rational Choice-Schule griffen „Staats- oder Politikversagen“ ‚Demokratieversagen‘ besser unter „De- mocracy subverts Capitalism“ katego- risiert (vgl. Almond 1991). Einerseits 32 Rein theoretisch kennt auch ein Diktator, der Philosophenkönig oder die Einheitspartei das erscheint es aber fraglich, ob eine Ge- Gemeinwohl nicht genauer als die Individu- sellschaft (sozialistisch oder kommunis- en, aus deren Präferenzen das Gemeinwohl tisch) je so gestaltet werden kann, dass summiert werden muss. Allenfalls könnte es keine materiellen Interessenunter- die mangelnde Input-Legitimation im Falle schiede mehr gibt, andererseits erfüllen individueller Entscheidungsfindung durch höhere Output-Legitimation (also ein pareto- die elitären Interessenkoalitionen, die überlegenes Ergebnis) kompensiert werden. die konstruktivistische Agendatheorie Um diesen Gedanken aber weiter spinnen offengelegt hat, ihre subversive Arbeit zu können, müsste es einen – zumindest mir nicht durch Bildung von Marktmono- nicht bekannten – Nachweis eines systema- polen, sondern durch Meinungs- bzw. tischen Trade-offs zwischen Input- und Out- put-Legitimation geben. Tatsächlich mag es Ideologiemonopole. Eine Veränderung Beispiele (Chile im 20. Jahrhundert oder das kontemporäre China; vgl. z.B. Keech 2004) geben, in denen autokratische Institutionen 33 Als eine Variante dieser Überlegung – aller- bessere wirtschaftliche Ergebnisse brachten dings ausgangs-, nicht zielorientiert – kann als demokratische Institutionen, doch reichen Roemers (1998: 173) „Politik der Chancen- Einzelfälle hier nicht aus, um diesen hoch- gleichheit“ verstanden werden, die vor allem sensiblen Zusammenhang systematisch zu auf eine bessere Bildungschancenverteilung belegen. Olson (1993) – einer der härtesten setzt. Die gegenwärtig vor allem in Deutsch- Kritiker der demokratischen „Rent-Seeking- land zu beobachtenden Exzellenz-(Elite-) Gesellschaft“ kommt gar zu dem Ergebnis, Prozesse im Bildungsbereich und die Wider- dass Demokatien grundsätzlich ökonomisch stände gegen die Reform des dreigliederigen autokratischen Gesellschaften überlegen sind; Schulsystems zeigen allerdings, dass auch hier vgl. Olson (1993). Demokratieversagen erwartet werden kann.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 79 Arne Heise der Rahmenbedingungen müsste also derheit) durchsetzten, jedenfalls würde wesentlich am Medienmarkt ansetzen, keineswegs lediglich den Gemeininte- um so etwas wie Chancengleichheit ressen Rechnung getragen (vgl. Hayek beim Agenda-Setting sicherzustellen. 1944: 50ff.). Je nachdem ob man „De- Da die verfassungsmäßig überall abge- mokratie“ als „Selbstorganisationsform sicherte Meinungs- und Pressefreiheit komplexer Sozialsysteme“ versteht oder die Eingriffsmöglichkeiten in den Me- als „Herrschaftsprinzip“, in dem Indivi- dienmarkt zurecht stark beschränken, dual- oder Gruppeninteressen nicht zu- bliebe die einigermaßen naive Hoff- lasten anderer Individual- oder Grup- nung, die Kommerzialisierung der Me- peninteressen dominant werden dürfen, dien durch Überführung von privat- in wirft dies grundsätzliche, über das hier gemeinwirtschaftliche Unternehmendargelegte Thema hinausgehende Fra- ohne Gewinnstreben (z.B. Stiftungen) gen der Legitimation von Entschei- zu reduzieren und so den Agenda-Set- dungsstrukturen auf,34 die nur kurz ab- ting-Bias quasi durch „Neutralisie- schließend adressiert werden können. rung“ zu beseitigen (vgl. Held 1998). Um also der „Tyrannei der Mehr- Naiv daran ist gleichermaßen der Glau- heit“ (Tocqueville) zu entkommen, be, dies sei rechtlich durchsetzbar wie müsste das Zustimmungsquorum in die Hoffnung, damit tatsächlich einen Richtung der Einstimmigkeit angeho- ausgeglicheneren Meinungs- und Deu- ben werden – was gewöhnlich mit inef- tungswettbewerb zu erzeugen. Gera- fizient hohen (netto) Entscheidungskos- de der beispielhafte Verweis auf ge- ten verbunden und deshalb zugunsten meinnützige Bildungseinrichtungen einer einfachen Mehrheitswahl ver- (wie z.B. öffentlich-rechtliche oder worfen wird. Die Entscheidungskosten Stiftungs-Universitäten; vgl Held 1998: können allerdings deutlich gesenkt wer- 84) ist entmutigend, ist es doch auch den, wenn kollektive Entscheidungen hier durch verschiedene Anreizsetzun- nur für Situationen gesucht werden, die gen gelungen, insbesondere in den für Gewinn- bzw. Positivsummenspiele be- die Ideologieproduktion bedeutsamen schreiben – Entscheidungssituationen, Wirtschaftswissenschaften ein Theorie- die Nullsummen- oder Verteilungs- monopol (Mainstream) durchzusetzen spiele umfassen, blieben hingegen aus- (vgl. Heise 2010), das beim Agenda- drücklich ausgeschlossen. Dies scheint Setting und Framing massive Unterstüt- implizit die Vorstellung Rousseaus und zung leistet. explizit die der daran anknüpfenden Aber selbst wenn es gelänge, den eli- Sozialkontrakttheoretiker um Hayek tären Agenda-Setting-Bias systematisch und Buchanan zu sein (vgl. z.B. Scharpf zu beseitigen, wäre damit noch nicht der 2000: 259ff., Buchanan/Tullock 1962). allgemeineren Kritik entkommen, ein- Die gewöhnlich daraus gezogene Kon- fache Mehrheits-Demokratien würden sequenz, die Sozialkontrakt- oder auch es erlauben, dass sich Individualinter- essen (wenn auch der Mehrheit) gegen 34 Zur Legitimation demokratischer Entschei- andere Individualinteressen (der Min- dungen vgl. Peter (2009).

80 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat

Konkordanz-Demokratie gewährleis- Verhandlungslösungen kommen sollte te nur den hier beklagten Minimal- (vgl. Scharpf 2000: 197ff.). Freilich gilt staat (vgl. Scharpf 2000: 259),35 er- dies uneingeschränkt nur dann, wenn scheint dann folgerichtig, wenn man die keine Informationsprobleme und Un- grundlegenden Postulate der „sponta- sicherheiten über Realitätsinterpreta- nen Ordnung“ und der „Gültigkeit der tionen bestehen.37 Werden diese aber Anspruchstheorie“ akzeptiert, wonach realistischerweise konzediert, wird der die marktliche Interaktion der effizien- elitäre Bias deshalb noch verstärkt, weil teste Koordinierungsmechanismus ist deren Grundlage, ein möglichst inter- und die gegebene Vermögenserstaus- ventionsfreier Wirtschaftsablauf ohne stattung dann zu akzeptieren ist, wenn distributiven Eingriff, mittels Veto-Stel- sie auf rechtmäßigem Erwerb beruht lung erzwungen werden kann38 – dies (vgl. Heise 2011b: 279ff.). Werden diese sind die Erfahrungen des Policymaking Postulate aber auf keynesianischer oder auf europäischer Ebene, wo das zumin- marxistischer Grundlage zurückgewie- dest für grundlegende Entscheidun- sen, entsteht viel mehr Raum für pare- gen gültige Einstimmigkeitsprinzip zur to-überlegene Interventionen gerade Dominanz der negativen (liberalisie- auch sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlicher renden) gegenüber der positiven (In- Orientierung mit ausdrücklich redistri- terventionsinstitutionen schaffenden) butiver Intention (vgl. Pickett/Wilkin- Integration geführt hat (vgl. Scharpf son 2009), die als Positivsummenspie- 1996). le verstanden und deshalb zumindest Es können hier keine definitiven als das Gemeinwohl fördernd36 von al- Lösungen des Problems „Demokratie- len Gesellschaftsmitgliedern akzeptiert Versagen“ gegeben werden. Wir haben werden könnten und es deshalb auch zu gesehen, dass Demokratie im Kapita- lismus sicher nicht „die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk“ 35 Arend Lijphart (1999: 275ff.) kommt in sei- nem Vergleich von 36 Demokratien allerdings (Abraham Lincoln) ist, sondern eher zu einem anderen Ergebnis. Danach sind die Kunst, „sich an die Stelle des Volkes „Konsenz-Demokratien“ sozialstaatlicher als zu setzen und ihm feierlich in seinem ‚Westminster-Demokratien‘. Mit dieser Ein- Namen, aber zum Vorteil einiger guter teilung wird aber nicht auf die Wahl- bzw. Hirten, die Wolle abzuscheren“ (Ro- Entscheidungsregel (Mehrheit versus Einstim- migkeit), sondern die Repräsentation bzw. die main Roland). Dennoch sollten wir uns Regierungskonstellation abgestellt. 36 Wenngleich das Gemeinwohl aus oben ge- 37 Dies impliziert, dass unterschiedliche (wissen- nannten Gründen objektiv nicht bestimmt schaftlich begründete) Auffassungen darüber werden kann, kann doch aber jede Verbes- bestehen, ob z.B. sozialpolitische Maßnahmen serung nach dem Pareto-Kriterium als „dem mit distributiver Intention tatsächlich ein Gemeinwohl dienend“ verstanden werden. Positiv- oder vielleicht doch eher ein reines Scharpf (2000: 159ff.) argumentiert an dieser Nullsummenspiel darstellen. Stelle mit dem Kaldor-Wohlfahrtskriterium, das allerdings auf problematischen interper- 38 Dahl (1989: 136ff.) spricht deshalb von der sonellen Nutzenvergleichen basiert. „Tyrannei der Minderheit“.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 81 Arne Heise bewusst sein, dass es keine Alternative gen im Vergleich zur herkömmlichen zur Demokratie gibt.39 Um das Funkti- (parlamentarischen) Mehrheitsent- onieren der Demokratie im Kapitalis- scheidung ergeben können. Dies gilt mus in dem Sinne zu verbessern, dass aber nur, wenn die Mehrheitsformung eine „das Gemeinwohl maximal förder- mittels direkter und indirekter Ent- liche Politik“ betrieben werden kann scheidungsverfahren zu immer gleichen und somit eine dauerhafte Legitimation Ergebnissen kommt. Wie oben (FN 22) der gesellschaftlichen Selbstorganisati- bereits ausgeführt, kann mediales Fra- on gewährleistet bleibt, müssen einer- ming aber durchaus dazu führen, dass seits die Agenda-Setting- und Framing- parlamentarische Mehrheiten (Koali- Prozesse offener und pluraler gestaltet tionen) nicht den Mehrheitswillen der werden‚ andererseits die Verhandlungs- Wähler ausdrücken. Und auch der Ein- bereitschaft in Konsensdemokratien wurf, ein plebiszitäres Entscheidungs- jenseits des Mehrheitswahlrechts ge- verfahren müsste genauso dem Bias stärkt werden. Die neuen Medien (In- des medialen Framing-Prozesses ausge- ternet, Telefonie) mögen zu ersterem setzt sein wie parlamentarische Wahlen, beitragen und die den elitären Bias er- übersieht, dass unter den angenomme- zeugende Stellung der traditionellen nen Unsicherheitsbedingungen Wähle- Medien (Zeitungen, Fernsehen) lang- rentscheidungen neben dem Framing- fristig untergraben, die Kombination Prozess auch noch von ideologischen von Einstimmigkeits- und Mehrheits- Grundausrichtungen abhängen. Je nach wahlrechtselementen (Überprüfung den unterstellten Annahmen (z.B. über von angenommenen und gescheiterten die Einheitlichkeit des Wählerlagers Gesetzesverfahren durch Volksbefra- und die ideologische Mobilität) können gungen mit geringer Voraussetzungsan- dann Mehrheitsentscheidungen von di- forderung; „der lange Schatten des Ple- rekter und indirekter Demokratie unter biszit“) mag letzteres ermöglichen. Man sonst gleichen Framing-Bedingungen könnte argumentieren, dass ein Refe- durchaus zu unterschiedlichen Ergeb- rendum nur die Mehrheitsverhältnisse nissen kommen (vgl. Heise 2005). Au- im Parlament – also der Repräsentation ßerdem ließe sich mit der Kopplung von der Wähler, die die politischen Entschei- plebiszitären und mehrheitsdemokrati- dungen zu treffen hat – reproduzieren schen Elementen jenen Phänomenen würde und sich folglich nach diesem beikommen, die als Anscombe- oder Verfahren keine anderen Entscheidun- Ostrogorski-Paradoxa bekannt sind (vgl. Saari 2001: 123ff.): Durch die Ag- 39 Diese apodiktische Aussage basiert auf der gregation von einzelnen Wahlthemen Unterstellung, dass „(n)ur die Demokratie zu Parteiprogrammen kann es dazu (…) uns freimachen (kann), weil wir nur in kommen, dass Parteien die Mehrheit der Demokratie Urheber der Mächte sind, der Wähler auf sich vereinen und dann die uns regieren“ (Brown 2012: 64). Wir un- terstellen also den Wunsch freier Menschen, zu den einzelnen Wahlthemen Positio- selbst über die Formen des Zusammenlebens nen vertreten und in Politik umsetzen, entscheiden zu wollen. die bei Einzelabstimmung keine Mehr-

82 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat heit bekommen hätten. So ließe sich Literatur vorstellen, dass z.B. der Sozialabbau Almond, G.A.; Capitalism and Democracy; keine Mehrheit in der Bevölkerung hat, in: Political Science and Politics, Sep. gleichwohl Parteien die Stimmmehrheit 1991, S. 467–474. bekommen, die Sozialabau als Wahlziel Arestis, P., Pelagidis, T.; Absurd Austeri- verfolgen bzw. dies zumindest in einer ty Policies in Europe; in: Challenge, Koalition akzeptieren werden. Vol.53, No.5, 2010, S. 54–61. Es bleiben reichlich offene Fra- Arlt, H.-J., Storz, W.; Drucksache „Bild“ – gen und der Eindruck, dass etwas Ex- Eine Marke und ihre Mägde. Die ‚Bild‘- perimentierfreudigkeit der Demokra- Darstellung der Griechenland- und tie ganz gut täte (vgl. z.B. McCormick Euro-Krise 2010, Otto-Brenner-Stiftung 2006). Fatal wäre es, wenn – wie Dahl Arbeitshefte 67, Frankfurt 2011. (1989: 279) schwarzmalt – die schein- Arrow, K.; Social Choice and Individual Va- bar paradoxe Erkenntnis der „Minori- lues, New Haven 1951. ty rule“ in der Mehrheits-Demokratie Bäcker, G. Et al; Sozialpolitik und soziale nur deshalb verworfen würde40, weil der Lage in Deutschland, Bd.1, Wiesbaden revolutionäre Impetus marxistischer 2010. Lesart als sozial-illusionär und der re- Bartels, L.; Unequal Democracy, Princeton formersiche Ansatz prozeduraler Kor- 2008. rekturen als Ausweis der Ratlosigkeit Brenke, K.; Reallöhne in Deutschland über gebrandtmarkt und beides als desillusi- mehrere Jahre rückläufig; in: DIW Wo- onierend verstanden würde. chenberich Nr. 33, 2009. Brown, W.; Wir sind jetzt alle Demokra- ten; in: Agamben, G. u.a.; Demokratie?, Frankfurt 2012, S. 55–71. Buchanan, J.M., Tullock, G.; The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962 Carmines, E.G.; Review Symposium – Class Politics, American Style; in Persepc- tives on Politics, Vol. 9, No.3, 2011, S. 645–647. Clayton, R., Pontusson, J.; Welfare State Retrenchment Revisted: Entitlement Cuts, Public Sector Restructuring, and 40 Als weiteren Grund der Zurückweisung der Inegalitarian Trends in Western Demo- „Minority rule“ gibt Dahl (1989: 274f.) das Versäumnis an, die Kontrollmechanismen cracies; in: World Politics, Vol. 51, No.1, und –wege offengelegt zu haben. Wenn man 1998, S. 67–98. mit Dahl (1989: 277) unter „Minority rule“ Chomsky, N.; Media Control. Wie die Me- auch die indirekte und, zugegebenermaßen dien uns kontrollieren, München 2006. unvollständige Kontrolle mittels hegemonialer Agenda-Setting- und Framing-Prozesse ver- Crouch, C.; Das lange Leben des Neolibera- steht, dann sollten die Kontrollmechanismen lismus; in: Blätter für deutsche und inter- und –wege hinreichend klar geworden sein. nationale Politik, H.11, 2011, S. 49–62.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 83 Arne Heise

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84 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat

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Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 85 Arne Heise

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Zusammenfassung immer fürchtete, von der armen Mehr- Die letzten drei Dekaden haben eine heit ausgebeutet zu werden, geschehen substantielle Wandlung wohlfahrts- konnte und welche Konsequenzen dies staatlicher Fundierung demokratischer für demokratische Wahlverfahren ha- Gesellschaften erlebt: Trotz steigenden ben könnte. gesellschaftlichen Wohlstands ist nicht nur die sozialstaatliche Sicherung der Abstract großen Lebensrisiken immer weiter re- The past three decades witnessed a sub- duziert und individualisiert worden, stantial change in the foundations of auch die ‚große Erzählung‘ hat sich ge- highly developed welfare democracies: wandelt. Gehörte im „Modell Deutsch- despite growing income and material land“ der Wohlfahrtsstaat noch zur spe- wealth, the level of social assistance has zifischen Einbettung des „Regulierten been decreasing and its incidence indi- Keynesianismus“, so wird der Sozialstaat vidualised. Also, the ‚grand narrative‘ im Zeitalter der neoliberalen Globalisie- has been modified. While „Model Ger- rung nunmehr als Faktor im System der many“ was part of the specific form of Wettbewerbsstaaten verstanden. Nach embedded and socially regulated Ger- der Weltfinanzkrise droht nun gar eine man Keynesiansm, social policy during Verwirklichung kühnster neoliberaler the age of globalisation became ever Träume: der Minimalstaat Nozickscher more a crucial factor in the system of Prägung. Zu untersuchen bleibt, wie competing states. In the aftermath of the diese Entwicklung in „sozialen Demo- recent world financial crisis, neoliberal kratien“, in denen die reiche Minderheit dreams appear to become true: a transi-

86 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Demokratie und Sozialstaat tion towards the minimal state of Robert minority is threatened to be exploited Nozick’s orientation. The question to be by the poorer majority via welfare state adressed is how this could have happe- arrangements – and what consequences ned in „social democracies“ – where ac- for democratic decision-making proce- cording to neoliberal theorists the rich dures may possibly be drawn.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 87 Joachim H. Spangenberg Finanzmarktkrisen und Nachhaltigkeit

Der gegenwärtige Zustand der sozia- zu werden, obwohl diese durchaus en- len, ökologischen und ökonomischen ger gefasst sind (Kemp, Martens 2007). Systeme ist durch die Gleichzeitigkeit Statt zu den mehr als hundert existie- zahlreicher Krisen gekennzeichnet: Kli- renden Definitionen eine weitere hinzu- mawandel, Biodiversitätsverlust, Res- zufügen, soll hier auf die Ursprungsdefi- sourcenknappheit, Brennstoffmangelnition der Kommission für Umwelt und und -preise, Nahrungsmittelpreise, Ar- Entwicklung (nach ihrer Vorsitzenden mut, Flüchtlinge, Süßwassermangel, bekannt als Brundtland-Kommission) und in den letzten Jahren Kollaps des zurückgegriffen werden (WCED 1987): Finanzsystems und Krise des Produk- „Nachhaltige Entwicklung ist eine tionssystems. Diese in ihren geogra- Entwicklung, die den Bedürfnissen der phischen und zeitlichen Dimensionen heutigen Generation entspricht, ohne sowie in ihren Dynamiken sehr unter- die Möglichkeiten künftiger Generatio- schiedlichen Krisen scheinen auf den nen zu gefährden, ihre eigenen Bedürf- ersten Blick nichts miteinander zu tun nisse zu befriedigen. Zwei Schlüsselbe- zu haben; auf den zweiten erschließen griffe sind wichtig: sich jedoch Zusammenhänge bezüglich • Der Begriff ‚Bedürfnisse‘, insbe- der Auslöser, Auswirkungen, Ursachen sondere der Grundbedürfnisse der und Hintergründe. Ärmsten der Welt, die überragende Um diese Zusammenhänge aus- Priorität haben sollten; loten zu können ist es zunächst erfor- • Die Vorstellung von Grenzen, die der derlich, sich über die Begrifflichkeiten Stand der Technologie und sozialen klar zu werden. Das gilt insbesondere Organisation den Fähigkeit der Um- für den Begriff der Nachhaltigkeit, weil welt setzt, gegenwärtige und zukünf- der Begriff von verschiedenen Diszip- tige Bedürfnisse zu befriedigen.“ linen und unterschiedlichsten Interes- sengruppen in ihrem jeweiligen Sinne, Nachhaltigkeit ist damit a priori ein und damit mit einer gewissen Beliebig- normatives Konzept, und auf der Ebe- keit interpretiert wurde. Zeitweilig rein ne der Werte und Normen (Max-Neef umweltbezogen verstanden, schmückt 2005) markieren Bedürfnisbefriedi- er inzwischen Wirtschaftsbilanzen, gung und Anerkennung von Grenzen Haushaltspläne und Geschäftsberichte, zwei wesentliche Dimensionen. Diese läuft aber auch Gefahr, auf Klimaschutz Grenzen sind definiert durch die Not- verengt oder von neuen Konzepten wie wendigkeit, die akut gefährdete Fähig- Green Economy (UNEP 2011) oder keit ökologischer Systeme zu sichern, Green Growth (OECD 2011) verdrängt langfristig wichtige Ökosystemdienst-

88 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Finanzmarktkrisen und Nachhaltigkeit leistungen zu erbringen (Millennium Konfliktlinien von Finanzmarktpraxen Ecosystem Assessment 2005). Welche und nachhaltiger Entwicklung erkenn- Leistungen das sind wird von den ge- bar. Bevor dieser konzeptionelle Kon- sellschaftlichen Naturverhältnissen, den flikt als einer der Hintergründe näher Organisations- und Nutzungsformen ausgeleuchtet wird, soll jedoch auf die sowie den verwendeten Technologien Nachhaltigkeitsaspekte der Auslöser, bestimmt. Weder ein Ökozentrismus Auswirkungen und Ursachen der Fi- der absoluten Grenzen, noch Sozialkon- nanzkrisen eingegangen werden. struktivismus oder Technologiegläu- bigkeit lassen sich mit dieser Multifak- Auslöser toren-Definition ökologischer Grenzen Die Finanzmarktkrise wurde durch den legitimieren. Wirtschaft und Wachs- unvermeidlichen Kollaps der durch Hy- tum spielen hier keine Rolle (Holden, potheken gedeckten Immobilienkredite Linnerud 2007, Kopfmüller u.a. 2001). an nicht kreditwürdige Antragsteller in Das Lob des Wirtschaftswachstums, das den USA ausgelöst. Wie in einem Py- weite Strecken des Brundtland-Berichts ramidenspiel ging das Ganze gut solan- „Unsere gemeinsame Zukunft“ prägt, ge immer neues Geld an immer neue bezieht sich insofern auf ein im Sinne Häuslebauer vergeben werden und der übergeordneten Werte gerichtetes dann geschickt getarnt als gute Sicher- Wachstum, das eben keinen Selbstwert heit ahnungslosen Abnehmern verkauft darstellt sondern sich durch seine inst- werden konnte. Solche Praktiken erin- rumentelle Effektivität im Sinne einer nern an Schneeballsysteme (im Engli- nachhaltigen Entwicklung legitimiert. schen bekannt als Ponzi-Schemes); sind In der politischen Debatte wird re- immer durch eine dynamische Wachs- gelmäßig der zweite, konkretisierende tumsphase gekennzeichnet, in der die Teil der Definition ausgeblendet, um Spieler (hier die Finanzinstitute) ein ex- dann die mangelnde Konkretheit des zellentes Geschäft machen und dieje- Konzepts zu beklagen und es im jeweils nigen, die rechtzeitig aussteigen, große eigenen Sinne umzudeuten. Erst so ent- Gewinne realisieren können. Wer aber steht die Kompatibilität von Nachhal- dabei bleibt bis die Blase platzt zahlt die tigkeit mit dem vorherrschenden neo- Rechnung, die Immobilien fielen im liberalen Diskurs, seiner Präferenz für Preis bis die Hypotheken höher waren unregulierte Märkte und seine anti-eta- als der Wert der Häuser.1 tistische Ausrichtung. Wirtschaft auf die Bedürfnisse der Menschen, insbe- 1 In den USA ist zudem die Forderung einer sondere der Ärmsten auszurichten, statt Bank abgegolten wenn das Haus verkauft und auf Shareholder Value und höchstmög- der Gewinn an die Bank transferiert ist – auch lichen Profit, und statt unbegrenztem wenn die Einnahmen die Höhe der Hypothek und möglichst schnellem Wachstum die deutlich unterschreiten. Diese Besonderheit hat zahlreiche, meist kleinere, Immobilien­ Bereitschaft, Grenzen des Wirtschaftens finanzierer in den Ruin getrieben, auch weil zu akzeptieren: bereits mit der vollstän- über die Jahre niedriger Zinsen und steigen- digen Definition werden potenzielle der Immobilienpreise bestehende Hypothe-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 89 Joachim H. Spangenberg

Land Eigentumsquote in Prozent Spanien 81 Irland 78 USA 69 Großbritannien 69 Österreich 57 Frankreich 56 Niederlande 54 Dänemark 51 Schweden 46 Deutschland 43 Schweiz 35

Tab. 1: So wohnt die Welt (Quelle: DIA, Stand 2006)

Was aber hat das mit Nachhaltigkeit zu postuliert, dass alle Haushalte über tun? Offensichtlich ist nach dem Platzen Wohneigentum, meist ein eigenes Haus, der Blase das Gebot der Bedürfnisorien- verfügen sollten – der Aufstieg auch tierung verletzt: soziale Nachhaltigkeit ehemaliger Unterschichten ins Besitz- ist nicht gegeben wenn Obdachlosigkeit bürgertum wurde als Beitrag zur Festi- vom Einzelschicksal zum Massenphä- gung konservativer Mehrheiten (miss-) nomen wird, und wenn Arbeitnehmer/ verstanden. Hier wie in Spanien war innen einen Teilverlust ihrer in Fonds der teils spekulative Bauboom (neben angelegten Pensionen in Höhe von ca. der anschwellenden Finanzwirtschaft) 40.000 US$ pro Kopf der US-Bevölke- Triebfeder des Wirtschaftsbooms, mit rung, hinnehmen müssen (2009 – die einem Bauvolumen weit über den aktu- folgende Berg- und Talfahrt der Aktien- ellen Bedarf und die finanziellen Kapa- märkte hat nur einen Teil der Verluste zitäten der Käufer hinaus. Mit der An- wieder egalisiert, verunsicherte aber zu- zahl und der Größe der Häuser wuchsen sätzlich). der Energie- und Flächenverbrauch, Weniger offensichtlich ist der ge- die Zersiedelung der Landschaft, die meinsame Ursprung von Umwelt- und Suburbani­sierung der großen Städte, Finanzkrise (Tienhaara 2010). In Eng- das Verkehrsaufkommen, der Infra- land wurde von Thatcher und in Groß- strukturbedarf und damit die Umwelt- britannien von Bush als politisches Ziel folgen. Bedenkt man, dass Bauen und Wohnen noch vor Mobilität und Ernäh- rung das Konsumfeld mit dem höchsten ken zu Gunsten neuer, billigerer Hypotheken Ressourcenverbrauch (Energie, Materi- über höhere Summen abgelöst wurden, nicht zuletzt um Konsumansprüche und Sozialsta- al und Fläche) ist (Spangenberg, Lorek tus bei stagnierenden bis sinkenden Haus- 2002, United Nations 2011), dann wird haltseinkommen zu erhalten. deutlich, dass die Eigenheimpolitik eine

90 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Finanzmarktkrisen und Nachhaltigkeit der Triebkräfte hinter dem Anstieg der problemen gescheitert ist, sondern am Treibhausgasemissionen wie der Frag- mangelnden politischen Willen. Die Er- mentierung der Landschaft war, und fahrung hat gelehrt: sobald ein Thema damit entscheidend zur Verschärfung (wie die Bankenkrise) oberste politische der Klimakrise beigetragen hat.2 Die Priorität gewinnt sind die Regierungen Hauptursache für den fortschreiten- in der Lage, die erforderlichen finanzi- den Biodiversitätsverlust ist die Ände- ellen Mittel zu mobilisieren und Struk- rung der Landnutzung, insbesondere turveränderungen in die Wege zu leiten. die Fragmentierung der Landschaften Greenpeace hat das rhetorisch zuge- (Sala et al. 2000), und hier sind wieder spitzt ausgedrückt: „Wäre die Welt eine die Ausweitung des Siedlungsgebiets Bank hätten wir sie längst gerettet“. wie die dadurch hervorgerufene Zunah- Nachhaltige Entwicklung wurde me des Verkehrs und der Verkehrsinfra- dagegen nicht als unmittelbarer Hand- struktur wesentliche Beiträge. lungsauftrag wahrgenommen sondern Die Immobilienblase hat also zur zum Oberziel der Politik deklariert und Nichteinhaltung der Belastungsgren- so auf eine wenig handlungsrelevante zen (Rockstrøm et al. 2009) beigetra- Metaebene gehoben (und wie erwähnt gen, und so irreversible Schäden an der ihrer Konkretisierung entkleidet). Das ökologischen Nachhaltigkeit (mit)ver- hat nicht zuletzt seine Ursache darin, ursacht, während ihr Platzen die Be- dass aller Abschwächung zum Trotz dürfnisbefriedigung breiter Bevölke- eine effektive Nachhaltigkeitspolitik – rungsschichten unterminiert hat und wie jede strukturverändernde Politik sozial unnachhaltig war. – bestehende Partialinteressen verletz- ten muss und deshalb auf den massiven Auswirkungen Widerstand von betroffenen sozialen Die Krise der Finanzmärkte und die und ökonomischen Akteuren trifft. Der staatlichen Rettungsaktionen haben Politik fehlt dann oft die Handlungsfä- eine ambivalente Wirkung auf die higkeit ebenso wie die Handlungswillig- Chancen einer nachhaltigen Entwick- keit; sie begnügt sich mit symbolischen lung. Zum einen ist im Rückblick über- Ersatzhandlungen (Blühdorn 2007). Ex deutlich, dass eine Politik der Nachhal- post ist jetzt unbestreitbar, dass es sich tigkeit in der Vergangenheit nicht, wie bei der mangelnden Umsetzung von so oft behauptet, an den damit verbun- Nachhaltigkeitszielen nicht um Hand- denen Umbaukosten und Struktur- lungsunfähigkeit, sondern um eine an- dere Prioritätensetzung gehandelt hat. 2 Von marginaler Bedeutung sind dagegen Die ideologische (und für Nachhal- Konsumfelder wie Mode, Kosmetik und Hy- tigkeit als normativer Vorgabe nie zu- giene, die in der Vergangenheit Gegenstand treffende, da auf ihr fremden Optimie- öffentlicher Dispute waren. Angesichts der rungskriterien beruhende, vgl. Shar, empirischen Daten entpuppen sich diese Dis- pute als Auseinandersetzungen um Symbole, Black 2010) Rechtfertigung von Hand- als mit ökologischen (Schein-)Argumenten lungsverweigerung, die Selbstregulati- geführte kulturelle Konflikte. on der Märkte werde zu positiven Er-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 91 Joachim H. Spangenberg gebnissen führen wenn man sich nur riode der UN-Kommission für nachhal- nicht einmische, hatte bereits in den tige Entwicklung schloss im Frühsom- Jahren zuvor weithin an Glaubwürdig- mer 2011 ohne Ergebnis) zeigen das keit verloren (Spangenberg 2004). Die überdeutlich. Finanzkrise war dann der Punkt, der Hinzu kommen Handlungsbe- auch eine Mehrheit der politischen und schränkung durch die als angespannt publizistischen sowie eine Minderheit wahrgenommene Situation der öffentli- der finanzwirtschaftlichen und wirt- chen Hände (die eigentlich weniger eine schaftwissenschaftlichen Eliten zum Folge der in anderer Hinsicht durchaus Umdenken brachte (die Praxen der Fi- problematischen Verschuldung ist als nanzwirtschaft haben sich nur marginal ein Resultat der Spekulation von Groß- geändert). Staatliche Wirtschaftsstruk- anlegern, gemeinhin als „die Märkte“ be- turpolitik und Interventionen in Markt- zeichnet, auf Währungskrisen – die ne- prozesse wird in diesen Kreisen heute benbei zeigt, dass Staaten als verlässliche wieder – wie in der Mehrheit der Bevöl- Schuldner ausfallen sobald man ihnen kerung immer – als legitim und sinn- nicht mehr zutraut, genug Steuern zu voll betrachtet; der von der Bundesre- erheben), sowie die Schwierigkeiten der gierung vollzogene Atomausstieg ist das Projektfinanzierung durch mangelnde vielleicht offensichtlichste Beispiel. bzw. teure Kreditfinanzierungsmöglich- Auf der negativen Seite sind eben- keiten. Weitere aktuelle Spekulations- falls zwei Faktoren zu nennen. Zum ei- objekte sind Ressourcen, Energieträger nen hat die Dominanz der Wirtschaft und Nahrungsmittel, mit zum Teil sig- sowie die anschließende Euro-Krise von nifikant negativen Wirkungen auf die Nachhaltigkeitsproblemen abgelenkt Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Ent- (auch weil die Diskussionen fast reine wicklung. Ebenfalls negativ wirkt sich Symptomdiskussionen waren, die kein das Mißtrauen der Banken untereinan- Verständnis der zugrundeliegenden der aus, das dazu führt, dass trotz Mil- Prozesse geschaffen haben, sondern die liardengewinnen das Verleihen unter- Finanzmärkte anonymisiert und ohne einander (der Interbankenmarkt) im Darstellung der handlungsleitenden Herbst 2011 wieder – wie schon 2008/09 Interessen, als sachlich-neutrale Beur- fast zum Erliegen gekommen ist, und teilungsinstanz für die ökonomische damit die Verfügbarkeit von Krediten Solidität der Politik beschrieben). Die für private Anschaffungen wir für kom- wiedergewonnene Legitimation politi- merzielle Investitionen zurückgeht. Eine schen Handelns wurde mehr oder weni- wesentliche Ursache ist die trotz im- ger berechtigt auf andere Themen proji- menser Gewinne geringe Eigenkapital- ziert, nicht auf nachhaltige Entwicklung decke, die europäische Banken in Kri- – das Scheitern sowohl der Klimakonfe- senzeiten verwundbar macht – auch das renz von Kopenhagen wie auch das ei- wird nicht als Ursache benannt, sondern nes Plans zur Förderung nachhaltiger die Situation genutzt, um jedwede Be- Produktions- und Konsummuster bei teiligung der Banken an den Kosten der der CSD19 (die zweijährige Sitzungspe- Eurorettung zurückzuweisen.

92 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Finanzmarktkrisen und Nachhaltigkeit

Die Auswirkungen der sozial-öko- sche Sichtweise von ihrer Erweiterung, logischen auf die finanz-ökonomische der Umwelt- und Ressourcenökono- Krise sind ungleich schwerer zu loka- mie, abgelöst worden.3 Das Sach- und lisieren, da sich ihre graduelle Zunah- Finanzkapital in dieser Terminologie me in anderen Zeitrhythmen entfal- entsprechen weitgehend dem ökono- tet. Während die zunehmende Zahl mischen Kapital bei Bourdieu, und das an wohldokumentierten Extremereig- Humankapital der Ökonomen korres- nissen eindeutig ein Krisenphänomen pondiert über weite Strecken mit seinem ist, kann das einzelne Ereignis (insbe- kulturellen Kapital. Ein Sozialkapital sondere Stürme und Fluten, aber auch kennt die weiterhin dem neoklassischen Schädlingsausbrüche) nicht kausal ei- methodologischen Individualismus ver- ner Umweltkrise zugeordnet werden pflichtete Ressourcenökonomik (anders kann. Anders ist das zum Teil für soziale als die ökologische Ökonomik) nicht, Phänomene: die weltweiten Hungerun- ebenso wie die Soziologie mit wenigen ruhen im Jahre 2008 waren eindeutig Ausnahmen (z.B. Kraemer 2008) kein den Anstieg der Lebensmittelpreise zu- Naturkapital. zuordnen, dessen dominante Ursachen Legt man unter Vernachlässigung wiederum umstritten waren (genannt der bekannten Schwächen aller Ver- wurden einerseits Missernten und Han- suche, Umwelt und Gesellschaft in der delsrestriktionen, sowie andererseits wirtschaftswissenschaftlichen Begriff- Spekulation mit Nahrungsmitteln und die Subventionen für die Umwandlung 3 Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften von Nahrungsmitteln in Benzinersatz hat sich international das ehedem ungeliebte (agro-fuels). Steigende Lebensmittel- Kind der Neoklassik, die Umwelt- und Res- preise werden auch als Auslöser hinter sourcenökonomik, zum neuen Mainstream entwickelt. Damit halten die Wirtschafts- den Umbrüchen in der arabischen Welt wissenschaften in ihrer Hauptströmung erwähnt, während die Ursachen sicher- auch zukünftig and den Kernelementen der lich tiefer liegen. Neoklassik, den Fiktionen von rationalen Entscheidungen isolierter Individuen (der Ursachen methodologische Individualismus) und von Marktgleichgewichten fest (Arnsperger, Va- UNEP, das Umweltprogramm der Ver- roufakis 2006). Sie bleiben raum- und zeitlos, einten Nationen, hat eine Krisenanalyse ergänzen aber die Liste der Produktionsfak- vorgelegt, die als gemeinsame Ursache toren Arbeit und Kapital um die Natur als der Finanz- wie der Nachhaltigkeitskri- Ressource und betonen die Notwendigkeit externe Kosten (also solche die Dritten entste- sen die Fehlallokation von Kapital aus- hen) in den Marktprozess zu internalisieren. macht. Dabei wird Kapital nicht im so- Dann aber sei das Marktversagen geheilt und ziologischen Sinne verstanden, sondern der Markt könne seine Rolle als Koordina- ökonomisch und damit als quantitativer tions-, Such- und Allokationsmechanismus Bestand ohne Zweckbindung. UNEP wieder spielen. Es handelt sich also dabei (im Gegensatz zur ökologischen Ökonomik) um unterscheidet Sach-, Finanz-, Human- eine inkrementelle, keine strukturelle Verän- und Naturkapital; damit ist auch auf derung, eine Annäherung an die Realität in UN-Ebene die traditionelle neoklassi- kleinen Schritten.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 93 Joachim H. Spangenberg lichkeit von Kapitalstöcken angemessen Rio de Janeiro und beim Weltgipfel für zu beschreiben (Faucheux, O‘Connor Nachhaltige Entwicklung WSSD 2002 1998; Martinez-Alier et al. 1998) diese in Johannesburg genannten Kosten- Begrifflichkeit zugrunde, so kann die schätzungen für das Umsteuern hin zu gemeinsame, tieferliegende Ursache wie einer nachhaltigen Wirtschaft und Ge- folgt beschrieben werden (nach UNEP sellschaft, die geschätzten Kosten für die 2011): Realisierung der UN Millenniumsziele, • Der gegenwärtige Weltzustand ist die Kostenschätzungen des Stern Re- durch die Gleichzeitigkeit zahlrei- ports zur Begrenzung des Klimawan- cher Krisen gekennzeichnet: Klima, dels (Stern 2006), die vom Millennium Biodiversität, Ressourcen, Brenn- Ecosystem Assessment vermuteten Kos- stoff, Nahrungsmittel, Wasser, und ten für die Eindämmung des Verlustes zuletzt das Finanz- und das Produk- an biologischer Vielfalt (MEA 2005) so- tionssystem. wie die eigenen Kostenschätzungen von • Alle diese Krisen haben verschiede- UNEP (UNEP 2011), so wäre ein Be- ne Gründe und Auslöser, sind aber trag von drei bis fünf Prozent des Welt- auch Ausdruck eines grundlegenden inlandsprodukts ausreichend für den Fehlers unseres Wirtschaftens, der Übergang zu einer nachhaltigen Ent- Fehlallokation von Kapital. wicklung. Angesichts der Schadenspo- • In den letzten Jahren wurde viel tenziale (siehe insbesondere Stern 2006, Kapital in Immobilien, fossile Res- Kumar 2009 und Sukhdev 2010) wären sourcen und Finanzmarktanlagen Investitionen in >Weltrettung< äußerst investiert, aber zu wenig in erneuer- attraktiv, vorausgesetzt die Internali- bare Energien, Effizienz, öffentlichen sierung externer Kosten fände wirklich Transport, nachhaltige Landwirt- statt. Wird die ressourcenökonomische schaft, Umwelt- und Naturschutz. Ergänzung der neoklassischen Ökono- • Die Wachstums- und Entwicklungs- mik jedoch nicht in die politische Pra- politiken bauten auf die schnelle Ak- xis umgesetzt, dann fallen betriebs- und kumulation von Sach-, Human- und volkswirtschaftliche Optima auseinan- Finanzkapital, verbunden mit einer der, und einzelwirtschaftliche Beiträge exzessiven Entwertung und Ver- zur nachhaltigen Entwicklung bleiben nichtung von Naturkapital. auf Nischen beschränkt. Wie aber konnte es zu dieser giganti- Auch wenn man bezweifeln kann, ob schen Fehlleistung des Wirtschafts- wie die Akkumulation von Humankapital des Politiksystems kommen? Ein Grund wirklich einer der Schwerpunkte der ist die zunehmende Ökonomisierung der gängigen Entwicklungs- und Wachs- Problemdefinitionen, von der auch die tumsstrategien war, bleibt die Domi- UNEP-Analyse nicht frei ist. Die neo- nanz der Sach- und Finanzkapitalin- klassische Ökonomik hat den Vorrang vestitionen Grundlage der laufenden der Mikro- vor der Makroökonomik Fehlentwicklungen. Berücksichtigt man postuliert und so den Marktakteuren, die bei der UNCED Konferenz 1992 in insbesondere den Unternehmen, eine

94 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Finanzmarktkrisen und Nachhaltigkeit zentrale Rolle in der Nachhaltigkeitspo- EKC Hypothese postulieren sogar, dass litik zugewiesen (so auch unverändert Wachstum das prioritäre Ziel sein müs- der Fortschrittsbericht zur deutschen se, da mit zunehmendem Volkswohl- Nachhaltigkeitsstrategie, Bundesregie- stand nach anfänglichem Anstieg nicht rung (2011)) und die Selbstregulation nur die soziale Ungleichheit zurückge- der Märkte – auch der Finanzmärkte – he (Kuznets (1955), ein führender US- zum Dogma erhoben. Die dominieren- amerikanischer Ökonom, postulierte de Rolle des Ökonomischen hat auch diesen Zusammenhang), sondern auch das politische Denken über die letzten die Umweltbelastung (Beckermann 30 Jahre spürbar beeinflusst (Lazear 1992). Beide Hypothesen gelten heute (2000) beschreibt mit Stolz die Koloni- als nur auf Sonderfälle zutreffend und in sierung der sozial-, kultur- und norm- ihrer allgemeinen Formulierung wider- wissenschaftlichen Begriffswelten durch legt (Fischer-Kowalski, Amann 2001; die Wirtschaftswissenschaften),­ die öko- Spangenberg 2001), aber sie haben über nomistische Rationalitätsillusion in die Jahre die Umsetzung von Nachhaltig- Auswahl politischer Instrumente einge- keitspolitik be- wenn nicht sogar ver- führt (Bevorzugung ökonomischer Ins- hindert. trumente und freiwilliger Vereinbarun- Reichtum ist in Zeiten des finanz- gen wegen deren vorgeblich besserer markt-getriebenen Kapitalismus (deut- Effizienz), und die Vorstellung eindeu- lich sichtbar schon vor dem Platzen der tig optimaler Lösungen und Zustände dot.com Blase) zumindest unter den etabliert. Wer an solche wohlfahrtsöko- Eliten zu einem Gut an sich geworden nomisch kalkulierten Optima glaubt, (die Prioritäten der Bevölkerung sind der ist idealtypisch auch bei umstritte- andere), er bedarf weder in seiner Ent- nen Entscheidungen exkulpiert und der stehung noch in seiner Verwendung ei- Kritik enthoben, denn seine/ihre Ent- ner legitimierenden Begründung. scheidungen sind nach eigener Wahr- Wenn aber Vermögen per se als Tu- nehmung lediglich die Exekution von gend gilt, und die Bemühungen zu seiner Sachzwängen. Folgenverantwortung be- Anhäufung als in sich selbst gerechtfer- schränkt sich dann auf das Management tigtes weil tugendhaftes Verhalten, dann der unvermeidlichen Kollateralschäden. gewinnt sozial-ökologisch rücksichtslo- Soweit der neoklassisch – ökono- ses Verhalten Priorität gegenüber Alter- mische Diskurs den Glauben nicht nur nativen, die sich durch Wertebezug erst in die Effizienz der real existierenden rechtfertigen müssen. Die Gültigkeit Märkte gestärkt hat (eine inzwischen ohne Rechtfertigungsbedarf ist Charak- empirisch wie theoretisch ad absur- teristikum sozialer Normen, und als sol- dum geführte Fiktion) sondern ihnen che ist die Orientierung auf individuelle auch richtungsweisende Rolle zuge- Leistung, Wettbewerb und einen Erfolg, billigt hat, wurden ethische, politische der nicht sozial kontextualisiert ist son- und andere Wertkriterien in den Hin- dern monetär gemessenen werden und tergrund gedrängt. Die Vertreter/innen auf dieser Basis soziale Anerkennung der Environmental Kuznets Curve oder einfordern kann seit drei Jahrzehnten

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 95 Joachim H. Spangenberg

Abb. 1: Geldvermehrung ist keine Priorität

Teil der Erziehung vom Kindergarten als Korrekturinstanz zur Überwindung an. Nachhaltigkeit als normatives Kon- der Schwächen des Marktes (Kurzfris- zept ist auf die Berücksichtigung ande- tigkeit, soziale wie ökologische Blind- rer Kriterien angewiesen – Konzepte des heit) fungieren würde. „business case for sustainability“ haben Der Markt ist im Idealzustand ein meist viel mit »business« und wenig mit hoch effizienter Mechanismus zur Allo- »sustainability« zu tun (vgl. WBCSD kation von Gütern nach Kaufkraft. Wel- 2001; Springett 2005). Diese ‚Entwer- che Güter aber nach Kaufkraft über den tung aller Werte‘ ist kein Zufall son- Markt, welche nach Verdiensten (meri- dern ergibt sich direkt aus dem Selbst- torische Güter: z.B. Renten und Orden), verständnis der Ökonomik als wertfreie welche nach Staatsangehörigkeit (z.B. (aber keineswegs wertlose) Wissen- Pässe, Wahlrecht) und welche an jeden schaft, und ihrer Argumentation dass Einwohner (z.B. Steuerpflicht und Sozi- das Einbringen von Wertkriterien den alleistungen) zugeteilt werden sollen ist ökonomischen Prozess störe und damit keine ökonomische sondern eine gesell- zu verminderter Wohlfahrt führe. Der schaftspolitische Frage, z. B. in welche Markt wird damit zum Richtungsgeber der Kategorien Bildung fallen soll. Ein der Politik (prototypisch in den angel- direkter Bezug zur Wirtschafts- und Fi- sächsischen Ländern) statt dass Politik nanzkrise besteht hier insofern, als die

96 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Finanzmarktkrisen und Nachhaltigkeit

Regulationsmechanismen des Marktes ern für die Großen und eine Austeritäts- nur bei privaten, am Markt gehandel- und Sparpolitik zu Lasten der mittleren ten Gütern greifen und Gemeingüter und unteren Bevölkerungsgruppen ist. – einschließlich der Stabilität des Fi- Damit wäre kein finanzieller Spielraum nanzsystems wie der Gemeinschafts- für eine Wiederherstellung der wohl- währung Euro – außen vor lassen. Diese fahrtsstaatlichen Dienstleistungen, d.h. können nur durch kollektive Aktionen Bildung, Gesundheit, Soziales, kom- und gesellschaftliche Prozesse gemanagt munale Infrastrukturen. Diese sind werden, ein Feld das sich der neoklas- aber kein Luxus, sondern wichtige Zu- sischen Ökonomik und ihren Erwei- kunftsinvestitionen. Progressive Kräf- terungen aufgrund des vorherrschen- te dagegen versuchen, dasselbe neue den methodologischen Individualismus Wirtschaftsmodell mit einem partizipa- nicht erschließt (wohl aber der ökologi- torischen Wohlfahrtsstaat zu verbinden. schen und der traditionellen Institutio- In diesen Deutungsrahmen von Ves- nenökonomik, vgl. Ostrom (2009)). In ter lässt sich auch die gegenwärtige De- der herrschenden Lehre ist ein Schutz batte in Deutschland einordnen: die von Gemeingütern nicht vorgesehen Regierungsparteien haben ihre „ökolo- und erfolgt auch deshalb in der Praxis gische Wende“ vollzogen, bleiben aber eher zögernd. dem neoliberalen Sozialmodell verhaf- tet, während die Opposition die ökolo- Ausblick gische Modernisierung sozialstaatlich Alle genannten Initiativen, von UNEP flankieren will. Beide setzen dabei auf bis OECD, spiegeln eine Neuorientie- ein neues, öko-technisches Wachstums- rung der fortschrittsorientierten Teile modell. der Wirtschaft (im Konflikt mit ande- Diese Wende der politischen De- ren Gruppen). Der Politikwissenschaft- batte eröffnet sicherlich neue Optionen ler Michael Vester hält die Schlacht für für eine nachhaltigkeitsorientierte Zu- entschieden (Vester 2011). Knapp zu- kunftsgestaltung, und viele der in Dis- sammengefasst besagt seine markante kussion befindlichen Einzelmaßnah- Analyse, dass das finanzmarkt-getrie- men (aber bei weitem nicht alle) sind als bene neoliberale Wachstumsmodell an ökologischer Fortschritt zu begrüßen. seine Grenzen gekommen ist und durch Die Gefahr besteht darin, sich ökolo- ein neues öko-technisches Modell ab- gisch mit dem Erreichten zufrieden zu gelöst wird, das den entsprechenden geben und das Hauptproblem im Streit Fraktionen des Kapitals expandieren- über das mit der ökologischen Moder- de Verdienstmöglichkeiten bieten und nisierung zu verbindende Sozialmodell damit neue jahrzehntelange Welle des zu sehen. Hier steht ein nachhaltigkeits- Wirtschaftswachstums einleiten könnte orientierter Ansatz sicherlich auf Seiten und sollte. Die konservative Seite möch- eines Wohlfahrtsstaats und der Armuts- te das neue Wachstumsmodell mit dem bekämpfung (das erste Kernelement der alten neoliberalen Sozialmodell verbin- Nachhaltigkeitsdefinition). den, dessen Kern die Senkung der Steu-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 97 Joachim H. Spangenberg

Dabei darf aber die zweite Bedin- Literatur gung nicht vergessen werden: Das Ak- Arnsperger, C. and Varoufakis, Y. (2006). zeptieren von Grenzen, das eben nicht What is neoclassical economics?, in: zum neuen öko-technischen Wachs- post-autistic economic review (38): tumsmodell gehört (UNEP erwartet 2–12. bis 2050 15 Prozent mehr Wirtschafts- Beckermann, W. (1992). Economic growth wachstum für eine Green Economy als and the environment: whose growth ? für das Fortführen des gegenwärtigen Whose environment ?, in: World Deve- Modells). Insofern repräsentiert die lopment 20: 481–496. ökologische Modernisierung und hier Blühdorn, I. (2007). Sustaining the Unsusta- insbesondere die Green Growth Strategy inable: Symbolic Politics and the Politics der OECD (OECD 2011) eine nur un- of Simulation, in: Environmental Poli- vollständige Wende hin zu einer nach- tics 2007(2): 7–34. haltigen Wirtschaftsweise, denn es blei- Bundesregierung (2011). Fortschrittsbericht ben zwei wesentlichen Probleme dieser 2012 zur nationalen Nachhaltigkeits- Konzepte ungelöst: ihre technokrati- strategie. Entwurf. Berlin, Juni 2011: sche Ausrichtung, und die ökonomische 307 S. Ausrichtung. Beide zusammen führen Faucheux, S. and O’Connor, M. (1998). Va- dazu, dass Grenzen des Wirtschaftens luation for Sustainable Development: kein Thema sind, und zu der Hoffnung, Methods and Policy Indicators. Chel- dass durch technische Mittel auch bei tenham, Edward Elgar. unbegrenztem Wachstum die Grenzen Fischer-Kowalski, M. and Amann, C. der Naturnutzung eingehalten werden (2001). Beyond IPAT and Kuznets könnten. Erst wenn (nach der Entschei- Curves: Globalization as a vital factor in dung für ein partizipatives Wohlfahrts- Analysing the Environmental Impact of staatsmodell) auch in diesem Punkt Socio-Economic Metabolism, in: Popu- ein realitätsgerechtes Umdenken den lation and Environment 23(1): 7–47. »Warenfetischismus« der Ökonomik Holden, E. and Linnerud, K. (2007). The (Kosoy, Corbera 2010) ablöst und die Sustainable Development Area: Grenzen des Wachstums inhärenter Satisfying basic needs and safeguarding Bestandteil der ökonomischen Theo- ecological sustainability, in: Sustainable rie und Praxis werden können wir von Development 15(3): 174–187. einer Nachhaltigkeitsorientierung des Kemp, R., and Martens, P. (2007). Sustaina- Wirtschaftens reden. ble Development: how to manage some- thing that is subjective and can never be achieved?, in: Sustainability: Science, Practice, Policy 3(2): 5–14. Kopfmüller, J., Brandl, Volker, Jörissen, Ju- liane, Paetau, Michael, Banse, Gerhard, Coenen, Reinhard, Grunwald, Armin (2001). Nachhaltige Entwicklung integ- rativ betrachtet. Berlin, edition sigma.

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100 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Eckart Kuhlwein Die SPD und die Nachhaltigkeit

I. mühen um Nachhaltigkeit als Orien- „Angesichts der Herausforderungen tierung für politisches Handeln und des 21. Jahrhunderts, angesichts von politische Programme ist bis heute in Globalisierung und ökologischer Krise der Sozialdemokratie nur wenig erkenn- betrachten wir Nachhaltigkeit als das bar. Die Partei setzt – wie die anderen einzig verantwortbare Grundprinzip auch – auf Wachstum. Immerhin wur- politischen und wirtschaftlichen Han- de als Triebkraft für die Entwicklung das delns. Das Prinzip Nachhaltigkeit be- „qualitative“ Wachstum festgelegt. deutet: von der Zukunft her denken; „Lebensqualität ist mehr als die dem Primat der Kurzfristigkeit wider- Jagd nach materiellem Wohlstand. Die stehen und ebenso der Do­minanz des Menschen verlangen intakte Gemein- Ökonomischen, der rein betriebswirt- schaften, in denen es friedlich und schaftlichen Logik; von der Idee der solidarisch zugeht, in denen gleiche Gesellschaft her die Politik konzipieren Chancen und Rechte gelten, auch zwi- und demokratische Vielfalt, ökologische schen den Geschlechtern. Die Men- Dauerhaftigkeit, soziale Integration und schen suchen Anerkennung, das Ge- kulturelle Teilhabe als Leitideen sozial- fühl, gebraucht zu werden, nicht nur demokratischer Politik verstehen. Un- im Beruf. Sie leben in und von den ser Verständnis von Fortschritt im 21. Beziehungen in der Familie, zu Part- Jahrhundert verlangt die Verbindung­ nern, Kindern und Freunden. Dazu von sozialer, ökonomischer und öko- brauchen sie Zeit. Wirklich reich sind logischer Verantwortung: Sie zielt auf Menschen nur in einer Gesellschaft,­ qualitatives Wachstum und Verbesse- die ihnen mehr selbstbestimmte und rung der Lebensqualität, Erweiterung freie Zeit gibt. Ein Leben ausschließlich von Lebensmöglichkeiten und indivi- nach der Stoppuhr, im Rhythmus pau- dueller Freiheit durch Gestaltung der senloser Verfügbarkeit, steht dazu im Technik, wissenschaftlichen Fortschritt Widerspruch.“ und verantwortlichen Umgang mit den Auch das steht im Hamburger begrenzten natürlichen Ressourcen Grundsatzprogramm. Das ist nicht und den unbegrenzten Möglichkeiten als Ausstieg aus der Industriegesell- menschlicher Kreativität.“ schaft gemeint. Es knüpft vielmehr an So steht es im Grundsatzprogramm, die Diskussion der 70er Jahre an, etwa das sich die SPD auf ihrem Hamburger an den Oberhausener Kongress der IG Parteitag 2007 gegeben hat. Das hätte Metall 1972, wo der Begriff der „Le- der Startschuss für einen Paradigmen- bensqualität“ diskutiert wurde. Da- wechsel werden können. Aber das Be- mals wurde erstmals deutlich, dass die

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 101 Eckart Kuhlwein herkömmlichen Wohlstandsmaße wie alökologischen Umbau und vor allem das Bruttosozialprodukt nur wenig für eine erfolgreiche Energiewende ist, über das „Wohl“ oder die „Wohlfahrt“ darf wohl differenziert werden, wel- einer Gesellschaft aussagen konnte. che Branchen noch wachsen sollen Dazu referierten damals u.a. Olof Pal- und welche nicht. Das stand so schon me, Erhard Eppler, Johan Galtung und im Berliner Grundsatzprogramm von Anthony Wedgwood Benn. Nach der 1989. Früher nannten wir das „Arbeit ersten Ölpreiskrise 1973 gerieten sol- und Umwelt“. Dass die Atomindust- che Überlegungen bald wieder in Ver- rie nicht mehr wachsen soll, darin sind gessenheit. Quantitatives Wirtschafts- wir uns inzwischen fast alle einig. Dass wachstum sollte wieder Beschäftigung die CO2-Emissionen nicht mehr wach- und internationale Wettbewerbsfähig- sen dürfen, leugnen nur noch einige keit sichern. Zu Anfang des 21. Jahr- Unbelehrbare. Dass die Massentierhal- hunderts gab es dann – auch in der tung Böden und Grundwasser schadet, SPD – sogar Propheten, die auf ver- wissen nicht nur die Vertreter von Bio- längerte Wochenarbeitszeiten setzten. land. Und dass die große Mehrheit der Und neuerdings ist wieder von der Deutschen kein Genfood essen will, ist Hauptkompetenz der SPD für die „In- eine begrüßenswerte Tatsache. Dass der dustriepolitik“ die Rede. ökologische Umbau der Industriegesell- schaft – vor allem die Energiewende – II. Millionen von Arbeitsplätzen sichern Das „alte Denken“ hat noch nicht aus- oder schaffen, hat sich auch bei Dr. Lies- gedient. Der Spiegel-Autor Alexander chen Müller herumgesprochen. Aber Neubacher empfahl der SPD erst vor manche ungerufenen Berater der SPD, kurzen, die „Ökos“ aus der Partei raus- wie etwa Forsa-Chef Manfred Güllner, zuschmeißen. Michael Müller, der Vor- wollen das alles nicht wahrhaben. sitzende der deutschen NaturFreun- Dabei hören inzwischen die Völker de und frühere Umwelt-Staatssekretär die Signale: Der Klimawandel und die wurde als „Verzichtsideologe“ gebrand- Verknappung und zunehmende Beein- markt. Dafür wurden der Partei Gen- trächtigung der natürlichen Ressour- technik, Stammzellenforschung, Na- cen, die wachsende soziale Ungleichheit notechnologie und die unterirdische in den Gesellschaften und die Finanz- Deponierung von Kohlendioxid (CCS- marktkrise erschüttern die Welt. Refor- Verfahren) empfohlen. Weniger schlicht men sind dringend erforderlich, wenn lässt sich kaum ausdrücken, wie wenig unser Globus nicht aus den Fugen ge- die Marktradikalen aus Weltfinanzkri- raten soll. In der bisherigen Form geht se und den immer deutlicher sichtba- wirtschaftliches Wachstum immer stär- ren „Grenzen des Wachstums“ (Club of ker auf Kosten der Zukunft. Rome 1072) gelernt haben. Die Zeichen der Zeit sind nicht Bei allen berechtigten Plädoyers für mehr zu übersehen: Der Höhepunkt der eine sozialdemokratische Industriepo- Ölexploration (Peak Oil) ist erreicht. litik, die Voraussetzung für einen sozi- Die Rohstoffe für die technischen In-

102 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Die SPD und die Nachhaltigkeit novationen des 21. Jahrhunderts wer- III. den knapp. Die Chinesen sichern sich Der bisherige Weg, politische Ent- bereits landwirtschaftliche Flächen in scheidungen durch die Hoffnung auf Afrika, um ihre Milliardenbevölkerung Wachstum zu ersetzen, ist zu Ende. Die mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln Demokratie steht vor ihrer größten Be- versorgen zu können. Und der Klima- währungsprobe. Sie muss begreifen, wandel durch eine immer stärker be- dass es um eine Systemauseinanderset- lastete Atmosphäre führt bereits jetzt zu zung geht. Dann wird die Herausfor- extremen Wetterereignissen, die in vie- derung auch zu einer Chance, die De- len Regionen der Welt die Funktionsfä- mokratie zu stärken. Lösungen wird es higkeit und die Nutzung der natürlichen nämlich nur geben, wenn sich die Po- Systeme erheblich beeinträchtigen. Ob- litik aus der Geiselhaft wirtschaftlicher wohl die Begrenztheit unseres Globus Interessen löst und sie Wirtschaft und so deutlich geworden ist wie noch nie, Gesellschaft aktiv gestaltet. Im Zentrum sind nahezu alle wirtschaftlichen und steht dabei die Gerechtigkeitsfrage. politischen Programme immer noch auf hohes Wachstum ausgerichtet – von IV. der die Natur zerstörenden Ausbeutung Die Alternative zur wachstumsgetrie- von Rohstoffen und gigantischen Ver- benen Entwicklung heißt Nachhaltig- kehrsprojekten über eine klimafeind- keit. Niemand leugnet, dass die De- liche industrielle Landwirtschaft bis mokratie eine Veränderungsdynamik zur Aufblähung einer rücksichtslosen braucht, um Wirtschaft und Gesell- Eventindustrie. schaft gestalten zu können. Notwendig Ganz gleich, ob wir es wahr ha- ist jedoch eine Entwicklung, die nicht ben wollen oder nicht: Weiter auf ho- länger die Regenerationsfähigkeit der hes Wachstum zu setzen, ist ökologisch Natur und die Leistungskraft der Re- nicht möglich, ökonomisch immer we- alwirtschaft übersteigt. Die große Leit- niger machbar und reicht von daher idee der nachhaltigen Entwicklung auch nicht mehr aus, die sozialen Aufga- verbindet dauerhaft Innovationen mit ben zu bewältigen. Auch die Beschäfti- sozialer Gerechtigkeit und ökologischer gungsfrage kann mit Wachstum immer Verträglichkeit. Sie beendet den Wachs- weniger beantwortet werden. Die Glei- tumszwang und hebt die wirtschaftliche chung früherer Jahrzehnte, dass Wachs- Entwicklung auf eine sozial und ökolo- tum „Fortschritt“ bedeute, ist nicht gisch verträgliche Ebene. mehr haltbar. Die Vorstellung von ei- Die wichtigste Aufgabe ist, zu einer nem grenzenlosen Wachstum entstand nachhaltigen Entwicklung zu kommen. in einer Welt, die schon lange nicht Produktion und Dienstleistungen müs- mehr existiert. Wir sind auf dem Weg, sen in den Grenzen des Substanzerhalts die Zukunft der nachfolgenden Genera- wachsen, nicht nachhaltige Produkte, tionen schon heute zu verbrauchen. Technologien und Angebote müssen schnell und sozialverträglich schrump- fen.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 103 Eckart Kuhlwein

Die Grenzen des traditionellen VI. Wachstumsmodells in unserem Wirt- Hierin liegt die eigentliche Ursache für schaftssystem sind seit den 70er Jah- die heutigen Krisen. Auf dem zweiten ren des vorigen Jahrhunderts erreicht, Umweltgipfel im Juni 2012 in Rio wurde in einigen Bereichen sind sie bereits noch der dramatische Zustand der Erde überschritten. Die Ausbeutung der na- beklagt, wenige Tage später beschäftig- türlichen Ressourcen wie Atmosphä- te sich der EU-Gipfel mit der Frage, wie re, Boden, Wasser, biologische Vielfalt wir zu altem Wachstum zurückkom- und vieler Rohstoffe lässt sich nicht men. Der Widerspruch wird einfach ver- mehr ohne gravierende Folgen für die drängt. Die Konzentration auf die Euro- Menschheit fortsetzen Der Verlust von krise verstellt den Blick auf die radikal Arten und die Beeinträchtigung der veränderte Realität. Tatsächlich haben Funktionsfähigkeit der Ökosysteme, die wir es, wie es bereits im Brundtland-Be- Knappheit von Öl und Rohstoffen wird richt von 1987 steht, mit einer „unglei- zur großen Herausforderung der nächs- chen, überbevölkerten, verschmutzten ten Jahre. Deshalb müssen durch ei- und störanfälligen Welt“ zu tun, auf der nen Umbau aller Volkswirtschaften die es nicht so weitergehen kann wie bisher. nicht zukunftsfähigen Produkte, Ver- Gerade, weil die SPD eine Partei des fahren und Strukturen durch nachhalti- Fortschritts ist, darf sie diese Herausfor- ge ersetzt werden. derungen, die eng verbunden sind mit der Neuordnung der Welt, nicht länger V. verdrängen. Deshalb sollte für das Re- Es geht nicht um die vordergründige gierungsprogramm für die Jahre 2013– Frage nach Wachstum ja oder nein. Wir 2017 die Kernbotschaft das Umsteuern haben es mit einer radikal veränderten in eine nachhaltige Entwicklung sein. Welt zu tun, in der die alten Antwor- Meinetwegen eine „ökologische Indus- ten nicht mehr stimmen. Erstmals be- triepolitik“, sie sie Sigmar Gabriel 2007 stimmt die Menschheit den Fortgang formuliert hat. Oder noch besser: Eine der natürlichen Systeme. Wir leben im nachhaltige Wirtschaftspolitik. Anthropozän, wie der Vorsitzende der NaturFreunde Deutschlands, Michael VII. Müller, unter Berufung auf den Nobel- Dazu könnten folgende Schritte gehö- preisträger Paul Crutzen geschrieben ren: hat. In der „postwestlichen Welt“ verla- • Wir stellen in der Wirtschaftspolitik gert sich die politische und wirtschaft- eine Effizienzrevolution bei Energie liche Entwicklung nach Asien. Europa und Ressourcen und den vollstän- droht massiv an Bedeutung zu verlieren. digen Umstieg der Energieversor- Ökologische, soziale und ökonomische gung in Erneuerbare Energien und Grenzen tun sich auf. der Rohstoffnutzung in eine Kreis- laufwirtschaft in den Mittelpunkt. Dafür wollen wir die erforderlichen Technologien fördern. Der Natur-

104 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Die SPD und die Nachhaltigkeit

verbrauch wird jedoch nicht allein • Wir setzen uns im Sinne von „guter durch eine “Green Economy“ ge- Arbeit“ für eine moderne Arbeits- stoppt. Wir treten deshalb auch für zeitpolitik ein, die Selbstbestim- neue Formen einer genügsamen Le- mung und Flexibilität fördert sowie bens- und Wirtschaftsqualität jen- durch Arbeitszeitverkürzung mehr seits materieller Maßstäbe ein (Suffi- Menschen in Beschäftigung bringt. zienz). Das stellt die Verteilungs- und Auch ehrenamtliche und gesell- Gestaltungsfrage viel radikaler als schaftlich notwendige Arbeit jen- bisher. Die SPD muss sich erneut als seits der Erwerbsarbeit müssen wir Partei der Gerechtigkeit profilieren. fördern. Die Umorientierung der • Wir arbeiten für eine gerechte Ver- Besteuerung vom Faktor Arbeit auf teilung von Einkommen und Chan- den Energie- und Ressourceneinsatz cen. Wir werden deshalb in der Steu- erweitert hierfür den finanziellen erpolitik zwischen notwendigen Spielraum. Und sie schafft mehr Be- und konsumistischen Bedürfnissen schäftigung, weil sie Wettbewerbs- unterscheiden, die steuerlich durch vorteile über den Schutz der natürli- einen dritten Mehrwertsteuersatz chen Lebensgrundlagen erreicht. erheblich zu verteuern sind. Ökolo- • Wir streben eine Produktion von gische Produkte sollen dagegen ei- gesunden Nahrungsmitteln mit Re- nen niedrigeren Mehrwertsteuersatz spekt vor natürlichem Leben von bekommen. Ein Grenzsteuerwert- Tieren, mit Achtung und Schutz von ausgleich, der die Einfuhr sozial und Artenvielfalt und Lebensräumen der ökologisch problematischer Produk- Natur um ihrer selbst Willen – also te mit einer Abgabe belegt, schützt ohne Manipulation der Natur aus- gegen Umwelt- und Sozialdumping. schließlich zum Nutzen der Men- Zudem brauchen wir ein Gesetz für schen an. Wir wollen deshalb auch einen nachhaltigen Wettbewerb, das die Agrar- und Fischereipolitik der die Verlagerung von Kosten auf die EU in diesem Sinne reformieren. Allgemeinheit und die Natur (Exter- • Wir setzen uns für eine Regulierung nalisierung) beendet. der Finanzmärkte ein, damit Geld • Wir setzen uns für eine Stärkung dient und nicht herrscht. Der „zwei- und angemessene Bereitstellung öf- te Finanzmarkt“, der von den Inter- fentlicher Güter durch den Staat ein, essen der Gläubiger bestimmt und wie das in einer modernen Gesell- die Regierungen unter Druck setzt, schaft erforderlich ist. Die Gemein- muss beseitigt werden. Dafür müs- güter dürfen nicht länger privatisiert sen spekulative Anlageformen zu- und ausgezehrt werden. Stattdes- rückgedrängt, mehr Transparenz sen wollen wir die Steuerbasis ver- und Kontrolle geschaffen, die Off- breitern, hohe Einkommen und Shore-Zentren verboten und Finanz- Vermögen stärker besteuern und transaktionen besteuert werden. ökologisch wie sozial widersinnige • Wir wollen die EU zu einer Nach- Subventionen beenden. haltigkeits- und Innovationsunion

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 105 Eckart Kuhlwein

weiter entwickeln, damit Europa gentumsrechte der Allmende eine zum Motor des sozialökologischen Nachhaltigkeitsverpflichtung be- Umbaus wird. Dadurch wird auch kommen. Die reichen Länder müs- eine gemeinsame europäische Iden- sen in einen globalen Fonds einzah- tität geschaffen. Und die EU wird in len, um das Naturkapital zu schützen. der Globalisierung zu einem Vor- Ebenso muss die Spekulation um reiter für ein Wirtschafts- und Ge- Energie, Rohstoffe und Ernährung sellschaftsmodell, das mit der Trag- sofort beendet werden. fähigkeit der Erde vereinbar ist. Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie von Göteborg 2001 muss in den Mittel- VIII. punkt unserer Europa-Politik ge- Ich bin skeptisch, ob wir es schaffen, stellt werden. diese Vorhaben im Regierungspro- • Wir wollen eine weltweite Agentur für gramm der SPD 2013-2017 zu veran- die Nutzung der Brenn- und Rohstof- kern. Günter Grass hat zu Recht ein- fe und der Nahrungsgrundlagen bei mal geschrieben, der Fortschritt sei eine den Vereinten Nationen ansiedeln Schnecke. Aber wir sollten die 150-jäh- und den Rat für Nachhaltigkeit zu rige Arbeiterpartei daran erinnern, dass einem ständigen Rat der UNO mit für den Umbau der Gesellschaft nicht wirksamen Rechten erweitern. Die- mehr viel Zeit bleibt. Einige glauben so- se Güter sind das gemeinsame Erbe gar, dass die Uhr schon heute fünf nach der Menschheit. Deshalb müssen Ei- zwölf zeigt.

106 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Nina Scheer Energiewende

Aktuelle Bestandsaufnahme aus politischer und unternehmerischer Sicht

Gerne reklamiert die schwarz-gelbe ger als um ihre Existenz. Die Atom- Bundesregierung, dass sie die Energie- technologie weltweit betreffend sogar wende beschlossen und begonnen habe. um noch mehr: Atomwaffen sind ohne Dies behauptete sie nicht erst nach Fu- das Knowhow einer parallelen zivilen kushima, sondern bereits im Zuge der Atomenergienutzung undenkbar. Es Laufzeitverlängerungen im Herbst 2010 sind zugleich über Jahrzehnte gewach- – Stichwort: Brückentechnologie. sene Interessen am Werk, um das zen- Was tatsächlich stattfindet, ist eine tralistisch gewachsene System der von Demontage von Rahmenbedingungen Monopolen geprägten herkömmlichen der sich bereits seit einem guten Jahr- Energiewirtschaft aufrecht zu erhalten. zehnt in Deutschland vollziehenden In den deutschen Stromnetzen wird Energiewende. Deren Grundlage sind zunehmend der von im Kern die Anreizmechanismen des vielfach beschriebene „Systemkonflikt“ Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), deutlich. Phasenweise macht das Pho- mit dem Deutschland weltweit – mitun- tovoltaikstromangebot bereits heute die ter geläufig unter „Scheer’s law“ – Vor- fossil-atomaren Kapazitäten unrentabel. bildfunktion ausübt. Hieran erinnert Hierbei erweist sich die einst viel geprie- Bianca Jagger in ihrem Vorwort zur sene Grundlastfähigkeit von Atom- und englischen Ausgabe des letzten Buches Kohlekraftwerken mit Blick auf deren von Hermann Scheer: Der Energethi- schwere Regelbarkeit als Hemmschuh. sche Imperativ bzw. The Energy Impe- In den Händen der konventionel- rative (Kunstmann Verlag 2010). Das len Energieunternehmen steigen die EEG steht für einen Anteil von inzwi- Strompreise, unabhängig von der EEG- schen über 20 % am deutschen Brutto- Umlage. Erhöhungen, die auf die EEG- stromverbrauch. 50 Staaten schufen bis Umlage zurückzuführen sind, stehen heute in Orientierung am EEG Einspei- hingegen in erster Linie für die Ent- segesetze. wicklung der Erneuerbare-Energien- Dieser revolutionäre Ausbau Er- Technologien und installierte Leistung neuerbarer Energien ruft selbstredend aus Erneuerbaren Energien. Eine An- die fossil-atomare Energiewirtschaft passung der Vergütungssätze an die sin- auf den Plan: es geht um nicht weni- kenden Herstellungskosten Erneuerba-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 107 Nina Scheer rer-Energien-Technologien bleibt dabei genossenschaften. Die mit der dezent- eine fortwährende Aufgabe, die aller- ralen Energienutzung einhergehenden dings von der schwarz-gelben Bundes- demokratisierenden Effekte stärken zu- regierung dazu missbraucht wird, den dem den sozialen Zusammenhalt der sich zunehmend dezentral vollziehen- Gesellschaft, wie dies etwa die immer den Ausbau regenerativer Energiege- mehr werdenden 100 %-Kommunen winnung auszubremsen. zeigen. Akzeptanz für Veränderungen Eine heute vordringlich den An- entsteht dabei durch eine gestalterisch forderungskatalog der Energiewende einbezogene und aktive Gesellschaft. definierende Aufgabe liegt darin, fos- Je mehr eine Orientierung an der sil-atomaren Strom durch zumeist fluk- die Energiewende bislang umsetzenden tuierende (Wind- und Sonnenenergie) Akteursvielfalt vorgenommen wird, des- und aufeinander abgestimmte regene- to klarer werden die hieraus abzuleiten- rative Kapazitäten zu ersetzen. Politisch den politischen Handlungsanforderun- betrachtet erfordert dies Anreize für ein gen. Der Versuch, die Energiewende in entsprechendes Netzmanagement, mit und mit den Strukturen der fossil-ato- dem die vorhandenen Netzkapazitäten maren Energiewirtschaft, mithin zen- durch zeitlich gestreckte Einspeisung tralisiert und mit dem Fokus auf Off- regenerativ gewonnenen Stroms ausge- shore-Kapazitäten, vorzunehmen, lässt schöpft werden. Und es erfordert Anrei- in Deutschland hingegen einen verzö- ze für die Verwendung von Speichern, gerten weiteren Ausbau regenerativer die eine zeitliche Streckung regenerativ Energien erwarten. Sowohl die techni- gewonnener Kapazitäten gewährleisten. schen Schwierigkeiten des Anlagenbaus auf hoher See als auch die für entspre- Wirtschaftsmotor Energiewende chende Kapazitäten benötigten Stromt- Die Erneuerbaren-Energien-Branchen rassen und Anschlüsse stehen für einen stellen heute mehr als 385.000 Arbeits- verzögerten und sich verteuernden Aus- plätze. Regionale Wirtschaftskreisläufe bau regenerativer Kapazitäten, zumal werden angekurbelt und Finanzierungs- der Ausbau hier von dem Tätigwerden instrumente geschaffen. Die Kosten zur weniger großer Unternehmen, unter ih- Herstellung von Solarstromanlagen hal- nen den Übertragungsnetzbetreibern, bierten sich über die letzten drei Jahre. abhängt. Vor dem Hintergrund unaus- Mit dieser Entwicklung wächst zugleich weichlich steigender Preise für Energie das Bewusstsein für die Energiewende aus herkömmlichen Energieträgern liegt und deren Handlungserfordernisse. Ein aber gerade in der beschleunigten Ener- auf diesem Weg wachsendes Bewusst- giewende deren sowohl ökonomische als sein bietet wiederum die Grundlage für auch ökologische Chance. neue Impulse in den Bereichen techno- logischer Innovationen und Investitio- Kosten der Energiewende nen. So gründeten sich in Deutschland Sowohl die EEG-Umlagebefreiung für etwa im letzten Jahr allein 150 der heute energieintensive Unternehmen, als auch bereits über 450 existierenden Energie- Befreiungen von der Ökosteuer, die sich

108 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Energiewende allein auf fünf Milliarden staatliche Min- tergegeben wurden. Im Rahmen der dereinnahmen belaufen, steuern auf Diskussion um die Kosten der Energie- eine ungerechte Verteilung der Kosten wende dient dennoch fast ausschließ- zu, die pauschal und fälschlicherwei- lich die EEG-Umlage als Argumentati- se der Energiewende zugerechnet wer- onsgrundlage für zu hohe, sozial nicht den. Gäbe es keine EEG-Umlagebefrei- mehr tragbare Kosten der Energiewen- ung, fiele die heute noch bei 3,59 Cent je de. Dabei wird offenkundig das Ziel ver- kWh liegende EEG-Umlage um 0,9 Cent folgt, das EEG durch andere Mechanis- niedriger aus. Stromverbraucher, aber men zu ersetzen, von denen die heute auch kleine und mittelständische Unter- noch dominierenden fossil-atomaren nehmen, die nicht von der EEG-Umla- Marktteilnehmer mit höheren und da- ge befreit sind, deren Energieverbrauch mit zugleich länger gewährleisteten Ge- aber dennoch zu spürbaren betriebli- winnen profitierten. Ein solcher Mecha- chen Mehrkosten führt, haben diese nismus wäre der Ersatz des EEG durch Umverteilung zu tragen. Energieintensi- ein Quotenmodell, das feste Obergren- ve Unternehmen, die von der EEG-Um- zen für Vergütungen bzw. Fördersätze lage weitestgehend befreit sind, müssen und vorrangige Einspeisung regenera- dabei nicht darlegen, dem Preisdruck tiver Energien beinhaltete. Unter dem des internationalen Wettbewerbs ausge- Vorwand besserer Plan- und Berechen- setzt zu sein oder ihrerseits einen Beitrag barkeit nach dem inzwischen verbreitet an der Energiewende zu leisten. In der erwünschten „Augenmaß“, mit dem Er- öffentlichen Diskussion um die Kosten neuerbare Energien auszubauen seien, der Energiewende unterbleibt dennoch wäre hiermit eine Art Abnahme- und häufig, die Zweckmäßigkeit der EEG- Rentabilitätsgewährleistung für inso- Umlagebefreiung zu hinterfragen. weit berechenbare fossil-atomare Kraft- Darüber hinaus unterlässt man es, werkskapazitäten implementiert. die Kosten der Energiewende in ein Ver- Die von der Bundesregierung „im hältnis zu den Einspareffekten zu setzen, Schatten des Atomausstiegs“ an die kon- die der Ausbau Erneuerbarer Energien ventionelle Energiewirtschaft delegierte mit sich bringt. Der deutschlandwei- Energiewende dient als bestandsschüt- te Ausbau regenerativer Energien steht zender Ersatz für die einst beschiede- im Jahr 2011 für neun Milliarden ein- ne und dann wieder zurückgenomme- gesparte Rohstoffimportkosten und elf ne Laufzeitverlängerung. Damit wird Milliarden eingesparte externe Kosten, weder die technologische Vielfalt der die anderweitig durch den Verbrauch Erneuerbaren Energien fortentwickelt fossiler Energieträger entstanden wären. noch das Akteurs- und Akzeptanzpo- Perspektivisch steht die fortwähren- tenzial der Gesellschaft aufgegriffen. de Abhängigkeit von fossil-atomaren Die Energiewende und auch die Energie Energieträgern für immer weiter stei- werden hierdurch teurer. gende Energiekosten. Zu beobachten ist darüber hinaus aber auch, dass Ein- sparungen nicht an den Kunden wei-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 109 Nina Scheer

Worauf kommt es bei der fortgesetzten den nun anstehenden Marktintegra- Energiewende an? tionsbedarf auszurichten: auf Spei- Die Verzögerungssystematik der kon- chertechnologien, die eine Entlastung ventionellen Energiewirtschaft sollte der Netze ermöglichen und auf Netz- von der Politik als Aufforderung ver- einspeisemanagement, das Anreize standen werden, unmissverständliche für phasenverschobene Einspeisun- Weichen für den direktesten Weg zur gen schafft. In Orientierung an dem fortgesetzten Energiewende zu stellen, bislang von Akteursvielfalt geprägten statt mit ihr strukturell veranlagte Maß- Ausbau Erneuerbarer Energien setzt nahmen zu umgehen, wie dies etwa in sich die Energiewende vor Ort und in Gestalt der Ende März 2012 verabschie- den Regionen der Energiegewinnung deten EEG-Änderungen geschah. Die mit dem gewachsenen Anforderungs- hier vorgenommenen kurzfristigen Ein- profil fort, das von einer Gemeinschaft malkürzungen für Photovoltaikvergü- aus Bürgern, Genossenschaften, weite- tungen von bis zu 30 % und die zunächst rer Verbünde, Kommunen und ihren angekündigte Verordnungsermächti- Stadtwerken aufgegriffen wird. Mit der gung, die in Verbindung mit einem so- bewährten Systematik des EEG wären genannten Ausbau-Zielkorridor eine Speicherboni das Schlüsselelement für Deckelung bzw. einen gegenüber den diese Entwicklung. Sie bieten Anreize Vorjahren drastisch reduzierten Photo- zur Entwicklung bzw. technologischen voltaikausbau bezweckte, zeigten, dass Optimierung und den bereits heute die Bundesregierung die Energiewende möglichen Einsatz von Speichern (u.a. nicht als Gemeinschaftswerk betrachtet. Natrium-Schwefel-Akkumulatoren, Sie handelt dabei offenkundig nach der Druckluftspeicher, Bleiakkumulatoren, Devise: „Der fossil-atomare Kraftwerk- Elektrolyse, „Power to Gas“, vereinzelt spark muss sich weiter lohnen“. Noch Pumpspeicherkraftwerke usw.) zur pha- mehr Erneuerbare Energien als der be- senverschobenen Einspeisung. Einen reits gut 20 %-Anteil im Stromnetz und ebenso wichtigen Beitrag leisten dabei „zu viel“ dezentral erzeugter Solarstrom solche Wechselrichter, die ebenfalls für bedeuten hingegen, dass die Netzbetrei- phasenverschoben nutzbare Netzkapa- ber in die Umrüstung der Netze inves- zitäten sorgen. tieren müss(t)en und der fossil-atomare Von diesen Entwicklungen ablen- Großkraftwerkspark unrentabel wird. kende Maßnahmen, u.a. die EEG-Um- Vor dem Hintergrund von Ressour- lagebefreiung für energieintensive Un- cenverknappung und Klimawandel ternehmen, die Marktprämie und das gilt es verstärkt Beschleunigungsfakto- Marktintegrationsmodell gilt es zurück ren zu ermitteln. Jeder zeitliche Verlust zu nehmen; sie leisten keinen Beitrag zur wirkt sich sowohl ökologisch als auch fortgesetzten Energiewende. Auch die ökonomisch und somit immer zugleich verstärkte Förderung von Offshore mit auch sozial nachteilig aus. entsprechenden Übertragungsnetzen in Insofern ist es dringend gebo- den Süden der Republik festigt zentralis- ten, die Anreizmechanismen auf eben tische Strukturen, statt diese auf den sich

110 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Energiewende dezentral vollziehenden Ausbau regene- menschlichen Gesundheit unausweich- rativer Kapazitäten anzupassen. lich. In Frage steht allerdings, wann, un- Anders als verbreitet gemutmaßt, ist ter wessen Beteiligung und damit auch die Energiewende allerdings dennoch zu wessen Nutzen sie vollzogen wird. nicht gefährdet. Denn sie ist volkswirt- Jede Verzögerung ist ein nur kurzfristi- schaftlich, vor dem Hintergrund von ger Gewinn für die fossil-atomare Ener- fossiler Ressourcenverknappung, dem giewirtschaft, schadet der Allgemeinheit Klimawandel und den mit der fossilen und nicht zuletzt unserer Demokratie: Ressourcengewinnung einhergehen- Die Energiewende bedarf rahmenset- den Umweltschäden- und gefährdun- zender Orientierung und nicht eines gen und damit auch zum Schutz der fremdbestimmten Diktats.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 111 Beiträge und Diskussionen

Ridvan Ciftci Der Staat als Einheit von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft

Zum 75. Todestag von Antonio Gramsci

I. Einleitung men – besonders nach 75 vergangenen Am 27. April 1937 verstarb der italieni- Jahren – die Frage nach der methodi- sche Marxist und langjährige Spitzen- schen Herangehensweise einer kriti- funktionär der Kommunistischen Par- schen Lektüre seiner Schriften und der tei Italiens (PCI) Antonio Gramsci im Aktualität seines Denkens. Wie es Det- Alter von nur 46 Jahren nach schwerer lev Albers in seiner Abhandlung über Krankheit in der römischen Klinik Qui- Gramsci und Otto Bauer formulierte, sisana. In diesem Jahr jährt sich zum 75. muss dabei stets die Bereitschaft beste- Mal der Todestag Gramscis – Grund ge- hen, „den historisch-gesellschaftlichen nug, um sich mit dem kritischen Den- Kontext einer bestimmten Aussage, ei- ken des vielleicht hervorragendsten und nes Begriffs, einer strategischen Leitlinie wichtigsten Theoretikers der Zwischen- zur Kenntnis zu nehmen“ und vor allem kriegszeit auseinanderzusetzen. Seine für die heutige politische Praxis nach politischen Reflexionen kreisten haupt- dem „theoretische[n] Ertrag, der Größe sächlich, wie dies auch bei vielen Links- und den Grenzen ihrer Verallgemeine- sozialisten und Reformkommunisten rungsfähigkeit“ zu fragen. Dies ist und seiner Zeit gewesen war, um die The- bleibt die Maxime nicht nur der kriti- men: erfolgreiche Revolution im Osten schen Gramsci-Lektüre, sondern jeder und Niederlagen der Arbeiterbewegung Lektüre, die „verschüttete“, marxistische im Westen; Analyse des Faschismus Theorie rekonstruiert und aktualisiert.2 und antifaschistischer Kampf; Entwick- Seit einigen Jahren ist eine neue lung eines spezifischen Weges zum So- Gramsci-Renaissance in der Bun- zialismus im Westen und die hierbei ungeklärte Rolle des Staates, der Zivil- gesellschaft, der Hegemonie und des 1 Ebd., S. 17. 1 Konsens. Zwangsläufig stellt sich bei 2 Vgl. Detlev Albers: Versuch über Otto Bauer all diesen aufgeworfenen Schlüsselthe- und Antonio Gramsci. Berlin 1983, S. 14.

112 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen desrepublik zu beobachten, die sich lung im Registeramt der Stadt Ghilarza schwerpunktmäßig mit dem staats- finden. 1898 zogen die Gramscis nach theoretischen Konzept aus den „Ge- einem langen Aufenthalt in Sorgono fängnisheften“ und der akademischen endgültig nach Ghilarza um. Im selben Gramsci-Rezeption der 70er Jahre un- Jahr wurde der Vater Opfer eines poli- ter Louis Althusser und Nicos Poulant- tisch-motivierten Prozesses: Francesco zas beschäftigt. In einigen Aufsätzen Gramsci wurden Unterschlagung im sind wieder vermehrte Rückgriffe auf Amt, Erpressung und Urkundenfäl- das gramscianische Hegemoniekon- schung vorgeworfen.4 Trotz Gering- zept festzustellen und Schlüsselbegriffe fügigkeit der unterschlagenen Summe seiner politischen Theorie wie „Bünd- lautete das Urteil fünf Jahre Haft. Die- nispolitik“ und „Blockbildung“ sind in ses Urteil und die Umstände des Prozes- Anbetracht einer pluralen Linken in der ses müssen im Kontext der politischen Bundesrepublik anzutreffen.3 Grams- Verhältnisse im damaligen Sardinien ci ist in den Köpfen vieler, er wird dis- betrachtet werden. Sardinien wurde kutiert und seine antiökonomischen politisch durch Familienclans und Cli- Analysen der Politik dienen bis heute quen beherrscht, die jeden Widersacher als Werkzeug zur Erfassung der Reali- durch Anschuldigungen und Unterstel- tät und der Bildung politischer Strategi- lungen mit Hilfe der repressiven Appa- en. Im Folgenden sollen – nach einem rate aus dem Weg räumten. biografischen Einblick in das Leben Für Peppina Marcias, die Mutter des marxistischen Denkers – zentra- Antonios, war dies ein schwerer Schlag. le Begriffe der Staatstheorie Gramscis Es folgte eine Zeit bitterer Armut. Er- dargestellt und abschließend gegen- schwerend kam hinzu, dass bei Anto- wartskritisch auf ihre Übertragbarkeit nio recht früh Anzeichen einer körper- hinterfragt werden. lichen Missbildung auftraten. Während seiner Kindheit entwickelte sich ein Bu- II. Leben und Leiden eines aufrechten ckel auf dem Rücken und auf der Brust. Marxisten Auch sonst war seine Kindheit durch Der am 22. Januar 1891 in der sardi- Krankheiten gezeichnet. Antonio selbst schen Kleinstadt Ales geborene Anto- erinnerte sich an folgenden Zwischen- nio Gramsci stammt – entgegen der fall: „Als ich vier war, hatte ich einmal oft behaupteten bäuerlich-ärmlichen drei Tage lang Krämpfe und verlor soviel Herkunft – aus einer gutsituierten, Blut, daß ich völlig entkräftet war. Die sardischen Familie. Antonios Vater, Ärzte gaben mir keine Chance mehr, Francesco Gramsci, konnte nach Ab- und meine Mutter hat bis 1914 den Kin- bruch des Jurastudiums eine Anstel- dersarg und das Totenhemd aufgeho- ben, die sie schon für mein Begräbnis

3 Vgl. bspw. Benjamin Mikfeld: Auf der Suche nach dem Gemeinsamen, in: Blätter für deut- sche und internationale Politik, 2011, Heft 8, 4 Vgl. Guiseppe Fiori: Das Leben des Antonio S. 99–108. Gramsci. Berlin 1979, S. 12.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 113 Beiträge und Diskussionen gekauft hatte.“5 Peppina Marcias muss- der Gennaro, der seinen Militärdienst in te für sieben Kinder sorgen; der Jüngs- Turin absolvierte, kam in Kontakt mit te, Carlo, war bei der Verurteilung sei- der damaligen aufstrebenden sozialis- nes Vaters noch ein Säugling, Gennaro, tischen Arbeiterbewegung Norditaliens der Älteste, war ungefähr 14 Jahre und und schickte dem jungen Antonio regel- Antonio 7 Jahre alt. Durch Näharbeiten mäßig Zeitungen und Schriften.9 und einer Anstellung Gennaros konnte Nach erfolgreichem Bestehen des die Not der Familie ein wenig gelindert Gymnasiums ging Gramsci 1908 in die werden. Auch Antonio konnte nach Be- südsardische Hafenstadt Cagliari, um endigung der Grundschule eine An- sein Abitur am Liceo Dettori zu absol- stellung im Katasteramt als Bürodiener vieren. Nach Anfreundung mit seinem finden. Täglich schleppte er Akten und Italienischlehrer Raffa Garzia, der die Registerbücher für neun Lire im Mo- sardische Tageszeitung „L’Union Sarda“ nat, was damals immerhin 1 Kilo Brot leitete, verfasste Antonio mehrere klei- am Tag bedeutete. Bedingt durch sei- nere Beiträge zu lokalen Themen. Drei ne Krankheit war dieser „Aushilfsjob“ Jahre später und nach erfolgreichem Be- sehr beschwerlich und körperlich belas- stehen des Abiturs bewarb Antonio sich tend – oft weinte er nachts aufgrund der um ein Stipendium der Carlo-Alber- schweren Strapazen.6 Auch psychisch to-Stiftung. Die Aufnahmeprüfung be- schlug sich dies nieder: So empfand er stand er gemeinsam mit seinem späte- sich immer als „Eindringling“ und als ren Freund und Parteigenossen Palmiro Last in der Familie.7 Togliatti.10 Während seines Studiums Mit erst 15 Jahren (1906) konnte der Sprachwissenschaften in Turin be- Antonio aufgrund der finanziell schwie- schäftigte er sich näher mit den Schrif- rigen Situation seiner Familie das Gym- ten Antonio Labriolas. Labriola war der nasium zwei Jahre später als üblich be- wichtigste Vertreter des Marxismus in suchen. Innerhalb kürzester Zeit musste Italien am Ende des 19. Jahrhunderts er den Stoff von zwei Klassen aufholen, und der Begründer der Umschreibung um das dritte Gymnasialjahr erfolg- „Philosophie der Praxis“. Sein Verständ- reich zu bestehen.8 In diese Zeit fallen nis des Marxismus zeichnet sich durch auch seine ersten Kontakte mit sozialis- ein streng antiökonomisches Denken tischem Gedankengut. Sein älterer Bru- sowie einer angemessenen Skepsis ge- genüber einem positivistischen Wissen-

5 Ebd., S. 13. 6 Ebd., S. 21. 7 Ebd. 9 Ebd., S. 37. 8 Die Schulzeit auf Sardinien zu Gramscis Ju- 10 Ebd., S. 65. Palmiro Togliatti war mit Grams- gendzeit beschränkte sich auf 13 Schuljahre, ci Gründungsmitglied der Partito Comunista wovon 5 Jahre in der Grundschule, 5 Jahre am d’ Italiano (zunächst PCd’I, ab 1944 nur PCI, Gymnasium und 3 Jahre am Lyzeum absol- vgl. Frank Deppe: Politisches Denken im 20. viert wurden. (Fiori, Leben, S. 46.) Jahrhundert. Band 2. Hamburg 2003, S. 208.)

114 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen schafts- und Fortschrittsbegriff aus. 11 – ein Bündnis mit den süditalienischen Die politische Einstellung des jungen Bauern vorsah.12 Gramscis war jedoch stark vom sar- Nach dem Scheitern der Rätebewe- dischen Nationalismus geprägt. Diese gung in Italien führte die Anfangseu- Auffassung wurde sicherlich durch die phorie, ähnlich wie in anderen indus- schlechte Lage der Bevölkerung in Sar- triekapialistischen Ländern Europas, dinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnell zu innerparteilichen Zerwürf- noch verstärkt. Erst eine Welle von nissen. Der linke Flügel der PSI führte Massenstreiks der Arbeiterschaft in den die Niederlage der italienischen Arbei- Vorkriegsjahren rückte sein politisches terschaft in den „biennio rosso“-Jahren Denken immer stärker hin zum Marxis- (1919 bis September 1920) auf den At- mus. Ende 1913 trat Gramsci in die Par- tentismus der Parteiführung zurück.13 tito Socialista Italiano (PSI). Am 21. Januar 1921 gründete die abge- Aufgrund seiner Erkrankungen spaltene kommunistische Strömung die musste Gramsci 1915 sein Studium ab- Partito Comunista d’Italiano (PCd’I). brechen und begann ab 1916 regelmä- Gramsci gehörte als Gründungsmitglied ßig für die sozialistische Presse in Turin dem achtköpfigen Zentralkomitee an. zu schreiben. In dieser Zeit ordnete er 1922 geht Gramsci als Vertreter der sich dem linken Flügel der PSI zu, des- PCd’I zur Komintern nach Moskau. sen Anhänger die Ereignisse in Russ- Aufgrund seines schwachen Gesund- land der Jahre 1917 genaustens beob- heitszustandes besuchte er auf Veran- achteten. Die Barrikadenkämpfe der lassung Sinowjews zunächst eine Kur in Turiner Arbeiter vom 23.-26. August Serebray Bor. Dort lernte er auch seine 1917 führten zur Verhaftung der PSI- Frau Julia Schucht kennen. Die Macht- Leitung, wodurch Gramsci zum Sekre- ergreifung der Faschisten in Italien und tär eines provisorischen Exekutivko- die faktische Illegalität der PCd’I zwan- mitees gewählt wurde. Zusammen mit gen Gramsci Ende 1923 von Moskau Palmiro Togliatti und weiteren engen aus zur Immigration nach Wien. Von Freunden aus dem linken Flügel der PSI dort leitete er den Wiederaufbau der gründete Gramsci im Mai 1919 die Zeit- PCd’I im Exil. Bei den Wahlen 1924 schrift „L’Ordine Nuovo“. Die „L’Ordine errang Gramsci in Venedig ein Man- Nuovo-Gruppe“ diskutierte vornehm- dat und konnte infolge der gewährten lich Fragen der revolutionären Rätebe- Immunität in den Anfangsjahren der wegung. In einem im Juni 1919 erschie- mussolinischen Herrschaft nach Italien nenen Artikel, verfasst von Gramsci und zurückkehren. Ab August 1924 war er Togliatti, wird eine Arbeiterdemokratie zugleich Generalsekretär der PCd’I. nach dem Vorbild des Rätesystems ge- Am 8. November 1926 wurde fordert, die – in Anbetracht der sozialen Gramsci auf Veranlassung Mussolinis Spaltung des Landes in Nord und Süd

12 Ebd., S. 216. 11 Vgl. Frank Deppe: Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Band 2. Hamburg 2003, S. 230. 13 Ebd., S. 217.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 115 Beiträge und Diskussionen verhaftet, der kurz vorher ein Atten- und die Notwendigkeit eines Zusam- tat überlebt hatte und die Drahtzieher menbruchs des kapitalistischen Gesell- bei den Kommunisten vermutete. Das schaftssystems prophezeite, kein leich- Verfahren gegen ihn wurde am 4. Juni tes Unterfangen. Aber das Ausbleiben 1928 mit der Verurteilung zu 20 Jahren der Revolution im Westen, während sie Haft beendet. Zwei Tage vorher, am 2. im Osten gelang, und die Blamage der Juni, forderte der Staatsanwalt in seiner Marx-Orthodoxie mit ihrer modifizier- an Gramsci gerichteten Anklagerede: ten Verelendungstheorie15 und ihrem „Für die nächsten zwanzig Jahre müs- mechanistischen und ökonomistischen sen wir verhindern, daß dieses Gehirn Verständnis rückte Gramscis Denken funktioniert.“14 hin zu einem theoretischen Gegenpart Von 1926 bis 1937 saß er in den Ker- eines frischen und undogmatischen kern von Ustica, Mailand und Turin. In Marxismus, der gesellschaftliche Kräfte- dieser Zeit entstanden die 29 „Hefte aus verhältnisse im politischen System nicht dem Gefängnis“. Seine Aufzeichnungen unabhängig von den Formen des Be- beschäftigen sich mit Fragen zur Politik, wusstseins und der Ideologie betrach- Kultur und Philosophie. Leider mussten tete. In einer Aussage eines Mithäftlings diese aufgrund seines sich verschlech- rügte Gramsci viele Genossen, die im ternden Gesundheitszustandes und den Jahre 1930 erklärten, der Faschismus Haftbedingungen fragmentarisch blei- stünde vor dem Zusammenbruch (in ben. Erst am 7. Dezember 1933 bekam zwei oder drei Monaten) und die Dik- Gramsci – sterbenskrank und viel zu tatur des Proletariats werde unmittelbar spät in eine Klinik in Formia eingeliefert auf die faschistische Diktatur folgen, da – die notwendigen medizinischen Be- ein gestiegener Verelendungsgrad die handlungen. Am 27. April 1937 verstarb Massen zur revolutionären Tat bewe- er. Seine Asche wurde nach der Befrei- gen werde. Gramsci antwortete: „Elend ung Roms durch die Alliierten auf dem und Hunger mögen Aufruhr und Revol- englischen Friedhof in Rom beigesetzt. ten führen, die das bestehende Gleich- gewicht zerstören können, aber um III. Theoretiker der Niederlage das kapitalistische System zu vernich- Die Niederlage in einer Zeit zu den- ten, sind viele andere Voraussetzungen ken, in der die marxistische Orthodo- xie der II. Internationale und der Le- ninismus weite Teile der strategischen 15 Sehr zu empfehlen ist ein Aufsatz vom linkso- Diskussionsprozesse der Arbeiterbewe- zialistischen Hamburger Polizeischuldirektor gung besetzten, war in Anbetracht ei- Ernst Böse zur problematischen Rezeption nes Geschichtsdeterminismus, der ge- der Verelendungstheorie durch Karl Kautsky: sellschaftliche Veränderungen lediglich Ernst Böse: Das Elend der Verelendungs- auf die Produktionsweise zurückführte theorie, in: Gewerkschaftliche Monatshef- te, 1958, Heft 1, S. 42-45, oder im Internet unter: http://library.fes.de/gmh/main/pdf- files/gmh/1958/1958-01-a-042.pdf (Stand 14 Fiori, Leben, S. 212. 8.09.2012).

116 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen nötig!“16 In dieser Antwort steckt die hersehbarkeit der geschichtlichen Ereig- Erkenntnis der relativen Stabilität der nisse endgültig zu lösen. Da es aufgrund bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einer merkwürdigen Umkehrung oder und eine klare Absage an die Euphorie Perspektiven ‚scheint‘, dass die Natur- eines bald beginnenden Umschwungs wissenschaften die Fähigkeit verleihen, in Italien wie auch in den übrigen euro- den Ablauf der Naturprozesse vorher- päischen Staaten. zusehen, ist die historische Methodolo- Die einschneidenden Erlebnisse in gie als ‚wissenschaftliche‘ nur aufgefasst den „biennio rosso“-Jahren und der da- worden, wenn und insofern sie abstrakt rauffolgende Gegenschlag der reaktio- dazu befähigt, die Zukunft der Gesell- nären Bewegung in den „biennio nero“- schaft ‚vorherzusehen‘ […] Aber die Jahren (1921–1922) mit der Ernennung ‚Thesen über Feuerbach‘ hatten bereits Mussolinis zum Regierungschef ver- antizipatorisch diese simplistische Auf- stärkten die Ablehnung Gramscis ge- fassung kritisiert. In Wirklichkeit lässt genüber jeglicher Kanonisierung und sich ‚wissenschaftlich‘ nur der Kampf Dogmatisierung des Marxismus und vorhersehen […]. In Wirklichkeit wird einem mechanischen Determinismus, in dem Maße ‚vorhergesehen‘, in dem der „[…] Kausalitätsgesetze, die Erfor- man tätig ist, in dem man eine willent- schung der Regelmäßigkeit, Normali- liche Anstrengung einsetzt und folglich tät, Gleichförmigkeit […] an die Stelle dazu beiträgt, das ‚vorhergesehene‘ Re- der geschichtlichen Dialektik [setzt].“17 sultat zu schaffen. Die Voraussicht ent- Deutlich wird diese Ablehnung vor al- puppt sich mithin nicht als ein wissen- lem in seiner Kritik an Nikolai Bucha- schaftlicher Erkenntnisakt […].“19 Hier rins vulgärmaterialistischer Ontologie18 wird deutlich, dass das wissenschaft- und dessen Verständnis von Wissen- liche Erkennen für Gramsci nicht als schaft als „Aufdecken“ und „Voraus-Se- ein „Voraus-Sehen“ im Sinne Bucha- hen“. So schreibt er: „Die Fragestellung rins verstanden wird, sondern als ein als eine Suche nach Gesetzen, nach kon- „Tun“. 20 Diese Gewichtung des „subjek- stanten, regelmäßigen, gleichförmigen tiven Faktors“ in der materialistischen Linien, hängt mit dem etwas kindlich Geschichtsauffassung kann zu Recht und naiv gefassten Bedürfnis zusam- als Schlüsselelement im Marxismusver- men, das praktische Problem der Vor- ständnis Gramscis bezeichnet werden, der sich wie ein roter Faden durch die Gefängnishefte zieht. 16 Fiori, Leben, S. 233. 17 Antonio Gramsci: Philosophie und Praxis. Eine Auswahl. Frankfurt am Main 1967, S. 220. 19 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Band 6. Hamburg 2012, Heft 18 Gramsci bezieht sich in seiner Kritik vor al- 11, § 15, S. 1400 f. lem auf Nikolai Bucharins Schrift „Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständ- 20 Vgl. Hermes Spiegel: Gramsci und Althusser. liches Lehrbuch der marxistischen Soziologie. Eine Kritik der Althusserschen Rezeption von Hamburg 1922.“. Gramscis Philosophie. Berlin 1997, S. 23.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 117 Beiträge und Diskussionen

Auch die Fragen über die erfolgrei- nie auszuüben.“22 D. h., die Eroberung che Revolution im Osten und die Nie- der Kommandohöhen des Staates rei- derlagen im Westen zwangen ihn, die chen nicht aus, sondern nur die Gewin- genaueren Umstände der russischen Ge- nung der Mehrheit der Menschen für sellschaft zu analysieren und diese mit eine sozialistische Gesellschaft ist die den Gesellschaften im Westen zu ver- Bedingung einer stabilen und sicheren gleichen. Daher verstand er schnell, die Herrschaft der Arbeiterklasse. Zu einem Widerstandsfähigkeit der entwickelten weiteren Verständnis dieser Auffassung kapitalistischen Gesellschaften als Ur- Gramscis müssen die Schlüsselbegriffe sache dieses Ausbleibens zu betrachten. seines staatstheoretischen Konzepts nä- So konstatierte Gramsci: „Im Osten war her in Betracht gezogen werden. der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im IV. Staat und Zivilgesellschaft Westen bestand zwischen Staat und Zi- Gramscis staatstheoretische Konzeption vilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, knüpft direkt an die fragmentarisch und und beim Wanken des Staates gewahr- oft gelegentlich getätigten Äußerungen te man sogleich eine robuste Struktur und Vorstellungen von Marx über den der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur Staat an. Im Gegensatz zum Liberalis- ein vorgeschobener Schützengraben, mus, der den Staat als eine neutrale In- hinter welchem sich eine robuste Kette stanz, die mit Gewalt und Recht auf alle von Festungen und Kasematten befand Menschen gleich einwirkt, vertritt Marx […].“21 Im Westen war die Strategie der die Position, dass der Staat „[…] nur ein Bolschewisten nicht anwendbar, denn Ausschuß [ist], der die gemeinschaftli- der Staat war keine einfache Festung chen Geschäfte der ganzen Bourgeois- wie im zaristischen Russland, der nur klasse verwaltet[…]“23 Daraus lässt sich lang genug belagert werden musste, um schließen, dass der Staat – einerseits – die Zentralgewalt zu erobern. Vielmehr die Interessen der bürgerlichen Klasse musste zur Errichtung einer sozialisti- vertritt und – andererseits – der öko- schen Herrschaft der Staat wie auch die nomisch herrschenden Klasse auch die Zivilgesellschaft von innen heraus und politische Herrschaft verleiht. Die bür- durch schrittweise Erringung der Hege- gerliche Klasse verfügt als einzige Klas- monien transformiert werden. Folglich se über die Produktionsmittel, die nur muss es im Westen „[…] eine ‚politi- durch eine Absicherung durch den Staat sche Hegemonie‘ auch vor dem Regie- gewährleistet werden kann. Durch die rungsantritt geben, und man darf nicht Mittel der Zwangsbesteuerung wird das nur auf die durch ihn verliehene Macht Gewaltmonopol mit dem Ziel der Be- und die materielle Stärke zählen, um kämpfung von Aufruhr und Widerstand die politische Führung oder Hegemo- 22 Gramsci, Gefängnishefte, Band 1, Heft 1, § 44, S. 102. 21 Gramsci, Gefängnishefte, Band 4, Heft 7, § 16, 23 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (nachf. S. 874. MEW). Band 4. Berlin 1972, S. 464.

118 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen errichtet. Das Recht und die Justizappa- Die bekannte Formel „Staat = poli- rate dienen dabei der Garantierung des tische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, Eigentums wie auch der Regelung des das heißt Hegemonie, gepanzert mit allgemeinen und freien Warenverkehrs. Zwang“27 akzentuiert im Gegensatz zum Der Staat gibt sich einen allgemeinen Marx’schen Staatsverständnis folgendes: und neutralen Charakter und verschlei- Der Staat ist weder eine Maschine, noch ert somit die Interessen der bürgerlichen kann er auf repressive Apparate wie Mi- Klasse, für die er ständig interveniert. litär oder Polizei reduziert werden. Viel- So schreibt Marx im Vorwort von „Zur mehr umfasst er den politischen Be- Kritik der Politischen Ökonomie“, dass reich sowie die Zivilgesellschaft. Politik „[…] Rechtsverhältnisse wie Staatsfor- wird nicht allein auf Gewalt und Recht men weder aus sich selbst zu begreifen beschränkt, sondern impliziert auch sind noch aus der sogenannten allge- Willensbildungsprozesse, die Schaffung meinen Entwicklung des menschlichen von Bündnissen sowie Diskussionen, Geistes, sondern vielmehr in den ma- Verhandlungen oder Kompromisse.28 teriellen Lebensverhältnissen wurzeln, Gramsci unterscheidet hier ausdrück- deren Gesamtheit Hegel […] unter dem lich die Zivilgesellschaft (società civile) Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zu- von der bürgerlichen Gesellschaft. Die- sammenfasst, dass aber die Anatomie se ordnet er „[z]wischen der ökonomi- der bürgerlichen Gesellschaft in der po- schen Struktur und dem Staat mit sei- litischen Ökonomie zu suchen sei.“24 ner Gesetzgebung und seinem Zwang Hier wird deutlich, dass die bürgerliche […]“29 zu. In ihr finden die hegemoni- Gesellschaft mit ihrer Produktionswei- alen und gegenhegemonialen Ausein- se als „Voraussetzung und Moment“ des andersetzungen statt, die zugleich auch Staates angesehen wird, zugleich aber die spezifische Art der Herrschaftsaus- die bürgerliche Gesellschaft den Staat übung ist. Da die Zivilgesellschaft dem als eigene Voraussetzung zur Sicherung Staat zugerechnet wird, kann der Staat ihrer Herrschaftsansprüche konstitu- nicht mehr auf die Anwendung von Ge- iert.25 Staat und bürgerliche Gesellschaft walt- und Zwangsmitteln reduziert wer- sind im Sinne Marx getrennte Sphären, den. Der Zwang, der oben in Gramscis die aufeinander einwirken, wobei die Formel angeführt wird, dient vielmehr bürgerliche Gesellschaft aber als „über- greifende Form“ begriffen wird.26 27 Gramsci, Gefängnishefte, Band 4, Heft 6, § 88, S. 783. 28 Vgl. Alex Demirovic: Politische Gesellschaft – 24 Marx/Engels, MEW, Band 13, Berlin 1971, S. 8. zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integra- 25 Vgl. Thomas Gehrig: Staat statt Revolution. len Staates bei Antonio Gramsci, in: Sonja Zum Staatsverständnis in der marxistischen Buckel/Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.): He- Sozialdemokratie, in: Hirsch, Joachim u.a. gemonie gepanzert mit Zwang. Baden-Baden (Hrsg.): Der Staat der bürgerlichen Gesell- 2007, S. 24. schaft. Baden-Baden 2008, S. 67. 29 Gramsci, Gefängnishefte, Band 6, Heft 10, § 26 Ebd. 15, S. 1267.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 119 Beiträge und Diskussionen als Mittel zur Sicherung der Zivilge- Block‘ [bilden], das heißt, das komplexe sellschaft vor Angriffen durch Außen- nichtübereinstimmende Ensemble der stehende.30 Diese Einschätzung erklärt Superstrukturen […] der Reflex des En- auch, weshalb die Revolution im Os- sembles der gesellschaftlichen Produk- ten gelang, aber im Westen notwen- tionsverhältnisse [ist].“32 Im Bereich des digerweise scheitern musste, denn die Überbaus existieren für Gramsci zwei sozialistische Bewegung unterlag dem große Ebenen, die jedoch bloß theore- Irrtum, dass der Staat nur ein Zwangs- tischen und methodologischen Cha- apparat sei, der durch schnelle Erobe- rakters sind: „Vorläufig lassen sich zwei rung der Kommandohöhen einem große superstrukturelle ‚Ebenen‘ festle- Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gen – diejenige, die man die Ebene der nicht im Wege stehen könne. Grams- ‚Zivilgesellschaft‘ nennen kann, d. h. ci kritisiert dieses mechanistische Ver- des Ensembles der gemeinhin ‚privat‘ ständnis und schreibt: „[D]ie Super- genannten Organismen, und diejenige strukturen der Zivilgesellschaft sind wie der ‚politischen Gesellschaft oder des das Grabensystem im modernen Krieg. Staates‘ -, die der Funktion der ‚Hege- Wie es in diesem geschah, daß ein hef- monie‘, welche die herrschende Grup- tiger Artilleriebeschuß das ganze Ver- pe in der gesamten Gesellschaft ausübt, teidigungssystem des Feindes zerstört und der Funktion der ‚direkten Herr- zu haben schien, statt dessen aber nur schaft‘ oder des Kommandos, die sich die äußerliche Oberfläche zerstört hat- im Staat und in der ‚formellen‘ Regie- te und im Augenblick des Angriffs und rung ausdrückt, entsprechen.“33 Zusam- Vorstoßes die Angreifer sich einer noch menfassend existieren für Gramsci drei wirksamen Verteidigungslinie gegen- Sphären, die stets in Wechselwirkung über befanden […].“31 Die Eroberung zueinander stehen: 1. Die Sphäre der des Staates bedeutet nichts anderes als Ökonomie als Struktur. 2. Die Sphäre die Zerstörung der „äußerlichen Ober- der Zivilgesellschaft (società civile) als fläche“, aber die „Verteidigungslinien“ Teil der Superstruktur. Dies ist das zent- (in der die Akteure der Zivilgesellschaft rale Auseinandersetzungsfeld zur Errin- sitzen) sind immer noch in Takt und gung der gesellschaftlichen Hegemonie. bilden die „robuste Kette von Festungen 3. Die Sphäre der politischen Gesell- und Kasematten.“ schaft (società politica), ebenfalls Teil Gramsci trennt nicht zwischen Basis der Superstruktur. In ihr kristallisiert (Struktur) und Überbau (Superstruk- sich die Herrschaft. Die Zivilgesellschaft tur), sondern erkennt eine dialektische umfasst das Ensemble privater Instituti- Einheit beider Sphären. So schreibt onen, wie das Bildungssystem, Medien, er, dass „[d]ie Struktur und die Super- Kulturbranche, Kirche, Religionen, Ver- struktur […] einen ‚geschichtlichen

32 Gramsci, Gefängnishefte, Band 5, Heft 8, § 30 Vgl. Demirovic, Politische Gesellschaft, S. 25. 182, S. 1045. 31 Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, Heft 13, § 33 Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, Heft 12, § 1, 24, S. 1589. S. 1502.

120 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen bände, Vereine, Gewerkschaften, Wis- winden von instabilen Gleichgewichten senschaft, Internet usw. Die politische zu fassen ist […], von Gleichgewichten, Gesellschaft umfasst die Zwangsappara- in denen die Interessen der herrschen- te, wie die Regierung, Verwaltung, Jus- den Gruppen überwiegen, aber nur bis tiz, Polizei und Militär. zu einem gewissen Punkt, d. h. nicht bis Der Staat im integralen Sinne (poli- zu einem engen ökonomisch-korpora- tische Gesellschaft + Zivilgesellschaft = tiven Interesse.“38 Hegemonie bedeutet Hegemonie gepanzert mit Zwang) bein- im Sinne Gramscis, dass die herrschen- haltet Herrschaft und Führung, Zwang de Gruppe die aktive Zustimmung der und Konsens, Diktatur und Hegemo- Subalternen zu ihrer Unterwerfung mit nie.34 Gramsci deckte mit dieser Erwei- Zwang und Konsens einholt.39 Eine blo- terung des Staatsbegriffs das komple- ße „Vorherrschaft“ oder „Dominanz“ xe Herrschaftssystem der entwickelten kann keine stabile Herrschaft formie- kapitalistischen Gesellschaften auf und ren, da die Interessen der unterworfenen wendete sich zugleich gegen einen vor- Gruppen nicht miteinbezogen werden. herrschenden Reduktionismus, der den Hegemonial wird eine gesellschaft- Staat als ein Apparat der ökonomisch liche Gruppe, wenn sie in der (1.) kor- herrschenden Klasse begriff.35 Gesell- porativ-ökonomischen Phase sich als schaftliche Konflikte werden somit im gesellschaftliche Gruppe miteinander integralen Staat in den Überbauten aus- solidarisiert und organisiert (Bergarbei- getragen und in deren „spezifischer Lo- ter fühlt sich mit einem anderen Berg- gik“ bearbeitet.36 Hierbei rückt die Frage arbeiter verbunden; ebenso Eisengießer nach der Hegemonie und des Konsens mit einem anderen Eisengießer) und in in das Zentrum des Konflikts.37 der (2.) ethisch-politischen Phase das ökonomische Bewusstsein der Interes- V. Hegemonie und Konsens sen- und Gruppensolidarität zwischen Oftmals wird unter Hegemonie im po- allen Mitgliedern entwickelt (Eisen- litischen Sinne „Vorherrschaft“ oder gießer und Bergarbeiter sehen sich als „Vormacht“ verstanden. Gramsci ver- Lohnarbeiter) und Forderungen nach steht unter Hegemonie, dass „[…] die einer politischen Beteiligung stellt.40 herrschende Gruppe sich auf konkre- Nach Gramsci ist genau dies die ent- te Weise mit den allgemeinen Interes- scheidende Phase, „[…] die am ein- sen der untergeordneten Gruppen ab- deutigsten politisch ist, die den klaren stimmen wird und das Staatsleben als Übergang von der Struktur zur Sphäre ein andauerndes Formieren und Über- der komplexen Superstrukturen mar-

38 Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, Heft 13, S. 34 Vgl. Eun-Young Kim, Zur Ideologie und 1584. Staatsanalyse, Marburg 1995, S. 33. 39 Vgl. Mario Candeias: Gramscianische Kons- 35 Vgl. Deppe, Politisches Denken, S. 247. tellationen, in: Victor Rego Diaz u.a. (Hrsg.): 36 Vgl. Demirovic, Politische Gesellschaft, S. 27. Mit Gramsci arbeiten. Hamburg 2007, S. 19. 37 Ebd. 40 Vgl. Demirovic, Politische Gesellschaft, S. 30.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 121 Beiträge und Diskussionen kiert, es ist die Phase, in der die zuvor der Gruppe betreffen können, sondern aufgekeimten Ideologien ‚Partei‘ wer- sind vielmehr „kosmetischer Art“.43 Ge- den, zur Konfrontation kommen und lingt ihr das, so beginnt die (3.) staatli- in den Kampf eintreten, bis eine einzi- che Phase, in der die Gruppierung, die ge von ihnen oder zumindest eine ein- führen und die Herrschaft inne haben zige Kombination derselben dazu ten- will, den Staat im engeren Sinne (poli- diert, das Übergewicht zu erlangen, sich tische Gesellschaft) mit seinen Appa- durchzusetzen, sich über den gesam- raten erobert und so durch das Mittel ten gesellschaftlichen Bereich zu ver- des Zwangs, diejenigen zu disziplinie- breiten, wobei sie über die Einheitlich- ren versucht, die mit der neuen gesell- keit der ökonomischen und politischen schaftlichen Kraft nicht einverstanden Ziele hinaus auch die intellektuelle und sind. Gramsci fasst zusammen, dass die moralische Einheit bewirkt, alle Fragen, Suprematie „[…] einer gesellschaftli- um die der Kampf entbrannt ist, nicht chen Gruppe auf zweierlei Weise [sich] auf die korporative, sondern auf eine äußert, als ‚Herrschaft‘ und als ‚intellek- ‚universale‘ Ebene stellt und so die He- tuelle und moralische Führung‘. Eine gemonie einer grundlegenden gesell- gesellschaftliche Gruppe ist herrschend schaftlichen Gruppe über eine Reihe gegenüber denjenigen Gruppen, die sie untergeordneter Gruppen herstellt.“41 ‚auszuschalten‘ oder auch mit Waffen- Das Element des „Führens“ und des gewalt zu unterwerfen trachtet, und sie „Vorangehens“ als progressive Kraft für ist führend gegenüber den verwandten die gesamte Gesellschaft taucht in die- und verbündeten Gruppen. Eine gesell- ser ethisch-politischen Phase auf.42 Dies schaftliche Gruppe kann und muss so- ist auch die Voraussetzung eines erfolg- gar bereits führend sein, bevor sie die reichen hegemonialen Projekts, das sich Regierungsmacht erobert (das ist eine nicht auf Zwang und Gewalt, oder der der Hauptbedingungen für die Erobe- einfachen Ausübung der Dominanz rung der Macht); danach, wenn sie die beschränkt, sondern durch die Einho- Macht ausübt und auch fest in Händen lung der aktiven Zustimmung der un- hält, wird sie herrschend, muss aber terworfenen Gruppen und durch die weiterhin auch ‚führend‘ sein.“44 Sie Integration von Interessen und Bedürf- muss die „Führung“ in der Zivilgesell- nisse der Subalternen auszeichnet. Die schaft beibehalten, um einer Desartiku- hegemoniale Gruppe verallgemeinert lation des hegemonialen Projekts durch so ihre Interessen und zeigt Kompro- ständige Kompromissbereitschaft ent- missbereitschaft, um sich zugleich die gegenzutreten, wie auch auf die Festi- Erringung der Hegemonie zu sichern. gung der „Herrschaft“ in der politischen Diese Kompromisse werden aber nie- Gesellschaft achten, um opponierenden mals die wesentlichen politischen Ziele

43 Vgl. Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, Heft 41 Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, Heft 13, § 13, § 18, S. 1567. 17, S. 1561. 44 Gramsci, Gefängnishefte, Band 8, Heft 19, § 42 Vgl. Candeias, Gramscianische, S. 19. 24, S. 1947.

122 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen

Kräften Einhalt zu bieten und so ein kaschierten Widersprüche zu Tage tre- brüchigen Konsens aufrechtzuerhalten. ten, die den Transformationsprozess in Je stärker dieser ausgeprägt ist (brüchi- den Superstrukturen einleiten. Dies ist ger Konsens zwischen politischer Ge- in dem Bruch der kemalistischen Herr- sellschaft und Zivilgesellschaft), desto schaft in der Türkei zu beobachten, wie stärker tritt das Element des Zwanges in den arabischen Staaten, wo die Re- hervor. So wird – bestärkt durch die gime in Tunesien und Ägypten fielen. vermeintliche Verteidigung des Kon- Nur scheint der Neoliberalismus mit sens der Mehrheit – offene Gewalt ge- seiner staatsfeindlichen Einstellung und gen opponierende Kräfte angewendet seinem marktreduziertem Verständnis und die Hegemonie tritt als „gepanzert der Zivilgesellschaft nicht ganz in dieses mit Zwang“ auf. „Schema“ zu passen. So weißt beson- ders Alex Demirovic darauf hin, dass VI. Gramsci – ein toter Hund? der Neoliberalismus weder die Interes- Ein Rückblick auf die Staatsdebatten sen und Bedürfnisse der Subalternen der vergangenen 10 Jahre zeigt, dass aufnimmt, noch bereit ist, Zugeständ- das gramscianische Staatstverständnis nisse und Kompromisse mit diesen zu für die gesellschaftliche Linke ein un- schließen.46 Es existiert somit die Mög- verzichtbares Instrument zur Analyse lichkeit der Herrschaft, trotz des Ver- staatlichen Wirkens ist. Die neu anbre- zichts auf Ausübung dieser in Form der chenden hegemonialen Kämpfe in den Hegemonie.47 Es gibt keinen Konsens Staaten der Semi-Peripherie45 verdeut- und keinen Kompromiss zwischen den lichen die Stärken seiner Hegemonie- Herrschenden und den Unterworfenen. theorie und seines Verständnisses vom Hier zeigt sich aber nicht die Schwä- Staat im integralen Sinne. Die Führung che des Gramscianischen Hegemonie- einer bestimmten gesellschaftlichen begriffs. Vielmehr ist zu konstatieren, Gruppe ist nicht ewig, sondern stets an dass der Neoliberalismus trotz gewisser den Konsens mit den Subalternen ge- hegemonialer Stellungen in der Zivil- bunden. Das gegenhegemoniale Pro- gesellschaft und der Etablierung seiner jekt beginnt in dem Moment, in dem spezifischen Logik in den Staatsappara- die herrschende und führende Gruppe ten, nicht wirklich zu einer hegemonial die Interessen der Subalternen negiert herrschenden Gruppe transformiert ist. und somit die vormals verdeckten und Sie übt Herrschaft meist durch Zwang (Sicherung von Eigentum und der In- vestitionsfreiheit) und durch diszipli- 45 Die Bezeichnung „Semi-Peripherie“ ist der nierende Maßnahmen (Unterwerfung Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins entlehnt worden und soll in diesem Rahmen Staaten charakterisieren, die weder dem kapi- talistischen Zentrum zuzuordnen sind, noch der Peripherie. Sie sind durch ihre autoritä- re Staatsform und den teilweise entwickelten 46 Vgl. Demirovic, Politische Gesellschaft, S. 37. Produktionsverhältnissen ökonomisch wie politisch vom Zentrum abhängig. 47 Ebd.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 123 Beiträge und Diskussionen weiter Teile der Gesellschaft der Markt- sen, die anhand der Hegemonietheorie disziplin) aus.48 den politischen Charakter der Globali- Aus heutiger Sicht ist die strikte sierung und die Herausbildung transna- Trennung zwischen den öffentlichen In- tionaler Organisationen wie IWF, WTO stitutionen (Staatsapparate) und den pri- oder Weltbank untersuchen. vaten Organisationen (Akteure der Zi- Gramscis Denken ermöglicht bis vilgesellschaft) sehr problematisch und heute komplexe gesellschaftliche Vor- eine Verallgemeinerung wäre nicht trag- gänge zu ergründen und strategische fähig. Wo das Bildungssystem in Tei- Schlussfolgerungen aus diesen zu zie- len Europas in den 1920er Jahren noch hen. Natürlich können die heutigen Pro- klassisch privat organisiert wurde, so ist bleme nicht durch einen direkten Zu- spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg griff auf Gramsci gelöst werden, aber als eine „Verstaatlichung“ und eine Ver- einen marxistischen Theoretiker sollten schiebung hin zur politischen Gesell- wir ihn genau darin erkennen – wie es schaft in diesem Bereich zu beobachten. Detlev Albers einst betonte –, inwieweit Eine Erklärung der Internationalisie- wir heute auf Lösungen zurückgreifen, rungstendenzen in der Zivilgesellschaft an Überlegungen anknüpfen und Ant- und der politischen Gesellschaft ist bei worten übernehmen können, die wir Gramsci verständlicherweise nicht zu seiner Vorarbeit im Gefängnis schuldig finden. Jedoch seien hier auf die neo- sind. 75 Jahre nach seinem Tod kann gramscianischen Analysen von Stephen das Ergebnis wohl nur sein: Es ist eine Gill und Hans-Jürgen Bieling hingewie- Menge! Gramsci ist lebendiger denn je.

48 Vgl. Stephen Gill: Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der euro- päischen Integration, in: Hans-Jürgen Bieling u.a. (Hrsg.): Die Konfiguration Europas. Münster 2000, S. 44.

124 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen

Horst Heimann Anmerkungen und Fragen eines lesenden Sozialisten zu

Sigmar Gabriel (Hg.): Die Kraft einer großen Idee – Europäische Moderne und Soziale Demokratie, vorwärts buch, Berlin 2012, 354 S., 20 €.

Im Geleitwort macht Gerhard Schröder Märkte erschüttert: Für die in diesem unübersehbar klar, dass es sich bei die- Band versammelten Sozialdemokratin- ser „großen Idee“ um „unsere Idee: Die nen und Sozialdemokraten gilt deshalb, Soziale Demokratie“ handelt. (8) (Auf dass sie die Gesellschaft als etwas poli- nur zwei Seiten erscheint der Begriff tisch zu Gestaltendes begreifen.“ (S. 12) zehn Mal!) Mit anderen Worten: Die Soziale De- Der SPD-Vorsitzende Sigmar Ga- mokratie bekennt sich zum Primat der briel bekennt sich in seiner Einleitung Politik gegenüber der Wirtschaft und ebenfalls emphatisch zur großen Idee verwirft daher den neoliberalen Slogan: der Sozialen Demokratie. Sinn und Privat vor Staat. Zweck dieses Buches beschreibt er wie Bei der Lektüre des Sammelbandes folgt: „Dieses Lesebuch beschreibt, wie sollte der aufmerksam-kritische Leser wir unsere Gesellschaft in wichtigen einige nicht ausdrücklich genannte Fak- Themenfeldern gestalten wollen. Da- toren beachten: bei leiten mich und auch die Autorin- Der Band erscheint im Vorfeld des nen und Autoren dieses Buches unsere 150. Geburtstags der SPD, der im kom- unverrückbaren Grundwerte Freiheit, menden Jahr auch mit weiteren Pub- Gerechtigkeit und Solidarität.“ (10) Die likationen gefeiert werden wird. Und Darstellungen der „großen Idee der So- auch über Geburtstagskinder sagt man zialen Demokratie“ am Beispiel wich- bekanntlich nur Gutes. Zu beachten ist tiger Themen und Begriffe richten sich auch: Das Lesebuch über „Die Kraft offensiv gegen „die jahrelange Domi- einer großen Idee“ erscheint nur we- nanz marktradikaler Ideologien“ (S. 13), nige Jahre nach der Bundestagswahl gegen „Neoliberale und Marktradikale“, vom September 2009, deren Ergebnis die uns versicherten, „freie Märkte wür- ja kaum die Kraft dieser Idee bezeugt den es richten: mehr Freiheit und zu- hatte, oder – dialektisch gesehen – viel- gleich mehr Wohlstand für alle“. (S. 10) leicht doch?! (Von 20 Millionen Wäh- Die aktuelle Krise habe bereits das blin- lern 1998 waren nur noch 10 Millionen de Vertrauen in die heilsame Kraft der übrig geblieben.) Ist es da nicht ver-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 125 Beiträge und Diskussionen ständlich? – Aufgestanden nach diesem der Beiträge. Nur Franziska Drohsel Wahlergebnis „und der Zukunft zuge- verweist in ihrem Beitrag „Frieden“ aus- wandt“, möchte man nicht zu viel über drücklich auf deutliche Meinungsver- die jüngste Vergangenheit sagen. schiedenheiten innerhalb der SPD zum Grundsätzlich und allgemein beur- Thema Krieg und Frieden in der Ver- teilen allerdings fast alle Autor/innen gangenheit und auch in der jüngsten die jüngste Vergangenheit kritisch, wie Vergangenheit: „Auch unter Rot-Grün z. B. Schröder in seinem Geleitwort: war die SPD in Fragen von Krieg und „Die sozialen Unterschiede in und zwi- Frieden gespalten,“ (S, 92) schen den Gesellschaften vertiefen sich, In den übrigen Beiträgen hat nur ... und 2008 kam es – ausgelöst durch Fi- Sigmar Gabriel in einem angefügten Zi- nanzspekulationen – zur tiefsten Wirt- tat von Wolfgang Thierse eine selbstkri- schaftskrise nach 1945.“ (S. 8) (Seman- tische Bemerkung hineingeschmuggelt: tisch ist übrigens die Formulierung, die „Die soziale Spaltung nimmt zu. Als Re- fast alle benutzen, sehr aufschlußreich: gierungspartei war auch die SPD daran „Die sozialen Unterschiede vertiefen beteiligt.“ (S. 270) sich.“ Denn das bedeutet: Die sozialen Diese kritischen Anmerkungen Unterschiede sind selbst die Ursache sprechen nicht gegen eine aufmerksame für die „Vertiefung“; sie vertiefen sich Lektüre des „Lesebuch“, sondern sollen selbst, so wie z. B. sich das Wetter ver- sogar dazu auffordern, sich selbst inten- schlechtert, ganz ohne Hilfe von han- siv mit dem Thema zu befassen und sich delnden Menschen.) bei der Lektüre eigene Gedanken über Während die meisten Autor/innen die erkennbare oder nicht so ganz er- die jüngste Geschichte allgemein sehr kennbare „Kraft einer großen Idee“ zu kritisch beurteilen, fallen aber die Ur- machen. Der im Untertitel zu recht als teile über die jüngste eigene Geschichte „ein politisches Lesebuch“ bezeichne- der SPD konkret sehr positiv aus, wie z. te Sammelband muß nicht unbedingt B. bei Schröder: „Wir können mit Stolz in einem Zug von Seite 1 bis Seite 354 auf unsere Geschichte, auch auf unsere durchgelesen werden. Er kann auch als Regierungszeit auf Bundesebene zwi- informatives Nachschlagewerk benutzt schen 1998 und 2009, zurückblicken.“ werden, in dem 45 Sozialdemokrat/in- (S. 8) Ähnlich positiv, aber etwas diffe- nen, alphabetisch geordnet, die Idee der renzierend, urteilt Astrid Klug, Gene- Sozialen Demokratie erläutern. Durch ralsekretärin der SPD, in ihrem Beitrag die große Zahl der Autor/innen bietet „Reformen“: „Die Reformen Gerhard der Band zugleich einen Überblick über Schröders ... haben Deutschland gut ge- jene hervorragenden Sozialdemokrat/ tan und gleichzeitig in ihrer Wirkung an innen, die in der SPD – zumindest in mancher Stelle – inhaltlich oder bei der einem Sinn des Wortes – „etwas zu sa- Vermittlung – auch Kritik verdient.“ (S. gen haben“. Die Lektüre kann daher im 253) doppelten Sinne nützlich und informa- Eine ausdrückliche Selbstkritik der tiv sein, nämlich sowohl über Inhalte als eigenen Politik gibt es in fast keinem auch über Personen. Der Leser kann ler-

126 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen nen, sich über politische Themen und ne Aussagen zur Lösung der konkreten Begriffe Gedanken zu machen und zu- Probleme bleiben allgemein und nor- gleich erfahren, wie führende Sozialde- mativ, und daher im Prinzip für alle mokrat/innen darüber denken. zustimmungsfähig: „Wichtig ist ein Der inhaltliche Informationswert Gesellschaftsentwurf als Leitplanke: ist nicht beschränkt auf die Beiträge der Deutschland soll 2050 Wohlstandsland Autor/innen zum jeweiligen Thema. sein, auf hohem Niveau, sozial stabil Denn den Kurzbeiträgen von rund zwei und gerecht, ökologisch und vernünf- Seiten werden zum Thema passende Zi- tig, friedlich, solidarisch, demokratisch tate aus der politisch-theoretischen Li- gesonnen und demokratisch bestimmt. teratur angefügt, die sogar mehr Platz … Ein modernes Land in gesellschaftli- einnehmen, in der Regel vier bis sieben chem Fortschritt. Möglich ist das, wenn Seiten. Als Anregung für eigenes Nach- alle wichtigen Weichenstellungen erfol- denken erhält der Leser also auch einen gen. Zeitnah.“ (S. 38) Einblick in die Gedanken anderer Au- Dieser grundsätzliche Wunsch nach tor/innen zum jeweiligen Themenbe- Deutschland als „Wohlstandsland auf reich. hohem Niveau“ kann nicht nur von den SPD-Mitglieder aller Flügel, Netzwer- Soziale Demokratie und Sozialstaat ke, Kreise etc. aus vollem Herzen un- Da der Begriff „Soziale Demokratie“ terschrieben werden, sondern auch von nahelegt, dass es bei dieser Idee vor al- allen Parteien, von der LINKEN bis zu lem auch um Normen für die Beurtei- den borniertesten Neoliberalen der FDP. lung sozialer Probleme geht, also auch Doch was aus dem allgemeinen Wunsch um den Sozialstaat, seien hier zunächst nach unserem „Wohlstandsland“ für einige dafür relevante Themen und Be- konkrete Politikfelder folgen könnte, griffe untersucht. bleibt in Münteferings Kurzbeitrag im Da in vielen öffentlich-politischen Dunklen. Nur in einigen angefügten Zi- Debatten das Thema demografische taten (allerdings nicht in den Zitaten von Krise oder demografischer Wandel als Malthus und Darwin!) wird angedeutet, ein immer drängender werdendes Pro- in welche Richtung die „wichtigen Wei- blem des Sozialstaats behandelt wird, chenstellungen erfolgen“ sollen. kann man von Franz Münteferings Im zitierten Schlussbericht der „En- Beitrag zu diesem Begriff relevante Er- quete-Kommission Demografischer kenntnisse erwarten. Den Kern des Wandel“ des Bundestags aus dem Jah- Problems sieht er einerseits im drama- re 2002 heißt es, dass der demografi- tischen Anwachsen der Weltbevölke- sche Wandel „eine Herausforderung ... rung, in Deutschland aber im drasti- für die sozialen Sicherheitssysteme“ be- schen Rückgang der Bevölkerung „von deute, nämlich: „Mit unserem bisheri- 81 Millionen auf 65 bis 70 Millionen“. gen Verständnis von Sozialstaat werden (S.38) Sein Kurzbeitrag enthält grund- wir diesen Anforderungen im weitesten sätzliche Überlegungen und auch Hin- Sinne nicht mehr begegnen können.“ weise auf konkrete Probleme. Doch sei- (S. 42) Welches neue „Verständnis von

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 127 Beiträge und Diskussionen

Sozialstaat“ wir aber brauchen, wird den USA. Denn dort „rutschen (in der im Zitat nicht angedeutet. Deutlicher Wirtschaftskrise) Millionen von Men- und konkreter über die Richtung eines schen in eine existenzielle Krise“. Auf neuen „Verständnisses von Sozialstaat“ dem Hintergrund dieser sozialstaatslo- wird ein Zitat Schröders vom SPD- sen USA leuchtet um so strahlender der Sonderparteitag 2003 über die Agen- deutsche Sozialstaat: „Dank des relativ da 2010: „Und wir müssen anerkennen starken sozialen Netzes musste kaum und aussprechen, dass die Altersent- jemand fürchten, schnell ins Bodenlose wicklung unserer Gesellschaft, wenn zu stürzen.“ Und dank „sozialstaatlicher wir jetzt nichts ändern, schon zu unse- Politik wie Konjunkturprogramm, Ab- ren Lebzeiten dazu führen würde, dass wrackprämie und Kurzarbeit“ ging die unsere vorbildlichen Systeme der Ge- Prognose des damaligen Wirtschafts- sundheitsversorgung und Alterssiche- ministers Olaf Scholz in Erfüllung: „Wir rung nicht mehr bezahlbar wären. Was werden besser als andere Länder durch wir heute beweisen müssen, ist der Mut, die Krise kommen.“ (S.278) (Diese Pro- Neues zu wagen. Dabei werden wir uns gnose hat inzwischen der aktuelle Wirt- von manchem, was uns lieb – und leider schaftsminister Rösler übernommen.) auch teuer – geworden ist, verabschie- Doch mit diesen Ergebnissen gibt den müssen.“ (S. 43) sich Nahles keineswegs zufrieden und Im Klartext heißt das: Damit un- argumentiert ausgesprochen offensiv: sere Sozialausgaben weiter bezahlbar Nach dem Fazit, „viel haben wir er- bleiben, müssen sie drastisch gekürzt reicht“, bekennt sie: „Und doch sind werden. Die aus dieser „Erkenntnis“ ab- wir weit davon entfernt, uns mit dem geleiteten „wichtigen Weichenstellun- Erreichten zufriedenzugeben.“ (S. 279) gen“ sind bereits „zeitnah“ erfolgt. Ob Diese offensive Argumentation wirkt dadurch aber tatsächlich die Reise in deplaziert (sie ist ja nicht ironisch ge- Richtung „Wohlstandsland“ weitergeht, meint), weil an die Feststellung „... weit ist in der öffentlichen Meinung und davon entfernt, uns mit dem Erreichten auch in der SPD umstritten. zufriedenzugeben“, direkt anschließt die Wer im Beitrag von Müntefering Aufzählung: „Jeder Sechste ist armuts- noch nicht die letzte Wahrheit über die gefährdet. Die Ungleichheit des Ein- Zukunft des Sozialstaats gefunden hat, kommens hat sich in Deutschland so kann zunächst bei nach- negativ entwickelt wie in kaum einem schlagen, die ausdrücklich das Thema anderen Land der OECD, Kinder zu be- „Sozialstaat“ behandelt. Sie bekennt kommen, bedeutet ein Armutsrisiko in sich ausdrücklich zu Helmut Schmidts Deutschland.“ (S. 279) Denn dieses „Er- Urteil, der Sozialstaat sei „eine der gro- reichte“ ist ja nicht das, was wir beim ßen kulturellen Leistungen des letz- Fortschritt des Sozialstaats erreicht ha- ten Jahrhunderts“. (S. 279) „Wie wich- ben, sondern das, was die Neoliberalen tig ein Sozialstaat ist“, begründet sie bei seinen Abbau erreicht haben. Und mit anklagender Kritik am „Fehlen ei- diese sind weit davon entfernt, sich mit ner robusten sozialen Absicherung“ in diesem Erreichten zufriedenzugeben.

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Angesichts des fortschreitenden Ab- che, „dass in Deutschland immer noch baus des Sozialstaats ist die defensive zu häufig die soziale und familiäre Her- Argumentation des DGB-Vorsitzenden kunft über Bildungserfolg entscheidet:“ Michael Sommer sachgerechter als die (S. 31) rhetorisch offensive Position von Nah- Von besonderer Bedeutung für das les. Sommer argumentiert in seinem Konzept eines Sozial- und Wohlfahrts- Beitrag „Arbeit“ realistisch: „Der So- staates sind die Grundwerte. Sigmar zialstaat, den die Gewerkschaften und Gabriel betont in seinem Beitrag über die Sozialdemokratie geformt haben, ist „Freiheit“ die Gleichwertigkeit der drei seit geraumer Zeit gefährdet. … Heute Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und gilt es, diese sozialstaatlichen Errungen- Solidarität, die für die politische Praxis schaften mit aller Kraft zu verteidigen“. relevant sind: „Sie bilden den wichtigs- (S. 18) Diese erfolgreiche Verteidigung ten Maßstab für die Kritik an den ge- ist eine unabdingbare Voraussetzung sellschaftlichen Verhältnissen“ und „sie für eine künftige erfolgreiche Offensive begründen eine reformerische Perspek- für mehr soziale Gerechtigkeit. tive“. (S. 86) In seinem Beitrag „Solida- Ausdrücklich zuzustimmen ist dem rität“ begründet er, aus welchen Grün- Plädoyer von Nahles für einen umfas- den dieser Grundwert „die Grundlage senden Begriff von Sozialstaat, der „das einer modernen Sozialstaatlichkeit“ ist. Fundament einer funktionierenden, (S. 266) wohlstandsorientierten Gesesellschaft“ Die von Gabriel erläuterten Grund- ist: „Der Sozialstaat erfüllt seinen Zweck werte Freiheit und Solidarität begrün- eben nicht nur für die Bedürftigen. ... Er den zwar normativ und allgemein das darf nicht nur so verstanden werden, Bekenntnis zum Sozialstaat, sagen aber dass er notdürftig absichert.“ (S. 279) nur wenig über seine konkrete Ausge- Im Sinne dieses Sozialstaates „brau- staltung. Da für diese konkrete Aus- chen wir faire Löhne, bessere Job-Chan- gestaltung sowohl das Sozialversiche- cen für Ältere und Frauen, solidarische rungssystem als auch das Steuersystem Bürgerversicherungen und vor allem von zentraler Bedeutung sind, sollte der lebensbegleitende Investitionen in Bil- Leser also im „politischen Lesebuch“ dung.“ (S. 280) nach den entsprechenden Begriffen su- Das Thema „Bildung“, das Doris chen. Doch da er beim Buchstaben S Ahnen behandelt, ist deshalb nicht ein keinen Begriff „Sozialversicherung“ fin- Spezialgebiet, sondern zentraler Be- det, muß er weitersuchen nach Spezia- standteil einer sozialstaatlichen Politik: lisierungen wie „Rente“ und „Arbeits- „Es gehört zu den Grundpfeilern sozi- losenversicherung“. Doch dabei merkt aldemokratischer Identität, sich für gute er: In diesem „politischen Lesebuch“ Bildung für alle Mitglieder der Gesell- gilt nicht die Verheißung der Heiligen schaft einzusetzen.“ Und obwohl sie zu Schrift: „Suchet, so werdet Ihr finden!“ recht auf die Bemühungen und Erfolge Auch wenn er nach dem für soziale sozialdemokratischer Bildungspolitik Gerechtigkeit entscheidenden Thema verweist, verschweigt sie nicht die Tatsa- sucht, nämlich „Steuern“, wird er nicht

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 129 Beiträge und Diskussionen fündig. (Das von Jochen Flasbarth be- Globalisierung setzt alles neu in Bewe- handelte Thema „Ökologische Steu- gung. Das haben die Klassiker der Sozi- erreform“ ist zwar wichtig, aber nicht alen Demokratie schon im 19. Jahrhun- entscheidend für die Frage, ob ein Steu- dert erkannt.“ (S. 118) Zum Beleg dafür ersystem sozial gerecht ist.) zitiert er im Anhang aus dem ersten Do- Die für die soziale Kompetenz der kument der Sozialen Demokratie, dem SPD entscheidenden Themen Rente und „Manifest der kommunistischen Partei“ Steuern fehlen wohl kaum deshalb, weil von 1848. Dort analysieren die Klassi- sie der Herausgeber nicht für wichtig ker der Sozialen Demokratie, Marx und hielt oder weil er eben nicht daran ge- Engels, den realen sozio-ökonomischen dacht hatte. Denn es sind ja die Themen, und kulturellen Prozess, der allerdings die beim Versuch einer Neuaufstellung erst seit einigen Jahrzehnten Globali- der SPD nach September 2009 kontro- sierung genannt wird, weit intelligenter vers diskutiert werden und über die es und eindrucksvoller als neoliberale Agi- noch keinen Konsens gibt. Daraus folgt: tatoren und Lehrstuhlinhaber unserer Das hier empfohlene „politische Lese- Tage. buch“ ist kein Kommentar zum künfti- Aus seiner kurzen Beschreibung des gen Wahlprogramm der SPD. Wer ge- aktuellen Standes der Globalisierung, nauer erfahren möchte, wie die Partei zieht er die einleuchtende Schlussfol- „unsere Gesellschaft in wichtigen The- gerung: „Auf die wirtschaftliche Glo- menfeldern gestalten“ will (Gabriel S. balisierung muss die politische Globali- 10), muss daher die Debatten über das sierung folgen.“ (S. 119) Doch er wirft Wahlprogramm aufmerksam verfolgen nicht den kritischen zweiten Blick auf und den endgültigen Text genau prüfen. den Begriff Globalisierung, mit dem der Doch auch im Lesebuch gibt es si- Bezug zum Sozialstaat erkennbar wird. cher noch Begriffe, die sich zwar nicht Daher muss ein lesender Sozialist, ei- ausdrücklich auf soziale Gerechtigkeit gentlich jeder aufmerksame Leser, die und Sozialstaat beziehen, die aber auf Frage stellen: Hat Steinmeier eine wich- den zweiten Blick durchaus damit zu tige Tatsache nicht bemerkt oder ausge- tun haben, wie z. B. der Begriff „Glo- blendet, nämlich die Tatsache: Der reale balisierung“. Frank-Walter Steinmei- sozio-ökonomische Prozess der Globa- er behandelt dieses Thema, das in den lisierung, schon 1848 von Marx und En- politisch-theoretischen Auseinander- gels analysiert, hat zwar auch unsere setzungen der letzten drei Jahrzehnte Gesellschaft in den vergangenen drei eine zentrale Rolle spielte. Im Gegensatz Jahrzehnten beeinflusst und verändert. zur neoliberalen Ideologie, die weitge- Aber radikal und qualitativ verändert hend erfolgreich die Globalisierung als haben den westeuropäischen Sozial- etwas völlig Neues zu verkaufen suchte, und Wohlfahrtsstaat durch zielstrebi- verweist Steinmeier darauf, dass dieses ge Politik die neoliberalen Machteliten. Phänomen zumindest den Sozialisten, Diese haben mit Hilfe des ideologi- die er allerdings nicht so nennt, schon schen Klassenkampfbegriffs „Globali- seit über 150 Jahren bekannt ist: „Die sierung“ die Welt neu interpretiert und

130 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen radikal verändert. Mit Hilfe der Globa- in Deutschland und den USA – die ent- lisierungsideologie progagierten sie die scheidende Ursache für die Finanzkri- TINA-Lüge „There Is No Alternativ“: se.“ (S. 286) Wegen des Naturprozesses Globalisie- Die inzwischen geöffneten Diskus- rung gibt es keine Alternative zu einer sionsräume sind bisher noch nicht ge- „mutigen Reformpolitik“, die den Sozi- nügend genutzt worden zur ideologie- alstaat abbaut und die Entwicklung den kritischen Auseinandersetzung mit dem Märkten überläßt. Die inzwischen von Neoliberalismus und zur Widerlegung fast allen beklagte Kluft zwischen Arm seiner nachweislich falschen Interpreta- und Reich hat sich also nicht deshalb so tion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. dramatisch vertieft, weil die Menschen Fast alle verdammen inzwischen diese den urwüchsigen Globalisiertungspro- Ideologie rhetorisch, aber oft ohne ihre zess sich selbst überlassen haben, son- weiterhin einflußreichen Agitatoren dern weil neoliberale Machteliten die- und Lügen zu benennen und zu wider- sen Prozess bewußt gestaltet haben. legen. Verbreitet ist die Mentalität: „Die Um der Vertiefung der Kluft zwi- Neoliberalen, das sind die anderen.“ schen Arm und Reich, einer Ursache (Frei nach Sartres oft zitiertem Diktum: der Krise, entgegensteuern zu können, „Die Hölle, das sind die anderen.“ Nach muß man zunächst intellektuell und po- seinem Beitrag „Gewalt“ auch von Er- litisch gegen die noch immer mächti- hard Eppler auf S. 107 zitiert). gen neoliberalen Akteure kämpfen, die Ohne erfolgreiche Ideologiekritik die Globalisierung in den vergangenen im Geiste der Aufklärung könnte auch 3 Jahrzehnten für sich politisch ertrag- eine programmatisch erneuerte Linke, reich gestaltet haben. Erst im Zusam- selbst nach einer Abwahl von Schwarz- menhang mit diesem Kampf könnte Gelb, den notwendigen Politikwechsel eine erneuerte Linke erfolgreich nach nicht durchsetzen. Zu dieser geistigen alternativen Zielvorstellungen aktiv die Anstrengung ist die Sozialdemokratie Globalisierung gestalten. auch deshalb verpflichtet, weil sie „sich Im Gegensatz zu der verbreiteten Il- von ihren Anfängen an als Teil der Auf- lusion, die Finanzmarktkrise habe die klärung begriffen“ hat, wie Julian Ni- neoliberale Ideologie restlos hinweg- da-Rümelin in seinem Beitrag „Auf- gefegt, stellt Ottmar Schreiner in sei- klärung“ feststellt. (S. 26 f.) In seinem nem Beitrag „Teilhabe“ zutreffend fest: Kurzbeitrag macht er deutlich, dass die- „Der liberale Marktfundamentalismus se Aufklärung nicht nur eine philoso- als Wegbereiter der größten Finanzkri- phisch-theoretische, sondern auch eine se aller Zeiten ist nicht verschwunden; eminent praktisch-politische Zielset- neu ist aber, dass die Kritik Diskussions- zung hat: „Aufklärung, das ist vor allem räume geöffnet hat, in denen wieder al- die Hoffnung auf Humanisierung der ternative Vorschläge erarbeitet werden Gesellschaft, auf ein Ende der Gewalt, können. Kritische Ökonomen sehen in auf eine Kultur gleicher Anerkennung, der inzwischen extremen Ungleichheit auf die Beseitigung von Armut und der Vermögen – besonders ausgeprägt Elend“. (S. 26)

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 131 Beiträge und Diskussionen

Voraussetzung für ideologiekriti- Jeder schreibt für sich allein, als „ideeller sche Aufklärung in diesem Sinne ist Gesamtsozialdemokrat“ Mitglied einer es, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu Partei, die vollkommene Harmonie ver- analysieren und zu erkennen, und „im- körpert, die ja auch bei normativ-grund- mer das laut zu sagen, was ist“. (S. 28) sätzlichen Fragen möglich ist. Nida-Rümelin zitiert diese Forderung Lassalles mit einem Zitat von Rosa Lu- Baumaterialien und Bausteine – kein xemberg. Astrid Klug zitiert ausführ- attraktives Bauwerk licher unter der Überschrift „Voraus- Der Sammelband enthält viele Bauma- setzung für Reformen“: „Alle große terialien und Bausteine, aber keines- politische Aktion besteht im Ausspre- wegs ein beeindruckendes Bauwerk der chen dessen, was ist, und beginnt damit. Ideen der Sozialdemokratie. Man kann Alle politische Kleingeisterei besteht in durchaus die Qualität und Brauchbar- dem Verschweigen und Bemänteln des- keit von Baumaterialien und Baustei- sen, was ist.“ (S. 254) nen anerkennen. Aber auch bei wohl- Ein großes Defizit dieses „Lese- wollender Prüfung ist kein Bauplan zu buchs“ ist es, dass die vielen Kurzbeiträ- erahnen, nach dem ein attraktives Bau- ge keine fundierte Analyse des real exis- werk errichtet werden könnte, das so tierenden Finanzkapitalismus zu liefern ästhetisch ansprechend werden könnte vermögen, die „laut sagt, was ist.“ Dieses wie das Willy-Brandt-Haus in Berlin, „Empirie-Defizit“ ist aber auch noch aus geschweige denn wie eine der zahlrei- einem anderen Grund verständlich: Da chen romanischen und gothischen Ka- es sich um „die große Idee der Sozialen thedralen. Demokratie“ handelt, werden Themen Damit die im „politischen Lese- und Begriffe von den Autor/innen über- buch“ enthaltenen Baumaterialien und wiegend normativ und grundsätzlich Bausteine wenigstens in Umrissen erah- dargestellt. Es geht also vorrangig nicht nen lassen, welches Bauwerk der „gro- um das, was ist, sondern um das, was ßen Idee“ aus ihnen erstehen könnte, sein soll. Da die Aussagen oft allgemein muss die dominante normative mit der und grundsätzlich bleiben, konkrete unterbelichteten empirischen Dimensi- Aussagen eher vermieden werden, darf on konfrontiert werden. Denn Normen dieses Lesebuch nicht als letztes Wort entfalten ihre politische Potenz erst in der SPD für einen erfolgreichen politi- der Konfrontation mit der Wirklichkeit. schen Aufbruch mißverstanden werden. Im Ideenhimmel schwebende Werte, Die Betonung der normativen und die nicht zur Bewertung und Kritik der grundsätzlichen Aspekte der Themen sozialen Wirklichkeit benutzt werden, erweckt auch den Anschein einer voll- haben keinen praktischen Wert. Nur kommenen Harmonie aller Sozialdemo- wenn Sozialdemokraten wieder laut sa- kraten. Obwohl bei den Autor/innen alle gen, was ist, können sie den Vorwurf der „Richtungen“ vertreten sind, gibt es kei- „politischen Kleingeisterei“ entkräften, ne Anzeichen für unterschiedliche Mei- die nach Lassalle „in dem Verschweigen nungen und kontroverse Diskussionen. und Bemänteln dessen, was ist“ besteht.

132 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen

Hier ist nicht der Platz, um eine kriti- finden der Deutschen so tief verletzt wie sche Bestandsaufnahme unserer Gesell- am Ende unserers Jahrzehnts.“2 schaft vorzustellen. Aber der Hinweis Und diese Verletzung des Gerech- sei erlaubt: In der Zeitschrift „perspek - tigkeitsempfindens ist nicht zu heilen tiven ds“ gibt es dazu zahlreiche Beiträ- durch bessere „Kommunikation“ oder ge. Und wenigsten stichwortartig seien durch SPD-Politiker, die demonstra- hier einige Eckpunkte einer solchen Be- tiv ihren Stolz auf die Agenda 2010 zur standsaufnahme angedeutet: Es reicht Schau stellen: Eine Umfrage am Wahltag nicht, die sich weiter vertiefende Kluft im September 2009 ergab: Zwei Drittel zwischen Arm und Reich zu beklagen, der Wähler sahen in diesen „Reformen“ sondern man muss auch „laut sagen“, einen Bruch mit den sozialdemokrati- dass das die Folge von politischen Ent- schen Grundwerten, also der „großen scheidungen ist.1 Wenn Andrea Nahles Idee Soziale Demokratie“. Wenn Sozi- in ihrem Beitrag „Sozialstaat“ auf der aldemokraten dafür arbeiten wollen, normativen Ebene an das „ursozialde- dass ihre Ideen wieder zu einer Kraft mokratische Versprechen des individu- werden, müssen sie zunächst realistisch ellen Aufstiegs durch Chancengleich- erkennen: Das vergangene Jahrzehnt ist heit und eigene Leistung“ erinnert, so ein Beleg für die „Ohnmacht der großen kann das nur vertrauensbildend wirken, Idee Soziale Demokratie“, was die gro- wenn sie auch laut sagt, und nicht ver- ße Mehrheit der Bevölkerung aus gutem schweigt: Im ersten Jahrzehnt des 21. Grund so sieht. Jahrhunderts sind 5 Millionen Men- Mit anderen Worten: Noch nie hat- schen trotz „eigener Leistung“ nicht ten die Deutschen die Kraftlosigkeit „individuell aufgestiegen“, sondern aus „der großen Idee Soziale(r) Demokra- der Mittelschicht „kollektiv abgestie- tie“ so schmerzlich empfunden. gen“ in die armutsgefährdete Unter- schicht, die weiter wächst. Soziale Demokratie – neuer Name Zu dem, was ist, gehört auch das, für Demokratischen Sozialismus was die Menschen über die Gesellschaft oder neues Konzept? und die Politik denken. Erhard Epp- Aufmerksame Leser, die die Geschich- ler verweist auf Meinungsumfragen im te der SPD kennen, könnten durch ei- Jahre 2008 („nur 13% finden die Vertei- nige begriffliche Unklarheiten im „poli- lung von Einkommen und Vermögen tischen Lesebuch“ irritiert werden, weil gerecht“) und fällt über das erste Jahr- etwas, was erklärt werden müsste, nicht zehnt des 21. Jahrhunderts das vernich- erklärt wird. Unproblematisch ist es, tende Urteil: „Noch nie seit dem Zweiten wenn ein Buch über die fast 150 jährige Weltkrieg war das Gerechtigkeitsemp- SPD den Titel trägt: „Die Kraft einer gro- ßen Idee.“ Denn die sozialdemokratische

1 Vergl. dazu: Ottmar Schreiner: Die Gerech- 2 Erhard Eppler: Ein Partei für das zweite Jahr- tigkeitslücke – Wie die Politik die Gesellschaft zehnt. Die SPD?, vorwärts buch, Berlin 2008, spaltet, Berlin 2008. S. 18f.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 133 Beiträge und Diskussionen

Arbeiterbewegung entstand nicht nur als ger Programm es formulierte, der de- ökonomische Interessenvertretung der mokratische Sozialismus eine dauern- ausgebeuteten Arbeiterklasse, sondern de Aufgabe und damit eine dauerhafte zugleich als Ideen- und Wertegemein- Anstrengung von sozialen Demokratin- schaft, die alle Menschen aus dem huma- nen und Demokraten, also von uns.“ (S. nistischen Geist der Bergpredigt und der 11) (Warum nicht auch von demokrati- Aufklärung anspricht. Grundidee dieser schen Sozialisten?) neuen Bewegung war das Ziel, die Ge- Dem Leser wird nicht erklärt, was sellschaft in Richtung auf Freiheit, Ge- es eigentlich mit dieser Umbenennung rechtigkeit und Solidarität bewußt um- der großen Idee auf sich hat. Und war- zugestalten. Und diese neue Idee hatte um nennt Thorsten Schäfer-Gümbel in einen neuen Namen: „Sozialismus“ und seinen Beitrag „Gleichheit“ die große „Demokratischer Sozialismus“. Auch als Idee immer noch „der demokratische die SPD politisch noch ohnmächtig war, Sozialismus“ (S. 111), ebenso wie Hans- als ihre Mitglieder während des „Sozia- Jochen Vogel. Für seinen Beitrag „Wer- listengesetzes“ verfolgt und eingekerkert te“ wählt er den Untertitel „Die Grund- wurden, war sie dank der „Kraft dieser werte des demokratischen Sozialismus“, großen Idee“ schon zu einem geistigen ohne das neue Wort „Soziale Demokra- und moralischen Machtfaktor gewor- tie“ zu erwähnen. den. Und trotz schmerzlicher Rückschlä- Erst im Beitrag „Sozialismus“ er- ge wurde die Geschichte zu einem Be- wähnt Thomas Meyer ausdrücklich die weis für „die Kraft der großen Idee des „Umbenennung“ und gibt Gründe da- Demokratischen Sozialismus“. für an: „Das Projekt des Sozialismus“ Leser, die sich an die „Kraft dieser habe zwar sogar „durch die neuen He- großen Idee“ erinnern, könnten bei der rausforderungen der Globalisierung ... Lektüre des „politischen Lesebuchs“ ir- zusätzliches Gewicht gewonnen“. Aber ritiert sein, dass diese große Idee jetzt „durch die problematische Verwendung den neuen Namen „Soziale Demokra- des Begriffs für inakzeptable politische tie“ trägt, ohne dass diese Umbenen- Vorhaben“ (u. a. Sowjetkommunis- nung zunächst erwähnt oder begründet mus) ist „dessen Missverständlichkeit wird. „Fragwürdig“ wird es auch, wenn gewachsen, so dass die meisten sozial- die Autor/innen in ihren Kurzbeiträgen demokratischen Parteien um der Ein- von „Sozialer Demokratie“ schreiben, deutigkeit willen dem Begriff Soziale in den ergänzenden Zitaten und Buch- Demokratie den Vorzug geben“. (S. 271) titeln aber nur von „Sozialismus“ und Für Thomas Meyer ist der neue Name „Demokratischem Sozialismus“ zu le- nicht ein neues Konzept, sondern eine sen ist. Ist „Soziale Demokratie“ nur ein kontinuierliche Weiterentwicklung des Synonym von „Sozialismus“ oder etwas Demokratischen Sozialismus: „Theorie ganz anderes? Es hilft auch nicht weiter, und Praxis der Sozialen Demokratie er- wenn man in der Einleitung von Gab- streben die der Gegenwart angemessene riel über die Soziale Demokratie liest: Aktualisierung der Traditionen des de- „Bis heute bleibt, wie das Godesber- mokratischen Sozialismus.“ (S. 237)

134 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen

Diese Formulierung beantwortet digung eines kruden Kapitalismus – aber nicht die präzise Frage, ob die „der zeitweise auch in seiner Überwindung“. Gegenwart angemessene Aktualisie- Aber heute ist das nicht mehr Aufgabe rung“ nicht doch einen Verzicht auf die der SPD: „Das Ziel der Umwälzung von systemverändernde Zielsetzung des So- Produktions- und Eigentumsverhältnis- zialismus impliziert, nämlich das kapi- sen hat der Einsicht Platz gemacht, dass talistische durch ein besseres sozialisti- der kapitalistischen Logik in einem so- sches System zu ersetzen. In den meisten zial gesetzten Rahmen das höhere Inno- Beiträgen spielt diese Frage keine Rolle. vations- und Wohlstandspotenzial ge- Aber Michael Vassiliadis und Peer Stein- genüber anderen Wirtschaftssystemen brück beantworten die Frage eindeutig: innewohnt.“ (S. 318) Die Soziale Demokratie will nicht mehr, wie der Sozialismus, das kapitalistische Überwindung des Kapitalismus – kein Wirtschaftssystem durch ein anderes, Thema für den Wahlkampf 2013, aber sozialistisches System ersetzen. für eine große Idee Vassiliadis wählt für seinen Beitrag Während die übrigen Autor/innen die „Kapitalismus“ den treffenden Unterti- Frage nach Überwindung des Kapita- tel: „Die soziale und ökologische Zäh- lismus nicht einmal erwähnen, beant- mung des Kapitalismus“. (S. 155) Zu- worten sie Vassiliadis und Steinbrück treffend beschreibt er das Problem: In klar und eindeutig: Die traditionelle den Auseinandersetzungen in der poli- Leitidee Demokratischer Sozialismus ist tischen Linken ging es darum, „ob der nicht identisch mit der Sozialen Demo- Kapitalismus gezügelt werden kann ... kratie. Diese ist der Name für eine neue oder ob die Überwindung des kapita- gesellschaftspolitische Konzeption, die listischen Systems die einzige wirkliche nicht mehr – wie die SPD „zeitweise“ – Lösung ist“. (S, 155) Er erwähnt nicht, den Kapitalismus überwinden, sondern dass in diesen Auseinandersetzungen nur sozial und demokratisch bändigen einmal der Sozialismus als Alternati- oder zügeln möchte. Für die kommen- ve zum Kapitalismus angesehen wur- den Wahlkämpfe und Wahlergebnis- de. Die damalige Kontroverse hält er für se 2013 dürfte die Frage, ob eine neue entschieden: Die Geschichte habe „un- Regierung den Kapitalismus überwin- zählige Beweise für seine Gestaltbarkeit den oder nur bändigen will, keine Rolle geliefert. Dieser demokratisierte und spielen. Aber wenn es nach den Wahlen gezügelte Kapitalismus hat den techno- der Mehrheit der Volksverteter gelänge, logischen, den sozialen und den ökolo- dem Kapitalismus, den sie selbst im ers- gischen Fortschritt in besonderer Weise ten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends befördert.“ (S. 156) entfesselt hatten, im zweiten Jahrzehnt Ähnlich sieht Steinbrück in seinem wieder einige soziale Fesseln anzulegen, Beitrag „Wirtschaft“, bei aller Kritik, im dann dürfte das Volk ihren Vertetern Kapitalismus das beste aller möglichen dafür dankbar sein. Wirtschaftssysteme: Die Aufgabe der Doch wenn die Überwindung des SPD bestand „immer auch in der Bän- Kapitalismus kein Thema für Politiker

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 135 Beiträge und Diskussionen sein kann, die an die nächste Wahl den- blierung des demokratischen Rechts- ken, könnte es ein Thema für die weni- staates mit Garantie der Menschen- und gen Anhänger einer „großen Idee“ sein, Bürgerrechte. die über den Wahltag hinaus denken. Die neue Idee des Sozialismus be- Und die sich daran erinnern, welche kämpfte nicht die liberalen und de- Rolle einmal die große Idee des Demo- mokratischen Ideen, sondern vervoll- kratischen Sozialismus im Spektrum ständigte sie: Auch die kapitalistische der politischen Ideen spielte: In der Ge- Wirtschaftsordnung ist nicht von Gott schichte der politischen Ideen der eu- oder der Natur gegeben, sondern von ropäischen Moderne wurden zunächst Menschen gemacht und kann daher 3 Hauptströmungen unterschieden: Li- von Menschen , wie die monarchische beralismus, Konservatismus, Sozialis- Ordnung, verändert werden. Die demo- mus. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kratische Bewegung hatte nicht über- kam als 4. Hauptströmung der Kom- all sofort die absolute Monarchie durch munismus hinzu, der sich in der zwei- die parlamentarische Demokratie er- ten Hälfte des Jahrhunderts aufspaltete setzt, sondern zunächst den Absolutis- in Sowjetkommunismus, chinesischer mus durch die konstitutionelle Monar- Kommunismus und Reformkommunis- chie gebändigt oder gezähmt. Ähnlich mus. (Rechtsextrem faschistische Ideo- hat die sozialistische Bewegung noch logien bleiben hier ausgeklammert). nirgendwo den Kapitalismus durch den Aus diesem breiten Spektrum konkur- Demokratischen Sozialismus ersetzt, rierender politischer Ideen sind die sondern durch einen „konstitutionellen meisten – zugespitzt: alle – aus den po- Kapitalismus“ sozial und demokratisch litischen, wissenschaftlichen und poli- gebändigt, im Sozialstaat. tischen Debatten verschwunden. Denn Die weiterreichende systemverän- nicht mehr Ideen bestimmen das Be- dernde Zielsetzung der sozialistischen wußtsein, sondern das gesellschaftliche Bewegung entsprang nicht nur dem Sein des siegreichen Kapitalismus, zu Wunsch mal was ganz Neues zu wagen, dem es keine Alternative gibt, bestimmt sondern vor allem der Erkenntnis: Die das Bewußtsein, das neoliberale „Ein- fortdauernde Existenz des Kapitalismus heitsdenken“ (pensèe unique). gefährdet die Fortschritte der liberalen Zur europäischen Moderne in der und demokratischen Bewegungen. Die- Tradition von Humanismus und Auf- se realistische Erkenntnis wurde klas- klärung gehörte die Überzeugung: Die sisch, und heute gültiger denn je, im politische Ordnung ist nicht von Gott Godesberger Programm der SPD von gegeben, sondern von Menschen ge- 1959 formuliert: Aus der kritischen schaffen und von Menschen zu verän- Analyse des real existierenden Kapita- dern. In langen Kämpfen, mit schmerz- lismus zieht die SPD die systemverän- lichen Rückschlägen, führten die derne Schlußfolgerung: „Wirtschaftli- liberalen und demokratischen Ideen che Macht wird zu politischer Macht. und Bewegungen zur Überwindung der ... In der vom Gewinn- und Machtstre- monarchischen Ordnung und zur Eta- ben bestimmten Wirtschaft und Gesell-

136 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen schaft sind Demokratie, soziale Sicher- kannt sind, spielt das Thema auch in den heit und freie Persönlichkeit gefährdet. innerparteilichen Auseinandersetzun- Der demokratische Sozialismus erstrebt gen der SPD keine Rolle. In den linken darum eine neue Wirtschafts- und So- Einflusseliten herrscht Gewißheit: Über zialordnung.“ Ähnlich eindeutig formu- eine Politik für eine neue Wirtschafts- liert das Berliner Programm von 1989: ordnung brauchen wir uns auch deshalb „Es ist eine historische Erfahrung, dass keine Gedanken zu machen, weil eine Reparaturen am Kapitalismus nicht ge- solche Politik sowieso nicht mehrheits- nügen. Eine neue Ordnung von Wirt- fähig wäre. Nur milde lächeln könnten schaft und Gesellschaft ist nötig.“ sie, wenn sie ein klassenkämpferisches Die jüngste krisenhafte Entwick- Pamphlet der Partei Die LINKE läsen, lung des Finanzmarktkapitalismus ha- das die Illusion verkündete: „Mitten im ben diese kritischen Erkenntnisse der Euro-Chaos wünschen sich viele Deut- SPD-Programme leider dramatisch be- sche eine neue Wirtschaftsordnung“ stätigt: Der real existierende Kapitalis- Doch das ist gar nicht die Über- mus und die von der neoliberalen Ideo- schrift eines Klassenkampf-Pamphlets logie inspirierte Politik haben nicht nur der LINKEN, sondern eines Beitrags die sozialen Errungenschaften des So- von Petra Pinzler in der Wochenzei- zial- und Wohlfahrtsstaates gefährdet, tung Die ZEIT (16. August 2012), der sondern auch die Zukunft der Demo- über jüngste Meinungsumfragen zu kratrie. Die lebhafte Debatte über die diesem Thema berichtet. (Meinungs- „Postdemokratie“ hat zwar die Schwere forschungsinstitut TNS Emnid). Und der Krankheit erkannt, aber noch keine es sind nicht nur „viele Deutsche“, son- ausreichende Diagnose erstellt, die eine dern 81 Prozent, die eine „neue Wirt- heilende Therapie ermöglichen könnte. schaftsordnung wünschen“. Diese 81% Im Meinungsstreit der Parteien spielt der Befragten stimmten der Aussage zu: das Thema einer systemverändernden „Wir brauchen eine neue Wirtschafts- Reformstrategie, die im Sinne der frühe- ordnung, die auch den Schutz der Um- ren SPD-Leitidee des Demokratischen welt und den sozialen Ausgleich in der Sozialismus „eine neue Wirtschafts- und Gesellschaft stärker berücksichtigt.“ Sozialordnung (erstrebt)“, keine Rolle. Nur 17% stimmten nicht zu, sind also Bestenfalls kommt von rechts gelegent- noch mit dem Kapitalismus einverstan- lich die Denunziation, dass eine solche den und zufrieden. (In Auftrag gegeben Forderung im Grundsatzprogramm der hatte diese Umfrage übrigens nicht die Partei Die LINKE verfassungsfeindlich Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern die sei. In der SPD fordern zwar die Jusos fest auf dem Boden der FDGO stehende immer noch die Überwindung des Ka- Bertelsmann Stiftung!) pitalismus durch Demokratischen So- In der Auswertung der Umfrage zialismus. Da aber diese Beschlüsse si- wird festgestellt, dass die allgemeine po- cherer zwischengelagert sind als der litische Verunsicherung der Bürger die Atommüll in Asse und auch den meis- Konsequenz habe, dass „die Deutschen ten der noch wenigen Jusos nicht be- durchaus zu einer Nation von System-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 137 Beiträge und Diskussionen kritikern werden (können) – aber nur in sogar, wie seit rund 2 Jahrzehnten, wei- der Theorie, ohne praktisches Engage- ter zu verschlechtern, ist weit weniger ment in Reformbewegungen. ... Die Kri- intellektuell-moralische Potenz nötig als tik der Bürger am gegenwärtigen System für die Verwirklichung eines sozialen wäre damit eher resignativ als revolutio- und humanen Fortschritts. när.“ Diese resignative Haltung verstärkt Ein erster Schritt für eine linke Re- zwar die Zweifel der Bürger an der Poli- naissance, in der die große Idee des De- tik und der Demokratie. Aber das Inter- mokratischen Sozialismus wieder zu ei- esse an „Nachhaltigkeit, Umwelt und So- ner gesellschaftsgestaltenden Kraft wird, ziales“ eröffne „einen großen Spielraum könnte im intellektuellen Um- und Vor- für eine langfristig orientierte Politik – feld der SPD gemacht werden: Wenn wenn denn eine Partei dafür einträte“. wieder ein intellektuell-moralisches Mi- Wenn – außer der LINKEN – keine lieu entstünde, in dem man sich nicht mehrheitsfähige Partei „für eine lang- nur Gedanken über die nächsten Wah- fristig orientierte Politik“ für eine neue len macht, sondern – ohne sich durch Wirtschaftsordnung eintritt, dann aus kurzfristige Machtinteressen der Partei folgendem Grund: Ein Angebot für eine einschüchtern zu lassen – kreativ und solche „langfristig orientierte Politik“ ohne Tabus über die langfristigen und könnte nur im linken Spektrum wieder- gemeinwohlorientierten Interessen und geboren werden. Aber in der noch im- Chancen unserer Gesellschaft nach- mer geschwächten intellektuell-politi- denkt. Und dabei auch einmal etwas schen Linken gibt es keine gemeinsame denkt und laut sagt, was noch kein Par- Suche nach einer neuen Wirtschafts- teigremium einstimmig beschlossen hat ordnung. Es gibt nicht einmal ein in- oder ein Spitzenpolitiker in einer Talk- tellektuell-moralisches Potenzial für die Show oder in BILD verkündet hat. Ein programmatische Konzipierung und Milieu, in dem nicht mit List und Tücke praktische Umsetzung einer systemver- gegen persönliche Konkurrenten ge- ändernden Reformstrategie. kämpft wird, sondern im kontroversen Das bedeutet keineswegs, dass die und solidarischen Ideenwettstreit für Rechte ein größeres intellektuell-mo- neue Erkenntnisse. Insofern betrachte ralisches Kapital besitzt. Denn um eine ich mich als einen erfahrungsresisten- bestehende schlechte Ordnung mit gro- ten, unbelehrbaren Illusionisten. ßer Ungerechtigkeit zu bewahren oder

138 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen

Klaus Faber Die Rückkehr des Bundes in die Hochschul- und Bildungspolitik

Neue Bund-Länder-Hochschulpakte und die Abschaffung des Kooperationsverbots im Bildungsbereich1

Zur Stärkung des Bundes im Hoch- desregierungen von Bayern und Nord- schul- und Bildungsbereich hat die rhein-Westfalen. Ein wichtiges Motiv Bundesregierung Ende Mai dieses Jah- bildete auf der Seite der Änderungsbe- res einen Gesetzentwurf zur Änderung fürworter, Bundesleistungen u. a. im des Grundgesetzes eingebracht. Aus- Bereich der Bund-Länder-Gemein- gangspunkt für die neue Debatte ist die schaftsaufgaben, z. B. im Hochschulbau, Föderalismusreform I von 2006. Diese abzubauen und nach einer Übergangs- „Reform“ soll in einigen Punkten rück- zeit ganz abzuschaffen. Eine derartige gängig gemacht werden. Leistungsreduzierung musste sich vor allem auf weniger finanzstarke und auf Problematische Aspekte der Länder mit Investitionsrückständen im Föderalismusreform 2006 Hochschulbereich – also u. a. auf ost- Ein wesentliches Ziel der Föderalis- deutsche Länder – besonders negativ musreform I von 2006 war es, so die auswirken. Daher hätte man von diesen Argumentation der Initiatoren und Ländern eigentlich deutlichen Wider- Befürworter der damaligen Verfas- stand gegen derartige Abbauplanungen sungsänderung, die Zuständigkeiten erwarten dürfen. Solchen Erwartungen zwischen Bund und Ländern u. a. im ist in Teilbereichen nur das Land Meck- Bereich Wissenschaft und Bildung zu lenburg-Vorpommern gerecht gewor- „entflechten“. Zu den Unterstützern der- den. Der Einfluss von Staatskanzleien artiger Bestrebungen zählten auch ost- und Finanzministern, die sich nicht sel- deutsche Landesregierungen, darunter ten eher an im engeren Sinne fiskal- als die damalige SPD-CDU-Regierung des an investitions- und wachstumspoliti- Landes Brandenburg. schen Zielen orientieren, hat in anderen Zu den Hauptinitiatoren der entspre- ostdeutschen Ländern schon früh zur chenden Initiativen gehörten die Lan- Zustimmung zu den Initiativen für die Verfassungsänderung von 2006 geführt. 1 Aktualisierte und thematisch überarbeitete Fassung eines Beitrags in: perspektive 21, Heft 53, 2012, S. 81-88.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 139 Beiträge und Diskussionen

Bundeskompetenzverluste 2006 Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe und die Folgen Hochschulbau bereits 2006 vorgetragen In der Praxis führte die erwähnte „Ent- hatten. Ohne den Anreiz der Bundes- flechtung“ von Bundes- und Landes- mitfinanzierung und den im früheren zuständigkeiten überwiegend dazu, Grundgesetz geregelten Zwang, ent- dass Bundeskompetenzen gestrichen sprechende Landeszahlungen für den oder reduziert wurden. Nach der Ver- Hochschulbau in gleicher Höhe wie der fassungsänderung von 2006 blieben im Bund zu leisten, ist in finanzschwachen Sektor Bildung und Hochschule nur Ländern und in Ländern mit Nachhol- noch wenige Bundeszuständigkeiten bedarf im Hochschulbau eine ausrei- übrig. Die Kompetenzverluste betrafen chende Hochschulbaufinanzierung oft u. a. die Hochschulgesetzgebung und, nicht gesichert. wie bereits erwähnt, die frühere Ge- Für den Bildungsbereich allgemein, meinschaftsaufgabe Hochschulbau nach also insbesondere für Schule und Hoch- Art. 91a des Grundgesetzes. Die Hoch- schule, hat auch eine andere Neurege- schulrahmengesetzgebung des Bundes lung von 2006 Bedeutung. Vor allem wurde, wie insgesamt die Rahmenge- Beschwerden des früheren hessischen setzgebung, aufgegeben. Im Bereich der Ministerpräsidenten Roland Koch über konkurrierenden Gesetzgebung blieben die Bundesmitfinanzierung von Län- beim Bund die Regelungskompetenzen deraufgaben z.B. bei der Förderung für die Hochschulzulassung und die von Ganztagseinrichtungen (nach Art. Hochschulabschlüsse, nicht aber dieje- 144a Abs. 4 alt des Grundgesetzes), hat- nige für die Hochschulpersonalstruk- ten dazu geführt, dass durch die Verfas- tur. Als Ausgleich für die Abschaffung sungsänderung zur Föderalismusreform der Gemeinschaftsaufgabe Hochschul- I derartige Bund-Länder-Kooperations- bau wurden Regelungen getroffen, nach abkommen nur noch in demjenigen denen bis 2013 zweckgebundene Über- Bereich zugelassen wurden, in dem der gangszahlungen des Bundes, berechnet Bund über eigene Gesetzgebungszustän- nach dem Durchschnitt zuvor erbrach- digkeiten verfügt. Im Schulwesen ist das ter Leistungen, zu leisten sind. Ab 2014 bekanntlich kaum der Fall, sieht man entfällt die Zweckbindung der Bundes- von der Ausbildungsförderung ab, die beiträge, die, unter dem Vorbehalt einer aber zur Begründung von gemeinsamen Erforderlichkeitsprüfung, noch bis 2019 Bund-Länder-Förderabkommen für den gezahlt werden sollen. Schulsektor nicht ausreicht. Die 2006 Bereits vor dem Wegfall der Zweck- in das Grundgesetz neu eingefügte, die bindung in 2014 waren in einigen Län- Bund-Länder-Kooperation einschrän- dern, auch in Brandenburg, keine den kende Regelung wird heute meist mit Bundesmitteln entsprechenden Landes- der Bezeichnung „Kooperationsverbot“ leistungen für den Hochschulbau aufge- beschrieben. Auch im Hochschulbereich bracht worden. In der Praxis wurden auf reichen die geschilderten, nach 2006 diese Weise die Befürchtungen bestätigt, verbliebenen Bundesgesetzgebungszu- die Kritiker gegenüber der geplanten ständigkeiten nicht aus, um darauf För-

140 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen derabkommen mit dem Bund nach dem meinschaftsaufgabe bedürfen gemäß ei- GG-Regelungssystem von 2006 mit ei- ner Zusatzbestimmung (Art. 91b Abs. nem „Kooperationsverbot“ (Art. 104b 1 Satz 2 GG) „der Zustimmung aller Abs. 1 Satz 1 neu GG) zu stützen. Länder“3. Die gemeinsame Finanzie- Inzwischen werden viele der rung könnte sich auch auf alle Bauvor- 2006-Neuregelungen des Grundge- haben an Hochschulen beziehen, also setzes im Bildungs- und Hochschul- nicht nur auf die im Grundgesetz er- bereich, vor allem diejenigen, die den wähnten „Forschungsbauten“4. Die auf Bundeseinfluss reduziert haben, kriti- siert. Zu den Kritikern gehören Politiker 3 Das dem Grundgesetz bislang fremde Ein- aus allen Bundestagsparteien, auch aus stimmigkeitsquorum nach Art. Art. 91b Abs. der SPD. Viele Kritikansätze zielen ins- 1 Satz 2 GG belegt exemplarisch den „staa- besondere darauf ab, eine höhere Bun- tenbündischen“ Unterton mancher Aspekte dieser Föderalismusreform; zu Konstrukti- desmitfinanzierung des Bildungs- und onsproblemen s. auch Klaus Faber, Anm. 1, S. Hochschulbereichs zu erreichen. 459, Anm. 26. 4 Nach dem 2006 neu eingefügten Art. 91b Abs. Eine neue Gemeinschaftsaufgabe für 1 Satz 1 Nr. 2 des Grundgesetzes (Förderung Bund-Länder-Hochschulpakte von „Vorhaben der Wissenschaft und For- Merkwürdigerweise (und glücklicher- schung an Hochschulen“) können Bund und weise) hat die Föderalismusreform von Länder auch dann Bauvorhaben an Hoch- schulen fördern, wenn sie nicht „Forschungs- 2006, gegen den ihr zugrunde liegenden bauten“ nach Art. 91b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Generaltrend zur „Entflechtung“, eine Grundgesetzes sind. Zu den zu fördernden neue Bund-Länder-Gemeinschafts- Hochschul-„Vorhaben“ etwa im Bereich der aufgabe zur Förderung von „Vorha- Lehre können nämlich auch Bauvorhaben ben der Wissenschaft und Forschung gehören. Eine Ausschlussfunktion, die sich auf alle anderen Bauten als die „Forschungs- an Hochschulen“ eingeführt. Sie wur- bauten“ nach Art. 91b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des de vor allem aufgrund der Initiativen Grundgesetzes bezieht, kommt der genannten ostdeutscher Bundestagsabgeordneter Norm nicht zu. Auch die Ausgleichszahlun- (insbesondere von Andrea Wicklein, gen nach Art. 143c Abs. 1 des Grundgesetzes Potsdam, und Wolfgang Thierse, Ber- sprechen nicht gegen dieses Ergebnis, weil 2 sie nur den Ausfall der früher grundgesetz- lin ) in der letzten Beratungsphase in lich gesicherten, von keiner Vereinbarung Art. 91b Abs. 1 des Grundgesetzes (dort abhängigen Baumittel berücksichtigen, die Satz 1 Nr. 2) eingefügt. Bund-Länder- später ohnedies wegfallen. Sie stehen dem- Vereinbarungen nach dieser neuen Ge- nach neuen Vereinbarungen nicht entgegen, die eine darüber hinausgehende Bauförde- rung zum Ziel haben. Die Unterschiede bei den Zustimmungsquoren für Nr. 2 und Nr. 3 2 Vgl. dazu Klaus Faber: Wissenschaftspolitik in Art. 91b Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Föderalismusreform: Verfassungspoli- für Forschungs- und andere Hochschulbauten tische Ungereimtheiten, in: Die Kunst des sind im übrigen nicht nachzuvollziehen; das Vernetzens, Festschrift für Wolfgang Hempel, gilt auch für die unterschiedliche Quoren- hrsg. von Botho Brachmann, Helmut Knüp- behandlung von Forschungsförderung au- pel, Joachim-Felix Leonhard, Julius H. Scho- ßerhalb und innerhalb der Hochschulen, die eps, 2006, Berlin, S. 449 bis 460, S. 458 f. diese Sektoren, im Gegensatz zur bislang gel-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 141 Beiträge und Diskussionen die neue Fördervorschrift nach Art. 91b Erweiterung der Bundesmitfinanzierung Abs. 1 des Grundgesetzes gestützten im Wissenschaft und Bildung Bund-Länder-Hochschulpakte sehen Vor allem auf der Basis der neuen, das allerdings noch nicht vor. 2006 eingeführten Hochschul-Gemein- Die neue Regelung konnte nur des- schaftsaufgabe nach Art. 91b Abs. 1 halb durchgesetzt werden, weil bei einer Satz 1 Nr. 2 des Grundgesetzes hat sich Ablehnung der Initiativen die für Ver- der Bund im Hochschulwesen trotz der fassungsänderungen notwendige Zwei- Kompetenzverluste von 2006 einen er- Drittel-Mehrheit im Bundestag hätte heblichen und in letzter Zeit wach- gefährdet sein können. Die Einfügung senden Einfluss sichern können. Die einer neuen Bund-Länder-Gemein- größten neuen Bundesfinanzierungs- schaftsaufgabe durch die Verfassungs- beteiligungen enthalten die Bund-Län- änderung von 2006 widerspricht, wie der-Vereinbarungen im Rahmen des erwähnt, dem ursprünglichen Grund- Hochschulpaktsystems und zur sog. Ex- anliegen der Initiatoren dieser Föde- zellenzinitiative. Sie könnten, wie mit ralismusreform. Der Vorgang zeigt auf einem Beispiel dargelegt, ohne Verfas- der anderen Seite, dass sich Widerstand sungsänderung auf weitere Hochschul- auch gegenüber einer übermächtig er- gebiete, die auch einen Teil der Grundfi- scheinenden Formation, wie damals der nanzierung der Hochschulen umfassen, politischen Führung einer CDU/CSU- ausgedehnt werden. Entsprechende SPD-Koalition auf der Bundesebe- Vorschläge, die sich auf die Bundesmit- ne, durchaus lohnen kann. Die neuen finanzierung der erreichten Hochschul- Bund-Länder-Hochschulpakte leisten abschlüsse beziehen, sind 2011 vom insgesamt einen beachtlichen Beitrag Bundes-Wissenschaftsforum der SPD zur Hochschulfinanzierung. Sie wären vorgelegt worden. ohne die Initiativen der ostdeutschen Auch der letzte SPD-Bundespar- SPD-Bundestagsabgeordneten nicht teitag hat einmütig – mit den Stim- möglich gewesen, die für derartige Pak- men aller Delegierten aus dem Land te die rechtliche Grundlage in Art. 91b Brandenburg – am 6. Dezember 2011 Abs. 1 des Grundgesetzes geschaffen ha- umfassende Forderungen an neue ge- ben. meinsame Bund-Länder-Programme zur Finanzierung des Bildungs- und Hochschulwesens beschlossen. Vorge- sehen sind danach in einem Verbund- programm von Bund und Ländern etwa tenden Verfassungsrechtslage, unter vonein- 20 Milliarden Euro Mehrausgaben für ander abweichende Anforderungen stellt. Die Bildung und Wissenschaft pro Jahr. Im 2006 beschlossene, systematisch und in der Wissenschaftsbereich wäre ein derarti- Formulierung nicht überzeugende Fassung ist ges Bund-Länder-Verbundprogramm unter Zeitdruck entstanden (Kritikpunkt an Nr. 2 auch: „Forschung“ ist Teil von „Wissen- auch ohne eine Grundgesetzänderung schaft“). Vgl. zum Ganzen Klaus Faber, Anm. zu verwirklichen, da die vor und seit 1, S. 459, Anm. 26. 2006 bestehenden Grundgesetzbestim-

142 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen mungen weit und flexibel genug gefasst und Forschung an Hochschulen“ sollen sind. Im Bildungssektor außerhalb der künftig auch „Einrichtungen“ der Wis- Hochschulen, also vor allem im Schul- senschaft und Forschung an Hochschu- bereich, ist für die Umsetzung der SPD- len, also z. B. Hochschulen selbst, durch Forderungen auf dem letzten SPD-Bun- Bund-Länder-Kooperationsabkommen desparteitag allerdings eine Aufhebung gefördert werden können. Auch hier ist des geschilderten Kooperationsverbots eine verfassungsändernde Zwei-Drittel- erforderlich. Mehrheit im Bundestag trotz der zu- Verfassungsänderungen setzen nächst negativen Reaktion der Oppo- Zwei-Drittel-Mehrheiten im Bundestag sition unter Umständen vorstellbar, im und Bundesrat voraus. Im Bundestag Bundesrat aber bislang noch nicht ge- ist es vielleicht möglich, für eine Auf- sichert. Der SPD-Bundestagsfraktion hebung des Kooperationsverbots eine geht die Initiative nicht weit genug; sie derartige Mehrheit zu erhalten. Das stimmt dem Änderungsanliegen jedoch trifft sowohl auf die Positionen der bei- in der Sache zu. Fraglich ist, ob man für den Regierungsfraktionen als auch auf die vorgesehenen, erweiterten Bund- die Entwicklung der Meinungsbildung Länder-Förderprogramme im Hoch- in den Bundestagsfraktionen der SPD schulbereich die vorgeschlagene 91b- und der Grünen (und vielleicht auch in Erweiterung, die zur Klarstellung und der Fraktion Die Linke) zu. Fraglich ist Abgrenzung des Spielraums für Verein- allerdings nach wie vor, ob eine Zwei- barungen gewiss nützlich wäre, unbe- Drittel-Mehrheit im Bundesrat erreicht dingt benötigt. Die Verfassungspraxis werden kann, was wiederum die Posi- führt eher zu dem Eindruck, dass auch tion eines Teils der Bundestagsfraktio- jetzt schon die Instrumente für wesentli- nen beeinflussen könnte. Widerstände che neue Programme zur Verfügung ste- sind dabei auch in denjenigen Ländern hen, wie u. a. die Fälle zeigen, in denen vorstellbar, die von der SPD mitregiert der Bund Hochschulen mitfinanziert. werden. Die Bundes-SPD wird eine Im Bundestag zeichnet sich seit län- Aufhebung des Kooperationsverbots al- gerer Zeit eine breite Übereinstimmung lerdings wohl in jedem Fall als Teil ihrer dazu ab, auch ohne eine vorausgehende Agenda für den Bundestagswahlkampf Verfassungsänderung das Volumen und 2013 propagieren. Die SPD-Bundes- die inhaltliche Reichweite der Bundes- tagsfraktion hat zu diesem Thema einen mitfinanzierung im Hochschulwesen Beschlussantrag vorgelegt, der mit der deutlich zu erweitern. Auf der Seite der SPD-Länderseite abgestimmt ist. zurzeit bestehenden Regierungskoaliti- Die Bundesregierung hat zur ver- on ist dafür u. a. die schon erwähnte Be- fassungsrechtlichen Absicherung eines reitschaft ein Zeichen, den Bund in stär- höheren Bundesfinanzierungsengage- kerem Umfang an der Mitfinanzierung ments im Hochschulbereich eine Er- bestimmter Hochschulen zu beteiligen gänzung des Artikels 91b Abs. 1 Satz 1 (Beispiele: Charité Berlin, Karlsruhe). Nr. 2 des Grundgesetzes vorgeschlagen. Dieses Modell könnte unter Umständen Neben den „Vorhaben der Wissenschaft ebenso in ostdeutschen Flächenstaaten

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 143 Beiträge und Diskussionen

Anwendung finden, ein entsprechendes Konsequenzen für die Landesebene; das Engagement auf der Landesseite voraus- Beispiel Brandenburg gesetzt, etwa in Frankfurt (Oder), bezo- Vor dem Hintergrund der in der Verfas- gen auf die Europa-Universität Viadri- sungsreform II von 2007 beschlossenen na und ihr internationales Profil. Die verfassungsrechtlichen Schuldenbrem- Realisierung wird in diesem Fall aller- sen werden verschiedene Bundesländer dings wohl erst nach den Bundestags- Schwierigkeiten haben, ihre Aufgaben wahlen 2013 unter dann veränderten im Bildungs- und Wissenschaftsbereich bundespolitischen Ausgangsbedingun- in angemessener Weise zu erfüllen. Aus gen möglich sein. Die Bundes-SPD hat übergeordneten Gründen (Sicherung ihre Zielsetzung, eine stärkere Bundes- der deutschen Wettbewerbsfähigkeit) ist mitfinanzierung im Hochschulbereich es z.B. notwendig, die in dem Bundes- anzustreben, u. a. in dem Parteitagsbe- SPD-Beschluss vom 6. Dezember 2011 schluss vom 6. Dezember 2011 deutlich geforderten Steigerungsraten auch für gemacht. den gesamtstaatlichen Hochschulhaus- Man sollte bei den Bundesangebo- halt zu gewährleisten Zu den dabei ne- ten zu einem größeren Finanzengage- gativ betroffenen Ländern gehört auch ment im Hochschulwesen berücksichti- Brandenburg, das in seinen Hochschul- gen, dass der Bund, in diesem Fall von ausgaben pro Kopf der Bevölkerung an einer breiten Zustimmung im Bundes- der letzten Stelle in Deutschland liegt; tag gestützt, nicht die Absicht hat, bis- dies gilt auch für Brandenburgs Position lang von den Ländern aufgebrachte bei einem Vergleich der Hochschulaus- (oder nach allgemeinen Standards auf- gabenanteile am Bruttoinlandsprodukt5. zubringende) Finanzleistungen ganz Theoretisch gibt es in erster Linie oder teilweise zu ersetzen. Es geht viel- zwei Wege für einen Ausweg aus dem mehr in der Regel um eine Bundesfi- Dilemma. Zum einen wäre es denkbar, nanzierungsbeteiligung an künftig not- die 2007 beschlossenen Regelungen zu wendigen Ausbauanstrengungen, etwa Schuldenbremsen durch Verfassungs- im Bereich der Studienplätze, spezifi- änderung zu lockern, auch unter dem scher z.B. zum Ausbau von Masterstudi- Eindruck der europäischen Debatte enplätzen, zur Verbesserung der Quali- über eine gleichrangige Prioritätenset- tät der Lehre oder in anderen Sektoren. zung für die Haushaltskonsolidierung, Mittelbar werden die Länder auf diese für das wirtschaftliche Wachstum und Weise jedoch entlastet, nämlich bei der für Zukunftsinvestitionen zur Siche- Finanzierung eines beachtlichen Teils der künftigen Wachstumsraten in den 5 Vgl. dazu den Beschluss der Brandenburgi- Hochschul- und Forschungshaushalten. schen Hochschulkonferenz vom 7. 3. 2012, Zu deren Volumen geben die im SPD- uni-potsdam.de/img1/bilder/ResolutionBHK. Bundesparteitagsbeschluss vom 6. De- pdf. Siehe dazu auch die Kritik im Bericht der Hochschulstrukturkommission Brandenburg zember 2011 genannten Steigerungsra- („Buttler-Bericht“) vom 8. 6. 2012, S. 11 – ten (für Bund und Länder 20 Milliarden http://www.mwfk.brandenburg.de/cms/detail. Euro mehr im Jahr) einen Hinweis. php/bb1.c.294596.de.

144 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen rung der individuellen, regionalen und ben negativen Aspekten, auch solchen, internationalen Wettbewerbsfähigkeit. die sich auf rufschädigende Folgen für Politisch wahrscheinlicher ist bei fast al- das Land und für Hochschulen des len vorstellbaren Ergebnissen der Bun- Landes beziehen, gibt es ebenso positi- destagswahl 2013 eine Entscheidung für ve Effekte. Zu den letzteren gehört die eine Verstärkung der Bundesmitfinan- Klärung einiger bislang strittigen Fra- zierung in strategisch wichtigen Sekto- gen in der politischen Landesdebatte. ren der Infrastrukturförderung, also u. Dass Brandenburg in Deutschland die a. im Bildungs- und Hochschulwesen, letzte Position bei der Finanzierung sei- wie es der SPD-Beschluss vom 6. De- ner Hochschulen belegt, ist inzwischen zember 2011 und Erklärungen anderer bekannt und unumstritten. Auch die Parteien vorsehen. Außerdem geht es in von der Landesregierung zur Beglei- diesem Zusammenhang auch darum, tung von Sparmaßnahmen eingesetzte Verbesserungen auf der Einnahmesei- Expertenkommission unter Leitung des te des Bundes zu erreichen, etwa, wie es früheren Staatssekretärs Prof. Dr. Butt- die SPD vorschlägt, durch Wiederein- ler hat bereits in ihrem Zwischenbericht führung der Vermögenssteuer. an die SPD-Landtagsfraktion im Früh- Die Haushaltspolitik in den einzel- jahr 2012 deutlich gemacht, dass die in nen Bundesländern muss sich in jedem Brandenburg vorhandenen Hochschul- Fall, auch für die Zeit nach den Bundes- kapazitäten im Ländervergleich keines- tagswahlen von 2013, auf eine derartige falls überdimensioniert sind. In Teilbe- Entwicklung einstellen, um im Wettbe- reichen der politischen Debatte hörte werb um mehr Bundesmittel finanzpo- sich das zuvor noch anders an. Bran- litisch Erfolg haben zu können. denburg könne sich sein Hochschul- Die zurzeit z.B. im Land Branden- system nicht leisten, es gebe im Land burg geführte wissenschaftspolitische zwei Universitäten, darunter die Bran- Debatte6 um Spar- und Kürzungsvor- denburgische Technische Universität schläge und um die brandenburgische Cottbus, zu viel, so einige Stimmen zu Hochschulstruktur steht thematisch Beginn der politischen Auseinanderset- im Zusammenhang mit den überregi- zung. Dieser Teil der Argumentation ist onalen Diskussionen um eine besse- inzwischen geklärt. re Hochschulfinanzierung, wenn auch Offen ist allerdings zum Teil noch dieser Zusammenhang nicht immer immer die Frage, von welchen Kapa- deutlich genug zu erkennen ist. Die zitätsannahmen für die Studierenden- hochschulpolitischen Auseinanderset- zahlen in Brandenburg mittel- und zungen in Brandenburg haben insge- langfristig ausgegangen werden soll. samt ambivalente Auswirkungen. Ne- Die Einsicht, dass es im Hochschulbe- reich, anders als im Schulsektor, kei- nen automatischen Zusammenhang 6 Vgl. dazu Anm. 5 sowie den Bericht der Hochschulstrukturkommission Branden- zwischen Bevölkerungswachstum oder burg („Buttler-Bericht“) vom 8. 6. 2012, siehe -verlust und der Studienplatznachfrage Anm. 5. gibt, wird zwar im Abschlussbericht der

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 145 Beiträge und Diskussionen

Buttler-Kommission7 geteilt, hat sich Die zurzeit diskutierte Zahl von aber sonst noch nicht überall durchge- 50.000 Studierenden, die Brandenburg setzt. Ein Vergleich des – begrenzten – jetzt schon überschritten hat, sollte da- Bevölkerungswachstums in Berlin und her keine starre Obergrenze für einen der gleichzeitig festzustellenden, gro- nachfrageorientierten brandenburgi- ßen Steigerungsraten der Berliner Stu- schen Hochschulausbau bilden. Man dierendenzahlen nach 1990 belegt die sollte bei der Bewertung von Studieren- Unabhängigkeit der beiden Bewegun- denzahlprognosen auch ihre hohe Feh- gen. Auch in anderen deutschen Teil- leranfälligkeit berücksichtigen. Die Pro- regionen lässt sich dieser Unterschied gnosen mussten fast immer nach oben nachweisen. Gegen im Rahmen des korrigiert werden. Interessengeleitete Vertretbaren nach oben prinzipiell of- Bewertungsfaktoren, etwa das Interesse, fene Entwicklungsannahmen zu den den Investitionsbedarf niedrig anzuset- langfristigen Studierendenzahlprogno- zen, spielten dabei wahrscheinlich eine sen für Brandenburg kann auch nicht Rolle, aber wohl auch die Neigung, die angeführt werden, alle unsere Nach- Komplexität der Vorgänge beim Stu- barländer in Ostmittel- und Osteuropa dierverhalten in unzulässiger Weise zu seien durch einen ähnlichen Rückgang reduzieren. Reserven für eine künftig bei den Geburtenzahlen geprägt wie weiterhin steigende Studienplatznach- Deutschland; sie kämen daher als Stu- frage in Brandenburg ergeben sich aus dierendenexportländer für Branden- noch bestehenden Nachfragedefiziten burg nicht in Frage. Das Gegenteil ist bei bestimmten Bevölkerungsteilen und vielmehr richtig. Aus Polen sind in den aus der Einwanderungsmöglichkeit aus vergangenen Jahren jeweils hunderttau- anderen Bundesländern sowie aus dem sende Menschen nach Großbritannien Ausland. und nach Spanien ausgewandert, was Ein attraktives, vielfältiges Studien- zeigt, dass der Geburtenrückgang kei- angebot in allen Bundesländern, auch in ne Einschränkung der grenzüberschrei- Brandenburg, auszubauen, liegt, lang- tenden Mobilität zur Folge haben muss. fristig betrachtet, im Interesse aller Bür- Trotz weiter sinkender Geburtenraten gerinnen und Bürger. Das gilt, wie ge- hat Deutschland zur Überraschung ei- schildert, unter finanzpolitischen, aber niger Kommentatoren in diesem Jahr ebenso unter allen Gesichtspunkten, die zum ersten Mal seit einiger Zeit wie- mit der Sicherung der Entwicklungs- der einen Bevölkerungszuwachs zu ver- möglichkeiten und der Wettbewerbs- zeichnen. Er ist u.a. auf die Einwande- fähigkeit des Landes und seiner Men- rung aus Polen zurückzuführen, die sich schen zusammenhängen. Dazu gehören auch im Land Brandenburg bemerkbar auch die Wirtschaftsentwicklung und macht. die Sicherung einer qualifizierten Hoch- schulpartnerschaft für die außerhoch- 7 Vgl. dazu den Bericht der Hochschulstruktur- schulischen Forschungseinrichtungen, kommission Brandenburg („Buttler-Bericht“) die es auch im Land Brandenburg in be- vom 8. 6. 2012, S. 25-31, siehe Anm. 5. achtlichem Umfang gibt. Die Chancen,

146 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Beiträge und Diskussionen die sich jetzt unter demografischen und im Vergleich zum Gesamtvolumen des bundespolitischen Gesichtspunkten jeweiligen Landeshaushalts oder auch bieten, sollten wahrgenommen werden. nur zu den Kosten von Großprojekten Die Finanzbeträge, die dafür von den eher begrenzt. Ihr Nutzen kann aber Bundesländern zu erbringen sind, sind nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 147 Berichte und Rezensionen

Peter Brandt lich ohnehin in der Situation gewesen, Bemerkungen zu Bernd Faulenbachs in der ich mich hier befinde. Diese Vor- „Das sozialdemokratische Jahrzehnt“1 rede ist nicht nur eine captatio benevo- lentiae, sondern weist auch auf die Not- Meine sehr geehrten Damen und Herren, wendigkeit hin, gerade des Bemühens liebe Freunde und, vor allem, geschätzter um Objektivität (im Sinne intersubjek- Autor! tiv gültiger Ergebnisse) wegen, den ei- genen Standort, wozu auch parteipoli- Anders als im Hinblick auf die später tische Bindungen gehören, kritisch zu folgende Diskussionrunde habe ich et- reflektieren. was gezögert, der Bitte der Veranstal- Bernd Faulenbachs opus magnum ter und der meines Kollegen, Genos- (mit über 800 Seiten groß auch in der sen und Freundes Bernd Faulenbach Quantität) ist Teil der im Bonner Dietz- nachzukommen, das Buch über das so- Verlag im Anschluss an die ebenfalls zialdemokratische Jahrzehnt in einem höchst beachtliche vielbändige und kleinen Vortag vorzustellen. Das hatte noch nicht abgeschlossene „Geschichte weniger mit meinem Vornamen, wenn der Arbeiter und der Arbeiterbewegung ich den gewissermaßen für die fachwis- in Deutschland seit dem 18. Jahrhun- senschaftliche Kompetenz setze, als mit dert“ erscheinenden Reihe „Die deut- meinem Nachnamen zu tun; denn ein sche Sozialdemokratie nach 1945“; zu- bedeutenderer Brandt, der nicht zufäl- letzt (vor Faulenbach) kam 2004 dort lig so heißt wie ich, hat die Periode, um Klaus Schönhovens Buch über die Jah- die es hier geht, bekanntlich maßgeblich re der ersten Großen Koalition, also den mit gestaltet. Persönliche Nähe schafft Zeitraum unmittelbar vor der sozial-li- Befangenheit und verhilft nicht unbe- beralen Regierung heraus. dingt zum analytisch klareren Blick. Wie sein Vorgänger ist das heute Andererseits: Ich bin zwar kein reiner vorzustellende Werk viel mehr als eine Zeithistoriker, arbeite aber auch zeit- Geschichte der SPD in den langen 70er historisch und bin insofern gelegent- Jahren, sondern ist in hohem Maß auch als eine Geschichte der Bundesrepu- blik in der Zeit sozialdemokratischer 1 Vortrag zur Buchvorstellung Bernd Faulen- Kanzlerschaft und unter besonderer bach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von Berücksichtigung der Rolle der Sozi- der Reformeuphorie zur neuen Unübersicht- aldemokratischen Partei zu begreifen. lichkeit. Die SPD 1969–1982, Dietz Verlag, Bonn 2011 im Willy-Brandt-Haus (Berlin) am Dabei wird natürlich auch das, wie je- 22.09.2012. Der Vortragsstil wurde beibehal- der weiß, nicht immer spannungsfreie, ten. aber insgesamt gut funktionierende Zu-

148 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Berichte und Rezensionen sammenwirken der legendären „Troi- nen- und Außenpolitik angesichts wie- ka“ Brandt/Schmidt/Wehner überzeu- der ungünstigerer äußerer Bedingungen gend analysiert und gewürdigt. Ohne getragene Ära Schmidt folgte. Gewiss dass man hier Versäumnisse ausmachen unterschieden sich die beiden Kanzler könnte, tritt Herbert Wehner nach mei- in ihrer Persönlichkeit, ihrem Habitus, nem Empfinden ein wenig zurück. ihrem Führungsstil und den von ihnen Zur breiten Materialbasis des Bu- gesetzten inhaltlich politischen Akzen- ches gehören – neben der inzwischen ten, doch passten sie eben zugleich recht durchaus voluminösen Sekundarlite- gut in ihre jeweilige Regierungszeit: Auf ratur meist noch politikwissenschaftli- die Jahre des Aufbruchs in der Schluss- chen oder journalistischen Ursprungs phase des fordistischen Konsumkapi- – die unveröffentlichten Akten der SPD- talismus, der Blütezeit des regulierten Gremien im Archiv der sozialen Demo- Rheinischen Modells mit historisch ein- kratie, das die Friedrich-Ebert-Stiftung maligem Wohlstandszuwachs auch für unterhält, sowie in faktisch angeschlos- die unteren zwei Drittel der Bevölke- senen Nachlässe und personenbezoge- rung, mit Bildungsexpansion und ent- nen Archiven, ferner eine Vielzahl ge- sprechenden Aufstiegschancen für die druckter Quellen; außer Erinnerungen sozialdemokratische Klientel gerade in Beteiligter einschlägige zeitgenössische den späten 60er und frühen 70er Jahren, Publikationen unterschiedlichster Art. folgten die vom weltwirtschaftlichen Faulenbachs Werk startet mit einer Einbruch der mittleren 70er Jahre, der den Forschungsstand und die Problem- erneuten Verschärfung der Ost-West- stellung reflektierenden Einleitung und Spannungen und dann der um 1980 endet mit einer pointierten resümieren- von den angelsächsischen Ländern aus den Schlussbetrachtung. Die Darstel- massiv vorangetriebenen neoliberalen lung ist nach einem doppelten Kriterium Wende in Gestalt des Finanzmarktka- gegliedert: dem der Chronologie und pitalismus gekennzeichneten Jahre der dem der Systematik. Die Ebenen der Ära Schmidt. handelnden Personen und der SPD-Par- Dass die betriebliche Mitbestim- teiorganisation als kollektiven Subjekts mung, ein Kernziel der SPD wie der werden stets in die Rahmenbedingun- DGB-Gewerkschaften, in den 70er Jah- gen, also die nationalen und internatio- ren nicht entscheidend vorankam – ein nalen politisch-gesellschaftlichen Struk- mühsam gefundener Kompromiss mit turen und Prozesse, eingeordnet, so dass der FDP 1975/76 blieb unterhalb der für eine plastische Vorstellung vom realen Sozialdemokraten wie Gewerkschafter Spielraum der Akteure entsteht. unverzichtbaren Parität – lag übrigens Schon die Zeitgenossen nahmen keineswegs am mangelnder Einsatz von wahr, dass der von der Neuen Deutsch- Helmut Schmidt; entscheidend waren land- und Ostpolitik, den inneren Re- Koalitionszwänge und generell die ge- formanstrengungen und einer Art Re- sellschaftlichen Kräfteverhältnisse. formeuphorie geprägten Ära Brandt Helmut Schmidt konnte als Welt- eine von betontem Realismus in der In- ökonom und mit seiner relativ erfolgrei-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 149 Berichte und Rezensionen chen innerdeutschen Wirtschaftspolitik waren mindestens so rational wie die zwar nicht den Gesamttrend brechen, von Helmut Schmidt dafür. aber eine katastrophische Verschärfung Hier wie an anderen Stellen des Bu- der Krisenerscheinungen maßgeblich ches von Bernd Faulenbach wird die mit verhindern helfen und so die sozial- Perspektive der SPD-Linken nicht aus- liberale Koalition erneut konsolidieren. geblendet; sie kommt m. E. aber etwas Das macht die Frage nicht illegitim, ob zu kurz. Ich will indessen gleich den es damals eine – sozialdemokratische – Gedanken ausschließen – das macht Alternative zu dem von ihm durchge- die Faulenbach-Lektüre ganz deutlich setzten Kurs gab. – dass die sozialdemokratische Ent- Eine entsprechende Frage lässt sich spannungspolitik insgesamt den welt- für die Sicherheitspolitik stellen: Gewiss politischen Wandlungsvorgang und war Helmut Schmidts nüchterne Ana- die zunächst schleichende, auch wi- lyse der Destabilisierung des prekären dersprüchliche innere Aufweichung militärischen Gleichgewichts in Europa der Staaten des Ostblocks, nament- durch die Modernisierung der sowjeti- lich der DDR, (wie heute kaum bestrit- schen atomaren Mittelstreckenraketen ten wird) wesentlich mitbewirkt, wenn rein gefühls- und gesinnungspazifisti- auch nur in vager Weise intendiert hat. schen Widerständen, auch in der SPD, Allerdings ist diese emanzipatorische überlegen. Doch war die angedrohte Funktion und Zielsetzung der Entspan- und schließlich vollzogene sog. Nach- nungspolitik einschließlich des Offen- rüstung durch die Marschallflugkör- haltens, oder besser: der Wiederöffnung per und die Pershing 2 (letztere allein der deutschen Frage zeitweise etwas in in Westdeutschland aufgestellt), Waf- den Hintergrund getreten und in Teilen fen, die direkt sowjetisches Territorium des Funktionskörpers und der Mitglied- erreichen konnten, aus der Perspektive schaft der Partei regelrecht übersehen der Stabilisierung des Entspannungs- worden. Das gilt noch mehr für die 80er prozesses, ferner aus der Interessenlage als für die 70er Jahre. Deutschlands wie der deutschen Sozi- Das Ende der Kanzlerschaft Hel- aldemokratie wirklich die einzig mög- mut Schmidts und damit für lange Zeit liche und überhaupt eine akzeptable sozialdemokratischer Regierung bzw. Antwort? Helmut Schmidt und die SPD Mitregierung war nicht in erster Linie mit ihm wollten die Supermächte an das Ergebnis der wechselseitigen Ent- den Verhandlungstisch bringen. Doch fremdung von Kanzler und Partei (ein- wenn diese nicht ernsthaft zu einer schließlich des Vorsitzenden), die es Übereinkunft kommen wollten, hatte gab, sondern hauptsächlich verursacht die Bundesrepublik keinen Einfluss da- durch das Agieren der liberalen Minis- rauf. Man darf sich den Blick dadurch ter und ihrer FDP, deren teilweise sozi- nicht trüben lassen, dass es am Ende gut alliberal getöntes Freiburger Programm ausging. Wir haben vielmehr alle gro- von 1971 sich schon bald als halbherzig ßes Glück gehabt, und die Argumente verfolgte Zwischenetappe herausstellte Erhard Epplers gegen die Stationierung und deren führende Vertreter seit spä-

150 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Berichte und Rezensionen testens 1980 den Boden für den Koaliti- gen und der Grünen. Die Studenten- onswechsel bereiteten. Auch das macht und Jugendrevolte um 1967/68 radikali- Faulenbachs Darstellung noch einmal sierte und beeinflusste, veränderte aber ganz klar. nicht den Trend. Der Beginn des Experiments einer Dem Werte- und Mentalitätswan- SPD-dominierten Regierungsbildung del lag der soziale Wandel zur konsum- im Herbst 1969 mit knapper und dann orientierten, wenn auch keineswegs noch knapper werdender Mehrheit war egalitären Arbeitnehmergesellschaft übrigens nur möglich gewesen, weil zugrunde. Dieser drückte sich auch im die NPD mit 4,3% den jahrelang wahr- teilweise explosionsartigen Wachstum scheinlichen Einzug in den Bundestag und in einer veränderten Alters- und verfehlt hatte. Die Parteien der rech- Schichtenzusammensetzung der SPD ten Mitte und rechts der Mitte hatten aus, in den 60er Jahren beginnend, aber mehr Stimmen erhalten als SPD und in den frühen 70er Jahren beschleunigt. FDP zusammen (wobei man allerdings Auch wenn die SPD, wie vergleichbare nicht den Fehler machen darf, die NPD- Parteien anderorts, niemals eine reine Wähler einfach als potentielle CDU/ Arbeiterpartei war, so war sie doch bis CSU-Stimmen zu veranschlagen. Sonst zur Mitte des 20. Jahrhunderts quanti- hartnäckige Nichtwähler und sonstige tativ wie qualitativ durch den Typus des SPD-Wähler hatten ebenfalls ihren be- traditionellen Facharbeiters geprägt ge- trächtlichen Anteil). wesen, der – wie auch der des an- und Wenn Bernd Faulenbach vom „so- ungelernten Massenarbeiters – nach zialdemokratischen Jahrzehnt“ spricht, etwa 1969 immer weniger gesellschafts- dann macht er dem Leser trotzdem be- wie parteiprägend war. Eine Arbeitneh- wusst, dass vieles, was geschah, nicht auf merpartei im weiteren Sinn blieb die das Handeln der Sozialdemokraten und SPD, die sich ja auch der Tradition der eine ausgefeilte Demokratisierungsstra- Arbeiterbewegung und der besonderen tegie zurückging, jedenfalls nicht allein Verbindung mit den Gewerkschaften darauf, sondern auf jenen gesellschaft- weiterhin verpflichtet fühlte. Angehö- lichen Prozess des allgemeinen Werte- rige des Öffentlichen Dienstes, speziell wandels seit den späten 50er, deutlicher auch von Lehrberufen, Studierende und seit den mittleren 60er Jahren, der Fun- Akademiker bestimmten in immer stär- damentalpolitisierung, der Individu- kerem Maß das Gesicht der Partei; der alisierung und – in der Summe beider Anteil von Arbeitern (heute allenfalls in – der Fundamentalliberalisierung, der der Höhe des Prozentsatzes unter den dann die laut Habermas (und Faulen- Berufstätigen Deutschlands) und von bach) „Neue Unübersichtlichkeit“ seit unteren Angestellten wurde tendenzi- den späteren 70ern herbeiführte. Diese ell kleiner, je weiter nach oben man in machte der SPD ja dann auch auf der die Parteihierarchie schaute. Obwohl es Ebene der Parteipolitik und der Wahlen sich bei den neuen Mitgliedern vielfach zu schaffen (bis heute), namentlich in um Aufsteiger aus SPD-nahen Schich- Gestalt der Neuen Sozialen Bewegun- ten handelte, trug ihr Einströmen zur,

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 151 Berichte und Rezensionen vor allem sozialkulturellen, inneren Dif- bruch von 1973/74, ausgelöst, aber nicht ferenzierung der SPD bei. allein verursacht durch die erste große Diese verstärkte auch die Flügel- Ölpreiserhöhung, auch bei einem besse- bildung in der Partei in einem seit der ren Start des zweiten Kabinetts Brandt Weimarer Republik nicht erlebten Aus- (jetzt eher eine Regierung Brandt- maß, erbittert und gelegentlich mit Schmidt-Genscher) und eines diszipli- selbstzerstörerischen Impulsen nicht nierten Verhaltens der Sozialdemokra- nur von einer Seite. Das innerpartei- tischen Parteiorganisationen bzw. ihrer liche Spektrum reichte zeitweise von Repräsentanten einen Einschnitt bedeu- DKP-nahen bis zu „wirtschaftsfreundli- tet hätte. chen“ bzw. Positionen des reinen Prag- Vieles habe ich nicht ansprechen matismus. Man muss jedoch unterstrei- können, anderes nur angedeutet. Sie ha- chen, dass der Öffnung der SPD für die ben hoffentlich trotzdem einen groben – wie es hieß – „unruhige Jugend“ auch Eindruck von Bernd Faulenbachs Buch eine bewusste Entscheidung der Partei- über das „sozialdemokratische Jahr- führung zugrunden lag, mit der man die zehnt“ erhalten und sind animiert wor- Entstehung einer parteipolitischen oder den, es zu lesen. Es lohnt sich. fest formierten linken Konkurrenz ver- hindern und zugleich das Protestpoten- tial in das politische System der Bundes- Petra Hoffmann republik integrieren wollte. Quantitativ Rezension zu: Lutz Brangsch, Judith bedeutender als die Achtundsechziger, Dellheim, Joachim H. Spangenberg: Den deren harter Kern sich zunächst eher im Krisen entkommen – Sozialökologische linksradikalen Sekten formierte (und Transformation. Hrsg. von Frieder Otto deren entarteter terroristischer Aus- Wolf, Manuskripte 99 der Rosa Luxem- läufer, mit dem Höhepunkt des Jahres burg Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 1977, den westdeutschen Rechtsstaat 2012, 255 S., 14,90 € auf eine harte Bewährungsprobe stell- Die Autoren Joachim H. Spangenberg, te), wurden die Zweiundsiebziger, die derzeit am Helmholtz Zentrum für Um- durch den einmaligen Mobilisierungs- weltforschung UFZ tätig, Lutz Brangsch und Wahlerfolg, der – trotz geschei- und Judith Dellheim, beide Referenten terten Misstrauensvotums – durch den der Rosa Luxemburg Stiftung, beschäf- Verlust der Regierungsmehrheit im Par- tigen sich seit langem mit der Thematik lament nötig gewordenen Neuwahl des der sozialökologischen Transformation. Bundestages gewonnen wurden. Die Broschüre haben sie geschrieben, Dass die Hochstimmung des Herbs- da ihrer Meinung nach heute nichts tes 1972 binnen gut eines Jahres, in dringlicher ist als der sozialökologische Kommunal- und Landtagswahlen ob- Umbau, ohne den es letztendlich keine jektiviert, in einem Stimmungstief en- nachhaltige Entwicklung und keine le- dete, hatte unterschiedliche Gründe, benswerte Zukunft geben kann. Vorran- auch subjektive; doch ist davon auszu- giges Anliegen des Buches ist es, „einen gehen, dass der weltwirtschaftliche Ein- Beitrag zur Nachhaltigkeitsdebatte ‚von

152 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Berichte und Rezensionen unten‘ zu leisten und diesen sozialistisch und verständlichen Sprache lektoriert zu akzentuieren“. (S. 7) werden müssen. Die Autoren sind der Auffassung, In Kapitel 1, An den Folgen und Ur- dass weder der Brundtlandt-Bericht von sachen der Krisen angreifen, werden die 1983 noch die Rio-Deklaration und die Ursachen und Wirkungen vergangener Klima- und Artenschutz-Konventionen Krisen und sich anbahnender zukünf- von 1992 einen realen Kurswechsel in tiger Krisen anschaulich aufgezeigt, der der Weltpolitik bewirkt haben, um „tat- „Gegensatz zwischen dem gegenwärti- sächlich soziale, ökologische und globa- gen Modell einer neoliberalen, globali- le Probleme zu mildern und sozial ge- sierten finanzmarktgetriebenen kapita- recht zu lösen“. (S. 9) Sie sind überzeugt, listischen Produktionsweise und ihrer dass eine entsprechende Problemlösung vorangegangenen Periode“ (S. 45) an im Zusammenleben der Menschen im- einigen markanten Punkten verdeut- mer zuerst die Lebensbedingungen der licht und die Antriebskräfte und Mo- sozial und global Schwächsten verbes- tivationen des gegenwärtigen Modells sern und deren Position in der Gesell- untersucht. schaft stärken muss. Ihrer Meinung Der Autor bzw. die Autorin benennt nach erfordert dies eine neue gesell- die vier Möglichkeiten zukünftiger Poli- schaftliche Arbeitsteilung, eine neue tikgestaltung: Vergesellschaftungsweise und „grund- 1. die Beibehaltung neoliberaler Poli- sätzlich umgestaltete bzw. neue Produk- tik (mit unterschiedlichen Modifi- tions- und damit Eigentumsverhältnisse kationsmöglichkeiten), an Produktionsmitteln und Reprodukti- 2. ihre Verschärfung und Ablösung onsbedingungen.“ (S. 11) durch eine autoritärpopulistische, Das Buch umfasst vier Kapitel. Die wenn nicht national-völkische Politik, einzelnen Kapitel sind numerisch un- 3. zeitweise Kompromisse zwischen tergliedert. Diese bei wissenschaftlichen ökologischer Modernisierung und Texten gebräuchliche Form erschwert mehr sozialen und ökologischen allerdings die Lesbarkeit des vermutlich Green-New-Deal-Anhänger/innen, für eine breitere als die akademische Le- 4. die Überwindung der gegenwärtigen serschaft gedachten Texts, zumal sich führenden Eliten und ihrer Politik nicht jede Überschrift sofort erschließt. durch eine linke emanzipative Alter- Da sich die einzelnen Texte sowohl von native mit eigenen Trägern. (S. 50) der politischen als auch der ökologi- schen und volkswirtschaftlichen Her- Während die ersten beiden Optionen angehensweise deutlich unterscheiden, nur Modifikationen des gegenwärtigen wäre eine Nennung des jeweiligen Ver- Regulationsmodus sind und die drit- fassers bzw. der Verfasserin wünschens- te als Übergang zu den drei anderen wert gewesen. Die auffallend häufige dienen kann, erfordert die vierte nach Verwendung von Zitaten, teilweise er- Meinung des Autors „einen weitgehend klärend zum Text, teilweise anstelle ei- neuen Regulationsmodus, der die zuvor nes Texts, hätte zugunsten einer klaren genannten Krisenursachen überwindet

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 153 Berichte und Rezensionen und nur über gesellschaftliche Kämp- wusstsein in Europa, bei der Darstel- fe, Auseinandersetzung und Aushand- lung verschiedener EU-Strategien sind lungsprozesse erreichbar ist“. (S. 51) seitenweise Auszüge aus EU-Program- Diese Option ist eher als Denkmodell men zu lesen. Häufig wird bereits nach vorstellbar denn als gangbarer Weg. der Überschrift ein Zitat eingefügt, dem Interessant sind die Ausführungen weitere folgen. Bis zur nächsten Über- zu den modernen Kapitaloligarchien. schrift, wo dann alles von vorn beginnt. Wie an Beispielen anschaulich gezeigt, Auffallend oft wird Karl Marx zitiert, gehen diese in wichtigen wirtschafts- ohne dass dabei die Intention des Autors und gesellschaftspolitischen Entschei- bzw. der Autorin sichtbar wird. dungen und Entwicklungen der EU In Kapitel 3, Sozialökologischer Um- und in der EU aus wirtschaftlichen und bau als Suchprozess, geht es u. a. um Sub- wirtschaftspolitischen Verflechtungen sistenzwirtschaft und Ökosozialismus, mit US-amerikanischen Kapitaloligar- echte und falsche Nachhaltigkeitsstrate- chien hervor. Auch die Erläuterungen gien, Programme der ökologischen Mo- zur Finanzialisierung, Deregulierung, dernisierung und Green New Deal Pro- Technologie- und Strukturentwicklung jekte. Ausführlich und mit Zitaten bzw. sind lesenswert und dienen dem tiefe- Literatur unterlegt werden die unter- ren Verständnis der Buchthematik. schiedlichen, bereits bestehenden Pro- In Kapitel 2, Sozialökologischer Um- jekte nachhaltiger Entwicklung vorge- bau als radikale Umwälzung, werden stellt und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit einzelne Politikfelder und Strategien, analysiert. Große Teile des Kapitels sind auch der EU, näher erläutert und mit anschaulich dargelegt und bieten reich- Zahlen und Zitaten unterlegt. Inter- lich Diskussionsstoff. In einigen Ab- essant sind die Ausführungen zum so schnitten finden sich allerdings ebenfalls genannten „zerstörerischen Quartett“, zu viel Zitate und zu wenig Erklärungen. welches aus den vier Faktoren Energie-, Kapitel 4, Ein Diskussionsangebot, Transport- und Agrarwirtschaft sowie dient der Vertiefung und Erweiterung dem Militärisch-Industriellen Komplex der Diskussion der Autoren mit ih- besteht, und deren wechselseitigen Zu- ren Leserinnen und Lesern und allen sammenhängen und Auswirkungen auf an einer nachhaltigen Entwicklung In- die Gesellschaft. Auch die Erläuterun- teressierten und Beteiligten. Unter der gen zu den Kapitaloligarchien im gesell- Überschrift Nachhaltigkeit braucht De- schaftlichen Alltag sind lesenswert. mokratie findet sich beispielsweise der Leider ist Kapitel 2 in großen Teilen Satz: „Demokratisierung ist damit die lediglich eine Aneinanderreihung von Voraussetzung dafür, dass Widersprü- Zitaten, die nicht wirklich etwas erklären che und Ambivalenzen von Interessen und oft auch dogmatisch gesetzt sind. und Prozessen genutzt werden können, Beispielsweise besteht der Abschnitt um Handlungsmöglichkeiten für Schrit- zum Klimawandel fast ausschließlich te zum bzw. des sozialökologischen Um- aus aneinander gereihten Zitaten des baus zu erschließen“. (S. 167) Was wir Autors Udo Kuckartz zum Klimabe- zukünftig auch immer tun wollen: eine

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Alternative zu einer demokratischen Nils Diederich Umgestaltung unserer Gesellschaft hin Rezension zu: Richard Saage, Helga zu einer nachhaltigen gibt es nicht! Grebing, Klaus Faber (Hrsg.): Das Kapitel enthält auch einige Ta- Sozialdemokratie und Menschenbild. bellen, beispielsweise zu den Wech- Historische Dimension und aktuelle selwirkungen zwischen Akteuren des Bedeutung, Schriftenreihe der „zerstörerischen Quartetts“, sozialen, Hochschulinitiative Demokratischer ökologischen und demokratischen Sozialismus, Bd. 30, Schüren Verlag Standards, öffentlichen Finanzen sowie Marburg 2012, 195 S., 19,90 € der Lokal- und Regionalentwicklung Die Autoren wollen „die geschichtli- oder zur möglichen politischen Ein- chen Entwicklungen, Herausforderun- flussnahme auf verschiedene Bereiche gen und Perspektiven sozialdemokrati- des individuellen und gesellschaftlichen scher Menschenbilder“ nachzeichnen. Lebens, die zur weiteren Diskussion bei- Menschenbilder haben etwas mit dem tragen können. Versuch zu tun, die eigene Identität zu Ein Teil des Schlusskapitels beschäf- bestimmen. Wir können Menschen in tigt sich mit der aktiven Lokal- und Re- ihrem Verhalten studieren und hören, gionalentwicklung, u.a. mit der Lokalen welche Motive sie für ihr Handeln an- Agenda, der Energie in Bürgerhand, der geben und so auf das Menschenbild sozialökologischen Mobilität, dem Trie- zu schließen. Menschenbilder können rer Manifest zum ÖPNV, Stuttgart 21 Ideologien sein. Der vielzitierte „homo und dem Biosphärenreservat Spreewald. oeconomicus“ – zunächst eine Modell- Beim Militärisch-Industriellen Kom- konstruktion von Ökonomen – wird, plex wird die Bürgerinitiative FREIeHei- falsch verstanden und fehlerhaft ange- de vorgestellt. wendet plötzlich zum Verhaltensmuster Diskussionen zu einer notwendigen, und damit zur Leitlinie für eine neolibe- weitergehenden nachhaltigen Entwick- rale Politik im modernen Kapitalismus: lung als bisher gedacht hat die vorliegen- Eine analytische Kategorie wird zur Leit- de Broschüre ganz sicher angestoßen, linie alltäglichen Handelns. Auch Sozial- auch wichtige Fakten dafür geliefert. Ei- demokraten waren nicht immer frei von nige der Aussagen (zur EU und Außen- Einflüssen solcher Ideologisierungen, politik, zum Militärisch-Industriellen falschen Bewusstseins im marxschen Komplex) sind stark durch die Politik der Sinne. Aber auch Bilder christlich-kon- Linken geprägt und dürften daher nicht servativer Traditionen, nach denen der mehrheitsfähig sein. Diskutiert werden Mensch sündig ist, woraus folgt, dass die müssen insbesondere die verschiedenen Obrigkeit ihn bändigen und in richtige Optionen, die wir auf dem Weg zu einer Bahnen lenken muss, sind derlei Ideo- nachhaltigen Gesellschaft bereit sind zu logisierungen. Das Gegenbild finde ich gehen, für die wir uns auch durch das in Liedern der Sozialistischen Arbeiter- Verstehen von und die Einflussnahme jugend. Ich entnehme dem Jugend-Lie- auf komplexe Zusammenhänge(n) stär- derbuch der Sozialistischen Arbeiterju- ker engagieren müssen. gend aus dem Jahre 1929, das meiner

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Mutter gehörte, folgende von Michael zialdemokratie steht, anders als viele Engler vertonten Verse Arthur Zicklers bürgerliche Parteiströmungen der Vor- aus dem Jahre 1921: kriegszeit „auf dem Boden einer Anth- ropologie, die immun ist gegenüber ras- „Hebt unsre Fahnen in den Wind, sendoktrinären Gedankengängen.“ sie fließen hell, wie Sonnenglut Wolfgang Maderthaner setzt sich mit und künden, dass wir gläubig sind: Viktor Adler, dem Gründer der österrei- der Mensch ist gut, der Mensch ist gut!“ chischen Sozialdemokratie, und vor al- lem mit Otto Bauer und seinem Buch Dieser jugendlich gläubige Optimismus über die Nationalitätenfrage auseinan- ist uns angesichts dessen, was nach 1933 der. Er zeigt, dass die Emanzipations- folgte, abhanden gekommen. bestrebungen der nach Wien zugewan- Das vorliegende Buch spürt nun ge- derten bürgerlichen „nicht-jüdischen“ nau der Frage nach, wie die sozialen Juden und die Zielsetzungen der Sozi- Wandlungen der Gesellschaft auf das aldemokratie im intellektuellen Bereich Menschenbild einwirken. Das gilt für die konvergieren. Zahlreiche Führungsper- Rezeption der Darwinschen Evolutions- sönlichkeiten der Sozialdemokratie in theorie, aber auch für die bis in die Ge- Österreich waren jüdischer Herkunft. genwart reichende Auseinandersetzung „Die Umgestaltung der Gesellschaft mit Rassismus und Antisemitismus. Wer war somit an die Veränderung, die um- sich mit derlei Fragen auseinandersetzt, fassende Kulturalisierung des Individu- findet im vorliegenden Bändchen reich- ums“, an die Vorwegnahme eines, wie es lich Aufklärung und Diskussionsstoff. pathetisch apostrophiert wurde, Neuen Richard Saage spürt dem Einfluß Menschen, eines „Infreiheitsetzen(s) der der Darwinschen Theorie auf sozial- Elemente einer neuen Gesellschaft“ in- demokratisches Denken am Ende des nerhalb der bestehenden Verhältnisse 19. Jahrhundert nach. Spannend ist die gekoppelt.“ (S. 50 f.) Dieses Bestreben Debatte um anthropologische Fragen, war, so Maderthaner, erfolgreich, auch oftmals theoretisch, denn die Arbei- wenn die Bemühungen letztlich so dra- terklasse der damaligen Zeit hatte an- matisch in der Massenvernichtung ge- dere Probleme. Aber immerhin war es scheitert seien, weil es eine Assimilation auch eine umfassende Bildungsbewe- an etwas Vorgestelltes, an seine eigenen gung, die ja gerade danach strebte, sich „Projektionen“ war. (S. 63) Eine These, die Errungenschaften der bürgerlichen die sicher weiterer Diskussionen bedarf. Gesellschaft zu eigen zu machen; auch Ansgar Beckermann beleuchtet wenn das unter der Utopie einer „neuen Positionen von Linken im Verhältnis Gesellschaft“ subsumiert war. Er weist zum wissenschaftlichen Bild des Men- nach, dass die Frage der Nationenbil- schen. Er versucht nachzuweisen, dass dung (er bezieht sich auf das Werk von der Streit Horkheimers mit den Vertre- Otto Bauer), für die Österreichisch-Un- tern des logischen Positivismus und die garische Monarchie Zentralproblem, Habermas Kritik an den Hirnforschern nichts mit Rassenfragen zu tun hat. So- Roth und Singer letztlich sinnlos seien.

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Hierzu sein Fazit: „Auch die Linke sollte Programm wurde die Vorstellung rela- akzeptieren, dass die Naturwissenschaf- tiviert, dass durch strukturelle Verände- ten zurecht darauf bestehen,…dass auch rungen allein – das ist die Überwindung Menschen rein natürliche Wesen sind, der kapitalistischen Ordnung – eine deren Verhalten durch komplexe neu- Umwandlung des Menschen möglich ronale Verschaltungen gesteuert wird.“ sei. Der Mensch sei weder gut noch Das sei damit vereinbar, dass Menschen schlecht (v. Knoeringen). Bildung des Wesen sind, die nach Gründen handeln, ganzen Volkes sei eine Voraussetzung, die fähig seien zu Freiheit und Verant- Demokratie zu sichern. Das Godesber- wortung, zum Erkennen von Recht und ger Programm wurde dann auf dem be- Unrecht. kannten Fundament der Grundwerte – Auch Klaus Faber befasst sich mit Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität anthropologischen Menschenbildern – errichtet. Grebing verfolgt die Debatte in seinem belesenen und weit gefassten weiter bis zum Berliner Programm. Sie Essay, der sich in seiner Breite auf en- lässt allerdings eine Auseinanderset- gem Raum kaum referieren lässt. Was zung mit dem durchaus nicht ganz er- den Rezensenten besonders berührt folglosen Versuch des CDU-Generalse- hat, ist die Auseinandersetzung mit der kretärs Heiner Geißler, die Grundwerte Antisemitismusdebatte und dem Men- der SPD durch eine eigene Trias zu un- schenbild des NS-Staates. In diesem terlaufen, aus. Sie stellt aber abschlie- Zusammenhang nimmt er Bezug – wie ßend sehr nüchtern, wenn auch keines- übrigens auch mehrere andere Autoren wegs resignierend die Frage, ob „immer – auf die aktuelle Debatte um Sarrazins und immer wieder erneut zu postulie- Buch. Eine Ehre, die ich diesem wissen- ren (ist), was wir könnten und was wir schaftlich zweifelhaften, aber zugegebe- müssten, wenn man uns nur ließe, meist nermaßen viel zitierten Machwerk nicht verziert mit langweiligen Anleihen an eingeräumt hätte. metaphorische Beifügungen wie ‚neu‘ Helga Grebing knüpft an die Erfah- und ‚fortschrittlich‘“. (S. 150) Das Ziel rungen mit dem NS-Regime an. Zu- sei einfach: Gerechtigkeit realisieren. nächst habe man in der Sozialdemokra- Hans Misselwitz greift die Kritik am tie eher hilflos reagiert und oftmals an neoliberalen Modell auf und reflektiert die Tradition der Zwanziger Jahre ange- das Verhältnis von Freiheit und Gleich- knüpft. Doch schon Hermann Brill habe heit. Der Staat, so sein Resümee, habe 1949 darauf hingewiesen, dass Weltkrie- Grenzen zu setzen. Menschliches Han- ge und Diktatur der NS-Zeit neben dem deln, und damit das Politische, dürfe „humanistischen Optimismus“ Bebels nicht dem Primat der Ökonomie unter- und der Realistik der Zwischenkriegs- worfen werden. zeit reflektiert werden müssten. Hinzu Klaus-Jürgen Scherer stellt fest, dass kam dann der neue Feind, die kommu- Menschenwürde nicht einer Erwägung nistische Diktatur, gegen die sich die von Leistung und Nützlichkeit unterge- Demokratischen Sozialisten abzusetzen ordnet werden dürfe. Er konstatiert eine hatten. Auf dem Weg zum Godesberger Begründungskontinuität in der sozial-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 157 Berichte und Rezensionen demokratischen Programmatik, und ar- deren Wissenschaftsschriften hält der beitet zentrale Debatten der Gegenwart Leser eine großformatige Publikation heraus: in den Händen, die mit 1,4 kg (lt. Ver- • der Mensch ist ein freies Sozialwe- lagsangabe) auch ganz schön Gewicht sen, kein „marktgeleitetes Individu- mit sich bringt. Als Reiselektüre ist das um“; Buch deshalb nicht besonders gut ge- • es bestehe ein Konfliktpotential eignet. Aber zum Glück bedeutet dieses christlicher und säkularer Motive Gewicht ganz und gar nicht, dass wir im Zusammenhang mit Biopolitik, es mit einem bedeutungsschweren und Gentechnik, PID etc.; langweiligen Buch zu tun haben. Eher • ein sozialdemokratisches Menschen- das Gegenteil ist der Fall: „Überleben bild habe eine begrenzte Reichwei- im Umbruch“ liest sich leicht und ver- te, anderseits gebe es Frontalangrif- meidet es, eine öde und verquaste For- fe auf das sozialdemokratische Men- schungsstudie zu werden. schenbild (Sarrazin). Das Buch ist aber nicht nur eine so- ziologisch angelegte empirische Studie Sein Fazit ist, dass der entfesselte Ka- über die Lebens-Veränderungen in ei- pitalismus wieder re-reguliert werden ner ostdeutschen Stadt seit der Wende, muss, wobei es ein „Weiter so“ nicht ge- sondern ebenso ein Lese- und Bilder- ben dürfe. Vielmehr sei in Politik und buch. Und das ist keineswegs abwer- Gesellschaft eine Besinnung „zugunsten tend, sondern anerkennend und mit demokratischer, solidarischer und ge- lobend gemeint. Das Großformat er- meinschaftlicher Prinzipien“ angesagt. möglicht nämlich, dass das „Überleben (S. 193) Daher bedarf es der Debatte im Umbruch“ in der Stadt Wittenber- über unser Bild vom Menschen. ge auch mit den Mitteln der Fotografie Ein anregendes, aufregendes, dis- zugänglich, erschlossen und in beson- kussionswürdiges Büchlein. derer Weise dargestellt wird. In meiner Betrachtung lassen sich die Fotogra- fien lassen als Stilleben der Urbanität Roland Popp charakterisieren. Bei vielen Fotografien Drei Dimensionen vom ÜberLeben hat man den Eindruck, dass hier (mit Rezension zu: Heinz Bude, Thomas Absicht oder nicht?) das künstlerische Medicus, Andreas Willisch (Hrsg.): Stilmittel des Freeze verwendet wurde: ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wirklichkeit erscheint als eingefroren, Wittenberge: Ansichten einer bewegungslos und starr. fragmentierten Gesellschaft, „ÜberLeben im Umbruch“ geht un- Hamburger Edition, Hamburg 2011, terschiedliche methodische Wege. Es ist 360 S., 39,90 €. ein Buch von Soziologen, Kulturwissen- Die Studie „Überleben im Umbruch“ schaftlerin und Ethnologen, die den Be- ist ein schwergewichtiges Buch. Das reich Wissenschaft abdecken. Parallel betrifft zunächst einmal ganz schlicht dazu haben Theaterautoren, Performer, das Äußere. Im Vergleich zu vielen an- Filmemacher und Fotografen ihren je-

158 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Berichte und Rezensionen weils eigenen Zugang zur Lebenswirk- gewählt. Es wird im Buch nicht ganz lichkeit in Wittenberge (beschritten und deutlich, aber der Rezensent ordnet für beschrieben? Deshalb gingen aus diesem sich diese Vorgehensweise in ein Raster, Forschungsprojekt nicht nur Tausende das man als drei-dimensionale Lebens- Seiten wissenschaftlicher Texte hervor, wirklichkeit vom ÜberLeben einfangen sondern auch vier Theaterstücke, die am kann. Was sind nun diese drei Dimensi- Maxim Gorki Theater in Berlin uraufge- onen vom ÜberLeben? führt wurden – neben performative Auf- führungen, zahlreiche Zeitungsartikeln Erste Dimension – Reden über das Leben und öffentliche Gesprächsrunden. In der ersten Dimension wird aus der Was ÜberLeben in Wittenber- Beobachterperspektive (also der Per- ge (und in anderen Städten mit ähn- spektive der Sozialforscher und der licher Entwicklungsgeschichte in Ost Künstler) über das Leben in Witten- und West) nun ausmacht, wird metho- berge gesprochen. Es geht um den ers- disch in drei Zugriffspassagen verfolgt. ten Blick, es geht um das Verhalten der Den größten Anteil nimmt die wissen- dort lebenden Menschen, denn diese schafts-soziologische Zugriffspassagesind manchmal zugeknöpft, verschlos- ein, parallel dazu werden erzählende sen und gelegentlich voll mit kühler Kurzreportagen über bestimmte Men- und kontrollierter Aggression – sie sind schen oder Gemeinschaften entwickelt. aber auch redselig, freundlich, kom- In diesen Kurzreportagen geht es unter munikationsbereit und ermutigen gele- anderem um „Cowboys an der Elbe“, gentlich die angereisten Sozialforscher „Hartz-IV-Party“, „Hausbauen“ oder in die „Wittenbergische Gemeinschaft“ „Verkehrsadern in der toten Zone“. Und einzutreten. Hervorzuheben wäre eine schließlich werden die ÜberLebens-Di- Reportage, in der Inga Haese über ihre mensionen nochmals mit Mitteln des Zusammenkunft an einem Sonntag- Theaters verdeutlicht, die aber ganz be- morgen mit den Mitgliedern der „Ge- wusst nicht die soziologischen Texte auf meinschaft des göttlichen Sozialismus die Bühne bringen wollen, sondern ei- – Apostelamt Juda“ berichtet. Man hält genständige Schlaglichter zum ÜberLe- es zunächst für eine witzige Erfindung, ben leuchten lassen möchten. Da keine aber diese Gemeinschaft gibt es tatsäch- Aufführungen mehr stattfinden, kön- lich. Es ist eine skurrile, freundlich ge- nen die Theaterprojekte nur noch ru- stimmte, fundamentalistische, evange- dimentär von den Aufführungstexten likale Sektierer-Organisation mit klaren bzw. von der Probenarbeit mit den teil- autoritären „Lebensanweisungen“. Die- nehmenden Bewohnern von Witten- se Zusammenkunft hat schon komö- berge nachverfolgt werden. diantische Aspekte, dennoch schildert Haese ohne Denunziantengehabe die Dimensionen vom ÜberLeben Gemeinschaftssuche der Mitglieder. In Mit den Begriffen ÜberLeben und Le- den Sonntagstreffen wird nicht nur ge- benszuschnitt haben die Herausgeber betet und (mit entsprechender sektie- stark pathetisch anmutende Begriffe rerischen Einfältigkeit) Gott gepriesen,

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 159 Berichte und Rezensionen sondern auch über das Leben gespro- tüchtige Überlebensarrangements ent- chen, wie es im früheren DDR-Lebens- wickeln. „Es muss ausgetestet werden, zuschnitt gelebt werden konnte und ob man sich lieber verschanzt, bis das musste. Gleichzeitig werden von den Schlimmste vorüber ist, oder einfach Befragten immer wieder Motive über noch einmal neu anfängt – mit neuer das Leben eingesprengelt, nämlich dar- Familie, neuem Job, neuen Freunden, über, wie sie sich das Leben in der „Ge- neuem Haus und neuem Garten.“ (S. 87) meinschaft des göttlichen Sozialismus“ Überleben wird hier auf eine bestimm- vorstellen. te Lebensperspektive umformatiert, es Indem in den Kurzreportagen den wird nämlich umgestellt von Jobsicher- Menschen die Möglichkeit eröffnet heit und (materiellen) Zugewinn auf Er- wird, über ihr ÜberLeben zu reden, er- haltung und Bewahrung von Kommu- zählen sie mehr, als sie intentional er- nikation. „Überleben heißt nicht, dass zählen möchten. Sie erzählen nämlich die Leute hier beständig Hunger leiden ihre subjektive Lebensgeschichte, ein- und Müllkippen umgraben, sondern gewoben in die Geschichte der Klein- dass soziales Kapital an Ressourcen und stadt. Sie erzählen aber parallel dazu auch an Vertrauen nicht aufgebraucht, immer „mehr“ als ihnen bewusst ist, sie sondern beständig wiederhergestellt erzielen sozusagen einen erzählerischen wird. In einem solchen Überlebensmo- „Mehrwert“, der über die manifesten dus wird plötzlich der Ort wieder wich- Erzählgeschichten hinausgeht. Oder wie tiger, die soziale Gruppe – das Kleinei- es in der Tradition der hermeneutischen gentum, das verteidigt wird gegen die Interviewinterpretation heißt: „Sie wis- etablierte Gesellschaft, die Schrumpffa- sen nicht, was sie erzählen“, erzählen milie in der Stadt -, die nicht aufgege- dadurch aber mehr an Geschichte, als ben wird für die Aussicht auf Arbeit au- wenn sie diese schon selbst rational ge- ßerhalb der Region“. (S. 89) Wichtig für ordnet hätten. diese kleinstädtische Lebensperspektive ist die Möglichkeit, dass man zwar am Zweite Dimension – Wie gelingt städtischen Leben noch teilhaben kann, ÜberLeben? aber nicht teilnehmen muss. Möglicher- In der zweiten Dimension wird geschil- weise hat sich aus dieser Umbruchsitu- dert wie in einer gesellschaftlichen Situ- ation auch eine gepflegte Opfer-Rheto- ation des städtischen Niedergangs in- rik entwickelt, die das ÜberLeben auch dividuelles ÜberLeben organisiert und als Benachteiligung gegenüber anderen koordiniert wird. Die Menschen müs- „Instanzen“ gesehen hat – wie zum Bei- sen nämlich in ihren „schrumpfenden spiel bei den ostdeutsche Städten, in die Städten“ die Optionen austesten, entwe- viel Geld für die regionale Wirtschafts- der zu bleiben oder wegzugehen; und förderung geflossen ist; oder dass west- wenn man weggehen möchte, wohin deutsche Länder manchmal als Feind- soll man sich aufmachen? Wenn man bild herangezogen werden. bleiben möchte oder gezwungen ist, zu bleiben, müssen Menschen realitäts-

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Dritte Dimension – Da hat sich was de Menschen einen deutlichen, zumeist überlebt staatlich verordneten Lebenszuschnitt Forscher und Künstler haben in Wit- geboten hat, veränderte sich von einem tenberge danach geschaut, wie die Ein- Industriestandort zu einem Transferort . zelnen ihr Leben gestalten und ordnen, In den Buch-Beiträgen wird diese wenn der über viele Jahre erfahrene Le- Tatsache, ein Transferort zu sein, aus benszuschnitt seine Gültigkeit verloren unterschiedlichen Blickwinkeln be- hat. Welche Lebenswünsche und -hoff- leuchtet. So fragen die Autoren danach, nungen haben sich überlebt? Wie sind wie sich Erwartungen und Hoffnun- sie noch im Gegenwarts-Leben integ- gen in Familien geändert haben, wie die riert? Sind sie nicht nur ein subjektives kleinen Geschäfte um die Ecke heute Gedächtnis über mögliches Leben, son- funktionieren oder welche Bedürfnisse dern haben sich diese Lebenswünsche das kleinstädtische Vereinsleben noch eher zu einer Last verdichtet? zu erfüllen vermag. Natürlich war der erste Einschnitt ÜberLeben bedeutet, dass das Le- die Auflösung der DDR als Staatsgebil- ben einerseits entschwindet und ent- de. Die DDR-Lebenszuschnitte, die (an- gleitet und der Mensch .zum Objekt geblich!) Halt und Orientierung (gege- in seinem Leben degradiert wird. Zum ben haben) gaben, haben sich aufgelöst. anderen bedeutet es, dass Leben auch Wie dies immer auch empfunden wird, immer aus Festhalten und Standhalten es war jedenfalls ständig die Sorge da, besteht. Zwischen diesen beiden Polen ob man zu den Gewinnern oder zu den lassen sich Lebensäußerungen in einer Verlierern des neuen gesellschaftlichen Stadt des Übergangs (nicht nur in Wit- ÜberLebens gehört. Die sonst so allge- tenberge) festhalten. Für die subjektive mein gehaltene politisch-soziologische Selbst-Stabilisierung müssen Menschen Formel, wonach eine zunehmende „ge- eine zerbrechliche Erinnerung kompi- sellschaftliche Spaltung zwischen Arm lieren. Sie müssen vergessen und sich und Reich“ zu konstatieren ist, erfährt in nicht an „alte“ Sicherheiten lehnen. Sie diesem Buch zahlreiche konkrete Bei- dürfen aber auch nicht alles vergessen, spiele. Gesellschaftliche Spaltung heißt um so immer noch biografische Halte- übersetzt: Viele Menschen werden är- punkte für sich selbst wahrnehmen zu mer und verlieren ihre Lebensoffenheit. können. Heinz Bude schreibt dazu in Leben wird blockiert, Leben wird zum seiner Einleitung: „Untergeht, wer alles ÜberLeben. vergisst und wer nichts vergisst. Dazwi- Arm ist dabei nicht nur unter einem schen überlebt es sich: Man gibt etwas finanziellen Aspekt zu verstehen. Wie auf und hält sich zugleich an etwas fest. der Soziologe Georg Simmel (1858- Man gewährt dem Tod sein Recht, um 1918) betont hat, ist arm derjenige, der fürs Leben eine Möglichkeit zu gewin- von (staatlichen) Unterstützungsleis- nen.“ (S. 24) tungen abhängig ist. Wittenberge, das Diese Sozialstudie gibt darüber Aus- zu DDR-Zeiten ein eminent wichtiger kunft, wie gesellschaftliche Umbruchsi- Industriestandort war und für Tausen- tuationen bestimmte Subjektivierungs-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 161 Berichte und Rezensionen leistungen einfordern. Die Menschen, Forschungsarbeit und dem damit ent- über die berichtet wird, werden nicht zu wickelten Forschungsdesign, der kri- Forschungsobjekten degradiert. Ihnen tischen und prekären Verfasstheit von wird mit Empathie und Distanz begeg- Gesellschaften und Menschen Priorität net. Es ist deshalb auch nicht verwun- einräumt. Natürlich lässt sich auch plau- derlich, dass immer wieder Passagen sibel anführen, dass Zeit und Geld nicht (vor allem in den Reportagen) zu lesen für diese positive Dimensionserfassung sind, in denen mancher „Wittenberger“ ausreichten; und letztlich kann man seinen Unmut über die eingefallenen auch noch anführen, dass die seltenen Sozialforscher und Künstler artikuliert. Fälle geglückter Lebensperspektiven Zuweilen waren mehr als zwanzig Mit- sich versteckt hielten und sich nicht als glieder dieses Forschungs- und Theater- Exoten des „besseren Lebens“ öffentlich projekts in den Straßen von Wittenber- darstellen wollten. Aber zugleich wäre ge unterwegs. es doch eine spannende soziologische Wenn man etwas an dieser Studie Frage, wie ÜberLeben sich nicht nur monieren möchte, dann vielleicht die als Niedergang und Geschunden-Sein zuweilen etwas eingeengte Perspektive. darstellt, sondern sich Lebens-Dimen- Über weite Strecken verharren die Au- sionen erschließen, die von den Men- toren in einer Katastrophenmetaphorik, schen als deutliche Lebensverbesserung die als Grundrauschen der Forschungs- empfunden werden. Wenn man hier die arbeit nicht genannt wird, aber doch Darstellungsperspektive in diesem Sin- immer vorhanden ist. Zwar tauchen ne erweitert hätte, wären die negativen immer wieder Momente von „Norma- Lebens-Dimensionen trotzdem nicht in lität“ des Lebens auf, sofern man in ei- ihrer Wahrhaftigkeit und Eindrücklich- ner Transferstadt überhaupt von Nor- keit entwertet worden. malität sprechen kann, und natürlich ist „ÜberLeben im Umbruch“ verlangt die Strahlkraft des blockierten Lebens dem Leser wissenschaftliche Reflexion auf alle anderen Lebensbereiche vor- ab. Es werden aber auch andere Leser- handen. Aber vielleicht wäre ein Kon- Bedürfnisse erfüllt: Das Bedürfnis nach trastzugriff für das Gesamtbild noch Schmökern, Querlesen, Theatertexte erhellender gewesen und hätte gezeigt, versinnlichen, Sozialreportagen wirken wie nämlich in einer Transferstadt auch lassen und sich mit den Fotografien auf ÜberLeben ansatzweise ohne Fragmen- Spurensuche begeben. „ÜberLeben im tierung und Deprivation gelingen kann. Umbruch“ ist eine facettenreiche, wirk- Natürlich ist das immer auch die billi- lichkeitserschließende, faszinierende ge Frage danach, wo das Positive in Ge- Studie. sellschaftsentwicklungen bleibt, eine Frage, die natürlich bei „kritischen“ Gesellschaftsstudien immer leichte All- ergien auslöst. Und natürlich lässt sich diese Frage nach dem „Positiven“ auch damit stilllegen, dass man für seine

162 Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 Autorinnen und Autoren

Peter Brandt (*1948), Prof. Dr., Profes- Moses Mendelssohn Zentrums für Eu- sor an der FernUniversität Hagen. Lei- ropäisch-Jüdische Studien an der Uni- ter des Arbeitsbereiches Neuere Deut- versität Potsdam; Mitglied in den Re- sche und Europäische Geschichte und daktionen der Zeitschriften perspektive Direktor des interdisziplinären Dimit- 21 – Brandenburgische Hefte für Wis- ris-Tsatsos-Instituts für Europäische senschaft und Politik, Potsdam, und Verfassungswissenschaften (DTIEV).perspektiven ds, Marburg. Neuere Veröffentlichung: Peter Brandt/ Detlef Lehnert: Mehr Demokratie wa- Sigmar Gabriel, (*1959), von 1990 bis gen. Geschichte der Sozialdemokratie 2005 Abgeordneter im niedersächsi- 1830–2010, Berlin 2012. schen Landtags, von 1999–2003 Nie- dersächsischer Ministerpräsident. In Ridvan Ciftci (*1988), Student der der „Großen Koalition“ von 2005-2009 Rechtswissenschaften und studenti- Bundesminister für Umwelt, Natur- scher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öf- schutz und Reaktorsicherheit. Seit 2009 fentliches Recht, Umwelt- und Technik- Vorsitzender der SPD. recht, Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Stellvertretender Vorsitzender Horst Heimann (*1933), Dr., Politik- der Jusos Bielefeld. wissenschaftler, bis 1998 stellvertr. Lei- ter der Gustav-Heinemann-Akademie Nils Diederich (*1934), Diplom-Volks- in Freudenberg. Redaktionsmitglied der wirt, Univ.-Prof. a.D. für Politische perspektiven ds. Soziologie, mit den Schwerpunkten Parteien, Wahlen, Verbände, und In- Ulrich Heyder (*1942), Prof. Dr., bis nenpolitik, MdB 1976-1994 (SPD), Fi- 2007 apl. Professor für Soziologie an der nanzausschuss, Haushaltsausschuss TU Braunschweig. Seit 2007 Herderdo- (1983–1994), bis 2005 zahlreiche Funk- zent an der Deutschen Fakultät für In- tionen in der Berliner SPD, 2003–2010 genieurs- und Betriebswirtschaftsaus- Geschäftsführer der Vereinigung ehe- bildung an der Technischen Universität maliger MdB u. MdEP. Herausgeber der Sofia/Bulgarien, sei 2011 Herderdozent perspektiven ds. an der Polytehnica Bukarest (Rumäni- en). Redaktionsmitglied der perspekti- Klaus Faber, Staatssekretär a.D., ven ds. Rechtsanwalt in Potsdam; Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialde- Petra Hoffmann (*1946), Dr., Diplom- mokratie in Berlin, Brandenburg und Chemikerin und Journalistin, 1990 Mecklenburg-Vorpommern e.V.; Mit- Mitglied des SPD-(DDR) Vorstands, gründer und Kuratoriumsmitglied des 1990–2005 Mitglied der SPD-Kontroll-

Perspektivends 29. Jg. 2012 / Heft 2 163 Autorinnen und Autoren kommission. Veröffentlichung: Von der Regenerative Vollversorgung vor dem Montagsdemo zur Demokratie – Tage- Durchbruch, vorwärts buch, Berlin 2012. buchnotizen 1989/90, vorwärts buch, Berlin 2009. Joachim H. Spangenberg, Dr., Volks- wirt mit einem akademischen Hinter- Arne Heise (*1960), Prof. Dr., Profes- grund in Biologie und Ökologie, ar- sor für Finanzwissenschaft und Public beitet beim „Helmholzzentrum für Governance an der Universität Ham- Umweltforschung“ (UFZ) und ist stv. burg. Direktor des Zentrums für Ökono- Vorsitzender des „Sustainable Europe mische und Soziologische Studien. Neu- Research Institute Deutschland“. Seine ere Veröffentlichung: Das Ende der SPD Hauptarbeitsgebiete sind die Ökono- … und ihr Neuanfang, Münster 2012. mie der Ökosystemdienstleistungen, die Redaktionsmitglied der perspektiven ds Makroökonomie des Postwachstums und die Bewertung der biologischen Eckart Kuhlwein (*1938), war von 1976 Vielfalt. bis 1998 Mitglied des Deutschen Bun- destages, Parl. Staatssekretär beim Bun- Holger Rogall, Prof. Dr., ist Professor desminister für Bildung und Wissen- für Nachhaltige Ökonomie und Di- schaft, Bildungspolitischer Sprecher der rektor des Instituts für Nachhaltigkeit Fraktion, Vorsitzender einer Enquete- an der Hochschule für Wirtschaft und Kommission „Bildung 2000“ und des Recht Berlin (HWR) sowie Leiter des Bildungsausschusses, Haushaltsbericht- Instituts für Nachhaltige Ökonomie erstatter für das Umweltministerium (INa) und geschäftsführender Heraus- (damalige Ministerin ), geber des Jahrbuchs Nachhaltige Öko- Sprecher der Parlamentarischen Linken nomie. Er ist Autor zahlreicher Lehrbü- (PL) in der SPD-Fraktion, heute Mit- cher zur nachhaltigen Wirtschaftslehre, glied des Bundesvorstands der Natur- mit denen er die traditionelle Ökonomie Freunde Deutschlands. grundlegend reformieren will. Weiter- hin ist er Vorsitzender der Gesellschaft Roland Popp (*1955), Dipl.-Soziologe, für Nachhaltigkeit e.V. und Koordinator war zuletzt beim Institut für kulturwis- des Netzwerks Nachhaltige Ökonomie. senschaftliche Studien an der Universi- 2006 wurde er mit dem Deutschen So- tät Bremen und bei einem Software-Un- larpreis geehrt. Kontakt: Rogall@hwr- ternehmen als Technischer Redakteur berlin.de – www.Holger-Rogall.de und Lektor tätig, Redaktionsleiter der perspektiven ds.

Dr. Nina Scheer (*1971), Dr., Geschäfts- führerin von UnternehmensGrün e.V. und ehrenamtlicher Vorstand der Her- mann-Scheer-Stiftung. Letzte Veröf- fentlichung: Energiewende fortsetzen.

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