GERMANISTISCHE FORSCHUNGSANSÄTZE: THEORETISCHE GRUNDLAGEN, EMPIRISCHE BEFUNDE, EXEMPLARISCHE ANWENDUNGEN

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 PRACE GERMANISTYCZNE 8 GERMANISTISCHE WERKSTATT 8

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GERMANISTISCHE FORSCHUNGSANSÄTZE: THEORETISCHE GRUNDLAGEN, EMPIRISCHE BEFUNDE, EXEMPLARISCHE ANWENDUNGEN

Herausgegeben von Maria Katarzyna Lasatowicz und Felicja Księżyk

OPOLE 2019

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 REDAKCJA / REDAKTION Maria Katarzyna Lasatowicz (Uniwersytet Opolski), Felicja Księżyk (Uniwersytet Opolski), Andrea Rudolph (Uniwersytet Opolski), Daniela Pelka (Uniwersytet Opolski), Gabriela Jelitto-Piechulik (Uniwersytet Opolski) (Sekretarz/ Schriftleitung)

RADA NAUKOWA / WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT Ines Busch-Lauer (Westsächsische Hochschule Zwickau), Sambor Grucza (Uniwersytet Warszawski), Věra Höppnerová (Wirtschaftsuniversität Prag / Pädagogische Universität Pilsen), Wolf Peter Klein (Julius-Maximilians-Universität Würzburg), Maja Razbojnikova-Frateva (St. Kliment-Ochridski-Universität Sofia),Lenka Vaňková (Universität Ostrava), Iva Zündorf (Masaryk-Universität in Brünn)

RECENZENCI / GUTACHTER Józef Grabarek, Małgorzata Kubisiak, Martin Langner, Grażyna Łopuszańska, Robert Małecki, Krystyna Radziszewska, Hannelore Scholz-Lübbering, Joanna Szczęk

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Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Vorwort

Die Schriftenreihe Germanistische Werkstatt bietet ein Diskussions- und Prä- sentationsforum für qualifizierende Forschungsprojekte, Arbeitsmethoden und/ oder Untersuchungsergebnisse zu wissenschaftlichen Einzelfragen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur-, Sprach- und Translationswissenschaft sowie Glottodidaktik. Sie ist als Publikationsplattform für erfahrene Geisteswis- senschaftler konzipiert, aber ebenso als Bewährungsprobe für den akademischen Nachwuchs. Im Blickpunkt der vorliegenden Publikation werden exemplarisch in vierzehn Beiträgen aus der Perspektive von Forschung und Lehre, theoretische Grundla- gen, empirische Befunde und exemplarische Anwendungen der germanistischen Forschungsansätze diskutiert. Ausgehend vom historischen Sprachkontakt zwischen dem Griechischen und Go- tischen beschäftigt sich Michail L. Kotin mit der Frage, ob Sprachkontakte prin- zipiell jeglichen Wandel verursachen können oder ihre Wirkungsmöglichkeiten auf Systemzwänge der Muttersprache einschließlich ihrer natürlichen Grenzen beschränkt sind. Die Rolle des kontaktgeförderten Wandels anerkennend, wertet der Autor die intern-systemischen Ursachen als entscheidend für die grammati- schen Sprachveränderungen. Sprachwissenschaftliche Fragen wirft auch der Beitrag von Dorota Miller auf. Die Autorin geht darin detailliert Intertextualitätsphänomenen in polnischen, deutschen und britischen Pressetexten zum Brexit-Referendum nach, was zur Feststellung einer Reihe von qualitativen und quantitativen Unterschieden beim Einsatz interkultureller Strategien in den Teilkorpora führt. Die Perspektive von Lehre zeigen die Beiträge von Věra Höppnerová und Rafał Piechocki auf. Věra Höppnerová hebt den Stellenwert von Übungsprogrammen zur Überwindung lexikalischer Interferenzfehler hervor, wobei sie die These un- termauert, im Auslandsgermanistikstudium gehe die intensive Beschäftigung mit der Grammatik zu wenig mit der Fokussierung auf lexikalische Schwierigkeiten einher. Rafał Piechocki spricht wiederum die Vorteile des Einsatzes audiovisu-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 8 Maria Katarzyna Lasatowicz, Felicja Księżyk eller Medien bei der Entwicklung von Sprach- sowie Medienkompetenzen der Lernenden an. Im Bereich der literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträge lassen sich meh- rere Themenstränge nachzeichnen. Komparatistische Analysen stehen im Mittelpunkt der Ausführungen dreier Autor_innen: Karolina Jabłońska untersucht thematische und ideelle Affinitä- ten zwischen dem dramatischen Werk Friedrich Schillers und Rolf Hochhuths. Der typologische Vergleich dient Karolina Sidowska dazu, das literarische und graphische Schaffen von Bruno Schulz und Alfred Kubin zu analysieren. Eine Auseinandersetzung mit den Mechanismen totalitärer Systeme liefert Tomasz Skwara, indem er eine vergleichende Analyse zwischen dem Essay „Tyrannis“ von Manès Sperber und den Überlegungen des Totalitarismus-Forschers Wal- demar Gurian durchführt. Regionalliterarische Ansätze treten in dem vorliegenden Sammelband in drei Beiträgen auf. Izabela Kurpiela setzt sich exemplarisch mit der Minderheiten- literatur in Oberschlesien auseinander, dabei Parallelen zur Literatur der elsäs- sischen Grenzlandschaft ziehend. Tobiasz Janikowski analysiert ein wenig be- kanntes Werk der Heimatliteratur von Berta Nösekabel, indem er ausgehend vom Instrumentarium der Stereotypenforschung die Kreation der Protagonisten sowie die Narrationsstrategien untersucht. Agnieszka Jóźwiak schildert die Geschichte des Pressewesens im Verlag Graß und Barth in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- derts, der größtenteils belletristische Journale herausgab. Der Antisemitismus und die literarische Bewertung jüdischer Schicksale in der Novellistik des schlesischen Schriftstellers Arnold Zweig steht im Fokus des Interesses von Agnieszka Klimas, welche die Besonderheiten in der Geschichte der Juden in Osteuropa herausstellt. Monika Wójcik-Bednarz sucht nach Anhaltspunkten für die Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit und dem Umgang mit dem Gedächtnis, wo- bei sie Arno Geigers Familienroman Es geht uns gut in den Mittelpunkt stellt. Die Rezeption des Werkes von Richarda Huch in der zeitgenössischen germa- nistischen Literaturkritik untersucht Gabriela Jelitto-Piechulik. Dabei konsta- tiert die Autorin, Huchs anspruchsvolle geschichtliche Texte würden an den kulturellen Bedürfnissen der gegenwärtigen Leserschaft vorbeigehen, sodass die Schriftstellerin als eine der großen Vergessenen und nicht mehr Verstande- nen bezeichnet werden könne. Eine Einführung in die Geschichte, die Hauptthemen und Motive der deutschen Kolonialliteratur mit Bezug auf die ehemalige deutsche Kolonie Deutsch-Süd- westafrika liefert Karolina Rapp.

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Als Herausgeberinnen sind wir den Rezensent_innen, Korrektor_innen und vor allem den Autor_innen für die Weiterentwicklung der germanistischen Teildiszi- plinen zu Dank verpflichtet. Allen Leserinnen und Lesern, die sich aus verschiedenen Blickrichtungen mit den mannigfaltigen Aspekten der germanistischen Forschung auseinanderset- zen möchten, wünschen wir eine interessante Lektüre.

Maria Katarzyna Lasatowicz Felicja Księżyk

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Michail L. KOTIN (Zielona Góra) ORCID 0000-0003-0604-5464

Sprachkontakte aus ontogenetischer und phylogenetischer Perspektive

Zusammenfassung: Sind Sprachkontakte omnipotent, d.h., können sie prinzipiell jeglichen Wan- del verursachen, oder sind ihre Wirkungsmöglichkeiten auf Systemzwänge der Muttersprache einschließlich ihrer natürlichen Grenzen beschränkt? Dieser Frage wird im vorliegenden Beitrag nachgegangen, indem die phylogenetische und die ontogenetische Dimension der Problemstellung beachtet werden. Es wird u.a. untersucht, ob Spracherwerbsmodule bei der durch eine Zweitspra- che erschwerten Akquisition mit relativer Chronologie der Wandelphänomene bei den unter frem- den Einflüssen stehenden Sprachen affin sind. Schlüsselbegriffe: Sprachkontakte, Sprachwandel, Phylogenese, Ontogenese

Kontakty językowe z perspektywy ontogenetycznej i filogenetycznej Streszczenie: Czy kontakty językowe są wszechmocne, tj. czy potrafią one warunkować dowolne zmiany w języku „przyjmującym”, czy też ich potencjał indukcyjny jest ograniczony przymusem systemu języka rodzimego, łącznie z ich granicami naturalnymi? To właśnie pytanie stanowi przed- miot rozważań w poniższym artykule, przy czym uwzględnione zostanie tak filogenetyczny, jak i ontogenetyczny wymiar problemu. Analiza dotyczy przede wszystkim powiązań między kom- plikującą się poprzez nawarstwienie języka obcego akwizycją językową a chronologią względną przemian w językach znajdujących się pod wpływem języków obcych. Słowa kluczowe: kontakty językowe, zmiany językowe, filogeneza, ontogeneza

Language contacts from ontogenetic and phylogenetic perspectives Abstract: Are language contacts omnipotent, i.e. can they in principle trigger every kind of lan- guage change or are their inductive abilities restricted to systemic forces of native languages in- cluding their natural borders? This problem is the subject of the presented paper, whilst both its phylogenetic and ontogenetic dimensions are taken into consideration. The analysis covers, among others, affinities between language acquisition complicated by a second language and the relative chronology of change phenomena within languages developing under external influence. Keywords: language contacts, language change, phylogenesis, ontogenesis

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1 Theoretische Fragestellung

Die sogenannte „anything-goes hypothesis“ im Hinblick auf die Phänomene der Sprachkontaktforschung wurde von Matras (1998: 282) geprägt. Er postuliert eine nahezu uneingeschränkte „Macht“ fremder Einflüsse auf einheimische gram- matische Systeme – und zwar nicht in dem Sinn, dass sie diese letzteren immer völlig überfremden müssen, sondern im Sinn einer theoretischen Möglichkeit, jeglichen denkbaren Sprachwandel zu veranlassen (vgl. Thomason 2001: 60). Dies bedeutet, dass eine Erklärung für bereits stattgefundenen kontaktbedingten Wandel in der jeweiligen Sprache sich grundsätzlich jeglicher Erklärungen ent- zieht, die auf den Systemeigenschaften der Nehmer- bzw. Gebersprache beruhen. Daher sind sämtliche Interpretationen des kontaktbedingten grammatischen Wan- dels per se lediglich akzidentell und nie allgemein gültig und schließen somit An- sprüche auf theoretische Suffizienz als solche aus. Thomason/Kaufman (1988: 14) stellen in diesem Zusammenhang deutlich fest: „any linguistic feature can be transferred from any language to any other language; and implicational univer- sals that depend solely on linguistic properties are similarly invalid.“ Mit anderen Worten kann man sich durchaus eine Situation vorstellen, in welcher der gram- matische Wandel gegen die im Sprachsystem der Nehmersprache herrschende Entwicklungstendenz lediglich unter dem z.B. sozialhistorisch bedingten dauer- haften Einfluss der Gebersprache erfolgt. Das zweite, entgegengesetzte Konzept betrachtet als Primärfaktoren des Sprachwandels die intern-grammatischen Ur- sachen. Die Sprachkontakte spielen dabei eher die Rolle externer Beschleuniger von Wandeltendenzen, die sich auch ohne diese externen Einflüsse, wenn auch langsamer, entfaltet hätten (vgl. Abraham 2014, Bidese/Padovan/Tomaselli 2013, Bidese/Padovan/Tomaselli 2014, Bidese 2017, Kotin 2017). Über die Rolle und die systembedingten Grenzen der Wirkung mündlicher Sprachkontakte auf Dialekte schreibt Abraham (2014: 444) Folgendes:

In einer lebendigen Dialektsprache gibt es Wandel unter Sprachkontakt bloß dort, wo solcher Wandel auch autonom stattfinden hätte können – wo also, salopp gesprochen, eine Tür zum Wandel bereits sprachautonom (= paradigmenintern) halboffen steht.

Bidese et al. (2013, 2014 und 2017) haben diese These am Material verschiedener grammatischer Phänomene des zimbrischen Dialekts in Norditalien verteidigt. Meine eigenen Untersuchungen zur Wirkung der Sprachkontakte im Bereich der Schriftsprachen am Beispiel des Gotischen, das unter einem dauerhaften Einfluss des Griechischen stand, ergaben die Schlussfolgerung, welche zu der oben darge- stellten Position völlig affin ist:

Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass es so gut wie keinen „reinen“ kontaktbedingten Sprach- wandel gibt. Dafür gibt es sehr wohl den kontakt geförderten Wandel, d.h., durch fremde Ein-

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flüsse können die im System einer gewissen Sprache „schlummernden“ Entwicklungstendenzen aktiviert und beschleunigt werden. (Kotin 2017: 110)

Im vorliegenden Beitrag werden nun sowohl die ontogenetische als auch die phylogenetische Dimension dieses theoretischen Problems erörtert. Zunächst (im Unterkapitel 2) werden Fragen der Kontakteinflüsse beim Erwerb von kategorialen Funktionen in deren zeitlicher Abfolge behandelt. Es wird u.a. gezeigt, ob und in- wiefern hierin nachweisbare Entwicklungsrichtungen und Regularitäten der Ab- leitung einer Kategorialfunktion von einer anderen in deren zeitlicher Abwick- lung feststellbar sind bzw. ob und inwiefern diese Regularitäten im Prinzip durch fremde Einflüsse gestört oder gar verletzt werden können. Im nächsten Schritt (im Unterkapitel 3) wird dann geprüft, ob und in welchem Umfang man von Affi- nitäten zwischen individuellem Spracherwerb und allgemeinen Entwicklungsge- setzen von natürlichen Sprachen reden darf. Im Schlussteil (Unterkapitel 4) wird dann die allgemeine Bilanz der angestellten Überlegungen gezogen.

2 Sprachwandel und Spracherwerb: Reihenfolge der Aneignung von Kategorialfunktionen

Wie u.a. Vendler (1964: 67) und Chomsky (1973: 98) gezeigt haben, gibt es universelle, d.h. unabhängig von Einzelsprachen existierende Oberflächenphä- nomene, deren Lesarten sich lediglich aus zu Grunde liegenden Tiefenstrukturen ergeben, welche sich in den für Sprachkompetenz zuständigen Hirnarealen der linken Hemisphäre befinden. So referiert das Personalpronomener im Nebensatz der Hypotaxe Der Vater fragte Peter, was er trinken möchte. auf das Objekt des Matrixsatzes (Peter), während im Satzgefüge Der Vater sagte Peter, was er trin- ken möchte. Subjektkontrolle (Vater) vorliegt. Wenn man jedoch die angeführten komplexen Sätze so umformuliert, dass die Prädikate Anhebung kodieren (z.B. wenn das Kontrollverb möchte durch Anhebungsverben oder -konstruktionen er- setzt wird), wird die Lesart, zumindest in der Präferenz, in aller Regel genau um- gekehrt, und zwar referiert in diesem Fall das Personalpronomen er beim Matrix- satz mit fragen eher auf das Satzsubjekt, während es bei der Matrix mit sagen bei nicht markierter Lesart auf das Objekt referiert, vgl. Der Vater fragte Peter, was er [Vater, ??Peter] trinken soll/kann/darf. vs. Der Vater sagte Peter, was er [Peter, ??Vater] trinken soll/kann/darf. Freilich existiert im letzteren Fall kein strenges Verbot für alternative Korrelationen, doch bedürfen die jeweils markierten Lesar- ten stets zusätzlicher Legitimationen, u.a. einer spezifischen Illokutionskorrektur mit entsprechender Umdeutung des Verbums dicendi, etwa bei sagen ,berichtenʻ statt der mit dem Modalverb kompatiblen Semantik von ,empfehlen, ratenʻ etc. Außerdem erwartet man im markierten Fall der Objektkontrolle bei fragen an der

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Stelle eines Personalpronomens vielmehr das anaphorisch verwendete Demonst- rativum der: Der Vater fragte Peter, was DER [Peter] trinken soll/kann/darf. Man kann zwar nicht zufriedenstellend erklären, wieso die syntaktischen Trans- formationen von genuin divergenten logischen Relationen zur Generierung von oberflächlich identischen Phrasen führen, aber die koverten logischen Beziehun- gen werden sogar von einem Kleinkind ohne spezielle Erklärungen und ohne zusätzliche intellektuelle Anstrengungen richtig entschlüsselt, was ohne Zwei- fel davon zeugt, dass sie zur apriorischen, angeborenen Grundausstattung des Sprachmoduls gehören. Dieses Modul unterscheidet seinerseits den Homo sapi- ens von allen anderen Lebewesen einschließlich der intelligentesten Schimpan- sen oder Delphinen, denen oft nachgesagt wird, sie seien „sprachfähig“. Hubert Haider (2017: 12) bringt es deutlich auf den Punkt, indem er feststellt, dass

[…] Sprachen deswegen über bestimmte hoch komplexe Eigenschaften verfügen können, weil das Hirn spezielle Berechnungskapazitäten dafür anbietet. Ein Affenhirn bietet sie nicht an und ist daher nicht in der Lage, menschliche Syntax zu bewältigen.

Dies stellt nun seinerseits funktionalistische Erklärungen für Sprachursprung und Sprachwandel in Frage, die sich darauf stützen, dass beide aus dem Kom- munikationsbedürfnis entstehen und somit Ergebnis einer kontinuierlichen, all- mählichen Evolution der Tiere zu Menschen darstellen: „Bei menschlichen Spra- chen sind die Selektionsbedingungen nicht die Kommunikationsbedingungen. Es sind die Bedingungen, die das Hirn der Sprachverarbeitung diktiert“ (Haider 2017: 24). Die oben beschriebenen syntaktischen Strukturen und damit vergleichbare Phä- nomene unterliegen keinem Wandel und sind unabhängig von Einzelsprachen. Sie demonstrieren Stabilität in der Diachronie und übereinzelsprachige Geltung in der Typologie. Sie werden nicht durch Lernmechanismen angeeignet, sondern ein- fach als Realisierungen angeborener universeller Sprachkompetenzen produziert und entsprechend ohne externe Interpretationsphase als die einzig mögliche Opti- on fehlerfrei rezipiert. Bei anderen Phänomenen sind dagegen viel kompliziertere Mechanismen feststellbar, die gemeinhin darauf beruhen, dass gewisse prototy- pische Kategorien diverse Ausdrucksformen bekommen, und zwar in der Art und Weise, dass zeitlich vorangehende, archetypische Formen zunächst overt die Re- lationen kodieren, die später durch koverte Formen mit entsprechender (aber nur partieller) Funktionsmodifikation einhergehen. In der Ontogenese handelt es sich dabei um Entwicklungsketten, die bei einer Basisfunktion anfangen, welche der frühesten Phase des Spracherwerbs entsprechen und grammatisch overt kodiert werden, woraufhin sich diese Funktion in späteren Entwicklungsphasen sprach- licher Kompetenzen des Kindes in kryptotypischer (koverter) Form – in aller

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Regel neben anderen, neuen, wiederum ihrerseits overt vorhandenen Funktio- nen – erscheinen. So entstehen Ketten von sich nacheinander herausbildenden Kategorien, die dadurch konvergent sind, dass darin die jeweils prototypische Grund- bzw. Basisfunktion weiterlebt. Die in der Linguistik bekannteste davon ist die T(empus) – A(spekt) – M(odus) – Kette (vgl. vgl. Heine 1993: 70; Watts 2001: 120), die die Entstehung und Entwicklung konvergenter kategorialer Signa- le auf dem Weg der Reanalyse (Grammatikalisierung) postuliert. Zu Grunde lie- gen die ihrem Wesen nach metonymischen Prozeduren der Umdeutung genuiner Funktionen. Leiss (1992: 15–17), die in Anlehnung an die bekannte Hypothese von Jakobson – Guillaume (vgl. Jakobson 1957, Guillaume 1929/1965) vom Ver- balaspekt als „Basiskategorie“ ausgeht, postuliert die Entwicklung A → T → M, später zieht sie auch die Kategorie der nominalen Determination (Artikel) hinzu (vgl. Leiss 2000), die sie insbesondere in Relation zum verbalen Aspekt stellt. Die experimentellen Untersuchungen zu Spracherwerb und seinen neurolinguistischen Grundlagen (vgl. u.v.a. Naumenko 2008, Bornkessel-Schlesewski/Schlesews- ki 2009) haben diese These weitestgehend bestätigt. Es wurde u.a. bewiesen, dass die zeitliche Abfolge bei der Ausbildung von Sprachkompetenzen im Bereich der grammatischen Kategorien nachweisbare Richtlinien sowie eine strikte Kontinuität aufweist. So werden die Aspektfunktion und damit verwandte Aktionsartfunktio- nen in der frühesten Phase des Spracherwerbs von Kindern angeeignet, worauf die Aneignung temporaler Relationen und schließlich modaler Funktionen, der nomi- nalen Determination etc. folgt. Die modalen Signale werden ihrerseits zunächst in deontischen und erst wesentlich später in epistemischen Lesarten angeeignet. So entschlüsseln die Kinder bis zu ihrem 12.-14. Lebensjahr Sätze vom Typ Die Mutter muss heute kommen., welche grundsätzlich abhängig vom Kontext sowohl als subjektbezogene Notwendigkeit (Die Mutter hat die Pflicht bzw. ist gezwun- gen, heute zu kommen) als auch als sprecherbezogene Überzeugung (Die Mutter kommt höchstwahrscheinlich heute) verstanden werden können, lediglich in der erstgenannten (deontischen) Lesart, während die zweite (epistemische) sich zu ih- rer Sprachkompetenz erst in deren Endphase gesellt.­ Die oben dargestellten Tatsachen aus dem Bereich der linguistischen Ontoge- nese zeugen nun eindeutig davon, dass unter den beschriebenen Voraussetzun- gen fremde Einflüsse wohl kaum das Grundgerüst der Sprachkompetenz und die nachweisbaren Richtlinien ihrer Ausbildung tangieren können. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass sich Ontogenese in ihren Wesenszügen weitestgehend mit der Phylogenese deckt, sodass auch dort kein willkürlicher und lediglich in- tentional-kommunikativ oder soziokulturell bedingter Wandel unter Sprachkon- takt postuliert werden darf.

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3 Sprachkontakte als Beschleuniger intern systemischer Veränderungen in der Phylogenese

Die oben erwähnte Jakobson-Guillaume-Hypothese, die in der Ontogenese eine weitgehende Bestätigung gefunden hat, gilt auch nahezu uneingeschränkt für die Phylogenese, was u.a. am Beispiel der Indogermania demonstriert werden kann. Unter Indogermanisten herrscht nämlich Einigkeit darüber, dass das Urindogerma- nische als eine ausgesprochene Aspektsprache rekonstruiert werden kann mit der genuinen kategorialen Opposition zwischen dem imperfektiven Präsens und dem Perfekt (vgl. u.v.a. Prokosch 1939: §52a, Kuryłowicz 1969, Meier-Brügger 2002: 167). Prokosch (ibid.) zeigt übrigens ebenfalls, dass die erwiesene Archa- ik der aspektuellen Oppositionen auch für außerindogermanische Sprachen gilt. Diese Feststellung ist aus phylogenetischer Sicht gerade vor dem Hintergrund der Sprachtypologie und Universalgrammatik äußerst wichtig. Es wird ferner an- genommen, dass die Kategorie der Diathese zumindest im Urindogermanischen ebenso alt ist wie die des Verbalaspekts, sodass die einstige Basisopposition zwischen den urindogermanischen Präsens- und Perfektformen die Gegenüber- stellung von aktiver hic-et-nunc-Handlung und inaktivem Zustand sei, welcher als Ergebnis dieser Handlung entstanden sei (vgl. Stang 1932, Kuryłowicz 1964, Neu 1968: 154–157, Watkins 1969, Krasuchin 1987, Meier-Brügger 2002: 167). Diese Vermutung gilt heute – auf Grund der Analyse von Form und Funktion der urindogermanischen so genannten Primär- und Sekundärendungen (vgl. Meier-Brügger 2002: 167) sowie des Wurzelablauts in Verbalstämmen – als eine der wahrscheinlichsten, auch wenn diesbezüglich bis heute „eine opinio communis nicht in Sicht“ ist (vgl. Meier-Brügger 2002: 182). Auf jeden Fall unumstritten ist aber die Tatsache, dass der Verbalaspekt im Indogermanischen dem Verbaltempus vorausging. Die temporalen Funktionen entwickeln sich in den indogermanischen Einzeldialekten und -sprachen später, und zwar aus den Aspektbedeutungen. Dabei haben einige Sprachgruppen (vor allem die Slavia) die Aspektfunktion, welche allerdings mit neuen grammatischen Mitteln kodiert wurde, beibehalten bzw. neu entwickelt, während andere (z.B. die Germania und zum Teil die Romania) diese aufgegeben bzw. entschieden umgedeutet haben. Wie nun Leiss (1992; 2000; 2002) überzeugend gezeigt hat, war der Aspektverlust in diesen Sprachen für deren grammatische Systeme äußerst folgenreich. Der As- pekt verschwand nämlich nicht spurlos, sondern sein Schwund löste allseitigen, tektonischen grammatischen Wandel aus, dessen Ergebnisse u.a. die Entstehung eines verzweigten, mehrgliedrigen Tempussystems, die an Tempora gebundenen Verbalmodi mit mehreren Funktionen, die Ausbildung von zahlreichen Modal- verben mit jeweils spezifischen Lesarten, die morphologisch indizierten verbalen Aktionsarten, die aspektuell markierten Funktionsverbgefüge neben Vollverben

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(des Typs bitten – eine Bitte stellen, aufführen – zur Aufführung bringen bzw. kommen), die Ausbildung der Artikelfunktion beim Demonstrativpronomen und dem Zahlwort mit Übertragung aspektähnlicher Funktionsleistung aus der Ver- bal- in die Nominalphrase etc. sind. Die neu entstandenen Formen haben dabei in versteckter, koverter Form Spuren der einstigen Aspektfunktion beibehalten. So drücken die epistemischen Modalverben, in Einklang mit der Generalisierung von Abraham/Leiss (2008: XII-XIII), in aller Regel zukunftsbezogene abgeschlosse- ne Ereignisse aus, während die davon abgeleiteten epistemischen Modalverben meist gegenwartsbezogen und nicht resultativ sind, vgl. engl. Pete must die. vs. Pete must be dying. In allen Sprachen sind die epistemischen Modalverblesarten bekanntlich später als die deontischen und auf der Grundlage einer Umdeutung dieser Letzteren entstanden. Diese phylogenetische Evidenz geht völlig mit den Ergebnissen der ontogenetischen Forschung einher, die erwiesen hat, dass auch das Kind sich die epistemischen Bedeutungen der Modalverben im Prozess des Spracherwerbs wesentlich später als die deontischen aneignet (vgl. Naumenko 2008: 215–219). Auch der bestimmte Artikel im Satzfokus dient häufig zum Ausdruck einer Voll- ständigkeit der ausgeführten Handlung, die in den Aspektsprachen durch den per- fektiven Aspekt des verbalen Prädikats kodiert wird, vgl. poln. Piotrek zbierał jabłka w swoim ogródku. – dt. Peter hat in seinem Garten Äpfel gesammelt. vs. Piotrek zebrał jabłka w swoim ogródku – dt. Peter hat in seinem Garten die Äpfel gesammelt. Dabei entsteht der definite Artikel in allen Sprachen, die ihn besitzen, in der Regel aus dem Demonstrativpronomen und immer sekundär, d.h., keine Sprachen mit genuiner Artikelfunktion sind der Linguistik bekannt (vgl. Sternemann 1995: 152–153). So bildet sich die Artikelfunktion im Griechischen zwischen dem 8. und dem 5. Jh. vor Christus aus, aber in den ältesten griechi- schen Texten (den sog. Linear B-Schriftdenkmälern aus dem 13. Jh. vor u.Z.) wird das Demonstrativpronomen noch nicht in der Funktion des bestimmten Arti- kels gebraucht (vgl. Heinrichs 1954: 15–18, Schwyzer 1926: 126, Sternemann 1995: 153). In den germanischen Sprachen entsteht der definite Artikel nach ei- nem ähnlichen Schema, wobei seine Ausbildung dort mit deutlichem Rückgang der Aspektfunktion in der Verbalphrase einhergeht (vgl. Leiss 2000). Inwiefern kann man aber vom Einfluss der Artikelsprachen auf die Grammatikalisierung des Demonstrativpronomens zum definiten Artikel in der Germania reden? In der gotischen Bibel, deren Hauptvorlage die griechischen Texte bildeten, lässt sich der kontaktbedingte Sprachwandel nahezu als Musterbeispiel behandeln. Doch hat sich die Artikelfunktion ebenfalls, wenn auch später, in nord- und west- germanischen Sprachen herausgebildet, die in ihrer Schriftform unter dem Ein- fluss des artikellosen Lateins gestanden haben und daher keinesfalls ihren defini- ten Artikel seiner Wirkung verdanken können. Übrigens entstand der Artikel auch

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 18 Michail L. Kotin in den vom Latein stammenden romanischen Sprachen, obwohl das Latein selbst keinen Artikel besaß. Was nun den griechischen Einfluss auf die ostgermanische Sprache Gotisch betrifft, können die wichtigsten Beobachtungen hierzu wie folgt zusammengefasst werden.1 Nach Streitbergs (1920: §281) Auszählungen an Hand des 8. Kapitels des Lukas- Evangeliums wird der griechische Artikel 40-mal im gotischen Text wiedergege- ben, wobei er in 80 Fällen ausgelassen wird. Diese Probezählungen stimmen mit den von Sternemann (1995: 154–155) an Hand des 3. und des 4. Kapitels des Markus-Evangeliums vorgenommenen Erhebungen in etwa überein. Schon diese Daten zeigen, dass das Gotische „aus der Sicht des Griechischen keine Artikel- sprache ist“ (Sternemann 1995: 155). Ist nun aber Gotisch aus seiner eigenen Systemperspektive ebenfalls keine Artikelsprache? Darüber herrscht unter Sprach- wissenschaftlern keine Einigkeit. Wackernagel (1924: 130) und Krause (1968: 194–195) behandeln Gotisch als Sprache mit bestimmtem Artikel, wohingegen Sauvageot (1929: 5) und Hodler (1954: 110–112) ihm die grammatikalisier- te Artikelfunktion absprechen. Streitberg (1920: §281), Braune (1912: 77), Braune/Ebbinghaus (1981: 100–101) und Guchman (1998: 106) vermuten, dass das gotische Demonstrativpronomen nur in einigen Fällen die Artikelfunktion hat. Die opinio communis scheint insgesamt eher eine skeptische Sicht auf die gramma- tische Artikelfunktion im Gotischen zu sein (vgl. Sternemann 1995: 151). Das gotische Demonstrativpronomen (Sg. sa m, so f, þata n, Pl. þai m, n, þos f) als Substantivbegleiter entspricht in seinem Status, sehr allgemein und grob vergli- chen, in etwa dem griechischen Demonstrativpronomen ὁ m, ἡ f, τό n der ho- merischen Zeit (8. Jh. vor Chr.). Zwar ist es noch nicht voll grammatikalisiert, tritt aber schon in gewissen Kontexten relativ systematisch in der Funktion auf, die dem definiten Artikel eigen ist. Das Koinegriechisch der hellenistischen Zeit ist eine klassische Artikelsprache, sodass der Grad der Grammatikalisierung des gotischen Demonstrativpronomens in den jeweiligen Belegen auf der Folie der griechischen Textvorlage auf den ersten Blick relativ unschwer feststellbar ist. Da Artikelhaftigkeit im Gotischen bei Artikellosigkeit im Griechischen kaum vor- kommen, können wir mit drei Korrelationen rechnen (vgl. Sternemann 1995: 155–157), und zwar: (a) Vorhandensein von got. sa, so, þata als Entsprechung von gr. ὁ, ἡ, τό; (b) Fehlen von „Begleitern“ in beiden Textversionen; (c) Fehlen von got. sa, so, þata an den Stellen, wo im Griechischen der defini- te Artikel verwendet wird.

1 Der Umfang und die Zielstellung dieses Beitrags schließen eine ausführliche Darstellung dieses komple- xen Problems einschließlich der Beleganalyse aus. Interessierte verweise ich daher auf meine Ausführungen hierzu in Kotin (2012: 193–224); (2017: 109–133).

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In den unten angeführten Belegen aus dem Johannes-Evangelium, die ein Frag- ment des Gleichnisses vom guten Hirten sind, sehen diese Korrelationen wie folgt aus:

(1) Joh. 10, 11: ik im hairdeis gods. „Ich bin ein guter Hirte.“ (2) Joh. 10, 12: hairdeis sa goda saiwala seina lagjiþ faur lamba. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“

Wir haben nun mit dem Fall (a) in (2) und mit dem Fall (c) in (1) zu tun, da im griechischen Text an beiden Stellen der definite Artikel erscheint, und zwar ὁ ποιμήν ὁ καλός (wörtlich ,der Hirte der guteʻ – eine Doppelsetzung des Arti- kels vor dem Nomen und vor dem postnuklearen Adjektiv ist für das Griechische sehr typisch). Das Gotische kodiert Indefinitheit im Fokus und Definitheit im Topik bei Rhema-Thema-Gesichtspunktwechsel. Die Indefinitheits- bzw. Defi- nitheitsmarkierung ist in diesem Fall übrigens doppelt belegt, und zwar durch den quasi „Artikel“ und zugleich durch die starke vs. schwache Adjektivform hairdeis gods („Nullartikel“ und starkes Adjektiv) vs. hairdeis sa goda („Artikel“ und schwaches Adjektiv). Diese Verteilung der Artikelmarker (Nullartikel oder indefiniter Artikel als sein Äquivalent vs. definiter Artikel) ist für das Gegen- wartsdeutsche und generell für moderne germanische Sprachen typisch, die ja klassische Artikelsprachen sind. Die ebenfalls klassische Artikelsprache Koine- griechisch verwendet hingegen in beiden Fällen, also unabhängig von der jeweiligen Informationsstruktur der Propositionen, den definiten Artikel. Es ist also offenkundig, dass der gotische Übersetzer hier deutlich vom griechischen Grundmuster der Ar- tikelverwendung abweicht. Der Grund liegt auf der Hand: Der griechische definite Artikel erscheint in allen unspezifischen Kontexten, da er aus der Sicht der Infor- mationsstruktur des Satzes merkmallos ist, wohingegen der definite Artikel im Goti- schen (und in anderen germanischen Sprachen) merkmalhaft ist – er indiziert nämlich overt die Topikposition des Nomens, während der Nullartikel grundsätzlich sowohl im Topik als auch im Fokus erscheinen kann. Die Markiertheitsrelation bei Artikel- verwendung sieht also im Griechischen und im Gotischen genau umgekehrt aus. Unten ein Beleg für den oben beschriebenen Fall (b) aus demselben Fragment, wo für das Griechische eine markierte Situation (rhematische Ersterwähnung im Fokus) vorliegt und im Gotischen umgekehrt die für die Germania typische Merkmallosigkeit derselben Position durch Artikellosigkeit indiziert wird:

(3) Joh. 10, 2: gr. ό δὲ εἰσερχόμενος διὰ τῆς θύρας ποιμήν ἑστίν τῶν προβάτων. der aber hineingehender durch die Tür Hirte ist der Schafe

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got. iþ sa ingaggands þairh daur hairdeis ist lambe. aber der hineingehender durch Tür Hirte ist Schafe GEN.Pl. „der aber zur Tür hineingeht, der ist ein Hirte der Schafe.“

Das Griechische verzichtet hier auf den – sonst üblichen – definiten Artikel, wäh- rend im Gotischen gerade Artikellosigkeit „normal“ ist. Im Ergebnis liegt aber in beiden Sprachen Artikellosigkeit vor, welche dennoch keinesfalls als Indiz für Funktionsähnlichkeit interpretiert werden kann, da in beiden Sprachen grund- sätzlich divergente Markiertheitsrelationen vorliegen. In demselben Beleg steht das Substantiv ,Türʻ im Griechischen mit dem definiten Artikel (διὰ τῆς θύρας ,durch die Türʻ) und im Gotischen ohne Begleiter (þairh daur, also wörtlich ,durch Türʻ). Der Grund dafür liegt ausschließlich im System des Gotischen und kann daher vom Griechischen in der überwiegenden Mehrheit der Belege nicht tangiert werden. Es handelt sich um Artikelblockade bei Präpo- sitionalgruppen, die übrigens nicht nur dem Griechischen völlig fremd ist, son- dern auch von der Germania lediglich im Gotischen konsequent durchgesetzt ist, vgl. u.v.a. in þiudangardjaj himine ,im Himmelreichʻ (Mt. 5, 19), in himina jah ana airþai ,im Himmel und auf der Erdeʻ (Mt. 6, 10), in fulhsnja ,im Geheimenʻ (Mt. 6, 18), af fairgunja ,vom Berg hinabʻ, in skip ,ins Schiffʻ (Mt. 8, 23), ana ligra ,auf der Bahreʻ (Mt. 9, 2), in alh fraujins ,in den Tempel des Herrnʻ (Lk. 1, 9), at daura ,am Toreʻ (Mk. 11, 4), ana wiga ,auf dem Wegʻ (Mk. 1, 18), in rohsn ,in den Hofʻ (Joh. 18, 15) etc., vgl.:

(4) Mt. 9, 2: þanuh atberun du imma usliþan ana ligra ligandan. „da brachten sie einen Gelähmten­ zu ihm, der auf einer Trage lag.“

Das Ausbleiben von sa, so, þata in Präpositionalkonstruktionen kann nicht durch übliche Faktoren wie Besonderheiten der Semantik des Substantivs, Kontext o.ä. erklärt werden. Aus Raumgründen können die Ursachen hierfür in diesem Beitrag nicht speziell behandelt werden, weswegen hier auf Kotin (2017: 126– 130) verwiesen wird, wo dieses Problem einschließlich des Lösungsvorschlags erörtert wird. Hier sei lediglich erwähnt, dass die Artikelblockade in gotischen Präpositionalphrasen in einigen besonderen Fällen „durchbrochen“ werden kann: Es handelt sich nämlich um eine spezifische Kohärenzrelation zwischen demsel- ben Nomen im Fokus und im Topik des nächsten Satzes, bei deren Herstellung der „Artikel“ im Gotischen selbst nach Präposition – als Kohäsionsmittel – er- scheinen kann, vgl.:

(5) Mk. 1, 12–13: […] ahma ina ustauh in auþida. jah was in þizai auþidai dage fidwor tiguns. „[und sogleich] trieb ihn der Geist in [die] Wüste, und er war vierzig Tage in der Wüste.“

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Wiederum ist diese Verwendung ausschließlich durch Systemeigenschaften der gotischen Sprache bedingt und hängt u.a. von der Aktionsart des Prädikats ab, was hier ebenfalls nicht speziell behandelt werden kann (vgl. diesbezüglich mei- ne Ausführungen und die Hypothese in Kotin 2017: 130). Diese Systemmerk- male – seien dies allgemein germanische oder spezifisch gotische – liegen nun außerhalb jeglicher Kontakterklärungen mit dem Griechischen.

4 Fazit

Das oben Dargestellte lässt sich nun in Punkten wie folgt zusammenfassen: •• Phylogenese und Ontogenese gehen beim Sprachwandel einher. •• Die „anything-goes“-Hypothese würde daher erst dann Geltung haben, wenn man beweisen könnte, dass der kontaktgeförderte Spracherwerb im Prinzip alles akzeptiere, was durch Einfluss der Fremdsprache herbeigeführt werden könnte. •• Dies ist erklärungsbedürftig, kann aber grundsätzlich experimentell über- prüft werden. Meine Hypothese ist: Dies wird keine Bestätigung finden. •• Die Phylogenese beweist eher die skeptische Sicht auf grenzlose Möglich- keiten des kontaktbedingten Wandels. Kontaktgeförderter Wandel ist da- gegen durchaus vorhanden: Sprachkontakte können interne Tendenzen der Sprachentwicklung und der darin enthaltenen kategorialen Konvergenz so- wohl beschleunigen als auch verlangsamen, aber die intern-systemischen Ursachen sind beim grammatischen Wandel stets entscheidend.

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Dorota MILLER (Rzeszów) ORCID 0000-0002-4581-7159

Brexit a sprawa polska Intertextualität in polnischen, deutschen und britischen Pressetexten zum Brexit-Referendum

Zusammenfassung: Gegenstand dieser Arbeit sind Intertextualitätsphänomene in polnischen, briti- schen und deutschen Pressetexten zum geplanten EU-Austritt Großbritanniens. Das Analysekorpus bilden 31 Presseartikel zum Brexit-Referendum, die im Juni und Juli 2016 in den Wochenzeitschrif- ten POLITYKA, DER SPIEGEL und THE ECONOMIST veröffentlicht wurden. Im Laufe der Analyse werden (1) Grundtypen intertextueller Relationen, (2) zugrunde liegende Referenztexte, (3) Teile der Phänotexte, in denen Intertextualitätssignale vorkommen und schließlich (4) Funktion und (5) Frequenz intertextueller Bezüge ermittelt. Schlüsselbegriffe: Intertextualität, Zitat, Anspielung, Mediensprache, Brexit

Brexit a sprawa polska. Intertekstualność w polskich, niemieckich i brytyjskich tekstach prasowych na temat planowanego wystąpienia Wielkiej Brytanii z Unii Europejskiej Streszczenie: Niniejsza praca koncentruje się wokół przykładów intertekstualności pojawiających się w polskiej, brytyjskiej i niemieckiej debacie prasowej na temat planowanego wystąpienia Wiel- kiej Brytanii z Unii Europejskiej. Jej materiał stanowi 31 artykułów prasowych na temat refe- rendum unijnego w Wielkiej Brytanii opublikowanych w czerwcu i lipcu 2016 r. w tygodnikach POLITYKA, DER SPIEGEL oraz THE ECONOMIST. Celem analizy jest uzyskanie odpowiedzi na pytania dotyczące (1) dominujących typów relacji intertekstualnych, (2) tekstów prototypo- wych, do których odnoszą się analizowane artykuły, (3) miejsc, w których najczęściej pojawiają się odniesienia intertekstualne, (4) ich funkcji oraz (5) frekwencji. Słowa kluczowe: intertekstualność, cytat, aluzja, język mediów, brexit

Brexit a sprawa polska. Intertextuality in Polish, German and British press coverage of the Brexit referendum Abstract: The purpose of the paper is to investigate examples of intertextuality in Polish, British and German press debate on the planned withdrawal of the UK from the EU. The underlying research

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 26 Dorota Miller material consists of 31 Brexit related newspaper articles published in June and July 2016 in the weekly magazines POLITYKA, DER SPIEGEL and THE ECONOMIST. The main goal of the analysis is to explore (1) the predominant types of intertextuality occurring in each sub corpus, (2) the texts that are referred to, (3) the parts of the analysed texts that are especially likely to include intertex- tual references, (4) the function and, finally, (5) the frequency of the intertextual references. Keywords: intertextuality, quotation, allusion, media language, Brexit

1 Einleitung und Zielsetzung

Der EU-Austritt Großbritanniens, der nach der vorgesehenen zweijährigen Ver- handlungsperiode im März 2019 rechtskräftig werden sollte, ist ein Präzedenzfall in der Geschichte der EU. Dabei handelt es sich nämlich nicht nur um den Austritt eines Mitgliedstaates, sondern um die Zukunft der gesamten EU und der ihr zu- grunde liegenden Idee der Integration, sowie um die Auswirkungen für einzelne EU-Staaten. Der vorliegenden Untersuchung, die das EU-Referendum und den bevorstehenden EU-Austritt Großbritanniens fokussiert, liegen Pressetexte aus den Wochenzeitschriften POLITYKA, DER SPIEGEL und THE ECONOMIST zugrunde, die am Vortag des Referendums und direkt danach erschienen sind. Das Hauptaugenmerk der Analyse liegt auf quantitativen und qualitativen Unter- schieden bzw. Ähnlichkeiten zwischen intertextuellen Strategien, die in den drei Teilkorpora Anwendung finden und im Folgenden kontrastiv dargestellt werden.

2 Linguistisches Intertextualitätskonzept

Für die Bedeutungskonstitution von Texten ist bekanntlich ihre Verflochtenheit mit anderen Texten grundlegend. Diese Eigenschaft von Texten, von Kristeva (1967) als Intertextualität (IT) bezeichnet, wurde zuerst im Rahmen der Literatur- wissenschaft diskutiert und fand relativ spät Eingang in sprachwissenschaftliche Erwägungen. Literatur- und sprachwissenschaftliche Intertextualitätsauffassun- gen gehen dabei weit auseinander: vom „Text als Teil eines universalen Inter- textes“ (Pfister 1985: 25) bis hin zu spezifischen, „bewusste[n], intendierte[n] und markierte[n] Bezüge[n] zwischen einem Text und vorliegenden Texten oder Textgruppen“ (Pfister 1985: 25). Im Lichte des breit angelegten, radikalen In- tertextualitätsbegriffs erscheinen Texte als dynamische Konstrukte, die sich in der allgemeinen IT auflösen (vgl. Linke/Nussbaumer 1997: 116). Charakteristi- scherweise werden dabei nicht nur Bezüge zwischen verbalen Phänomenen, sondern auch Interaktionen mit anderen semiotischen Kodes erfasst. In der engeren Variante, die für textlinguistische Zwecke eindeutig fruchtbarer ist, wird auf Wechselbe- ziehungen zwischen konkreten Texten, auf intendierte oder unintendierte, jeden- falls relevante, zumeist markierte Beziehungen zwischen einem Text und anderen

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Texten bzw. Textmustern eingegangen (vgl. Kurz 2001: 213). Exemplarisch sei hier die Intertextualitätsdefinition vonJanich (1999: 166) angeführt:

Intertextualität ist eine konkret belegbare Eigenschaft von einzelnen Texten und liegt dann vor, wenn vom Autor bewusst und mit einer bestimmten Absicht auf andere, vorliegende einzelne Texte oder ganze Textgattungen/Textsorten durch Anspielung oder Zitat Bezug genommen wird, und zwar un- abhängig davon, ob er diese Bezüge ausdrücklich markiert und kenntlich macht oder nicht.

Dabei wird mit Janich (2008: 178, Hervorhebungen im Original) folgende termi- nologische Bestimmung vorgenommen: „Texte, auf die Bezug genommen wird, seien im Folgenden REFERENZTEXTE (bzw. REFERENZTEXTSORTEN) ge- nannt, die Bezug nehmenden Texte heißen PHÄNOTEXTE. Markierungen inter- textueller Beziehungen werden als REFERENZSIGNALE bezeichnet“ bzw. als Intertextualitätssignale charakterisiert. Diese in der germanistischen Sprachwissenschaft dominierende Intertextualitäts- konzeption konzentriert sich in erster Linie auf Beziehungen zwischen sprachli- chen Objekten, nämlich die typologische IT (d.h. Relation zwischen Texten eines bestimmten Typs, einer bestimmten Textsorte) und die hier im Mittelpunkt ste- hende referentielle IT (d.h. Bezug auf konkrete Textexemplare durch Verweise, Zitate, Anspielungen etc.). Wie facettenreich der Intertextualitätsbegriff in der Linguistik ist, zeigt zum einen eine breite Palette von Intertextualitätstypologien (vgl. Opiłowski 2006: 21–39) und zum anderen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Begriffsumfangs von IT (vgl. Heinemann 1997: 32, Tegtmeyer 1997: 50). Linguistische Meinun- gen sind auch hinsichtlich der Frage geteilt, ob IT eine textimmanente Eigenschaft oder eine sich erst im Laufe der Interpretation konstituierende Relation zwischen Texten ist. Im Zeitalter der Multimodalität ist schließlich das multimodale Inter- textualitätskonzept erwähnenswert, in dem nicht nur sprachliche Zeichen, son- dern auch andere semiotische Kodes und inter-semiotische Relationen zwischen ihnen mitberücksichtigt werden, die u.a. für die heutige Medienkommunikation typisch sind. Dies ist beispielsweise der Fall in Printmedien und im Fernsehen, wo (bewegte oder statische) Bilder, gesprochene und/oder geschriebene Texte und graphische Elemente parallel eingesetzt werden (vgl. Püschel 1997). Als Fazit sei festgehalten, dass das Konzept der IT zwar umstritten und viel- schichtig, aber trotzdem von linguistischen Analysen nicht wegzudenken ist.1 IT erscheint als ein konstitutives Merkmal heutiger Medientexte und zwar zumin- dest im zweifachen Sinne: hinter jedem einzelnen Medientext stehen verschiede-

1 Zu dem teilweise divergierenden Intertextualitätsbegriff in der anglo-amerikanischen und polonisti- schen Linguistik siehe u.a. Orr (2003), Allen (2011), Markiewicz (1988), Nycz (1995), Krauz (2009) und Mazur/Małyska/Sobstyl (2010).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 28 Dorota Miller ne redaktionsinterne Verfasser, die sich in unterschiedlichem Grade an der Text- produktion beteiligen. Darüber hinaus produzieren diverse Akteure (Politiker, Sprecher verschiedener Institutionen, Redakteure in Presseagenturen etc.) Texte, die in einen gegebenen Medientext einfließen. Folglich ist in vielen Fällen kein konkreter Autor eines Textes festzumachen:

Das einzelne Medienprodukt, der Medien-TEXT, ist zwar formal als singuläres Phänomen ab- grenzbar. Von der Produktion her gesehen, ist es aber nur eine Phase in einer Kette von Texten, die (in z.T. schwer entwirrbaren Verläufen) aufeinander basieren. (Burger/Luginbühl 2014: 106)

3 Grundtypen intertextueller Bezüge

Die Vielfalt von Intertextualitätstaxonomien kann hier im Einzelnen nicht refe- riert werden.2 Um das breite Spektrum linguistischer Intertextualitätsauffassun- gen zu illustrieren, sei nur stichpunktartig auf diverse Herangehensweisen hinge- wiesen, die sich in folgenden Dichotomien manifestieren: •• produzenten- bzw. textbezogene Perspektive vs. rezipientenbezogene Pers- pektive (vgl. Rössler 1997), •• referentielle vs. typologische IT bzw. Einzeltext- vs. Systemreferenz (vgl. Janich 1999 und 2008; Holthuis 1993, Broich/Pfister 1985), •• obligatorische vs. fakultative IT (vgl. Opiłowski 2006, Nycz 1995, Mar- kiewicz 1988), •• diachrone vs. synchrone IT (vgl. Burger/Luginbühl 2014), •• interne vs. externe IT (vgl. Opiłowski 2006), •• homolinguale vs. heterolinguale IT (vgl. Petöfi/Olivi 1988) u.a. Im Folgenden wird die Typologie von Janich (2008) appliziert, die ursprüng- lich auf Werbetexte abzielt, jedoch m.E. auch auf Medientexte anwendbar ist. Es wird allerdings nur auf die Einzeltextreferenz eingegangen, d.h. absichtlich vom Textautor vorgenommene Referenzen auf konkrete Textexemplare.3 Hierzu unterscheidet Janich (2008) folgende Grundtypen der IT: •• Zitat, d.h. „VOLLSTÄNDIGE ODER UNVOLLSTÄNDIGE ÜBERNAHME […] eines Referenztextes, weiter zu unterscheiden nach vorhandener oder fehlender Markierung“ (Janich 2008: 189, Hervorhebungen im Original). Im Folgenden wird allerdings nicht das dokumentarische Zitieren (d.h. eine wörtliche und genaue Wiedergabe eines Referenztextes), sondern ein Son-

2 Siehe hierzu Opiłowski (2006: 21–29). 3 Zu der sog. Systemreferenz und Textsorten-in-Vernetzung, auf die hier nicht eingegangen wird, siehe Janich (2008: 192–195).

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derfall des Zitierens erfasst, nämlich kreatives Zitieren, in dem es zu einer „Projektion von Bedeutungen auf Typen von Artefakten und auf Gegenstän- de der Natur“ kommt (vgl. Posner 1992: 14). Im Vordergrund steht also nicht das reproduktive Verstehen, sondern eine produktive Auseinanderset- zung mit dem Referenztext (vgl. Posner 1992: 14), eine Art Dialog zwi- schen dem Phäno- und Referenztext, wodurch neue Bedeutungskomplexe evoziert werden, •• strukturelle Anspielung, d.h. „ANSPIELUNG auf einen Referenztext durch die ÜBERNAHME VON (SYNTAKTISCHEN) STRUKTUREN BEI LEXIKALISCHER SUBSTITUTION“ (Janich 2008: 189, Hervorhebun- gen im Original), •• lexikalische Anspielung, d.h. „ANSPIELUNG auf einen Referenz- text durch VERWENDUNG ZENTRALER LEXIKALISCHER ELE- MENTE BEI STRUKTURELLER MODIFIKATION (Aufgreifen von ,Schlüsselwörternʻ)“ (Janich 2008: 189, Hervorhebungen im Original), •• visuelle Anspielung, d.h. „ANSPIELUNG auf einen Referenztext über den VISUELLEN CODE“ (Janich 2008: 189, Hervorhebungen im Original).4 An dieser Stelle sei auf den fließenden Übergang zwischen Zitat und Anspielung hingewiesen: auf dem einen Ende der Skala befindet sich eine totale und unverän- derte Wiedergabe (Zitat), der eine veränderte und partielle Wiedergabe in Form von Anspielung oder Allusion gegenübergestellt wird (vgl. Opiłowski 2006: 207–214, Holthuis 1993: 98). Die am häufigsten eingesetzten Modifikationstechniken be- stehen dabei in der Hinzufügung, Kürzung, Wiederholung, Substitution bzw. Per- mutation (vgl. Holthuis 1993: 97). Mit zunehmender qualitativer und quantitati- ver Modifikation des Referenztextes, die durch o.g. Techniken zustande kommt, wächst die Entfernung des Phänotextes vom Referenztext, so dass im Endeffekt kein (modifiziertes) Zitat, sondern vielmehr eine Anspielung vorliegt.

4 Untersuchungskorpus und Vorgehensweise

Die Analyse stützt sich auf jeweils zwei bzw. drei Ausgaben der vielgelesenen Nachrichtenmagazine Deutschlands (DER SPIEGEL), Polens (POLITYKA) und Großbritanniens (THE ECONOMIST), die kurz vor und direkt nach dem Refe- rendum vom 23. Juni 2016 erschienen sind. Alle drei repräsentieren eine ähnliche liberale Ausrichtung und plädieren für die Remain-Option, was entweder direkt

4 Vgl. auch Isekenmeiers Konzept der Interpiktorialität (2013) und Opiłowskis Erwägungen zur Interiko- nizität (2012).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 30 Dorota Miller verbalisiert wird,5 oder den zu analysierenden Ausgaben (z.B. deren Cover und Artikel-Überschriften) indirekt zu entnehmen ist. Erwartungsgemäß betrachten die untersuchten Printmedien das Referendum und den Brexit selbst aus unter- schiedlichen Perspektiven: Die Wochenzeitung POLITYKA konzentriert sich auf die Folgen des Brexit für Polen (Brexit a sprawa polska auf dem Cover der Aus- gabe vom 22.–28.6.2016) und die Stellung der euroskeptischen PIS-Regierung gegenüber diesem Präzedenzfall. DER SPIEGEL wendet sich dagegen, insbe- sondere in der Ausgabe vom 11.06.2016, direkt an die Briten: „Wenn ihr für den Austritt stimmt, verlieren alle. Wenn ihr bleibt, werdet ihr gewinnen“ (Lasst uns nicht allein! / Don’t leave us!). Aus diesem Grunde erscheinen die dem Refe- rendum gewidmeten Texte parallel in deutscher und englischer Sprachvariante (Lasst uns nicht allein! / Don’t leave us!, Wer klug ist, bleibt / It’s smarter to stay, „Großbritannien ist Führungsnation“ / „Britain is a leading nation“, Dann geht doch! / Then leave!). THE ECONOMIST spricht die potentiellen Referendum- Teilnehmer an, worauf u.a. das kollektive wir auf dem Cover der Ausgabe vom 18.–24. Juni 2016 (Divided we fall) hinweist. Das Untersuchungskorpus ist asymmetrisch aufgebaut und besteht aus 18 Texten aus der Wochenzeitschrift THE ECONOMIST, sieben Texten aus der Wochen- zeitschrift POLITYKA und sechs aus dem SPIEGEL. Dies resultiert aus der Tat- sache, dass das Brexit-Votum am weitesten in Großbritannien diskutiert wurde. Darüber hinaus besteht das britische Subkorpus aus zwei regulären Heften und einer Sonderausgabe. Hierzu ein Zitat aus der Hausmitteilung vom 18. Juni: „The result of Britain’s vote on June 23rd will come too late for next week’s issue. In Britain we will delay printing in order to produce a special edition” (S. 11). Im Rahmen der Analyse wird auf folgende Forschungsfragen eingegangen: (1) Welche Grundtypen der IT repräsentieren die ausfindig gemachten Intertextu- alitätsphänomene? (2) Welche Texte fungieren als Referenztexte? (3) In welchem Teil/welchen Teilen der Phänotexte kommen Referenzsignale vor? (4) Welche Funktion erfüllen die intertextuellen Referenzen? (5) In welchem Korpus sind Intertextualitätsphänomene am häufigsten?

5 Analyseergebnisse

5.1 Forschungsfrage 1

Abgesehen von dokumentarischen Zitaten in Form von direkter und indirekter Rede, sind spielerische, kreative Übernahmen in allen drei Teilkorpora relativ

5 „We believe that leaving would be a terrible error. It would weaken Europe and it would impoverish and diminish Britain. Our vote goes to Remain” (Divided we fall).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Intertextualität in polnischen, deutschen und britischen Pressetexten zum Brexit-Referendum 31 selten. Stattdessen werden bei eventuellen Wiedergaben Veränderungen vorge- nommen, so dass vielmehr von strukturellen oder lexikalischen Anspielungen (s.u.) die Rede sein muss. Ein seltener Fall des kreativen Zitierens ist die vollständige Übernahme der ersten Zeile der polnischen Nationalhymne: „Noch ist Polen nicht verloren“ / „Poland is not lost yet” im Interview mit Wolfgang Schäuble, dem damaligen Bundesmi- nister für Finanzen („Großbritannien ist Führungsnation“ / „Britain is a leading nation”). Die Zeile bekommt allerdings eine völlig andere Bedeutung im Kontext des Gesprächs über die Welle der Euroskepsis und die damit zusammenhängende Vertrauenskrise in Europa: Damit drückt Schäuble die Hoffnung aus, dass Polen die gemeinsamen europäischen Werte teilt und die Teilnahme an der EU für die polnische Regierung immer noch eine Priorität ist. The Battle of Evermore (im gleichnamigen Artikel in THE ECONOMIST) be- zieht sich auf das Lied der Rockgruppe Led Zeppelin, das wiederum auf den Klassiker der Fantasy-Literatur Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien verweist. Gemeint ist damit die entscheidende Schlacht zwischen dem Heer von Gondor und den Truppen Saurons und zugleich eine Anspielung auf das EU-Referendum, in dem Brexit-Befürworter und -Gegner endgültig konfrontiert werden. In die- sem Zusammenhang kann mit Holthuis (1993: 149) von Intertitularität die Rede sein, d.h. einem besonderen Fall der IT, in dem der Titel eines Referenztextes übernommen wird. Im Gegensatz zu Zitaten sind strukturelle Anspielungen im britischen und pol- nischen Korpus bei Weitem der häufigste Grundtyp der IT. Ein Beispiel aus dem britischen Teilkorpus findet sich in der Zwischenüberschrift Point of no Breturn (im Artikel Adrift). Es handelt sich hier um eine intertextuelle Referenz auf den Phraseologismus a point of no return, mit dem der Punkt in einem Prozess oder Ablauf gemeint ist, an dem es kein Zurück mehr gibt. Dank der Kontamination Breturn (Britain/British + return), die anstelle von return erscheint, wird aus- drücklich auf die Tatsache hingewiesen, dass der EU-Austritt Großbritanniens unumkehrbar geworden ist. Europa ist tot. Es lebe Europa? (auf dem Cover der SPIEGEL-Ausgabe Nr. 26/2016) ist eine unmissverständliche Referenz auf die Formel „Der König ist tot. Es lebe der König!“ mit der ursprünglich der Tod des alten Königs bekannt gegeben und zugleich sein Nachfolger angekündigt wurde. Das Lexem König wird durch Europa ersetzt, es handelt sich nämlich um einen Umbruch in der Geschichte der EU. Das Fragezeichen am Ende ist nicht zufällig: DER SPIEGEL kündet das Ende der bisherigen Gemeinschaft von 28 Staaten an und weist auf die unsichere Zukunft des vereinten Europa nach dem EU-Austritt Großbritanniens hin.

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Ein ähnliches Beispiel ist auf dem Cover der POLITYKA-Ausgabe Nr. 26/2016 zu finden: Brexit a sprawa polska bezieht sich auf die bekannte Phrase Słoń a sprawa polska, wobei słoń durch Brexit substituiert wird. Die Phrase Słoń a sprawa polska erscheint in Stefan Żeromskis Roman Przedwiośnie (Vorfrühling) und illustriert auf eine humoristische Art und Weise, wie jedes beliebige Thema mit der polnischen Nationalfrage in Verbindung gebracht werden kann, wie dies am Anfang des 20. Jahrhunderts in Polen der Fall war, als das Land bestrebt war, seine Souveränität wieder zu erlangen. Diese strukturelle Anspielung suggeriert, dass der potenzielle EU-Austritt Großbritanniens von den POLITYKA-Autoren in Bezug auf eventuelle Vor- und Nachteile für das EU-Mitglied Polen und die in Großbritannien lebenden Polen erwogen wird. Ein Beispiel für die schwächer repräsentierten lexikalischen Anspielungen fin- det sich im deutschen Korpus: „Er [David Cameron – D.M.] ist ein Taktiker, kein Stratege, und versprach das Referendum, weil er wiedergewählt werden wollte. Er wurde zu Europas Zauberlehrling“ (Lasst uns nicht allein! / Don’t leave us!, Hervorhebung – D.M.). Hierbei handelt es sich um eine deutliche Anspielung auf Goethes Zauberlehrling und dessen Protagonisten: einen jungen Zauberer, der die Abwesenheit seines Meisters nutzt, um sein Können unter Beweis zu stellen: er ruft Mächte, die er nicht unter Kontrolle zu halten vermag. Dies hat auch Premierminis- ter Cameron gemacht, als er das EU-Referendum initiiert hat, das sich zu seinem Ungunsten auswirkte. In diesem Fall haben wir es mit sog. Interfiguralität zu tun, d.h. Einbettung des Namens einer Textfigur (vgl. Rössler 1999: 273). Nennenswert ist auch der intertextuelle Verweis im Artikel Koniec świata i co da- lej: „[…] wraz z angielskim „nie“ skończyło się wyjadanie wisienek z tortu“ (Her- vorhebung – D.M.). Damit wird an den Phraseologismus być/okazać się wisienką na torcie (Sahnehäubchen sein) angeknüpft. Dasselbe Schlüsselwort (wisienka na torcie) taucht im Artikel Musi zaboleć auf: „Unijni politycy powtarzają, że jak ma być rozwód, to naprawdę i na dobre, nie będzie wybierania wisienek z unijnego tortu“ (Hervorhebung – D.M.), wobei zusätzlich das Adjektiv unijny hinzugefügt wird. Auffallend ist die Tatsache, dass die polnischen Beispiele an das englische Verb cherry-pick (sich die Rosinen herauspicken) bzw. das Subs- tantiv cherry-picking anknüpfen, die von europäischen Politikern oft verwendet wurden, um das Verhalten der britischen Regierung vor dem EU-Referendum zu beschreiben: „That is what Angela Merkel, the German chancellor, means when she says Britain cannot ,cherry-pickʻ the benefits without the obligations“ (Article 50 ways to leave your lover, Hervorhebung – D.M.). Darüber hinaus sind in den analysierten Pressetexten zahlreiche Beispiele visueller Anspielungen zu verzeichnen, in denen Nationalsymbole der drei o.g. Länder und der EU im Vordergrund stehen. Auf der Titelseite der SPIEGEL-Aus- gabe vom 25.6.2016, die direkt nach der Bekanntmachung des Ergebnisses des

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Brexit-Referendums erschienen ist, findet sich eine Montage, die Königin Elisa- beth II. mit ihrem Gatten, Prinz Philipp darstellt. Die Königin, die metonymisch für das Vereinigte Königreich steht, verlässt den auf dem hellblauen Hintergrund abgebildeten Kreis von zwölf goldenen Sternen, die verständlicherweise die EU symbolisieren und kehrt dabei dem Betrachter den Rücken. Wichtig in diesem Zu- sammenhang ist die Tatsache, dass sich die britische Königin und ihr Mann in eine unbekannte, ungewisse, mit Nebel bedeckte Richtung entfernen. Die Abbildung, die auf dem Cover der ECONOMIST-Ausgabe vom 25. Juni– 1. Juli 2016 erscheint und zugleich das Editorial derselben Ausgabe begleitet, stellt die in der Mitte zerfasernde Flagge Großbritanniens dar. Die auseinander- klaffenden Hälften der Flagge enthüllen die im Hintergrund stehende Phrase: A tragic split, die man als Eine tragische Spaltung übersetzen kann. Damit ist – wie man dem Editorial mit der gleichnamigen Überschrift entnehmen kann – nicht die Spaltung der EU, sondern die Kluft zwischen Brexit-Befürwortern und -Gegnern gemeint, was in derselben Ausgabe mehrmals explizit ausgedrückt wird: „The division between London, which voted strongly for Remain, and the north, which did the reverse, reveals a sharply polarised country, with a metropo- litan elite that likes globalisation on one side and an angry working class that does not on the other side“ (After the vote, chaos), „Managing the aftermath, which saw the country split by age, class and geography, will need political dexterity in the short run […]“ (A tragic split). Auf dem Cover der POLITYKA-Ausgabe Nr. 26/2016 ist schließlich ein Män- nergesicht abgebildet, das in zweifacher Hinsicht Aufmerksamkeit auf sich zieht: Das Stirnrunzeln und der finstere Blick sind ein Anzeichen dafür, dass der even- tuelle, damals noch nicht beschlossene Brexit von den Polen hierzulande und in Großbritannien generell missbilligt wird. Die Farben der polnischen und britischen Nationalflagge auf den beiden Gesichtshälften, wie dies bei Fußballfans üblich ist, sind als Hinweis auf eine konfliktträchtige Situation zu deuten, womit auch die Unterschrift korrespondiert, deren beide Komponenten einander gegenüber- gestellt werden: Brexit a sprawa polska.

5.2 Forschungsfrage 2

Im britischen Korpus ist eine breite Palette von Anspielungen auf die angloame- rikanische Popkultur zu verzeichnen. Als Beispiel sei die Phrase Brex and the City genannt, die dem Artikeltitel International banking in a London outside the European Union vorangestellt wird. Hierbei handelt es sich um eine humorvolle Anknüpfung an die amerikanische Fernsehserie Sex and the City, die in den Jahren 1998–2004 ausgestrahlt wurde. Im Artikel werden Konsequenzen des Brexits für den Finanzsektor Großbritanniens thematisiert, der unzertrennlich mit City ver-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 34 Dorota Miller bunden ist. Die Assoziation und Kontamination des Serientitels mit dem Element Brex(it) basiert auf ähnlicher lautlicher Gestalt der sich reimenden Elemente Brex und Sex. Es handelt sich um eine großenteils humoristische Funktion, im eigent- lichen Text finden sich nämlich keine Verweise auf die Handlung oder Protago- nisten der Serie. Eine explizite Anknüpfung an die angloamerikanische Hochkultur macht sich in der Zwischenüberschrift The kindness of soon-to-be strangers (im Artikel What if?) bemerkbar. Es wird damit auf den berühmten Satz von Tennessee Williams aus seinem Stück Endstation Sehnsucht angespielt: „I have always depended on the kindness of strangers“. Die modifizierte, um das Adjektiv soon-to-be erwei- terte Variante des Zitats bezieht sich auf den baldigen EU-Austritt Großbritan- niens und die damit zusammenhängenden Hoffnungen der Briten, freundschaft- liche Beziehungen mit der EU auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene aufrechtzuerhalten. The rest of history als Zwischenüberschrift im Artikel The politics of anger erin- nert an den berühmten Essay von Francis Fukuyama über das Ende der Geschichte (The End of history?, 1989), wo liberale Demokratie, die sich als eine bessere Lösung als Monarchie oder totalitäre Systeme erwiesen hat, als Endstadium der langjährigen politischen Systementwicklung der Menschheit interpretiert wird. Der Autor des Artikels The politics of anger weist jedoch darauf hin, dass das britische Brexit-Votum Fukuyamas Ausführungen in Frage stellt und die Briten offensichtlich eine Fortsetzung der Geschichte schreiben wollen. Als explizite Verweise auf literarische Werke sind auch die bereits erwähnten Beispiele zu interpretieren, in denen Goethes „Zauberlehrling“ und Żeromskis „Vorfrühling“ in den Vordergrund rücken (s. oben). Darüber hinaus wird vermehrt auf phraseologische Referenztexte Bezug ge- nommen, z.B.: „When Jean-Claude Juncker, president of the European Commis- sion, slams David Cameron […] for reaping the fruits of years of Euroscepticism, his words find a ready audience across Europe“ (And shut the door behind you, Hervorhebung – D.M.). Die hervorgehobene Phrase knüpft an den Phraseolo- gismus to reap the fruit of one‘s labour (die Früchte der Arbeit ernten), wobei das Schlüsselwort labour durch years of Euroscepticism ersetzt wird. Somit wird das Ergebnis des EU-Referendums als direkte Folge der langjährigen skeptischen Einstellung des britischen Premierministers Cameron und seiner Partei gegen- über der EU dargestellt. Mit phraseologischer IT haben wir es auch im Falle des folgenden Textabschnitts zu tun: „Pracy jest sporo, bo obie strony muszą się porozumieć w sprawie każdej polityki wspólnotowej z osobna, a w traktacie jest na to zapisane tylko dwa lata. Potem zapada gilotyna – jeśli w tym czasie nie dojdzie do porozumienia, to unijne

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Intertextualität in polnischen, deutschen und britischen Pressetexten zum Brexit-Referendum 35 prawo i traktaty Unii z państwami trzecimi przestaną na Wyspach obowiązywać z dnia na dzień, bez przepisów przejściowych“ (Nie tak miało być, Hervorhebung – D.M.). Die hervorgehobene Phrase ist eine Kontamination des Phraseologismus klamka zapadła (es gibt kein Zurück mehr bzw. die Würfel sind gefallen) und des Lexems gilotyna (Guillotine), wodurch der modifizierte Phraseologismus noch tiefgreifender, unumkehrbarer oder gar drastischer wirkt. Phraseologismen im weiteren Sinne liegen auch den zwei unten genannten Bei- spielen aus dem deutschen Korpus zugrunde: „Der Brexit […] ist eine Stunde null für Europa“ (Willige und Fähige, Hervorhebung – D.M.): damit wird an den Zusammenbruch des NS-Staates nach dem Zweiten Weltkrieg und die sich daraus ergebende Chance zum Neuanfang angeknüpft. „Drei Wochen vor dem großen Knall steht Michael Dove auf einer Dachterrasse im Londoner East End und erzählt, wie toll er Europa findet“ (Schwarzer Donnerstag, Hervorhebung – D.M.): damit ist der Urknall als hypothetischer Beginn des Weltalls und zugleich ein Neuanfang für die EU nach dem britischen Brexit-Votum gemeint. Es finden sich außerdem zahlreiche Referenzsignale, die auf Sprichwörter rekur- rieren und diese, zumeist in gekürzter Variante, reaktualisieren: Divided we fall (im gleichnamigen Artikel, statt der vollständigen Version: United we stand, divi- ded we fall, Vereint stehen wir, getrennt fallen wir), A silver lining? (Anspielung auf das Sprichwort: Every cloud has a silver lining, Auf Regen folgt Sonnenschein im Artikel Managing chaos) oder Dwa końce kija (im gleichnamigen Artikel, anstatt der vollständigen Version: Każdy kij ma dwa końce, Alles jedes Ding hat seine zwei Seiten).

5.3 Forschungsfragen 3 und 4

Referenzsignale kommen in den analysierten Pressetexten an besonders expo- nierten Stellen (v.a. Cover, Artikeltitel, Zwischenüberschriften, Bild- und In- fografikunterschriften) vor, seltener im eigentlichen Text. Daraus kann man schlussfolgern, dass sie in erster Linie Aufmerksamkeit erregen und Interesse wecken sollen. Dank ihnen werden komplexe Inhalte auf eine komprimierte Art und Weise ausgedrückt, da sie auf wohlbekannte Referenztexte und die mit ihnen einhergehenden Interpretationen Bezug nehmen und diese auf neue Sinn- und Be- deutungskomplexe projizieren. Dadurch kommt die „Erweiterung der Bedeutung des eigenen Texts“ (Janich 2008: 178), oder – mit anderen Worten – „ein Zuwachs an Textsinn“ (Janich 2008: 178) zustande. Sie erfüllen auch eine humorstiftende und spielerische Funktion, indem sie den Spieltrieb der Leserschaft aktivieren, sowie intellektuellen Genuss in Form von Rätsellösen garantieren. Insbesondere in THE ECONOMIST haben wir es mit ständigem Augenzwinkern an den Leser zu tun, der stets verstecke Intertextualitätssignale erkennen und interpretieren soll.

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5.4 Forschungsfrage 5

Die Auswertung der Ergebnisse belegt, dass die meisten Referenzsignale in den un- tersuchten ECONOMIST- und POLITYKA-Ausgaben vorkommen. Demgegenüber wurden deutlich weniger Intertextualitätsphänomene in dem SPIEGEL ausfindig ge- macht. Eine mögliche Erklärung hierfür ist die Tatsache, dass in dem SPIEGEL vie- le Texte im feierlich-pathetischen Ton (s.u.) verfasst sind, der sich mit spielerischer IT schwer vereinbaren lässt: „Haben diejenigen, die gerade für den Brexit kämpfen, eigentlich vergessen, was im 20. Jahrhundert passiert ist? Zwei Weltkriege, Millio- nen Tote, der Kontinent ein Schlachtfeld? Großbritannien stand an vorderster Stelle, als es darum ging, Hitler zu besiegen“ (Lasst uns nicht allein! / Don’t leave us!).

6 Fazit

Zusammenfassend lassen sich folgende qualitative und quantitative Unterschiede zwischen den drei Teilkorpora herausstellen: 1. Quantitativ gesehen sind das britische und polnische Teilkorpus besonders reich an Intertextualitätsphänomenen. Im deutschen Korpus sind sie deut- lich schwächer repräsentiert. 2. Im britischen Teilkorpus fungieren oft Artefakte der Popkultur als Refe- renztexte, v.a. Lieder (London calling, Immigrant song, 50 ways to leave your lover, All or nothing at all, Battle of Evermore) und Filme (Sex and the city, Back to the future, Little Britain). 3. Im polnischen und britischen Teilkorpus sind zahlreiche intertextuelle Refe- renzen auf Texte der „hohen“ Kultur präsent (S. Żeromski „Przedwiośnie“, S. Wyspiański „Wesele“, T. Williams „Endstation Sehnsucht“, F. Fukuyama „Ende der Geschichte?“). 4. Im britischen und polnischen Korpus finden sich viele (modifizierte) Phra- seologismen (a point of no Breturn, zapada gilotyna) und Sprichwörter (A silver lining?, Divided we fall, Dwa końce kija). 5. Im gesamten Korpus sind strukturelle Anspielungen besonders frequent, wobei einzelne lexikalische Elemente modifiziert (ersetzt, erweitert oder gekürzt) werden. 6. Im gesamten Korpus finden sich viele Beispiele für visuelle Anspie- lungen, in denen die (modifizierte, z.B. zerfranste oder um einen Stern ärmere) EU-Fahne, mit der polnischen oder britischen Flagge zusammen- gefügt wird. 7. Intertextualitätsphänomene erschienen zumeist an exponierten Stellen wie Cover, Artikel- und Zwischenüberschriften, Bild- und Infografikunterschrif-

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ten, wodurch sich eine Vielfalt von möglichen Interpretationen eröffnet, zu- mal die Referenzsignale im eigentlichen Text kaum kommentiert werden. 8. Die ausfindig gemachten Intertextualitätssignale sollen hauptsächlich Auf- merksamkeit erregen und Interesse wecken, sowie komplexe Inhalte auf eine komprimierte Art und Weise ausdrücken. Die Untersuchungsergebnis- se deuten auch darauf hin, dass sie eine humorstiftende und spielerische Funktion erfüllen.

Literatur Quellentexte The Economist 18.06.-24.06.2016: Divided we fall, The Battle of Evermore, The Nigel Farage Show, The sleep of union, What if? 25.06.-1.07.2016: A tragic split, After the vote, chaos, International banking in a London outside the European Union, The improbable revolutionaries 2.06.-8.07.2016: Adrift, An aggravating absence, And shut the door behind you, Article 50 ways to leave your lover, Brexitland versus Londonia, I owe EU, Managing chaos, Shifting sands, The politics of anger Polityka 26/2016: Dwa końce kija, Mgła nad kanałem 27/2017: Koniec świata i co dalej, Musi zaboleć, Nie tak miało być, Planeta Brytania, Wybór prezesa Der Spiegel 24/2016: Dann geht doch! / Then leave!, „Großbritannien ist Führungsnation“ / „Britain is a lea- ding nation“, Lasst uns nicht allein! / Don’t leave us!, Wer klug ist, bleibt / It’s smarter to stay 26/2016: Schwarzer Donnerstag, Willige und Fähige

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Věra HÖPPNEROVÁ (Praga) ORCID 0000-0003-3171-0649

Lexikalische Klippen im Wirtschaftsdeutschen und ihre Überwindung

Zusammenfassung: In den schriftlichen Äußerungen der Wirtschaftsstudenten kommen wieder- holt lexikalische Fehler vor. Im vorliegenden Beitrag werden sie zusammengefasst, kommentiert und analysiert. Sie gehen größtenteils auf die Interferenz des Tschechischen zurück. Sie kommen vor allem bei polysemen Wörtern im Tschechischen, bei Wörtern mit unterschiedlicher semanti- scher Kombinierbarkeit in beiden Sprachen, festen Wortverbindungen, präpositionalen Wendungen und Fremdwörtern vor. Dabei konzentrieren wir uns auf Fehler, die mehrfach festgestellt wurden. Weniger häufig oder gelegentlich vorkommende Fehler, die der Peripherie unseres Corpus ange- hören, wurden außer Acht gelassen. Gleichzeitig wird ein Übungsprogramm zur Überwindung der Fehler vorgestellt. Schlüsselbegriffe: Interferenz, Wirtschaftsdeutsch, lexikalische Fehler, Überwindung der Fehler

Błędy leksykalne w niemieckim języku biznesu i ich eliminacja Streszczenie: W wypowiedziach pisemnych studentów języka biznesu niejednokrotnie występują błędy leksykalne. Niniejszy artykuł podejmuje próbę ich podsumowania, skomentowania i zanali- zowania. W większości przypadków przyczyną wspomnianych błędów jest interferencja z języka czeskiego, przede wszystkim w przypadku wyrazów wieloznacznych, wykazujących odmienną łączliwość semantyczną w obu językach, a także stałych związków wyrazowych, wyrażeń przy- imkowych oraz wyrazów obcych. Autorka koncentruje się na wielokrotnie występujących błędach, pomijając rzadko lub sporadycznie zdarzające się usterki, stanowiące niewielki ułamek gromadzo- nego korpusu. W końcowej części prezentowany jest zestaw ćwiczeń, mający pomóc w elimino- waniu błędów. Słowa kluczowe: interferencja, niemiecki język biznesu, błędy leksykalne, pokonywanie błędów

Lexical mistakes of Business German and their overcoming Abstract: This study is focused on interference-related errors in papers written by students of eco- nomics. These errors are caused mostly by the differently structured non-linguistic reality, which

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 40 Věra Höppnerová results in asymmetries of language signs. Mistakes occur particularly in polysemantic words, words with different semantic ability to combine, fixed phrases, and prepositional phrases. Concerning foreign words, interference-related errors arise from their asymmetric occurrence in the mother and the target languages, and also from their different meanings in both languages. Seldom errors, which are on the periphery of our corpus, were not included. At the same time a program is presen- ted, how to overcome these mistakes. Keywords: interference, business German, lexical errors, overcoming the mistakes

1 Einleitend

Jeder, der Wirtschaftsdeutsch unterrichtet, begegnet in den schriftlichen sowie mündlichen Äußerungen der Wirtschaftsstudenten zahlreichen lexikalischen Fehlern – Verstößen gegen die sprachliche Richtigkeit und Situationsangemes- senheit, die oft zu Missverständnissen oder Kommunikationsstörungen führen. Es sind z.B.:

Mein Kollege will seinen Arbeitsplatz *ändern (statt wechseln). Die Firmen werden ihre Zusammenarbeit *verbreiten (statt erweitern). Als Student versuchte er *zu unternehmen (statt unternehmerisch tätig zu sein).

Es handelt sich durchweg um Fehler, die auf den Einfluss der Muttersprache zu- rückgehen. Zeichen der Muttersprache werden dabei auf die Zielsprache über- tragen, deren Bedeutung, Kollokabilität, Verwendungsweise u.a. sich von der Fremdsprache unterscheiden. Ausgeklammert sind hier die Fehler, die sich aus der ungenügenden Aneignung des Wortschatzes ergeben sowie Fehler unter dem Einfluss des Englischen, die in den letzten Jahren durch die große Verbreitung des Englischen verstärkt fo- kussiert werden (vgl. Kalousková/Musilová 2011: 74–78; Höppnerová 2012: 127–134; Andrášová 2013: 9–17). Ihre Behandlung würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich ohne weiteres auch auf andere Sprachen übertragen, wie zahlreiche Anfragen der Lerner aus anderen europäischen sowie asiatischen Ländern in den Internetforen dokumen- tieren. Aber auch Lehrkräfte sind sich der hier erfassten Fehler oft nicht bewusst, obwohl es sich keineswegs um Lehrer-Anfänger handelt.

2 Vorliegende Untersuchungen zu lexikalischen Fehlern

Mit Fehlern beschäftigt sich die Fehlerlinguistik (Fehleranalyse), deren Aufgabe darin besteht, die im Unterricht erfassten Fehler zu sammeln, zu klassifizieren und quantifizieren. Ihr Ziel ist, sie zu bekämpfen und zu vermeiden.

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Die Einstellung zu den Fehlern ändert sich ständig. Sie gelten längst nicht mehr als etwas Schädliches, was man ausmerzen muss, sondern man betrachtet sie als eine gesetzmäßige Begleiterscheinung des Lernens. Der kommunikativ orientier- te Fremdsprachenunterricht toleriert Fehler, die die Kommunikation nicht beein- trächtigen. Unserer Meinung nach sollten an den Fachsprachenunterricht an der Hochschule höhere Ansprüche gestellt werden als nur bloße Verständigung um jeden Preis ohne Rücksicht auf Endungen, Wortstellung und Wortwahl. Fehler in der Handelskorrespondenz vermitteln einen schlechten Eindruck von der Firma und bei den Aufnahmegesprächen wird in den ausländischen Firmen auch auf das sprachliche Niveau der Bewerber Wert gelegt. Die Linguisten fordern von der Fremdsprachendidaktik Konzentration auf Pro- blemzonen, die durch kontrastiven Sprachvergleich festgestellt werden können und die wertvolle Hilfe bei der Auswahl des Sprachstoffes und Akzentuierung interferenzbedrohter Strukturen darstellen. Lexikalische Fehler, z.B die Ver- wechslung von die Zahl – die Nummer, die Umwelt – das Umfeld, stören dabei die Kommunikation viel stärker als grammatische. Was den Anteil lexikalischer Fehler an der Gesamtzahl aller durch muttersprachliche Interferenz verursachten Fehler betrifft, so beziffern ihn Podhájská (2003: 56) in der Allgemeinsprache auf 50 Prozent und Höppnerová (2005: 46) im Wirtschaftsdeutschen auf 44 Prozent. In der Fachliteratur wird oft ebenfalls die Rolle der Muttersprache im Unterricht diskutiert. Obwohl sie in den Köpfen der Lerner stets präsent und die Ursache zahl- reicher interlingualer Fehler ist, kann sie im Unterricht nicht nur ein hemmender, sondern auch ein fördernder Faktor sein (Podgórni 2010: 18). Königs (2000: 8–9) betont ihre positive Rolle bei der Bewusstmachung der Unterschiede zwischen den Sprachen und plädiert für den Einsatz von Übersetzungsübungen. Gnutzmann (2000: 33) setzt sich sogar für die Übersetzung als fünfte Fertigkeit neben Lesever- stehen, Hörverstehen, Schreiben und Sprechen ein. Auch Butzkamm (2003: 174– 192) hebt den punktuellen und systematischen Einsatz der Muttersprache hervor. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt ebenfalls die Problematik der Paro- nyme (Làzàrescu 1995, Schnörch 2015, Storjokann/Schnörch 2016). Man versucht die Kriterien der Paronyme zu präzisieren und Klassifizierungsvorschläge zu machen. Die vorliegende Untersuchung kann also auf mehrere Vorarbeiten anknüpfen. Wirtschaftspolitische Umwälzungen nach der Wende fanden ihren Niederschlag in neuen Themen, die im Unterricht behandelt werden (Marktwirtschaft, Glo- balisierung, Unternehmerische Tätigkeit, Werbung). Die Aneignung des neuen Wortschatzes wurde von neuen Interferenzfehlern begleitet.

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3 Quellen der Interferenzfehler

Die erfassten Interferenzfehler, die mehrfach vorkamen, entstammen 284 Essays über Wirtschaftsthemen bei den Bachelorprüfungen im Fach Wirtschaftsdeutsch, Aufsätzen der Teilnehmer an Staatsexamenskursen im Fach Wirtschaftsdeutsch, Geschäftsbriefen und Fachübersetzungen. Die Studenten waren auf dem Sprach- niveau der Stufe B2 bis C1 des Europäischen Referenzrahmens. Die Interferenzfehler wurden im Laufe von vier Semestern gesammelt. Sie stam- men von Studenten verschiedener Lehrer, weil der Lehrer das Niveau seiner Stu- denten zum großen Teil beeinflusst. Es wurden insgesamt rund 100 Verwechs- lungsfälle lexikalischer Einheiten festgestellt.

4 Ursachen der Interferenzfehler

Die Ursache der Fehler auf lexikalischer Ebene ist die unterschiedliche Struk- turierung außersprachlicher Wirklichkeit, die in der Asymmetrie sprachlicher Zeichen zum Ausdruck kommt (Veselý 1985: 20). Der Asymmetrie sprachlicher Zeichen begegnen wir bei polysemen Wörtern, bei Wörtern mit unterschiedlicher Verbindbarkeit, bei festen Wortverbindungen, bei Fremdwörtern und bei Parony- men (phonetisch oder semantisch ähnlichen Wörtern in beiden Sprachen). Die erfassten Interferenzfehler wurden diesen Gruppen zugeordnet. Mit Hilfe ver- schiedener Wörterbücher (gedruckter sowie digitaler) wurden ihre Bedeutungs- und Verwendungsunterschiede festgelegt. Anschließend wurden umfangreiche Übungen ausgearbeitet, die die Studenten befähigen sollen, die lexikalischen Klip- pen zu überwinden. Das Lehrmaterial enthält am Ende einen Übungsschlüssel. Im Folgenden werden die einzelnen Fälle der sprachlichen Asymmetrie behandelt und zugleich auch einige Proben aus dem Lehrmaterial vorgestellt.

4. 1 Lexikalische Fehler bei einheimischen Wörtern

4.1.1 Polyseme Wörter

Polysemen Wörtern in der Muttersprache entsprechen in der Zielsprache mehrere Äquivalente (obchod – das Geschäft, der Handel). Es handelt sich um sog. se- mantische Divergenz. Umgekehrt hat ein Wort in der Zielsprache mehrere Äqui- valente in der Muttersprache, wie es z.B. bei der Mangel – nedostatek; závada der Fall ist. Dann reden wir von semantischer Divergenz. Im ersten Fall hat der Lerner Probleme mit der richtigen Wortwahl, im zweiten Fall ist er wiederum um eine Eins-zu-Eins-Zuordnung bemüht und versucht, jedem Wort der Mutterspra- che ein spezielles Äquivalent in der Fremdsprache zuzuordnen. Bei den polyse-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Lexikalische Klippen im Wirtschaftsdeutschen und ihre Überwindung 43 men Wörtern prägt sich der Lerner meistens zuerst das häufiger vorkommende Äquivalent des polysemen Wortes in der Muttersprache ein und verwendet es dann auch für andere Äquivalente dieses Wortes ohne Rücksicht auf den Kontext. Dabei können die Bedeutungen weit auseinander liegen: vystavovat ausstellen (im Schaufenster, auf einer Ausstellung) und

aussetzen (der Wirkung von etwas). Bei bedeutungsähnlichen Wörtern, die sich außerdem noch äußerlich ähnlich sind, ist die Unterscheidung schwieriger: spolupráce die Zusammenarbeit (Kooperation)

die Mitarbeit (aktive Teilnahme oder Hilfe). In einigen Fällen werden auf das fremdsprachliche Äquivalent dieselben seman- tischen und syntaktischen Beziehungen wie im Tschechischen übertragen. Ein solcher „Stolperstein“ ist das Verb podnikat: podnikat unternehmen (einen Ausflug, eine Exkursion)

unternehmerisch tätig sein (selbständig sein, Unternehmer sein, sein eigenes Unternehmen/ eine Firma haben).

Das Verb unternehmen wird oft falsch in der Bedeutung „unternehmerisch tätig sein“ verwendet, die das tschechische Verb nach der Wende bekam. Dies führt zu Formulierungen „mein Vater unternimmt“. Eines der deutschen Äquivalente des tschechischen Wortes kann auch Konnotati- onen aufweisen, die das betreffende tschechische Wort nicht hat. So entsprechen dem tschechischen Wort lidé Leute (eine unbestimmte Menge)

Menschen (eine bestimmte Menge, Individuen, oft Menschen in Not, auf der Flucht, mit denen wir mitfühlen). Das tschechische Wort hat diese emotionale Komponente nicht, was den Lernern die Wahl des passenden Äquivalents erschwert. (In manchen Kontexten können allerdings beide Äquivalente verwendet werden.) Schließlich kann es sich bei den tschechischen Äquivalenten um unterschiedliche Sprachschichten handeln. Dem umgangssprachlichen moc für mnoho (viel) ent-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 44 Věra Höppnerová sprechen im Deutschen viel oder sehr, je nachdem, ob es sich um Bezeichnung der Quantität oder Intensität handelt: viel (viel Geld, viel Mühe) moc sehr (sehr teuer, sehr aufwändig). Dies wird ins Deutsche übertragen und führt zu falschen Formulierungen *viel billig, *viel enttäuschen statt sehr billig, sehr enttäuschen.

4.1.2 Semantische Kombinierbarkeit

Während bei den polysemen Wörtern der unterschiedliche Bedeutungsumfang in beiden Sprachen zur falschen Wortwahl verleitet, ist es bei zahlreichen deutschen Verben die unterschiedliche Verbindbarkeit (vgl. Klárová 2008–2009: 152). Sie zeigt erneut, wie wichtig es ist, sich die Kollokationen einzuprägen. Auch sie hat verschiedene Grade. Klar und eindeutig unterscheiden sich die Kollokationen der Äquivalente des Verbs

reparieren (etwas Kaputtes) opravit renovieren (Gebäude, Räume) korrigieren (etwas Fehlerhaftes). Bei anderen Verben ist die Grenze schwieriger und weniger eindeutig zu ziehen, was auch den Muttersprachlern Schwierigkeiten bereitet, wie z.B. bei

führen (aufgrund persönlicher Autorität; führende Stellung haben; jemanden begleiten) vést

leiten/führen (eine Arbeit oder den Verlauf von etwas), die jedoch oft in gleichen Kontexten verwendet werden. Für die Wahl des passenden Wortes kann auch der fachsprachliche Kontext ent- scheidend sein. So werden die Begriffe der Besitz und das Eigentum in der Allge- meinsprache vertauscht (https://de.wikipedia.org/wiki/Eigentum), in der Rechts- sprache sowohl im Deutschen als auch im Tschechischen jedoch unterschieden (das Eigentum vlastnictví, der Besitz držba),

r Besitz (tatsächliche/sowohl berechtigte als auch unberechtigte/ Herrschaft über eine Sache) vlastnictví

s Eigentum (bedingungslose Herrschaft über eine Sache aufgrund des Rechts).

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4.1.3 Feste Wortverbindungen

Bei einer kleinen Gruppe lexikalisierter, reproduzierbarer, usuell verwendeter, syntaktisch und semantisch fester Wortverbindungen entstehen Fehler dadurch, dass diese Wortverbindungen in der Zielsprache nicht als Ganzes wiedergegeben werden. Einige ihrer Elemente werden dabei durch wörtliche muttersprachliche Äquivalente ersetzt. Die meisten Fehler kommen bei den Funktionsverbgefü- gen vor: Diese Arbeit *nimmt viel Zeit (zabere) (statt nimmt in Anspruch). Welche Maßnahmen werden Sie *tun? (učiníte) (statt treffen/ergreifen). Wir müssen die Angelegenheit schnell in Ordnung *geben (dát) (statt bringen).

4.2 Fremdwörter

Fremdwörter – Wörter, die aus einer fremden Sprache übernommen wurden und deren Herkunft immer noch empfunden wird, können in verschiedenen Fremd- sprachen völlig asymmetrisch verwendet werden. Daraus ergeben sich zahlreiche Interferenzfehler. Die Asymmetrie besteht erstens darin, dass einem Fremdwort in der Mutterspra- che ein einheimisches Wort in der Fremdsprache entspricht und nicht ebenfalls ein Fremdwort, wie die Lerner meist überzeugt sind: rekreace ist daher nicht *Rekreation, sondern Erholung, rekvalifikace nicht *Requalifikation, sondern Umschulung, kvalitní nicht *qualitativ, sondern hochwertig u.a. Das Gleiche gilt auch für einheimische Wörter, denen im Deutschen Fremdwör- ter entsprechen: působit na trhu – auf dem Markt agieren (nicht *wirken), pružně reagovat – flexibel(nicht *beweglich) reagieren, průhledné účetnictví – transpa- rente (nicht *durchsichtige) Buchhaltung usw. Drittens können die Fremdwörter in beiden Sprachen eine unterschiedliche Be- deutungsstruktur haben, wie wir bereits am Anfang bei einheimischen polysemen Wörtern gesehen haben. In diesem Fall hat ein polysemes Fremdwort im Tsche- chischen mehrere Äquivalente im Deutschen: konkurs der Konkurs (Zahlungsfähigkeit)

die Ausschreibung (einer freien Stelle, das Auswahlverfahren). praxe die Praxis (die Anwaltspraxis)

das Praktikum (Studenten-, Austausch-, Auslandspraktikum). Die Bedeutungen der Fremdwörter in beiden Sprachen können sich auch über- schneiden, d.h. decken sich nur teilweise. Z.B. bezieht sich der Dealer im Deut-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 46 Věra Höppnerová schen nur auf den Drogen- oder Börsendealer, im Tschechischen bezeichnet das Wort dagegen auch einen Handelsvermittler oder Handelsvertreter. Obwohl viele Fremdwörter, insbesondere Internationalismen, den Fremdsprachen- erwerb erleichtern, können die sich aus den o.e. Asymmetrien ergebenden Interfe- renzfehler zu Kommunikationsstörungen führen. Ihre Kenntnis ist daher wichtig.

5 Paronyme

Paronymie, die Verwechslung ähnlicher Wörter, ist ein häufiger Fehler auch auf der Fortgeschrittenenstufe, ja sogar in den Staatsexamenskursen für Wirtschafts- deutsch. Neben dem Kontrastmangel im Hinblick auf die Lautgestalt oder auf die Bedeutung können bei der Verwechslung auch andere Faktoren eine Rolle spielen wie Ermüdung, Aufregung, d.h. der psychische Zustand des Sprechers (Klárová 2008–2009: 150). 1) Die Verwechslungsursache kann ähnliche Lautgestalt im Deutschen sein, die muttersprachliche Interferenz ist hier nicht wirksam, denn ihre tschechischen Äquivalente haben eine unterschiedliche Lautgestalt. Die Verwechslung ist rein orthographisch-phonetisch bedingt, semantisch haben die Paronymepaare wenig gemeinsam: fordern – fördern, schuld – schuldig, belasten – belästigen, feststellen – festlegen. Bei einer anderen Gruppe wird die Verwechslung durch gewisse semantische Überschneidungen der Wörter im Deutschen unterstützt, wie z.B. bei senken – sinken, steigen – steigern, anbieten – bieten, gewähren – gewährleisten. 2) Paronymepaare können auch eine Ähnlichkeit der Lautgestalt in beiden Spra- chen aufweisen: drucken – drücken (tisknout – tlačit, tisknout), sichern – versichern (zajistit – ujistit, pojistit), die Einhaltung – der Erhalt (udržování – obdržení), einzeln – einzig (jednotlivý – jediný). Diese Verwechslung ist besonders hartnäckig und mit Sicherheit zu erwarten. Die verwechselten Wörter unterscheiden sich durch einen Vokal (drucken – drücken) ein Präfix (sicher – versichern, der Arbeiter – der Mitarbeiter) oder die Ablei- tungsart (die Erhaltung – der Erhalt, einzeln – einzig). 3) Da wir von den Interferenzfehlern in den schriftlichen und mündlichen Äu- ßerungen der tschechischen Studenten ausgehen, beziehen wir auch Verwechs- lungsfälle aufgrund der Bedeutungsähnlichkeit ein, die bei einigen Autoren (Storhjohann/Schnörch 2016: 133–172) ausgeklammert werden. In vielen Fällen sind sich nicht nur die muttersprachlichen, sondern auch die zielsprachi-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Lexikalische Klippen im Wirtschaftsdeutschen und ihre Überwindung 47 gen Wörter bedeutungsähnlich, was die Verwechslung noch verstärkt. Es geht um folgende Fälle, wie z.B. die Nummer – die Zahl (číslo – počet), immer – ständig (vždy – stále), mitbrin- gen – mit sich bringen (přínést – přinášet s sebou), anprobieren – probieren (zkusit komu co – zkusit, zkoušet co), erhöhen – steigern (zvyšovat – zvyšovat, stupňovat).

6 Methodische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse Die Erfassung lexikalischer Fehler sowie ihre Begründung und Analyse schufen Voraussetzungen für die Ausarbeitung eines Übungsprogramms zur Bekämpfung lexikalischer Interferenzfehler. Die Erfahrungen zeigen, dass es im Unterrichts- prozess nicht genügt, die Fehler zu korrigieren. Sie müssen auch erklärt und be- gründet werden. Und gerade hier tun sich die Lehrkräfte oft schwer. Warum kann die Zusammenarbeit erweitert, eine Nachricht jedoch verbreitet werden? Warum kann man den Absatz steigern, nicht aber die Preise, wenn doch beiden Verben in der Muttersprache das gleiche Verb entspricht? Der Schwerpunkt des Übungsprogramms sind umfangreiche Übungen zu jeder interferenzbedrohten Erscheinung einschließlich der Paronyme. Es handelt sich vor allem um Einsetz-, Ersatz-, Übersetzungs- und Kollokationsübungen, durch die dem Lerner die Unterschiede zwischen der Mütter- und Fremdsprache so- fort bewusst werden. In den Übungen festigt der Lerner die Verwendung der be- treffenden Erscheinung in häufigen Kontexten, typischen Verbindungen und Wendungen. Eine wichtige Rolle bei der Bedeutungserklärung der interferenzbedrohten Wörter fällt den Bildern zu. Durch das Bild wird die Information noch einmal schematisch vereinfacht und leichter verständlich präsentiert. So wirkt die Information doppelt, denn die durch die Bilder bzw. Symbole geweckten Gefühle und Assoziationen tragen zur besseren Einprägung der Information bei. Durch humorvolle Bilder wird der abstrakte Lernstoff entlastet und die Motivation der Lerner erhöht.

öffnen ()otevřít něco zavřeného Öffnen Sie bitte die Flasche (die Konserve, den Mund) OTEVŘÍT eröffnen ()zpřístupnit veřejnosti, zahájit/provoz Das Einkaufszentrum/die Filiale wurde feierlich eröffnet. ()založit, zřídit Nur Kunden über 18 Jahre können ein Konto eröffnen.

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r Führer, s, - (,vůdce/politický duchovní/;průvodce/hradem městem apod.) Die Nazis kämpften an der Front für ihren Führer. Der Burgführer erzählte uns viel Interessantes aus der Burggeschichte.

r Leiter, s, - (vedoucí ,č osoba řídící nějakou skupinu lidí i pracovní úsek) Die Firma sucht einen Bau-, Vertriebs-, Abteilungsleiter.

erweitern ()rozšířit, zvětšit o něco Wir wollen unser Sortiment erweitern. ROZŠÍŘIT verbreiten ()rozšířit do okolí Moderne Arbeitsmethoden verbreiteten sich schnell.

Die ermittelten interlingualen Interferenzfehler sind keineswegs nur eine An- gelegenheit der tschechischen Muttersprachler. Dass es sich offenbar um eine Eigenart des (Wirtschafts) deutschen handelt, bezeugen zahlreiche Anfragen in den Internetforen (Was ist der Unterschied zwischen anstellen und einstellen? / Muttersprache Indonesisch/; What ist the difference between annehmen and auf- nehmen? /Muttersprache Englisch/; Bedeuten jemandem begegnen und jeman- den treffen dasselbe? /Muttersprache Spanisch/; What ist the difference between Boden und Erde? /Muttersprache Englisch/ usw. usf.). Aber auch die Muttersprachler haben Probleme mit der richtigen Verwendung einiger bedeutungsähnlicher Wörter, zumal die Grenze zwischen ihnen fließend ist und in vielen Fällen beide Wörter ohne Bedeutungsunterschied verwendet werden können (umtauschen – wechseln, Platz – Stelle). Schwierigkeiten berei- ten den Muttersprachlern vor allem Wirtschaftstermini, weil ihnen die genaue Bedeutung in der Fachsprache nicht bekannt ist. Im Internet häufen sich die An- fragen der Muttersprachler nach der richtigen Verwendung von Einkommen – Einnahmen, Eigentümer – Besitzer, Bedarf – Bedürfnis, führen – leiten, öffnen – eröffnen und vielen anderen Wortpaaren (siehe Internetquellen).

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Bereits vor der Schaffung dieses Übungsprogramms, das über 100 interferenzbe- drohte lexikalische Erscheinungen erfasst, wurden mehrere interferenzbedrohte lexikalische Erscheinungen mit Erfolg in mehrere Wirtschaftsdeutsch-Lehrbü- cher aufgenommen (Höppnerová 2006, 2010, 2013). Denn ohne ständige Arbeit mit dem interferenzbedrohten Wortschatz sind die Studierenden unter den Bedin- gungen des Hochschulunterrichts kaum in der Lage, sich diese Fehler, die sich fast konsequent einstellen, abzugewöhnen. Eigene Erfahrungen zeigen jedoch, dass sie bei systematischer Arbeit an der Lexik imstande sind, die Wirkung der Interferenz weitestgehend zu überwinden.

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Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 GERMANISTICHE WERKSTATT 8 UNIWERSYTET OPOLSKI OPOLE 2019

Rafał PIECHOCKI (Gorzów Wielkopolski) ORCID 0000-0001-6116-2271

Zum Einsatz der Fernsehsendungen im DaF-Unterricht am Beispiel des Pro7-Wissensmagazins Galileo

Zusammenfassung: Der heutige Fortschritt sowie die seit Jahren andauernde Medienexpansion verursachen, dass der Einsatz von sinnvoll ausgewählten authentischen audiovisuellen Materialien im glottodidaktischen Prozess nicht mehr wegzudenken ist. Neben dem Erwerb und der Erweite- rung soziokulturellen Wissens trägt die Verwendung von audiovisuellen Medien zur Sprach- sowie Medienkompetenzen von Lernenden bei. Der vorliegende Beitrag handelt von der Einbeziehung ausgewählter Folgen der Galileo-Fernsehsendung in den DaF-Unterricht. Darüber hinaus werden Gründe für den Einsatz von der Fernsehsendung genannt, unter besonderer Berücksichtigung des Hör-Seh-Verstehens sowie der Entwicklung der Medienkompetenz von Lernenden. Schlüsselbegriffe: audiovisuelles Material, authentisches Material, Medienkompetenz, interkultu- relle Kompetenz, Lernerautonomie

Wykorzystanie materiałów audiowizualnych w procesie glottodydaktycznym na przykładzie popularnonaukowego programu Galileo Streszczenie: Dzisiejszy rozwój techniki i ekspansja mediów nie pozwalają na pominięcie w proce- sie glottodydaktycznym potencjału sensownie dobranego autentycznego materiału audiowizualne- go. Poza zdobyciem i poszerzeniem wiedzy socjokulturowej, uczący się mają możliwość rozwijania zarówno kompetencji lingwistycznych, jak i medialnych. Niniejszy artykuł traktuje o wykorzys- taniu na zajęciach języka niemieckiego jako obcego wybranych odcinków niemieckojęzycznego programu telewizyjnego Galileo. Celem jest wskazanie możliwości włączenia tego medium w proces glottodydaktyczny, ze szczególnym uwzględnieniem treningu przekazu odbioru audiowi- zualnego oraz rozwijania kompetencji medialnych uczących się. Słowa kluczowe: materiały audiowizualne, materiały autentyczne, kompetencje medialne, kompe- tencja interkulturowa, autonomia ucznia.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 52 Rafał Piechocki

On the use of TV programs in German classes as a foreign language based on Galileo TV program Abstract: The present technological development and the expansion of media do not allow us to neglect the potential of a reasonably selected authentic audiovisual material in the teaching proc- ess. In addition to gaining and expanding sociocultural knowledge, learners have the opportunity to develop both linguistic and media competences. The present article is related to the use of selected episodes of the German-language TV program Galileo in German classes as a foreign language. In addition, a number of reasons for including this medium in the teaching process are provided with particular emphasis on the transfer training of audiovisual reception and the development of media competences of learners. Keywords: audiovisual materials, authentic materials, media competences, intercultural compe- tence, student autonomy

1 Einleitung

Die ersten theoretischen Beiträge sowie empirischen Studien zum Einsatz von Videomaterial im Fremdsprachenunterricht beziehen sich bereits auf die Zeiten des Stummfilms, also den Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl.Chudak 2013a: 49). Was den fremdsprachlichen Deutschunterricht betrifft, gehen die Überlegungen zum Thema auf die 1960er Jahre zurück (vgl. Zabrocki 1961, Jancewicz 1962). Schon vor knapp 40 Jahren findet man bei Jerzy Brzeziński (1980: 9–12) Aus- kunft darüber, inwieweit die schon damals vorhandenen audiovisuellen Unter- richtsmittel den Fremdsprachenlernprozess unterstützen können und wie relevant und gewinnbringend ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht sei. Der Autor führt die Feststellung von Jerzy Orzechowski (1969: 6) an, nach dem die Fremd- sprachenlehrer viel lieber die modernen Methoden verwenden und diese in die Unterrichtspraxis umsetzen sollten, anstatt sich sklavisch an die bewährten Vor- gehensweisen und früheren didaktischen Überlegungen zu halten. Nach fast vierzigjährigen Erfahrungen und Erkenntnissen im Einsatz von audio- visuellen Mitteln im DaF-Unterricht, im Zeitalter der Globalisierung und Om- nimedialität und im Zusammenhang mit dem seit einigen Jahren eingeführten kompetenzorientierten Ansatz im Fremdsprachenunterricht, wird in diesem Bei- trag folgenden Fragen nachgegangen: Wie sind die curricularen Vorgaben für den Einsatz audiovisueller Medien? Welche Gründe sprechen für die Einbezie- hung von Fernsehsendungen in den DaF-Unterricht? Welche Übungsformen eig- nen sich am besten bei der Arbeit mit Fernsehsendungen im fremdsprachlichen Deutschunterricht? Wie sieht die Rolle des DaF-Lehrers im Kontext der Nutzung audiovisueller Medien aus? Die oben aufgelisteten Fragen werden im Nachste- henden am Beispiel des TV-Magazins Galileo erörtert.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Zum Einsatz der Fernsehsendungen im DaF-Unterricht... 53

2 Die curriculare Begründung für den Einsatz audiovisueller Medien im DaF-Unterricht

Auf die audiovisuelle Rezeption, bei der die Lernenden gleichzeitig einen audi- tiven und einen visuellen Input empfangen, wird unter anderem im Kapitel 4 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) (Trim/North/ Coste/Sheils 2001: 77) eingegangen. Hierfür wird die Beispielskala zum Unter- punkt „Fernsehsendungen und Filme verstehen“ angeführt, um zu veranschauli- chen, welche Beschreibung welchem Sprachbeherrschungsniveau in Bezug auf die Fertigkeit Hör-Seh-Verstehen zugeordnet wurde:

Fernsehsendungen und Filme verstehen C2 wie C1 Kann Spielfilme verstehen, auch wenn viel saloppe Umgangssprache oder Gruppen- C1 sprache und viel idiomatischer Sprachgebrauch darin vorkommt. Kann im Fernsehen die meisten Nachrichtensendungen und Reportagen verstehen. B2 Kann Fernsehreportagen, Live-Interviews, Talk-Shows, Fernsehspiele sowie die meisten Filme verstehen, sofern Standardsprache gesprochen wird. Kann in vielen Fernsehsendungen zu Themen von persönlichem Interesse einen großen Teil verstehen, z.B. in Interviews, kurzen Vorträgen oder Nachrichtensendungen, wenn relativ langsam und deutlich gesprochen wird. B1 Kann vielen Filmen folgen, deren Handlung im Wesentlichen durch Bild und Aktion ge- tragen wird und deren Sprache klar und unkompliziert ist. Kann das Wesentliche von Fernsehprogrammen zu vertrauten Themen verstehen, sofern darin relativ langsam und deutlich gesprochen wird. Kann die Hauptinformation von Fernsehmeldungen über Ereignisse, Unglücksfälle usw. erfassen, wenn der Kommentar durch das Bild unterstützt wird. A2 Kann dem Themenwechsel bei TV-Nachrichten folgen und sich eine Vorstellung vom Hauptinhalt machen. A1 keine Deskriptoren vorhanden

Trim/North/Coste/Sheils (2001: 77)

Wie man der obigen Auflistung entnehmen kann, sind für die Niveaustufe A1 des GeR keine Deskriptoren vorgesehen. Das kann aber nur fälschlicherweise zu verstehen geben, dass auf diesem Sprachbeherrschungsniveau die Beschäfti- gung mit Fernsehsendungen, Videoaufzeichnungen sowie Filmen nicht in Frage käme.1 Es ist offensichtlich, dass die Lernenden auf dem A1-Niveau nur über ei- nen bestimmten Grundwortschatz sowie über einfache grammatische Strukturen verfügen. Für die Lernenden kann es deshalb tatsächlich ziemlich schwierig sein,

1 Gemeint sind Filme, die sowohl mit als auch ohne Text versehen sind.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 54 Rafał Piechocki authentischem Material in Form von Fernsehsendungen zu folgen, es zu verste- hen und inhaltlich zu bewältigen. Es gibt aber zumindest einen relevanten Grund, der für die Einbeziehung von Fernsehsendungen in den DaF-Unterricht bereits ab der Niveaustufe A1 spricht. Im Falle authentischer Videos sollte beim Aspekt des Schwierigkeitsgrades genauso vorgegangen werden, wie das beim Schwie- rigkeitsgrad authentischer Hör- bzw. Lesetexte der Fall ist. An dieser Stelle sei an die bekannte und berechtigte Feststellung zum Schwierigkeitsgrad authentischer Texte von Gert Solmecke (1993: 34) erinnert, der behauptet:

Textschwierigkeit ist keine Eigenschaft eines Textes allein, sondern resultiert aus dem Zusam- mentreffen eines Textes mit bestimmten Eigenschaften und eines Hörers/Lesers mit einem be- stimmten Niveau der Sprachkenntnisse, des Vorwissens und der Verstehensstrategien. Ein Text ist daher nicht an sich, sondern stets mit Bezug auf einen bestimmten Rezipienten schwierig oder leicht, verständlich oder weniger verständlich.

Diese Betrachtungs- und Vorgehensweise könnte sehr wohl auf die Arbeit mit Fern- sehsendungen übertragen werden. Schließlich sind ja die Fernsehsendungen auch Hör-Seh-Texte, die man gewinnbringend im DaF-Unterricht einsetzen kann.2 Unserer Ansicht nach könnte also die vom GeR vorgeschlagene Tabelle um De- skriptoren für die Niveaustufe A1 ergänzt werden, indem man die gleichen Be- schreibungen wie die von der Niveaustufe A2 übernehmen würde.3 Auf die Verwendung vom authentischen Filmmaterial machen auch der neue Rahmenlehrplan für Fremdsprachen für alle Schultypen und Schulstufen des Ministeriums für nationale Bildung in Polen (Men 2009, Men 2016) sowie ein Referenzrahmen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats auf- merksam. Das letztere Dokument umfasst acht Schlüsselkompetenzen für le- bensbegleitendes Lernen, die als eine Kombination aus Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen definiert werden, die an das jeweilige Umfeld angepasst sind. Zu diesen Schlüsselkompetenzen gehören: muttersprachliche Kompetenz, fremd- sprachliche Kompetenz, mathematische Kompetenz und grundlegende natur- wissenschaftlich-technische Kompetenz, Computerkompetenz, Lernkompetenz, soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz, Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz sowie Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit. In- nerhalb der Computerkompetenz wird ergänzend auf die Unterstützung durch Grundkenntnisse der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)

2 Auch bei vielen Sprachverlagen und deren Internetseiten gibt es heutzutage ein ziemlich großes Angebot mit DVD-Videos in Form von z.B. authentischen Videoreportagen, mit denen man bereits in den A1-Kursen arbeiten kann. Als Beispiele könnten hierfür die Sammlungen mit authentischen Videoreportagen zur Landes- kunde von Langenscheidt und Pearson Verlag oder mit (Animations)Kurzfilmen vom Goethe Institut genannt werden. Vgl. dazu Lösche (2007), Lösche (2011), Chudak (2013a), Piechocki (2013). 3 Die Tabelle selbst könnte dann heißen „Fernsehsendungen, Filme und Kurzvideos verstehen“.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Zum Einsatz der Fernsehsendungen im DaF-Unterricht... 55 hingewiesen, wie etwa Benutzung von Computern, um Informationen abzufragen, zu bewerten, zu speichern, zu produzieren, zu präsentieren und auszutauschen, über das Internet zu kommunizieren und an Kooperationsnetzen teilzunehmen.4 Darüber hinaus sollte sich die Lehrperson dessen bewusst sein, dass die heutigen Lernenden (bis etwa 20. Lebensjahr) in einer Mediengesellschaft und in der soge- nannten Web 2.0 Ära groß geworden sind und dass digitale Medien und soziale Netzwerke für sie als ein wichtiger Begleiter ihres Alltags sowie als eine weit ge- fasste Kommunikationsmöglichkeit fungieren.

3 Gründe für den Einsatz von Galileo-Fernsehsendungen im DaF-Unterricht Die deutsche Fernsehsendung Galileo wird seit 1998 auf ProSieben ausgestrahlt.5 Neben der Möglichkeit, sich die Folgen zur bestimmten Sendezeit im deutschen Fernsehen anzuschauen, gibt es die Möglichkeit, sich diese unabhängig davon ent- weder über die Galileo-Mediathek, wo die Filme im Sinne von Video-Podcasts (Vodcasts) archiviert werden, oder über das YouTube-Videoportal anzusehen. Für den unterrichtlichen Kontext ist der Zugang zu dem Videomaterial via YouTube zu empfehlen. Die Galileo-Fernsehsendungen, die meist ca. 8 bis 14 Minuten dauern und aus thematisch zusammenhängenden Videobeiträgen bestehen, fallen in die Ka- tegorie authentischer Videoreportagen. Gerade das Genre Reportage ist typischer- weise mit Interviews und Kommentaren versehen, was das Interesse der Rezipienten wecken kann. Als unterstützend erweist sich auch die von den Moderatoren/Lektoren verwendete Standardsprache, die den DaF-Lernenden ein besseres Verständnis des Gesprochenen ermöglicht. Obwohl natürlich die Galileo-Fernsehsendungen nicht in erster Linie für den Zweck des Fremdsprachenlernens produziert worden sind, lassen sich viele der Sendungen durchaus effektiv im DaF-Unterricht einsetzen. Die Beschäftigung mit den Galileo- Fernsehsendungen bringt nicht nur die neuen Technologien zum Einsatz, sondern weckt durch ihre lebensnahen Themen auch das Interesse der Lernenden, was die Unterrichtspraxis des Autors in den DaF-Kursen auf A1 bis B2 Niveau bestätigt.

3.1 Entwicklung sprachlicher Kompetenz der Lernenden unter besonderer Berücksichtigung des Hör-Seh-Verstehens

Selbstverständlich lassen sich mithilfe der Fernsehsendung Galileo alle Grund- fertigkeiten (Hören, Lesen, an Gesprächen teilnehmen und zusammenhängend

4 Vgl. dazu die Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates. 5 Der Name der Sendung geht auf den italienischen Philosophen, Astronomen und Physiker Galileo Galilei zurück.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 56 Rafał Piechocki sprechen sowie Schreiben) entwickeln (Brandi 1996: 14–46, Sass 2007: 10). Ihr Einsatz gibt den Lernenden zusätzlich die Möglichkeit, sich sowohl den Wort- schatz als auch die grammatischen Strukturen auf eine andere Art und Weise an- zueignen, zu wiederholen und zu erweitern. Im Rahmen dieses Beitrags wird aber insbesondere auf die Fertigkeit Hör- Seh-Verstehen näher eingegangen. Im Kontext des DaF-Unterrichts hat Inge C. Schwerdtfeger (1989: 24) auf diesen Begriff erstmals aufmerksam gemacht. Ihrer Auffassung nach hat die visuelle Wahrnehmung eine zentrale Bedeutung für die individuelle Sprechfähigkeit sowie Sprechlust. Darüber hinaus schreibt die Autorin eine große Rolle den non-verbalen Zeichen wie Gestik, Mimik, Körper- sprache, Bewegung im Raum zu und spricht sich für die Verwendung von Filmen im fremdsprachlichen Deutschunterricht aus. Die Spezifik des Filmmaterials, das meistens eine Kombination aus Bild, Text und Musik ist, verlangt eine andere Wahrnehmung des Rezipienten.6 Im Gegen- satz zum reinen Audiomaterial, das monosensorisch (über einen Sinneskanal) wahrgenommen wird, werden Filme multisensorisch (über mehrere Sinneskanä- le) rezipiert. Daher sei es bei der Beschäftigung mit Videomaterial im unterricht- lichen Kontext angebracht, sich nicht nur auf den Textinhalt, sondern auch auf Aspekte zu konzentrieren, wie z.B. Personen, deren Körpersprache, Verhalten, Kleidung etc.; Bilder; Musik; Requisiten sowie Kamera (Einstellung, Perspekti- ve, Bewegung) u.a. Zu den Übungstechniken, mit deren Hilfe sich das Hör-Seh-Verstehen anhand der Fernsehsendung Galileo in Kursen auf allen Sprachbeherrschungsniveaustufen trainieren lässt, gehören folgende Beispiele für Aktivitäten. Man kann:7 1. über ein Standbild sprechen oder ein Standbild beschreiben, um das Inter- esse der Lernenden zu wecken („Zu Gast bei einer muslimischen Familie“, 03ʹ10ʺ),8 2. anhand von sinnvoll ausgewählten Standfotos, Hypothesen bilden, um über einen möglichen Inhalt der Fernsehsendung sprechen zu können („Zug vs. Flugzeug: Von München nach Berlin“),9 3. Standfotos zuordnen: Welche Person wohnt wo? („Das ist die verrückteste und modernste Markthalle Europas“),10

6 Auch Stummfilme finden im fremdsprachigen Unterricht Verwendung. Siehe z.B. Chudak (2013a). 7 In Klammern wird jeweils der Titel der als Beispiel zu verstehenden Sendung angegeben. 8 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=cuD0HPgvLzA (02.06.2018). 9 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=KyYNqndtCSk (02.06.2018). 10 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Z354f3yoCkg (02.06.2018).

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4. anhand von stichwortartig eingeblendeten Bezeichnungen, Kärtchen mit Aufschriften in eine mögliche Abfolge legen und diese beim Sehen über- prüfen („Die coole Aldi-Filiale der Zukunft“),11 5. anhand von stichwortartig eingeblendeten Informationen, die richtigen Antworten markieren („Wie machen die unseren Döner?“).12 Beim Einsatz der Fernsehsendung Galileo ist die traditionelle Aufteilung der Aufgaben zu empfehlen, wie man sie aus der Aufgabentypologie zur Schulung des Hörverstehens kennt, und zwar die Aufgaben vor dem Hören, während des Hörens sowie nach dem Hören (siehe z.B. Dahlhaus 1994: 52, Brandi 1996: 18). Die Fertigkeit Hören ist jedoch mit der Fertigkeit Hör-Seh-Verste- hen nicht gleichzusetzen. Bei schriftlichen Aufgaben zur Verständniskontrolle während der Filmpräsentation ist Vorsicht geboten. Sie sollten den Prozess des Hör-Seh-Verstehens so wenig wie möglich beeinträchtigen (vgl. z.B. Gajek 2009: 218).

3.2 Vermittlung von landeskundlichen Inhalten13

Die deutschsprachige Fernsehsendung Galileo stellt mit Sicherheit eine kulturel- le Besonderheit des Zielsprachenlandes dar. Sie ist ja ein authentisches Produkt, welches in einem anderen soziokulturellen Kontext entstanden ist. Die Sendun- gen spiegeln oft einen gewissen Teil der deutschsprachigen Gesellschaft, deren Realität und Mentalität, aber auch die Sprache selbst, die Varietäten, Regio- und Soziolekte des Deutschen wider.14 Die gezeigten Inhalte können dem Lernenden implizit und/oder explizit unter anderem zeigen, welche Themen in dem Zielspra- chenland aktuell sind, welche Einstellung die Einwohner des Zielsprachenlandes gegenüber der in der Sendung behandelten Themen haben, welche Sitten und Bräuche die Protagonisten pflegen oder wie sich die Menschen aus einem ande- rem Kulturkreis verhalten, kleiden etc. Es sind Aspekte und Themenbereiche, die im DaF-Unterricht immer wieder thematisiert werden sollten, wofür Sebastian Chudak und Marta Woźnicka (2016: 196–198) plädieren. Unter anderem aus diesem Grunde sollte man die Lernenden auf die Gegebenheiten und Situationen, die ihnen gleich, ähnlich, aber auch anders, neu oder fremd erscheinen, aufmerk- sam machen.

11 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=j32OxtgF4eU (02.06.2018). 12 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=vlBApph2wqw (02.06.2018). 13 Siehe dazu den von Lay (2009: 114) vorgeschlagenen Fragenkatalog zur Beurteilung von audiovisuellen Materialien in Bezug auf landeskundliche Inhalte, in: Rybarczyk (2012: 146). 14 Dabei ist jedoch zu hinterfragen, inwieweit mittels audiovisueller Medien die jeweilige Realität tatsäch- lich gezeigt wird. Vgl. dazu z.B. Lütge (2016: 459).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 58 Rafał Piechocki

Folgende Titel für Galileo-Folgen könnten hierfür als Beispiele herangezogen werden: 1. über Essgewohnheiten, Verhaltensweisen sowie Charaktereigenschaften der Deutschen sprechen („Typisch deutsch!“),15 2. über Konsumtypen sprechen („Leben ohne Geld auszugeben: Konsum­ typen“),16 3. über das Leben in einer Großstadt sprechen („Der goldene Mann vom Mün­ chner Marienplatz“),17 4. über die Hauptstadt Deutschlands sprechen („Verlorene Orte in Berlin“),18 5. über das Leben in einem anderen Land sprechen am Beispiel von in Berlin lebenden Polen („10 Fragen an in Deutschland lebende Polen“).19

3.3 Entwicklung und Förderung interkultureller Kompetenz der Lernenden

Die Begegnung und Beschäftigung mit der Fernsehsendung Galileo, wie das oft mit einem authentischem Videomaterial der Fall ist, fordert Lernende dazu auf, sich Gedanken über die fremde und eigene Kultur zu machen. Gerade die Be- schäftigung mit Fremdem und mit Eigenem, in der die Lernenden zum einen den eigenen Standpunkt reflektieren und zum anderen Verständnis für andere Stand- punkte entfalten können, ist die Grundidee der Didaktik des Fremdverstehens (Bredella/Christ 1995: 11). Eine solche Auseinandersetzung mit einer richtig ausgewählten Galileo-Sendung kann zu einem Vergleich mit den Gegebenheiten der eigenen Kultur anregen, indem z.B. Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Kulturen festgestellt werden. Dar- über hinaus lernen die Lernenden ihre eigene und die fremde Kultur sowohl aus der Eigen- als auch aus der Fremdperspektive zu betrachten und wahrzunehmen, diese aber auch zu verstehen und zu akzeptieren. Als Beispiele könnte man mit den im vorherigen Punkt genannten Titeln arbeiten und/oder zusätzlich im Sinne einer Gegenüberstellung zweier Videomaterialien aus zwei verschiedenen Kulturen, nämlich aus der deutschen und aus der polni- schen, folgende Videobeispiele einsetzen:

15 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=eEkKHANV7fY (02.06.2018). 16 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=0Y1c8IoXb6I (02.06.2018). 17 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=u2ykQlWSADs (02.06.2018). 18 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=zY8p_TOk85s (02.06.2018). 19 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Z4Rglk0VH9k (02.06.2018).

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1. über den Umgang mit dem Geld und über die möglichen Spartipps in Deutschland und Polen sprechen („Top Tipps zum Sparen“20 vs. „Czy Po- lacy to oszczędny naród?“21), 2. über die Essgewohnheiten von Deutschen und Polen am Beispiel von ei- nem „typisch“ deutschen und „typisch“ polnischen Frühstück sprechen („So frühstücken die Deutschen“22 vs. „Śniadanie w Polsce. Jedzenie pol- skie w Krakowie“23), 3. über die Vorteile des Lebens in Deutschland und in Polen sprechen („24 Stunden in Deutschland“24 vs. „Dlaczego Polska jest najlepsza?“25), 4. über die deutschen und polnischen Erfindungen sprechen („Diese Erfin- dungen kommen aus Deutschland“26 vs. „5 NAJ – wynalazki polskiego pochodzenia“27).

3.4 Entwicklung und Förderung von Medienkompetenz der Lernenden

Die Entwicklung und Förderung von Medienkompetenz seitens der Lernenden ist in der medienorientierten Gesellschaft und im Sinne des kompetenzorien­ tierten Ansatzes des Fremdsprachenunterrichts nicht mehr wegzudenken. Im All- gemeinen bedeutet die Medienkompetenz die Fähigkeit, mit digitalen Medien und deren Inhalten bewusst, sinnvoll, kritisch und sicher umgehen zu können.28 Brigitte Abel (1995: 324) betont mit Recht, dass nicht nur ein rezeptiver, sondern auch ein produktiver Umgang mit Medien von großem Nutzen für den Lernen- den ist. In diesem Zusammenhang konstatiert sie: „Wenn Lernende aktive Me- dienarbeit durchführen, lernen sie, die Wirkungsweise eines Mediums generell oder die Wirkungen einzelner Komponenten besser zu durchschauen und einzu- schätzen.“ Ebenso Dietmar Rösler und Nicola Würffel (2014: 129) sowie Marzena Żylińska (2015: 129) unterstreichen in diesem Kontext, dass dank neuer Tech- nologien der Sprachunterricht nicht mehr auf nicht authentischen Interaktionen und künstlichen Simulationen basieren muss, sondern für den Lernenden ein her-

20 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=2yVjKreEMlw (02.06.2018). 21 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=k7TmBpKiEbs (02.06.2018). 22 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=MXCRB6AhHoY (02.06.2018). 23 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=KxFd8Sfi42k (02.06.2018). 24 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=NDao7LeVauQ (02.06.2018). 25 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=vZOm8Ja7CWo (02.06.2018). 26 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=BOGohovEwzw (02.06.2018). 27 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=YWbObMIYHS4 (02.06.2018). 28 Zur Gliederung der Definition von Medienkompetenz siehe bei Dieter Baacke (1997: 98–99).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 60 Rafał Piechocki vorragendes Werkzeug bereitstellt, mit dessen Hilfe der Meinungsaustausch und authentische Kommunikationssituationen auch außerhalb der Schule, z.B. mit Gleichaltrigen in anderen Ländern, stattfinden können. Als Beispiele für einen produktiven Umgang mit Medien, der auch im Sinne der Interaktionsorientierung abläuft (vgl. Brash/Pfeil 2017: 30), seien folgende Aktivitäten genannt: –– Der (Online)Meinungsaustausch bezüglich der angesehenen Galileo-Sen- dungen – die Bewertung und das Kommentieren der im Unterricht angese- henen Sendungen mit Hilfe von sozialen Medien wie etwa Facebook, was einzeln oder in der Gruppe, ggf. in geschlossenen Gruppen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden kann, was auch unter Lernenden aus anderen Ländern möglich ist, z.B. via Videokonferenz mit Lernenden aus Partner- schulen; –– Das Sichten von Videos – das Zurechtfinden in der Internet-Video-Welt und das nochmalige Ansehen der im Unterricht angesehenen Galileo-Sendung, ggf. auch, im Sinne des lernerorientierten und autonomen Lernens, die (Mit) Entscheidung bei der Auswahl der Thematik der Sendung, mit der man gern im Unterricht arbeiten möchte; –– Das Drehen von Kurzvideos zu einem bestimmten Thema – die Lernenden können im Rahmen des handlungs- und projektorientierten Unterrichts mit Hilfe ihrer digitalen Endgeräte mit der Aufnahmefunktion Kurzvideos selbst produzieren, z.B. als Gruppenarbeit eine Straßenumfrage durchführen, diese digital dokumentieren, ggf. editieren, hochladen und im weiteren Verlauf beurteilen, worauf noch im weiteren Teil des Beitrags eingegangen wird.29 Diese Aktivität hat nach Sina Müller und Yasmin Serth (2012: 144) einen zusätzlichen Vorteil und zwar, durch das eigenständige Drehen eines Han- dyclips gelingt es den Lernenden, „die Mehrschichtigkeit eines Filmes zu begreifen, indem sie selbst für die Erarbeitung von Story, Bild und Dialogen verantwortlich sind.“ Dadurch erhalten die Lernenden einen authentischen Einblick in die Arbeit eines Regisseurs; –– Die Analyse des Visuellen hinsichtlich der angesehenen Galileo-Sendungen oder der von den Lernenden hergestellten Videos (z.B. Einstellungsgröße, Kameraperspektive, Farbe, Format, Licht, Komposition, Denotation und Konnotation sowie Kamerabewegungen).30 Anhand der Galileo-Fernseh-

29 In solchen Situationen sei es angebracht, die Lernenden auf die legalen Programme zur Videoaufzeich- nung und -bearbeitung aufmerksam zu machen, was zusätzlich zur Entwicklung und Förderung von Medien- kompetenz beitragen kann. 30 Bei der Denotation geht es um eine Bedeutungsebene, die sich jeweils auf die betreffenden Aufnahmen, also darauf bezieht, was im filmischen Bild identifizierbar ist. Unter Konnotation hingegen werden die vielfäl-

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sendung „Die 5 besten Tipps zum Spicken“ können die Lernenden unter den oben angeführten Kriterien das Video analysieren.31 –– Die Analyse des Auditiven in Bezug auf die angesehenen Galileo-Sendun- gen oder die von den Lernenden vorbereiteten Videos – der Analyse können folgende Aspekte unterzogen werden: die Hintergrundmusik, Geräusche, Töne, gesprochene Sprache, Lautstärke, Stimmführung, Sprechtempo.32 Hierfür könnte die Sendung „Wohnen Extrem: Wohnungsknappheit in To- kio“ genannt werden.33 Das Augenmerk der Lernenden könnte beispiels- weise auf die Hintergrundmusik gelegt werden. Einmal wird die fröhliche und zum Mitbewohnen einladende Musik analysiert, die für den ersten Hauptprotagonisten dieser Sendung ausgewählt wurde, einmal die ruhige und eher traurige Hintergrundmusik, die dem anderen Hauptprotagonisten zugeordnet wurde. –– Das Transkribieren eines Teils des Drehbuchs der jeweiligen Galileo- Sendung – im Rahmen der Hausaufgabe können sich die Lernenden ein bestimmtes Fragment aus der Sendung auswählen und versuchen, es zu transkribieren. Selbstverständlich kann für einige Lernenden das natürliche Sprechtempo eine Herausforderung sein. Eine Unterstützung könnte hierbei der Geschwindigkeitsmodus bieten, der bei vielen der YouTube-Videos zur Verfü- gung steht und mit Hilfe dessen sich das Video langsamer abspielen lässt.34

3.5 Förderung und Stärkung sozialer und emotionaler Kompetenzen der Lernenden

Die Grundsteine für die psychosozialen Fähigkeiten werden bereits in der Vor- schulzeit gelegt. Doch auch in späteren Lebensjahren gibt es immer wieder Si- tuationen, die eng mit sozialen und emotionalen Kompetenzen verbunden sind. Um die praktische Relevanz des besprochenen Themas zu unterstreichen, wird im Nachstehenden auf konkrete Beispiele aus der Unterrichtspraxis eingegangen. In erster Linie sind es Fähigkeiten, die mit der Aufnahme und Aufrechterhaltung von Kontakten und positiven Beziehungen unter Gleichaltrigen zusammenhän- gen. Hierbei geht es auch sehr oft darum, gemeinsam Ideen zu sammeln, ein Kon- zept zu entwickeln, ein Problem zu besprechen, oder sogar Kompromisse einge- tigen Zusammenhänge verstanden, die durch die Art und Weise ihrer Aufnahme produziert wurden. Vgl. dazu Raabe (2007: 425), Frederking/Krommer/Maiwald (2008: 175), Peltzer/Keppler (2015: 61). 31 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=iPH8mI0XUQc (02.06.2018). 32 Vgl. Frederking/Krommer/Maiwald (2008: 177–178) und Badstübner-Kizik (2016: 96). 33 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=vVHGkjQF6K0 (02.06.2018). 34 Dies gelingt, indem rechts im Player auf das Zahnrad-Symbol geklickt wird, um die Einstellungen zu öffnen, und neben dem Punkt „Szybkość“ der Wert der Geschwindigkeit verringert wird.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 62 Rafał Piechocki hen zu können. Mit solchen Situationen können die Lernenden dann konfrontiert werden, wenn sie sich an der gemeinsamen Durchführung von Projektarbeit in Form von selbst gedrehten Kurzvideos beteiligen, was gleichzeitig im Sinne des autonomen Lernens stattfinden kann. Mit der Förderung und Stärkung sozialer und emotionaler Kompetenzen der Lernenden geht auch die Förderung und Stär- kung der Beziehungskompetenzen zwischen den Lernenden und der Lehrperson einher. Diese können zustande kommen, wenn z.B. ein fachkompetenter Infor- mationsaustausch in Bezug auf die Vorbereitung der oben angesprochenen Pro- jektarbeit stattfindet.

3.6 Förderung des autonomen Lernens

Das autonome Lernen ist ein gewinnbringender alternativer Vorschlag zur tra- ditionellen Methodik und Didaktik des Fremdsprachenunterrichts. Laut Peter Bimmel und Ute Rampillon (2000: 33) können wir vom autonomen Lernen sprechen, „wenn Lernende die zentralen Entscheidungen über ihr Lernen selbst treffen. […] ihr Lernen initiieren, es steuern und organisieren und es evaluieren.“ Hierzu erweist es sich als empfehlenswert, die Lernenden an folgenden Aktivitä- ten partizipieren zu lassen: an der Auswahl der Thematik der Galileo-Sendung,35 ggf. an der Internetrecherche von weiteren Quellen zum besprochenen Thema. Elemente autonomen Lernens können auch folgende Lerner-Aktivitäten sein: das Drehen von eigenen Videos, das Erstellen von Arbeitsblättern, die sinnvolle Nut- zung der heute zur Verfügung stehenden Medien, die szenische Darstellung des Inhalts des Videomaterials sowie das Reflektieren über den Lernerfolg bezüglich der Arbeit mit der jeweiligen Sendung. Hinsichtlich der Vorbereitung von eigenen Videos, welche sich an der Projektar- beit orientieren kann, ist es seitens der Lehrkraft immer ratsam, die Lernenden im Vorfeld über die Hauptphasen eines solchen Projekts zu informieren, wie z.B.: –– Konzeption, bei der folgende Fragen innerhalb der Projektgruppe durchdis- kutiert werden sollten: Mit wem arbeite ich zusammen? Welche Materialien (Requisite, Kostüme, Medien, Technik etc.) werden ich und meine Gruppe benötigen? Wie viel Zeit steht meiner Gruppe für die Realisierung des Pro- jekts zur Verfügung? –– Vorbereitung, bei der die Kommunikation unter Lernenden eine große Rolle spielt. In dieser Phase sollten Lernende wissen, wer für welche Rolle bzw. Aufgabe zuständig ist und sich die nötigen Materialien anschaffen. Je sorg- fältiger die Vorbereitung, desto erfolgreicher kann die Durchführungsphase

35 Die Auswahl der Sendung sollte immer mit Absprache mit der Lehrperson getroffen werden.

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ablaufen. Daher ist es wichtig, dass die Lernenden ihre Rollen aus dem von ihnen verfassten Drehbuch auswendig lernen. –– Durchführung der Projektarbeit setzt voraus, dass die Lernenden sich ihrer Rollen und Aufgaben im Klaren sind, so dass sie im Stande sind, nach dem vorbereiteten Drehbuch ein eigenes Video zu drehen. Hierbei können die Szenen, die nicht gut genug gelungen sind, mehrmals aufgenommen wer- den, bis die Gruppe damit zufrieden ist. Die besten Aufnahmen können in der Evaluationsphase ausgewählt werden. Bei der Vorbereitung eigener Videos wird das Videomaterial von fachkompetenten Lernenden entspre- chend geschnitten. –– Evaluation kann in Form von mündlicher Besprechung und Bewertung der Projektarbeit stattfinden. Es sollte auch auf die Fragen eingegangen werden, was bei der Arbeit gut und was nicht gut gelaufen ist. Das Beantworten dieser Fragen ermöglicht, eventuell aufgetretene Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Abschließend sollten die fertigen Videos von den Projektgruppen im Forum prä- sentiert, nach vereinbarten Kriterien bewertet und, soweit dies möglich ist, ins Internet, z.B. auf die Homepage der Schule, gestellt werden. Die Verwendung von Galileo-Fernsehsendungen kann ebenso das mobile Lernen ermöglichen, indem z.B. die Lernenden auf die jeweiligen Folgen mithilfe ihrer eigenen mobilen Endgeräte (ein Mobiltelefon oder ein Tablet-PC) außerhalb des Unterrichts zugreifen können.36 Ebenso können zu Hause die Lernaktivitäten fortgesetzt werden, die im Unterricht angefangen haben (vgl. Ende 2014: 43). Im Zusammenhang mit dem autonomen Lernen sei noch auf einen zusätzlichen Vorteil hingewiesen. Die vom Lernenden über das YouTube-Portal angesehenen und von ihm mit „Mag ich“ bewerteten Galileo-Folgen, können sich auf seine YouTube-Suchergebnisse auswirken und Empfehlungen betreffs ähnlicher The- men nach sich ziehen. Dies führt dazu, dass ihm Videos mit einem ähnlichen The- ma empfohlen werden. Im Endeffekt kann der Lernende somit selbst entscheiden, welches weiterführende Video er sich als nächstes anschauen will.

3.7 Wecken und Förderung von Motivation zum Deutschlernen

Zoltán Dörnyei (2002: 16) unterscheidet zwischen drei Ebenen der Motivati- on: die Ebene der Sprache, der Lernenden sowie der Lernsituation. Bereits auf der ersten Ebene schreibt der Verfasser der Einbeziehung von Filmen und Fern- sehsendungen in den Fremdsprachenunterricht eine hoch motivierende Funkti-

36 Zum mobilen Lernen im Kontext des DaF-Unterrichts siehe z.B. Mitschian (2010).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 64 Rafał Piechocki on und bedeutende Rolle zu. Die motivierende Funktion der Verwendung von Galileo-Fernsehsendungen ergibt sich grundsätzlich aus den sechs oben genann- ten Gründen für den Einsatz von audiovisuellen Medien im DaF-Unterricht. Die richtig ausgewählte Fernsehsendung samt sinnvoll durchdachter didaktisch-me- thodischer Aufbereitung in Form von Arbeitsblättern mit entsprechenden Hör- Seh-Aufgaben und Impulsen zum Videomaterial sollten nicht nur auf das Alter, die Interessen und das Sprachbeherrschungsniveau der Lernenden zugeschnitten sein, sondern die Lernenden auch dabei unterstützen, mit Hilfe von zugänglichen Technologien im Sinne der Immersionsmethode in die fremde Sprache und in die andere Kultur besser eintauchen zu können. Motivation und Lernerfolg hängen sehr eng zusammen. Der Einsatz von Galileo- Sendungen kann in einigen Fällen zu einem Erfolgserlebnis des Lernenden beitra- gen, indem der allgemeine Inhalt von ihm in erster Linie nicht sprachlich (auditiv), sondern bildlich (visuell) bewältigt und erschlossen wird. Neben den in den vorhe- rigen Punkten genannten Beispielen für Galileo-Sendungen, die für den Lernen- den motivierend wirken können, könnte auch die Sendung „Dieser Mann spricht 30 Sprachen“ eingesetzt werden, die eng mit dem besprochenen Aspekt korreliert.37

3.8 Attraktivität des DaF-Unterrichts

Zwar wird dieser Grund in der subjektiv vorgeschlagenen Auflistung als letzter genannt, doch kann er als eine Art Abrundung des Einsatzes von den Galileo- Sendungen im DaF-Unterricht gesehen werden. Nach Hanna Komorowska (2002: 56) gewinnt der Unterricht gerade durch die Verwendung von visuellen, auditiven sowie audiovisuellen Hilfsmitteln an Attraktivität. Die Autorin deutet jedoch mit Recht auf die These hin, dass über die tatsächliche Attraktivität des Unterrichts vielmehr der Lernende als der Lehrende entscheidet. An dieser Stelle muss Reiner E. Wicke (2017: 51) zugestimmt werden, wenn er schreibt, dass „der Unterricht nicht vom Medium aus, sondern von den Lernzie- len bzw. den Kompetenzen her geplant werden muss, die erreicht werden sollen.“ Doch will man mit den Lernenden die kombinierte Fertigkeit des Hör-Seh-Ver- stehens trainieren und ihre Medienkompetenz entwickeln, so sollten im Unter- richt in regulären Zeitabständen die audiovisuellen Materialien herangezogen und neue Technologien sinnvoll eingesetzt werden. Im Kontext der angeführten Gründe, die für die Verwendung der Fernsehsen- dung Galileo sprechen und des einhergehenden Einsatzes neuer Technologien im fremdsprachigen Deutschunterricht, soll zum Abschluss auf die Rolle des DaF- Lehrers eingegangen werden.

37 Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=L_hXODDU4cA (02.06.2018).

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4 Die Rolle des DaF-Lehrers im Kontext der Nutzung audiovisueller Medien38

Eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Verwendung audiovisueller Medien, die heutzutage zur Verfügung stehen, ist, dass die Lehrkraft sich anderer Rollen bewusst werden und dazu tendieren sollte, gegenüber den Lernenden eine andere Lehrkultur zu pflegen, indem sie im Unterricht unter anderem die Rolle des Experten, Erziehers, (inter)kulturellen Mediators, Organisators, Moderators, Beraters, Evaluierenden und des reflexiven Praktikers einnimmt (Zawadzka 2004: 109–306). Um die genannten Lehrerrollen besser zu veranschaulichen, werden sie im Nachstehenden in Bezug auf die Vorbereitung von Lerner-Videos, die im Rahmen der Projektarbeit verlaufen kann, mit konkreten Beispielen unter- legt. Hierbei sollte der DaF-Lehrer fungieren: –– als Experte, indem er über das nötige Wissen und eine Reihe von Kompeten- zen verfügt (darunter über die weit gefasste Medienkompetenz) und ggf. den Lernenden demonstriert, wie ein eigenes Video zu erstellen ist oder aber indem er die Lernenden auf die legalen Programme zum Erstellen und zur Bearbei- tung von Videos (wie z.B. Lightworks, Machete Lite, ffDiaporama) verweist; –– als Erzieher, indem er die Lernenden auf ein Leben in der Demokratie im gemeinsamen Europa und auf ein interkulturelles Miteinander vorbereitet sowie die eventuellen Konfliktsituationen oder Probleme, die bei der Pro- jektarbeit auftreten können, problemlos beseitigen kann. Dabei kommt man jedoch auch nicht umhin, zu erwähnen, dass die Lehrkraft die Lernenden für Gefahren im Internet vorab sensibilisieren sollte; –– als (inter)kultureller Mediator, indem er den Lernenden in regulären Zeit- abständen mithilfe authentischer Materialien vor allem in Form von Fern- sehsendungen und Filmen, aber auch Lesetexten etc. die Facetten des Ziel- sprachenlandes präsentiert und diese immer mit den eigenen zum Vergleich heranzieht;39 –– als Organisator, indem er den Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Galileo- Sendung und erforderliche Spracharbeit adäquat einschätzen und im Unter- richtsgeschehen mit geeigneten Übungen und/oder Aufgaben mit besonde- rer Berücksichtigung des Hör-Seh-Trainings umsetzen kann;40

38 Vgl. dazu auch Chudak (2013b). 39 Ausführlicher zur Rolle des Lehrers als kulturellen Vermittlers z.B. Bandura (2007). 40 Aus diesem Grund hat man in diesem Beitrag darauf verzichtet, zu jeder vorgeschlagenen Galileo-Fern- sehsendung eine Sprachbeherrschungsstufe anzugeben. Es ist immer der Lehrperson überlassen, mit welcher Fernsehsendung und mit welchem Aufgabenmaterial sie in welcher Gruppe arbeiten wird.

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–– als Moderator, indem er insbesondere bei der Vorbereitung von Lerner- Videos die Meinungen aller Gruppenmitglieder sammelt und strukturiert sowie die Ideen der Lernenden bei der Ausführung dieser Projektarbeit ver- wirklichen lässt; –– als Berater, indem er die Lernenden an vertraute und fachkompetente An- sprechpartner verweist (wie etwa Informatiklehrer, die die Lernenden bei der Durchführung des Projekts unterstützen könnten) oder indem er den Lernenden weitere Impulse zur Förderung von Medienkompetenz gibt so- wie auf andere (Internet-)Quellen (Videos, Podcasts, Onlineaufgaben, Fach- literatur etc.) aufmerksam macht, die zum noch intensiveren Deutschlernen animieren würden;41 –– als Evaluierender, indem er anhand der gewonnen Informationen, wie etwa Stärken und Schwachstellen des Video-Projekts (in Form von mündlicher oder schriftlicher Befragung der Lernenden oder eigener Beobachtungen) Schlussfolgerungen zieht und die gesetzten Ziele mit dem Endergebnis überprüft;42 –– als reflexiver Praktiker, indem er sich seiner Rolle als Lehrperson, seiner Kompetenzen, Handlungsfelder und der verwendeten Unterrichtsmethoden besinnt.43 Die Reflexionsphase seitens des Lehrers kann unter anderem zum Verzicht auf stereotype und routinemäßige Unterrichtsmaßnahmen sowie ineffiziente Gewohnheiten führen (vgl. Zawadzka 2004: 301). Ebenso die Reflexion über die eigene Fort- und Weiterbildung ist im Kontext der Nut- zung moderner Technologien immer von Vorteil (Komorowska 2002: 198, Thaler 2016: 611–615).

5 Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Einbeziehung von audiovisu- ellen Medien in Form von Fernsehsendungen, Werbefilmen, Videoreportagen, Musikvideos, etc. und der damit einhergehende aktive, kreative und durchdachte Umgang mit diesen Medien mit Sicherheit dazu beitragen, die Lernenden zur bewussten Auseinandersetzung mit diesem Medium einzuladen und ihre Me- dienkompetenz bereits ab der Niveaustufe A1 nach GeR zu fördern. Die oben angeführten Gründe samt konkreter Beispiele für einen praxisorientierten Einsatz ausgewählter Galileo-Fernsehsendungen im Unterricht hatten zum Ziel, das viel-

41 Gemeint werden beispielsweise das vielfältige Online-Angebot der Deutschen Welle sowie das des Goethe-Instituts. 42 Evaluation kann auch von Lernenden selbst innerhalb der Projektgruppen stattfinden. 43 Über das reflexive Lehren siehe z.B.Krumm (2016: 312).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Zum Einsatz der Fernsehsendungen im DaF-Unterricht... 67 fältige glottodidaktische Potenzial dieses Mediums zu zeigen. Bei der Verwen- dung von sinnvoll ausgewählten Galileo-Fernsehsendungen wird der Relevanz und Förderung der Fertigkeit Hör-Seh-Verstehen besondere Aufmerksamkeit ge- schenkt. Hierbei muss jedoch betont werden, dass die bloße Einbeziehung von authentischen audiovisuellen Medien nicht sofort mit der Motivationssteigerung und/oder Erhöhung der Effektivität des Fremdsprachenunterrichts einhergehen muss. Maßgebend dafür sollten das entsprechend ausgewählte Medium sowie die didaktisch-methodische Aufbereitung sein. Die Übungen und Aufgaben müs- sen derart gestaltet werden, dass sie sowohl die auditive als auch visuelle Wahr- nehmung der Lernenden mitberücksichtigen. Dabei gilt Folgendes: je niedriger das Sprachbeherrschungsniveau, desto mehr Aussagen (z.B. in Bezug auf die Filmanalyse etc.) dürfen von Lernenden in der Muttersprache produziert wer- den. Darüber hinaus sollte bei der Erstellung von Übungen und Aufgaben auf eine übertriebene Didaktisierung verzichtet werden. Die Lernenden sollten Spaß am Sehen haben sowie bereit und neugierig auf eine weitere Arbeit mit einer anderen Galileo-Fernsehsendung sein. Demnach sollte bei der Auswahl von audiovisuel- len Medien sowohl auf den glottodidaktischen Wert des jeweiligen Videomaterials als auch auf die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden eingegangen werden.

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Karolina JABŁOŃSKA (Toruń)

Rolf Hochhuths Der Stellvertreter als politisches Drama im „Schillerschen Sinne“

Zusammenfassung: Im Vorwort zum Stellvertreter wurde das Stück von Erwin Piscator als „Dra- ma im Schillerschen Sinne“ bezeichnet. Im folgenden Beitrag werden, dieser Feststellung folgend, thematische und ideelle Zusammenhänge zwischen dem dramatischen Werk Friedrich Schillers und Rolf Hochhuths analysiert. Im Fokus des Beitrags steht die Idee des engagierten Theaters der beiden Autoren. Einer genauen Analyse werden folgende Aspekte unterzogen: die antagonistische Figurenkonstellation, die Idee des freien und handelnden Individuums, sowie auch die Haltung der Rebellengestalten bei Schiller und bei Hochhuth (Riccardo Fontana). Schlüsselbegriffe: Hochhuth, Schiller, politisches Theater, Drama

Namiestnik Rolfa Hochhutha jako polityczny dramat „typu Schillerowskiego” Streszczenie: W przedmowie do Namiestnika Erwin Piscator określił sztukę Hochhutha jako „dramat typu Schillerowskiego”. Przedmiotem badań podjętych w ramach artykułu są związki te- matyczne i ideowe między twórczością dramatyczną Fryderyka Schillera i Rolfa Hochhutha, ze szczególnym uwzględnieniem – reprezentatywnej dla obydwu autorów – koncepcji teatru zaanga- żowanego. Szczegółowej analizie zostały poddane następujące elementy: antagonistyczne skonfi- gurowanie bohaterów, koncepcja autonomicznej jednostki aktywnie działającej oraz postawa po- staci buntowników u Schillera i Hochhutha (Riccardo Fontana). Słowa kluczowe: Hochhuth, Schiller, teatr polityczny, dramat

The Deputy by Rolf Hochhuth as a political drama of the “Schiller type” Abstract: In the foreword of The Deputy was this drama named by Erwin Piscator as a “drama in Schiller type”. The paper describes thematic and ideological connections between the dramatic work of Schiller and Hochhuth and theirs draft of the political theatre. The paper describes the fol- lowing elements: antagonistic constellation of figures, the idea of the free and active individual, as well as manners of the rebel figures at Schiller and Hochhuth (Riccardo Fontana). Keywords: Hochhuth, Schiller, political theatre, drama

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Walter Hinderer bezog sich in seinem Artikel Hochhuth und Schiller – oder: die Rettung des Menschen auf Hochhuths dramatisches Werk, indem er zum Stell- vertreter folgende Stellung nahm: „[...] ein bis dahin vollkommen unbekannter Autor [landete] mit einem Stück, das direkt aus Schillers ‚moralischer Anstalt‘ zu stammen schien [...]“ (Hinderer 1994: 261). Hinderer macht auch eine Bemer- kung in Bezug auf das Theaterkonzept Hochhuths, das dem von Schiller ähnlich sei: „Wie seinem Urahnen aus Marbach im 18. Jahrhundert geht es ihm [Hoch- huth K.J.] um ‚Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet‘“ (Hinderer 1994: 275). Der Interpret weist dabei auf thematische und formale Zusammen- hänge hin, insbesondere aber auf Hochhuths Bezüge zu Schiller, die im Drama Der Stellvertreter zum Ausdruck kommen. Walter Hinderer bemerkt auch, dass Hochhuth ähnlich wie früher Schiller (da- rauf wies Goethe in Bezug auf dessen Wallenstein hin) „die beiden gewaltigen Hilfen, die Geschichte und die Philosophie“ (Eckermann, Gespräch mit Goethe, 23.07.1827, zit. nach: Hinderer 1994: 268) als Grundlage ihres Schaffens ver- wendeten. Es steht außer Frage, dass Hochhuth in seinem dramatischen Werk geschichtliche Ereignisse aufgreift, wobei die Konstruktion seiner Werke, wie Hinderer feststellt, „auf die schon von Schiller her bekannte Verbindung von Ge- schichtsschreibung und fiktionalisierter Geschichte verweist“ (Hinderer 1994: 268). Rolf Hochhuth verwendet in seinem Werk die für Friedrich Schiller typischen Konventionen, und das, was die beiden Autoren ohne Zweifel verbindet, ist die Darstellung und Anknüpfung an geschichtliche Ereignisse. Hochhuth bemerkte in einem Interview zu seiner Geschichtsauffassung Folgendes:

Aus dieser meiner persönlichen Unzulänglichkeit gegenüber der Geschichte, die ich ganz ver- gebens zu verstehen versuchte, und aus der – zweitens – Unzulänglichkeit unserer Nation ge- genüber der Geschichte in diesem 20. Jahrhundert, in dem wir Deutschen zwei Weltkriege mit «Karacho» verloren haben: wurde ich hinsichtlich geschichtlicher Themen produktiv. Nichts anderes hat mich annähernd derart problematisiert, wie die Geschichte, die ich nicht verstehe (Hochhuth 1981: 10).

Dazu kommen noch die Erlebnisse des jungen Hochhuth aus den 40er Jahren: „Die Zerschlagung Europas durch Hitlers Krieg hat meine Auffassung von Ge- schichte bestimmt für immer geprägt. Und Geschichte, das ist mir fast der Teil des Lebens, der darstellenswert ist [...]“ (Hochhuth 1981: 11, 12). Hochhuths Interesse an geschichtlichen Ereignissen ist groß, sehr interessant ist aber auch, wie er mit diesen historischen Ereignissen umgeht. Hochhuth beruft sich in die- sem Punkt auf den bekannten, von Lessing geprägten Satz, dass der Dichter der Herr über die Geschichte sei (vgl. Hochhuth 1981: 12), aber diesem stimmt Hochhuth nicht zu und vertritt in diesem Punkt eine andere Meinung:

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Ich aber habe mich immer als Knecht der Geschichte gefühlt, auch als Autor wehrlos vor den geschichtlichen Ereignissen. […] Selbst auf höchster Ebene gibt es da Warnungen, daß man ein Drama auch als Kunstwerk ruiniert, wenn man glaubt, man sei der Herr des Geschehens und könne sich mit freier Hand an ihm vergreifen! (Hochhuth 1981: 12)

Der Dramatiker vertritt einen klaren Standpunkt, nämlich, dass der willkürliche Umgang mit der Geschichte, besonders wenn man sie ‚aufschönt‘, risikoreich ist (vgl. Hochhuth 1981: 12). Als Schriftsteller ist er sich aber auch dessen be- wusst, dass einige Veränderungen in der Darstellung der historischen Ereignisse notwendig sind: „Der Autor soll Geschichte so weit wie unbedingt nötig verein- fachen nach der Maßgabe der Bühne, der Kürze der Spieldauer“ (Hochhuth 1981: 12). Hochhuth beschäftigte sich gründlich mit Schillers historischen Dra- men (vgl. Žmegač 1994: 474) und übernahm in verschiedenen Aspekten Schillers Ideen, Stoffe und die Haltung seiner Protagonisten. Seinem klassischen Vorbild folgend entwickelte Hochhuth dramatische Handlungen, in denen die Geschichte als eine Auseinandersetzung zwischen einzelnen Protagonisten dargestellt wird (vgl. Žmegač 1994: 474). Friedrich Schiller wird als Historiker angesehen. Es äußert sich vor allem darin, dass in fast allen seinen Schriften eine Vertrautheit mit der Geschichte zu erken- nen ist (vgl. Hahn 1975: 25). Johannes Süssmann nennt Friedrich Schiller in Bezug auf seine Geschichtsbeschäftigung einen Praktiker, weil er die Geschichte erzählerisch in seinen Monographien, die den konkreten Einzelereignissen ge- widmet wurden, erzählerisch-reflektierend in Vorlesungen zur Geschichte und theatralisch in seinen Geschichtsdramen zur Darstellung brachte (vgl. Süssmann 2006: 49). Schiller betonte, wie Georg Schmidt bemerkte, den konstruktiven Cha- rakter der Geschichtsschreibung, weil er das vergangene, menschliche Handeln in ein System zu bringen und als eine zur Freiheit fortschreitende Entwicklung darzustellen anstrebte. In seinen Werken geht es ihm vor allem um den Kampf zwischen Herrschsucht und Freiheitsstreben (vgl. Schmidt „Geschichtsschreiber der Freiheit. Der Universalhistoriker ohne Geschichts-Professur“, https://www.uni- jena.de/Sonderausgabe_Schiller_Historiker-path-18,60,130,180,1892,50902. html, Stand vom 25.04.2018). Durch die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse, mit denen Hochhuth in seinem Erstling alle mit der jüngsten Geschichte konfrontieren wollte, bildete Der Stellvertreter einen der Wendepunkte in der Geschichte des Nachkriegsthea- ters. Der Stellvertreter ist ein zeitgeschichtliches Stück, in dem die Ereignisse ge- schichts- und wirklichkeitsbezogen sind. Hochhuth entschied sich die Grausam- keiten des Zweiten Weltkrieges, insbesondere die Verfolgung und Ermordung der Juden in Konzentrationslagern und die Einstellung des Vatikans zum Zweiten Weltkrieg und den Juden gegenüber auf die Bühne zu bringen. Die im Drama auftretenden Protagonisten sind zum Teil historische Figuren, wie Papst Pius XII.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 74 Karolina Jabłońska oder Kurt Gerstein, zum Teil aber fiktiv wie der Hauptprotagonist Riccardo Fon- tana, der die Haltung des Papstes und dessen Passivität kritisch betrachtet und ihn zum Protest gegen Hitler bewegen will. In Bezug auf die historische Wider- spiegelung in seinem Werk bemerkte Hochhuth: „Die Wirklichkeit blieb stets re- spektiert, sie wurde aber entschlackt“ (Hochhuth 1975: 317). Eine solche Einstel- lung zur Wirklichkeit bedeutet, wie Täeni konstatiert, dass Hochhuth die politische Wirklichkeit auf moralische Entscheidungen einzelner reduziert, statt zu zeigen, wie ihr Wirken von historischen Vorgängen und gesellschaftlichen Konstellationen determiniert ist (vgl. Täeni 1966: 9). So wie früher Schiller „geht er [Hochhuth – K.J.] dann in den Stücken selbst über die erforschte historische Wirklichkeit hinaus, indem er die Fakten seinen moralischen Vorstellungen unterwirft“ (Žmegač 1994: 474). Auf einen ähnlichen Werkcharakter der beiden Autoren wies Heiner Müller hin, indem er auf die von Hochhuth aufgegriffenen Stoffe und die dadurch darge- stellte Aktualität in seinen Theaterstücken aufmerksam macht: „Über den journa- listischen Aspekt knüpft Hochhuth an Schiller an. […] Hochhuth ist der Schiller unserer Epoche. So sieht Schiller heute aus.“ (Müller „Hochhuth ist Journalist“, https://www.zeit.de/1995/19/Hochhuth_ist_Journalist, Stand vom 25.04.2018). Die Betonung der moralischen Kriterien, nach denen das Individuum Riccardo Fontana in Hochhuths Stellvertreter handelt, sowie seine Entschlossenheit, die Idee zu retten und dem mächtigen Papst zu widersprechen, verursacht, dass das Stück eine gewisse Lehre beinhaltet und eine didaktische Dimension bekommt. Dieses didaktische Ausmaß von Hochhuths Drama steht im engen Zusammen- hang mit dem Konzept Schillers, der das Theater als eine moralische Anstalt be- trachtete. Die Aufgaben und Wirkungen des Theaters hatte Schiller ausführlich in seiner Rede Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet thematisiert. Eine der wichtigsten Thesen Schillers lautet:

Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der prakti- schen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele (Schiller: Die Schaubühne als moralische An- stalt betrachtet, Gutenberg Spiegel, Stand vom 27.04.2018).

Ähnlich wie Schiller, betrachtet Hochhuth das Theater als eine moralische An- stalt und eine Schule der praktischen Weisheit, indem es den Menschen bestimm- te Handlungskriterien mit ihrer didaktischen Funktion präsentiert. Die Aufgabe des so begriffenen Theaters besteht darin, die Menschen moralisch zu erziehen. Schiller schreibt der Bühne eine besondere Aufgabe zu:

Sie zog dem Heuchler die künstliche Maske ab und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten. Betrug und Falschheit riß sie aus krummen Labyrinthen hervor und zeigte ihr schreckliches Angesicht dem Tag. (Schiller: Die Schaubühne als moralische Anstalt be- trachtet, Gutenberg Spiegel, Stand vom 27.04.2018)

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Die Wirkung des Theaters besteht darin, dass es den Menschen eine moralische Haltung, sowie eine wahre und tolerante Lebensweise beibringen soll. Und nach dem von Schiller geprägten Muster wurde die Gestalt des Hauptprotagonisten Riccardo Fontana in Hochhuths Drama geschaffen. Der Hauptprotagonist Riccardo Fontana und die von Schiller kreierten Dramenfiguren fungieren als Vorbild und Verkörperung des Guten im Widerspruch zu den unmoralisch Handelnden. Sie retten ihre Idee und verbreiten ethisches Handeln. Hochhuth übernimmt von Schiller das Konzept der Kunst, die nicht die his- torische, sondern die poetische Wahrheit (vgl. Hinderer 1994: 262), also die Wahrheit der Idee präsentiert. Mit diesem Aspekt hängt auch ein wichtiger über- einstimmender Punkt zwischen Hochhuth und Schiller zusammen, nämlich das Konzept der Kunst, die als ‚Idealisierkunst‘ bezeichnet wird, mit deren Hilfe „die Wirklichkeit idealisiert“ (Hinderer 1994: 262) wird und laut Schiller zum ‚Ide- enträger‘ werden soll. So wie bei Schiller werden auch Hochhuths Protagonisten zu ‚Ideenträgern‘ und die Aufgabe des Dramas besteht darin, die Geschichte der Protagonisten als Idee darzustellen (vgl. Hinderer 1994: 262). Die idealistische Kunst bei Hochhuth und Schiller äußert sich darin, dass die Individuen eine Idee vertreten, die sie durchzusetzen versuchen, und in deren Namen sie mit allen Mit- teln gegen das, was dem Ideal widersteht, kämpfen. Sowohl bei Schiller als auch bei Hochhuth treten Protagonisten auf, die die moralischen Ideen vertreten, die zur Idealisierung und Vervollkommnung der Individuen führen und ihr Handeln bestimmen. Die Protagonisten als ‚Ideenträger‘ treten mehrmals in Schillers Dramen auf. Bei Friedrich Schiller fungiert Ferdinand von Walter im Drama Kabale und Liebe als Ideenträger und Idealist. Der Protagonist ist der Einzelne, der gegen die verdor- bene Welt des Hofes vorgeht, gegen Intrigen seines Vaters kämpft und um der Liebe willen bereit ist, seinen adeligen Stand aufzugeben. In Hochhuths Stellvertreter wird der Hauptprotagonist Riccardo Fontana, der junge Jesuit, zum Ideenträger und handelnden Individuum, der seine Handlungen nach moralischen Ideen ausrichtet. In Anbetracht der Judenverfolgung fühlt er sich als Vertreter der katholischen Kirche für die Juden verantwortlich und ent- scheidet sich, weil er nur auf sich angewiesen und voller Ratlosigkeit ist, mit den verfolgten Juden ins Konzentrationslager zu gehen um auf diese Art und Weise sein Leben für sie zu opfern und dadurch seine Idee zu verfolgen. Von großer Relevanz ist aber die Tatsache, auf die Walter Hinderer hinwies, dass bei Schiller und Hochhuth „das problematische Verhältnis von Macht und Idee thematisiert“ (Hinderer 1994: 266) wird, wobei der Macht eine besondere Rolle zugeschrieben wird: „Macht korrumpiert oder verfälscht die Idee, und es bedarf des ständigen Einsatzes des einzelnen, um das Ideal des Menschen und seine Moral zu retten“ (Hinderer 1994: 266). Dieses Verhältnis kommt deutlich in

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Schillers Dramen (z.B. Don Carlos oder Wallenstein) und in Hochhuths Stellver- treter zum Ausdruck. Die Tatsache, dass die Idee von der Macht zerstört wird, führt zum entschiedenen Handeln und zu einer rebellischen Haltung derjenigen, die die Idee verteidigen und retten wollen. In Don Carlos skizziert Schiller im Hintergrund die Ereignisse des Achtzigjährigen Krieges, dabei aber auch Konflikte und Intrigen im Umfeld der Protagonisten. Im Drama treten historische Gestalten wie König Philipp von Spanien auf. Es fehlt aber auch nicht an fiktiven Gestalten, zu denen Marqiuz von Posa gehört. In Don Carlos wird das Verhältnis Macht – Idee deutlich im Konflikt zwischen Don Carlos und seinem Vater König Philipp präsentiert. Die Auseinandersetzung zwischen dem Vater und seinem Sohn hat ihren Ursprung im Liebesgefühl Don Carlos’, das er seiner Stiefmutter Elisabeth erweist. In dieser Konstellation fun- giert König Philipp als gefühlloser Herrscher, der seinen Sohn abstößt, indem er ihm die Herrschaft in Flandern zu übernehmen versagt. Im Stellvertreter wird dieser Konflikt deutlich am Beispiel der Protagonisten Ric- cardo Fontana und Papst Pius XII. markiert. Während der junge Jesuit ethisch und moralisch handeln will und die Ideen der katholischen Kirche (die Nächstenliebe) und die des Papsttums retten will, sich für die Juden verantwortlich fühlt und sich für sie einsetzt, ist der Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche derjenige, der diese Idee verfälscht, weil er keinen Widerspruch gegen die Handlungen Hitlers wagt und somit bei der Rettung der Juden versagt. In Schillers und Hochhuths Dramen bemerkt man, wie die antagonistischen Figu- renkonstellationen, in denen ‚Idealisten‘ zu „Engeln der Geschichte“ (Hinderer 1994: 266) mit den Ideenzerstörern „Teufeln der Geschichte“ (Hinderer 1994: 266) konfrontiert werden. Ein solches Schema kommt bei Schiller mehrmals zum Ausdruck, z.B. in Kabale und Liebe in der Beziehung zwischen Ferdinand von Walter und seinem Vater, dem Präsidenten von Walter, in Wilhelm Tell am Bei- spiel der Konfrontation von Tell und Geßler, sowie auch von Tell und Parricidia. In den Räubern äußert sich dieses Muster in den gegensätzlichen Haltungen von Karl Moor und Franz Moor. Im Stellvertreter wird ein solches Konstellationsmo- dell am Beispiel der Beziehung von Riccardo Fontana und dem Papst Pius XII. und von Riccardo und dem Doktor zum Ausdruck gebracht. Wie Walter Hinderer bemerkte, treten in diesen Konflikten zwei Haltungen auf: „Idealisten mit innerer Größe und […] Realisten mit äußerer Größe“ (Hinderer 1994: 267). In Kabale und Liebe tritt Ferdinand von Walter als Idealist auf, der um der Liebe willen bereit ist, gegen seinen Stand zu verstoßen, um frei zu leben. Ferdinand hat sich von der Liebe ein idealisiertes Bild geschaffen (vgl. Kołodziejska [Jabłońska] 2015: 36). Er wird als „Liebesenthusiast“ (Sasse 2005: 36) bezeichnet, weil sich alle Widrigkeiten und Hindernisse für ihn als Voraussetzungen zeigen, durch die er die Stärke seines Gefühls vor allem mit Emotionalität seiner Sprache und vol-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Rolf Hochhuths Der Stellvertreter als politisches Drama im „Schillerschen Sinne“ 77 lem Überschwang zum Allmachtgefühl macht, das von niemandem und nichts standgehalten werden kann (vgl. Sasse 2005: 36). Die Vorstellungen davon, dass er sich über Konventionen des irdischen Lebens hinwegsetzen, dabei alle Regeln des bürgerlichen sowie des höfischen Lebens überwinden will, sind für ihn ehr- geizige Bestrebungen. Gleichzeitig ist er der Einzelne, der sich im Namen der Liebe gegen soziale Umgangsformen und Konventionen auflehnt, obwohl alle, vor allem der als Realist auftretende Präsident von Walter, schlau und listig handeln (vgl. Kołodziejska [Jabłońska] 2015: 37). In Schillers Wilhelm Tell kommt der Antagonismus der Figuren in den Haltungen Tells und Geßlers zum Vorschein. Wilhelm Tell tritt im Drama als Selbsthelfer, als Einzelmensch auf, der sich mit anderen Bürgern verbunden fühlt und der der Tyrannei im Lande ein Ende setzen will. In der Haltung Tells kommt sein Wider- spruch gegen Vogts Methoden und Handlungen zum Ausdruck, die sich gegen die Bevölkerung richten. Tell strebt auch die Vergeltung für seinen Sohn an, auf den er zu schießen gezwungen wurde. Der Protagonist Tell wird zum Rebellen, weil er den Tyrannen Geßler allein tötet und somit zum Vaterlandsbefreier wird (vgl. Kołodziejska [Jabłońska] 2015: 18, 23). Im Stellvertreter äußert sich der Antagonismus in den Haltungen von Riccardo Fontana und Papst Pius XII. Riccardo ist der Einzelne, der dem Papst und seiner Passivität zu widersprechen wagt. Während der Audienz bei dem Papst heftet Riccardo an dessen Soutane einen Judenstern als Solidaritätszeichen mit den ver- folgten Juden an. Er ist derjenige, der die Idee des Papsttums retten will: „Gott soll die Kirche nicht verderben, nur weil ein Papst sich seinem Ruf entzieht“ (Hochhuth 1963: 243), stellt Ricardo mutig fest. Die oben erwähnten Beispiele zeugen von einem Aspekt, der im Falle von Schil- lers Werken zum Vorschein kommt und auf den Hinderer in seinem Buch auf- merksam macht. Wie der Interpret konstatierte, prangert Schiller jede Art von Despotismus an und treibt Helden in rebellische und moralische Handlungen, die in Krisensituationen geraten sind, in denen sie ihre Ideen verfolgen, Wider- stand leisten und sich somit selbst existentiell bewähren müssen (vgl. Hinderer 2009: 210). Dieser Aspekt ist auf jeden Fall in Hochhuths Werk zu bemerken. Im Stellvertreter fungiert der Papst als Verkörperung des Despotismus, denn er missbraucht die Macht, die er besitzt, indem er bereit ist, Einfluss auf seine Um- gebung auszuüben. Seine Gestalt und sein Despotismus werden im Drama an den Pranger gestellt und heftig kritisiert, besonders von der Position des jungen Je- suiten Riccardo Fontana. Aus einer solchen Konstellation, die bei Hochhuth und Schiller zum Vorschein kommt, entwickelt sich ein weiterführender Aspekt, näm- lich der der Wertung eines von Macht besessenen Menschen, der sich mit Intrigen auskennt. Dieser steht dem positiven Protagonisten gegenüber, der gemäß der Vernunft und dem Ideal der Verantwortung handelt (vgl. Hinderer 2009: 210).

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Aus diesen Gegensätzen kristallisiert sich die Gestalt des Individuums heraus, auf die die Handlung im Drama zurückgeführt wird (vgl. Hinderer 1994: 271), die gleichzeitig alles in die Hand nimmt, ihre Ideale durchzusetzen versucht und damit zum Rebellen wird, die nach moralischen Kriterien handelt und im Namen ihrer Ideale bereit ist, ihr Leben zu verlieren. Genau das, was Hochhuth mit Schil- ler verbindet, ist die „Wiedereinführung des Helden ins Drama“ (Täeni 1966: 9). Und wie bei Schiller „[tanzen K.J.] die Figuren seiner literarischen Werke […] nach der Pfeife moralischer Ideen“ (Süssmann 2006: 46). Die Selbsthelfer- figuren widersprechen den Mächtigen, die zwar ihre ‚äußere Größe‘ haben, sich aber der Idee nicht bewusst sind. Die ethischen Entscheidungen, die die Idealisten treffen, bringen oft tragische Folgen mit sich. Obwohl die Idealisten bei Schiller und Hochhuth am Ende ihr Leben verlieren, treten sie nichtsdestotrotz als Sieger auf, die ihre Idee zu retten vermochten. Erwin Piscator, der den Stellvertreter 1963 zur Uraufführung brachte, wies deutlich auf die Rolle des Individuums hin und äu- ßerte sich zu Hochhuths Werk wie folgt: „Dieses Stück ist ein Geschichtsdrama im Schillerschen Sinne. Es sieht, wie das Drama Schillers, den Menschen als Handeln- den, der im Handeln ,Stellvertreter‘ einer Idee ist: frei in der Erfüllung dieser Idee […]“ (Piscator 1962: 7). Auch Theodor Adorno wandte sich in seinem Brief an Hochhuth und machte in Bezug auf das Individuums-Konzept Hochhuths folgende Bemerkung: „Sie sträuben sich heftig gegen die Annahme, daß «der Mensch in der Masse kein Individuum mehr sei» […]“ (Adorno 1981: 27). Hochhuth betont ähnlich wie Schiller die Rolle des Individuums und vertritt die Ansicht, „daß der einzelne heute wie immer individuell sein Leiden, sein Sterben ertragen muss […]“ (Hochhuth 1963, zit. nach Hinderer 1994: 270) und hält wie Schiller daran fest, dass „der Mensch ein verantwortliches Wesen ist“ (Hochhuth 1963, zit. nach Hin- derer 1994: 270). Hochhuth und Schiller präsentierten in ihren Werken die Ansicht über die Freiheit und die Selbstbestimmung des Individuums, das ethische Ent- scheidungen trifft und das „seine prinzipielle Unabhängigkeit [demonstriert K.J.]“ (Hinderer 1994: 271). Dieser Aspekt, eine ethische Entscheidung zu treffen, ist ein Schlüsselbegriff sowohl in Schillers Dramen als auch in denen von Hochhuth. In diesem Kontext gewinnt auch der Begriff Freiheit an Bedeutung. Erwin Piscator bezeichnete das Drama Hochhuths als „ein Drama der Entscheidungen“ (Piscator 1962: 7), denn nur freie und unabhängige Individuen, die Schiller in seinen Dramen präsentierte, sind in der Lage eine ethische Entscheidung zu treffen.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1981): Offener Brief an Rolf Hochhuth. In: Rolf Hochhuth – Eingriff in die Zeitgeschichte. Hrsg. Hinck Walter. Reinbek bei Hamburg, 25–32. Hahn, Karl-Heinz (1975): Schiller und die Geschichte. In: Friedrich Schiller zur Geschichtlichkeit seines Werkes. Hrsg. v. Klaus L. Berghahn. Kronberg, 25–54.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Rolf Hochhuths Der Stellvertreter als politisches Drama im „Schillerschen Sinne“ 79

Hinderer, Walter (1994): Arbeit an der Gegenwart. Zur deutschen Literatur nach 1945. Würzburg. Hinderer, Walter (2009): Schiller und kein Ende. Metamorphosen und kreative Aneignungen. Würzburg. Hochhuth, Rolf (1975): Der Stellvertreter. Leipzig. Hochhuth, Rolf, (1975): Historische Streiflichter. In: Hochhuth, Rolf: Der Stellvertreter. Leipzig, 317–407. Hochhuth, Rolf (1963): Soll das Theater die heutige Welt darstellen? In: Deutsche Dramaturgie der Sechziger Jahre. Ausgewählte Texte. Hrsg. v. Helmut Kreuzer. In Zusammenarbeit mit Peter Seibert. Tübingen 1974, 37–41. Hochhuth, Rolf (1981): Herr oder Knecht der Geschichte? Ein Interview. In: Rolf Hochhuth – Eingriff in die Zeitgeschichte. Hrsg. Hinck Walter. Reinbek bei Hamburg, 9–17. Kołodziejska [Jabłońska], Karolina (2015): Das Motiv des Rebellen in Friedrich Schillers Dra- men „Wilhelm Tell“ und „Kabale und Liebe“, Magisterarbeit, Maschinenschrift. Müller, Heiner (2005): Hochhuth ist Journalist. URL: https://www.zeit.de/1995/19/Hochhuth_ ist_Journalist, Stand vom 25.04.2018. Piscator, Erwin (1962): Vorwort zum „Stellvertreter“. In: Hochhuth, Rolf: Der Stellvertreter. Leipzig 1975, 7–13. Sasse, Günter (2005): Schiller. Werk und Interpretationen. Heidelberg. Schiller, Friedrich (1784): Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. URL: http:// gutenberg.spiegel.de/buch/-3328/1, Stand vom 27.04.2018. Schmidt, Georg: Geschichtsschreiber der Freiheit. Der Universalhistoriker ohne Geschichts-Pro- fessur. URL: https://www.uni-jena.de/Sonderausgabe_Schiller_Historiker-path-18,60,130,180,1892, 50902.html, Stand vom 28.04.2018. Süssmann, Johannes (2006): Denken in Darstellungen – Schiller und die Geschichte. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. Hofmann Michael, Rüsen Jörn, Springer Miriam. München, 44–67. Täeni, Reiner (1987): Episches Theater oder christliche Tragödie (1966). In: Rolf Hochhuth. Werk und Wirkung. Hrsg. Rudolf Wolff. Bonn, 9–34. Žmegač, Viktor (1994): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegen- wart. Unter Mitwirkung von Kurt Bartsch, Heidrun Ehrke-Rotermund, Dietmar Goltschnigg, Hermann Kurzke, Dieter Mayer, Gerhard Melzer, John Milfull, Gerdt Müller, Erwin Roter- mund. Bd. 3, Auflage 2. Weinheim. (google books), https://books.google.pl/books?id=FN0lcC Hung0C&printsec=frontcover&hl=pl&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f= false, Stand vom 02.05.2018.

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Karolina SIDOWSKA (Łódź) ORCID 0000-0001-6606-9666

Moderne Phantasmagorien – Prosa von Bruno Schulz und Alfred Kubin im Vergleich

Zusammenfassung: Der Beitrag ist eine komparatistische Analyse des literarischen und graphi- schen Schaffens von Bruno Schulz und Alfred Kubin. Im Mittelpunkt stehen Schulzes Erzählband „Die Zimtläden“ und Kubins phantastischer Roman „Die andere Seite“. In Bezug auf diese Werke werden mithilfe des typologischen Vergleichs jeweils die Erzählstruktur, die Zeit-Raum-Verhält- nisse, Figurenkonstellation und Schlüsselmotive (hier v.a. das Motiv des Traums) analysiert. Ein besonderer Wert wird auf die Bildhaftigkeit beider Werke im Hinblick auf die graphische Arbeit der Verfasser gelegt. Das Ziel der Untersuchung ist die Feststellung, ob und inwiefern bei den beiden die gleichen Vor- bzw. Darstellungsschemata und dominante Themen vorkommen, die man als „typisch modern“ bzw. typisch phantastisch auffassen könnte. Schlüsselbegriffe: Phantastik, Traum, Schulz, Kubin, Bildhaftigkeit

Modernistyczne fantasmagorie – proza Brunona Schulza i Alfreda Kubina w ujęciu komparatystycznym Streszczenie: Przedmiotem artykułu jest komparatystyczna analiza literackiej i plastycznej twór- czości Brunona Schulza i Alfreda Kubina. W centrum zainteresowania znajduje się tom opowiadań Schulza „Sklepy cynamonowe” oraz powieść fantastyczna Kubina „Po drugiej stronie”. W odnie- sieniu do tych dzieł przebadane zostały w zestawieniu typologicznym: struktura narracji, stosunki czasoprzestrzenne, konstelacja postaci i kluczowe motywy (zwłaszcza motyw snu). Szczególną uwagę poświęcono obrazowości obu tekstów w kontekście graficznych talentów obu autorów. Ce- lem analizy jest odpowiedź na pytanie, na ile można w obu dziełach stwierdzić występowanie tema- tów i reprezentacji „typowo modernistycznych” bądź też typowych dla literatury fantastycznej. Słowa kluczowe: literatura fantastyczna, sen, Schulz, Kubin, obrazowość

Modern phantasmagoria – comparative approach to prose of Bruno Schulz and Alfred Kubin Abstract: The article is a comparative review of literary and graphic works of Bruno Schulz and Alfred Kubin. In point of interest are stories of Schulz “The Street of Crocodiles” and the fantastic

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 82 Karolina Sidowska novel of Kubin “The other side”. In both works following aspects have been analyzed in typological review: narrative structure, construction of time and place, characters and leading motifs (espe- cially the topos of a dream). Great attention was put to linguistic imagery in both texts in connection to graphic activity of their authors. The purpose of the analysis is answer to the question, if there are some similar topics and representation schemas, which could be recognized as “typical modern” or typical for fantastic literature. Keywords: fantastic literature, dream, Schulz, Kubin, imagery

In der literaturwissenschaftlichen Forschung erscheint der Name von Bruno Schulz meistens an den von Franz Kafka gekoppelt; man unterstreicht die Paral- lelen und Ähnlichkeiten in dem literarischen Schaffen, sowie auch im Lebens- ablauf und Persönlichkeiten beider Schriftsteller. Manche, wie Andrzej Wirth, gehen dabei so weit, dass sie Schulzes Leben und Werk als unmittelbare Folge von Kafkas Auswirkung auffassen:

Die radikale Einbildungskraft von Schulz wird erst auf Grund des literarischen Experiments von Kafka verständlich. Bei aller künstlerischen Selbstständigkeit scheint seine Existenz ohne Kafka unmöglich zu sein. Kafka hat in gewissem Sinn Schulz den Weg bereitet, beide gehören – wie man zurecht von ihnen sagt – in jene schöne Epoche, deren Demiurg Kaiser Franz Josef zu sein schien, zumindest im galizischen Drohobycz und dessen Umgebung. (WIRTH 1966: 329)

Die Zusammenstellung von Kafka und Schulz ist wohl berechtigt und plausi- bel, doch in der vorliegenden Skizze möchte ich noch eine andere Parallele vor- schlagen, allerdings ohne die historische Epoche und den geographischen Raum zu verändern – und zwar zwischen dem polnischen Autor und Zeichner Bruno Schulz und dem österreichischen Maler und Schriftsteller Alfred Kubin, dem „ös- terreichischem Goya“ und Mitbegründer der expressionistischen Maler-Gruppe „Der Blaue Reiter“. Auch in diesem Fall ist eine gewisse Gemeinsamkeit der Schicksale beider Künstler auffallend: beide sind im ausgehenden 19. Jahrhun- dert in der Provinz der k.u.k. Monarchie geboren und in kleinbürgerlichen Fami- lien aufgewachsen, beide hatten wenig Glück im privaten Leben, besonders im Umgang mit Frauen und, nicht zuletzt, bei beiden hat sich schon in der Jugend die zeichnerische Begabung offenbart, zu der sich später auch Schreibtalent gesellte. Wie im Weiteren dargelegt wird, sind auch die Leitmotive und stilistische Merk- male ihrer Werke, sowohl im Graphischen als auch im Literarischen, oft sehr naheliegend, was bei der Anerkennung des originellen Wertes jedes einzelnen beide Autoren als ganz die Kinder ihrer Epoche – der Moderne, der Avantgarde – sehen lässt. Bruno Schulz wurde 1892 in Drohobycz in Galizien (heutige Ukraine) als drittes Kind einer jüdischen Familie geboren (vgl. Ficowski 1967; Jarzębski 1999); er sprach Polnisch, besaß aber auch Deutschkenntnisse, die ihm die Lektüre der deutschsprachigen Texte – von Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Joseph Roth und wohl auch von Kubin – im Original ermöglichten (vgl. Daume 2009: 198).

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Die kleinstädtische Atmosphäre, sowie auch die Person des Vaters, Besitzers ei- nes Textilwarengeschäfts, haben ihn stark beeinflusst und wurden zum eigentli- chem Thema seiner autobiographisch gefärbten Geschichten. Nach dem Abitur begann Schulz das Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Lem- berg, das er wegen gesundheitlichen Problemen aufgab. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verreiste er mit einem Teil der Familie nach Wien, wo er das Studium an der Akademie der Künste fortsetzen wollte, er kehrte jedoch nach Drohobycz zurück, wo er bald den Tod des geliebten Vaters erleben musste. 1924 bekam er eine Stelle als Zeichenlehrer am dortigen Gymnasium. Eigene zeichne- rische Arbeiten hatte Schulz in einem Zyklus Götzenbuch (1920–22) gesammelt. Zum Schriftstellertum fand er durch Zofia Nałkowska, damals eine prominen- te polnische Autorin; dank ihrer Förderung ist 1934 der Erzählband Zimtläden erschienen, dem zwei Jahre später Das Sanatorium der Sanduhr folgte. Diese Bände stellen, abgesehen von einzelnen Publikationen in Zeitschriften und dem verlorenen Roman Messias, das gesamte literarische Werk von Schulz dar. Seine Versuche, manches davon im Ausland zu publizieren – davon zeugt u.a. die Kor- respondenz mit Thomas Mann bezüglich der Novelle Die Heimkehr – scheiter- ten, genauso wie die Pläne der Pariser Ausstellung seiner Graphiken. Auch privat war der schüchterne und zurückgezogene Schulz eher erfolglos: seine Verlobung mit Józefina Szelińska wurde nach ein paar Jahren aufgelöst. Alleinstehend, aus finanziellen Gründen zur verhassten Schularbeit gezwungen, fand er Zuflucht in der Welt seiner Phantasie und im umfangreichen Briefwechsel mit vielen Be- rühmtheiten jener Zeit. Nachdem 1941 deutsche Truppen Drohobycz zum zwei- ten Mal besetzt hatten, wurde Schulz in das Ghetto gebracht. Am 19. November 1942 wurde er von einem Gestapomann auf der Straße erschossen und anschlie- ßend in einem Massengrab verscharrt. Im Gegensatz zu dem tragischen Ende von Schulz, erfreute sich der 1877 in Leit- meritz (heutiges Tschechen) geborene Alfred Kubin eines langen Lebens. Sein Vater war ein Landmesser, seine Mutter – Pianistin. Nach ihrem vorzeitigen Tod und erneuter Eheschließung des Vaters hat sich das Vater-Sohn-Verhältnis ein- deutig verschlechtert, wozu auch das Ausweisen des Sohnes aus der Salzburger Schule wegen unzureichender Leistungen beigetragen hat. Seine früh entdeckten künstlerischen Talente sollte Kubin bei seinem Onkel in Klagenfurt durch Photo- graphie-Lehre entwickeln, diese Jahre jedoch, die er dort verbracht hat (1892–96), waren voller Exzesse und Arbeitskonflikte und endeten mit gescheitertem Selbst- mordversuch auf dem Grab seiner Mutter. Trotz eher schwacher Gesundheit und mickriger Kondition ist Kubin in die Armee eingetreten, erlitt dann einen Ner- venzusammenbruch und wurde entlassen. 1898 begann er das Kunststudium in München, das nach einem Jahr abgebrochen wurde; nichtsdestotrotz arbeitete der junge Maler damals an seiner graphischen Ausdruckweise und hatte auch erste

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Ausstellungen, die aber keinen Erfolg brachten. Die Werke wurden von der Kri- tik als „pathologisch“ geprangert. Dazu kam eine private Krise wegen des Todes der Verlobten, Emmy Bayer. Kurz danach heiratete Kubin eine ältere Frau, die verwitwete Hedwig Gründler, und 1906 zog das Paar ins neu gekaufte Schloss Zwickledt im Nordösterreich, wo der Künstler bis zu seinem Tod im Jahre 1959 wohnte. Neben Wasilij Kandinsky und Franz Marc war er einer der Vertreter der Gruppe „Der Blaue Reiter“, hat zahlreiche Buchillustrationen geschaffen, u.a. zu den Werken von Edgar Allan Poe, August Strindberg, Wolter und Gerhart Haupt- mann. Er behielt ein distanziertes Verhältnis zum nationalen Sozialismus und bis kurz vor dem Anschluss bereitete er noch weitere Ausstellungen. Der echte Erfolg kam aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als er u.a. den Staatspreis der Wiener Akademie der Bildenden Künste und das österreichische Verdienstkreuz erhalten hat. Neben den zahlreichen Graphiken und Gemälden gehört auch der Roman Die andere Seite zu Kubins Nachlass, auf den ich im Weiteren näher eingehe. Die oben skizzierten Lebensläufe weisen, trotz gewisser Unterschiede, reichli- che Ähnlichkeiten auf. Interessanterweise erscheint auch der Stil der Zeichnun- gen von Schulz und von Kubin ähnlich. Bei beiden sind expressionistische Züge deutlich: überwiegend schwarz-weiße Darstellungen mit dynamischen, unruhi- gen Linien und Konturen. Beide bedienen sich des Kontrastes, um Unruhe beim Zuschauer zu erwecken. Ihre Figuren werden oft nur skizzenhaft dargestellt – bei Schulz sind es oft Selbstporträts in untertäniger Pose, die den dominanten, oft nack- ten Frauenfiguren gegenübergestellt werden. Neben den erotischen Obsessionen und Fetischen, wie z.B. das Frauenpantöffelchen, kommen hier mythologische und biblische Motive vor, oder phantastische Bestien und Geister, wie von Goyas Bildern übernommen. Darin sieht man die gemeinsamen visuellen Inspirations- quellen, da auch Kubin als expressionistischer Maler häufig an die Werke von Hans Baldung Grien, Hieronimus Bosch, Francisco Goya oder Edvard Munch anknüpft, um symbolische Inhalte zu vermitteln. Düstere Motive, wie Sümpfe, Geier, Schlangen, einsame Insel, Monstren, hybride Gestalten etc. sollten dunkle Affekte präsentieren und erwecken. Der obige Exkurs über das zeichnerische Werk der beiden Künstler erscheint nicht zufällig in einem Artikel, der eigentlich ihrer Prosa gewidmet ist. Sowohl in Schulzes Zimtläden, als auch in Kubins Roman Die andere Seite hat die Sprache einen sehr plakativen, bildhaften Charakter, abgesehen davon, dass die Autoren den Text jeweils von selbst angefertigten Illustrationen begleiten lassen. Bei Ku- bin in der Erstausgabe des Romans (Kubin 1975) sind es rund 52 Bilder, die die Handlung des Romans teils veranschaulichen, teils ergänzen und somit ein inte- graler Teil des Werkes sind (vgl. Schwanberg 1999: 102). Schulzes Band wird sparsamer illustriert, dafür ist die poetische Erzähldiktion und durch sie erzeugte Bildhaftigkeit dieser Skizzen von seltener Suggestivität und Unwiderstehlichkeit.

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Die „Schulzeschen Sprachexplosionen“ schaffen entsprechend schillernde und sich rasch abwechselnde Szenen, in denen alles „immer wieder anders beleuchtet und koloriert“ (Daume 2009: 192) wird; dies findet den Ausdruck in komplexer Syntax und bizarrem Vokabular, was sowohl für den Leser, als auch für den Über- setzer eine Herausforderung ist:

Charakteristisch für Schulz’ Stil sind die mehrfach verschachtelten, schamlos mit Adjektiven gespickten Satzgebilde, die sich, oft über eine halbe Seite hin, labyrinthartig verästeln und schier ins Unermessliche wuchern. Sie schrecken weder vor Tautologien noch vor Wiederholungen zurück. Was ist nicht alles farbig und bunt, tief, leuchtend, verworren und vor allem groß und riesig! Und fortwährend wächst und türmt sich noch weiter auf, es schwillt und gärt, wird noch größer, ja riesenhaft, ungeheuer groß! (Daume 2009: 192)

Die einzigartige Schreibweise von Bruno Schulz erhält ihre konzeptionelle Er- weiterung in seinem bekannten Essay Das Mythisieren der Wirklichkeit (Schulz 1994: 240–242). Das im Titel postulierte Mythisieren bedeutet die Rückkehr zum wahren Kern der Existenz, zur Authentizität und Totalität des Erlebens. Das Mit- tel zu diesem Zweck wäre nach Schulz das Wort, im biblischen Sinne als Ur- sprung aller Schöpfung verstanden:

Jedes ursprüngliche Wort war ein kreisendes Blinken um den Sinn des Lichtes, war ein großes universales Ganzes. Das Wort in seiner heutzutage geläufigen Form ist nur mehr ein Fragment, Überbleibsel einer alten, allumfassenden, integralen Mythologie. Deshalb eignet ihm auch die Tendenz, nachzuwachsen, sich zu regenerieren und seinen vollen Sinn wiederzuerlangen. (Schulz 1994: 240)

Das Wort soll in seiner Sinntotalität wiederbelebt und in Gang gesetzt werden – diese Aktivierung kann beispielsweise durch Emotionen, Assoziationen und Phantasie geschehen – um sich dann in Bilder zu entfalten; „das Bild ist von einem ursprünglichen Wort abgeleitet, das noch nicht Zeichen war, sondern My- thos, Geschichte und Sinn“ (Schulz 1994: 242). Der visuelle Aspekt hängt mit dem philologischen unzertrennlich zusammen und erscheint in diesem ästhetisch- philosophischen Konzept grundlegend. Eben die Relevanz, die der Bildhaftigkeit zugeteilt wird, fungiert als ein gemein- samer Nenner für die Texte von Kubin und Schulz. Die sprachlichen Bilder, die oft auf konkrete sinnliche Empfindungen rekurrieren, spielen in diesen Werken eine enorme Rolle. An dieser Stelle müsste erwähnt werden, dass diese Tendenz generell für phantastische Literatur – und mit solchem Genre hat man hier in beiden Fällen zu tun – charakteristisch ist: „Literarische Phantastik scheint ganz besonders starke Affinitäten zum Optischen zu besitzen“ (Cersowsky 1999: 18). Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Illustrationen in der Anderen Seite einen wesentlichen Bestandteil des Buches bilden, aus Kubins Briefen an sei- nen Freund Fritz von Herzmanovsky-Orlando erfährt man sogar, dass der Autor

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 86 Karolina Sidowska selbst sein Schreiben eher als sekundär den graphischen Leistungen gegenüber betrachtet hat:

Ich entwerfe bereits Illustrationen, es sind sehr viele, um die 50, meist kleine Sachen. Aber um die Zeichnungen wird eigentlich das ganze Buch geschrieben. […] Diese Zeichnungen werden das beste, was ich bis jetzt machte. Der erläuternde Text in Romanform ist gleichsam der Rah- men. Ich persönlich will nicht als Schriftsteller auftreten. (zit. nach: Assmann 1999: 90)

Ferner kann behauptet werden, dass der Romantext an sich als eine Sammlung von einander ablösenden Bildern konzipiert ist, die – wie die Traumbilder und -visionen – „zwar sehr präzise geschaut, vom Intellekt des Betrachters allerdings nicht gesteuert werden können“ (Assmann 1999: 88). Damit sind wir gleich bei dem zweiten Stichpunkt für die vergleichende Analyse der Zimtläden und der Anderen Seite: bei der Rolle des Traums. In Kubins Roman wird der ontologi- sche Status der dargestellten Welt stets in Frage gestellt, indem die Handlung im „Traumreich“ lokalisiert wird, das an mehreren Stellen als monumentales Traum- gespinst des Gründers und Herrn des Staates, Klaus Patera, präsentiert wird und somit eigentlich als nicht existent erscheint. Die Bezeichnung „Traumstaat“ lässt natürlich auch eine andere Auslegung zu, die aber schnell als irreführend erkannt wird, nämlich dass es sich hier um eine traumhafte, bestmögliche Welt handelt: das würde die willige Annahme der Einladung Pateras zur Übersiedlung in das Traumreich von dem Erzähler erklären. Im Grunde werden aber schon bald nach dessen Ankunft in Perle die ersten Zeichen des Untergangs des Traumreichs be- merkbar. Die Bevölkerung – Leute, die sich durch verschiedene Abnormitäten kennzeichnen – wird durch diverse Plagen heimgesucht: gesellschaftliche Unru- hen und moralische Zügellosigkeit, Schlafsucht, Plage der wilden Tiere und des Ungeziefers, fortschreitenden Verfall und Fäulnis. Der Traum wird immer mehr zum Alptraum: der Erzähler und Protagonist wird mit rätselhaften Ereignissen und Phänomenen konfrontiert, er trifft auf Gespenster und Zeugnisse der Verhe- xung. Das wachsende Chaos mündet letztendlich in apokalyptischer Untergans- szene, wo das Traumreich in sich zusammenbricht. Kubins Roman, der 1909 erschienen ist, weist alle wichtigsten Merkmale der De- kadenzliteratur auf und gehört zu der internationalen Welle der utopischen bzw. dystopischen Werke der Jahrhundertwende. Andererseits, wie Clemens Ruthner ausführt, kann die verhängnisvolle Geschichte der Stadt Perle und des ganzen Traumreiches als Auseinandersetzung des Autors mit den Realien der Habsburger Monarchie gelesen werden. Ruthner schreibt in diesem Kontext weiter, dass der Text Kubins

[…] die Initialzündung für eine ganze Serie von deutschsprachigen Romanen (war), die unmit- telbar vor und nach dem Zusammenbruch der Habsburger- und Hohenzollern-Monarchien von fantastischen Welten und deren Untergängen erzählten – wobei sie häufig Österreich-Ungarn,

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jenes Reich der unbegrenzten Unmöglichkeiten, meinten und damit gleichzeitig einen gewissen apokalyptischen bon ton der Zeit bedienten. (Ruthner 2004: 179)

Die andere Seite wäre also als ein typisches Produkt seiner Epoche zu verstehen, in dem die Ängste und Unruhen des fin de siécle ihren Ausdruck finden. Para- doxerweise ist diese Abrechnung mit der bisher gekannten Welt nicht besonders modern, sowie überhaupt die phantastische Literatur eher „gesellschaftlich re- aktionär“ d.h. konservativ ist (vgl. Cersowsky 1999: 18). In ihren Grundprin- zipien ist sie ein „Kontrapunkt zur aufklärerischen Betonung von natürlicher Erfahrungsrealität und Ratio“ (Cersowsky 1999: 19) – daher der pessimisti- sche, katastrophische Ton und epistemologische Skepsis. Gleichzeitig wird der Weltuntergang bei Kubin mithilfe von Bildern deutlich expressionistischer Pro- venienz also mittels moderner Ästhetik beschrieben. Die Diskrepanz zwischen avantgardistischer Form und konservativer Aussage lässt sich auch im Fall von Zimtläden beobachten, die der von nostalgischen Kindheitserinnerungen getrage- nen und der verklärten Vergangenheit zugewandt sind. Im Folgenden werde ich konkrete Aspekte der dargestellten Welten beider Werke, wie: Erzähl- und Figu- renkonstruktion, zeit-räumliche Hintergründe und Leitmotive näher untersuchen, um auf dieser Basis weitere Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kubins und Schulzes Phantasie zu entdecken. Beide Werke bedienen sich der Ich-Erzählperspektive, wobei der Erzähler bei Schulz aus der Sicht eines Kindes spricht. Diese schriftstellerische Entschei- dung – die Einsetzung der kindlichen Phantasie und Emotionalität als Prisma der Weltbetrachtung – erklärt die Üppigkeit und Einzigartigkeit der Beschreibungen. Der ungewöhnliche, extravagante Wortschatz würde jedoch den Erzähler eher als einen belesenen Erwachsenen kennzeichnen, der sich um Rückkehr zur kind- lichen Perspektive bemüht. Auf jeden Fall trägt er autobiographische Züge von Schulz, davon zeugt die Einbettung der Handlung in ein kleines Städtchen, die Anspielungen auf das Textilwarengeschäft des Vaters, die dominante Position der Frauen in den Erzählungen. Auch die zentrale Vater-Figur erinnert an die innige Beziehung des Autors zu seinem Elternteil. Der Vater wird als ein weltentrückter, weiser Mann dargestellt, der mehr Bewunderung als Respekt erweckt; einerseits ähnelt er einem biblischen Demiurg, andererseits erscheint er hilflos der eroti- schen Macht der Frauen gegenüber. Die Frauen, von Dienstmädchen Adela und den Näherinnen vertreten, erscheinen als Verkörperungen der verführerischen Weiblichkeit und zugleich des Lebenspragmatismus. Sie sind selbstbewusst und sinnlich bis zur Lüsternheit, ihre Sinnlichkeit ist mit Fruchtbarkeit verbunden, sie kann aber in Verderbtheit und Sünde umkippen, was man am Beispiel der Mädchen aus der Krokodilgasse feststellen kann. Vor diesem Hintergrund muss die besondere Stelle der Erotik in Zimtläden hervorgehoben werden: Obwohl sie zweifelsohne eine reale Macht (der Frauen über Männer) ist, bleibt ihre Präsenz

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 88 Karolina Sidowska meistens im Bereich der vagen Andeutung, als ob die allzu deutliche Rede davon den Zauber der sündigen Wollust zerstören könnte; der Autor begnügt sich mit eini- gen Anspielungen, den Rest der erregten Vorstellungskraft des Lesers überlassend:

In dem Moment, in dem mein Vater das Wort „Schneiderpuppe“ aussprach, sah Adela auf die Armbanduhr und tauschte mit Polda einen vielsagenden Blick. Jetzt schob sie sich auf dem Stuhl eine Spanne weit nach vorn, hob den Saum ihres Kleides, streckte langsam den mit schwarzer Seite überzogenen Fuß vor und richtete ihn auf wie ein kleines Schlangenmaul. […] Mein Vater räusperte sich, verstummte, beugte sich vor und wurde plötzlich hochrot. In einem Augenblick verschloß sich die Lineatur seines soeben noch aufgewühlten und vibrierenden Gesichts hinter gedemütigten Zügen. (Schulz 2009: 55)

In Kubins Roman hat der Ich-Erzähler als Zeichner, Absolvent des Salzburger Gymnasiums, auch autobiographische Färbung. Er zieht mit seiner Frau in das ge- heimnisvolle, in Zentralasien gelegene Traumreich auf die Einladung des ehemali- gen Schulfreundes Patera. Diese Figur und sogar ihr Name sind ein Zeugnis davon, dass auch in Kubins Werk der Vater-Komplex eine Widerspieglung findet:1

Von der Forschung ist mit großer Einhelligkeit festgestellt worden, dass der mit dämonisch- mythischer Macht über das Traumreich herrschende Patera (griech./lat. Pater = Vater) als eine ambivalent gewertete Projektion des patriarchalische Gewalt ausübenden und zugleich auch sehnsüchtig verehrten Vaters angesehen werden kann. (Lachinger 1999: 124–125)

Klaus Patera ist Schlafwandler und Demiurg, der durch sein Träumen sein Reich schafft und am Leben hält – seine Gesichtszüge meint der Erzähler bei manchen zufällig in Perle getroffenen Personen erkannt zu haben. Das kreative Potenzial des Traums oder allgemein der Phantasie muss an dieser Stelle besonders betont werden – dieser Faktor ist ein weiterer gemeinsamer Punkt bei Kubin und Schulz; bei dem letzteren wird den Erzeugnissen der Vorstellungskraft eine gleichberech- tigte Existenz neben anderen Protagonisten zuerkannt und die Phantasie erscheint als schöpferische Macht, neue Wesen ins Leben rufen zu können (vgl. Sarna 1975: 40–41). Es ist übrigens eine durchaus demokratische Idee, da – wie der Vater im „Traktat über die Schneiderpuppen“ behauptet: „[…] jeder Geist hat das Privileg der Schöpfung“ (Schulz 2009: 51). Was die Frauen und Erotik in der Anderen Seite angeht, so ist in dieser Hinsicht ein Unterschied zu Schulzes Prosa auffallend. Zwar gibt es in dem Roman einen positiven Frauencharakter in der Gestalt der Ehefrau des Erzählers, die aber nach einigen Monaten im Traumreich erkrankt und stirbt. Die anderen Vertreterinnen

1 In diesem Kontext sei an den biographischen Hintergrund der Entstehung der Anderen Seite hingewiesen: Relativ kurz vor dem Beginn der Arbeit ist Kubins Vater gestorben (1907), was bei dem Künstler eine tiefe Krise hervorgerufen hat. Obwohl ihre Beziehung von Anfang an schwierig war, hat sich Kubin mit seinem Vater vor dessen Tod ausgesöhnt und den Roman sogar „dem Gedächtnis meines Vaters“ gewidmet (vgl. Lachinger 1999: 124).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Moderne Phantasmagorien – Prosa von Bruno Schulz und Alfred Kubin im Vergleich 89 des weiblichen Geschlechts, wie Melitta Lampenbogen, sind moralisch korrupt und ihre Schamlosigkeit und Verdorbenheit nehmen im Laufe der Zeit nur zu. Bei Kubin entartet die Erotik in Zügellosigkeit und wird mit Gewalt gekoppelt. Am deutlichsten offenbart es eine der letzten Szenen, wo die wahnsinnig gewordenen Traumreicher eine brutale und selbstzerstörerische Orgie veranstalten:

Stöhnen und Ächzen war ringsumher, dazwischen schnitten schrille Schreie und vereinzelte tiefe Seufzer; ein Meer von nacktem Fleisch wallte und zitterte. […] Plötzlich vernahm ich in der Nähe lautes Kreischen, wie Frohlocken und Schmerz. – Zu meinem Entsetzen gewahrte ich, dass eine gelbhaarige Dirne einen Betrunkenen mit den Zähnen entmannt hatte. Ich sah seine glasigen Augen, er wälzte sich in seinem Blute; beinahe gleichzeitig sauste ein Beil herab, der Verstümmelte hatte einen Rächer gefunden. Selbstbeflecker zogen sich in die Schatten der Zelte zurück, weiter droben schallte ein Bravorufen, dort paarten sich unsre Haustiere, vom Taumel ergriffen. (Kubin 1962: 151)

Zuletzt möchte ich die jeweilige Szenerie der für diesen Vergleich gewählten Wer- ke unter die Lupe nehmen. In den Zimtläden offenbart sich der Traumcharakter nicht nur in der Aufhebung der kausalen Logik der Geschehnisse, sondern auch in der Entstellung der Zeit- und Raumwahrnehmung. In der Titelerzählung irrt der Erzähler Josef durch die wohlbekannten Gassen seines Heimatstädtchens und entdeckt immer neue Abzweigungen und unerwartete Durchgänge. Der Raum wirkt labyrinthisch, deformiert, potenziell bedrohlich, aber gleichzeitig verlo- ckend; man kann sich darin verlaufen, verirren, aber statt Angst verspürt man eher eine Abenteuerlust. Das gleiche trifft auf die Zeitstruktur zu. Das aus dem Alltag bekanntes Phänomen, dass die gleiche Zeitspanne mal länger, mal kürzer anmutet, wird von Schulz als wirkende Regel der literarischen Wirklichkeit aufgeführt: der Ablauf der Zeit wird nicht nur subjektiv wahrgenommen, in der Tat dehnt sie sich oder verkürzt willkürlich. Darüber hinaus gilt keine Chronologie und Linearität des Zeitablaufs, die Ereignisse spielen sich gleichzeitig ab oder gar außer jeglicher Ordnung, „am Rande der Zeit“ – überflüssig, phantastisch, unwahr. Die phantastische Dimension des Raumes in Kubins Roman beruht im hohen Grade auf der Exotik und totaler Abgeschiedenheit des Traumreichs, das von der Außenwelt durch Sumpfgebiete und eine hohe Mauer abgegrenzt ist. Drinnen herrscht die Aura des Unheimlichen: die alten Häuser, Klamotten und Gegenstände, die aus allen Weltteilen (meist aus Europa) importiert worden sind, erzeugen stän- dige déjà vu Effekte. Im Laufe der Zeit spielen schon alle Sinne verrückt – der Erzähler berichtet von seltsamen Geräuschen und Gerüchen, die seine Unruhe wecken und Vorzeichen der kommenden Katastrophe sind. Am bedrückendsten erweist sich der Mangel an Sonnenlicht, da der Himmel in Perle immer mit dicker Wolkenschicht bedeckt ist. Das ewige Dämmerlicht, das mitunter in volle Fins- ternis übergeht, verunmöglicht die Orientierung in zeitlichen Abläufen:

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Es war nicht mehr möglich, die Nacht vom Tage zu unterscheiden, in dem gleichmäßigen grauen Zwielicht konnte man sich nur notdürftig zurechtfinden. Da alle Uhren eingerostet und stehen geblieben waren, fehlte uns jede Zeitberechnung; daher ist es mir auch unmöglich, anzugeben, wie lange sich der Zustand der Auflösung hinauszog. (Kubin 1962: 153)

Die Dämmerung steht für die Ambivalenz, das Verwischen der Konturen und die Verfremdung der Dinge, und zugleich macht sie das Traumreich zu einem der Zeit entrückten Raum (vgl. Hedwig 1967: 27). Die Parallelen zwischen den fiktiven Welten von Bruno Schulz und Alfred Kubin sind offenkundig, zugleich lassen sie die beiden Autoren als Vertreter der litera- rischen Moderne betrachten und interpretieren. Schon die Konstruktion des – je- weils autobiographisch motivierten – Ich-Erzählers als einer besonders sensiblen und mit reger Einbildungskraft (bis zur kognitiven und emotionalen Überforde- rung des Ich) versehenen Figur ist ein Zeugnis der modernen Subjektauffassung. Die subjektive Wahrnehmung findet ihren Ausdruck in emotionsbeladenen, sehr bildhaften, bei Schulz darüber hinaus noch stark metaphorischen und sinnlichen Beschreibungen. Emotionen und Gefühle dienen einerseits als wichtige Stützen der Orientierung in chaotischer und oft bedrohlicher Wirklichkeit der dargestellten Welt, andererseits erweisen sie sich oft als ambivalent und somit auch trügerisch. Generell hat man in beiden Welten mit Koexistenz der Gegensätze, mit logischen Widersprüchen, mit unberechenbarem Ablauf der Handlung, kurzum – mit der Aufhebung der Logik zugunsten der emotionalen Sphäre zu tun. Erwähne man noch die Relevanz der subjektiven Phantasie als der real wirkenden, kreativen Macht, so unterliegt es keinem Zweifel, dass das Schaffen beider Autoren in Anlehnung an geistige Väter der modernen Epoche: Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche zu deuten ist. Auch die Auswirkung von Sigmund Freuds Triebtheorie und Traumdeutung lässt sich im Hinblick auf beide Werke kaum leugnen. Auf der anderen Seite repräsentieren diese Werke deutlich das Genre der phantastischen Literatur – dank ihrer Bildhaftigkeit, dem Oszillieren zwischen zwei Realitäts- bzw. Erfahrungsebenen, der grundlegenden Ungewissheit bezüg- lich des ontologischen Status der Welt und nicht zuletzt dank der Fülle von ty- pischen Themen und Motiven, wie Spukerscheinungen, phantastische Belebung und Personifizierung der Gegenstände oder eben Reduktion des Menschen auf einen leblosen Automaten. Die geheimnisvolle Aura dieser Prosa entsteht teil- weise durch die Verwendung von traditionellen Requisiten: Nacht oder Dämmer- licht, labyrinthische bzw. unüberschaubare Räumlichkeiten, verwirrte Träume, Wahnsinn, Gier, Wollust, Gewalt – und doch ist die Auswirkung beider Texte so originell und nachhaltig, dass sie sich vor dem Hintergrund der üblichen literari- schen Phantastik abheben und einen etablierten Platz im Kanon der Weltliteratur erobert haben.

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Literatur

Assmann, Peter (1999): „Daß sich unter ihren Augen das Moderne in ein Chaos verwandelt, ist ein Genuß.“ Kubin diesseits und jenseits der „Anderen Seite“. In: Freund, Winfried/Lachinger, Johann/Ruthner, Clemens (eds.): Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin und die deutsch- sprachige Phantastik. München, 87–98. Cersowsky, Peter (1999): Was ist phantastische Literatur? Überlegungen zu ihrer Theorie. In: Freund, Winfried/Lachinger, Johann/Ruthner, Clemens (eds.): Der Demiurg ist ein Zwit- ter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik. München, 11–22. Daume, Doreen (2009): Nachwort. In: Schulz, Bruno: Die Zimtläden. München,181–195. Ficowski, Jerzy (1967): Regiony wielkiej herezji. [Regionen der großen Häresie] Kraków. Hewig, Anneliese (1967): Phantastische Wirklichkeit. Interpretationsstudie zu Alfred Kubins Ro- man „Die andere Seite“. München. Jarzębski, Jerzy (1999): Schulz. Wrocław 1999. Kubin, Alfred (1975): Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Reprintausgabe nach der Erst- ausgabe von 1909. München (edition spangenberg). Kubin, Alfred (1962): Die andere Seite. München. Lachinger, Johann (1999): Österreichische Phantastik? Trauma und Traumstadt. Überlegun- gen zu Kubins biographisch-topographischen Projektionen im Roman „Die andere Seite“. In: Freund, Winfried/Lachinger, Johann/Ruthner, Clemens (eds.): Der Demiurg ist ein Zwit- ter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik. München, 121–130. Mroczna strona wyobraźni. Sztuka Alfreda Kubina. Kraków 2008. Ruthner, Clemens (2004): Traumreich: Die fantastische Allegorie der Habsburger Monarchie in Al- fred Kubins Roman „Die andere Seite“ (1908/09). In: Kerekes, Amalia u.a. (eds.): Leithe und Le- the. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns. Tübingen; Basel, 179–197. Sarna, Katarzyna (1975): Funkcje wyobraźni w prozie Brunona Schulza. [Funktionen der Phanta- sie in der Prosa von Bruno Schulz] In: Poezja 9, 38–45. Schulz, Bruno Schulz (1994): Das Mythisieren der Wirklichkeit. In: Schulz, Bruno: Die Wirklich- keit ist Schatten des Wortes. Aufsätze und Briefe. Hrsg. v. Jerzy Ficowski. Aus dem Polnischen v. Mikolaj Dutsch und Josef Hahn. Frankfurt am Main, 240–242. Schulz, Bruno (2009): Die Zimtläden. München. Schwanberg, Johanna (1999): In zwei Welten: das literarische und zeichnerische Werk Alfred Kubins. In: Freund, Winfried/Lachinger, Johann/Ruthner, Clemens (eds.): Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik. München 1999, 99–120. Wirth, Andrzej (1966): Nachwort (zu 1. dt. Ausgabe) In: Schulz, Bruno: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. Hrsg. v. Mikolaj Dutsch. Aus dem Polnischen v. Josef Hahn. München, 329–337.

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Tadeusz SKWARA (Warszawa) ORCID 0000-0003-3793-730X

„Die Tyrannis“ von Manès Sperber – eine theoretische Schrift?

Zusammenfassung: Das Hauptanliegen des Beitrags ist die Analyse des Essays „Die Tyrannis“ (1939) von Manès Sperber. Im ersten Teil wurden Sperbers Kontakte zum Kommunismus und zur psychologischen Schule Alfred Adlers analysiert und im Zweiten die wichtigsten Eigenschaf- ten der totalitären Macht auf Grund seines Essays rekonstruiert. Im Dritten dagegen wurde sein Essay mit den Überlegungen des damaligen Totalitarismus-Forschers Waldemar Gurian verglichen (1902–1954), um zu zeigen, dass der „unwissenschaftliche“ und theoretische Essay Sperbers die Wirklichkeit eines totalitären Staates relativ gut beschreibt. Schlüsselbegriffe: Sperber, Gurian, Totalitarismus, Kommunismus

Die Tyrannis Manèsa Sperbera jako esej teoretyczny? Streszczenie: Głównym celem artykułu jest analiza eseju „Die Tyrannis” (1939) Manèsa Sperbera (1905–1984). W części pierwszej przedstawiono związki pisarza z komunizmem i szkołą psycho- logiczną Alfreda Adlera, w drugiej podjęto próbę rekonstrukcji najważniejszych cech totalitarnej władzy w ujęciu Sperbera, a w trzeciej porównano jego pracę z przemyśleniami współczesnego mu badacza totalitaryzmów Waldemara Guriana (1902–1954). Wykazano, że „nienaukowy” i teore- tyczny esej Sperbera dość dokładnie opisuje rzeczywistość totalitarnego państwa. Słowa kluczowe: Sperber, Gurian, totalitaryzm, komunizm

The tyranny by Manès Sperber – a theoretical essay? Abstract: The main aim of this article is an analysis of Manes Sperber’s essay “Die Tyrannis” (1939). Sperber’s relationships with communism and his dependence on Adler’s psychological school are carefully scrutinized. Against this background, Sperber’s interpretation of totalitarian power is interpreted. His essay is also compared to Waldemar Gurian’s views on totalitarianism. The comparison proves that Sperber’s theoretical work profoundly features the true nature of a totalitarian state. Keywords: Sperber, Gurian, totalitarism, communism

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Dieser Artikel wird aus drei Teilen bestehen. Im Ersten wird kurz Manès Sperbers Verhältnis zum Kommunismus und zum bekannten Psychologen Alfred Adler dar- gestellt. Im Zweiten wird, auf Grund seines Essays „Die Tyrannis“, der Weg des Tyrannen an die Macht und sein Sturz analysiert und im Dritten Sperbers Werk mit den Reflexionen des Totalitarismus-Forschers Waldemar Gurian verglichen.

1 Zwischen Adler und Marx. Manès Sperber und der Kommunismus

Der 1905 in Galizien in einer Rabbinerfamilie geborene Sperber kam 1916 mit seinen Eltern nach Wien, wo er seit 1919 an der Universität Psychologie studier- te und zum Schüler und Mitarbeiter Alfred Adlers wurde (Sperber 1998: 397). 1927 kam er nach Berlin, wo er als Dozent für Psychologie und Soziologie tätig war und Mitglied der Kommunistischen Partei wurde, was zu einem Bruch mit Adler führte, der „die von ihm [Sperbers] praktizierte Verknüpfung von Indivi- dualpsychologie und Marxismus [nicht tolerierte]“ (Sperber 1998: 397).1 Trotz dieses Konfliktes blieben Adlers Theorien für Sperber selbst und für seine Analy- se der Tyrannis von grundlegender Bedeutung2. Wenn man Sperbers Aktivität in der kommunistischen Partei beurteilt, darf man nicht vergessen, dass er der Partei vor allem mit seinem Fachwissen, als Intel- lektueller und Psychologe, dienen wollte (vgl. Isler 2004: 43). Nach 1933, und besonders nach dem ersten Schauprozess gegen „Trotzkisten“ im August 1936,3 war es bestimmt nicht nur seine antinazistische Überzeugung, die ihm „befahl“, der kommunistischen Partei und ihren Grundsätzen treu zu bleiben:

Wer auch nur ein Wort gegen Stalin, seine Prozesse oder gegen irgend eine Erscheinung in der Sowjetunion ausspricht… stellt sich damit objektiv auf die Seite des Faschismus… Dieser politischen Anästhesierung unterlagen in den dreissiger Jahren nicht nur die Kommunisten und ihre Sympathisanten, sondern auch fast alle entschieden antifaschistischen Liberalen (zit. nach: Sternberg 1991: 240).4

1 „[Alexandra Adler] meinte, Adler war gar nicht böse, es war kein Bruch, sie meint sich zu erinnern, daß ihr Vater etwa sagte, Sperber wird jetzt wohl seine eigenen Wege gehen müssen“ (Spiel/Stephenson 1987: 103). 2 Laut Gabriela Schmidt stelle Adler in den Mittelpunkt seiner neuen, psychologischen Lehre das Streben des Gesamtindividuums nach Macht und Ansehen innerhalb seines sozialen Gefüges (im Unterschied zu Freud, für den die Sexualität die zentrale Rolle gespielt habe). Als Ursache für die Entwicklung von neurotischen Verhaltensmustern habe Adler das Streben des Menschen angesehen, persönlich erlebte Minderwertigkeit – sei sie nun auf der Basis sozialer Konflikte, sei sie durch organisch-körperliche Beeinträchtigung entstanden – zu kompensieren (vgl. Schmidt 1995:37). 3 Laut M. Rohrwasser haben die Kontroversen um Schauprozesse „das Ende des Mythos von einer einheit- lichen, antifaschistischen Linken [eingeleitet]“ (Rohrwasser 1991:141). 4 Willi Schlamm, der einen ähnlichen Weg durchmachte, schrieb 1937: „Sind wir vor die Wahl zwischen Hitler und Stalin gestellt? Der Eingeschüchterte, der Schwächling, der innerlich zutiefst Unsichere mag sich

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In diesem Zitat beschreibt Sperber den erfolgreichsten Erpressungsmechanismus der kommunistischen Propaganda und die damit verbundene schwierige Situation dieser Gegner Hitlers, die Stalins Verbrechen nicht dulden wollten, aber gleich- zeitig nicht als „Faschisten“ öffentlich gebrandmarkt sein wollten. Wie er selbst betonte: „Nur durch eine einzige Tür verläßt man die Revolution, sie öffnet sich ins Nichts – das hatte ich mir oft vorgehalten, mich davor geängstigt“ (Sperber 1987a: 15).5 Die Atmosphäre unter den Parteimitgliedern war aber so heuchle- risch und gleichzeitig angstgeladen, dass Sperber sich dazu entschloss, die Rei- hen der kommunistischen Partei zu verlassen.6 Dieser Prozess der Befreiung aus dem Käfig der unmenschlichen Ideologie und der Verselbstständigung dauerte in seinem Fall relativ kurz: vom Februar bis Juni 1937 (vgl. Isler 2004: 55). Der zeitgenössische Biograf Sperbers Roland Isler beschreibt die verheerenden Folgen dieser Entscheidung für Sperbers Existenz (dieses Zitat scheint auch sehr überzeugend die Lage aller deutschsprachigen Exilanten zu charakterisieren, die sich damals vom Kommunismus öffentlich distanzierten):

Der Bruch [mit der Partei] war mit einer fast vollständigen und sofortigen sozialen Isolation ver- bunden. Gleichzeitig bedeutete es, den Zusammenbruch jahrelanger Überzeugungen, die selbst herbeigeführte Desavouierung aller Aktivitäten der vorausgehenden Jahre, das Eingeständnis der Pervertierung der kommunistischen Partei und, durch sie verursacht, der kommunistischen Idee einer gerechteren Welt. (Isler 2004: 56)

Obwohl er einen sehr großen Preis dafür zahlen musste, gelang Sperber eine Flucht aus der kommunistischen Utopia. Das wichtigste Ergebnis seiner damali- gen Reflexionen und Erlebnisse bildet die folgende Schrift.

2 Die Analyse des Essays Die Tyrannis

Der in diesem Artikel analysierte Essay entstand in Wien im September und Ok- tober 1937 (Isler 2004: 56) und wurde 1939 in Paris herausgegeben (Sperber 1987a: 20). In seinem 1974 geschriebenen Vorwort unterstreicht Sperber den sub- jektiven, keineswegs objektiven oder wissenschaftlichen Charakter seines Werkes:

Die vorliegende Studie kann weder eine soziologische Untersuchung ersetzen, noch kann sie eine politische Orientierung bieten. Der nach Macht strebende, der von ihr berauschte und der von der Macht des andern faszinierte Mensch ist ihr Gegenstand. Somit ist dieser Versuch aus- dieser erpresserischen Alternative ausliefern. Der bessere Typus jedoch, vor die Wahl zwischen Hitler und Stalin gestellt, entscheidet sich für die Idee der Freiheit“ (Schlamm 1937: 133). 5 In seinem Gespräch mit S. Lenz betonte Sperber dagegen, dass man niemals allein mit seiner Wahrheit sei. Es gehe nur darum, eine Gemeinschaft der ähnlich Denkenden zu finden Lenz( 1983: 38). 6 T. Bekić nennt einen anderen Grund für den Bruch Sperbers mit der Partei: das tragische Ende des mit Sperber befreundeten Djuka Cvijić in der Sowjetunion (Bekić 1987: 132).

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schließlich der subjektiven Seite der Macht gewidmet und nicht ihrer objektiven, die, als gesell- schaftliches Verhältnis allein begreifbar, Gegenstand der Soziologie ist. (Sperber 1987a: 20)

Diese Einführung zeigt Sperber als einen Schriftsteller, der vor allem um Ehrlich- keit gegenüber dem potentiellen Leser bemüht ist – er soll von Anfang an wissen, mit was für einem Text er zu tun hat. Die distanzierte Selbstbeurteilung Sperbers ist wahrscheinlich darin begründet, dass die Sprache dieser Studie relativ ein- fach ist7 und die Analysen Sperbers (aus der heutigen Perspektive) manchmal selbstverständlich zu sein scheinen. Gleichzeitig muss schon jetzt unterstrichen werden, dass es sich im Falle dieses Buches um eine wirklich interessante Stu- die handelt, das unsere Erkenntnisse über die Person des Tyrannen vertieft. Den wahren Charakter dieses Werkes, in dem sein Wert begründet liegt, zeigt uns ein weiteres Zitat aus Sperbers Vorwort:

Im Jahre 1937 versuchte ich, das totalitäre Modell, wie man heute gerne sagen würde, so scharf wie möglich herauszuarbeiten, also nicht namentlich das Hitler- oder Stalinregime darzustellen. Sondern nur das zur Geltung zu bringen, was ihnen beiden gemeinsam war. (Sperber 1987a: 18)

In dieser Aussage, die fast 40 Jahre nach der Veröffentlichung des Textes entstand (es ist trotz allem nicht klar, inwieweit diese Interpretation den Ansichten Sperbers von 1937 entspricht) erregt vor allem ein elementarer Widerspruch unsere Auf- merksamkeit. Einerseits betont Sperber, dass es ihm um eine möglichst allgemei- ne, von der damals herrschenden politischen Situation unabhängige Darstellung eines, leider bis heute aktuellen Problems, geht. Andererseits ist seine Analyse (was uns nicht verwundern darf und vielleicht anders nicht möglich war) nicht nur von der Spannung zwischen Hitler und Stalin bestimmt, sondern auch von seiner damaligen persönlichen Lage, der Lage eines ehemaligen Kommunisten, der kurz zuvor seinen Bruch mit der Kommunistischen Partei vollzog und auch verstand, dass es prinzipiell fast keinen Unterschied zwischen dem III. Reich und der Sowjetunion gibt. Aber gerade diese „Sünde“ Sperbers, seine Verwicklung in die Konflikte seiner Zeit, bildet wahrscheinlich einen der Gründe, warum dieser Text bis heute lesenswert ist. Sperber beginnt seine Analyse des Tyrannen mit der einfachen (wie es scheinen könnte) Geschichte eines Herrn X:

Herr X, ein kleiner Angestellter, wird von Vorgesetzten und Kollegen als ein überaus schüchter- ner, geradezu demütiger Mensch beschrieben. Seine Frau hat Grund, in ihm einen tyrannischen, pedantischen, jähzornigen Gatten zu fürchten. Was ist Herr X.? Schüchtern und demütig oder jähzornig und tyrannisch? Wie lösen sich solche Widersprüche? (Sperber 1987b: 25)

7 Die Sprache Sperbers charakterisierte sehr zutreffend Wolfgang Kraus: „Sie [die Sprache] ist klar, durch- sichtig, nie ein Objekt eigener formaler Besonderheit“ (Kraus 1987: 67).

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Sperber präsentiert uns zuerst eine einfache Lösung dieses Widerspruchs: Herr X ist in der Arbeit schüchtern, weil er eine Karriere machen will, er wird seinen Kollegen erst später als ihr neuer Chef demonstrieren, wozu er fähig ist. Zu Hau- se zeigt er seine wahre Natur, weil er dort er selber sein kann, er braucht sich vor seiner Frau, die ihm keinen Widerstand leistet, nicht zu verstellen.8 Diese, wie gesagt, relativ einfache Geschichte bildet eine Einführung in die für Sperbers Analyse zentralen Begriffe. Das sind: Die von allen Menschen empfun- dene Angst und die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, in der viele Menschen ihre gerechten Ansprüche nicht realisieren können. Sperber analysiert nach Jo- seph Strelka zwei Arten von Angst:

Die sozialadressierte, die eine Kompensation dessen darstellt, was die Umwelt für das Indi- viduum zu leisten hat, einerseits und andererseits die aggressive, die aus der Verneinung der Machtlosigkeit verbunden mit Liebesmangel entsteht und zu jenem Amoklauf der Macht führt, der die Vertreter des Totalitarismus kennzeichnet. (Strelka 1999: 44–45)

Beide Arten von Angst bestimmen das Verhalten der von ihnen beherrschten Menschen:

Der Mensch mit der sozial adressierten Angst strebt nach der Geltung, und nur insofern auch nach Macht, als jeder Geltung ein gewisses Maß von Macht zugeordnet ist. Der Mensch mit der aggressiven Angst aber strebt nach Macht, und zwar nach der totalen Macht, da es eine teilweise Macht gar nicht gibt. (Sperber 1987b: 39)

Sperber bereichert seine Charakteristik eines aggressiv Ängstlichen um ein weite- res Element. Der künftige Tyrann hat Angst vor allen Menschen und gleichzeitig möchte er sie sich total unterordnen, was eine Verbindung herleitet zwischen dem Gefühl der Angst und dem Zentralthema der Studie, dem Wesen des Tyrannen:

In dem aggressiv Ängstlichen steckt ein unaussprechbares und unbekennbares Maß von Selbst- verachtung. Daher verachtet er alle anderen, vor denen er sich gleichzeitig, aber unbewusst ängstigt. Der Wille zur Macht ist der Wille der Schwäche, Macht über die anderen zu erlangen, die zu diesem Zwecke schwach gemacht werden sollen. (Sperber 1987b: 41)

Wie Sperber betont, kann der nach der Macht Strebende ohne den Beifall anderer Menschen nicht existieren. Hier treffen wir die potentiellen Anhänger eines jeden Tyrannen, deren Zustimmung ihn erst zum Despoten macht.9 Ihre Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, ihre gerechten Wünsche zu verwirklichen, stellt Sperber als

8 „Er [Herr X] verhält sich in beiden Situationen gemäß dem einen gleichen Gesetze, nach dem er angetre- ten ist. Er ist ein Tyrann, wo er es schon sein kann. Er ist schüchtern und demütig auf dem Wege zur Tyrannis“ (Sperber 1987b: 28). 9 „Im Zentrum [des Essays] aber steht nicht der Tyrann mit seinem Unterdrückungsapparat, sondern der geängstigte Mensch, der den Usurpator geradezu einlädt, die Diktatur zu erreichen und totalitär zu vervoll- kommnen” (Strelka 1999: 45).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 98 Tadeusz Skwara ein großes, soziales Problem dar, das ihr Leben in eine Qual verwandelt, von der sie sich befreien möchten. Der Tyrann pervertiert sehr bewusst diesen Traum vie- ler Menschen, ihre graue Existenz zu beenden.10 Auf seinem Weg nach der Macht helfen ihm aber auch andere, relativ einfache Methoden: Die Tatsache, dass er öffentlich das sagt, was viele denken,11 und die skrupellose Ausbeutung der Wundergläubigkeit vieler Menschen, die häufig ihre einzige Reaktion auf ihre Probleme bildet.12 Diese Methoden wären aber erfolg- los, wenn es dem Tyrannen nicht gelingen würde, einen wichtigen Mythos unter seinen Anhängern zu verbreiten:

Es leben Millionen Menschen mit dem Bewußtsein der Lokalgeschichte in einer Welt, die nur weltgeschichtlich begreifbar ist. Sie könnten die Krise ihrer nächsten Nachbarn nur begreifen, wenn sie die Krise der Welt begriffen. Der Tyrann verspricht diese Krise zu überwinden und den Wohlstand für ewig zu sichern. Das versprechen andere auch. Er aber bietet noch mehr und sehr Wesentliches: Den Mythos vom Feinde. Der Feind nämlich, das ist der Nachbar. Und wer hätte nicht gerne Nachbarn, die er haßt? (Sperber 1987b: 52)

Um seine Machtpläne zu verwirklichen, muss sich aber der künftige Tyrann eine bereits existierende Partei unterordnen: „Eine der Voraussetzungen, damit sie [die potentiellen Tyrannen] es werden, ist ihr Zusammentreffen mit einer Bewe- gung oder mit noch nicht organisierten Strömungen, deren sie sich bemächtigen können“ (Sperber 1987b: 63). Obwohl die Reden des Demagogen vor revolutionären Gedanken und Ideen ge- radezu strotzen, kann seine Aktivität die soziale Ordnung nicht verändern, weil er in Wirklichkeit von den herrschenden Schichten abhängig ist, die ihm Direktiven erteilen. Da er dagegen auf sein Privatleben verzichtet und sich mit seinem gan- zen Wesen der Bewegung widmet, verstärkt das noch seine Position unter seinen Anhängern und erlaubt ihm, die ganze Strömung unter seine Kontrolle zu brin- gen. Sein Weg ist gezeichnet von einer Unmenge von Verrätereien gegenüber alten Genossen, deren es sich aber nicht bewusst ist, und die einen engen Band zwischen ihm und seinen engsten Mitarbeitern schaffen. Gleichzeitig muss der künftige Tyrann, der von seiner Berufung total durchdrungen ist, dem Ideal gleichen, das die Massen in ihm sehen, was immer schwieriger wird.

10 „Der Tyrann durfte immer auf diese Sehnsucht nach dem Abenteuer, auf diesen Haß gegen den Alltag rechnen. Schon die Inszenierung, in der er sich präsentierte, war ein Spektakel, das reichlich lohnte“ (Sperber 1987b: 50). 11 „Er spricht aus, was sie sagen möchten, wenn sie reden könnten, und er spricht es gerade in der Art aus, die dem Ideal der Zuhörer genau entspricht“ (Sperber 1987b: 53). 12 „Gegenüber einem Leiden, gegen das man nicht ankämpfen zu können meint, wird man leicht wunder- gläubig“ (Sperber 1987b: 54).

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Den Anfang seiner wirklichen Macht markiert eine Anzahl von Morden an seinen Feinden, was die ganze Gesellschaft in eine Mischung von Angst und Respekt versetzt und nach sich zieht, dass fast niemand bereit ist, gegen ihn zu konspi- rieren. Da die Macht des Tyrannen auf den Schrecken nicht verzichten darf und auf seiner Proskriptionsliste die ganze Menschheit steht, wächst die Angst in der Bevölkerung. Die Menschen hören auf, einander zu trauen, alte Freundschaften enden sehr abrupt. Das führt zu den, in den Medien zu beobachtenden, Manifes- tationen der Feigheit, die die Massenforscher in ihrer Verachtung der Massen ge- genüber befestigen, obwohl Sperber betont, dass die sog. kleinen Menschen sich in schwierigen Situationen besser bewähren als Intellektuelle. Da aber viele Men- schen wundergläubig und geduldig sind, freut sich der Tyrann relativ lange einer Popularität, obwohl das von ihm versprochene Goldene Zeitalter nicht beginnt. Zum Sturz des Tyrannen tragen laut Sperber verschiedene Faktoren bei, u.a. die Verselbständigung des Herrschaftsapparates oder die Unzufriedenheit der wirk- lich Herrschenden, deren Direktiven der Tyrann nicht im Stande ist, schnell und erfolgreich zu verwirklichen. Sein Tod zieht nicht automatisch den Anfang einer neuen Epoche im Leben der von ihm terrorisierten Gesellschaft nach sich: „Zwei- fellos ist der Tod des Tyrannen ein schwerer Schlag gegen sein Regime, doch wie wirkungsvoll dieser Schlag ist, hängt davon ab, wie weit das Volk ist, wie groß die Kräfte derer sind, die bereits wissen, was die Freiheit ist, und die bereit sind, alles für sie einzusetzen“ (Sperber 1987b: 85).13 Am Ende seiner Reflexionen über das Wesen des Tyrannen versucht Sperber, einige allgemeine Gedanken zu formulieren. Er betont, dass es einen Tyrannen ohne seine Anhänger nicht gibt. Alle Menschen (nicht nur seine Zeitgenossen), die über kein kritisches Selbstbewusstsein verfügen, sind immer bereit, auf ihre Freiheit zu verzichten, weil diese Freiheit ihnen nicht erlaubt, würdig zu leben. Für seine Beobachtungen ist die Unterscheidung zwischen dem Führer (den das Volk braucht und der Diener einer Idee ist) und dem Tyrannen (der der Herr der Idee ist) von grundlegender Bedeutung: „Im Führer schafft sich die volonte generale einen Repräsentanten und gleichzeitig das oberste Exekutivorgan. Dieses Organ unter- steht denen, die es geschaffen haben, und ist jederzeit veränderbar, abschaffbar“ (Sperber 1987b: 91). Ein gutes Beispiel für einen Führer, der sich in einen Tyran- nen verwandelte, weil er von seinen Ideen besessen war, ist für ihn Robespierre. Sperber formuliert einige an seine Zeitgenossen gerichtete Postulate, die ihnen helfen sollten, den immer wieder erscheinenden Demagogen erfolgreich Wider- stand zu leisten. Niemand ist unfehlbar und eine Idee, die denken verbietet oder

13 H.R. Schießer scheint diese Stelle gut zu charakterisieren: „Manès Sperber teilte mit Marx die Erkennt- nis, daß der Mensch zugleich Produkt und Produzent seiner Umstände ist und daß es darauf ankommt, daß er weit mehr Produzent als Produkt werde“ (Schiesser 1987: 109).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 100 Tadeusz Skwara den Menschen „übermenschlich erscheinen [lässt]“ (Sperber 1987b: 99),14 ist von Grund auf falsch. Die politische Führung dagegen darf sich von der Gemein- schaft nicht verselbstständigen und man darf keine Legenden um Lebende bilden, weil diese Legenden immer ein Werkzeug in den Händen des Demagogen sind. Es gibt Fälle (z.B. Kriege), in denen die politische Führung eines Staates einige Züge der Tyrannis annehmen muss, um seine Mitbürger zu schützen. Sie dürfen sich aber niemals in einen Dauerzustand verwandeln.

3 Theorie vs. Praxis? – Sperber vs. Gurian

Im dritten Teil wird Sperbers Bild der Tyrannis mit den Reflexionen des Politolo- gen Waldemar Gurian (1902–1954) verglichen, der sich mit der Erforschung des Bolschewismus und (nach 1934) des Nationalsozialismus beschäftigte und beide Systeme als „Zwillinge“ betrachtete.15 Es wird hier nicht um jeden Preis bewie- sen, dass Sperber Gurians Werke, die vor seinem Essay veröffentlicht wurden, kannte. Es geht vielmehr darum zu veranschaulichen, dass die „theoretischen“ und „unwissenschaftlichen“ Überlegungen Sperbers der Wirklichkeit eines to- talitären Systems sehr nahe waren. Es werden sowohl Ähnlichkeiten, als auch Unterschiede im Denken Sperbers (eines ehemaligen Kommunisten) und Gurian (eines Konvertiten und gläubigen Katholiken)16 betont, die u.a. daraus resultie- ren, dass der Erstere bewusst ein allgemeines Modell schaffen wollte, während der Zweite die wichtigsten Eigenschaften des bereits existierenden, bolschewis- tischen Regimes analysierte. Wie Sperber zeigt auch Gurian, dass ein totalitäres Regime auf die Anwendung der Gewaltmethoden nicht verzichten kann.17 Er analysiert auch eingehend die Folgen dieser niemals endenden Terrorwelle: Es entsteht nämlich eine große Gruppe jener, deren Glaube an Bolschewismus nur gespielt ist:

Gewiß, die führenden Bolschewisten glauben auch heute noch an die sozialistische Gesellschaft, aber ihre Praxis hat zu einem stets stärkeren Auseinanderklaffen zwischen dem Glauben und der Wirklichkeit geführt. Die Gewalt nimmt nicht ab, sie wird immer stärker, gerade darum, weil sie planmäßig geübt wird. Die Druckmittel erzeugen eine Klasse von Strebern, die sich dem

14 H. Kohlenberger schreibt, dass „der unruhige und aufmerksame Beobachter“ Sperber „sich ein ver- nünftiges Maß Mißtrauen gegen allzu willige Gefolgschaft selbst im Dienste der nobelsten Ziele bewahrt“ (Kohlenberger 1987: 48–49). 15 Gurian analysiert u.a. eine wichtige Eigenschaft beider Totalitarismen: Die ständige Hetze gegen wirkli- che oder vermeintliche Feinde (vgl. Gurian 1936: 102), die auch von Sperber beschrieben wurde. 16 H. Arendt betont, dass der für die Beiträge Gurians typische kompromisslose Realismus eine Folge seines Katholizismus war (vgl. Arendt 1968: 261). 17 „Denn es ist unmöglich, eine Grenze des Terrors festzusetzen, wenn man ihn einmal als politische Waffe anerkannt hat“ (Gurian 1932: 194).

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herrschenden Regime durch äußere Übernahme seiner Terminologie ohne irgend ein inneres Verhältnis anschließen. (Gurian 1932: 182)

Die Folgen des Terrors sehen bei Sperber, der das allmähliche Verschwinden al- ler zwischenmenschlichen Bindungen beschreibt, viel verheerender aus. Sowohl Gurian als auch Sperber sind sich aber darüber einig, dass das sichtbarste Symp- tom der Gewaltanwendung ein Wachstum des gesellschaftlichen Konformismus ist, der sich in verschiedenen Formen manifestiert, u.a. in „spontanen“ Massen- kundgebungen zugunsten des Regimes. Der überall herrschende Terror, der allmählich zum Selbstzweck wird, kann aber die Diskrepanz zwischen den Versprechungen des Tyrannen und der Wirklichkeit nicht verbergen. Wichtig scheint in diesem Kontext eine andere Eigenschaft des Bolschewismus und wahrscheinlich jedes Totalitarismus (die in ähnlicher Form schon von Sperber beobachtet wurde). Es geht um die ständige Betonung, dass der schrecklichen Gegenwart eine bessere Zukunft folgen muss:

Es wird sich dann zeigen, daß die Utopie, die zur Rechtfertigung der Gewaltherrschaft usw. diente, einfach falsch angesetzt, ein Konstrukt war, die zu ganz andern praktischen Erfolgen führte, als sie selber infolge ihres Anspruches, dem Sinn der geschichtlichen Entwicklung not- wendig zu entsprechen, angekündigt hatte. Dann wird der Bolschewismus sich nicht mehr durch die Zukunftsperspektive rechtfertigen können, dann wird gerade das, was heute seine Stärke ausmacht, die Behauptung, die geschichtliche Entwicklung zu kennen und ihr zu helfen, sich gegen ihn wenden. (Gurian 1932: 183–184)

Gurian weist auch darauf hin, dass alle Menschen gerechte Bedürfnisse haben, die sie verwirklichen möchten. Der Bolschewismus verspricht ihnen die Erfül- lung ihrer Wünsche (ähnlich wie der Tyrann bei Sperber). Früher oder später kommt aber die Enttäuschung, weil im Bolschewismus sich alles um Politik und Wirtschaft dreht, denen sich der Mensch, der „zu freiwilliger, fester Disziplin, zu Fleiß, zum Verzichte auf individuelle Wünsche und zum Zurücktreten der eige- nen Person hinter den Forderungen der Partei“ (Gurian 1932: 186) gezwungen wird, unterordnen muss:

Man kann also sagen, daß alles dem Menschen eigene Streben nach einem sinnvollen Leben, al- les natürliche Bedürfnisse des Menschen, über seinen Alltag hinauszukommen, seiner Tätigkeit einen überpersönlichen Sinn zu geben, dem bolschewistischen Menschen durchaus möglich ist. Aber er ist nicht der ganze Mensch, sondern ein Mensch, dessen Wesen gleichsam verstümmelt, entscheidender Teile beraubt ist. (Gurian 1932: 186)

Während Sperber eine wichtige Fähigkeit jedes Tyrannen beschreibt, die Perver- tierung der Wundergläubigkeit vieler Menschen, ist bei Gurian die Verknüpfung der Politik und Religion viel inniger (obwohl beide Denker auf magische/irrati-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 102 Tadeusz Skwara onale Eigenschaften der totalitären Macht hinweisen).18 Der Bolschewismus als eine neue Religion kann keine Konkurrenz auf diesem Gebiet dulden:

Es kommt darauf an, den grundsätzlichen Charakter des Bolschewismus als eine neue Religion zu erkennen, die mit der modernen Wendung zu Politik und Wirtschaft als den Mächten, die dem Leben Sinn verleihen, Ernst macht, und diese Wendung mit ethischen Forderungen und Zukunftsversprechungen verbindet. (Gurian 1932: 191)19 Gurian betont auch den demagogischen Charakter des Bolschewismus, der (wie der künftige Tyrann bei Sperber) an die einfachsten Instinkte appelliert: „Er hat auf alles eine klare Antwort, und diese Antwort wirkt gerade, weil sie einfach und den Massen verständlich ist, weil die geheime Weltanschauung der modernen Welt entspricht und sich an die verschiedenen Lagen, Entwicklungen usw. anpassen kann“ (Gurian 1932:191–192). Wie Sperber in seiner Analyse der Tyrannis, begnügt sich Gurian nicht mit der Kritik des bolschewistischen Regimes. Er zeigt, dass das Funda- ment seiner Erfolge eine ungerechte soziale Ordnung ist, die geändert werden muss:

Es wäre ja zu dieser utopischen Heilslehre (und vor allem zu ihrer Auswirkung) nicht gekom- men, wenn sich die bestehende Ordnung bewährt hätte. Ihre Entstehung und ihre Wirksamkeit ist gerade ein Beweis dafür, daß da etwas nicht stimmte. Der Bolschewismus ist zugleich das Erzeugnis und das Gericht über die bürgerliche Gesellschaft. (Gurian 1932: 192)20

Wie Sperber prangert Gurian (zwar indirekt, aber nichtsdestotrotz sichtbar) die bestehenden Verhältnisse als für die entschiedene Mehrheit der Menschen unak- zeptabel an. Da sie eine Änderung ihrer Lebensbedingungen nicht sehen, ist für sie der Bolschewismus (oder der Tyrann in der Deutung Sperbers) die einzige Quelle der Hoffnung: „Da scheint der Bolschewismus die neue Wahrheit und die neue Religion zu sein, welche dem sinnlos gewordenen, unerträglichen Leben einen neuen Sinn verleiht (Gurian 1932: 202)“. Gurian ist sich dessen sicher, dass das Regime eines Tages enden muss. Anders als Sperber sieht er eine neue Revolution als Bezwingerin des Bolschewismus (Gurian 1932: 195). Trotz der oben betonten Unterschiede verbindet Sperber und Gurian nicht nur die Anprangerung der (nur beschriebenen oder wirklichen) Tyrannei, sondern viel mehr der Hinweis auf ihre Quelle: Die unerträgliche Existenz vieler Menschen, die von demokratischen Politikern verändert werden muss.

18 „Seine eigenen Theorien und Heilsversprechungen sind in Wirklichkeit das, was er der Religion vor- wirft: Sie sind Opium. Sie ermöglichen und rechtfertigen Anstrengungen, die bei klarer Einsicht in die Wirk- lichkeit nicht möglich wären“ (Gurian 1932: 200). 19 „Denn das Absolute der Religion, der Gott, auf den als Herrn und Schöpfer der Welt die Menschheit und der einzelne Mensch untergeordnet sind, läßt den Glauben an die Utopie, der sich selbst genügenden, sozialis- tischen Gesellschaft, nicht zu“ (Gurian 1932: 193). 20 „Man muß stets bei der Kritik des Bolschewismus die Tatsache beachten, daß er ein Produkt der bürger- lichen Gesellschaft ist und mit dem Anspruch auftritt, sie in einer für alle befriedigenden Weise zu organisieren“ (Gurian 1932: 201).

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4 Zusammenfassung

Die theoretischen Überlegungen Sperbers über die Tyrannis sind für die heuti- gen Leser aus mindestens drei Gründen interessant. Nach 1936, nach dem ersten Moskauer Schauprozess, wurde eine Reihe von verschiedenen Schriften veröf- fentlicht, die das wahre Gesicht der Sowjetunion zeigten. Obwohl sie interessante Informationen und Analysen (z.B. über die Ähnlichkeit zwischen dem III. Reich und der Sowjetunion) enthielten, wurde ihre Aufgabe durch ihr politisches Ziel definiert. Sie sollten nämlich Stalins Regime entlarven und den Mord an seinen ehemaligen Genossen anprangern. Ihre Verwicklung in die damaligen Diskus- sionen verursachte, dass sie für uns ihre Aktualität (mindestens teilweise) ver- loren. Da Sperber ein allgemeines Modell schaffen wollte, kann man mit seiner Hilfe auch die Mechanismen in den heutigen Diktaturen zu deuten versuchen.21 Gleichzeitig muss aber Folgendes betont werden: Trotz des von ihm immer wie- der unterstrichenen, allgemeinen Charakters seiner Reflexionen, stehen sie unter einem deutlichen Einfluss dessen, was in Deutschland passierte. Man spürt, dass der in dieser Schrift beschriebene Tyrann Hitler ist, z.B. wenn Sperber die Rolle des Mythos vom Feind unterstreicht (es geht wahrscheinlich um Juden) oder die Partei des künftigen Tyrannen analysiert, die er sich allmählich unterordnete. Zweitens ist diese Schrift wichtig, weil Sperber darin darauf hinweist, dass alle Diktatoren ohne ihre soziale Basis unvorstellbar wären. Er begnügt sich aber nicht mit der einfachen Feststellung dieser Tatsache, sondern zeigt, warum viele Menschen auf ihre Freiheit verzichten.22 Es geht darum, dass die entschiedene Mehrheit der Gesellschaft ihre Träume und Wünsche im gewöhnlichen Leben nicht realisieren kann. Dieses Problem lässt sich bestimmt nicht schnell und ein- fach lösen, es stellt aber ein Memento für alle Politiker dar, damit sie sich darum bemühen, eine gerechtere soziale Ordnung zu schaffen, in der sich alle Menschen entwickeln können. Dieser Teil des Essays wurde bestimmt von den Theorien Adlers beeinflusst. Das soll kein Vorwurf gegen Sperber sein, es darf uns nicht verwundern, dass er sich des Einflusses seines Mentors, dessen Theorien er ak- zeptierte, nicht erwehren konnte. Seine Abhängigkeit vom Denken Adlers lässt ihn vor allem niemals vergessen, dass unsere Gesellschaft aus Individuen besteht, die erst später eine Masse bilden. Dieser Essay ist aber auch von größter Bedeutung für die „moderne“ Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, weil Sperber zeigt, wessen (häufig sehr primitiven) Mittel

21 Werner Müller betont, dass Sperbers Aktualität vor allem in seiner ,Unnachgiebigkeit‘ liege. Der Wider- stand, den er als Schriftsteller leiste, biete eine wirkliche Chance für eine langfristige Veränderung (Müller 1987: 80). 22 Laut H.R. Schießer besaß Sperber als Pädagoge eine wichtige Eigenschaft: „Dem Mut, dem anderen – dem Kleinen wie dem Großen – in Augenhöhe zu begegnen“ (Schiesser 1987: 121).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 104 Tadeusz Skwara sich der Tyrann bedient, um die Gunst seiner Zeitgenossen zu erwerben. Man kann leider annehmen, dass viele Menschen auch heute diesen Methoden keinen erfolgreichen Widerstand leisten würden, da die für jetzige Zeit typische sog. Mediokratie die Anziehungskraft verschiedener Magier noch verstärkt.

Literatur

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Sperber, Manès (1998). In: Killy, Walther/Verhaus, Rudolf (eds.): Deutsche Biographische En- zyklopädie, Bd. 9 (Schmidt-Theyer). München 1998, 397. Spiel, Walter/Stephenson, Thomas (1987): Manès Sperber und die Individualpsychologie in den Zwanzigerjahren. In: Lunzer-Talos, Victoria (ed.): Manès Sperber. Die Beiträge des Internati- onalen Symposiums gehalten anläßlich der Verleihung des Manès Sperber-Preises 1987 in der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien, 96–108. Sternberg, Claudia (1991): Ein treuer Ketzer. Studien zu Manès Sperbers Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“. Stockholm. Strelka, Joseph (1999): Des Odysseus Nachfahren: österreichische Exilliteratur seit 1938. Basel; Tübingen.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 GERMANISTICHE WERKSTATT 8 UNIWERSYTET OPOLSKI OPOLE 2019

Izabela KURPIELA (Opole) 0 ORCID 0000-0002-8582-3836

Vom Gemütszustand der Oberschlesier deutscher Herkunft in Die Entsagung Erhard Basteks – einem literarischen Zeugnis der deutschen Minderheit in Polen

Zusammenfassung: Der Beitrag behandelt den Gemütszustand, die Seelenqualen und das Schick- sal der Oberschlesier in literarischer Perspektive der Novelle Die Entsagung von Erhard Bastek. Das kleine unbekannte Werk bildet ein wichtiges Zeugnis der ephemeren Literatur der deutschen Minderheit in Polen nach 1945, welche die Autorin auch kurz präsentiert. Die Novelle erzählt eine Liebesgeschichte aus dem Oberschlesien der Ära des Kalten Krieges. Einer Analyse werden auch die Motive der Mission und der Liebe sowie die Realisierung der Gattungsform unterzogen. Schlüsselbegriffe: deutsche Minderheit in Polen, Paria, moralische Schmerzen, das privative Mo- tiv, Mose-Mission

Stan umysłu Górnoślązaków niemieckiego pochodzenia w literackim świadectwie mniejszości niemieckiej w Polsce Erharda Bastka pt. Wyrzeczenie Streszczenie: Artykuł ujmuje stan umysłu, cierpienia moralne i los Górnoślązaków z literackiej perspektywy noweli Erharda Bastka Die Entsagung (Wyrzeczenie). Niewielki i nieznany utwór sta- nowi ważne świadectwo efemerycznej literatury mniejszości niemieckiej w Polsce po 1945 roku, którą autorka również krótko prezentuje. Utwór ukazuje historię miłosną z Górnego Śląska w epoce zimnej wojny. W artykule zostają poddane analizie także motywy misji i miłości oraz realizacja formy gatunkowej. Słowa kluczowe: mniejszość niemiecka w Polsce, parias, cierpienia moralne, motyw prywatywny, misja Mojżesza

The state of mind of the Upper Silesians of German descent in The Renunciation by Erhard Bastek – a literary testimony of the German minority in Poland Abstract: This article refers to Upper Silesians’ state of mind, their moral anguish and fate presented from the literary perspective of Erhard Bastek’s novella Die Entsagung (The Renunciation). This short and unknown work bears testimony to the ephemeral literature of the German minority in Po-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 108 Izabela Kurpiela land after 1945 which the author of this article also briefly addresses. The novella tells a love story from Upper Silesia during the Cold War. In the article are also analysed the motifs of mission and love as well as the execution of the literary genre’s characteristics. Keywords: German minority in Poland, pariah, moral anguish, privative motif, Moses’ mission

Im Jahre 1994 entsteht die Gesellschaft deutscher Autoren in Polen mit dem Sitz in Bytom, doch kann, wie Dzikowska (2006: 21) betont, von einer Literatur der deutschen Minderheit in Polen noch nicht die Rede sein. Dass es wohl vorzei- tig ist, gesteht Erhard Bastek, der Vorsitzende der Gesellschaft. Die Organisa- tion zählt anfangs 46 Mitglieder (Szewczyk 2001: 400), wobei sie mit der Zeit auf ca. 15 Mitglieder verkümmert,1 und gilt als Herausgeber der Monatsschrift Oberschlesisches Bulletin, wo literarische Texte veröffentlicht werden. Die Ge- sellschaft gibt insgesamt 70 Nummern der Zeitschrift heraus. Sie ediert auch Ge- dichtanthologien (Gedichtet in der Heimat, Unsere Gedichte, Neue Gedichte). Die Gesellschaft funktioniert bis 2004. Der 2017 verstorbene Vorsitzende hoffte, dass die deutschsprachige Literatur in Oberschlesien Fortsetzer finden wird, die eine gute Perspektive für die Kultur der Minderheit schaffen werden, obwohl er zugleich das größte Hindernis in unbefriedigenden Sprachkenntnissen, welche aus den politisch-historischen Ereignissen nach 1945 resultieren, sah.2 Erhard Bastek, Politiker, Abgeordneter, Dolmetscher, Übersetzer, Publizist und deutscher Schriftsteller in Oberschlesien ist Autor zahlreicher Gedichte mit viel- fältiger Thematik (u.a.: Die Zwischenstation, Die Zeitsubstanz, Das All, Der Frühling, Das Oderland, Mutters Gram, Der Heiland, Ode an die Erde, Insel Wollin, Keusches Gänseblümchen, Europa) sowie einiger Erzählungen und Kurz- erzählungen (Jakob, Die Entsagung, Iris, Zu früh, Frau Emmchen, Die Schweigsa- me, Annette). Bastek verfasste auch zwei Einakter: In Ulster, Der Bürger und zwei Dramen: Katrin und Walter. Die Theaterstücke bleiben bisher unveröffentlicht.3 Die Entsagung ist eine Novelle von Erhard Bastek. Die Geschichte spielt in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Oberschlesien. Die Novelle, welche eine Liebesepisode eines jungen Oberschlesiers in der Auseinandersetzung mit sei- ner deutsch-schlesischen Mission vor dem Hintergrund des eisernen Vorhangs darstellt, wurde 2001 veröffentlicht. Beim Leser wird sich sofort die Frage auf- drängen, wozu der Autor über eine Dekade nach der politischen Wende und der Anerkennung der deutschen Minderheit in Polen an den alten Groll und die ver- gangenen Klagen der deutschgesinnten Bewohner Oberschlesiens zurückdenkt. Das jahre- beziehungsweise jahrzehntelange Unbehagen dieser Gemeinschaft so-

1 Aus der Korrespondenz der Verfasserin mit Erhard Bastek. 2 Aus der Korrespondenz der Verfasserin mit Erhard Bastek. 3 Ebd.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Vom Gemütszustand der Oberschlesier deutscher Herkunft in Die Entsagung... 109 wie ihre unterdrückten, negativen Emotionen der polnischen Mehrheit gegenüber schienen schon gänzlich ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Der Autor greift der Frage vor und erläutert im Nachwort:

Die Geschichte wurde (gleich wie der Jakob) bereits vor etwa zwanzig Jahren zum ersten Mal niedergeschrieben und sie lastete lange Zeit unbequemlich und unablässig zur Verwirklichung mahnend auf dem Verfasser, so dass er sie endgültig zu Ende schreiben musste, um sich davon zu befreien. (Bastek 2001: 71)

In den 80er Jahren, als der Text entstand, spielte er die Rolle einer akuten Chro- nik, einer Krankheitsgeschichte. Um das Jahr 2000, das Jahr der Veröffentli- chung, wurde die Geschichte zum Klagelied, zur offiziellen Klage und sollte zum Gewissenswurm der nichtautochthonen Mehrheit werden. Die kathartische Funktion, also die Läuterung, welche der Autor beim Schreiben und der Leser beim Lesen erfahren, ist auch nicht zu überschätzen. Der Nachklang des alten Verzweiflungsschreis sowie der Ausbruch der jahrelang gedämpften Wut werden hier im Vergleich zu Jakob stilistisch gemildert. Aggressive Taten, welche der ständig nach der Heimat suchende Protagonist, der Oberschlesier Jakob, verübte, wurden in Entsagung durch kognitiv-reflexive Passagen ersetzt. Die Handlung wurde reduziert, zugunsten der deskriptiven und explanatorischen Aussagen, in denen ausgesuchte Adjektive dominieren, und welche den Gemütszustand der Oberschlesier deutscher Herkunft beschreiben. Ihr Gemüt sowie ihre Identität lassen sich aus der psychologischen Perspektive mit dem Schwerpunkt auf dem selbstlosen Handeln zugunsten der Heimatregion und aus der soziologischen Sicht mit dem Schwerpunkt auf der Opposition ,wir und sie‘ analysieren.4 Thomas, ein junger Erwachsener und der Protagonist der Novelle verliebt sich unverhofft in ein Mädchen, mit dem er seit einigen Monaten in die gleiche Klasse geht. Er ist der Liebe plötzlich und an einem herrlichen Maimorgen und zwar im Traum erlegen. In der wirklichkeitsnahen Traumvorstellung hat Thomas das Mädchen geküsst. Die Liebe trifft den Zwanzigjährigen im unglücklichsten Mo- ment seines Lebens. Das Unglück besteht hier in den misslichen Umständen, die für den Protagonisten ein mehrstufiges Hindernis bilden, und zwar sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene seiner punktuellen Existenz: Das Geschehen spielt – wir betonen es nochmals – in den 60er Jahren des 20. Jahrhun- derts in Oberschlesien; hier fühlt sich Thomas als Osteuropäer und Oberschle- sier doppelt unterdrückt und gemobbt. Seine Grundrechte sowie Grundfreiheiten werden von den kommunistischen Behörden verletzt. Wegen des klaren Bekennt- nisses zu seiner oberschlesischen und deutschen Identität erfährt er Benachteili- gung, Marginalisierung und Ausgrenzung vonseiten der Regierenden und der na-

4 Zu Analyseperspektiven der lokalen und regionalen Identität siehe: Szczepański (2006: 22–26).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 110 Izabela Kurpiela tionalen Mehrheit. Das ungewollte Liebesgefühl wird als Störfaktor empfangen. Es kann den Protagonisten davon ablenken, die von ihm vermissten Rechte und Freiheiten zu erkämpfen, überdies seinen Platz in der polnischen Gesellschaft zu finden und zu behaupten. Desweiteren würde die neue berauschende Empfindung seine persönliche deutsch-schlesische ‚Mose-Mission‘ behindern. Der Autor cha- rakterisiert den historisch-politischen Hintergrund, in den er das Schicksal des Protagonisten verstrickt, im Nachwort, wie folgt:

In der ,grossen Welt‘ herrscht die Ära des kalten Krieges und der Eiserne Vorhang hängt schwer über der Welt, Europa ist ideologisch, politisch und wirtschaftlich geteilt, die Berliner Mauer steht seit einigen Jahren und trennt ein Volk in zwei Staaten, die Tschechoslowakei wird von den Staaten des Warschauer Vertrages überfallen, der Terror der totalitären Regime gegen die eige- nen Bevölkerungen wird tagtäglich ausgeübt, die nationalen Minderheiten werden administrativ systematisch ausgerottet usw. usw. Thomas, der Protagonist dieser Geschichte, lebt in dieser Zeit und er erlebt sie auf eine dramatisch rebellische Art und Weise. (Bastek 2001: 71)

Der Liebesrausch reißt Thomas hingegen mit, verändert ihn: Er gerät in eine bis- her unbekannte, erwartungsvolle Stimmung, die ihm zugleich Momente der tie- fen Ruhe und Ausgeglichenheit gewährt: „Es war ein profundes Schweigen sei- ner Seele, das aber voller Hoffnungen war“ (Bastek 2001: 7). Die Liebe schenkt ihm paradoxerweise eine klare Einsicht in seine Existenz. Er bemerkt, dass sein Leben von zwei konkurrierenden Leidenschaften angetrieben wird. Thomas er- kennt auch, dass seine zwei Lieben eine Symbiose eingehen sollten. Um keinen Verrat an seiner alten Liebe zu üben, gebietet er sich, die Beziehung zwischen ihm und seiner Mitschülerin rein platonisch zu halten. Dies war der erste Schritt zur Entsagung, welche der Titel benennt. Wer oder was ist nun das Objekt Thomas’ erster Leidenschaft? Wen oder was liebt er über alles? Was soll der Leser unter „dem Höchsten und Heiligsten, das er in seinem Leben erkannte und bekannte“ (Bastek 2001: 7) verstehen? Der Prota- gonist ist nämlich von einer Idee besessen. Seit Langem empfindet er ein inneres Verlangen, seine Landsleute, Oberschlesier, die, so wie er selbst, jahrelang in Rechtlosigkeit und in Knechtschaft gehalten worden seien, zu verteidigen:

Er litt nämlich seit Jahren an einem seelischen, kaum zu unterdrückenden, Schmerz von be- sonderer Art, geboren aus seinem innigsten Wunsch und Begehren, für die Idee unterdrückter, entrechteter, missachteter und gedemütigter Menschen zu leben und zu kämpfen, die das Blut von seinem Blut und das Fleisch von seinem Fleisch waren! (Bastek 2001: 7–8)

Betonenswert ist hier die Wahl der Epitheta, mit denen er die deutschgesinnten Oberschlesier charakterisiert: Sie seien unterdrückt, entrechtet, missachtet und gedemütigt. Die Adjektive beschreiben indirekt den Gemütszustand der deutschen Minderheit, sie deuten ihn an. Die qualifizierenden Adjektive, hier Partizipien, die passivische, privative und negierende Bedeutung haben, weisen hingegen auf

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Vom Gemütszustand der Oberschlesier deutscher Herkunft in Die Entsagung... 111 den Anteil der Dritten an der Verursachung der negativen Lebensverhältnisse der Minderheit hin. Das Augenmerk der Leser sollte in der zitierten Passage insbesondere dem Par- tizip ,entrechtet‘ gelten. Das Ungerechtigkeitsgefühl, das im Protagonisten auf- keimte und ihn mit den zwei minderheitlichen Generationen, der Eltern- und der Kindergeneration verband, scheint die quälendste Sorge zu sein, unter allen bit- teren, negativen, unkomfortablen Erfahrungen, die er in seiner oberschlesischen Heimat sammelte. Dieses Gefühl wurde deutlich auf der lexikalischen Ebene des Textes markiert: Das zitierte Partizip Perfekt befindet sich auf Seite 7; auf Seite 8 sind die Substantive ,Unrecht‘ und ,Rechtlosigkeit‘, auf Seite 9 das Partizip Präsens ,entrechtend‘ und auf Seite 10 die Redensart ,ein himmelschreiendes Un- recht‘ zu finden. Das von Thomas empfundene Ungerechtigkeitsgefühl, welches an zahlreichen Stellen in Ärger und Wut mündet, wird jedoch an keiner Stelle durch konkrete Erlebnisse und Erinnerungen des Protagonisten, beziehungsweise durch seine Normalitätsvorstellungen verbildlicht. Die Hauptfigur der Entsagung wirft ihren Feinden außerdem kolonisatorische Methoden vor. Dazu gehören: Unterdrückung, Missachtung, Demütigung, As- similationszwang, Spott, Tyrannei, Unterjochung, erdrückende Macht, welche von der Mehrheit gegenüber der einheimischen Minderheit ausgeübt werden. Die aufgezählten Bezeichnungen stammen aus dem analysierten Text und bilden seine lexikalische Staffage. Auch sie bleiben auf der ideellen Ebene als psycho- logischer Hintergrund für eine Liebesgeschichte, ohne mit Beispielen aus dem täglichen Leben in Oberschlesien versehen worden zu sein. Bastek hebt hinge- gen hervor, dass die Assimilationspolitik des Staates, gepaart mit der kulturellen Vernichtungsstrategie, größtenteils zur Exklusion der Einheimischen führt: Auf- grund des Andersseins werden sie nicht unbedingt zu Untertanen, aber sicher zu Vertretern einer unteren Kastengruppe, zu Ausgestoßenen und Außenseitern, zu Parias. Diejenigen, die sich nicht entwurzeln lassen, und der Spezifizität ihrer Volksgruppe, den Imponderabilien ihrer Ethnie, ihren Traditionen treu bleiben wollen, werden zum Leben am Rande der Gesellschaft verurteilt. Im Stil der Hei- matliteratur, der hier einigermaßen revanchistisch getönt wird, bringt der Autor die stigmatisierende Erfahrung zum Ausdruck:

Thomas gedachte in manch schwerer Stunde seines Schicksals mit Dank und Rührung der Worte seines Vaters, womit ihn dieser einst in seiner Kindheit zur Treue an Väterlich-Ererbtem er- mahnte. Diese Worte erfüllten Thomas mit Stolz. In dieser verkäuflichen Welt war die Treue eine göttliche Gabe, und Thomas hatte diese Worte nie vergessen. Vater wusste, warum er es sagte, denn auch er hatte sich in seiner Kindheit in der gleichen Lage eines Paria befunden, wie Tho- mas heute. Er sah seinen Sohn dasselbe Schicksal erleben, wie er selber es einmal hatte ertragen müssen. [...] Und wenn die ermahnenden Worte des Vaters keine Wirkung auf ihn gehabt hätten, so wäre ganz der teuflische Wille der bösen Welt geschehen. Es sind deshalb keine leeren Worte, noch ist es übertrieben zu sagen, dass Thomas’ eingeborene Identität, dem Phönix gleich, aus der

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Asche wiedererstanden war. Denn die ihn umschlingende Welt war stets darauf bedacht, dass er als solcher, wie er auf die Welt kam, verschwinde, vergehe, verderbe! (Bastek 2001: 10–11)

Das zitierte Fragment samt dem mythologischen Phönix-Motiv stellt indirekt und metaphorisch die ethnische beziehungsweise kulturelle Landschaft Oberschlesiens dar. Der Erzähler teilt im ersten Schritt die Bewohner in polnische Angekom- mene, welche die feindliche Welt repräsentieren, und in Einheimische ein; im zweiten Schritt werden die Einheimischen in deutschsprachige ‚Väterlich-Treue‘ und in verkäufliche Verräter des deutsch-schlesischen Erbes eingeteilt, wobei die zweite Gruppe zu überwiegen scheint. Die oberschlesische Kulturlandschaft ist bei Bastek stark polarisiert, entweder polnisch oder deutsch, was im Widerspruch sowohl zum damaligen als auch zum derzeitigen Stand der historischen und so- ziologischen Forschung steht. Bastek bildet indessen eine andere Wahrheit ab – und zwar die subjektiven aber authentischen Vorstellungen der Angehörigen der deutschen Minderheit. Über die Effekte der Assimilationspolitik der Behörden und deren Einfluss auf die Zukunft der Minderheit berichtet ein anderes Frag- ment, das zugleich das Schicksal und die damalige existentielle Situation der Oberschlesier sowie die Absicht der in den 60ern Regierenden der oberschlesi- schen Gesellschaft gegenüber schildert:

Er sah keine freie, identitätsgemäße und würdige Zukunft weder für sich, noch für seine etwai- gen Kinder – sollte er sich einmal verehelichen. Er befürchtete zu Recht, dass die ihn und seines- gleichen entrechtende Umwelt seine Nachkommen ihrer angeborenen Identität berauben, und sie gar zu Feinden seiner selbst freventlich ,umerziehen‘ würde. Derartige Beispiele schöpfte er aus seiner allernächsten Nähe in nicht geringer, aber sehr beunruhigender und betrübender Zahl. Denn waren es nicht selbst seine leiblichen Brüder, an denen der Erfolg der feindlichen Welt – in dem besagten Sinn – in erschreckender Weise bereits sichtbar zu werden begann?! Waren diese schon nicht ein gefährliches Stück von dem Väterlich-Treuen abgerückt?! Und neigten sie nicht in ihren Ansichten zu denen der Ankömmlinge?! Waren sie nicht bereits schwach und emp- fänglich geworden für die, ihren Grundstock an Väterlichem und Mütterlichem zersetzenden, Einflüsterungen der fremden Welt?! Bastek( 2001: 9)

Thomas verbindet die Treue zu Väterlichem mit der Paria-Position und erkennt ihre gegenseitige Abhängigkeit. Das Problem der Ausgangsposition bleibt jedoch im Werk unentschieden. Wurden der Protagonist und seinesgleichen zu Parias de- gradiert, weil sie orthodox auf ihre Tradition angewiesen waren, oder wandten sie sich der Tradition zu, nachdem sie infolge der mangelnden Chancengleichheit der Unterkaste zugeordnet worden waren? Die Frage wird in Entsagung nicht beant- wortet. Sie setzt aber das Werk Erhard Basteks in den aktuellen Kontext der Pro- blematik der heterogenen, multikulturellen Gesellschaft in den westeuropäischen Ländern. Mehrere Beispiele der diese Länder bewohnenden muslimischen Ge- meinschaften sowie der einzelnen Migranten beweisen, dass das Leben am Ran- de der Gesellschaft zur Selbstghettoisierung und zur weltfeindlichen Radikalisie-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Vom Gemütszustand der Oberschlesier deutscher Herkunft in Die Entsagung... 113 rung führt. Durch die Zuwendung zur Tradition unter ihresgleichen gewinnen die Menschen ihren Lebenssinn, ihre Identität, Anerkennung und Menschenwürde wieder. Diese Wahrnehmungen berechtigen hingegen nicht zu Vereinfachungen, zu den Formulierungen in puncto Erfolg der Minderheit in der mehrheitlichen Gesellschaft, die wie folgt lauten könnten: Ablehnung des Tradierten garantiert geradewegs den Erfolg; Treue zu den tradierten Werten und der Kultur verursa- chen dagegen unvermeidlich die gesellschaftliche Exklusion. Die Wirklichkeit der Koexistenz zweier oder mehrerer Kulturen ist viel komplexer. Außerdem las- sen sich die ethnischen Gruppen nicht immer als ein Kollektiv wahrnehmen. Da- her beschreibt Thomas keine generelle Ausgangsposition der Oberschlesier: ihre allgemeinen Einstellungen, Verhaltensweisen, etwa in Bezug auf die polnischen Behörden kommen nicht zur Sprache. Aus diesem Grunde bezeichnet er auch die Assimilierten nicht als Parvenüs, denn das würde einen, wenn auch verzweifel- ten, Aufstieg bedeuten, welchen Thomas völlig anders einschätzt. Der dritte Vorwurf, den Thomas neben der Ungerechtigkeit und der Nichtachtung gegen den Feind vorbringt, bezieht sich auf Versuche der Wegnahme der Identi- tät. In langen zahlreichen Passagen in erlebter Rede spricht Thomas einfach von der Beraubung der Identität. Um seine eigene kulturelle und regionale Identität sowie die seiner Mitmenschen zu verteidigen, denkt er sich eine Mission aus, für welche er Mose zum Schutzpatron wählt. Wie der Prophet beabsichtigt er, auf seinem kulturellen Erbe zu beharren und sich zu opfern, um seine Mitmenschen aus der kulturellen Sklaverei der Mehrheit herauszuführen. Der Autor drückt die Absicht in einer Passage aus, die mit einem Liebesgeständnis Thomas’ an seine Landsleute beginnt:

Er war sich darüber im klaren, dass eine Hingabe an ein geliebtes Wesen seine Kräfte nur unter- graben und seine Bereitschaft schwächen würde, für seine unterdrückten Brüder und Schwestern einzuspringen, die er liebte, und die er in ihrem Elend der Rechtlosigkeit so leiden sah, wie sich selbst, ja, ihr Leid schien ihm unerträglicher zu sein als sein eigenes. Wahrlich, er liebte sie so, wie Mose einst für seine Hebräer, als deren Bruder er sich stets gefühlt – und die ägyptische Umgebung hatte ihm seine treue väterliche Gesinnung nicht geraubt! –, immerdar ein opferbe- reites Herz hatte, und ohne auch nur einen Augenblick zu wanken das Äußerste getan, und um ihretwillen in die Verbannung gegangen war. Darum durfte Thomas weder an sein eigenes Glück denken, noch es zu gewinnen suchen – solange jene Armen nicht frei und glücklich waren. (Bastek 2001: 8–9)

Die Worte verlieren vielleicht an Exaltation oder, andersherum, verliert die Exal- tation an Künstlichkeit und gewinnt an Authentizität, wenn man sie mit Worten René Schickeles, eines anderen Vertreters einer ethnischen beziehungsweise na- tionalen Minderheit und des Bewohners einer anderen Grenzlandschaft als Kom- mentar begleitet. Schickele, ein perfekt zweisprachiger Elsässer, mal deutscher, mal französischer Bürger, deutscher Schriftsteller und Mitglied der Preußischen

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Akademie der Künste wurde nie müde von ,seinen Elsässern‘ zu erzählen und ihnen Liebe zu erklären. Er schrieb beispielsweise Folgendes:

Ich liebe sie zärtlich, meine Elsässer, von denen jede Generation mit blutigen Köpfen von ei- ner fremden Walstatt heimkehrt, und die ihre Toten auf allen Schlachtfeldern Frankreichs und Deutschlands liegen haben. Sooft ich in der Welt den Klang ihrer Sprache höre, fahre ich auf, als ob mich jemand beim Namen riefe. (Schickele 1959: 590)

Schickele, großer Befürworter einer europäischen Gemeinschaft in den 20er und 30er Jahren des 20. Jh. engagierte sich unter anderem in seinen literarischen Wer- ken für seine Landsleute. Seine europäisch-elsässische Mission zielte darauf ab, die Elsässer vom täglichen nationalen Plebiszit, von den Belehrungen der Eliten und von dem Indianerreservat-Image zu befreien. Was haben Erhard Bastek mit seinen Werken über Oberschlesien und sein Alter Ego Thomas mit seiner schlesi- schen Mose-Mission vor? Das Zurückrufen eines der Schlüsselwörter der Novelle – des Paria und seiner Opposition – des Parvenüs kann uns der Antwort näher bringen. Die Begriffe finden in den Schriften des französischen anarchistischen Journalisten Bernard Lazare zusammen, wo sie polarisiert werden, um typische Verhaltensmuster der Juden nach der Emanzipation zu beschreiben. Sie werden danach von Hannah Arendt übernommen. Arendt reaktualisiert die Kategorien und findet für sie Anwendung bei der Analyse der Verhaltensweisen anderer be- nachteiligter Gruppen „solange es diffamierte Völker oder Klassen gibt“ (Heuer/ Heiter/Rosenmüller 2011: 304). Laut Hannah Arendt „wollte [Bernard Lazare] den jüdischen Paria in einen politischen Kampf gegen den jüdischen Parvenu führen, schon um ihn davor zu schützen, das Parvenuschicksal, das nur in den Untergang führen konnte, zu teilen“ (Christophersen 2002: 129). Denn die Par- venüs, die einen ökonomischen oder politischen Aufstieg erleben, bleiben so oder so gesellschaftliche Parias. Der Paria nimmt hingegen die Haltung eines stol- zen Rebellen ein, welche mehr Freiheit verspricht (Heuer/Heiter/Rosenmüller 2011: 303–304). Der Rebell leugnet seine Herkunft nicht und bleibt seiner Identi- tät treu, die für ihn einen Wert bildet, so dass er seine Authentizität und Integrität bewahrt. Während der Parvenu seine Wurzeln zu tilgen, zu verstecken, zu verges- sen sucht, gewährleistet ihm die soziale Position, die er anstrebt, keine egalitäre Behandlung innerhalb der statushöheren Gruppe. So existiert er am Rande dieser Gemeinschaft. Auf der einen Seite ist der Parvenu wie ein Adoptivkind unsicher, ob seine sozialen Beziehungen wahrhaft sind; er lebt in einem Zustand perma- nenter Anspannung, indem er unaufhörlich beweisen muss, dass er den Aufstieg verdient hat. Auf der anderen Seite bezahlt er sein Vorwärtskommen mit gestörter Identität. Thomas ist bereit, die Menschen, denen er dienen will, vor dem Dazwi- schenleben mit Adoptivkind-Syndrom zu schützen.

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Der Protagonist fühlt sich seiner Mission gewachsen. Diesen Zustand der Selbst- sicherheit erreicht er dank seiner ungestörten Identität, die er stärkt, indem er in erster Linie die deutsche Sprache pflegt. Die fehlende Kultivierung der Sprache ist ein von Kritikern und Gegnern der deutschen Minderheit in Polen häufig vor- gebrachtes Argument. Die Minderheitenvertreter führen Gegenargumente an: von der restriktiven, oppressiven Assimilationspolitik, über soziale und gesellschaftli- che Beschränkungen, bis hin zum Infragestellen der nation- und identitätsbilden- den Funktion der Sprache, wie es Alfred Bartylla-Blanke ausdrückt, „daß Zunge und (National-) Bewußtsein ein wenig variieren können. Schließlich ist auch der Pottwal – trotz allem Anschein – doch kein Fisch“ (Bartylla-Blanke 2004: 2). Thomas, das literarische Alter Ego des Autors, des Oberschlesiers, der Anfang der 70er Jahre Germanistik studierte, handelt durchaus anders. Er will Anerken- nung nicht durch Leiden, sondern durch Handeln erreichen. Er beabsichtigt, die deutsche Sprache, „die Sprache seiner Eltern“ (Bastek 2001: 11) zu beherrschen, und trotz aller Hindernisse gelingt es ihm:

Erst in seinem Jünglingsalter, als sein Geist erwacht war, durfte er sie heimlich erlernen. Das wenige von Zuhause Mitgebrachte – notwendig begrifflich beschränkt – reichte nicht aus, um seine Gedanken frei und vorbehaltlos zu formulieren und sie anderen zu vermitteln. Er aber hatte es geschafft – ganz allein, ohne Lehrer und Schule, aus eigener Willenskraft, es war eine Sisyphusarbeit, sich so völlig auf eine andere Sprache umzustellen, und nun nur in ihr zu denken und zu fühlen. Mit dem Wörterbuch, Füller und Heft in der Hand las er dann in seiner Mutter- sprache die verschiedensten Bücher, die er auf den Flohmärkten mehrerer Städte seiner Heimat erworben, und rang dann Schritt für Schritt um die Sprache, bis er schließlich ihrer mächtig wurde. (Bastek 2001: 11)

Die neue Sprache bringt ihm Glück; mit ihr entdeckt er die Welt aufs Neue. Er bevorzugt Dichter aus der Zeit der Romantik und der Befreiungskriege. Die Freiheits-, Befreiungs-, Widerstandsmotive prägen den Protagonisten und er- muntern ihn zum Heldentum, zum Kampf um Legitimierung: „Er fühlte dann die erhabenen, heiligen Inhalte dieser Gedichte mit seinem ganzen Wesen mit. Sie nahmen ihn vollkommen in Besitz und sie wiesen ihm befehlend den Weg, welchen er in seinem Leben gehen sollte, ein Weg, der nur ein tragischer sein konnte“ (Bastek 2001: 16). Wer vertritt jene Welt? Wer und wie sind Thomas’ Feinde? Die Antwort, welche die Novelle beinhaltet, ist schlicht: Es sind Ankömmlinge, die zur feindlichen polnischen Mehrheit in Oberschlesien geworden sind. Sie enthalten der Minder- heit ihre Rechte und Freiheiten vor, schneiden ihr die Ehre ab, was die privativen und negierenden Vorsilben in den zahlreichen Attributen betonen, mit welchen die Vertreter der Minderheit beschrieben werden. Thomas pflegt das häufigste und zum Autostereotyp gewordene Argument der deutschgesinnten Oberschle- sier vorzubringen, dass die Minderheit der Muttersprache beraubt wird: „Jene

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Welt verbot ihm selbst die Sprache seiner Eltern zu sprechen und sie zu lernen“ (Bastek 2001: 11). Das Entziehen ist auch in der Charakteristik der Gegner prä- sent, auch sie werden anhand von Adjektiven mit privativ-negierenden Vor- und Nachsilben dargestellt: Sie sind ,unmenschlich‘, ,ehrlos‘ und ihre Welt ,antihu- man‘. erscheint dem Protagonisten als ein Eroberer mit totalitären, homogenisierenden Tendenzen: „Diese Welt hatte ihn aus der Existenz gestri- chen, und zwar mit dem Tag an, wo sie in seine ureigenste Welt eindrang“ (Bas- tek 2001: 11). Thomas ist desillusioniert; er erfährt, dass die Institution, in der er nach Beruhigung, Trost und Hilfe suchte, nämlich die katholische Kirche, dem feindlichen Lager angehört:

An diesem Tag der beendeten Wanderung, wie müde und erschöpft er auch war, begab er sich noch in die Kirche. Doch er hätte es lieber nicht tun sollen, da der predigende Pfarrer Worte sprach, die einem Geistlichen nicht ziemten! Der Inhalt seiner Worte war das sprichwörtliche Wasser auf die Mühle derjenigen, die Thomas und seinesgleichen seit Jahrzehnten entrechteten – mit all den vielfachen Konsequenzen dieses Vorgehens. Zudem redete der Pfarrer zu Men- schen, und das wusste er genau!, die einer anderen Identität waren als er. Dies war empörend, enttäuschend und gar verräterisch angesichts der hohen Ideale der Wahrheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe, die die Kirche amtswegen und gottgegeben zu predigen hatte. Ein schwarzes Schaf im Priesterkleid sei jener, urteilte Thomas über ihn. [...] Im Vorhof der Kirche konnte er hören, wie ein älterer Herr, der gerade aus der Kirche herausgekommen war, sich darüber be- klagte, dass er nicht in seiner Muttersprache hatte beichten können, weil der Pfarrer die Sprache nicht verstehe. Wie sollte er jetzt die heilige Kommunion empfangen ohne Beichte?!, fragte er. (Bastek 2001: 42–43)

Das privative Motiv, welches die Novelle auf der inhaltlichen Ebene kennzeich- net und mittels der bewusst gewählten lexikalisch-morphologischen Einheiten realisiert wird, thematisiert Entzug beziehungsweise Entwendung mehrerer Werte und erreicht seinen Höhepunkt in der vorübergehenden Selbstentfremdung des Protagonisten, in der Beraubung seines Ich, mit den Worten des Erzählers: der „Zersplitterung seines Ichs“ (Bastek 2001: 12). Das Werk Erhard Basteks ist eine formal geschickt komponierte, korrekt straff gebaute Novelle, die sich auf das zentrale Motiv der Liebe zwischen dem Pro- tagonisten und einem Mädchen konzentriert. Parallel zum Hauptmotiv verläuft als Kontrapunkt Thomas’ Liebe zur Heimat und zu seinen Landsleuten. Aus die- ser Konkurrenz erwächst der zentrale Konflikt. Das Liebesmotiv variiert in der Novelle: einmal verliebt sich in Thomas eine andere Klassenkameradin und das Gefühl wird nicht erwidert; ein anderes Mal muss der Protagonist eine Nachprü- fung ablegen, weil ein Lehrer, in Thomas’ Mädchen verliebt, ihn als Nebenbuhler behandelt. Die unreife Liebe spielt sich für die beiden jungen Geliebten sinusför- mig ab. Sie versuchen die Aufmerksamkeit abwechselnd auf sich zu lenken und gleich darauf ignorieren sie einander aus Stolz und Überheblichkeit. Weder er noch sie entschied sich, Liebe zu gestehen. Eines Tages ist es Thomas unerträg-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Vom Gemütszustand der Oberschlesier deutscher Herkunft in Die Entsagung... 117 lich geworden, in dem Anspannungszustand weiter zu verharren. So schreibt er einen Brief an sie. Der Brief wird hier zum Symbolhaften, das als formales Attri- but der Novelle gilt. In dem Brief, der ein Liebesgeständnis darstellte, erwähnte Thomas eine ihm bevorstehende Reise in die BRD für immer. Sein Brief trug das Zeichen eines Abschiednehmens und er erwartete eine schnelle Antwort, die aber nicht kam. Die fehlende Antwort führt direkt zum Handlungshöhepunkt und zur sofortigen Konfliktlösung. Er war entschlossen, den Brief zurückzufordern. So begab er sich in die Ortschaft des Mädchens. Die Mutter ließ ihn, einen vollkom- men fremden Mann, in die Wohnung. Die Tochter war abwesend. Von der Mutter erfuhr er, dass ihre Tochter den Brief gelesen hatte. Er wünschte sich ihn zurück und dies geschah. Plötzlich fasste er aber Verdacht, die Mutter des Mädchens müsse den Brief gelesen haben und „den ganzen wehleidig-lächerlichen Inhalt desselben kennen“ (Bastek 2001: 60). Er fühlte sich entlarvt und verspottet. Völ- lig unvermittelt ging er mit dem Brief zum Küchenofen und warf ihn ins Feuer. Das Ende der Novelle führt klassisch zum Wechsel der Positionen. Während der Protagonist am Anfang nach der Liebe sucht, entsagt er am Ende dem Gefühl, das mit der Zeit so viele Marter verursacht. Dies änderte eine zufällige Begegnung mit der Mutter des Mädchens nicht. In Bezug auf den pyramidenförmigen Auf- bau der Novelle gilt das Treffen als ein retardierender Moment. Obwohl Thomas den Worten der Mutter das für ihn Unglaubliche entnahm, dass die Tochter ein bedeutenderes Gefühl zu ihm gehegt haben muss, gab er seinen Standpunkt nicht auf. Der Erzähler pointiert die Liebesgeschichte, wie folgt: „Jetzt aber war es schon zu spät. Die Liebesblume war verwelkt und geknickt“ (Bastek 2001: 70). Die Liebesentsagung wurde zur romantischen Heldentat der Hauptfigur. Das Werk Basteks ist nicht nur nach dem klassischen Vorbild einer Novelle struk- turiert. Die Struktur wird vom im Titel angedeuteten Konzept beeinflusst. Der Protagonist entsagt der körperlichen Liebe, dem Fleisch, der weltlichen Lebens- freude, dem Biologischen, dem Materiellen. Das Konzept des Autors polarisiert die dargestellte Welt auf der ideellen Ebene und erzwingt, dass die Hauptfiguren unterschiedlich konstruiert werden. Thomas, die einzige Figur, welche in der No- velle einen Namen trägt, ist symbolisch entfleischt. Der Leser kennt seine Ideen- und Wertewelt, aber weiß nicht, wie er aussieht. Thomas repräsentiert den Geist. Das Mädchen steht für das Fleisch und für das Irdische. Die junge Frau wird mit keinem Vornamen versehen; ihr Äußeres, ihr Körperbau, ihr Benehmen werden hingegen geschildert. So kämpft der einsame Ritter Thomas, „fast einem Über- menschen gleich: denn das, was alle Menschen auf unsichtbare, aber zwingende Weise band, bemühte er sich auszurotten“ (Bastek 2001: 17), und er kämpft nicht nur gegen die von ihm als feindlich empfundene ethnische Mehrheit, son- dern auch gegen die Begehrlichkeit des Fleisches, welche das Mädchen, die an- dere Mitschülerin und der Geschichtslehrer vertreten, gegen den Pragmatismus

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 118 Izabela Kurpiela der Mutter des Mädchens sowie gegen die ,schwarzen Schafe im Priesterkleid‘, welche sich instrumentalisieren ließen. Mit dem Konzept der Entsagung realisiert Bastek das klassische romantische Motiv der Selbstaufopferung eines hervorra- genden Individuums zum Wohl der Gesamtheit. Dabei darf aber nicht verges- sen werden, dass eine solche Einstellung sich hier mit einem außergewöhnlichen Hochmut verbindet. Erhard Basteks Novelle Die Entsagung ist eine gelegentlich naive aber insgesamt anregende Liebesgeschichte. Zahlreiche beschreibende und an Wahrnehmungen des Protagonisten gebundene Passagen sowie die in erlebter Rede wiedergegebe- nen Gedanken der Hauptfigur schildern in etwas exaltiertem Stil und vereinzelt ressentimentvollem, revanchistischem Ton der Heimatliteratur das Gemüt der oberschlesischen deutschen Minderheit aus der Zeit vor 1989. Die Relevanz der Werke Erhard Basteks, eines prominenten Vertreters der deutschen Minderheit in Polen liegt aber vor allem im Versuch der Minderheit, auf dem literarischen Markt als Subjekt und nicht als das zu thematisierende Objekt zu erscheinen.

Literatur

Bartylla-Blanke, Alfred (2004): Wasserpolak 2004 oder Ein Drama mehr. Eine Tragikomödie. Lublin; Düsseldorf. Bastek, Erhard (2001): Die Entsagung. Bytom. Christophersen, Claudia (2002): „... es ist mit dem Leben etwas gemeint“: Hannah Arendt über Rahel Varnhagen. Sulzbach. Dzikowska, Elżbieta (2006): Polnische Migranten in Deutschland, deutsche Minderheit in Polen – zwischen den Sprachen und Kulturen. In: Germanica. Voix étrangères en langue allemande, Nr. 38, 11–24. Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (eds.) (2011): Arendt-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar. Schickele, René (1959): Die Grenze. In: Werke in drei Bänden, Bd. 3, Hrsg. v. Hermann Kesten u. M. v. Anna Schickele. Köln; Berlin, 589–701. Szczepański, Marek S. (2006): Od identyfikacji do tożsamości. Dynamika śląskiej tożsamości – prolegomena [Von der Identifikation bis hin zur Identität. Dynamik der schlesischen- Identi tät – Prolegomenon]. In: Janeczek, Janusz/Szczepański, Marek S. (eds.): Dynamika śląskiej tożsamości [Dynamik der schlesischen Identität]. Katowice 19–27. Szewczyk, Grażyna Barbara (2001): Die literarische Thematik in den gegenwärtigen deutschspra- chigen Zeitschriften Oberschlesiens. In: Papiór, Jan/Rowińska-Januszewska, Barbara (eds.): Polnisch-deutsche Wechselbeziehungen im zweiten Millennium. Teil I: Zur polnisch-deutschen Kulturkommunikation in der Geschichte – Materialien, Bydgoszcz, 397–406.

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Tobiasz JANIKOWSKI (Kraków) ORCID 0000-0002-3374-8571

Die stereotype Darstellung des deutschen Landlebens im Roman Niemandes Knecht von Berta Nösekabel

Zusammenfassung: Der 1932, kurz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, ge- schriebene Roman Niemandes Knecht von Berta Nösekabel erscheint aus der Perspektive des heutigen Rezipienten als ein Beispiel der Heimatliteratur, die ein breites und vieldimensionales Reservoire von stereotypen Darstellungen des deutschen Landlebens enthält. Eine besondere Rolle spielt dabei die für die Autorin signifikante Kreation der äußeren Attribute und täglichen Rituale der Romanfiguren, was vor dem Hintergrund der sozial-politischen Lage am Anfang des 20. Jh. erfolgt. Für die im Roman präsenten Narrationsstrategien ist zugleich die Hervorhebung und Akzentuierung der stereotyp dargestellten geistigen Attribute der Protagonisten, solcher wie Charakterstärke, Arbeitsamkeit oder die breit verstandene Unabhängigkeit und Freiheitsliebe von Bedeutung. Schlüsselbegriffe: Berta Nösekabel, Regionalliteratur, Stereotype, narrative Strategien, provin- zielles Deutschland

Stereotypowe przedstawienie niemieckiego życia wiejskiego w powieści Niemandes Knecht Berty Nösekabel Streszczenie: Napisana w roku 1932, na krótko przed dojściem narodowych socjalistów do wła- dzy, powieść Berty Nösekabel Niemandes Knecht jawi się z perspektywy dzisiejszego odbiorcy jako przykład literatury regionalnej, będącej wielopłaszczyznowym rezerwuarem stereotypowych przedstawień niemieckiego życia wiejskiego. Rolę szczególną odgrywa przy tym z jednej strony charakterystyczna dla stylu pisarskiego autorki kreacja wyglądu zewnętrznego i codziennych ry- tuałów bohaterów, osadzonych w realiach społeczno-politycznych pierwszej połowy XX wieku. Z drugiej strony znaczące dla strategii narracyjnych obecnych w powieści jest silne wyodrębnie- nie i wyakcentowanie stereotypowo nakreślonych przymiotów duchowych bohaterów, takich jak siła charakteru, pracowitość, czy umiłowanie wolności i szeroko rozumianej niezależności. Słowa kluczowe: Berta Nösekabel, literatura regionalna, stereotypy, strategie narracyjne, pro- wincjonalne Niemcy

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Stereotypical representation of German rural life in the novel Nobody’s servant by Berta Nösekabel Abstract: Written in 1932, which was soon before the National Socialist German Workers’ Party came into power, Berta Nösekabel’s ‘Niemandes Knecht’ (‘Nobody’s servant’) appears from the modern reader’s perspective as an example of regional literature, that is like a multifaceted reser- voir of stereotypical portraits of provincial Germany. What plays a special role here is, on the one hand writing style, so characteristic to the author, who creates portrayal of the story characters’ look and of their daily rituals, set in socio-political reality of the first half of the 20th century. On the other hand, significant to the narrative strategies found in the novel are the distinctly singled out and accentuated stereotypically outlined spiritual qualities of the characters, such as mettle, diligence or fondness for freedom and independence, in its broad sense. Keywords: Berta Nösekabel, regional literature, stereotype, narrative strategies, provincial Germany

Der um das Jahr 1932 geschriebene Roman, der 2016 dank der Initiative der Familie der 1963 verstorbenen Autorin erschien, kann angesichts der weitgehend beschränkten Wirkung dieses relativ neuen Buches als ein unbekanntes und bis- her unbearbeitetes Werk eingestuft werden. Rein strukturell und thematisch gese- hen gehört der Roman zu der Reihe von Prosatexten, die in gattungsspezifischer Hinsicht als Heimatliteratur klassifiziert werden können, wobei die vieldimensio- nalen Einflüsse der „Blut und Boden“-Tendenzen, die sich insbesondere in den Erzählstrategien offenbaren, unübersehbar sind. Der Roman erzählt die Geschichte zweier bäuerlicher Familien − Windberger und Meyer zu Devern − deren Kinder Margarethe und Wilhelm gegen den Willen ihrer Eltern heiraten und folglich zur Flucht und Gründung einer neuen Sied- lung gezwungen werden. Angesichts der Handlungsentwicklung, welche weitge- hend aus dem in der Literaturtradition etablierten Topos der unglücklichen Liebe schöpft, stellt sich die Frage, inwieweit der Roman auch die erprobten Darstel- lungsschemata des Heimatliteraturkanons benutzt und mit solchen Prosatexten wie Romeo und Julia auf dem Dorfe von Gottfried Keller inhaltlich und thema- tisch korrespondiert (vgl. Keller 2003).1 Was die potenziellen Interpretations- möglichkeiten anbelangt, wurde Niemandes Knecht zwar zur Zeit des Umschlags der Gemüter in Deutschland geschrieben, man muss dennoch bedenken, dass die politischen und ideologischen Kontexte, wie z.B. der wachsende Einfluss der

1 In dem 1856 veröffentlichten Roman von Gottfried Keller stehen – ebenso wie in Niemandes Knecht von Berta Nösekabel – zwei Bauernfamilien (Manz und Marti) im Mittelpunkt der Ereignisse. Anders jedoch ent- wickelt sich die Fehde zwischen beiden Sippen; der eskalierende, starke Emotionalisierung nach sich ziehende Konflikt entfacht in Romeo und Julia auf dem Dorfe nicht vor dem Hintergrund der Pflichten und Privilegien der Erstgeborenen, sondern resultiert aus dem Streit um das Familienvermögen, genauer genommen, aus der Abtretungsverweigerung des zuvor versteigerten Ackers. Viel stärker wird bei Keller des Weiteren die gesell- schaftskritische Dimension akzentuiert. Nicht unbedeutend sind außerdem die äußerst dynamische Handlungs- entwicklung und der tragische Abschluss des Romans: Man darf doch nicht außer Acht lassen, dass die Haupt- figuren Vrenchen und Sali (anders als Wilhelm und Margarete in Niemandes Knecht), von Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und destruktiven Impulsen getrieben werden, was letztendlich zu ihrem Freitod führt.

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NSDAP in den letzten Jahren der Weimarer Republik, im Roman von Nösekabel explizit nicht erwähnt werden, weswegen das Werk der aus Lingen in Nordrhein- Westfalen stammenden Heimatdichterin, obwohl er mit großer Anzahl schema- tisch und stereotyp dargestellten Inhalte operiert, grundsätzlich nicht als „präfa- schistisch“ eingestuft werden dürfte. Zu den pragmatisch bedingten Aufgaben der im Roman sichtbaren Rhetorik und der angewandten Erzählstrategien gehört vielmehr die Absicht, Grundtugenden des sittlichen Bauernstandes zu preisen, wobei die Darstellung des „Kampfes um das rechte Leben trotz aller Hindernis- se“ und die „ausführliche Beschreibung der heimatlichen Landschaft“ (Gerigk 2016: 6) eine besondere Rolle spielen. Was die stereotype Darstellung des deutschen Landlebens im Roman von Nö- sekabel betrifft, ist vor allem die Hervorhebung der äußeren Attribute von Prot- agonisten wichtig, was gewöhnlich den Weg zur Beschreibung des Wesens und Charakters der deutschen Bauern eröffnet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was Stereotype überhaupt sind und auf welche Erscheinungen und Phäno- mene sie gewöhnlich rekurrieren. Unter der Vielfalt von Definitionen verdient der Vorschlag von Oliver Stallybrass Beachtung, der Stereotype als übervereinfachte geistige Bilder von (normalerweise) einer Kategorie von Personen, Institutionen oder Ereignissen definiert, die in ihren wesentlichen Merkmalen von einer gro- ßen Zahl von Personen geteilt werden (vgl. Tajfel 1982: 39). Bei einer solchen Positionierung ist des Weiteren die Nahtstelle zum Klischee sichtbar, einer − so Heinemann − im Grunde genommen harmlosen „alltagssprachlichen Verallge- meinerung von meist übernommenen Denkgewohnheiten oder Einschätzungen von Sachverhalten, die einer tiefgründigeren Behandlung erst einmal nicht als wert erscheinen: der Wonnemonat Mai, der schöne deutsche Wald, der sparsame Schwabe“ (Heinemann 1998: 7). Beachtenswert ist auch die Position von Chołuj, die konstatiert, dass Stereotype gewöhnlich neben ihrer sozialen, kulturellen und ethnischen auch eine stark kommunikative Funktion haben: Sie zielen auf Ver- einheitlichung und Nivellierung der internen Differenzen ab, was dazu führen kann, dass man während der Konfrontation mit den stereotypen Schilderungen den Eindruck gewinnt, mit einer Gemeinschaft zu tun zu haben, die grundsätzlich keine interkulturellen Züge trägt (vgl. Chołuj 1997: 172). Die Protagonisten im Roman von Nösekabel, die in der Welt des Eigenen fest verankert sind, werden mit lokalen, typisch deutschen, wenn nicht gar germani- schen Merkmalen und Attributen (solchen wie „stark“, „groß“, „blond“, „blauäu- gig“) versehen.2 Die für den ganzen Handlungsverlauf signifikante Darstellungs-

2 Ähnliche Merkmale spielen eine bedeutende Rolle in der Grenzlandpublizistik, z.B. in der Publizistik des oberschlesischen Grenzlandkampfes, was am Beispiel der Abhandlung Was muß jedermann über Oberschlesien wissen? von Monte [Kurpiun] (1921: 27) gezeigt werden kann: „Äußerlich sieht man neben blonden, blauäugi- gen, hochgewachsenen Germanen stämmige, braune Slavengestalten.“

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 122 Tobiasz Janikowski tendenz fällt schon am Anfang der Bildung der Figurenkonstellation auf, wenn die schemenhafte und stereotype Beschreibung von Margarete, eines deutschen Bauernmädchens, nicht ohne Anwendung emotionalisierender Akzente in die Handlung eingeflochten wird:

Mit breiten Hüften, voller Brust und einem hoch und frei getragenen Kopfe, steht sie da. Das Blondhaar ringelt sich über der hohen Stirn. Ihr Mund lacht und ihre Augen lachen. Margarete zu Devern ist, wie jeder weiß, das schönste Mädchen von Waldhagen. (Nösekabel 2016: 13)

Die Hervorhebung der äußeren Attribute, die im Roman allgegenwärtig ist, offen- bart sich auch bei der Darstellung anderer Figuren. Ähnlich wie die künftige Sied- lungsgründerin wird die mit ihr befreundete Bewohnerin aus der Nachbarschaft, Katharine Windberger, gezeigt: „Ihr gerstenblondes Haar ist so glatt gescheitelt, daß auch nicht ein einziges Härchen sich aus ihm herauswagt“ (Nösekabel 2016: 24). Die Wiederholbarkeit des gerade gezeigten Darstellungsschemas bestätigt den sozialen Charakter einer nach solchen Prinzipien positionierten Stereotypi- sierung. Vor diesem Hintergrund ist darauf zu verweisen, dass Stereotype nur dann sozial werden können, „wenn sie von einer großen Zahl von Personen inner- halb sozialer Gruppen oder Entitäten ‹geteilt› werden – wobei unter ‹teilen› die tatsächliche Verbreitung verstanden werden muss“ (Tajfel 1982: 42). Auffällig ist im Roman von Nösekabel vor allen Dingen aber die breit angewand- te Reproduzierbarkeit des Darstellungsschemas, das sich auf das Aussehen der Protagonisten bezieht. Die äußeren Attribute bestätigen nicht nur die Zugehörig- keit zu der Welt der Einheimischen, sondern sie leiten, wie im Falle von Margarete und ihrer Kinder, ebenso die Bestimmung der geistigen Eigenschaften ein:

Ihre Augen sind strahlend blau. Ihre Flechten schimmern golden. Sie ist Jungwuchs aus alter Kraft. Sie ist eines starken Bauerngeschlechts adelige Tochter. Am Boden sitzen ihre Söhne. Ihre Haare sind hell wie Flachs. Wie ein Ei dem anderen gleichen sie sich. Ihr Tagewerk ist Jauchzen und Schreien in atemberaubendem Wechsel. Sie sind gefräßig wie kleine Tiere. Aber in ihren Augen liegt schon das klare Erfassen dessen, was um sie ist. (Nösekabel 2016: 162)

Die im Roman allgegenwärtige Strategie der Akzentuierung von nordischen Wesensmerkmalen der agierenden Figuren erstreckt sich auf verschiedene Le- bens- und Darstellungsbereiche. Unübersehbar ist auch die in der Handlungs- entwicklung mehr oder weniger deutlich akzentuierte nationale Zugehörigkeit der Romanfiguren.3 Darüber hinaus werden sowohl alltägliche Rituale als auch

3 Zu Nationen werden, worauf Bock verweist, üblicherweise jene Gruppen gezählt, die über den Kern der ethnischen Gemeinschaft hinaus in ihrer historisch – durch Staatenbildung, Kriegführung und Religionen – bedingten Gestalt, ebenfalls „durch ein gemeinsames Territorium, eine gemeinsame Wirtschaft sowie durch miteinander geteilte gesetzliche Rechte und Pflichten“ verbunden werden (Bock 2000: 39). Diesbezüglich er- scheint es legitim, den breiteren Zeitkontext zu berücksichtigen und in Anlehnung an Farkas „die Akzentver- schiebung von einem regionalen zu einem nationalen und deutschvölkischen Heimatbegriff, die sich – etwa in

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Gewohnheiten beschrieben, die das religiöse Leben auf dem Lande zeigen. Als Beispiel kann die Beschreibung des Treffens nach dem Gottesdienst vor der Kir- che dienen, die übrigens nicht nur als ein sakraler Raum, sondern ebenso als ein traditionsgeheiligter Ort der Begegnungen der lokalen Gesellschaft fungiert. In den Vordergrund rückt dabei wiederum die Akzentuierung der äußeren Attribute, die aus der Perspektive des verliebten Protagonisten Wilhelm wiedergegeben werden. Die Beschreibung des Aussehens wird dadurch zum distinktiven Kultur- Code, unübersehbar ist des Weiteren das affektive Potenzial der sich auf eine solche Weise entwickelnden Narration: „Frohe Worte fliegen. Lachen klingt auf. Einen Augenblick steht Margarete neben Wilhelm. ‚Wie blau ihre Augen sind!‘ denkt er. ‚Keine Augen der ganzen Welt können blauer sein als ihre‘“ (Nöseka- bel 2016: 48).4 Die detailgetreue Schilderung des Aussehens und Gesundheitszustands der Fi- guren ist als ein Faktor einzustufen, der einerseits die Art der Sozialisierung be- stimmt, andererseits den Verlauf der Konflikte und Prozesse zeigt, die mit Stig- matisierung oder gar Exklusion innerhalb der Eigengruppe verbunden sind. Dies lässt sich am Beispiel der vorwurfsvollen Aussage von Wilhelm exemplifizieren, der beim Gespräch mit seiner Mutter, der alten Windbergbäuerin, auf die Wirkung atavistischer Instinkte verweist, indem er gleichzeitig die Rücksichtslosigkeit der bäuerlichen Hierarchien anprangert:

Und war nicht mein Vater wie eine Tanne aus dem Walde? Und woher kommt es wieder, dass Joachim ein Schwächling wie sein Vater ist? Immer und immer wieder im Laufe der Jahrhun- derte haben die großen Höfe durcheinander gefreit. Wir sehen an unserem Stammbaum: Die Anderen, die Kleinen, die waren für euch nur halbe Menschen. Und du, Mutter, du bist die Allerschlimmste von allen. Du achtest dein eigenes Kind nicht, weil sein Vater ein armer Kerl war. (Nösekabel 2016: 41)

In der gerade zitierten Passage ist einerseits die Anknüpfung an wirtschaftliche Umstände von Bedeutung, andererseits fällt hier die Etablierung der Hierarchien und die Vorrangstellung der sozialen Schicht der Großgrundbesitzer auf, die seit Jahrhunderten ihre Machtansprüche und ihr Vermögen dank pragmatisch beding- ten Eheschließungen erwerben und vergrößern. der Jugendwanderbewegung – bereits ab 1910 abzeichnet“ zu erwähnen. Ein solcher sozial-politischer Prozess wurde „durch den Ersten Weltkrieg, seine territorialen Konsequenzen und die aus diesen resultierenden kollek- tiven Traumata außerordentlich begünstigt“ (Farkas 2002: 17–18). 4 Das Äußere bestätigt nicht nur die Zugehörigkeit zu der Eigengruppe, sondern es beeinflusst ebenso die Beziehungen zwischen den Romanfiguren. Das Aussehen und die Körpereigenschaften sind im Roman schließlich nicht ohne Einfluss auf die Bildung der lokalen Hierarchien. Dabei findet traditionelle Rollenzuteilung inder bäuerlichen Gesellschaft ihre Exemplifizierung. Die Darstellung der körperlichen Attribute wird gewöhnlich nicht ohne emotionalisierende Wirkung in die Handlung eingeflochten: „Eva tritt näher, hält Margarete die Hand hin und betrachtet sie aufmerksam. Dann sagt sie: ‚Ich mag dich leiden, Margarete. Du hast so herrliche blonde Zöpfe. Wenn ich sie sehe, tut es mir leid, daß ich mir meine habe abschneiden lassen‘“ (Nösekabel 2016: 72).

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Was die Schilderung der äußeren Attribute der Romanfiguren betrifft, ist im Ro- man von Nösekabel auch eine Tendenz sichtbar, das stark stereotypisierte Aus- sehen der Eigenwelt-Vertreter vor dem Hintergrund klischeehafter Darstellungen der Natur und Landschaften zu zeigen:

Die Liebe zu einem blonden Mädchen. Und dieses Mädchen will sich ihm zu eigen geben, ihm, dem Besitzlosen, der nichts hat als seine Liebe. Es ist nachtdunkel im Walde. Wilhelm Windber- ger atmet schwer und tief vor drängendem Glück. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen den Stamm der einen hohen Eiche und lauscht auf ihr Singen im kühlen Wald. (Nösekabel 2016: 23)

In der oben zitierten Passage fällt nicht nur die vorteilhafte Darstellung einer der Romanfiguren ins Auge, nicht weniger signifikant ist die positive Bewertung der ganzen Gemeinschaft, die einen Glauben an etwas voraussetzt, was in einer breiteren Perspektive „all ihren Mitgliedern gemeinsam ist, sie aktiviert und kon- fliktlos zusammenhält“ Chołuj( 1997: 170).5 Von besonderer Bedeutung im Roman von Nösekabel sind − außer den Schilde- rungen der äußeren Attribute der Protagonisten − die stereotypen Bezüge auf die körperliche und geistige Kraft der Vertreter der Eigengruppe. Vor diesem Hinter- grund erscheint die Frage legitim, welche Bedeutung diesbezüglich den Vorurtei- len zukommt, die nach Noack (2005: 23) eine Ordnungsfunktion haben und die Welt vereinfacht zu ordnen helfen, „wodurch das eigene, differenzierte Denken als unnötig erscheint“. Die hochkomplexe Wirklichkeit ist folglich scheinbar ein- fach und übersichtlich. Vorurteile haben schließlich „eine Stabilisierungsfunktion, denn sie stabilisieren das eigene Selbstwertgefühl und die Gruppenzugehörigkeit – allerdings auf Kosten der Fremden“ (Noack 2005: 23). Stereotyp im Roman von Nösekabel ist zweifelsohne die Darstellung der geis- tigen und körperlichen Kraft von Wilhelm Windberger, der als Inkarnation der typisch bäuerlichen Wesensart fungiert, die pars pro toto für die Gesamtheit der deutschen Bauern steht. Unübersehbar ist hierbei auch die verstärkende Funktion der sich im Hintergrund positionierenden Naturbeschreibung:

Mit keinem auf der ganzen Welt würde er heute tauschen. Mächtig fühlt er seine jungen, starken Säfte strömen, gewaltig wie nie fühlt er in dieser seiner Glücks- und Schicksalsstunde seine enge, zwingende Verbundenheit mit der Heimatnatur ringsum, mit den Riesentannen, deren Spitzen wie drohend gereckte Speere sind und mit den Eichen, die ihre Kronen weit mit trutziger Allgewalt dem Himmel entgegenrecken. (Nösekabel 2016: 17)

Nicht zufällig erscheint der ihn umgebende Hintergrund der majestätisch wir- kenden Natur, wobei den Bäumen („Riesentannen“, „Eichen“) eine wichtige Be-

5 Ergänzend konstatiert die Autorin der Abhandlung über die Rolle der Stereotype bei interkulturellen Kon- takten: „Selten wird darauf hingewiesen, daß dieser Glaube eine Rolle bei der Abgrenzung von anderen Grup- pen, anderen Gemeinschaften spielt, [und] sie von ihnen absondert“ (Chołuj 1997: 170).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Die stereotype Darstellung des deutschen Landlebens im Roman Niemandes Knecht... 125 deutung zuerkannt wird, welche stereotyp mit Ausdauer, Kraft und Beständigkeit assoziiert werden. Die natürlichen Kräfte des kerngesunden Mitglieds der lokalen Gemeinschaft werden insbesondere auch dann hervorgehoben, wenn der Bezug zu seiner Heimat hergestellt wird:

Sein Wille wird Schöpferkraft sein für dieses Land. Er fühlt in sich eine unbändige Kraft strö- men. Er fühlt in sich ein eisenstarkes Wollen und eine Liebe, die so voll Hingabe an die Erde der Heimat ist, daß es für sie keine Unmöglichkeiten mehr gibt. (Nösekabel 2016: 76)

Die stereotyp gezeigte Vitalität des deutschen Bauern offenbart sich im Roman von Nösekabel häufig als ein Wert an sich. Sichtbar ist dies u.a. bei der Schilde- rung der konfliktvollen Situation, die sich aus dem Plan der Verlobung von Mar- garete und Joachim − dem kränklichen, erstgeborenen Sohn der reichen Nach- barsfamilie − ergibt. Die Entscheidung der Eltern, die schöne und gesunde Tochter gegen ihren Willen zu vermählen, korrespondiert zwar mit der in den Dorfgemeinden etablierten und seit Jahrhunderten praktizierten Tradition, gemäß der die Entschei- dung über Auswahl des Bräutigams den Eltern überlassen wird. Unabhängig davon verstößt der Brauch, und so wird es im Roman dargestellt, gegen uralte Gesetze der Natur; der pragmatisch motivierte Beschluss der Eltern, die vor allem wirtschaftliche Gewinne erzielen wollen und die Heirat mit der benachbarten Familie Windberger als Mittel zum Zweck, also zum Erwerb des Bauernhofs betrachten, trifft auf entschie- denen Widerstand der jungen Frau. Im Streitgespräch mit der Mutter bedient sie sich einer ausdrucksvollen, von starken Affekten gekennzeichneten Argumentation:

Aber Mutter – wenn es einmal so sein muß, warum haltet ihr vom Bauerngeschlecht dann nicht wenigstens gesunde Auslese. Warum soll auf dem Windberghofe der kranke Kümmerling Erbe sein und der gesunde Starke als alter Onkel vertrocknen? Ich weiß es, Ihr wollt, dass Joachim mein Mann wird. Nur um den schönen Hof wollt ihr es, daß ich einen kranken Mann heirate. Aber Mutter, ich sage es dir jetzt, ich kann es nicht. Ich werde es auch niemals können, denn ich habe den Gesunden lieb und nicht den Kranken. Wilhelm habe ich lieb. (Nösekabel 2016: 32)

Das Hineinflechten von stereotypen Inhalten in Gespräche dient, so Chołuj (1997: 172), „auch in kulturell relativ homogenen Gemeinschaften zur Erkun- dung der Grenzen der Vertrautheit, zur Bildung eines thematischen oder auch symbolischen Gesprächsraumes.“ Die stereotyp dargestellte Beziehung zwischen Wilhelm und Margarete wird im Roman auch um Beschreibung der Emotionen erweitert, die grundsätzlich im Kreis der Familie platziert sind. Eine gemeinsame Ebene bildet dabei die Verehrung des Kräftigen, Gesunden, kurz, des Eigenen. Als Beispiel der erweiterten Befestigung der emotionalen Kontexte kann die Schilde- rung der Beziehung zwischen Onkel Steffen und seinem Neffen Wilhelm dienen, also jener Figur, die nicht nur als Verkörperung der geistigen Tugenden der deut- schen Bauern, sondern auch Stärke der eigenen nationalen Gruppe fungiert: „Im Anfang ist seine Liebe aus Widerspruchsgeist und Widerstand gegen das ungleiche

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Maß der Schwester auf diesen Neffen gefallen. Dann ist sie an der urgesunden, kerndeutschen Art des Jungen gewachsen und erstarkt“ (Nösekabel 2016: 60). Zu den lokalen Tugenden, die im Roman mit großer Intensität veranschaulicht werden, gehören u.a. der Pragmatismus, die Tüchtigkeit, Sparsamkeit, insbeson- dere aber der Fleiß der deutschen Bauern. Angesichts des Umstands, dass die Hauptfiguren des Romans, Wilhelm und Margarete, wegen ihres Ungehorsams zur Gründung einer neuen Siedlung gezwungen werden, hat ihre Arbeit nicht nur eine symbolische, sondern auch eine ganz konkrete, praktische Dimension. Das Holzfällen und die Rodung des Waldes, die sie mühsam unternehmen, um ihre neue Heimat entstehen zu lassen, haben in der deutschen Geschichte, und dies erscheint als ein nicht unbedeutender Nebenaspekt, eine lange Tradition.6 Die Gewinnung neuer Siedlungsgebiete (in Anknüpfung an die in den 1930er Jahren populäre Rhetorik müsste man eigentlich „Lebensräume“ sagen) kann nicht nur mit signifikanten historischen Ereignissen, sondern auch mit mythologischen In- halten verknüpft werden. Auch aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts erscheint der Kampf gegen die Natur als eine heikle und aufwändige Mission.7 Die Schilderungen im Roman von Berta Nösekabel, die sich auf die Rodung des Waldes beziehen, erfüllen auf der symbolischen Ebene allerdings keine sakralen oder Legende bildenden Funktionen. Ungeachtet dessen wird hier ein Schöpfungsprozess veranschaulicht, welcher die Entstehung der neuen Lebenswelt zur Folge hat:

Überall geht es mit Riesenschritten vorwärts. Überall wächst aus Waldtod und Vernichtung neu- es Leben auf. Immer weiter streckt sich das Gebiet der bestellten Felder. Wiesen wachsen. Eine Hühnerfarm entsteht. Die Notbaracke wird nachgesehen und abgedichtet, und am Rande der Holzung wächst das neue Bauernhaus. Es wird nur ein schlichtes, einfaches Haus. Aber es wird ein Haus, in dem Licht und Sonne wohnen, und in dem mit Gottes Hilfe und nach menschlichem Ermessen auch das Glück seine Stätte haben wird. (Nösekabel 2016: 131)8

6 Der Kampf um Siedlungsgebiete ist zweifelsohne schon auf die Zeit Karls des Großen zurückzuführen, eine beachtenswerte Intensivierung der Agrarentwicklung fällt aber auf die Periode zwischen dem 11. und 14. Jh.: „Im Hochmittelalter erfolgte ein extrem starker Bevölkerungszuwachs. Zw. 1000 und 1340 wuchs die Bevölkerung Mitteleuropas von ca. 4 auf 11,5 Mio. Menschen. Der Landesausbau im Altsiedelland wurde inten- siviert; die letzten Rodungsreserven verschwanden und mit ihnen der Wald. [ ] Die Rodungsarbeit war von den Naturbedingungen abhängig: Sümpfe und Brüche wurden entwässert, Waldflächen der Gebirge durch Brand gerodet, an den Küsten durch Deichbau neue Anbauflächen gewonnen etc.“ Rudolf/Vadim( 2004: 38). 7 Indem man die Betrachtungsperspektive um historische Kontexte erweitert, kann man diesbezüglich auf die Zeit der christlichen Mission im ehemaligen „Freien Germanien“ und das Jahr 723 zurückgreifen, als bei Geismar im heutigen Nordhessen eine mächtige Eiche stand, die dem Wetter- und Gewittergott Donar geweiht wurde. „Die alten Germanen“, so Thea Dorn in der Publikation Die deutsche Seele, „verehrten diese Eiche als eines ihrer wichtigsten Heiligtümer, erflehten in ihrem Schatten freundliches Klima und wandten ihr Kränze. Doch dann kam Bonifatius. Der christliche Missionar war aufgebrochen, den heidnischen Germanen zu beweisen, dass ihre Götter machtlos seien. Unter dem Schutz von Soldaten fällt er die Donar-Eiche. Kein Gewitter verdunkelt den Himmel. Kein Blitz erschlägt ihn. Aus dem Holz der Donar-Eiche lässt Bonifatius eine Kapelle bauen und weiht sie dem Heiligen Petrus“ (Dorn 2011: 73–74). 8 Selbst die Darstellung des neu gebauten Hauses erfolgt nicht ohne Bezug auf stereotyp gezeigte Umstän- de: „Das Haus ist groß. Es ist weit und fest, aber unendlich einfach. Nur das Nötigste ist in ihm zu finden. Auch jetzt kämpfen sie noch, aber Gottes Segen liegt sichtbar über ihrer Arbeit“ (Nösekabel 2016: 139).

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Der im Roman stereotyp dargestellte Fleiß der lokalen bäuerlichen Bewohner verzahnt sich mit der Hervorhebung mentaler Eigenschaften und Attribute der Eigenwelt-Vertreter. Häufig wird dabei auf die schlichte Art der Bauern hinge- wiesen, in den Vordergrund rücken unverändert einerseits ihre äußeren Attribute, andererseits die stereotyp gezeigten Tugenden. Außerdem lässt sich gelegentlich eine mehr oder weniger deutlich akzentuierte Gesellschaftskritik erahnen, die ge- wiss nicht ohne Zusammenhang mit der Zeitgeschichte (vor allem der Wirkung der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929) bleibt:

Am wenigsten spricht Jochen. Er ist blond wie sein Bruder Heinrich, aber er ist fast einen Kopf größer als er. Er ist ein ungewöhnlich starker Kerl, ein Wühler, wie man wohl auf dem Lande zu sagen pflegt von dem, der sich an Arbeit kaum genug tun kann. Deshalb ist er trotz der arbeits- losen Zeit auch fast nie ohne Arbeit gewesen, aber sie hat ihm erbärmlich wenig eingebracht. (Nösekabel 2016: 79)

Die Arbeit wird im Roman nicht ausschließlich als eine praktische Tätigkeit bzw. Broterwerb gezeigt, betont wird vielmehr ihre symbolische Dimension und the- rapeutische Wirkung. Wilhelm, der von Anfang an die Rolle des musterhaften deutschen Bauern erfüllt, „ist voller Kraft bei der Arbeit“ und − wie das mittels einer affektbeladenen Sprache konstatiert wird − „diese seine Arbeit wird ihn langsam gesund machen“ (Nösekabel 2016: 21). Der Fleiß als bedeutende Tugend der Siedlungsgründer wird, und dies ist die weitere Dimension der stereotypen Darstellung des Bauernlebens, von naturbe- dingten Zyklen begleitet. Ergänzend erscheint die häufig angewandte Zusam- menstellung der Kontraste, und der Gebrauch binärer Begriffe, wie: Reichtum − Armut, Gutmütigkeit − Böseartigkeit, Arbeit − Unterhaltung. Der natürliche Hang der Bauer zur übermäßigen Arbeit und praktischen Beschäftigung wird folglich durch mancherorts hineinkomponierte Beschreibungen des geselligen Lebens und Unterhaltung ergänzt:

Jochen ist niemals müde. Er holt seine Ziehharmonika vom Wagen, ohne die er auch nicht einen Tag denkbar ist und spielt die beiden in den Schlaf. Was Gott ihm an Worten versagt hat, hat er ihm an Tönen gegeben. Weich und voll klingt unter seinen arbeitsharten Händen das einfache Instrument. (Nösekabel 2016: 80)

Zum Stammvokabular des Romans gehören, was in dem gerade zitierten Ab- schnitt zum Teil sichtbar ist, solche lexikalischen Paare, wie „voller Kraft“ oder „niemals müde“. Sie markieren die Erzählstrategien und definieren auf der Dar- stellungsebene die distinktiven Charaktermerkmale der Siedlungsgründer. Nicht ohne Bedeutung ist des Weiteren für die Handlungsentwicklung die kontrastive Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Vor diesem Hintergrund muss man bedenken, dass die aufgezwungene Rodung des Waldes und Gründung der neuen

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Kolonie, welche von den ehemaligen Mitgliedern der Eigenwelt vollzogen wur- de, sie selbst zu Fremden macht. In der territorial verankerten Bestimmung die- ses Phänomens weist Waldenfels (2006: 15) darauf hin, dass das Fremde nicht nur ein Grenzphänomen ist, sondern jemanden markiert, der von anderswoher kommt, „selbst wenn es im eigenen Haus und in der eigenen Welt auftritt. Kein Fremdes ohne Orte der Fremde.“9 In der breiteren Interpretationsperspektive müsste man aber davon ausgehen, dass die als „deutsch“ geltenden, im Roman von Nösekabel hoch gepriesenen Tu- genden, aus der interkulturellen Perspektive anders wahrgenommen werden und nicht selten mit negativ belasteten Bewertungen einhergehen.10 Max Scheler be- schreibt in Die Ursachen des Deutschenhasses (der Titel erscheint hier besonders signifikant) eine mit deutschen Attributen versehene Figur, die das Gepräge eines schlichten Arbeitsmannes mit guten derben Fäusten trägt, also eines Mannes,

der nach dem inneren Zeugnis seiner eigenen Gesinnung nicht um zu übertreffen oder um ir- gendeines Ruhmes willen, nicht auch um neben oder nach der Arbeit zu genießen, nicht auch um in einer der Arbeit folgenden Muße die Schönheit der Welt zu verehren und zu kontemplieren, sondern ganz nur versunken in seine Sache still und langsam, aber mit einer von außen gesehen furcht-, ja schreckenerregenden Stetigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit, in sich selbst und in seine Sache wie verloren, arbeitete, arbeitete und nochmals arbeitete – und was die Welt am wenigsten begreifen konnte – aus purer Freude an grenzenloser Arbeit an sich – ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende. (Scheler 2011: 43–44)

Die von Scheler beschriebene deutsche rastlose Arbeitswut und der Hang zum unermüdlichen pragmatischen Denken und Handeln, die aus der interkulturel- len Perspektive eher negativ bewertet werden können, offenbaren sich auch im Roman von Nösekabel. Ihre stereotype Verankerung und Wirkung ist hier unbe- streitbar; auf der Beispielsebene fällt es besonders deutlich bei der Darstellung der Ernte auf:

Denn jede Hand muß heran. Keiner darf fehlen. Nicht einmal Sine mit dem Jungen kann zu Hause bleiben. Er wird nach gutem altem Brauch in die Fuhre gesetzt und mag sich alleine ver- gnügen. In der Ernte kennt der Bauer keine Rücksichten. Das ist Großkampfzeit, in der jeder bis zum Letzten auf dem Posten sein muss. (Nösekabel 2016: 135)

9 Begriffe selbst, worauf Orłowski aufmerksam macht, sind intellektuell orientiert, in Stereotypen domi- nieren dagegen Emotionen. Wenn die ersten sich auf soziale und politische Wirklichkeit beziehen, betreffen Stereotype die Gesellschaftsgruppen und die innerhalb von ihnen feststellbaren Binnenrelationen. Darüber hin- aus ist darauf zu verweisen, dass die stereotypen Darstellungen sich häufig binnen der Grenzen des Anderen schließen (Orłowski 2005: 16). 10 Kritisch äußert sich zum Charakter der Deutschen und zwar bezüglich der Zeit der napoleonischen Krie- ge und der neuen politischen Ordnung in Europa nach dem Wiener Kongress Goetz Briefs: „Und greift man nun zurück auf die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, dann taucht man in die schwere Luft eines kontinen- talen bäuerlich-handwerklichen Volkstums ein, das politisch nicht zu eigener Form kam, dessen Ohnmacht im Konzert der Völker mit seiner Zersplitterung wetteiferte und das im ganzen mehr Objekt als Subjekt der hohen Politik war“ (Briefs 1922: 255).

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Die Beschreibung der deutschen Tüchtigkeit eröffnet im Roman gleichzeitig den Weg zur Modifizierung der stereotypen Darstellungen und Zuschreibungen, de- ren Betrachtung auch aus der Sicht der traditionellen Rollenzuteilung in Bezug auf Geschlechter gewichtig ist. Hinsichtlich der Rezeption, und darauf macht Se- kulski aufmerksam, haben Stereotype häufig eine durchaus eigenartige, gesell- schaftsbezogene Dimension. Sie existieren nämlich, egal ob falsch oder wahr, in dem kollektiven Bewusstsein, und „wir müssen sie zur Kenntnis nehmen, sie möglichst genau orten, beschreiben, in ihrem Funktionieren analysieren und in- terpretieren“ (Sekulski 1998: 162). Als Beispiel der modifizierten Stereotypisie- rung im Roman von Nösekabel kann die Passage dienen, in der universelle Talente und Fähigkeiten der männlichen Siedlungsgründer hervorgehoben werden:

Den Rest der Nacht sitzen die drei dann um den grob gezimmerten Tisch bei der Lampe. Mutter und Kind schlafen fest. Heinrich holt sich sein Strickzeug und strickt. Er hat das Stricken in seiner Kindheit gelernt, als er Kühe hüten ging. Nun übt er es wieder. Sie beraten. Sie sprechen sehr leise dabei. (Nösekabel 2016: 88)

Die Darstellungsmuster, welche mit bewährten Schemata operieren, wie der Unermüdlichkeit und Rastlosigkeit der deutschen Arbeiter, können auch in an- deren Prosawerken dieser Zeit gefunden werden. Zum Vergleich kann der 1930 erschiene Roman OS von Arnolt Bronnen dienen, also ein Werk, das gattungsspe- zifisch eindeutig der Grenzland- und Heimatliteratur angehört, in dem der deut- sche Pragmatismus nicht wenig ausdrucksstark wie im Roman von Nösekabel akzentuiert wird:

Deutschland ist ein Land der Produktion und muß es immer mehr werden. In diesem Lande muß produziert werden, vom Geist bis zum Gummi. Das ist Deutschland. Das ist unser Deutschland, das produktiv ist im letzten Gedanken seiner Kuhhirten. (Bronnen 1930: 22)

In den Romanen und publizistischen Werken, die in den Jahren 1918–1939 ent- standen sind, wird häufig die kulturelle Überlegenheit Deutschlands hervorgeho- ben. Besonders deutlich ist diese Tendenz in der Literatur sichtbar, die das We- sen der Grenzregionen und die Wirkung der kulturellen Interferenz beschreibt, was am Beispiel der schon erwähnten Abhandlung von Monte [Kurpiun] gezeigt werden kann: „Überall vermischten sich die deutschen Siedler mit den Eingebo- renen, heirateten untereinander und ihre Kinder und Kindeskinder nahmen natur- gemäß die Kultur an, die ihnen größere wirtschaftliche und persönliche Vorteile versprach, die deutsche“ (Monte 1921: 8–9). In Niemandes Knecht spielt bei der Widergabe der stereotypen Lebensumstände, worauf abschließend hinzuweisen ist, die Akzentuierung der Freiheitsliebe der deutschen Bauern eine besondere Rolle. Unausweichlich drängt sich in diesem Zusammenhang der Bezug auf die Antike und die Beschreibung der germanischen

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Stämme in Tacitus’ Germania (auch wenn die Gleichstellung der Deutschen und Germanen als weitgehende Vereinfachung, wenn nicht gar Vereinnahmung ein- gestuft werden müsste), in dem der legendäre römische Historiker an den Ger- manen ihre einfache Lebensweise, sowie „ihr sittenstrenges Familienleben, ihre geradlinige, von Arglist und Treulosigkeit weit entfernte Wesensart, ihre kriege- rische Tapferkeit und ihr Freiheitsstreben“ (Müller 2002: 21) rühmt. Wilhelm, die Hauptfigur des Romans, welche die Rolle des Trägers altdeutscher, wenn nicht gar altgermanischer Tugenden erfüllt, manifestiert seine Freiheitsliebe in der Aussage, die aus dem Blickwinkel der Handlungsentwicklung als eine einzig- artige Klimax wahrgenommen werden kann:

Nie werde ich eines Menschen Knecht sein. Frei will ich sein und frei werde ich bleiben mein Leben lang. Mag es laufen, wie es will, mag es mich auch durch Not und Enge treiben. Über mein Leben wird für immer stehen, eisernes Lebensgesetz, der Spruch, der in dem Querbalken unserer Scheune eingegraben ist: Jedem sein Recht, niemandes Knecht. (Nösekabel 2016: 52)

Literatur

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Agnieszka JÓŹWIAK (Wrocław) ORCID 0000-0002-1753-8443

Journalistische Vielfalt und Darstellungsformen der Presse im Verlag Graß und Barth in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel ausgewählter Zeitschriften

Zusammenfassung: Ziel des folgenden Beitrags ist die Darstellung der Geschichte des Presse- wesens im Verlag Graß und Barth in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand ausgewählter Zeitschriften. Die Mehrheit der in der Druckerei Graß und Barth in Breslau erschienenen Veröf- fentlichungen waren die belletristischen Journale, die sich großer Popularität erfreuten. Außerdem wurden zu dieser Zeit auch die ersten hochspezialisierten Fachzeitschriften unter anderen für Päd- agogen, Geistliche, Musiker, Mediziner und Landwirte herausgegeben. Allerdings charakterisierte viele von diesen Veröffentlichungen Kurzlebigkeit, da sie anscheinend zu wenige Leser anzuziehen vermochten. Schlüsselbegriffe: schlesische Presse, Verlag Graß und Barth

Różnorodność dziennikarska i dziennikarskie formy opisu w wydawnictwie Grass i Barth w pierwszej połowie XIX wieku na przykładzie wybranych czasopism Streszczenie: Celem niniejszej publikacji jest omówienie historii periodyków ukazujących się we wrocławskim wydawnictwie Grass und Barth w pierwszej połowie XIX wieku. Dużą popularno- ścią cieszyły się czasopisma, których profil ukierunkowany był na beletrystykę. Poza tym w tym czasie zaczęto wydawać pierwsze fachowe periodyki, między innymi w dziedzinie pedagogiki, religii, medycyny oraz rolnictwa. Większość czasopism ukazywała się bardzo krótko, co świadczy o tym, iż wydawcom nie udawało się pozyskiwać szerokiej rzeszy stałych czytelników. Słowa kluczowe: prasa śląska, wydawnictwo Grass und Barth

Journalistic diversity and journalistic forms of description in the Grass and Barth publishing house in the first half of the 19th century on the examples of selected magazines Abstract: The aim of this publication is to discuss the history of periodicals published by the Grass and Barth publishing house in Wrocław in the first half of the 19th century. Magazines whose pro- file was focused on fiction enjoyed great popularity. It was also at that time that the first professional

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 134 Agnieszka Jóźwiak periodicals were published, among others in the fields of pedagogy, religion, medicine and agricul- ture. Most of the magazines were very short, which proves that the publishers did not manage to attract a wide range of regular readers. Keywords: Silesian press, Grass and Barth publishing house

1 Zeitungen und Zeitschriften vom Anfang des 19. Jahrhunderts

Die Zeitung war im 19. Jahrhundert das wichtigste Medium der Massenkom- munikation. Sie war seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein seriell hergestelltes Produkt, welches in die Gattungen der Tages-, Wochen-, Sonntagspresse unter- teilt wurde. (Wilke 2002: 460) Nachdem lange Zeit die politisch-militärischen Berichte überwogen hatten, kam es Anfang des 19. Jahrhunderts mit zunehmen- der Themenvielfalt auch zur Spartengliederung u.a. nach Kultur-, Wirtschafts- und Religionsteil. In Bezug auf diese Veröffentlichungen musste eine Grenze zwischen Zeitschriften und Zeitungen gezogen werden. Die Zeitschriften waren Ort des Rä- sonierens und die Zeitungen vermittelten Informationen. Da die Zeitungen vom Nachrichtentransport durch die Post abhängig waren, verloren sie an Aktualität. (Dussel 2004: 16) Anfang des 19. Jahrhunderts erhielten die Journalisten ihre In- formationen vor allem durch eigene Recherche. Erst später, nachdem in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Presseagenturen entstanden waren, konnten die Redaktionen ihre Meldungen nutzen. (Schneider/Raue 1998: 23) Anfang des 19. Jahrhunderts war die Grenze zwischen Zeitschriften und Zeitungen fließend. Erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte sich eine Differenzierung im Hinblick auf den Titel, Erscheinungsrhythmus und Inhalt durch. Die Mehrheit der bis zu den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Druckerei Graß und Barth in Breslau erschienen Veröffentlichungen waren die belletristischen Journale, die sich großer Popularität erfreuten.

2 Presse bei Graß und Barth seit Anfang des 19. Jahrhunderts

Die Geschichte der Breslauer Buchdruckerei Graß und Barth geht auf das 16. Jahrhundert zurück. Ihr Begründer war Konrad Baumgarth. 1729 erbte die Familie Graß die Druckerei. Johann August Barth erwarb 1799 das Unternehmen samt dem seit 1504 nachweisbaren Verlag. Seit 1802 wurde es als „Graß & Barth“ geführt. Der Verlag lief bis 1945 unter dem Firmennamen Graß, Barth und Co. Nach Willi Klawitter erschienen bei Graß und Barth bis 1930 über 60 Zeit- schriftentitel. Bisher waren sie nicht Gegenstand von Spezialstudien gewesen. Die meisten Zeitschriften des Verlags Graß und Barth wurden von Literatur, Po- litik und Unterhaltung beherrscht. Es gab auch theologische, naturwissenschaft- liche, landwirtschaftliche, medizinische, pädagogische Zeitschriften, Theater-

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Zeitschriften und Zeitschriften mit offiziellen Bekanntmachungen. Die Mehrzahl von ihnen charakterisierte Kurzlebigkeit.

3 Journalistische Darstellungsformen

Die Breslauer Presse der hier erforschten Zeitspanne war vor allem sowohl an die schlesischen Adeligen und Bürger als auch an die Landleute gerichtet. Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zur Expansion der Periodika dank der weit verbreiteten Alphabetisierung der Gesellschaft. Preiswerter Bezug begünstigte die Massen- verbreitung der Presse. In Wirtshäusern, Dorfschenken und Kaffeehäusern lagen die Zeitungen aus. Die Presse befriedigte Unterhaltungsbedürfnis, Neugier und Debattierlust. (Wehler 1996: 307–308) Anhand ausgewählter Blätter möchte ich den Charakter der Zeitschriften des Presseverlags Graß und Barth vom Anfang des 19. Jahrhunderts schildern. In meinem Beitrag sollen folgende Titel näher erläutert werden: Breslauisches Tagebuch für den Bürger und Landmann (1809), Schlesien ehe- dem und jetzt (1806-1807), Breslauisches Abendblatt (1811–1812), Emil oder die belehrenden Unterhaltungen für die Jugend (1801–1806), Schlesische Volksblät- ter (1822–1824), Evangelische Zeitblätter. Eine Monatsschrift für evangelische Christen (1846–1849) und Breslauischer Erzähler (1800–1809). Um die Ziele der oben genannten Zeitschriften und ihrer Herausgeber näher zu bestimmen, kann man sie unter dem inhaltlichen Aspekt wie folgt einteilen: –– Historisch-politische Journale, Organe politischer Meinungsbildung und pu- blizistischen Führungswesens von dokumentarischem Wert, die Überblick über die politischen Begebenheiten in Schlesien, Bevölkerungsprobleme, Finanzen, Handel und Gesetzgebung geben und keine auf die Außenpolitik bezüglichen Artikel brachten. –– Erziehungszeitschriften, die für Eltern und Kinder gedacht waren und das Interesse der Jugend in Anspruch nahmen. Hier fehlten die Fragen der Schulzucht, Unterrichts- und Erziehungsmethoden, was für die pädagogi- sche Fachpresse vorbestimmt war. –– Populär-belletristische Unterhaltungsblätter, deren Herausgeber durch be- lehrende Aufsätze unterhalten wollten, wobei ihre Hauptanliegen die Pflege der Religiosität und Patriotismus waren. –– Theologische Zeitschriften, mit allgemein orientierten Aufsätzen, die mit liturgischen Einrichtungen in Verbindung stehende Fragen berührten. Im Gegensatz zu den Fachzeitschriften waren sie nicht Organe für das Gebiet der Dogmatik und Kirchengeschichte.

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–– Kulturelle Zeitschriften mit einer landeskundlichen Ausrichtung, die Aufsätze aus den Gebieten Geschichte, Sprachwissenschaften, Literatur, Entdeckungen und Erfindungen, Natur- und Völkerkunde brachten. Die hier angeführten Zeitschriften gehören keinesfalls zu Fachzeitschriften, die über Fachfragen, Fachbedürfnisse und Fachveränderungen informieren. Der Leser bezieht eine Fachzeitschrift sachlich-intellektueller, deshalb wahrscheinlich affekt- und gefühlsfreier, als eine Wochenzeitschrift oder Tageszeitung, denen gegenüber er weltanschauliche, parteiliche, konfessionelle Meinungen, Urteile, Fakten, die je- denfalls Bereiche seiner ganzen Existenz begründen, entgegenbringt. Man kann sa- gen, dass eine Fachzeitschrift in fachlichen und beruflichen Fragen mehr Autorität für den Bezieher besitzt als die politisch-kulturelle Tages- oder Wochenpresse, dass sie aber auch kritischer betrachtet wird, um fachlich bestehen zu können.

4 Historisch-politische Journale Die zwölf Nummern der Monatsschrift Breslauisches Tagebuch für den Bürger und Landmann erschienen 1809. Die Redaktion übernahm Peter Friedrich Kann- gießer, Professor für klassische Literatur am Gymnasium zu Sankt Maria Mag- dalena, Dichter und in den Jahren 1807–1809 Herausgeber des Breslauischen Erzählers. Das Breslauische Tagebuch war eine Zeitschrift, in der die aktuel- len politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ereignisse behandelt wurden. Sein Erscheinen fiel auf die Jahre der Napoleonischen Kriege.1 Die Notwendigkeit der Gründung des Journals folgte dem Willen der Verleger und des Herausge- bers das Kriegsende zu feiern, die Neuordnung in Schlesien und den preußischen Ruhm zu preisen. Man wollte die Leser über die aktuellen Anordnungen und die Reformen des Breslauer Magistrats informieren. In vielen Artikeln zeigte sich der Enthusiasmus der Schlesier über das Kriegsende und über den Anschluss an Preußen. Ebenso wandte man sich der Vergangenheit zu, schilderte die Geschich- te der größten schlesischen Städte und informierte über interessante historische Begebenheiten. Im Blatt dominierten Themen, die sich auf die soziale Lage nach dem Krieg und die preußische Neuordnung erstreckten, wobei man auch über die aktuellen Kulturereignisse informierte. Die Zeitschrift konnte als Hilfsmittel für Schulunterricht dienen und als eine Fortsetzung der Topographischen Chronik von Breslau angesehen werden. Der angehängte Gemeinnützige Anzeiger bein- haltete einen Namenindex der Personen, die das Bürgerrecht erlangt hatten und der verstorbenen Breslauer Bürger. Ungewiss bleibt jedoch der Grund für die Ein-

1 1806 wurde Schlesien von Napoleon erobert. Im Königsberger Abkommen vom 12. Juli 1807 verpflich- tete sich Frankreich, seine Armee aus Preußen innerhalb von 40 Tagen nach der Zahlung der Kriegskontribution zu räumen. Damit endete im Dezember 1808 die Anwesenheit französischer Truppen in Schlesien mit Ausnah- me der Festung Glogau. Man begann die preußischen Reformen durchzuführen (Czapliński/ Kaszuba/ Wąs/ Żerelik 2002: 251–253).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Journalistische Vielfalt und Darstellungsformen der Presse im Verlag Graß und Barth... 137 stellung der weiteren Veröffentlichung des Blattes. Ziel der Zeitschrift Schlesien ehedem und jetzt war die Darstellung der Geschichte Schlesiens und der aktuellen politischen Lage des Landes. Sie erschien 1806–1807, also ähnlich wie die meisten hier besprochenen Zeitschriften zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Die Heraus- geber waren zwei Breslauer Professoren für Geschichte Johann Wilhelm Oelsner (1766–1848), Professor am Breslauer Elisabeth-Gymnasium und Samuel Gottfried Reiche (1765–1849) Professor am Magdalenäum, seit 1824 Rektor am Elisabeth- Gymnasium. Im Mittelpunkt der Zeitschrift standen die Nachrichten aus dem Be- reich Kultur, Sitten, Gewohnheiten, Politik, Wirtschaft und Verfassungsgeschichte Schlesiens. Mitgeteilt wurden auch Warenpreise, statistische Angaben und Klima- meldungen. Einen besonderen Platz nahm Geschichte ein. In mehreren Nummern findet man eine Reisebeschreibung des schlesischen Ritters Nicolaus von Poppelau, welcher 1483 Deutschland, England, Portugal und Spanien durchreiste. In dem Be- richt sind kurze Erzählungen von der Geschichte der besuchten Länder eingefügt. Auch die Genealogie der Piasten von Oels wird als Folgegeschichte dargestellt. In der Zeitschrift findet man auch die Beschreibung des Breslauischen Stadtwappens von 1530 (Kanngiesser 1809: Nr. 9), einen Beitrag über die ältesten Münzen in Schlesien, (Kanngiesser 1809: Nr. 1, Nr. 6, Nr. 7, Nr. 8) und einen Bericht über den im Jahre 1517 in Breslau errichteten Glückshafen, mit einer ausführlichen Liste der Gewinner. Von den aktuellen Nachrichten findet man in der Zeitschrift ausführli- che Beschreibungen der Belagerung von Breslau von November 1806 bis Anfang 1807, eine Schilderung des Kreises Grünberg, eine Charakteristik des Weinanbaus und Wirtschaft in Grünberg (Kanngiesser 1809: Nr. 8, Nr. 9, Nr. 10), einen Bericht über die neueste Karte des Riesengebirges (Kanngiesser 1809: Nr. 7) und eine Sta- tistik der schlesischen Schulen (Kanngiesser 1809: Nr. 8, Nr. 9). Jede Nummer be- inhaltet Informationen über die in Breslauer Druckereien veröffentlichten Bücher. So erfährt man, dass 1805 76 neue Werke2, 13 Fortsetzungen, 10 neue Auflagen, 6 Übersetzungen, 12 einzeln gedruckte Predigten erschienen waren.

5 Populär-belletristische Unterhaltungsblätter Die meisten Breslauer Zeitschriften vom Anfang des 19. Jahrhunderts dienten der Unterhaltung, wobei ihre Herausgeber unterschiedliche Absichten verfolgten.

2 Die Zeitschrift informiert unter anderen über folgende Erscheinungen: Bauers deutsch-lateinisches Le- xikon und Encyclopaedia philologica von Georg Gustav Fülleborn, G.S. Bantkes vollständiges Polnisch-Deut- sches Wörterbuch zum Handgebrauche für Deutsche und Polen, Polnische Grammatik von Vogel (Kanngiesser 1809: Nr. 5), juristische Werke-Prozesssammlungen, Werke aus dem Bereich Medizin, wie Lehrbuch für Heb- ammen von Johann Gottfried Morgenbesser, Versuch eines systemat. Handbuchs der Pharmacologie von Wolf Friedrich Wilhelm Klose und andere aus den Bereichen Theologie, Mathematik, Physik, Philosophie, Ökono- mie, Wirtschaft und Kochbücher. Verzeichnet wurde auch ein Bericht über die Überschwemmung in Breslau im Jahre 1804, verglichen mit der von 1464.

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Ihr Ziel war die Belehrung der Leser auf eine unterhaltsame Weise, Vermittlung naturwissenschaftlicher, alltagspraktischer Informationen, Vermittlung landes- kundlichen, historischen Wissens und Bereitstellung abwechslungsreichen Lese- stoffs für das Durchschnittspublikum. Das Breslauische Abendblatt war eine Unterhaltungszeitschrift, die mit Sicherheit nicht zu den repräsentativsten Veröffentlichungen des Verlags Graß und Barth ge- hörte. Sie erschien jeden Donnerstag in der Zeit vom 3. Januar 1811 bis zum 2. Feb- ruar 1812 und richtete sich an ein breites Publikum, vor allem an die Breslauer Bür- ger. Die Aktualität der Nachrichten und ihre Ausführlichkeit waren offensichtlich nicht ein Hauptziel der Redakteure. Jede Zeitschriftennummer wurde mit einem Gedicht oder einem Märchen bzw. mit einer Geschichte, häufig ohne Angabe des Verfassers eröffnet. Diesen folgten Anekdoten, aktuelle Nachrichten, polizeiliche Meldungen (hier insbesondere Todesfälle, Selbstmorde, Feuergefahr, Meldungen über die gefundenen Sachen, Diebstähle und Betrügereien), Wettervorhersagen, Scharaden, Preisangaben von Fleisch, Getreide und Bier. Die präsentierten Texte kennzeichnete eine Vielfalt an Themen, wobei keine politisch gefärbten Beiträge veröffentlicht wurden. Zur Teilnahme an dem Periodikum wurden grundsätzlich keine berühmten Dichter, Literatur- oder Kunstkenner aufgefordert. Es fehlten die kulturelle Publizistik – Korrespondenzberichte aus anderen Metropolen, die Nach- richten über die kulturellen und politischen Ereignisse. Ihr Ziel war auf keinen Fall die Befriedigung der Ansprüche eines überregionalen Lesepublikums. Es ist sehr schwierig, das Periodikum ausführlich zu charakterisieren, weil die Verleger keine Auskunft über den Plan ihrer Zeitschrift gaben. Außerdem bleiben die Verfasser fast aller Beiträge anonym. Auch über die Auflagenzahl des Blattes wurden keine Angaben überliefert. Erhalten sind lediglich 25 Nummern der Zeitschrift.

6 Erziehungszeitschriften

Der Emil erschien in den Jahren 1801–1806. Der Herausgeber der Zeitschrift war Peter Samuel Schilling (1773–1852) – Lehrer und Schriftsteller. Das Anliegen die- ser grundsätzlich für Kinder und Jugendliche bestimmten Zeitschrift bestand darin, den Charakter und die Gepflogenheiten der Leser zu gestalten. Die Autoren der präsentierten Texte waren von ihrer Rolle als Erzieher überzeugt, sowohl wenn es um Wissen als auch um den Geschmack der Leser ging. Der wöchentliche Er- scheinungsrhythmus gestattete die Veröffentlichung von Fortsetzungsgeschichten. Im Rahmen von kurzen Erzählungen und Abhandlungen wurden vor allem pädago- gische Probleme erörtert. Es blieb lediglich der erste Jahrgang des Blattes erhalten, der in der Universitätsbibliothek in Breslau aufbewahrt wird.

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7 Theologische Zeitschriften

Die Schlesischen Volksblätter erschienen in der Zeit vom Januar 1822 bis zum Dezember 1824. Die Herausgeber waren Heinrich Gottlob Gräve, ein Geistlicher zu Steinkirche (eigentlich in Waldneudorf, poln. Nowa Wieś) bei Strehlen (Strze- lin), und Christian Gottlieb Härtel, Pastor zu Karoschke (Kuraszków) bei Ober- nigk. Das Hauptanliegen der Herausgeber war, Textsammlungen zu liefern, die der Unterhaltung und Erbauung dienen sollten. Den breitesten Raum nahmen in den Volksblättern Schriften über Glaubensfragen und Texte mit religiöser Moti- vation ein. Die Zeitschrift orientierte sich auf ein bürgerliches Publikum hin, statt auf einen beschränkten Kreis an Fachleuten. In den Schlesischen Volksblättern erschienen Texte, die der Förderung und Pflege des geistlichen Lebens dienten. Sie wurden als Leitfäden für die Lebenspraxis geschrieben. Die Herausgeber wollten die Gefühlsebene des Einzelnen ansprechen und in den publizierten Tex- ten eine seelsorgerische Hilfe anbieten. Interessant an dieser Zeitschrift ist, dass hier keine Heiligengeschichten, die ursprünglich verbal vermittelt wurden, als Muster präsent waren. Die Protagonisten der veröffentlichten Texte waren keine Märtyrer, Ordensstifter, Heilige, Apostel, Mönche oder Wunderheiler, sondern in den meisten Fällen einfache Schlesier, aber auch Gelehrte und Prediger. Die Herausgeber publizierten in Form von Aufsätzen biographische Nachrichten von Personen, die als Beispiel für religiöse, erbauende Verhaltensmuster die- nen sollten. Auch die präsentierten fiktiven Lebensgeschichten stellten nachah- mungswürdige Beispiele dar. Die praktischen und moralischen Tugenden wur- den herausgestellt, um den geistigen Aufstieg zu ermöglichen. Evangelische Zeitblätter waren für die Christen bestimmt, die „von Herzen der Vereinigung der früher getrennten lutherischen und reformierten Gemeinden zu einer gemeinsamen evangelischen Kirche zustimmen [...]“. Ihr Herausgeber war Cäsar Wilhelm Aleksander Krause, Archidiakon und Senior zu Sankt Bernardin in Breslau. Sie behandelten die laufenden Probleme innerhalb der evangelischen Kirche, Nachrichten über die neuen Religionsströmungen, das Problem der Ko- existenz der evangelisch-unierten, der lutherischen und der katholischen Kirche. Das Blatt informierte über die Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung bezüglich der Gewissens- und Glaubensfreiheit und über die neue Verfassung. Die zwei ersten Jahrgänge zeugen von den neuorthodoxen Neigungen des Her- ausgebers. In den darauffolgenden äußert er seine Befürchtungen bezüglich eines Durchbruchs des theologischen Rationalismus in der Landeskirche und betont mehrmals, dass das Bekenntnis stets durch die Bibel als der eigentlichen und alleinigen Erkenntnisnorm bestimmt wird und von der Bibel herkommt. Evan- gelische Zeitblätter enthielten biblisch-theologische Aufsätze und Predigten, in denen der Herausgeber Breslauer Bürger anzusprechen suchte. Erhalten sind

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 140 Agnieszka Jóźwiak jeweils die zwölf Nummern der drei ersten Jahrgänge (1846–1848) und sechs Nummern des Jahrgangs 1849.

8 Kulturelle Zeitschriften

Am 4. Januar 1800 erschien das erste Heft des Breslauischen Erzählers. Den Namen hatte der Zeitschrift der Verleger Friedrich Barth gegeben. Die ersten He- rausgeber waren Karl Heinrich Gottlieb Kapf (1772–1839) und Johann Wilhelm Gottlieb Otto Benda (1775–1832). Sie betonten ihren Willen, dem Breslauischen Erzähler möglichste Aktualität zu geben. Den größten Teil der Zeitschrift mach- ten die literarischen Beiträge aus. 32% aller Texte waren Gedichte, Gelegenheits- gedichte und Erzählungen. Gesellschaftliche Problematik, lokale Ereignisse und Anzeigen wurden in 29% der Beiträge behandelt. Moralisierende Aufsätze, Er- innerung an wichtige Persönlichkeiten und lokale Ereignisse umfassten 19% der veröffentlichten Texte. Die meisten Beiträge hatten einen lehrhaften Zweck zu erfüllen (vgl. Hunh 1943: 30). Die Leitung der Zeitschrift übernahm ab dem 14. Heft vom 5. April 1800 Georg Gustav Fülleborn (1769–1803), ein Theologe, Sprach- und Literaturwissenschaftler, seit dem 19. Oktober 1791 Professor für Latein, Griechisch und Hebräisch am Gymnasium zu Sankt Elisabeth in Bres- lau. Die Zeitschrift nahm unter seiner Führung einen beträchtlichen Aufschwung. Die ersten Nummern unter der Leitung Fülleborns waren charakterisiert durch die thematische Eintönigkeit der Beiträge und den moralisierenden Ton. Doch in weiteren Heften äußerte sich der wahre Charakter der Zeitschrift – das Interes- se des Hauptredakteurs an der Volkskunde. Gegenstand seiner Untersuchungen war die Dialektsprache, er machte Zusammenstellungen von Worten, Namen und Wortverdrehungen, die landschaftlich gefärbt waren. Der Gegenstand seiner Un- tersuchungen war die Glogauische Mundart und der Dialekt der Kräuterleute. Angeregt durch ein breites Interesse der Leser und viele Anfragen bezüglich der Dialektsprache veröffentlichte Fülleborn Zusammenstellungen von Namen der Breslauischen Häuser (Fülleborn 1802: 746–748, 793–794) und Erklärungen der Straßen und Ortsnamen. Die Quelle seiner Sammlung von sprichwörtlichen Redensarten und Sprichwörtern waren die alten Breslauer Chroniken (Fülle- born 1800: 226, 276) und historisch relevante Überlieferungen. (Fülleborn 1802: 223) Große Beachtung schenkte er den Volkssagen und Legenden. (Fülle- born 1800: 275, 469, 503, 1801: 26–27) Mehrmals erwähnte Fülleborn die Sage über den Dämon des Riesengebierges, Rübezahl (Olbrich 1905: 39) und zitierte aus einer handschriftlich überlieferten Sammlung alter schlesischer Volkslieder. Ein weiteres Gebiet seiner volkskundlichen Forschungen umfasste die Sitten und Bräuche, die mit dem Jahresablauf oder mit germanisch-christlichen Festen verbunden waren. (Fülleborn 1801: 161, 262, 1802: 98–100, 1802: 85) Dabei

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Journalistische Vielfalt und Darstellungsformen der Presse im Verlag Graß und Barth... 141 betonte er, einige Bräuche hätten den Charakter der Volksbelustigung getragen. (Fülleborn 1801: 594–596, 1802: 145, 163) Kritisch setzte er sich mit dem Aberglauben auseinander. (Fülleborn 1800: 297, 348, 1801: 566, 774, 804) Mit Hilfe gesammelter Komödienzettel schilderte Fülleborn die Geschichte des Bres- lauer Theaters. (Fülleborn 1800: 722, 826) Er zählte die schlesischen Dichter und Tonkünstler auf, (Fülleborn 1801: 356) verfasste Biographien berühmter Breslauer Bürger, Schauspieler und berichtete über die Geschichte und Architek- tur Breslauer Kirchen. (Olbrich 1905: 33) Viele Nummern beinhalten Abbildun- gen verschiedener Orte und Landschaftsbilder mit entsprechenden Kommentaren Fülleborns, so findet man z.B. in der Nummer 49 vom 6. Dezember 1800 die Ab- bildung des Schlosses Schweinhaus, in der Nummer 38 vom 20. September 1800 ein Bild des Wollmarktes in Breslau, in der Nummer 28 vom 11. Juli 1801 die Beschreibung der Stadt Trebnitz. Fülleborns Veröffentlichungen im Breslauischen Erzähler umfassten fast alle Bestandteile der heutigen Volkskundeforschung: Sitte, Brauch, Tracht, Sage, Aberglaube, Sprichwortuntersuchungen und die Dialekt- forschung. Dank seiner volkskundlichen Forschung entwarf er ein anschauliches Bild Schlesiens und der Schlesier. Seine unmittelbaren Nachfolger pflegten den stark volkskundlich ausgeprägten Charakter der Zeitschrift nicht weiter.

9 Schlussbemerkungen

Die oben dargestellten Zeitschriften sind in der Konzeption und in der Struktur so unterschiedlich, dass sie keine eigene Zeitschriftengattung darstellen. Anders als im 18. Jahrhundert, als sich der Typus der Moralischen Wochenschriften he- rausbildete, weisen die Zeitschriften von der ersten Hälfte des. 19. Jahrhunderts an kein einheitliches Profil auf. Mal überwiegt der Charakter eines wissenschaftli- chen Periodikums (Breslauischen Erzähler), mal herrschen die belletristischen Anteile (Breslauisches Tagebuch, Breslauische Abendblatt, Emil, Schlesische Volksblätter), mal die theoretischen Abhandlungen (Evangelische Zeitblätter). Dem schlesischen Buchwesen – Buchdruck und Verlagshandel – wird im All- gemeinen in Darstellungen zur schlesischen Geschichte wenig Aufmerksam- keit gewidmet. Bis jetzt liegt keine ausführliche Monographie zur Geschich- te des Verlags Graß und Barth vor. In den Publikationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts findet man nur gelegentlich Bemerkungen über die Entstehung des Verlags und über die von ihm herausgegebenen Bücher und Zeitungen. Das geringere Interesse der Forscher an der Druckerei Graß und Barth liegt in der führenden Rolle des 1732 gegründeten Korn-Verlags in Schlesien. Hier sollte versucht werden, aus den überlieferten Informationen dieses Verlags den Cha- rakter der Presse vom Anfang des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren.

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Literatur

Czapliński, Marek/Kaszuba, Elżbieta/Wąs, Gabriela/Żerelik, Rościsław (2002): Historia Śląska. Wrocław. Dussel, Konrad (2004): Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert. Münster. Fülleborn, Georg Gustav (eds. (1800–1803): Breslauische Erzähler. Breslau. Haberland, Detlef (2015): Verlagsmetropole Breslau 1800–1945. Oldenburg. Huhn, Günter (1943): Der Breslauische Erzähler und der Neue Breslauische Erzähler. Ein Beitrag zur schlesischen Zeitschriften- und Literaturgeschichte. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universi- tät zu Breslau. Breslau. (unveröffentlicht) Kanngiesser, Peter Friedrich (1809): Breslauisches Tagebuch für den Bürger und Landmann. Breslau. Olbrich, Karl Adolf (1905): Ein Freund und Förderer der schlesischen Volkskunde vor hundert Jahren und seine Zeitschrift. In: Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde, hrsg. von Siebs, Theodor, Bd. 7. Breslau. Schneider, Wolf/Raue, Paul-Josef (1998): Handbuch des Journalismus. Reinbek bei Hamburg. Ungeheuer, Gerold/Wiegand, Herbert Ernst/Steger, Hugo/Burkhardt, Arnim (2001): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Berlin: de Gruyter. Wehler, Hans-Ulrich (1996): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2. München. Wilke, Jürgen (2002): Pressegeschichte. In: Fischer Lexikon Publizistik. Frankfurt.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 GERMANISTICHE WERKSTATT 8 UNIWERSYTET OPOLSKI OPOLE 2019

Agnieszka KLIMAS (Opole) ORCID 0000-0003-4899-6655

Novellisierte jüdische Schicksale im europäischen Osten: Arnold Zweigs Was der Mensch braucht (1937) und Ein Vorfaschist (1922)

Zusammenfassung: Das deutsche und osteuropäische Judentum sowie dessen antisemitische Er- fahrungen im Alltagsleben spielen eine bedeutende Rolle in Arnold Zweigs Novellistik und Essay- istik. Letztere bietet eine Reihe von Versuchen, angesichts eines wachsenden rassischen Antisemi- tismus die kulturellen Leistungen deutscher und europäischer Juden auf verschiedenen Feldern zu bilanzieren. Der vorliegende Beitrag behandelt zunächst mit der Novelle Ein Vorfaschist Zweigs literarische Bewertung jüdischer Pogrome in der Nachkriegszeit in der Ukraine und diskutiert dabei die überraschende, auf einen osteuropäischen Arzt gemünzte Titelgebung Zweigs. Abschließend wird am Novellentext Was der Mensch braucht nachgezeichnet, welche Rolle Zweig der Musik und ihrem Entzug durch Raub in den besetzten Gebieten Litauens zuschreibt. Schlüsselbegriffe: antijüdische Pogrome, Antisemitismus, I. Weltkrieg, Nationalismus

Znowelizowane losy Żydów w Europie Wschodniej: Was der Mensch braucht (1937) i Ein Vorfaschist (1922) Arnolda Zweiga Streszczenie: Niemieccy i wschodnioeuropejscy Żydzi, a także ich antysemickie doświadczenia w życiu codziennym odgrywają znaczącą rolę w nowelistyce i eseistyce Arnolda Zweiga. Ostatnia przedstawia wiele prób bilansowania osiągnięć niemieckich i europejskich Żydów w najróżniej- szych dziedzinach, w obliczu rosnącego antysemityzmu o podłożu rasowym. Niniejszy artykuł zajmuje się w pierwszej kolejności literacką oceną pogromów antyżydowskich na terytorium mię- dzywojennej Ukrainy na przykładzie noweli Ein Vorfaschist, dyskutując między innymi zaskaku- jący tytuł, odnoszący się do wschodnioeuropejskiego lekarza. Ponadto na przykładzie noweli Was der Mensch braucht zostaje ukazane znaczenie, jakie Zweig przypisuje muzyce. Słowa kluczowe: pogromy żydowskie, antysemityzm, I wojna światowa, nacjonalizm

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The amended fate of Jews in Eastern Europe: What people need (1937) and Pre-fascist (1922) by Arnold Zweig Abstract: German and East European Jews, as well their anti-Semitic experiences in everyday life play a significant role in Arnold Zweig’s short stores and essays. His essays represent achievements in various Fields of German and European Jews in the face of the increasing racially motivated anti-Semitism. This article primary deals with the literary depiction of anti-Jewish pogroms in the interwar Ukraine in the short story Pre-fascist and considers the unapparent title which relates to East European doctor. Besides, on the basis of the short story What people need the importance of music is evaluated, as well as its loss in the occupied territory of Lithuania. Keywords: anti-Jewish pogroms, anti-Semitism, I. World War, nationalism

„Schöner Sommer“ (Zweig 1961b: 299) – mit dieser bindenden Alliteration be- ginnt die kurze Novelle Was der Mensch braucht des im schlesischen Glogau geborenen deutsch-jüdischen Schriftstellers Arnold Zweig (1887–1968). Schon auf den nächsten Seiten erfahren wir, wie paradoxal der Aufeinanderbezug die- ses Sommers in den Kriegsjahren zwischen 1915 und 1917 liegenden Sommers mit Schönheit erscheint. Der Unteroffizier Verdy erzählt während einer Zugfahrt durch Litauen die tragische Geschichte einer ostjüdischen Familie, die er im Sommer vorigen Jahres kennenlernte und oftmals besuchte. In Białystok,1 wo er stationiert war, herrschten Typhus und Ruhr, die die Sterberegister füllten. „Ich hatte persönlich Bekannte unter denen, die sich gen Himmel verdrückten oder in die Erde, wie ihr wollt. Zwei Kinder – einen Jungen und ein Mädel, elf und vier- zehn.“ (Zweig 1961b: 300) – berichtet Verdy seinen Reisekameraden lakonisch. Die verwitwete Mutter – „eine stille, bürgerliche Jüdin“ (Zweig 1961b: 300) ver- erbte ihren Kindern helle Augen und blonde Haare, was zusammen mit den run- den, roten Backen dem Unteroffizier erstaunlich erschien, da er solche untypisch anmutenden jüdischen Kinder bislang nur in Österreich sah. „Gedämpfte Munter- keit“ (Zweig 1961b: 300) und „eine nordische Mischung von Zurückhaltung und Wohlwollen“ (Zweig 1961b: 300) sowie das Klavier, sorgten dafür, dass der Soldat sich in ihrem Heim gemütlich fühlte. Eine Oase inmitten der sterbenden Stadt. Das Mädchen zeigte ein großes Talent für das Klavierspiel. Sie spielte gern „So- naten von Haydn, Gavotten von Bach, Mazurkas von Chopin“ (Zweig 1961b:

1 Im Ober-Ost wurde Zweig mit dem Ostjudentum zum ersten Mal seit seiner Kindheit in Kattowitz kon- frontiert, wo er mit den osteuropäischen Juden nur marginal in Berührung kam. Obwohl Zweig schon vor dem Krieg in der von Martin Buber gegründeten Zeitschrift Der Jude zahlreiche Aufsätze veröffentlichte und sich dadurch stets mit seinem Judentum auseinandersetzten musste, blieb er fern aller jüdischen Orthodoxie. Infolge dieser Konfrontation mit dem Ostjudentum, begann er erneut mit dem Zionismus zu sympathisieren und zog in dieser Zeit mehrfach die Möglichkeit in Erwägung, nach dem Krieg ins künftige Zionsland auszuwandern. Diese Begegnung schilderte er später in dem im Jahre 1920 veröffentlichten Werk, seiner ersten Auseinandersetzung über Rolle und Stellung des jüdischen Volkes – Das ostjüdische Antlitz, welches als Appell an die deutschen Juden, die Gemeinschaft des Ostjudentums bewahren zu helfen, gedacht war. Mehr dazu in den biographischen Arbeiten von Jost Hermand (1990: 33–35 und 1992: 68–69) und David R. Midgley (1987: 9).

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301), und der Junge bewunderte sie dabei sehr. Neben Schlafen und Schule war das Klavierspielen für die kleine Riwka das ganze Leben. Dagegen war ihr Bruder bereits ein kleiner Mathematiker. Musik war für die Familie ein Schutz- schild – die Beschlagnahmung ihres Klaviers durch das Kommando Ober-Ost, eine gängige Maßnahme während des Krieges,2 bedeutete für sie eine Todesfal- le. Emotionslos teilt Verdy die Gründe für die Konfiszierung mit, die während seines Urlaubs erfolgte: „Die Unteroffiziere der Wirtschaftsabteilung brauchten ein Kasino, und was der Mensch braucht, muß er haben. Das Kasino brauchte ein Klavier. Wo hatte man ein solches Klavier gehört? Bei der Witwe Dowkin ganz einfach“ (Zweig 1961b: 302). Zwei Wochen nach dem Verschwinden des Klaviers kam Riwka mit Fieber nach Hause. Als ihr das Klavier weggenommen wurde, verliert dieses Mädchen ihr Widerstandsvermögen und wird Teil des Massensterbens. Ohne Klavier und Musik wurde es „innerlich abmarschbereit“ (Zweig 1961b: 302). Das Mädchen kämpfte nicht mit der Krankheit. Mit ihrem Tod war auch der Bruder nicht zu retten. Danach wagte Verdy nicht mehr, Frau Dowkin wieder unter die Augen zu treten, auch das Kasino besuchte er nicht. Das sorgsam geputzte Klavier war für ihn nichts anderes als „ein Doppelgrabstein in musikalischer Ausführung“ (Zweig 1961b: 303). Betrachten wir diese tragische Geschichte, erscheint sie nicht nur lakonisch, son- dern auch allegorisch erzählt, allegorisch in dem Sinne, dass die kleine Novelle Abstraktes bildlich darstellt. Zunächst zum Lakonismus, der ein Vermeiden von Ressentiment und einen A-Psychologismus einschließt: Bei gänzlicher Vermei- dung von Gefühl, Sentiment und psychologischer Motivation berichtet der Un- teroffizier Verdy seinen Kameraden von einer „kitschigen“ (Zweig 1961b: 302) Geschichte über das Verhältnis jüdischer Kinder zu Musik und zu sich selbst. Zweig experimentiert hier mit unterschiedlichen modernen Tendenzen. Zum ei- nen verwendet er verschiedene Modi – 1. Person Singular, was eine subjektive Perspektive mit sich bringt, bei der aber gegen eine Einfühlung bewusst gear- beitet wird, siehe die Bemerkung des Erzählers über die „kitschige“ Geschichte (vgl. Zweig 1961b: 302) und die 3. Person Singular, was dem Bericht Tatsäch- lichkeit vermitteln soll. Was den allegorischen Charakter der Novelle anbelangt, ließe sich die These vertreten, dass sowohl die Musikfaszination des Mädchens wie auch die Mathematikvorliebe des Jungen, aber auch die „gedämpfte Mun- terkeit“ (Zweig 1961b: 300) und „nordische Mischung von Zurückhaltung und Wohlwollen“ (Zweig 1961b: 300) Zeichen einer anderen, von Zweig essayistisch verhandelten Sache sind, die auf Grund von semantischen Verwandtschaftsbezie- hungen eingesetzt werden. Hinter Zweigs Charakteristik der jüdischen Familie wird jene Charakteristik des Judentums erkennbar, mit der Zweig – vor allem in seinem

2 Davon erzählt Zweig auch im Streit um den Serganten Grischa.

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Essay Jüdischer Ausdruckswille (1933) das von Richard Wagner und anderen An- tisemiten an die kulturelle Peripherie gedrängte Judentum in die Mitte der europä- ischen Kultur holt. Zweig erinnert dafür in seinem 1933 verfassten Essay an die Mittelmeerherkunft des jüdischen Volkes, die er zum einen mit Latinität, Form- strenge und Logik also, zum anderen mit dem sinnlichen Timbre der Stimme, also mit Musik verknüpft.“ (Zweig 1991: 100–108). Er integriert das Judentum in die europäische Kultur damit unter den Auspizien klassisch-humanistischer Philoso- phie. Eine Synthese von Sinnlichkeit und Geist ist unverkennbar. Legt man also die Charakteristik der erzählten jüdischen Familie neben sein essayistisches Werk, bietet sie eine zeichenhafte Abstraktion von Zweigs auch essayistisch ausgebreite- tem Judenbild, das dieser gegen Richard Wagners Diffamierung richtet. So weist die „nordische Mischung von Zurückhaltung und Wohlwollen“ (Zweig 1961b: 300), Formhaltung und Kulturhaltung auf die protestantische Tradition hin und die Musikauswahl der kleinen Klaviervirtuosin (Bach, Haydn, Chopin) auf die Bindung zur europäischen Kultur (geschichte). Der souveräne Umgang Riwkas mit Musik und Musikepochen und das Talent ihres Bruders für Mathematik bieten hier eine zeichenhafte Abkürzung (Abbreviatur) des von Zweig auch essayistisch ausgebreiteten Gedankens, dass die Juden Kulturbürger Europas sind. Unter Be- rücksichtigung des essayistischen Werkes von Zweig wird deutlich, was er mit den in dieser Novelle präsentierten jüdischen Figuren erreichen wollte – eine Fiktiona- lisierung der essayistischen Aussage seiner publizistischen Werke. So erscheinen jene, die das Klavier für Klimpereien im Casino beschlagnahmten, um sich dort bei Lärm und Alkohol zu unterhalten, als Totengräber der beiden Kinder. Das Kla- vier bildet einen Doppelgrabstein in musikalischer Ausführung, heißt es im Text, man könnte hinzufügen: in symbolischer Ausführung, er steht dabei auch für das Grab der jüdischen Synthese von Sinnlichkeit und Rationalität. Gleichzeitig mit der physischen Beschreibung der Familie reflektiert Zweig die antisemitische Stereotypisierung der jüdischen Physiognomie, die eine jahrhun- dertlange Tradition hat. Kinder mit hellen Augen, blonden Haaren und runden, roten Backen – und dies während des Ersten Weltkrieges der in die Region Litau- ens eine große Hungersnot mit sich brachte – entsprachen nicht dem Judenbild von Antisemiten, in dem Vertreter dieser Ethnie mit einer Hakennase, engliegen- den Augen und einer gekrümmten Körperhaltung stigmatisiert werden.3 Die an- tisemitische Bildstereotypisierung von Juden mithilfe physiognomischer Termini und rassistischer Differenzierung hat eine längere Geschichte als die naturalis-

3 Die gewählte Zeitform des Passivpräsens wird gezielt eingesetzt, da dieses stereotype Judenbild bis heu- te unter Neonationalisten gängig ist. Dabei wird auf eine der bekanntesten antisemitischen Performances der letzten Jahre hingewiesen, die in Breslau am 18. November 2015 stattfand: während einer Antiimigrantenprote- staktion wurde eine Juden-Puppe verbrannt. Schwarz bekleidet, mit einem Bart, Peies und Hut, sowie mit einer ‚jüdischen Hakennase‘ wurde die Puppe in einen ‚typischen Juden‘ verkleidet.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Novellisierte jüdische Schicksale im europäischen Osten... 147 tische Rassenbeschreibung, die dem modernen Antisemitismus einen „wissen- schaftlichen“ Anstoß gab. Das visuelle antijüdische Stereotyp im deutschspra- chigen Kulturraum lebt in Karikaturen und anderen Kunstzweigen schon vor der Reformationszeit. Seit dem 13. Jahrhundert verbreitete sich in Europa das Motiv der Judensau, das bis heute an vielen Kirchen und anderen Gebäuden zu finden ist. Juden wurden in einer großen Nähe zu nicht koscheren Tieren gezeigt um die ihnen von den Antisemiten zugeschriebene Triebhaftigkeit und Perversität hervorzuheben. Jedoch erst ab den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts4 (mit dem Naturalismus und dessen Rassenbegriff) bedient sich die antisemitische Pro- paganda einer physiognomischen Argumentationsweise, die angebliche Defekte des jüdischen Körpers zum Vorschein brachte. Die Verwurzelung des physiog- nomischen, stereotypen Judenbildes in den europäischen Gesellschaften berei- tete den Nationalsozialisten einen fruchtbaren Boden für ihre Propaganda. Ras- sendelikte, antijudaistische Mythen und Juden diffamierende Artikel publizierte u.a. die 1923 gegründete antisemitische Wochenzeitschrift Der Stürmer. Deutlich reflektiert Zweig mit dieser Novelle die Geschichte des Antisemitismus. Einer- seits bespricht er den traditionellen Judenhass, der sich religiöser und ethnischer Argumente bediente und auf Angst vor dem ‚Anderen‘ basierte. Andererseits be- zieht sich der Autor auf den nachemanzipatorischen, abstrakten Antisemitismus: die Judenverfolgung bekommt in der kapitalistischen Welt eine neue Begründung, Dynamik, denn Juden werden verfolgt, nicht weil sie es verdienen (sei es religiös untermauert – als Mörder von Christus, oder xenophobisch zu begründen – aus Angst vor dem Unbekannten), sondern weil sie infolge der Aufklärung, des kapi- talistischen Umbruchs, sowie der industriell-technischen Revolution eine ökono- mische Stabilität gewannen (vgl. Claussen 2005: 45). Der israelische Historiker Alexander Bein weist in seinen Arbeiten auf die Wandlung der Sprache durch ju- denfeindliche Einstellung hin, die drei Entwicklungen zu der Jahrhundertwende des 19. und 20. Jahrhunderts erlebte: „die Biologisierung, die Technisierung und die Mythisierung“ (Bein 1965: 123). Die Anfänge der „Biologisierung der Spra- che“ (Bein 1965: 123) werden von ihm auf das Ende des 18. Jahrhunderts und die romantische Betonung des „organisch Gewachsenen“ (Bein 1965: 123) datiert. Juden, im Mittelalter als Blutsauger angesehen, später als Vertreter und größte Benefizianten des Kapitalismus empfunden und schließlich nach der naturalis-

4 Benz (2015: 220) bespricht zwei thematische Hauptgruppen der antijüdischen Karikaturen im 19. Jahr- hundert: „Folgt man der gruppensoziologischen Terminologie Gavin Langmuirs, lassen sich im 19. Jahrhundert xenophobe und schimärische Aussagen in antisemitischen Karikaturen unterschieden. Zunächst dominierten als antisemitische Antwort auf die Judenemanzipation und den sozialen Aufstieg vieler Juden ins Bürgertum xenophobe Aussagen, die sich gegen den Anspruch der Juden richteten, auch Bürger und Nationsgenossen zu sein. Juden wurden als Parvenüs dargestellt, die überall dazugehören wollen, ohne den normativen Anforderun- gen der Mehrheitsgesellschaft zu genügen.“ Die schimärischen Aussagen prangerten Juden „als Rassen- und Nationsfeinde an und machten sie für empfundene politische wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Missstände sowie für Krisen, Kriege und Revolutionen verantwortlich.“

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 148 Agnieszka Klimas tischen Rassentheorie als Angehörige „einer minderwertigen, unschöpferischen Rasse“ (Bein 1965: 127) waren leichte Opfer für die der Metaphorisierung mit biologischen Termini: Parasiten, Schmarotzer, Volksschädlinge.5 Eine andere Geschichte des Übergriffs auf Juden, diesmal in den von Polen be- siedelten Gebieten der Ukraine, die 1918 um ihre Staatlichkeit kämpfte, schildert Zweig in der Novelle Ein Vorfaschist aus dem Jahre 1922. In diese Novelle hat Zweig den historischen Kontext eingearbeitet, der für ein Textverständnis kurz skizziert wird. Das Gebiet von Podolien (ein historisches Gebiet in der heutigen südwestlichen Ukraine und im nordöstlichen Teil der Republik Moldau) gehör- te bis zur zweiten Teilung Polens 1793 zur Ersten Polnischen Republik, danach zum Russischen Reich um schließlich nach 1918 infolge des Friedensvertrags von Versailles an die Ukraine zu fallen. Jedoch schon 1921 wurde die Stadt Teil der Sowjetunion. Podolien bildete weiterhin eine plurikulturelle Region. In un- mittelbarer Nachbarschaft lebten dort Juden, Ukrainer, Polen und Weißrussen. Ende des 19. Jahrhunderts betrug der Bevölkerungsanteil der Juden rund 49% (vgl. Magocsi 2002: 109). Die Geschichte notiert jedoch vor allem ein tragisches Ereignis, das am 15. Februar 1919 in Proskurow stattgefunden hat. Im Pogrom von Proskurow, dem Handlungsort der Zweigschen Novelle, wurden innerhalb von drei Stunden zwischen 1.500 bis nahezu 1.700 Juden ermordet und über 1.000 schwer verletzt (vgl. Yonah/Myers 2015: 40–41). Im Verlauf des ukraini- schen Bürgerkrieges, explizit in den Jahren 1917–1921, wurden nach Schätzun- gen in mehr als 1200 antijüdischen Pogromen ungefähr 100.000 Juden ermordet und über 300.000 jüdische Kinder verloren ihre Eltern. Fast 40% der antijüdi- schen Aufstände inspirierten ukrainische Militärtruppen (vgl. Boehlich 2008: 15). Dabei erscheint jedoch die politische Motivation dieser Pogrome relevant. Juden wurden als Verbündete der Bolschewisten und dadurch als Feinde von den ukrainischen Truppen innerhalb der Weißen Armee empfunden. Trotz der von Symon Petljura6 veranlassten gesetzlichen Strafen für die Gewalt an Juden, kam es zu zahlreichen Mordakten, da seine Soldaten wussten, dass sie diese ignorieren

5 M. Caullery beschreibt den Parasitismus folgendermaßen: „Der Parasitismus stellt also eine im allge- meinen dauernde Verbindung zwischen zwei verschiedenen Organismen dar, von denen der eine auf Kosten des andern lebt. Die Verbindung hat einen im Wesen einseitigen Charakter: sie ist fur den Parasiten notwendig, der stirbt, wenn er vom Wirte getrennt wird, weil er sich nicht ernähren kann; sie ist es keineswegs fur den Wirt. Die Organisation des Parasiten ist entsprechend den Lebensbedingungen des Wirtes spezialisiert: die Anpassung ist das Merkmal des Parasitismus“ (zit. nach Bein 1965: 126). Interessant erscheint vor allem der letzte Satz. Freilich haben sich Juden an die deutsche Gesellschaft und dessen Kultur angepasst und einen erfolgreichen Verbürgerlichungsweg durch Bildung erlebt. 6 Der ehemalige Präsident der Ukraine (1919–1920), Symon Petljura (1879–1926), wurde in einem At- tentat auf dem Pariser Boulevard St. Michel am 25. Mai 1926 von einem jüdischen Anarchisten Scholom Schwartzbard umgebracht, der von dem Gericht freigesprochen wurde, da es eine Racheausübung für den Tod seiner Familie war. Sozialgeschichtlich interessant erscheint auch die Tatsache, dass nach der kommunistischen Machtübernahme in der Ukraine Petljura nach Polen geflohen ist, wo er ehrenamtlich aufgenommen wurde. Mehr dazu unter URL: https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/25633, Stand vom 15.05.2018.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Novellisierte jüdische Schicksale im europäischen Osten... 149 konnten. So kann man annehmen, dass Petljura die soldatische Loyalität gekauft hat und die Währung hierfür war die jüdische Existenz. Auf diesem historischen Boden, auf dem sich die Erzählung abspielt, gestaltet Zweig, so wie man es von der Novelle erwartet, eine unerwartete Handlung, die ihre realistische Glaubwürdigkeit schon auch durch die historische Verknüpfung erhält. Tatsächlich haben die Truppen von Symon Petljura 1919 in Proskurow gemordet. Der namenlose Protagonist (ein Jedermann), ein durchschnittlicher polnischer Arzt mit Kriegserfahrung „in einem jener Zarenheere, deren Unstern die Kriegsgeschichte füllt“ (Zweig 1961a: 459) versteht sich als Angehöriger der gebildeten Stände. Nach dem Kriegsende strebt der von Zweig interessanterwei- se eher mit dem preußischen Ordnungsbewusstsein ausgezeichnete Namenslose nach deutscher Ordnung im alltäglichen Leben: „Ordnung, sagt der Deutsche, ist das halbe Leben, und für den Wirrwarr, der auf den Trümmern der großen Monar- chien sein Unwesen treibt, bedeutet sie das Ganze“ (Zweig 1961a: 459). So führt er seit der Demobilisierung ein gewöhnliches Leben in einer sich wiederaufbau- enden schlafenden westukrainischen Mittelstadt namens Proskurow7 – „Nur die Modernität der Berufsführung, französische Lektüre und die am Ohrläppchen scharf endenden kurzgeschorenen Bartstreifen hielten sein Selbstbewusstsein schließlich aufrecht“ (Zweig 1961a: 460). Einerseits hat dieser Protagonist eine preußische ordnungsorientierte Grundhaltung, andererseits erinnert der Habitus seines Benehmens wie die Form seines geschnittenen Schnurrbartes an die polni- sche Bildungsoberschicht, zu der er sich selbst rechnet. Von der hübschen, jungen Frau des Telegrafendirektors, die von ihm trotz eines eher geringfügigen ärztlichen Eingriffs Äther bekommt, den er keinem ukrai- nischen Manne, sowie „dem Marschall Foch oder General Weygand“ (Zweig 1961a: 460) gegeben hätte, erfährt er, dass Symon Petljuras (der spätere Prä- sident der Ukraine) Soldaten, schon in der Nähe seien. Sie berichtet vor dem Arzt von deren Anmarsch, sich schon erwartungsfroh, auf das Massaker an den örtlichen Juden einstellend:

Nicht viele von den Läusen des Landes würden den harmlosen Durchmarsch unserer Helden überdauern, und auch die nicht heil – zerhackt irgendwo, vielleicht um etliche Lot Fleisch be- kappt oder stellenweise eingebeult. Und Spaß werde es einigen geben; zuzusehen werde für Männer nicht unlohnend sein, besonders wenn man’s bequem vom Fenster aus genießen könne wie der Doktor. (Zweig 1961a: 461)

7 Die heute als Chmelnyzkyj bekannte ehemalige polnische Stadt Proskurow wurde 1431 im podolischen Gebiet, am Ufer des Bugs, gegründet. Ab dem 17. Jahrhundert ließen sich dort Juden nieder und bildeten 1897 etwa die Hälfte der Bevölkerung von Proskurow, die sich mittlerweile zu einem bedeutenden Handels- zentrum entwickelte. Mehr dazu URL: https://www.memorialmuseums.org/staettens/druck/1574, Stand vom 15.05.2018.

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Dabei werden die Juden von der Telegrafendirektorsfrau entmenscht, indem sie sagt: „[…] denn dies Gaudium geschähe ja weder an Menschen noch an Vieh.“ (Zweig 1961a: 461). So fallen Juden aus diesem Klassifizierungssystem heraus, sie sind ja nur, wie es im Text heißt, Ungeziefer (vgl. Zweig 1961a: 461). Nach der Verabschiedung der Frau, mitten beim Suppenverzehr überfällt den Doktor „eine Eingebung – die Eingebung“ (Zweig 1961a: 461). Er hört einen überirdi- schen (himmlischen) Befehl und „selbstverständlich durchströmt ihn jene Gewiß- heit, überirdisch erwählt zu sein“ (Zweig 1961a: 462). In den nächsten Stunden kauft sich der polnische, namenlose Arzt trotz Geldmangels im Haus infolge von Inflation einen größeren Verbandsvorrat zusammen. Er spekuliert, verstümmelte und verletzte Juden würden ihn um Verbandsmaterial angehen. Er will viel Geld während der Pogrome machen und nimmt an: „[…] sieben Jahre Krieg, und Web- waren überall verschlissen. Die Betttücher zum Hemden vernäht, die Hemden zu Taschentüchern zerkleinert, die Bettzüge zu Sommerkleidern verbraucht, die Taschentücher zu Flickklappen zertrennt [...]“ (Zweig 1961a: 463). Er bedenkt zudem die zweihundert Pogrome, die in den letzten zwei Jahren nach dem Kriegs- ende in diesem Land stattgefunden haben, mit dem habsüchtigen Fokus auf die genaue Zahl der Ermordeten und Schwerverletzten – „Viel Geld wäre zu machen, mit seinem Verbandstoff-corner, America…“ (Zweig 1961a: 464). Seiner Frau gegenüber rechtfertigt er die Judenschlachtung mit dem Hinweis auf Słowacki. Zudem verarbeitet der Autor diese Nachrichten auf eine sehr realistische Weise. Der Namenslose weiß, dass „im ganzen Lande kaum eine Eisenbahnstation be- steht, auf der nicht Juden aus den Kupees geholt und abgetan worden sind – durch die christlichen ,Wiederbeleber Rußlandsʻ 1919 schon; kennt die Kanonade von Ceplik […], die Abschlachtung auf Abstimmungsbasis in Horodyscze, die Beerdi- gung Toter und Lebender im Massengrab von Saniela […]“ (Zweig 1961a: 464). Aber er – der gebildete Bürger – will sich in die Schlachterei nicht einmischen, so wie Europa oder der Völkerbund möchte er neutral bleiben. Er rechtfertigt die Ju- denschlachtung mit dem Hinweis auf die polnische Nationalliteratur. Es erscheint als patriotisch, dass Juden, die an der kommunistischen Idee der Bolschewiken Gefallen fanden oder einfach mit ihnen ein Schutzbündnis suchen, sterben.

Und auf der Treppe stehenbleibend, ganz mechanisch vor Vertiefung, sieht er in sich hinein, ob er wohl den Grund finden könnte – den zureichenden Grund dafür, daß Juden als Sozialisten sich an das machen, was sie die ,Erlösung‘ solcher Massen nennen […]. Erlösung – und er lacht hell auf, in seinem graudämmerigen Treppenhaus stehend, und hell lacht das Echo über seinen Haaren. Nagaika und Wodka – das ist die Erlösung; ,Knute und Schnaps‘, zwei russische Worte mit sehr realen Dingen dahinter. (Zweig 1961a: 465)

Zunächst wollte der polnische Arzt mit Verbandmaterialien ein Geschäft machen, aber letztendlich siegt der Antisemitismus und der polnische Nationalismus über die finanzielle Kalkulierung. Dies erweist sich als der wahre novellistische Dreh-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Novellisierte jüdische Schicksale im europäischen Osten... 151 punkt, dieser ist die mit Goethes Worten beschriebene „Unerhörte Begebenheit“8 (zit. nach Kunz 1968: 34). Ein ideeller Impuls siegt über die ökonomische Be- gründung. Zu Hause ruft er seine Frau Olga und „erklärt ihr, daß er für nieman- den, der nach Jude oder Jüdin aussehe, in der nächsten Woche zu sprechen sei, und daß er Verbandstoffe nicht im Hause habe; daß aber, wenn Schüsse fallen sollen, die Haustür verschlossen und die Mutter Gottes ins Fenster gestellt wird, das sei selbstverständlich“ (Zweig 1961a: 465). Interessant in dieser Novelle ist der polnische Akzent. Zweig verschmilzt zwei bedeutende literarische Motive bzw. Mythen der polnischen (patriotischen) Ro- mantik. Zum einen hebt der gierige Protagonist bei der ermutigenden Rede, die er an seine polnische Frau richtet, den polnischen Geist als „Messias unter den Nationen“ (Zweig 1961a: 462) hervor, und bezieht sich hiermit auf das berühm- teste Werk der polnischen Romantik – Die Totenfeier III. Teil9 (1832) von Adam Mickiewicz (1789–1855). Zum anderen, mit dem Hinweis auf Juliusz Słowacki (1809–1849), wendet sich die Perspektive auf sein in Genf verfasstes Drama – Kordian (1834), in dem der Titelheld auf dem höchsten Berg Europas – Mont Blanc – die berühmten Worte ausspricht und Polen als Winkelried der Nationen charakterisiert. Bekannt ist die divergente Sicht der beiden polnischen Dichter auf den Novemberaufstand von 1830–1831. Mit seinem Drama widersetzt sich Słowacki dem von Mickiewicz getragenen polnischen ‚Messianismus‘10 (in seiner Totenfeier handelt Mickiewicz vom passiven Märtyrer-Messianismus des polnischen Schicksals). Słowacki setzt sich für einen aktiven Kampf gegen die Besatzungsmächte ein. Wie der mythische helvetische Held Arnold Winkelried (9. Juli 1386 in Sempach), der im Freiheitskampf gegen die österreichischen Mächte sein Leben opferte, ist Polen zur Erlösung anderer Völker prädestiniert. Freilich ironisiert Zweig, mit dem Hinweis auf zwei wichtigste Werke der pol- nischen Romantik, die nationalistische Propagandasprache, die ebenfalls heute rechtsorientierte xenophobe Haltungen mit dem Verweis auf die literarische Tra- dition Polens rechtfertigen möchte. Es ist nicht nur eine ironische Schilderung der von Stereotypen geprägten menschlichen Weltanschauung, die polnisch-nati- onale Ängste entlarvt – Zweig setzt sich auch ironisch mit jüdischen Stereotypen auseinander, die ihren Kern im Antisemitismus finden. Mit diesen Novellen zieht der Autor die Problematik des Ostjudentums in den Vordergrund und dies in der sensiblen Zeit des antisemitischen Aufbruchs in

8 Gespräch mit Eckermann, vom 25. (29.) Januar 1827. 9 Mickiewiczs Totenfeier III. Teil gilt als Meisterwerk des polnischen romantischen Dramas. 10 Der polnische Messianismus bezieht sich auf eine Vorstellung, dass die polnische Nation nach dem Untergang ihres Staates Ende des 18. Jahrhunderts das Leid aller Nationen auf sich nahm, ähnlich wie Jesus Christus es für die Menschheit gemacht hat, um sie zu erlösen. Die patriotische Liebe zu dem polnischen Staat hat nach diesem Denkmuster eine religiöse Dimension.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 152 Agnieszka Klimas

Osteuropa in den ersten Jahren nach dem Kriegsende (1922), sowie kurz vor dem Aufbruch des für das gesamte europäische Judentum tragischen Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte der Juden in Osteuropa hatte einen völlig anderen Charakter als die auf der bildungsorientierten Verbürgerlichung basierende Ge- schichte des deutschen Judentums. Damit trägt Zweig abundant zum zeitgenös- sisch breiten westjüdischen Interesse am Ostjudentum, ihrer Sprache, Literatur und religiösen Lebensformen bei,11 das infolge des Ersten Weltkrieges und der Begegnung deutscher Juden mit ihren ostjüdischen Vettern einen neuen Anstoß erfuhr (vgl. Willemsen 2007: 78). Der Schriftsteller bemüht sich mit diesen No- vellen zu zeigen, dass Juden ein integraler Bestandteil der gesamteuropäischen Geschichte sind.

Literatur

Bein, Alexander: Der jüdische Parasit. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Jg. 13 (1965), Heft 2, 121–149. Benz, Wolfgang (2015): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7. Berlin; München; Boston. Boehlich, Sabine (2008): Nay-gayst. Mystische Traditionen in einer symbolischen Erzählung des jidischen Autors Der Nister (Pinkhas Kahanovitsh). Wiesbaden. Claussen, Detlev (2005): Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus. Frankfurt am Main. Hermand, Jost (1990): Arnold Zweig. Hamburg. Hermand, Jost (1992): Engagement als Lebensform: über Arnold Zweig. Berlin. Kunz, Josef (ed.) (1968) : Novelle. Darmstadt. Magocsi, P. R. (2002): Historical Atlas of Central Europe. Seattle. Midgley, David R. (1987): Arnold Zweig. Eine Einführung in Leben und Werk. Frankfurt am Main. Willemsen, Martina (2007): Fritz Mordechai Kaufmann und Die Freistatt. (= Conditio Judaica). Tübingen. Yonah, Alexander/Myers, Kenneth (2015). Terrorism in Europe. Routledge. Zweig, Arnold (1991): Jüdischer Ausdruckswille. Publizistik aus vier Jahrzehnten. Berlin. Zweig, Arnold (1961a): Novellen. Bd. 1. Berlin. Zweig, Arnold (1961b): Novellen. Bd. 2. Berlin. URL: https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/25633, Stand vom 15.05.2018. URL: https://www.memorialmuseums.org/staettens/druck/1574, Stand vom 15.05.2018.

11 Leider blieben zu dieser Zeit seine Juden thematisierende Novellen außer Acht. Bis heute zitiert und als relevant empfunden, werden seine bekanntesten essayistischen Texte wie Aussenpolitik und Ostjudenfrage (1920), aber vor allem die mit Hermann Struck veröffentlichte Sympathiebekundung – Das ostjüdische Antlitz (1920).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 GERMANISTICHE WERKSTATT 8 UNIWERSYTET OPOLSKI OPOLE 2019

Monika WÓJCIK-BEDNARZ (Opole) ORCID 0000-0003-1248-4404

Zum Umgang mit dem österreichischen Gedächtnis im Generationen- und Familienroman Es geht uns gut von Arno Geiger

Zusammenfassung: Mit der Veröffentlichung von Arno Geigers Roman „Es geht uns gut“ (2005) bricht in der österreichischen Literatur die Wiederbelebung des Genres ‚Familienroman‘ an, der auch von der Literaturwissenschaft neu definiert wird. Die von der Hauptperson unternommene ‚Entrümpelung‘ der geerbten Familienvilla kann als Metapher für die Befreiung der jungen Öster- reicher von deren Familienerbe gelesen werden. Im Beitrag wird nach Anhaltspunkten für die Aus- einandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit und Umgang mit dem Gedächtnis gesucht. In der über drei Generationen erzählenden und stark in der österreichischen Geschichte verankerten Familiengeschichte Erlachs werden die Figuren der fiktionalen Handlung mit historischen Ereig- nissen der Jahre zwischen 1938 und 1989 dicht verstickt. In der Analyse wird der emanzipatorische Ansatz der – vor allem weiblichen – Figuren während der modernisierenden Zeitströmungen und in derer Befreiung von Gesellschaftszwängen und Tradition dargestellt. Schlüsselwörter: Österreich, Gedächtnis, Generation, Familienroman, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Arno Geiger

Rozrachunek z austriacką pamięcią w powieści rodzinnej i pokoleniowej U nas wszystko dobrze Arno Geigera Streszczenie: Wraz z wydaniem książki Arno Geigera U nas wszystko dobrze w literaturze au- striackiej zauważalne jest odrodzenie powieści rodzinnej i pokoleniowej oraz nowe zdefiniowanie tego gatunku w literaturoznawstwie. Akcję usuwania przez głównego bohatera staroci ze strychu odziedziczonej po babci rodzinnej willi można odczytać jako metaforę uwolnienia się młodego po- kolenia Austriaków od przejętego dziedzictwa rodowego. Referat jest próbą wskazania na aspekty rozrachunku z austriacką przeszłością oraz konfrontacji z pamięcią. Powieść rekonstruuje fikcyj- ną historię trzech pokoleń rodziny Erlach uwikłanej w autentyczne wydarzenia mające miejsce w Austrii na przestrzeni od 1938 do 1989 roku. W analizie wyeksponowano koncepcję emancypacji – szczególnie kobiecych – postaci w związku z zachodzącymi zmianami społecznymi oraz proces ich uwalniania się od wywieranej presji społecznej i wiążącej tradycji. Słowa kluczowe: Austria, pamięć, pokolenie, powieść rodzinna, rozrachunek z przeszłością, Arno Geiger

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Attitude to Austrian memory in the multi-generational and family novel We are doing fineby Arno Geiger Abstract: With the publication of Arno Geiger’s We are doing fine, the Austrian literature has ex- perienced a revival of multi-generational and family novels, and a new definition of the genre has been coined in literary studies. The process of the main character removing antiques from the attic of the villa he has inherited from his grandmother could be interpreted as a metaphor of liberating the young generation of Austrians from their inherited national heritage. The paper is an attempt to point out aspects of coming to terms with the Austrian past and confronting the memory. The novel reconstructs a fictitious story of three generations of the Erlach family, entangled in authentic events that took place in Austria in 1938–1989. The analysis highlights the concept of emancipation of (particularly female) characters in connection with occurring social changes, and the process of their liberation from exerted social pressures and binding tradition. Keywords: Austria, memory, generation, family novel, confronting the memory, Arno Geiger

1 Neuentdeckung des fabularen Zaubers in Familien- und Generationenromanen

Die Problematik des Erinnerns und Vergessens gehört nach wie vor zu den span- nendsten Themen der Gedächtniskultur (vgl. Assmann 2016; Assmann 2013), welche interdisziplinär verschiedene Felder in Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht erforscht (vgl. Erll 2017; Gudehus 2010). Eine Vielzahl von den seit 2000 veröffentlichten literarischen Texten gestaltet Vergangenheitserzählungen im Rückgriff auf Familie und deren Personal. Der neue Familienroman,1 der alte, in der Realität erprobte Erzählmuster aufgreift und der Jetztzeit und jeweils der Intention der Autoren entsprechend modifiziert, stellt oftmals Brüche in Familien ins Zentrum (vgl. Kaszyński 2017: 166–167). Deren erzählerische Bewältigung stellt Gedächtnisse in Frage, die politisch oder gesellschaftlich dominieren. Bedenkt man die dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Europa und deutlich auch in Österreich, nimmt es nicht wunder, dass – um eine Formulierung des Literaturkenners Ste- fan H. Kaszyński aufzugreifen – die „Neuentdeckung des fabularen Zaubers des Erzählens durch die jüngere Generation der österreichischen Schriftsteller“ zum „integrativen Bestandteil der literarischen Landschaft“ (Kaszyński 2012: 292) ebenso gehört wie der Rückkehr zum ästhetischen Modell der traditionellen Kunst

1 Die Sachwörterbücher der Literaturwissenschaft, wie etwa die 2007 herausgegebene 3. Auflage desMetz - lers Lexikon Literatur: Begriffe und Definitionen hrsg. von Dieter Burdorf u.a. definieren den ‚Familienro- man‘ als einen „Romantypus, der Verhältnisse familiären Zusammenlebens im Kontext einer oder mehrerer Generationen darstellt“ (S. 229), wobei der Konflikt nicht immer auf die Familie konzentriert bleibt, sondern der „kritisch-reflektierenden Gestaltung der psychologischer historischer und gesellschaftlicher Bedingungen, aber auch der Ehe-, Generations-, Erziehungs-, Zeit- oder Künstlerproblematik“ (S. 229) dient. Diese Elemente können auch anderen Romankategorien zugeordnet werden.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Zum Umgang mit dem österreichischen Gedächtnis... 155 des Erzählens. Dass der Familien- und Generationenroman2 ein vielfach bewährtes Genre für die Thematisierung von Geschichte auch in Österreich ist, zeigt beispiel- haft Arno Geigers3 2005 erschienener und mit dem Deutschen Buchpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichneter Roman Es geht uns gut. In diesem Beitrag beabsichtige ich zu untersuchen, wie die Narration des Romans Es geht uns gut an die familiale und eben hierdurch österreichische Geschichte erinnert und wie innerhalb dieser Textur österreichisches historisches Erbe bewer- tet wird. So ist es unerlässlich, zwei Fragen nachzugehen. Es soll gefragt werden, was aus der österreichischen Geschichte von Geiger selektiert und mit der Fami- lie verknüpft wird, und es soll gefragt werden, wie und in welchen sprachlichen und kommunikativen Modi innerhalb der erzählten Familie gesprochen wird.

2 Privatisierung der Geschichte Das von der Literaturwissenschaft und der Kritik als ‚Familienroman‘ (vgl. Fleig 2012; Höfler 2008; Nelles 2016) aufgefasste Werk greift neben der Aufnahme von historischen Ereignissen der Zeit nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich 1938 über die letzten Kriegstage, die Gründung der Zweiten Repu- blik 1955 hinein bis ins Jahr 1989. Neben diesem historischen Bogen, der das Leben der Österreicher und der erzählten Familie geprägt hat, spiegelt der Roman auch aktuelle Probleme wie Einsamkeitserfahrungen (vgl. Gösweiner 2010) und eine Identitätskrise der modernen Gesellschaft in den Nullerjahren wider. Interes- sant erscheint, dass der 1968 in der Nähe von Bregenz geborene Prosaiker Arno Geiger in diesem Werk eine narrative Struktur nutzt, mit der sich sein Roman von herkömmlichen Familienromanen unterscheidet. Mit der Anwendung seiner poly- perspektivischen Narration sucht Geiger durch die Figur von Philipp Erlach, dem Vertreter der jüngsten Generation, und durch die differenten Erzählperspektiven anderer Familienmitglieder, namentlich der Großeltern Alma und Richard Sterk, der Eltern Ingrid und Peter Erlach, eine österreichische Familien-Geschichte zu schreiben. Geiger synchronisiert die Geschichte der erzählten eigenen Familie

2 Auch wenn der Begriff ‚Generationenroman‘ in keinem der gesichteten Nachschlagewerke gefunden wurde und lediglich im Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert ein Verweis auf das Stichwort „Familienroman“ gemacht wird, wird er in der Fachliteratur als ‚neuer Familienroman‘ definiert, in dem die eigene Familiengeschichte der Autoren vom historischen Standpunkt einer dritten Generation aus erzählt wird. Familienromane zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass ihre Erzählperspektive oft gewechselt wird. Sie bewegen sich thematisch in einem breiten Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und Referenzialität und haben überdies oft keine chronologische Struktur (vgl. Herrmann 2016: 79). 3 Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Seine Werke: Alles über Sally: Roman (2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen: Drei Reden (2011), Selbstporträt mit Flusspferd: Roman (2015) und Unter der Drachenwand: Roman (2018) erscheinen bei Hanser Verlag in München. Er erhielt u.a. den Deut- schen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer- Stiftung (2011) und den Alemannischen Literaturpreis (2017). URL: https://www.hanser-literaturverlage.de/ autor/arno-geiger/. Stand vom 20.04.2018.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 156 Monika Wójcik-Bednarz mit zentralen Ereignissen österreichischer Geschichte Österreichs, was seine aufwändige Recherche erkennen lässt. Zu solchen, in den Roman einbezogenen Ereignissen gehören: der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland 1938, der Antisemitismus, die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als Hitlerjun- gen an Geschehnissen der letzten Kriegstage, aber auch die bahnbrechenden Ereignisse der österreichischen Nachkriegsgeschichte, wie die Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 und – die Grenzen Österreichs überschreitend – die europäische Geschichte im Jahre 1989, was an den Fall des Eisernen Vorhangs denken lässt. Mit der ‚Privatisierung der Geschichte‘, die sich gegen die bishe- rige „Tendenz der Politisierung des Privaten“ (Jabłkowska 2012: 299–300) in der deutschsprachigen Literatur richtet, beabsichtigt Geiger erklärtermaßen, der großen Historie das Private zurückzugeben. In einem Interview betont der Au- tor, „die Aufgabe der Literatur [sei es], für das Individuum einzutreten und nicht für das Großereignis“ (Schneeberger 2008). Dass ihm die Geschichte privati- sierende Wende des Erzählens gestalterisch geglückt ist, zeigt die Begründung seines Schriftstellerkollegen, Bodo Kirchoff, für die Entscheidung der Jury des Deutschen Buchpreises. Geiger gelingt es, „Vergänglichkeit und Augenblick, Ge- schichtliches und Privates, Erinnern und Vergessen in eine überzeugende Balance zu bringen“ (Haas 2005), heißt es dort.

2.1 Aufbau der Geschichte Die Komposition des Romans ist eine Verflechtung der in der Gegenwart angesiedelten Rahmenerzählung, die aus 13 Tagen des Lebens von Philipp Erlach besteht. Jedes der 21 Kapitel des im Zeitraum vom 16. April bis zum 20. Juni 2001 erzählten Romans widerspiegelt einen Tagesablauf nach dem Eintritt der Erbschaft und dem Beginn von Aufräumungsarbeiten in der Fa- milienvilla. Daran schließt Geiger acht andere, in der Vergangenheit spie- lende und vom Leben der Großeltern und Eltern handelnde Kapitel mit nicht chronologisch geordneten Tagesdaten an. Immer handelt es sich dabei um für das Land relevante Ereignisse, erzählt aus der gegenwärtigen Perspektive und mit Focus auf die eigene Familiengeschichte. Die Vergangenheit setzt der Autor ins Verhältnis zur Gegenwart, um zu zeigen, dass die Familienge- schichte immer noch etwas Erlebtes ist. Abwechselnd werden private und of- fizielle Begebenheiten geschildert, was der österreichischen Geschichte und dem Geschehen in der Welt ein individualisiertes Antlitz verleiht. Die Ereig- nisse werden dabei nicht chronologisch und nicht linear erzählt. Signifikant ist vielmehr, dass die Figuren in verschiedenen Kapiteln in unterschiedlichen Kontexten auftauchen. Verwendete Erzählmodi wie innere Monologe, die Er- innerungen Almas, zeigen, dass der Autor die Nähe zu seinen Figuren sucht und nicht auf die alte auktoriale Distanz des traditionellen Familienromans

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Zum Umgang mit dem österreichischen Gedächtnis... 157 setzt. Der Roman kann als Hypertext bezeichnet werden, da Geiger auch an- dere Intertexte, wie zum Beispiel Informationen über Kultur und Wetter, wie auch Schlagzeilen und Teile von Nachrichten zur innen- und außerpolitischen Lage, zitiert. Geiger verknüpft die private Familiengeschichte von Eltern und Großeltern Phi- lip Erlachs mit den Ereignissen des öffentlichen Lebens in Österreich von 1938 bis 2001. Obwohl die Großeltern Richard und Alma Sterk noch in der Kaiserzeit zur Welt kamen, prägte ihre Jugendzeit die nach 1918 gegründete Erste Republik. Den ‚Anschluss‘ Österreichs und die darauf folgenden Kriegsjahre erleben sie schon in ihren Ehejahren. Im Krieg verlieren sie ihren 14-jährigen Sohn Otto, einen eifrigen Hitlerjungen. Die jüngere Tochter Ingrid fügt sich nicht den An- ordnungen des patriarchalischen Vaters Richard Sterk. Die emanzipierte Tochter zieht deswegen von zu Hause weg und lebt in einer von dem Vater missbilligten Beziehung, ohne auf ihr Medizinstudium – anders als ihre Mutter einst – zu ver- zichten. Ingrid gilt im Roman als Aufbruchsfigur, eine ausgebildete, berufstätige Ärztin und Mutter zweier Kinder. Wegen zweifacher Belastung durch Beruf und Familie leidet sie an spontaner Kaufsucht und an einem Hang zu Alkohol, wo- durch sie zu einer tragischen Figur wird. Ihr Leben endet auch tragisch, als sie bei einer Flussfahrt ertrinkt.

3 Umgang mit der österreichischen Geschichte in Geigers Roman Das Jahr 1939, das Geburtsjahr der Mutter des Erzählers Ingrid, stellt den Anfang der erzählten Zeit der Romanhandlung dar. In die Geschichte ging diese Phase als Anschluss Österreichs an das Dritte Reich ein, der am 12. März 1938 (mithin vor 80 Jahren) vollzogen wurde. Die Ära Millennium beginnt mit dem Tod von Alma Sterk, Philipps Großmutter, deren Erbe er antritt. Der 36-jährige Erzähler, Philipp Erlach erbt 2001 von der verstorbenen Großmutter die Familienvilla im noblen Wiener Stadtteil Hietzing. Alma, in ihrer Jugend eine starke, moderne Frau mit kurz geschnittenem Haar, gibt ihr Medizinstudium nach der Heirat auf (Geiger 2005: 70). Obwohl ihr traditionell denkender und handelnder Mann, Richard Sterk sie um ihre Logik beneidet, hält er nicht viel davon, ihre intellektuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Auch die sexuellen Bedürfnisse seiner Frau werden von ihm nicht wahrgenommen, denn „sein Respekt vor ihr vereitelt jeden Anlauf“ (Geiger 2005: 71). Das patriarchalische Oberhaupt der Familie ist Repräsentant jener Generation von Männern, die noch vor dem Ersten Weltkrieg, in den so ge- nannten ‚guten Häusern‘ geboren wurden, was ihn aber nicht daran hindert, mit dem Kindermädchen eine feurige Affäre zu haben. Richard Sterk, der „Vizedi- rektor der Städtischen Elektrizitätswerke“ (Geiger 2005: 62), wird wegen seines politischen Engagements am folgenden Tag nach dem Anschluss Österreichs

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 158 Monika Wójcik-Bednarz an das nationalsozialistische Dritte Reich am 13. März 1938 zur Einschüchte- rung kurz verhaftet. Als aktiver Politiker der konservativen Partei tritt er da- nach tatsächlich von der Politik zurück, um nach 1945 wieder als Minister der österreichischen Regierung zu fungieren, ohne für die Zeit vor 1945 „Rechen- schaft ablegen“ (Geiger 2005: 26) zu müssen. Der in der Nachkriegszeit an den Wiederaufbau Österreichs wirkende Minister Richard Sterk, versäumt aller- dings die Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 in Belvedere wegen eines eitrigen Zahnes. Als christlich-konservativer Politiker ist er kein Anhänger der neuen national- sozialistischen Ordnung, diese wirkt sich jedoch auf sein Leben stark aus. Die Entscheidung Richards, das Geschäft seiner Frau zu verkaufen, hing vermutlich damit zusammen, dass er mit dem Regime keine Geschäfte machen wollte. Den Verlust des Familiengeschäftes soll Alma mit dem Erwerb von Bienenhäusern der ins Exil ausweichenden jüdischen Nachbarfamilie Löwy kompensieren. Da- mit macht Geiger auf das Problem der ‚Arisierung‘ von enteignetem oder zu- rück gelassenem jüdischen Besitz aufmerksam, von dem viele Anhänger des Nationalsozialismus in Österreich zu profitierten scheinen. Diese Möglichkeiten standen allerdings nur denjenigen zur Verfügung, die entweder mitmachten oder keinen Widerspruch gegen die Vorgehensweise der Nazis einlegten. Wie dies vor sich ging, veranschaulicht folgendes Beispiel in der Geschichte: Ein ehemaliger Kollege von Richard, ein SS-Offizier, rät ihm ausdrücklich ab, auf die Unterlas- sungsklage gegen einen Mitarbeiter des Geschäftes seiner Frau zu verzichten, der statt auf die Wäsche aufzupassen, Hitler zujubelte und damit einen Sachschaden hervorbrachte. Seiner Meinung nach werde der Prozess gegen einen Hitleran- hänger Richard den Zugriff auf den ehemaligen Judenbesitz unmöglich machen. In der Familie Sterk – wie in vielen österreichischen Familien – wird nur ungern darüber und allgemein über die Vergangenheit gesprochen, obwohl Richard Sterk als Politiker an dem Aufbau des demokratischen Österreichs der Nachkriegsjah- re mitwirkte. Über das politische Geschehen Österreichs nach 1945 entschieden die noch vor dem Krieg aktiven Politiker, wogegen für die jungen Österreicher der Zugang zur Politik, zum Teil wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangen- heit, verschlossen blieb. Für die jungen Österreicher galt die Vergangenheit als „ein irreführender Begriff“ (Geiger 2005: 349), wie Alma mit ihrem analyti- schem Verstand in einem Gespräch mit ihrem Mann über vergangene Zeit reflek- tiert und daraus ein treffendes Fazit zum Stand des kollektiven Gedächtnisses des Landes zieht,

denn plötzlich hatten wir eine eigene Zeitrechnung, wie es seinerzeit auch zwei Wetterberichte gab, einen für die Touristen und einen für die Bauern. Du mußt entschuldigen, Richard, es kommt mir heute so absurd vor, was anderswo eben erst passiert war, war in Österreich bereits lange her, und was anderswo schon lange her war, war in Österreich gepflegte Gegenwart. Ist es dir nicht

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auch so ergangen, daß du manchmal nicht mehr wußtest, hat Kaiser Franz Joseph jetzt vor oder nach Hitler regiert? Ich glaube, darauf lief es hinaus, wie bei einem Brettspiel hat eine Figur die andere übersprungen, die einträgliche Figur ist über die kostspielige hinweg, und plötzlich war Hitler länger her als Franz Joseph, das hat den fünfziger Jahren den Weg geebnet, das hat Öster- reich zu dem gemacht, was es ist, nur erinnert sich niemand mehr daran oder nur sehr schwach. (Geiger 2005: 349)

4 Die Familienvilla als Metapher für Österreich

Im Mittelpunkt der generationenübergreifenden Familiengeschichte steht die ‚Haus-Metapher‘ (Zeyringer/Gollner 2012: 777). Das Haus weckt an jeder Ecke Erinnerungen an die Familie. Mit der beauftragten Entrümpelung der Villa beseitigt Philipp Erlach die gesamte familiäre Hinterlassenschaft. Auf dem Dach- boden, der als Speicherzelle von abgestellten Erinnerungsstücken, Fotos und Do- kumenten, teilweise gebrauchten und kaputten Gegenständen fungiert, bezweckt er, Abschied von der Familiengeschichte zu nehmen. Die Entrümpelung des Dachbodens wird als Metapher für die Auseinanderset- zung der österreichischen Gesellschaft mit der ungewollten Geschichte gelesen, was auch in der Anspielung an das von Peter Erlach entworfene erfolgreiche, jedoch für den Erfinder mit großen finanziellen Verlusten verbundene Spiel Wer kennt Österreich? ersichtlich ist. Auch das Nicht-Erzählen wird zum tragendem Problem des Romans Es geht uns gut. Das von Philipp geerbte, lange nicht aufgesuchte Haus konnte eigentlich zu einem Gedächtnisort und zu einer Entdeckungsreise in die Geschichte sei- ner Familie werden. Das verkommene, staubbedeckte und ungewollte Erbstück ist jedoch voll von negativen Erinnerungen weckenden Gegenständen, weshalb Philipp beabsichtigt, das ganze Mobiliar mit den dazu gehörigen Dokumenten prompt entsorgen zu lassen. Zur Entrümpelung des Dachbodens bestellt er einen großen Container und zwei ukrainische Schwarzarbeiter.

5 Mangelndes Kommunizieren

Der einsame und passive Einzelgänger Philipp will sich in Sachen Familienge- schichte am besten an Nichts erinnern. Diese „familiäre Generalamnesie“ zeigt sich schon am Anfang der Geschichte in einer Szene mit der auf dem Treppen- geländer befestigten Kanonenkugel. Während Philipps Geliebte Johanna, an der Herkunft dieser Kugel interessiert, bei Philip nachhackt, fühlt dieser sich dabei überfragt. Seine darauf abwehrende Reaktion: „Wenn allgemein nicht viel gere- det wird“ (Geiger 2005: 8), deutet auf ein mangelndes Kommunizieren über die Vergangenheit in der Familie hin.

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Eine bedeutende Rolle beim Problem des Erinnerns und Vergessens spielt in der Geschichte die Zeit. Philipps Versuch, sich in der Gegenwart von der ‚erblichen‘ Belastung zu befreien, baut das Gerüst von Geigers Geschichte. Die mehrdimen- sionale Zeitebene kommt in der Erzählzeit in der Präsensform zum Ausdruck, um „alle Figuren aus ihrer eigenen Zeit verstehen zu wollen“,4 so Geiger in einem Interview. Dies mache sie gleichberechtigt:

Ich wollte eine Erzählhaltung finden, die allen Figuren gleichermaßen gerecht wird. Deshalb er- zähle ich im Präsens, deshalb die Entscheidung für einzelne Tage, was mir ermöglicht, sehr nahe an die Figuren heranzugehen. Im Ergebnis ist sowohl die Zeithierarchie aufgebrochen, die etwas Wertendes hat, weil weniger wichtig erscheint, was länger her ist, als auch die Generationenhie- rarchie, erklärt Arno Geiger im Interview mit Peter Landerl.5 Die Verweigerung der eigenen Stimme gilt sowohl den Frauen, als auch den Kindern. Aus Richard Sterks fundamentaler Haltung seiner Frau gegenüber, was explizit fol- gende Textstelle veranschaulicht, ist die daraus resultierende Stellung der entmündig- ten Frauen in der damaligen Gesellschaft ersichtlich:

Daß Frauen haushalten sollen, ab und zu im Bett funktionieren (aber nicht zu oft und wenn, dann im Schweinsgalopp) und daß zum Kinderkriegen und -großziehen Intelligenz nicht erforderlich ist, weil das nötige Hirnschmalz durch die sporadische Anwesenheit des Haushaltsvorstandes ein- gebracht wird. Oder durch reine Gedankenübertragung, da der Mann mit den Kindern ja ohnehin nicht redet. Was aber Entscheidungen, Finanzen und technische Dinge anbelangt, haben Frauen das Maul zu halten, ja. Klappe. (Geiger 2005: 25–26)

Für die Generation der Großeltern war in ihrer Kindheit das Kommunizieren mit ihren Vätern gar nicht möglich, denn „die Kinder hatten sich wie Topfblumen zu betragen“ (Geiger 2005: 72). Die Nachkriegsgeneration zeichnet sich durch die Knappheit innerfamilärer Kommunikation aus, die auf den Postkartengrüßen sogar mit der Portoermäßigung belohnt wird,

als ob die Wörter auch für den Postboten Gewicht hätten, als ob man an Staatsbürgern interes- siert sein müsse, die für eine Ersparnis von zwei Schillingen darauf verzichten, mehr mitzuteilen als nur Mama, mir geht es gut! (Geiger 2005: 28), womit der Romantitel alludiert wird. Auch über die verstorbenen Kinder wird nicht viel geredet (vgl. Geiger 2005: 38). Bei Alma taucht der unverarbeitete Verlust der Kinder – der 14-jährige Sohn Otto war gefallen, die Tochter Ingrid ertrunken – in Träumen (Geiger 2005: 38) auf.

4 Arno Geiger im Interview mit Peter Landerl. Literaturhaus Wien. URL: http://www.literaturhaus.at/index. php?id=5232, Stand vom 10.05.2018. 5 Ebd.

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6 Umgang mit dem Nationalsozialismus Auf die Perspektiven von Familienmitgliedern projiziert Geiger „realistische Verfahrensweisen“ (Tischel 2016: 60), hierzu zählt die Mitteilung realer Orte, Daten und Fakten, wodurch der Geschichte der Familie Sterk und Erlach ein Wahrheitsgehalt vermittelt wird. So erscheint sie als eine österreichische Fa- milie, die sich dem Nationalsozialismus und seiner Rassenpolitik weder stark widersetzte noch sich anpasste (vgl. Tischel 2016: 60). Richard Sterk zieht sich zwar aus der Politik zurück, doch dies hindert nicht seinen mit 14 Jah- ren gefallenen Sohn Otto, zu einem überzeugten Hitlerjungen zu werden. Der Schwiegersohn Peter Erlach wächst zu Hause in nationalsozialistischer Atmo- sphäre auf, tritt – wie die meisten Jugendlichen damals – in die Hitlerjugend ein und wird in den letzten Kriegsmonaten in der Schlacht um Wien verwundet. Bei Peter kommt es zur ersten Reflexion über den Unsinn seines Einsatzes in den Kriegshandlungen beim ziellosen Herumirren durch das zerbombte Wien ohne Anleitung und Befehle. Der Anblick eines erhängten Soldaten, auf dessen Brust ein Schild befestigt wurde, der diesen „als Feigling und Deserteur aus[weist]“ (Geiger 2005: 116) löst Grauen und bei Peter Angst um seine Zukunft nach dem Krieg aus. Die Frage und Suche nach eigener Identität überwiegt im Den- ken der im Krieg aufwachsenden Elterngeneration. Der in den letzten Kriegs- tagen traumatisierte Vater Peter und die berufstätige Mutter Ingrid, sind derart mit ihrer Arbeit und ihrem Familienleben beschäftigt, dass ihnen wenig Zeit für Erinnerungen und Reflexion bleibt. Diese Erfahrungen einer ganzen Generation lassen lange an den Krieg den- ken. Dies geschieht, obwohl die 1938 ‚Angeschlossenen‘ durch die Moskau- er Deklaration von 1943 zu ersten Opfern erklärt wurden. Die Gesellschaft in Österreich versucht jedoch rasch, sich frei von der Belastung der Nazizeit zu zeigen, was in der Szene der letzen Kriegstage veranschaulicht wird, als dem hungrigen und verletzten Peter Hilfe seitens des Onkels verweigert wurde. Da sich der Teil Österreichs, wo die Handlung spielt, unter sowjetischer Besat- zung befand, werden die Verwandten, sich an die neue Macht anpassend, fortan „neutral“ (Geiger 2005: 21). Dies weist auf einen Weg der Demokratisierung Österreichs, bei welchem – anders als in Deutschland – Entnazifizierungspro- zesse kaum stattfanden. Dies wirkt sich bis in die desinteressierte Haltung von Angehörigen der Enkelgeneration der Familiengeschichte gegenüber aus. Die- se wird im Roman in der Figur von Philipp dargestellt. In der literarischen Auseinandersetzung mit den drei Generationen der Familie Erlach kommt es zu einer plausiblen Darstellung der Enkelfigur. Philipp Erlach wird die Rolle eines ungewollt Erbenden zugeteilt. Philipp lebt ohne festes Ziel: sein literarisches Talent führt nicht zum Erfolg, er hat keinerlei Beziehung zu seiner Familie, weswegen es in seinem Leben an familiären Erinnerungen fehlt. Hinzu kommt,

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 162 Monika Wójcik-Bednarz dass sein langjähriges Liebesverhältnis mit einer verheirateten Frau auch keine feste Partnerschaft verspricht. Ersichtlich ist dabei, dass die Eltern und Großeltern einen beträchtlichen Beitrag zur Bildung von Philipps Identität haben, auch wenn er sich von ihnen seit Jahren distanziert. Der Kontakt zu dem Vater und zu den Großeltern ist fast abgebro- chen, sodass Philipp sich der Chance entschlägt, mit dem Erbe sein Ich auf den Prüfstand zu stellen. Von dem Geerbten ist er lediglich an der Villa interessiert, ohne den „Erinerungsstaub“ (Geiger 2005: 42).

Um Philipp historische Plausibilität und biographische Tiefe zu geben, habe ich über seine Eltern nachzudenken begonnen, dann über seine Großeltern. Das Historische und Österreichi- sche war zweitrangig, es gibt den Figuren Halt und Stabilität. Vielleicht ist es eine Stärke des Romans, daß „Es geht uns gut“ nicht vordergründig, sondern lediglich aus innerer Konsequenz eine Art Österreich-Roman ist,6

äußert Geiger in seinem Interview mit Peter Landerl.

7 Schlussbetrachtung

Arno Geiger wird in der österreichischen literarischen Landschaft als ein „er- zählerisch hochbegabter und scharfsinniger Beobachter der modernen Gesell- schaft“ (Kaszyński 2017: 166), ja sogar als „wahre Entdeckung der neuen ös- terreichischen Literatur“ (Kaszyński 2012: 292) angesehen. Geigers Roman Es geht uns gut, der zum literarischen Ereignis des Jahres 20057 wurde und auch ins Polnische (Geiger 2009) übersetzt wurde, ist ein Generationen- und Fami- lienroman und ein Gesellschaftsroman mit Fokussierung auf das bürgerliche Familienstammhaus gleichermaßen. Jedoch im Unterschied zum typischen Fa- milienroman verlaufen die Handlungsstränge jeweils getrennt und polyperspek- tivisch erzählt, was mit der Veränderung der Strukturen erklärt werden kann. Das traditionelle, hierarchische Familienmodell wird durch die modernen Familien in ihren verschiedenen Konstellationen ersetzt. In der über drei Generationen erzählten und stark in dem Geschehen in Österreich verankerten Geschichte der Familie Erlach werden die Figuren der fiktionalen Handlung mit historischen

6 Arno Geiger im Intervier mit Peter Landerl. Literaturhaus Wien. URL: http://www.literaturhaus.at/ index.php?id=5232,Stand vom 10.05.2018. 7 Geigers Roman wurde von einigen Rezensenten als Österreich-Roman rezipiert. Er wurde wegen seines erzählerischen „Raffinements“ im Spiegel als „großartiger Roman“ und als großer österreichischer Familien- und Generationenroman jenseits nostalgischer Klischees bewertet. Vgl. Daniel Haas, Deutscher Buchpreis für Arno Geiger. Es bleibt in der Familie. Spiegel Online vom 18.10.2005. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ deutscher-buchpreis-fuer-arno-geiger-es-bleibt-in-der-familie-a-380313.html [Zugang am 30.11.2018]. Diese gattungsspezifische Zuschreibung legitimiert noch einmal die auch von mir vorgenommene Einordnung des Romans in diese beiden Rubriken.

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Ereignissen der Jahre zwischen 1938 und 1989 dicht verstrickt. Dabei ist die Frage und Suche nach eigener Identität bei der Eltern- und Enkelgeneration tragend. Signifikant ist, dass die Entwicklungen der Frauengestalten in den drei geschilderten Generationen zunehmend mit auflösenden Rollenfixierungen der Männerfiguren einhergehen. Die weiblichen Figuren werden in modernisieren- den Zeitströmungen und in derer Befreiung von Gesellschaftszwängen und Tra- dition dargestellt. Der Roman Es geht uns gut stellt einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit dar.

Literatur

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Gabriela JELITTO-PIECHULIK (Opole) ORCID 0000-0002-2232-081X

Ricarda Huchs Werk im Spiegel der zeitgenössischen germanistischen Literaturkritik

Zusammenfassung: Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Rezeption des Werkes von Ricarda Huch in der zeitgenössischen deutschen Literaturkritik. Im Jahr 2014 wurde das 150. Geburtstags- jubiläum der Dichterin, promovierten Historikerin und Philosophin deutschlandweit mit Fachkon- ferenzen, öffentlichen Gedenkfeiern und wissenschaftlichen Publikationen gefeiert. Im Jahr 2017 wurde an das 70. Todesjahr von Ricarda Huch gedacht. Auch im Jahr 2018 wurden herausgeberi- sche Initiativen aufgegriffen, die an Huch erinnern. Die Fragestellung des Beitrages richtet sich auf die aktuelle Lesbarkeit und Bedeutung des thematisch und gattungsgeschichtlich vielfältigen Werkes der Autorin. Schlüsselwörter: Ricarda Huch, Marcel Reich-Ranicki, Thomas Mann, Rezeptionsgeschichte der deutschen Literatur des 20. Jhs.

Twórczość Ricardy Huch w ujęciu współczesnej niemieckiej krytyki literackiej Streszczenie: Artykuł oscyluje wokół zagadnień związanych z recepcją dzieła Ricardy Huch w ujęciu współczesnej niemieckiej krytyki literackiej. W roku 2014 została upamiętniona 150. rocznica urodzin pisarki, doktora historii oraz filozofa konferencjami naukowymi, oficjalnymi uro- czystościami oraz publikacjami naukowymi. W roku 2017 przypadła 70. rocznica śmierci pisarki. Również w 2018 roku podjęto inicjatywy wydawnicze upamiętniające Huch. Rodzi się zatem py- tanie odnośnie współczesnej poczytności oraz znaczenia tematycznie zróżnicowanego oraz gatun- kowo różnorodnego dzieła Ricardy Huch. Słowa kluczowe: Ricarda Huch, Marcel Reich-Ranicki, Thomas Mann, historia recepcji literatury niemieckiej XX w.

The work of Ricarda Huch in the context of the contemporary German literary criticism Abstract: The article oscillates around issues related to the reception of the work of Ricarda Huch in the context of the contemporary German literary criticism. In 2014, the 150th anniversary of the birth of the writer, doctor of history and philosopher was commemorated , including scientific con-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 166 Gabriela Jelitto-Piechulik ferences, official ceremonies and scientific publications. The 70th anniversary of the writer’s death fell in the year 2017. Also in the year 2018, some publishing initiatives to commemorate Huch have been made. Therefore, a question arises concerning the contemporary popularity as well as the significance of Ricarda Hutch’s thematically diverse work of various genres. Keywords: History of the reception of German literature in the 20th century

Das Jahr 2014 wurde von der deutschen Literaturkritik als das Huch-Jahr be- zeichnet. In diesem Jahr wurde das 150. Geburtstagsjubiläum der Dichterin, promovierten Historikerin und Philosophin Ricarda Huch mit Fachkonferenzen, öffentlichen Gedenkfeiern und wissenschaftlichen Publikationen deutschlandweit gefeiert und im vergangenen Jahr 2017 wurde an das 70. Todesjahr von Ricarda Huch gedacht. Es schließt sich somit für die deutsche Literaturkritik ein Bogen, der eine über einhundertjährige Rezeptionsgeschichte des Werkes von Ricarda Huch umfasst. Für diese Rezeptionsgeschichte sind Phasen charakteristisch, in denen Ricarda Huch als die „erste Frau Deutschlands […] wahrscheinlich Europas, als die hervorragende Schriftstellerin“ (Mann 1975: 298) gefeiert wurde, bis hin zu Phasen, in denen sie als die große unverstandene und eine vergessene Dichterin und Denkerin erschien (Reich-Ranicki 1985:1). In diesem Zusammenhang scheint es von Bedeutung zu sein, zunächst einmal die Themenfelder der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literaturkritik in Bezug auf das Leben und Werk von Ricarda Huch zu skizzieren. Berücksichtigt werden ausschließlich gedruckte Publikatio- nen: wie geschlossene Arbeiten, Kapitel in Monographien sowie Pressetexte. Den Zeitrahmen für die folgende Betrachtung bilden die Jahre 2014 bis 2017 sowie einige herausgeberische Initiativen des ersten Halbjahres 2018.

1 Biographische Schwerpunktlegung in geschlossenen Monographien

Große Verdienste für die Popularisierung des Lebens und Wirkens von Ricarda Huch sind Katrin Lemke anzurechnen, die zwei kleine Monographien veröffent- lichte. Im Jahre 2014 kam die Studie Ricarda Huch. Die Summe des Ganzen. Leben und Werk heraus, ein Jahr darauf der Band Ricarda Huch. Mein Herz, mein Löwe. Schriften und Briefe. Beide Veröffentlichungen erschienen im Rahmen der Weimarer Verlagsgesellschaft und widerspiegeln das Forschungsprofil des 2008 von „Weltbürgern, Künstlern, Musen und Mäzenen“1 gegründeten wissenschaftli- chen Unternehmens. Das Herausgeberinteresse der Weimarer Verlagsgesellschaft

1 Siehe die Webseite des Verlages: https://www.verlagshaus-roemerweg.de/Aktuelles/kategorie/weimarer- verlagsgesellschaft, Stand vom 26.04.2018.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Ricarda Huchs Werk im Spiegel der zeitgenössischen germanistischen Literaturkritik 167 gilt vor allem der deutschen Klassik und „den kulturellen Schätzen Weimars“,2 wie auch Monographien, Sachbüchern, Lexika und Ausstellungskatalogen. Zu den Verlagen der Weimarer Verlagsgesellschaft gehört seit 2013 das Verlagshaus Römerweg GmbH und der Fourier Verlag GmbH mit dem Sitz in Wiesbaden. Es wundert nicht, dass diese Huch-Monographien, die für ein Lesepublikum mit geringen oder fehlenden Ricarda Huch-Kenntnissen gedacht wurden, in diesen Verlagen erschienen sind, weil beide sich auf die Veröffentlichungen von bellet- ristischer Literatur mit wenigen Ausnahmen der anspruchsvollen wissenschaftli- chen Literatur spezialisieren. Die erste Studie von Katrin Lemke: Ricarda Huch. Die Summe des Ganzen. Leben und Werk, widerspiegelt mustergeltend die Hauptlinien der zeitgenössi- schen deutschen Rezeption des Huchschen Werkes. Die Huch Biographin ver- stand durchaus die prekäre Lage um die Unkenntnis des Huchschen Lebens und Werkes. Oder suchte sie, ihren zeitgenössischen Lesern ein geschlossenes Bild der Dichterin und Denkerin anzubieten: „Ricarda Huch gestaltete ihr Werk un- beirrbar, zielstrebig und mit großer persönlicher Kraft. Sie wird hier als eine der großen Gestalten der deutschen Literatur gewürdigt. Zwei Jahrhunderte zwei Welt- kriege, zwei komplizierte Ehen – ein Leben in der Literatur“ (Lemke 2014a: o. S). Diesen holistisch gezogenen Rahmen füllt Lemke mit einer chronologischen Übersicht über die einzelnen Lebens- und Werketappen von Ricarda Huch aus. Sie orientiert sich hierfür an den 1938 von Huch verfassten Erinnerungen an mein Leben. Derart entsteht kaum Originalität, und es lässt sich behaupten, es handle sich bei dieser Studie um eine Umschreibung der Huchschen Autobiographie aus dem Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Möglicherweise ist jedoch die Absicht von Lemke darin zu sehen, dass sie mit Huch gemeinsam den potentiel- len zeitgenössischen Leser auf eine intellektuelle Reise in die Gedankenwelt der Dichterin und Denkerin mitnehmen möchte. In diesem Zusammenhang ist die Absicht von Lemke, den geistigen Kosmos von Huch sowie die Beweggründe ihres Handelns zu erschließen und aus dem Kontext der historischen, politischen und sozialen Umstände und Veränderungen heraus zu skizzieren, als ein Vorteil des Buches zu verstehen. Lemke zeichnet die Lebensgeschichte einer Frau nach, die ihrem Zeitalter weit voraus war, die sich Kraft ihres geistigen Potentials zu einem unabhängig denkenden Individuum und zu einer Dichterin entwickelte, die wiederum ihr Leben zu einer Dichtkunst umgestaltete. Als ein Beispiel für die erste Lebensetappe gilt für die Biographin die Beziehung der gerade sechzehn- jährigen Ricarda Huch zu ihrem Schwager und Cousin, dem angehenden Juris- ten, Richard Huch. Lemke geht einen Schritt weiter, als Ricarda Huch es in ihren

2 Siehe das Internetangebot des Verlages: https://www.verlagshaus-roemerweg.de/Weimarer_Verlagsge- sellschaft.html, Stand vom 26.04.2018.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 168 Gabriela Jelitto-Piechulik autobiographischen Skizzen gewagt hatte. Sie gewinnt hierbei die Erkenntnis, die Huch nicht zum Ausdruck brachte oder bringen konnte: Sie entpersonifiziert Richard Huch und deutet ihn als eine Projektion der Sehnsüchte, Wünsche und Vorstellungen Ricardas von sich selbst einerseits und andererseits dem erhoff- ten Mann ihrer Träume. Dass Richard diese Hoffnungen nicht erfüllen konnte, wird Huch erst 1911 auf schmerzhafte Art und Weise bewusst, was sie in eine tiefe Schaffenskrise stürzte.3 Aber in der ersten Lebensetappe war die verbotene Beziehung zu Richard durchaus für die geistige Entwicklung und Profilierung von Ricarda Huch fördernd. Um sich vor einem gesellschaftlichen Rufmord zu retten, reist Huch 1887 nach Zürich mit dem Entschluss, sich hier universitär ausbilden zu lassen, was in dieser Zeit Frauen in Deutschland noch verwehrt war (vgl. Jelitto-Piechulik 2015: 168–178). Sie genießt die gewonnene Freiheit, holt in kurzer Zeit die Maturaprüfung nach, nimmt das Studium der Geschichte und Philosophie an der Zürcher Universität auf, schließt sich dem Fraueneman- zipationsmilieu in Zürich an und forscht zur deutschen Romantik, auch lebt sie die gesellschaftlich verbotene Liebe zu Richard aus. Das Lebensmotto von Huch aus dieser Zeit fand Lemke in einem Zitat aus dem Erstlingsroman von Ricarda Ludolf Ursleu (1893):

Ich sah auf einmal … dass es nichts und gar nichts gibt, was im Leben einen festen Stand hat. Das Leben ist ein grundloses und uferloses Meer; ja, es hat wohl auch ein Ufer und geschützte Häfen, aber lebend gelangt man dahin nicht. Leben ist nur auf dem bewegten Meere, und wo das Meer aufhört, hört auch das Leben auf. (Lemke 2014a: 31)

Es handelt sich hier um die Sehnsucht eines jungen menschlichen Individuums, das das Leben als einen ständigen Transformationsprozess versteht, damit es aus dem inneren Erleben heraus überhaupt lebens- und erlebenswert erscheint. Diese aus der Begeisterung von Ricarda Huch für die Frühromantik resultierende Er- kenntnis begleitet sie als Dichterin, Historikerin und Denkerin ihr Leben lang. Dazu kam Huchs aus dem Leben heraus gewonnene moralische Verantwortung für das eigene Handeln und für das Handeln der Mitmenschen. Die Huchsche Biographie in der Sicht von Lemke rundet die Darstellung der Ereignisse aus den Jahren 1933 bis 1947 ab. Die Initiativen von Huch aus dieser Zeit deutet Lemke als die Summe des Huchschen Charakters und Wirkens. Die Räumlichkeit für die Darstellung der biographischen Zusammenhänge bildet die Stadt Jena, in die Ricarda 1936 kam und die seit ihrer Beschäftigung mit der deutschen Frühro- mantik einen Sehnsuchtsort bildete. Huch als innere Emigrantin, die sich auch zu ihrer Ablehnung des NS-Regimes öffentlich bekannte (vgl. Gehler 2010: 241),

3 Folge dieser Schaffenskrise war, dass Huch sich mit religiösen und weltanschaulichen Themen befasste. Ihre Studien zu dieser Problematik mündeten in folgenden Arbeiten: Luthers Glaube (1916), Der Sinn der Hei- ligen Schrift (1919) und Entpersönlichung (1921).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Ricarda Huchs Werk im Spiegel der zeitgenössischen germanistischen Literaturkritik 169 entfaltet hier ein reges gesellschaftliches Leben und sammelt ab Spätherbst 1939 regimenonkonforme Intellektuelle um sich.4 Lemke greift eine bisher von der Huch-Forschung zu wenig beachtete Tatsache auf: Huch drohte im Zusammen- hang mit dem Anfang 1938 gegen sie und ihren Schwiegersohn, dem Juristen und Wirtschaftswissenschaftler, Franz Böhm, eingeleiteten Verfahren die Internierung in einem Konzentrationslager wegen Vergehen gegen das Heimtückegesetz.5 Die Biographin Lemke schließt ihre Studie mit der Schilderung des Untergangs der Stadt Jena während des Bombenangriffs vom 19. März 1945 ab und nutzt hierbei die Erzählung Huchs Tag in Jena 1945. Abschließend behandelt sie den geisti- gen Wiederaufbau Deutschlands und Huchs Ansichten der Katastrophe als selbst verschuldet. Es ist die Stadt Jena, in der der potentielle Leser aufgefordert wird, nach den Spuren des Huchschen Lebens und Wirkens zu suchen (vgl. Jelitto- Piechulik 2018: 299–308). Die zweite biographische Studie von Katrin Lemke Ricarda Huch. Mein Herz, mein Löwe. Schriften und Briefe (2015) bildet einen erneuten Versuch, Ricarda Huch ins literarische kollektive Gedächtnis der Deutschen einzuschreiben. Die- ses zweite Buch von Lemke entspricht wohl dieser Forderung, in dem sie sich mit dieser Herausgabe um ein Handbuch, um ein Kompendium des Werkes und Wissens über und um Huch einsetzt. Es handelt sich hier um eine von der Her- ausgeberin eingeleitete Auswahl von Primärtexten: Gedichten, Briefen, Erzäh- lungen von Huch in einer chronologischen Zusammenstellung. Es werden auch zwei Erinnerungstexte an Ricarda Huch von ihrer langjährigen Vertrauten und Sekretärin Antje Lemke (2015: 121–127; Lemke 2014b: 113–119) und von ihrem Enkelsohn Alexander Böhm (2015: 129–136) mitveröffentlicht. Es scheint, dass Katrin Lemke sich anhand dieser Darstellungstechnik eine unmittelbare Kommu- nikation zwischen der Autorin und ihrem potentiellen Leser erhoffte. Um Huchs Namen einen Rang zu verleihen, wird sie als „berühmte und charismatische Zeit- genossin Thomas Manns und Rainer Maria Rilkes“ (Lemke 2015: Klappentext) bezeichnet, ohne dass auf die Verbindungen Huchs mit diesen namhaften Dich-

4 Ab Spätherbst 1939 organisierte Huch regelmäßige Treffen einmal in der Woche in einem Jenaer Café. Es trafen sich zehn, zwölf befreundete Ehepaare aus dem Umkreis der Universität (vgl. Lemke 2014a: 126). Es handelte sich hier um keinen praktischen Widerstand, auch nicht um Konspiration. Ziel dieser Treffen von systemkritischen Gleichgesinnten war ein Informationsaustausch über die gegenwärtige politische Lage. 5 Eine Folge der juristischen Vorgehensweise gegen Huch und Böhm war der Entzug der Lehrstuhlvertre- tung in Jena im Mai 1938 sowie später die Fortführung von Böhms Privatdozentur an der Universität Freiburg. Beide ‚Verdächtigten‘ lehnten auch eine Begnadigung infolge eines Amnestiegesetzes ab, denn dies würde für sie beide ein Schuldgeständnis bedeuten (vgl. Lemke 2014a: 124). Interessant und von der Huch-Forschung bisher nicht beachtet ist die Tatsache, dass Böhm in einem Brief vom 7. Mai 1970 an Dolf Sternberger berichtet, dass er Kenntnis von zwei Anträgen zu seiner „Verbringung in ein Konzentrationslager“ erhalten habe, die Kolb unterzeichnet hat. Der Reichsjustizminister Franz Gürtner, der Huch bewunderte, setzte sich dafür ein, dass die Strafsache Huch-Böhm beim Sondergericht in Weimar beendet wurde. Böhm wurde entlassen und mit einer geringen Pension in den Ruhestand geschickt (vgl. Lemke, 2014a: 125).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 170 Gabriela Jelitto-Piechulik tern eingegangen wird.6 Diese Tatsache lässt sich damit erklären, dass Lemke ihr Buch als eine an den potentiellen Leser gerichtete Einladung versteht, mit dem Ziel, sich künftig einerseits mit dem Werk der Autorin intensiver zu befassen und andererseits, um über Huchs Lebensdevise: trotz der Notwendigkeit im Leben Kompromisse schließen zu müssen, „vor ihrem eigenen Gewissen geradezuste- hen“ (Lemke 2015: 14), individuell nachzudenken.7

2 Beiträge über das Leben und Werk von Ricarda Huch in Zeitschriften und wissenschaftlichen Reihen

In der Veröffentlichungsreihe der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach am Neckar Spuren 108 erschien 2015 als eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstädten in Baden-Württemberg, heraus- gegeben von Thomas Schmidt, die Studie von Jutta Bendt unter dem Titel Ricar- da Huch in Freiburg. Die Biographin, die sich seit den 90er Jahren intensiv und akribisch mit dem Leben und Werk von Ricarda Huch beschäftigt, beschreibt die Zeitspanne zwischen Oktober 1934 und dem Jahr 1936, in denen sich Huch in Freiburg im Breisgau aufhielt. Sie unternimmt den Versuch, das literarische Schaffen und das öffentliche Auftreten von Huch in den politisch-sozialen Rea- lien der 30er Jahre nachzuzeichnen und zeigt zugleich, wie Huch nach Möglich- keiten suchte, um ihren Zeitgenossen die historische Bedeutung der deutschen, historisch bedingten, Staatlichkeit und des Begriffes Nation vor Augen zu führen. Zugleich macht Bendt verständlich, dass Huch die Erkenntnis schmerzte, dass die meisten Deutschen sich nach 1933 verblenden ließen.8 Jutta Bendt verweist auch auf die marginale Position von Ricarda Huch in der Literatur der 30er und 40er Jahre, die der Dichterin selbst durchaus bewusst war. Ihre Abwesenheit im literarischen Betrieb nach 1933 verstand Huch nicht als eine Manifestation der inneren Emigrantin, vielmehr als ein Beweis dafür, dass sie sich ihre individuelle Freiheit und Entscheidungskraft aufbewahrt habe (vgl. Bendt 2015: 1–2).

6 Rainer Maria Rilke zeigte sich als ein Verehrer der Liebesgedichte von Ricarda Huch, die 1912 in sei- nem Sammelband im Insel-Verlag erschienen sind. Rilke teilte in seinem Brief an Huch vom 07.11.1912 seine Bewunderung für ihr dichterisches Talent mit und hob zugleich hervor, dass in Huchs Gedichten „die Kraft, die Beherrschung, das reine Umhergehenkönnen mit dem unendlichen Gegenstand“ (Henkel 1983: 226) zu finden ist. 7 „Riskieren wir also den zweiten Blick und setzen wir uns – lesend – ins Verhältnis“ (Lemke 2015: 15) – lautet Lemkes abschließende Aufforderung. 8 Im Jahre 1934 erschien im Atlantis-Verlag der erste Band der historischen Studie von Huch: Römisches Reich Deutscher Nation. Ricarda Huch spricht sich hier als Historikerin für die Idee der dezentralistischen Staatstruktur am Beispiel des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Für diese Publikation erntete Huch kritische Rezensionen seitens der Anhänger der Nationalsozialismus in Deutschland. Sie wurde als Magierin verschrien, die die Erwartungen der Realität missversteht (vgl. Koeppen 1935: 71).

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Für die Verbreitung des Wissens um das Leben und Werk von Ricarda Huch setzte sich Volker Wahl ein, indem er dem 150. Geburtstagsjubiläum der Autorin die Sondernummer 2 aus dem Jahr 2014 der Zeitschrift Weimar-Jena: Die große Stadt9 unter dem Titel Ricarda Huch in Jena 1936 bis 1947 widmete. In dem Editorial hebt Wahl hervor, dass das Werk von Huch inzwischen in Vergessenheit geriet. Die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Emrich und Bernd Balzer in 11 Bänden herausgegebenen Gesammelten Werke von Ricarda Huch sind nur in Antiquitätenbuchhandlungen zu erwerben. Erwähnenswert ist die Studie von Katrin Lemke über das Ricarda-Huch-Porträt des Jenaer Arztes Rudolf Lemke. Ein Bild und seine Hintergründe. Diese Studie bildet einen Beitrag zur Erschließung der Biographie von Huch im Sinne der Bildästhetik. Wie Huch selbst zugab, bevorzugte sie Fotographien, die die Wirklichkeit darstellten, und sie posierte für Portraits nur ungern.10 Die letzte Version des Bildes von Rudolf Lemke entstand 1941 in Jena.11 Wohl am treffendsten beschrieb dieses Huch- Bildnis Golo Mann:

wenn ich je eine Gestalt sah, für welche der Ausdruck ‚königliche Frau‘ zutraf, so war sie es: hochgewachsen, mit bewusst altmodischer Eleganz gekleidet, dunkel und bis zum Halse ge- schlossen, der Kopf vornehm und geistvoll, […] spröde, […] wenn nicht hochmütig, […] zu- rückhaltend und nicht ohne Stolz. (1973: 18)

Golo Mann, mit dem Huch ein freundschaftliches Verhältnis verband, und der sie vor allem als Historikerin verehrte, erkannte aus dem Habitus der Dichterin ihre Charakterzüge: Es handele sich um eine vollkommene Synthese des äußeren Habitus und des Inneren der Dichterin im Sinne des frühromantischen Künstler- modells (vgl. Jelitto-Piechulik 2017: 211–224). Die Ergänzung des Ricarda-Huch-Themenheftes bilden die Beiträge in den nach- folgenden Nummern der Zeitschrift Weimar-Jena: Die große Stadt: In der Num- mer 3 aus dem Jahr 2004 erschien der Text von Friedrich Denk Ricarda Löwen- herz – eine Nachlese zu Ricarda Huchs 150. Geburtstag sowie in der Nummer 1 aus dem Jahr 2015 eine Bearbeitung von Volker Wahl Fliegerangriff – Ricarda Huchs literarisches Vermächtnis. In beiden Texten wird erneut auf die Problematik der

9 Zum Forschungsvorhaben von Volker Wahl gehört die Darstellung von Fakten, die sich auf das Leben und Wirken von Ricarda Huch in Jena in den Jahren 1936–1947 beziehen (Wahl 2014: 91). 10 Von den gemeinsamen Reisen mit dem Geliebten Richard Huch sind zahlreiche Fotos überliefert, die in unterschiedlichen Fotoateliers angefertigt wurden (vgl. Bendt/Schmidgall 1994: 396–370). Im Brief vom 27. August 1896 schreibt Ricarda Huch den Briefempfänger Richard von „unseren Bildern“ (Gabrisch 1998: 19, 800). 11 Für die Entstehung dieses Huch-Portraits hat sich sehr stark die Ehefrau des Malers, Antje Bult- mann-Lemke, engagiert. Die Freundschaft zwischen Ricarda Huch und Antje Lemke begann im Jahre 1949 (vgl. Lemke 2015: 117–118). Antje Bultmann-Lemke wurde ab 1944 Privatsekretärin der Dichterin (vgl. Lemke 2015: 123–125).

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Stellung von Ricarda Huch zum Nationalsozialismus eingegangen. Denk ver- weist auf die Schriften, die zwischen 1943 und 1944 in der nationalsozialisti- schen Presse veröffentlicht wurden sowie auf den letzten Gedichtband von Huch unter dem Titel Herbstfeuer und machte es sich zur Aufgabe, nach systemkri- tischen Inhalten in Huchs Werk zu suchen (vgl. Häntzschel 2016: 137–149). Wahl zeichnet auch die Entstehungsgeschichte der erschütternden Erinnerungen von Huch an den Fliegerangriff in Jena vom 19. März 1945 nach, die Huch in einer Radiosendung vom 9. April 1947 in der Schweiz mitteilte (vgl. Wahl 2015: 77–104). Mit dieser Initiative wurde der Versuch unternommen, Ricarda Huch als eine deutsche Intellektuelle und Zeitzeugin in das öffentliche Bewusstsein der Schweizer zu rufen.12

3 Presseaufsätze über das Leben und Werk von Ricarda Huch

In der führenden deutschen Tagespresse erschienen Aufsätze im Rahmen des 150. Geburtstagsjubiläums des Autorin. Erwähnenswert sind Texte von: Dorit Krusche Ricarda Huch. Wilder, böser, schöner, in „Die Zeit“ 17.07.2014; Tilman Krause Sie war jahrzehntelang die erste Frau Deutschlands, in „Die Welt“, 18.07.2014; Klaus Bellin Kraft, Geist und Mut. ,Die Stimme einer herrlichen Frauʻ: Vor 150 Jahren wurde Ricarda Huch geboren, in „Neues Deutschland. Sozialistische Zei- tung“, 18.07.2014; Hartmut Scheible Ricarda Huch, neu zu entdecken. Reich, Romantik und Rätesystem, in „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, 02.12.2015. Diese Aufsätze setzten sich zum Ziel die Darstellung von solchen Aspekten aus dem Leben und Werk von Ricarda Huch, die einen Bezug auf unsere Gegenwart haben und die auch die potentiellen Leser ansprechen können. Dorit Krusche wendet sich der Tätigkeit von Huch als Historiker(in) zu, und betont, dass für Huch die Geschichte die größte Mythenerzählerin überhaupt war, und die Auf- gabe des Historikers darin bestünde, diese Mythen in den zeitgenössischen Rea- lien zu entziffern und in die Gegenwart zu übertragen.13 Der Literaturhistoriker Hartmut Scheible bespricht in seinem Aufsatz die Einsichten von Huch bezüglich der deutschen Staatsgeschichte. Den Verlust der organischen Einheit14 der deut-

12 Ricarda Huch hielt am 4.12.1916 in Zürich im Rahmen der Vorlesungsreihe des Lesezirkels Hottingen ihren Vortrag „Über den Begriff des Helden“. In der Schweizer Presse erntete sie eine heftige Kritik für ihre Darlegung des Heldenbegriffs während des Ersten Weltkrieges. In dem sozialdemokratischen Blatt „Volks- recht“ vom 7.12.1916 wurde Huch vorgeworfen, dass sie die Heldenhaftigkeit des Generals Blücher als Werk- zeug Gottes verstanden habe und dass die Friedenszeit für einen germanischen Helden ein Fluch sei. 13 Ricarda Huch nahm an der Diskussion ihrer Zeit zur Bedeutung der Geschichte und zur Darstellung von geschichtlichen Ereignissen teil. Sie polemisiert mit dem führenden Geschichtstheoretiker Leopold Ranke, dem sie die Unterwürfigkeit der Realität gegenüber vorgeworfen habe (vgl. u.a. Naturphilosophie 1984: 535-560). 14 Ihre Überlegungen entnahm Huch den Idealen der Frühromantiker und insbesondere der Naturphiloso- phie von Schelling.

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Ricarda Huchs Werk im Spiegel der zeitgenössischen germanistischen Literaturkritik 173 schen Staatlichkeit erblickt Huch im Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 sowie in der Einigung Deutschlands unter der Vorherrschaft Preußens – so Scheible. Tilman Krause wendet sich dem Kultur- begriff von Ricarda Huch zu, übersieht dabei den Einfluss von Heinrich Wölfflin auf die geistige Profilierung von Huch und betont, dass sie sich vorwiegend an den Arbeiten von Jacob Burckhard orientiere, dabei das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung stellend. Dieses Huchsche Individuum verei- nige in sich die entgegengesetzten Potentiale – das Innere und das Äußere – und bringe somit eine schöpferische Tat zugunsten der Menschheit im humanitären Sinne hervor. Der Literaturkritiker Klaus Bellin wendet sich erneut Huchs Protest gegen das NS-Regime zu und beschreibt die Zusammenhänge ihres Austritts aus der Preußischen Akademie der Schönen Künste – Sektion Dichtkunst im Jahr 1933. Alle diese Werkrezensenten und Biographen von Ricarda Huch sprechen von der Überzeitlichkeit des Huchschen Oeuvres, welche aus der intellektuellen Tradition der deutschen Geistesgeschichte hervorgegangen sei.

4 Wissenschaftlicher Sammelband zur Krönung des Huch-Jahres 2014 Zu den wissenschaftlich bedeutendsten Studien zum Leben und Werk von Ricarda Huch im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Jahres 2014 gehört der von Cord- Friedrich Berghahn, Jörg Paulus und Jan Röhnert unter dem Titel: Geschichtsgefühl und Gestaltungskraft. Funktionalisierungsverfahren, Gattungspoetik und Autor- reflexion bei Ricarda Huch im Universitätsverlag Winter in Heidelberg im Jahr 2016 herausgegebener Sammelband. Ricarda Huch wird in diesem Band als eine „Zeitgenossin der Moderne“ und deren „schärfste [...] Kritikerin“ (Berghahn/ Paulus/Röhnert 2016: 7) präsentiert. Das wohl treffendste Urteil über die Auto- rin Huch fällte Hiltrud Häntzschel in ihrem Beitrag Die Unzeitgemäße. Ricarda Huch – eine Schriftstellerin der Grenzüberschreitungen: lebensgeschichtlich, po- etisch, wissenschaftlich, politisch, wenn sie schrieb:

Auf allen Porträts […] erscheint Ricarda Huch als die große Dame, als Repräsentantin des 19. Jahrhunderts, ganz unanfechtbare Würde, niemals als das, was wir modern nennen würden. Und widerspricht damit ihrem geistigen Horizont, ihrem intellektuellen Weitblick, ihrem gesell- schaftlichen und politischen Habitus – und dann auch wieder nicht. (2016: 17)

Häntzschel leitet somit auch die Hauptthese des Bandes ein: die Kontradiktionen zwischen dem äußeren Erscheinen Huchs und ihrem Gedankenkosmos zu skiz- zieren, um die „Grenzüberschreitungen oder Unangepasstheiten“ (Häntzschel 2016: 17) des Huchschen Lebens und Werkes hervorzuheben. Die Beitragsau- torin stellt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen Huchs Verständnis für die

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Geschichte als eine Voraussetzung für die gegenwärtigen Veränderungen sowie für eine Zukunftsvision in Anlehnung an die in der Geschichte erprobten und bewährten Muster.

5 Das Huch-Gedächtnisjahr 2017 Aus Anlass des 70. Todestages von Ricarda Huch veröffentlichte Wolfgang M. Schwiedrzik in dem von ihm geführten Mnemosyne-Verlag die Studie Ricar- da Huch: Das Vermächtnis. Zu Ricarda Huchs 70. Todestag am 17. November 2017. Drei Aufsätze und ein Nachwort. In dieser Studie sind drei Beiträge von Schwiedrzik aus den 90er Jahren versammelt, die bereits der deutschsprachigen Öffentlichkeit präsentiert wurden (Schwiedrzik 1997: 65–73), ergänzt durch Primärtexte von Huch aus den Jahren 1945 bis 1947. Ziel dieses Bandes ist, Huchs Engagement nach der Katastrophe des Jahres 1945 sowie ihre Vorschläge für den Neuanfang mit Blick auf die Re-Edukationsmaßnahmen der Besatzungsmächte zu präsentieren. Huch kämpfte gegen die sich nach 1945 verbreitende wehleidige Opferüberzeugung der Deutschen und forderte sie auf, ihre eigene Schuldver- strickung anzuerkennen, um sich in einem Prozess der nationalen Katharsis in Form eines Selbstreinigungsprozesses wieder erheben zu können. Dies bedeutet zugleich, dass Huch ihren Deutschen die Fähigkeit zusprach, sich aus der ei- genen Kraft von dem Bösen der nationalsozialistischen Herrschaft ohne fremde Unterstützung befreien zu können. Huch zieht unterstützend die mittelalterli- che Vergangenheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation heran, in dessen kultureller und ethnischer Vielfalt sowie in dessen Zusammengehörig- keitsgefühl sich unter der rechtschützenden Hand des Kaisers ein Staatsgebilde entwickeln könnte, das Freiheiten und Rechte Allen gleich gewährleistete. An- hand von Modellen, Vorschlägen, Identifikationsmomenten spendet Huch ihren Zeitgenossen die Zuversicht, dass sie es auch aus ihrer eigenen Kraft, schaf- fen würden, die Weichen für eine moderne, vorurteilslose und rechtschaffene Gesellschaft zu legen. In Anbetracht der zeitgenössischen Entwicklungen in Deutschland und Europa betont Schwiedrzik, dass Huchs Botschaft immer noch aktuell sei, und es lohnt sich diese mahnende Stimme erneut zu vernehmen. Bild- haft-unterstützend zieht Schwiedrzik eine Flaschenpostmetapher herbei, ver- mittels derer es heißt, es erscheine zeitgegenwärtig notwendig, „den Korken zu lösen, die Schriften [von Huch] herauszuziehen und endlich zur Kenntnis zu nehmen“ (Schwiedrzik 2017: 153). In diesem Sinne wird Schwiedrziks Stu- die zu einem Appell an seine politisch-sittlich orientierungslosen Zeitgenossen, sich an die moralischen Verpflichtungen der Humanitas und Caritas zu erin- nern, für die sich Huch ihr Leben lang als menschlich engagierte Literatin und Denkerin eingesetzt hat.

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6 Ausblicke 2018

Der Initiative von Till Kinzel und Gerd Biegel ist es zu verdanken, dass auch im Jahr 2018 die deutsche lokale Öffentlichkeit in und um Braunschweig an Ricarda Huch erinnert wird. Kinzel wendet sich mit Blick auf das Gedächtnisjahr 1848 der Thematik des ,Völkerfrühlings‘ zu, mit der sich Huch in ihrer historischen Studie Alte und neue Götter15 auseinandergesetzt hat und bietet einen Vortrag zum The- ma: Die Revolution des 19. Jahrhunderts: Karl Marx’ „Deutsche Ideologie“ und Ricarda Huchs „1848“16 an. Gerd Biegel bespricht auch in Anlehnung an das Er- innerungsjahr 1848 Huchs Überlegungen zum Großen Krieg in Deutschland,17 die am Vorabend des Ersten Weltkrieges erschienen sind. Biegels Vortragthema lautet: Der dreißigjährige Krieg bei Wilhelm Raabe und Ricarda Huch.18 Auch das Deutsche Literaturarchiv Marbach – die Abteilung Literaturmuseum der Moderne erinnerte erneut an Huch, wie es bereits zum 50. Todesjahr von Ricarda Huch der Fall war, mit einer Sonderausstellung zum Thema: Die Fami- lie. Ein Archiv – zu Ricarda Huch und zu anderen Literaturschaffenden, die von 21.09.2017 bis 18.02.2018 in Marbach präsentiert wurde. Es handelt sich bei die- ser Ausstellung um den Versuch, das familiäre Leben von Ricarda Huch als ein Muster einer „Gelehrtenfamilie“, welche „sinnbildlich ist für die Ambition“ und für die Weitergabe des „kulturelle[n] Erbe[s]“ bildhaft darzustellen.19

7 Schlussbetrachtungen

Trotz der zahlreichen herausgeberischen Initiativen um das Jubiläumsjahr 2014 und der populärwissenschaftlichen Veranstaltungen des Gedächtnisjahres 2017

15 In der Revolution des Jahres 1848 und deren Folgen sah Huch die weitere Stufe der Auflösung des We- sens, der Struktur und der Grundprinzipien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Die erste Stufe bildete der Dreißigjährige Krieg. 16 Der Referent ist PD Dr. Till Kinzel (Paderborn) und der Vortrag fand am 1. März 2018 um 19.00 Uhr im Vortragsraum im Institut, Fallersleber-Tor-Wall 23, 38100 Braunschweig statt. Der Veranstalter war das Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte an der TU Braunschweig. Zu den Schwerpunkten des Vortrages gehörten folgende Themenkreise: Die Reaktionen von Ricarda Huch auf die Ereignisse um den Völkerfrühling sowie um das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx. 17 Als den Großen Krieg in Deutschland versteht Huch den Dreißigjährigen Krieg, den sie als eine deutsche Tragödie versteht, die jedoch notwendig war, damit aus der Zerstörung etwas Neues, dem zyklischen Lebens- prinzip gemäß, entstehen kann. 18 Der um die Neu-Entdeckung von Ricarda Huchs Dichtkunst bemühte Prof. Dr. h.c. Gerd Bie- gel, Leiter des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte an der TU Braunschweig, sprach am 18. März 2018 um 15.00 Uhr im Raabe-Haus: Literaturzentrum, Leonhardstr. 29a, 38102 Braunschweig, über die Forschungsanliegen zum komplexen Thema des Dreißigjährigen Krieg von Ricarda Huch und Wilhelm Raabe. 19 Diese Ausstellung ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Klassik Stiftung Weimar und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Im Zentrum dieser Ausstellung stand das Thema „Familie“, insbeson- dere eine Gelehrtenfamilie. Vgl. www.mww-forschung.de (Stand vom 20.03.2018).

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 176 Gabriela Jelitto-Piechulik ist an eine Renaissance des Huchschen Werkes nur im begrenzten Rahmen zu denken. Zweifelsohne gehört Ricarda Huch zu den bedeutenden Persönlichkeiten des deutschen kulturellen Erbes, aber die kulturellen Bedürfnisse sowie die Lese- bereitschaft von anspruchsvollen geistesgeschichtlichen Texten der deutschspra- chigen Öffentlichkeit in den Realien des 21. Jahrhunderts berücksichtigend, lässt sich resümierend feststellen, dass Ricarda Huch zu den großen Vergessenen und nicht mehr Verstandenen der deutschen Geistes-, Kultur- und Literaturgeschichte gehört und womöglich auch in der Zukunft gehören wird.

Literatur

Bendt, Jutta (2015): Ricarda Huch in Freiburg. Stuttgart. Bendt, Jutta/Schmidgall, Karin (eds.) (1994): Ricarda Huch 1864–1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar 7. Mai-31. Okto- ber 1994. Stuttgart. Berghahn, Cord-Friedrich/ Paulus, Jörg/ Röhnert, Jan (eds.): Geschichtsgefühl und Gestaltungskraft. Funktionalisierungsverfahren, Gattungspoetik und Autorreflexion bei Ricarda Huch. Heidelberg. Böhm, Alexander (2015): Wenn ich krank war, las mir Grogro vor. Erinnerungen an meine Groß- mutter (1987). In: Lemke, Katrin (2015) (ed.): Ricarda Huch. Mein Herz, mein Löwe. Schriften und Briefe. Weimar, 129–136. Gabrisch, Anne (ed.) (1998): Ricarda Huch ‚Du, mein Dämon, meine Schlange…‘. Briefe an Ri- chard Huch 1887–1897. Nach dem handschriftlichen Nachlaß. Göttingen. Gehler, Eva Maria (2010): Weibliche NS-Affinitäten. Gerade der Systemaffinität von Schriftstelle- rinnen im „Dritten Reich“. Würzburg. Häntzschel, Hiltrud (2016): Die Unzeitgemäße. Ricarda Huch – eine Schriftstellerin der Grenz- überschreitungen: lebensgeschichtlich, poetisch, wissenschaftlich, politisch. In: Berghahn, Cord-Friedrich/Paulus, Jörg/Röhnert, Jan (eds.): Geschichtsgefühl und Gestaltungskraft. Funktionalisierungsverfahren, Gattungspoetik und Autorreflexion bei Ricarda Huch. Heidel- berg, 17–30. Henkel, Arthur (1983): Der Zeiten Bildersaal. Studien und Vorträge. Stuttgart. Jelitto-Piechulik, Gabriela (2015): „Frühling in der Schweiz“ – deutsche Exilerfahrungen in geschichtlichen Kontexten. In: Jelitto-Piechulik, Gabriela/Jokiel, Małgorzata/Wójcik- Bednarz, Monika (eds.): Grenzüberquerungen und Migrationsbewegungen. Freimdheits- und Integrationserfahrungen in der österreichischen, deutschen, schweizerischen und polnischen Literatur und Lebenswelt. Wien, 161–17. Jelitto-Piechulik, Gabriela (2017): Modernitätskrise und Mentalitätswandel an zwei Jahrhun- dertschwellen. Wilhelm Diltheys und Ricarda Huchs Novalis-Charakteristiken. In: Szewczyk, Grażyna Barbara/Jelitto-Piechulik, Gabriela (eds.): Die Romantik in heutiger Sicht. Studien und Aufsätze. Dresden. Jelitto-Piechulik, Gabriela (2018): Der notwendige Neuanfang nach 1945 in der Sicht von Ricarda Huch – Wege zur moralischen Besserung der deutschen Nation und zum Rechtsstaat. In: Kuzborska, Alina/Jachimowicz, Aneta (eds.): Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftli- che Implikationen des Anfangs. Würzburg, 299–308. Koeppen, Anne Marie (1935): Ein berühmter Name und ein unrühmliches Werk. In: National­ sozialistische Monatshefte 63, 70–72.

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Lemke, Antje (2015): Ich erinnere mich eines Morgens, als sie vom Markt zurückkahm. In: Lemke, Katrin (2014a): Ricarda Huch. Die Summe des Ganzen. Leben und Werk. Weimar. Lemke, Katrin (2014b): Das Ricarda-Huch-Porträt des Jenaer Arztes Rudolf Lemke. Ein Bild und seine Hintergründe. In: Weimar-Jena. Die große Stadt. Themenheft Ricarda Huch in Jena 1936– 1947, Heft 2, 113–125. Lemke, Katrin (2015) (ed.): Ricarda Huch. Mein Herz, mein Löwe. Schriften und Briefe. Weimar. Mann, Golo (1973): Ricarda Huch. In: Der Friede und die Unruhestifter. Herausforderungen deutsch- sprachiger Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Jürgen Schultz. Frankfurt am Main. Mann, Golo (1986): Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt am Main. Mann, Thomas (1975) : Zum sechzigsten Geburtstag Ricarda Huchs. In: Ders.: Über deutsche Literatur. Ausgewählte Essays, Reden und Briefe. Leipzig. Naturphilosophie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Schwabe Verlag, Basel 1984, Spalte 535–560. Reich-Ranicki, Marcel (1985): Ricarda Huch, der weiße Elefant. In: Peter, Hans-Werner (ed.): Ricarda Huch. Studien zu ihrem Leben und Werk. Aus Anlaß des 120. Geburtstages (1864– 1984). Braunschweig. Wahl Volker (2014): Editorial. In: Weimar-Jena: Die große Stadt 2, 91–95. Wahl, Volker (2015): Ricarda Huchs literarisches Vermächtnis zum 19. März 1945 in Jena. In: Weimar-Jena: Die große Stadt 1, 77–104. Schwiedrzik, Wolfgang M. (ed.) (1997): Ricarda Huch. In einem Gedenkbuch zu sammeln. Leipzig. Schwiedrzik, Wolfgang M. (2017): Ricarda Huch. Das Vermächtnis. Aufsätze und ein Nachwort. Zu Ricarda Huchs 70. Todestag am 17. November 2017. Neckargmünd; Wien.

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Karolina RAPP (Zielona Góra)

Südwestafrika in der deutschen Literatur der Kolonialzeit – Themen, Motive, Schreibweisen

Zusammenfassung: Der Beitrag versteht sich als Einführung in die Geschichte, Hauptthemen und Motive der deutschen Kolonialliteratur mit Bezug auf die ehemalige deutsche Kolonie Deutsch- Südwestafrika, das heutige Namibia, in den Jahren 1884–1920. Neben den belletristischen Schrif- ten, die vorzugsweise einen unterhaltenden Charakter aufweisen, summieren sich hier auch andere koloniale Texte, das heißt, neben den Prosa- und Kunstgattungen werden auch die realitätsbezoge- nen Werke, wie Jugend- und Kinderliteratur, Erlebnis- und Reisebericht besprochen. Schlüsselbegriffe: Kolonialliteratur, Kolonialismus, Deutsch-Südwestafrika, Namibia, Literatur

Afryka Południowo-Zachodnia w niemieckiej literaturze kolonialnej – tematy, motywy, sposoby pisania Streszczenie: Celem artykułu jest przedstawienie zarysu historii, głównych tematów i motywów niemieckiej literatury kolonialnej w latach 1884–1920 poświęconej Niemieckiej Afryce Południo- wo-Zachodniej, obecnej Republice Namibii. Problematyka literatury kolonialnej, jej zróżnicowanie gatunkowe oraz specyfika zostaną przeglądowo omówione na postawie reportaży podróżniczych, powieści fikcjonalnych, literatury faktu, literatury dla dzieci i młodzieży, pamiętników i zbiorów wspomnień żołnierzy i osadników niemieckich. Słowa kluczowe: literatura kolonialna, kolonializm, Niemiecka Afryka Południowo-Zachodnia, Namibia, literatura

South-West Africa in German colonial literature – topics, themes, ways of writing Abstract: The purpose of this paper is to present the development, subjects and specifics of Ger- man colonial literature relating to the former German colony (1884–1919) of South West Africa, that is now the Republic of Namibia, between the years 1884 and 1920. The writing of the period varied in terms of quality and genre, but less so in terms of subject. For the sake of classification the literature shall be broken down into the following categories: travel reports, historical writing, fiction in the form of short stories and novels, juvenile literature and memoires. Keywords: Colonial literature, colonialism, German South West Africa, Namibia, literature

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Die kargen, wasser- und nutzpflanzenarmen Landstriche Südwestafrikas, des heutigen Namibia, traten in den deutschen Interessenhorizont Ende des 19. Jahr- hunderts, als die wilhelminischen Kaisertruppen sie 1884 von den Portugiesen übernahmen und zum deutschen Schutzgebiet, das fortan Deutsch-Südwestafrika hieß, erklärten. Ohne „koloniale Erfahrung“ wie die anderen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, sollte die deutsche „Musterkolonie“ Deutsch- Südwest mit der deutschen Ordnungsliebe und Gründlichkeit aufgebaut werden. Die Gewinnung kulturpolitisch gangbarer Einflusswege in die afrikanische Ge- sellschaft (Bley 1986: 5–10) ging jedoch nicht selten mit der Zerstörung des tra- ditionellen politisch-sozialen Wirtschaftssystems der einheimisch-eingeborenen Stämme einher (Kundrus 2003: 59). Um den Afrikanern den Subordinationsgeist gegenüber der deutschen Macht einzuflößen, haben die deutschen „Kolonialher- ren“ menschenunwürdige Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen angewandt (vgl. Romer 2003: 62). Der hegemoniale Herrschaftsanspruch der deutschen „Schutzmacht“ mündete 1904 in die Erhebung der Herero und Nama, die in die Geschichte als „der Große Herero-Krieg“ eingegangen ist. Im Juli 2016 wurde die deutsche Vernichtungsstrategie gegen die Herero und Nama von der deutschen Regierung offiziell als Völkermord anerkannt. Da die Geschichtsschreibung in jüngster Zeit auf ideologische Parallelen und strukturelle Verbindungslinien zwi- schen dem Entstehungskontext und Verlauf der deutschen Kolonialkriege und der exzessiven Gewaltentfaltung im 20. Jahrhundert hinweist, werden die genozidale Kriegsführung 1904–1907, die Apartheid-Politik, die deutsche „Eingeborenen- politik“ und die nationalsozialistische Vernichtungsstrategie oft in eine „Kon- tinuitäts- oder gar Kausalitätsbeziehung“ (Stuebel 1953: 172) gebracht. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich seine afrikanischen Besitzungen und im Vertrag von Versailles wurde am 7. Mai 1919 Südafrika das Mandat über Namibia erteilt. Ein Großteil der deutschen Siedler wurde zunächst aus Nami- bia ausgewiesen, jedoch später – zur Stärkung des Anteils der Europäer an der Bevölkerung – wieder zurückgerufen. Obwohl Namibia, 1884 vom Deutschen Reich besetzt, 1915 von Südafrika erobert, ab 1921 als Mandatsgebiet des Völ- kerbundes regiert und nach dem Zweiten Weltkrieg – wenn nicht de jure, so doch de facto – zu einer Provinz Südafrikas wurde, als letztes Land auf dem afrika- nischen Kontinent nach einem erbitterten und jahrelangen Befreiungskampf am 21. März 1990 ein selbständiger Staat wurde, werfen seine koloniale Vergan- genheit und die deutschsprachige Kolonialliteratur über Deutsch-Südwestafrika ihren langen Schatten bis in die Gegenwart hinein. Der ehemalige Germanist der Universität Stellenbosch, G.P.J. Trümpelmann hat acht Kategorien, nach denen die Genres der inhaltlich und formal-ästhetisch di- vergierenden deutschen Literatur über Südwestafrika geordnet werden könnten, ausgesondert. Neben wissenschaftlichen Publikationen, „informative articles“,

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Jagd- und Reiseberichten, Autobiographien deutscher Siedler in Südwestafrika, Gedichtsammlungen, Missionsliteratur und Werken über die Rassenproblematik nennt er die deutsche Kolonialliteratur eine der bedeutsamsten Textgruppen der deutschen Literatur über Deutsch-Südwestafrika und den deutschen Kolonialismus (Trümpelmann 1972: 179–181, Nethersole 1989: 40). Die deutsche Kolonial- literatur umfasst – grob und orientierungshalber gesagt – das Korpus fiktionaler und faktualer Texte, die überwiegend im Zeitalter der wilhelminischen Expansi- onspolitik, d.h. zwischen 1884 und 1918 entstanden sind, und in denen deutsch- namibische koloniale Abhängigkeitsbeziehungen ihren Niederschlag fanden (vgl. Göttsche 2017: 260). Bei der Erforschung der deutschen Kolonialliteratur über Deutsch-Südwestafrika ist eingangs auf die Arbeit Vernichtung der Herero. Dis- kurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur (2007) von Medarus Brehl hinzuweisen. Im Einklang mit dem zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Mainstream bemerkt der Autor, dass „die eigentlichen Kontexte literarischer Co- dierungen historischer Erfahrungen nicht im realen Geschehen zu suchen sind, sondern in den sozio-kulturellen und diskursiven Rahmungen, die Wahrnehmung und Codierung dispositionieren“ (Brehl 2007: 49), wobei die Literatur ihrer- seits auf die Verfasstheit dieser „Rahmungen“ wirke. Brehl plädiert dabei für die Erweiterung der bisherigen Fassung des Terminus „Kolonialliteratur“. Als Merkmale der Gattung seien eher, so Brehl weiter, die „Heterogenität der Genres und die Disparatheit der […] Hintergründe der Textproduzenten“ (Brehl 2007: 71) anzusehen. Der Kolonialdiskurs wiederum müsse als „die Gesamtheit der zeitgenössischen Rede über die Kolonien“ definiert werden, sofern diese „kon- ventionalisiert […] und institutionell sanktioniert […]“ (Brehl 2007: 64) wor- den sei. Diese gattungsübergreifende Perspektive der Kolonialliteratur und die disparaten soziokulturellen und disziplinären Hintergründe ihrer Autorenschaft ermöglichten, auch faktuale Schriften wie Reise- und Erlebnisberichte von Missio- naren, Soldaten, Beamten oder Siedlern sowie realitätsbezogene, historisieren- de, kolonialpolitische und (populär)wissenschaftliche Veröffentlichungen in die deutsche Kolonialliteratur über Südwestafrika mit einzubeziehen. Da die fiktio- nale Kolonialliteratur primär darauf abzielte, dem Leser die Nachvollziehbarkeit identitätsrelevanter Erfahrungen der Deutschen in ihrer neuen kolonialen Realität zu gewährleisten und ihre fiktionalen Inhalte in den kolonialpolitischen Diskurs einzugliedern, entwickelten die Kolonialautoren Authentifizierungsstrategien auf der Inhaltsebene des Erzählten. Um die Fiktion gegenüber dem Rezipienten mit Glaubwürdigkeit aufzuladen und so der übergeordneten Idee des Wahrheitsan- spruchs gerecht zu werden, montierten sie in ihre Texte historische Quellen, Pro- tokolle, koloniale Erlebnisberichte, Festreden und Telegramme ein (vgl. Volk- mann 2013: 67). Ungeachtet der gattungsspezifischen Unterschiede einzelner Texte ist eine gemeinsame Eigenschaft der Kolonialliteratur, die überwiegend verallgemeinernd und teilweise abwertend als Massenware mit Propagandafunk-

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 182 Karolina Rapp tion abqualifiziert wurde, darin zu erkennen, „dass sie“, Göttsche (2017: 260) zufolge, „ihre Sujets gemeinhin in trivial-unterhaltender sowie affirmativer […] Weise aufarbeitet.“ Den Kolonialnarrativen liegt das Schema des Entwicklungs-, Abenteuer- und Siedlungsromans zugrunde. Als die üblichste narrative Technik der Spannungserzeugung kann, sowohl in der auf die Siedlungs- als auch der auf die Kriegsthematik fokussierten Kolonialliteratur, das Konfrontieren der Hauptfiguren mit einem feindlichen Naturraum Afrikas anerkannt werden. Die außerliterarischen Faktoren und die besonderen geschichtlichen, politischen und räumlich-geografischen Bedingungen, unter denen die deutschsprachige- Lite ratur über Deutsch-Südwestafrika entstand, beeinflussen ihre thematische Aus- richtung in stärkstem Maße (Keil 2003: 72–84). Der Kampf der Protagonisten mit der Unberechenbarkeit dorniger Steppen und wasserloser Wüsten spiegelte in einer Art metaphorischer Dialektik den Verlauf des menschlichen Erkenntnis- und Reifungsprozesses wider. Die häufige Rahmenhandlung der Natur verbindet sich in der Literatur auch mit dem existentiellen Kampf der Pioniere gegen eine zerstörerische Natur und mit dem „Männlichkeitsmythos“. Wenn der deutsche „Kolonialherr“ – der „Herrscher über Leben und Tod“ –, die ihm in der men- schenfeindlichen Natur auferlegte Schwierigkeiten meisterte, galt das Erzählte als vorbildlich. Die Naturverherrlichung war also auch kompensatorisch kon- zipiert: Derart mental gestärkt und zu hartem Kampf im afrikanischen Wildnis erzogen sollten die Deutschen den Anforderungen des Lebens in der Kolonie standhalten. Indirekt beobachtet man in Pionier- und Abenteuer- und Erlebnis- berichten, Jagd- und Tiererzählungen diesen Kampf des weißen Mannes mit der Natur als den Kampf „der Kultur“ gegen die „Natur“ oder, mit Said gesprochen, „eine strukturelle Analogie zwischen narrativer und imperialistischer Praxis“ (Said 1995: 15). Das Grundgerüst der meisten kolonialliterarischen Werke bil- det die paternalistisch geprägte Weltansicht der deutschsprachigen Autoren und die biologisch-darwinistische Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen „weißen“ und „farbigen“ Figuren. Die rassifizierte „farbsymbolische Codierung“ (Rohrdantz 2009: 37), die die Literatur der Kolonialzeit und die nationalso- zialistische Literatur über Südwestafrika der Moderne überlieferten, und in der das Schwarze „Objekt“ lediglich als „Funktion“ des Weißen „Subjekts“ fungiert, blieb auch Mitte des 20. Jahrhunderts gegen durchgreifende ideologische und epochale Veränderungen resistent (Hofmann 2012: 7–8). Gewöhnlich werden die „Schwarzen“ und „Mischlingen“ äußerst selten als Protagonisten oder Anta- gonisten, sondern eher als exotische Staffage oder amorphe Masse dargestellt und zur Kulisse und Projektionsfläche degradiert, vor der die „richtigen“ Probleme der sich nach persönlichem Freiraum sehnenden deutschen Siedler exponiert werden (vgl. Göttsche 2017: 260). Als Ausnahme können an dieser Stelle Hans Grimms Wie Grete aufhörte ein Kind zu sein (1913) – eine Erzählung, die in aller Direkt- heit vor der „Bastardisierung der weißen Rasse“ warnt – und die Novellen Dina

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(1913), Die Geschichte vom alten Blute und der ungeheuren Verlassenheit (1931) und Das Haus in der Steppe (1931) sowie sein berühmt-berüchtigter Bestseller Volk ohne Raum (1926) angeführt werden. Als Inbegriff der deutschen Kolonialliteratur mit Bezug auf Deutsch-Südwest- afrika fungiert, neben Bernhard Voigts Romantrilogie Der Südafrikanische Le- derstrumpf (1932–1936) und populärhistorischen Publikationen der deutschen Siedler wie z.B. Im Kampf ums Neuland in Südwest. Eine Erzählung aus dem Hereroaufstande von Otto Metterhausen, Gustav Frenssens kolonialapologe- tischer Kriegsroman Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906). Bemerkenswert ist an dieser Stelle die Tatsache, dass der Autor die Handlungsorte seines durch die deutsche Kolonialmacht und später die Nationalsozialisten als „Klassiker“ angesehenen, vielfach neu aufgelegten und ins Englische, Dänische, Niederlän- dische, Afrikaans und Schwedische übersetzten Kolonialromans nie besucht hat (Bürger 2017: 58; Göttsche 2017: 264). Da aber Frenssen kein namenloser, literarisch ambitionierter „Schutztruppler“ oder Kolonialbeamter, sondern der Autor des Jörn Uhl (1901), jenes ersten Bestsellers in Deutschland war, wurde die Authentizität seines Kolonialromans nicht einmal in Frage gestellt. In sei- nem als Jugendbuch konzipierten Roman lässt Frenssen dem Titelhelden Peter Moor einen personellen und programmatischen Wandel durchmachen. Die „Ein- sicht“ in den Verlauf der Ereignisse wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers, eines an der Kampagne gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika teilnehmen- den, jungen und ungebildeten Soldaten eines Kieler Seebataillons, dargeboten. Da der Rezipient eine Innenansicht der kolonialen Realität gewinnt und aus der Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten heraus das Kriegsgeschehen ver- folgt, beobachtet er ganz direkt Peter Moors Erkenntnisprozess (Brehl 2016: 87–91). Obwohl der Rekrut auf eine „schöne Erfahrung“ (Frenssen 1906: 7) inmitten einer exotischen, paradiesischen Savannenlandschaft hofft, muss er sei- ne naive Vorstellung von der abenteuerlichen Kriegsrealität schnell revidieren. Anstelle der ersehnten Wunderwelt findet er im Schutzgebiet Schmutz, Hunger, Tod und Einsamkeit. Den Kulminationspunkt der Geschichte bildet schließ- lich die Entscheidungsschlacht deutscher Truppen gegen die aufständischen Herero, an der Peter Moor gleichfalls teilnimmt und unmittelbarer Zeuge der Ereignisse wird. Mit einer Art narrativem „Zoom“ auf den Wahrnehmungsmo- dus des Helden wird nicht durch eine explizit kritische Kommentierung ergänzt, was die Frage nach der moralischen Legitimation der Täterschaft der Deutschen und kolonialpolitische Fragen völlig verdrängen sollte. Als „gottgewollt, durch Evolutionsbiologie und das Gesetz kultureller Höherentwicklung determiniert“ (Brehl 2014: 90), legitimiert Frenssen die deutsche Vernichtungsstrategie und die deutsche zivilisationsmissionarische Denkart. Die Vernichtung der Herero machte er zur Triebfeder des historischen Fortschritts und der Herausbildung

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 184 Karolina Rapp moderner nationaler Identität der Deutschen. Über die weite Steppe blickend re- flektiert der Protagonist den Sinn des Krieges:

Ich hatte während des Feldzugs oft gedacht: Was für ein Jammer! […] Die Sache ist das gute Blut nicht wert. Aber nun hörte ich ein großes Lied, das klang über ganz Südafrika und über die ganze Welt und gab mir einen Verstand von der Sache. […] Wir müssen noch lange hart sein und töten; aber wir müssen uns dabei […] um hohe Gedanken und edle Taten bemühen, damit wir zu der zukünftigen, brüderlichen Menschheit unser Teil beitragen. […] Den Tüchtigeren, den Frischeren gehört die Welt. Das ist Gottes Gerechtigkeit (Fressen 1906: 201).

Indem der Protagonist in archaisierender, alttestamentlicher Tonlage die Geschichte erzählt, verleiht er dem Krieg eine religiöse Dimension. Die Anreicherung des Krieges mit religiösen Elementen führte unweigerlich zur dessen Radikalisie- rung, indem sie die Einsatzwilligkeit zum vermeintlich „gottgewollten“ Kampf steigerte. Dank der im Roman vermittelten konfliktverschärfenden, nationalideo- logischen, und kulturmissionarisch-sendungsideologischen Argumente wurde Peter Moors Fahrt nach Südwest in der Zeit des Nationalsozialismus als „Pflicht- lektüre“ für die rekrutierungsfähige Jugend und Soldaten empfohlen. Frenssen lanciert die für die Kolonialliteratur typische Aufteilung der „Weißen“ und der „Schwarzen“ in jeweils „gute“ und „böse“ Figuren. Der Rezipient betrachtet die Schwarzen ausschließlich aus der „weißen“ Außenperspektive, die die Gefühle der schwarzen Figuren völlig außer Acht lässt. Obwohl die Herero bei Fressen als blutdürstige und mordgierige „Kreaturen“, die, so Peter Moor, „ganz, ganz anders […] als wir [seien]“ (Frenssen 1906: 30), und die von ihm als zivilisierungsbedürf- tige „verschmutzte lumpige Gesellen“ primitiviert werden, wird die antike rassis- tische Idee einer essentiellen Trennung zwischen der „Zivilisation“ und den „Wil- den“ durch die Ausrottung der „Schwarzen“ aufgelöst (Göttsche 2017: 264). Frenssens Roman erfüllte eine stilbildende Funktion für eine ganze Reihe von Erlebnisberichten deutscher Soldaten, deren Publikationen durch die Angabe der geschichtlich belegbaren harten „facts“ und erzählerisch angelegten Erinne- rungen den Anstrich der Authentizität verliehen wurde. Soldatische dokumen- tarische Schriften, die meistens von Kolonial- und Militärverlagen (vgl. Brehl 2004: 80) veröffentlicht wurden und eine Kritik an den bestehenden kolonialen Verhältnissen sowie Informationen über den Dienst in der Armee enthielten, un- terlagen selbstverständlich einer strengen Zensur. Den inhaltlichen Schwerpunkt der soldatischen Erlebnisberichte bildeten die militärische Kampagne Lothar von Trothas und die „Entscheidungsschlacht“ am Waterberg, die aus der Perspektive der einfachen Soldaten erzählt wird. Erzählstrategisch und darstellungstechnisch zeigen die kolonialen Erlebnisberichte stark konventionalisierte Plotstrukturen bzw. Narrationsmuster und typisierte Handlungskonstellationen und/oder Figu- renkonzeptionen auf. Zunächst wird über die Anreise auf den Kanaren oder auf Madeira berichtet. Die zweite Etappe ist die Ankunft in Südwestafrika und erst

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Südwestafrika in der deutschen Literatur der Kolonialzeit... 185 dann folgt die anschließende Reise ins Landesinnere, wo bereits die ersten Spu- ren des Krieges zu sehen sind. Der Anspruch auf Authentizität wird durch die Be- rufung auf regierungsamtliche Kriegsberichte untermauert, indem Informationen aus amtlichen Quellen, vor allem aus der Kriegschronik des Generalstabes, ent- nommen wurden. Dokumentarische Erlebnisberichte der Soldaten über Deutsch- Südwestafrika umfassen Schriften, wie z.B. Franz Joseph von Bülows Im Felde gegen die Hereros. Erlebnisse eines Mitkämpfers (1905), Paul Leutweins Meine Erlebnisse im Kampf gegen die Hereros (1905), Erich von Salzmanns Im Kampfe gegen die Herero (1905), Conrad von Stülpnagels Heiße Tage. Meine Erlebnisse im Kampf gegen die Hereros (1905), Max Belwes Gegen die Herero 1904/1905. Tagebuchaufzeichnungen (1906), Helmuth Auer von Herrenkirchens Meine Er- lebnisse während des Feldzuges gegen die Hereros und Witbois nach meinem Tagebuch (1907), Heinz von Ortenbergs Aus dem Tagebuch eines Arztes. Feld- zugsskizzen aus Südwestafrika (1907), Max Schmidts Aus unserem Kriegsleben in Südwestafrika (1907), Friedrich Freiherr von Dincklage-Campes Deutsche Reiter in Südwest. Selbsterlebnisse aus den Kämpfen in Deutsch-Südwestafrika (1908), Paul Eckardts Zwei Kriegsjahre beim südwestafrikanischen Train (1910) (Keil 2003: 190–197). Im Widerspruch zu der Annahme, dass sowohl die fiktionale als auch die nicht- fiktionale Kolonialliteratur ausschließlich von Autoren geschaffen wurde, die in die jeweils aktuelle politische oder kulturelle koloniale Problematik persönlich verwickelt wurden, existiert auch ein bedeutendes Korpus von Texten zu ko- lonialen Themen, die von Autoren geschrieben wurden, dir die Handlungsorte ihrer Romane nie zu Gesicht bekommen haben. Zu nennen sind hier Romane wie Friede H. Krazes Heim Neuland oder das bereits im Jahr 1904 erschienene Jugend- und Familienbuch Muhérero riKárera! (Nimm dich in acht, Herero!) von Friedrich Meister, Wo sonst der Fuß des Kriegers trat. Farmerleben in Südwest nach dem Kriege (1909) von Maria Karow (1879–1949), Ansiedlerschicksale. Elf Jahre in Deutsch-Südwestafrika 1893–1904 (1905) von Helene von Falken- hausen (1873–1945), Henny Kochs Buch Die Vollrads in Südwest, Ovita und Pioniere von Orla Holm. In der belletristischen Kolonialliteratur, die explizit einen Unterhaltungswert aufwies, erkannte die Kolonial- und Auswanderungspropaganda ein gut funktio- nierendes und weit reichendes Werbemedium. Die kolonialräsonierenden Expan- sionspublizisten konstruierten meistens eine unrealistische Idealvorstellung des kolonialen Lebens in Deutsch-Südwestafrika, das, gemäß bürgerlich-nationalem Tugendkanon, als „besseres, vorbildhaftes Deutschland“ (Kundurus 2003: 59) imaginiert werden sollte. Mit ihren patriotischen Dichtungen über die in Süd- westafrika stattfindenden Kolonialkriege hat sich die Kolonialschriftstellerin Adda von Liliencron (1844–1913) einen Namen gemacht. Mit Frieda von Bühlow

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 186 Karolina Rapp zählte sie zur weiblichen Prominenz der Kolonialbewegung und hat, ohne je in einer der deutschen Kolonien gewesen zu sein, einen erheblichen Beitrag zur Popularisierung des literarischen Handlungsort Deutsch-Südwestafrika geleistet. (Keil 2003: 203) Da die Autorin in ihren Werken die kolonialen Kämpfer und Pioniere idealisiert, den Kampf gegen die Eingeborenen als Pflicht und Sinner- füllung im Dienste einer höheren Macht begreift und den Tötungsvorgang als ein beinahe steriles Ereignis dargestellt, wurden sie von einem der produktivsten Autoren und Herausgeber unter den literarischen Kolonialpropagandisten Emil Sembritzki (geb. ungefähr 1880) als eine vollkommen geeignete Jugend- und Soldatenlektüre betrachtet (Sembritzki 1912: 100). Als Ausnahme unter den Au- toren, die über keine eigenen Kolonialerfahrungen verfügten, ist Maximilian Bayer (1872–1917) zu nennen, der in Rücksicht auf seine Stellung als Offizier unter seinem Pseudonym Jonk Steffen schrieb und während des Herero-Aufstandes an den größeren Kampfhandlungen beteiligt war. Literarisch am ambitioniertesten ist Bayers Roman Okowi – ein Hererospion? (1910), der die zweite Auflage unter dem Titel Die Rache des Herero (1910) erfuhr. Als koloniales Propaganda-Medium dienten aber nicht nur Reise- und Erlebnis- berichte, sondern auch die Kinder- und Jugendliteratur. Dieses Genre reagierte in erster Linie auf den naturräumlichen Hintergrund Deutsch-Südwestafrikas, der direkt an die Erfahrungswelt der Pioniergeneration anknüpfen sollte (Rüdi- ger 1993: 25). Die Idee der Instrumentalisierung der Kinder- und Jugendlitera- tur für identitätsstiftende, politische und propagandistische Zwecke kumulierte sich im Roman Vaterländische Geschichts- und Unterhaltungs-Bibliothek mit Gegen Kirri und Büchse in Deutsch-Südwestafrika (1910) Wilhelm von Trothas (1872–1928), in dem der Autor den Herero-Krieg vielmehr als eine Kulisse für spannende Abenteuer darstellt. In der Widmung des Romans: „In aufrichtiger Verehrung und Bewunderung dem siegreichen Feldherrn, dem Wiedereroberer der Kolonie Deutsch-Südwestafrika“ (von Trotha 1910) gibt er in aller Klarheit seine unverhohlene Bewunderung für die Kriegs- und Vernichtungsstrategie Lo- thar von Trothas zu verstehen (Christadler 1977: 21). Da Wilhelm von Trotha in seinem Werk mit den Authentizität suggerierenden Erzählmustern und -tech- niken operiert, wurde es auf die Liste der durch das Kriegsministerium empfoh- lenen Lektüren gesetzt. Die prokolonialen Erziehungsabsichten haben auch in den Schulbüchern ihren literarischen Niederschlag gefunden (Keil 2003: 195–210). Als Beispiel sind an dieser Stelle August Seidels Roman Deutschlands Kolonien. Kolo- niales Lesebuch für Schule und Haus (1909), Bernhard Voigts Werk (1878–1945) Deutsch-Südwestafrika Land und Leute. Eine Heimatkunde für Deutschlands Ju- gend und Volk (1913) und Stanislaus von Jezewskis (1853–1913), der unter dem Pseudonym Carl Falkenhorst publizierte, Jugendbuchreihe Jung-Deutschland in Afrika (1894-1897) und Pioniere der Kultur in Deutsch-Südwestafrika (1900)

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Südwestafrika in der deutschen Literatur der Kolonialzeit... 187 zu nennen. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die die deutsche Kolonialpolitik ausschließlich in idealisierter Form darstellten und einseitig belehrende Beiträge über die Geschichte und den Nutzen der kolonialen Erträge leisteten, bemühte sich Falkenhorst, trotz seiner eindeutig prokolonialen Haltung, kulturgeschicht- liche Fakten einzuarbeiten. Mit seinem Werk Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Weltteils (1891) hat er auch die schwarzafrikanische Ge- schichte dargestellt. Als das Bild Afrikas von klassifizierendem und stereotypem Wissen über das Schwarze Kontinent geprägt war und in ein dichotomes Verhält- nis zu den als dynamisch und geschichtlich gewachsen imaginierten „Kulturvöl- kern“ Europas gesetzt wurde, verwies Falkenhorst als erster Kolonialschriftsteller auf die kulturelle und geschichtliche Eigenständigkeit der großen afrikanischen Reiche (Keil 2003: 209–210; Krüger 2014: 13). Der Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg gab der deutschen Kolonialliteratur der Weimarer Republik und des Dritten Reichs, die das kolonia- le Narrativ in epigonaler Manier nachahmte, die Richtung vor. Obwohl die briti- sche Kolonialliteratur, die sich der deutschen überlegen fühlte und das Deutsche Reich die „verspätete“ Kolonialmacht – die als letzte europäische Großmacht in den Kreis der Kolonialmächte eingetreten ist – nannte, haben die deutschen Kolonialschriftsteller immer wieder auf die besonderen Leistungen der deutschen Kolonialherren hingewiesen. Einem Vertreter des Sunday Express diktierte Hitler am 11. Februar 1933: „Was unsere Überseekolonien betrifft, so haben wir koloni- ale Bestrebungen keinesfalls aufgegeben. […] Es gibt eine große Menge Dinge, die Deutschland aus den Kolonien beziehen muss, und wir brauchen Kolonien genau so nötig wie irgendeine andere Macht.“ (Gründer 1999: 339) Derartige Äußerungen des Führers verliehen dem Kolonialidyll höhere Weihen. Zum Re- vanchegedanken kam zur deutschen Kolonialideologie jetzt noch der Gedanke der Nationalsozialisten zu: Der „Herrenmensch“ beanspruchte seinen Raum in der Welt. „Nach 1945 kam es“, Göttsche (2017: 260) zufolge, „kaum zu nen- nenswerten Versuchen, die Tradition der Kolonialliteratur fortzusetzen.“ Erst ab den 1960er Jahren, mit dem Beginn der afrikanischen Dekolonisation und der literarischen Tätigkeit Les Enfants de la postkoloniale (Waberi 1998: 8–15), also der Generation junger Schriftsteller, die nach dem „Afrikanischen Jahr“ 1960 geboren und nicht direkt in koloniale Problematik involviert sind, setzte sich eine Welle neuer Literatur zur Kolonialgeschichte ein. In der deutschen Gegenwartsli- teratur über Namibia finden vor allem folgende literarische Gattungen Beachtung: Historische Romane, Familienromane, politische Kriminalromane und Texte, die nicht nur die Kolonialverbrechen in Namibia und deren Auswirkungen, sondern zunehmend die breitere Kulturgeschichte des Kolonialismus und die fortdauern- den Verflechtungen zwischen Namibia und Deutschland sowie die geschichtspo- litischen Kontroversen in beiden Ländern thematisieren. Folglich gelten sie als

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Medium von Gedächtnisdiskursen, postkolonialen Erinnerungspoetiken und er- innerungspolitischen Fragestellungen. Weiter entstanden Romane und Erzählun- gen, die sich mit der Entstehung neuer kosmopolitischer Theorien, der Revision ethnischer Unterschichtungsphänomene und „historischer Wahrheiten“, die häu- fig an den Rand gedrängt wurden, und das Ins-Wanken-Kommen der noch in der Antike herausgebildeten rassistischen Idee einer essentiellen Trennung zwischen der „Zivilisation“ und den „Wilden“ auseinandersetzen. Als Medium der Aufar- beitung der deutsch-namibischen Kolonialvergangenheit gelten auch nicht- oder semi-fiktionale Textsorten wie Essays, Memoiren und Literatur vor allem autobio- grafischen Charakters, die (post)koloniale fragilen und (inter-)subjektiven Identi- täts- und Alteritätskonstruktionen und inter- und transkulturelle Erfahrungen und Migration thematisieren. Darüber hinaus liefern sie episodenhafte Schlaglichter auf die deutsch-namibische Kultur, portionierte thematische Zusammenhänge zwischen Haupterzählung und Randbemerkungen über das Aufeinandertreffen von Haltungen und deutschen Kulturpraktiken in Namibia. Der Beschäftigung mit der Geschichte gehört die anschließende Fremdheitsforschung, der die Funk- tion eines Katalysators zukam, weil sie ein breites Spektrum an Möglichkeiten bot, Fremdheit als kulturelle Konstruktion und damit auch als Erinnerungsform zu un- tersuchen. Entsprechend frappierend erscheint in der zeitgenössischen postkolo- nialen Analyseperspektive insbesondere die Frage, wie der Prozess des Othering und die Formen des postkolonialen staging the encounters funktionieren, d.h. wie im 21. Jahrhundert „die ‚Begegnungen‘ zwischen den kolonialisierenden Gesell- schaften und ihren ‚Anderen‘“ (Hall 1997, S. 228) inszeniert werden, und ob der Westen sich weiterhin von seinen „Rändern“ her definiert. Mit anderen Worten: inwieweit der Westen seine Konzepte von Zivilisation und Rationalität immer noch in Abgrenzung zu dem „konstitutiven Draußen“ der westlichen Moderne (siehe Hall 1997: 219–246 ) denkt und semantisiert. Die genannten Texte bemühen sich um eine Verschiebung des Blickwinkels und einen entscheidenden Bruch mit der gesamten vorherrschenden nationalzentrierten historiographischen Großnarrative, die der globalen Dimension des Kolonialismus eine nachrangige Rolle „[einer] Nebenhandlung innerhalb einer größeren «Geschichte»“ (Bruns 2010: 235) der Entdeckung, Eroberung und Sklaverei zuwies und das (post)koloniale Namibia als verkehrte Welt, als Welt des Mangels und des Noch-nicht auffasste.

Literatur

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Prof. Dr. habil. Věra Höppnerová Vysoká škola ekonomická Praha Praha 3 Nám. W. Churchilla 4 Katedra němčiny PLZ 130 67 E-Mail: [email protected]

Karolina Jabłońska, M.A. Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu Katedra Filologii Germańskiej ul. Bojarskiego 1 PL-87-100 Toruń E-Mail: [email protected]

Dr. Tobiasz Janikowski Uniwersytet Pedagogiczny im. KEN w Krakowie Wydział Filologiczny Instytut Neofilologii ul. Studencka 5 PL-31-116 Kraków E-Mail: [email protected]

Dr. Gabriela Jelitto-Piechulik Uniwersytet Opolski Instytut Filologii Germańskiej pl. Staszica 1 PL-45-052 Opole E-Mail: [email protected]

Dr. Agnieszka Jóźwiak Papieski Wydział Teologiczny we Wrocławiu ul. Katedralna 9 PL-50-328 Wrocław E-Mail: [email protected]

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Agnieszka Klimas, M.A. Uniwersytet Opolski Instytut Filologii Germańskiej pl. Staszica 1, PL-45-052 Opole E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. habil. Michail L. Kotin Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a PL-65-762 Zielona Góra E-Mail: [email protected]

Izabela Kurpiela, M.A. Uniwersytet Opolski Instytut Filologii Germańskiej pl. Staszica 1 PL-45-052 Opole E-Mail: [email protected]

Dr. Dorota Miller Uniwersytet Rzeszowski Instytut Filologii Germańskiej al. mjr. W. Kopisto 2B PL-35-315 Rzeszów E-Mail: [email protected]

Dr. Rafał Piechocki PWSZ im. Jakuba z Paradyża w Gorzowie Wielkopolskim ul. Teatralna 25 PL-66-400 Gorzów Wielkopolski E-Mail: [email protected]

Dr. Karolina Rapp Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a PL-65-762 Zielona Góra E-Mail: [email protected]

Dr. Karolina Sidowska Uniwersytet Łódzki Instytut Filologii Germańskiej ul. Pomorska 171/173 PL-90-236 Łódź E-Mail: [email protected]

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Tadeusz Skwara, M.A. Uniwersytet Warszawski Instytut Germanistyki ul. Dobra 55 PL-00-312 Warszawa E-Mail: [email protected] Monika Wójcik-Bednarz, M.A. Wojewódzka Biblioteka Publiczna w Opolu Biblioteka Austriacka – Österreich-Bibliothek pl. Piłsudskiego 5 PL-45-706 Opole E-Mail: [email protected]

Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-10-01 REDAKTOR TECHNICZNY Jolanta Brodziak

SKŁAD I ŁAMANIE Alicja Berger-Zięba

KOREKTA Kornelia Kansy

PROJEKT OKŁADKI Jolanta Brodziak Na okładce wykorzystano fotografię autorstwa Felicji Księżyk

© Copyright by Uniwersytet Opolski Opole 2019

ISSN 1509-2178 ISBN 978-83-7395-839-5

Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego, 45-365 Opole, ul. Dmowskiego 7–9. Wydanie I. Nakład 100 egz. Składanie zamówień: tel.: 77 401 67 46; e-mail: [email protected] Druk i oprawa: Totem.com.pl

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