Digitale Medien Südkoreas im soziokulturellen Kontext

Digitale Medien Südkoreas im soziokulturellen Kontext

Seong-Jae Kim

1. Digitale Medien in Südkorea

1.1 Informationsgesellschaft und Medienpolitik

Korea galt vor 1950, dem Beginn des Koreakriegs, als „das Land der Morgenstille“ (Chosun). Mit dem amerikanischen Einfluss, der die Nachkriegsgeschichte und das Verhältnis zwischen (Süd-)Korea und den USA prägte, setzte eine Verschmelzung von westlichen und asiatischen Traditionen ein; das „stille Land“ wurde zu einem „Land zwischen den Kulturen“. In der Zeit zwischen den 1960er- und 1990er-Jah- ren forcierte die südkoreanische Militärdiktatur eine massive Industrialisierung.

Nach der politischen Demokratisierung, das heißt der Übernahme der Regierung durch die Demokratische Partei (1999), erfolgte ein Wechsel der politischen Zielsetzungen von der Entwicklung einer Industrienation zur Entwicklung einer weltweit führenden Informationsgesellschaft. Daraus resultierte eine neue Poli- tik, welche die (reduzierten) Chancen einer sehr spät einsetzenden Industrialisie- rung durch die Optionen einer weitgreifenden Informatisierung zu kompensieren trachtete.

Vor allem bemühte sich die Regierung, die Informations- und Kommunika- tionstechnologien zu entwickeln, wobei sie alle Energie daran setzte, bei den Medien alles technologisch Machbare zu realisieren. Die Medienpolitik verfolgte das Ziel, eine telematische Gesellschaft im Sinne des Kommunikations- und Medienphilosophen Vilém Flusser1 zu begründen.

„Telematik“ (Telekommunikation und Informatik) ist danach als die Technik auf- zufassen, den aktuellen diskursiven Schaltplan der technischen Bilder (einschließ-

1 Flusser, Vilém 1996, S. 86 ff.

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lich der Töne) in einen dialogischen umzubauen. Diese Medienpolitik verfolgte die Konstruktion einer durchgängig digitalisierten Welt: Mobiltelefone für jeder- mann, bargeldloses Zahlen und Kaufen, Fernhandel per Internet in nahezu allen Bereichen, zum Beispiel im Börsenhandel, beim Banking und Shopping, dazu Games, E-Learning usw. Die Techniker, die die digitalen Welten entwickelten, trugen als „unspektakuläre Revolutionäre“ zur gesellschaftlichen Demokratisie- rung Südkoreas bei. Die „digitale Demokratie“ ging nämlich mit der Entwicklung der digitalen Medien einher.

1.2 Entwicklung der Medien- und Kulturindustrie

Der dreijährige Koreakrieg führte zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang, der anschließend in den 1950er- und 1960er-Jahren durch die „Babyboom-Ge- neration“ kompensiert wurde. Die Generation der „Babyboomer“ wurde später für die Industrialisierung mobilisiert. Die Digitalisierung Südkoreas ist vor dem Hintergrund geringer natürlicher und großer menschlicher Ressourcen zu sehen. Das Land ist auch heute noch reich an Arbeitskräften.

Hinzu kommt, dass sich die koreanische Halbinsel in einer sehr ungünstigen geografisch-politischen Lage befindet. Als geteiltes Land leidet Südkorea bis heu- te darunter, dass die Landverbindungen zum asiatischen Kontinent gekappt wur- den und somit seine „natürliche“ Brückenfunktion zwischen dem Ozean und dem Kontinent verloren ging (eine Funktion, die zum Beispiel Italien im Mittelmeer- raum einnimmt). Nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft (am 15. August 1945) wurde Korea auf der Potsdamer Konferenz der Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs (Sowjetunion, USA und England) durch den 38. Breitengrad geteilt; nach dem Waffenstillstand des Koreakriegs im Jahr 1953 erfolgte die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone (DMZ) zwischen Nord- und Südkorea.

Auf Grund dieser Grenzziehung ergibt sich für Südkorea als exportabhängigem Land die Notwendigkeit, grenzüberschreitende Produkte ohne Zollkontrollen herstellen zu können. Im Sinne des McLuhan’schen „global village“ findet sich diese Produktionsmöglichkeit vor allem im Bereich der Massenmedien, die (un- ter anderem auch ästhetische) mediale „Waren“ herstellen. Die koreanische Me- dienpolitik stellt seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts als „Kulturindustrie“ audiovisuelle contents (Filme, CDs/DVCs, Videos, TV-Formate, Computerspiele usw.) ins Zentrum ihrer Bemühungen.

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In den letzten vergangenen Jahren spricht man auf dem ganzen asiatischen Kon- tinent von der „koreanischen Welle“. Fernsehfilme, Soaps, Sitcoms und Musik- videos werden von zahlreichen ausländischen asiatischen Sendern ausgestrahlt und insbesondere von japanischen und chinesischen Zuschauern begeistert auf- genommen. Dadurch sind viele koreanische Schauspieler und Sänger zu Stars der „koreanischen Welle“ geworden, und viele Drehorte werden heute von auslän- dischen Gästen als Touristenattraktionen besucht.

Darüber hinaus konzentrierte sich die staatliche Förderung auf die IT-Technolo- gie, das heißt auf die Informations- und Kommunikationstechnologie sowie die Medienindustrie. Die internationalen Erfolge von südkoreanischen Konzernen wie Samsung, LG, SK, KT sind auf Fördermaßnahmen der Regierung zurück- zuführen. Zum Beispiel entwickelte die Firma Samsung Electronics bereits 2008 die 30-Nano- und 64-Gigabytes-Nano-Flash-Halbleitertechnologie, die es erlaubt, mittels einer Memory Card in der Größe eines Fingerhuts 80 DVD-Filme zu speichern.

Gegenwärtig steht auch das LCD-LED-Display von Samsung weltweit an der Spitze. In Zeiten der medialen Konvergenz, der digital convergence, welche die Grenzen zwischen TV, PC und Mobile Phone verwischt2, wurde die von Sam- sung Electronics und ETRI (dem Electronics and Telecommunications Research Institute, Korea) entwickelte Technologie Wibro (Wireless Broadband Internet) als globale Standardtechnologie angenommen.

1.3 Erleichterung des Zugangs zu digitalen Medien

Die Informatisierung der Gesellschaft kann nur dann gelingen, wenn der Zugang zu den digitalen Medien erleichtert wird. Die erfolgreiche Informatisierung der südkoreanischen Gesellschaft gründet auf einer Reihe wichtiger Faktoren. An ers- ter Stelle führen die Wissenschaftler, die sich mit der Informationsgesellschaft befassen, den Sachverhalt an, dass die wegweisende Informatisierung Südko- reas auf die flächendeckende Vernetzung mit Glasfaserkabeln (bis auf zirka 400 bevölkerungsschwache Inseln) zurückzuführen ist. In der Tat ist die Verkabelungs- quote Südkoreas weltweit die höchste.

Neben der Einrichtung einer soliden Infrastruktur wurde von staatlichen Ins- tituten in allen Städten und Gemeinden für alle Bürger eine Medienausbildung

2 Müller, J. E. N. A. 2009

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angeboten, für die keine oder nur geringe Studiengebühren zu entrichten waren. Die Ausbildung fand an Volkshochschulen und Privatschulen statt, die vom Staat finanziell gefördert wurden.

In der Anfangsphase der Informatisierung war es nicht einfach, die Bevölkerung zur Nutzung des Computers zu motivieren. Deshalb wurden Computerspiele als Lockmittel eingesetzt und das ludische Wesen des Koreaners als Homo ludens im Sinne des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga3 in neuer Form an- gesprochen.

In Südkorea gelang es in der Tat, die Methode „learning by playing on the com- puter“ in die Informatisierung umzusetzen. Innerhalb von zehn Jahren verloren die traditionellen Medien Zeitung und Fernsehen ihre dominante Rolle. Sie wur- den vor allem bei der Freizeitgestaltung ihrer Nutzer durch den Computer ersetzt. Die früheren Zeitungsleser und Zuschauer rezipieren nun im Internet Nachrich- ten, nützliche Informationen und Unterhaltungsformate.

Zudem spielte die schnell zu bedienende Schnittstelle der koreanischen Version des Computers eine entscheidende Rolle für die rasche Aneignung der Computer- kompetenz der Nutzer. Auf dem international standardisierten Keyboard, das ein- schließlich der Zahlen mit dem europäischen Alphabet ausgestattet ist, wird das koreanische Alphabet durch den zweifachen Satz von Vokalen und Konsonanten symmetrisch rearrangiert, wodurch es möglich ist, erheblich schneller als auf an- deren Tastaturen zu schreiben.

2. Koreanische Sprache und digitale Medien

2.1 Prinzip und Philosophie des koreanischen Alphabets „Hangeul“

Mehr als 1000 Jahre hatten Koreaner Mühe, das Chinesische in Wort und Schrift zu erlernen, obwohl sie immer auch ihr eigenes Idiom sprachen. Das Chinesische stand als offizielle Sprache nur den sozialen Eliten zur Verfügung, die lesen und schreiben konnten. Aus diesem Grund schufen im Jahr 1443 Wissenschaftler der königlichen Akademie im Auftrag von König Sejong das Hangeul als „richtige Sprache für alle“.

3 Huizinga, Johan 1971

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Dadurch wurde großen Teilen der Bevölkerung, die des Chinesischen unkundig waren, eine Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung gegeben und damit die Au- tonomie der koreanischen Bevölkerung gesichert. Die neue Schrift des Hangeul beruht auf einer universalen Philosophie des Humanismus und Nationalismus sowie auf dem regulativen Prinzip der menschlichen Lautbildung. Kim_abb_01 Position der Mutterstimme (vier Grundvokale) im großen Absoluten

Legende ㅗ (동, 봄): Osten, April (oben im Bild) ㅓ (남, 여름): Süden, Sommer (links im Bild) ㅜ (북, 겨울): Norden, Winter (unten im Bild) ㅏ (서, 가을): Westen, Herbst (rechts im Bild) X (환절기, 중일): Änderung der Jahreszeiten (in der Bildmitte) 상극: reziproke Überwindung (oben rechts und unten links im Bild) 양의: Yang (+), rot 음방: Yin (–), blau

Abbildung 1

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Zehn Grundvokale (als „Mutterstimme“) ㅏ(a), ㅑ(ya), ㅓ(er), ㅕ(yer), ㅗ(o), ㅛ(yo), ㅜ(u), ㅠ(yu), ㅡ(eu),ㅣ(i) wurden aus den Symbolen des Himmels (.), der Erde (ㅡ) und des Menschen (ㅣ) gebildet.

Aus der Form des Mundes ließen sich 14 Konsonanten (als „Sohnstimme“) ㄱ(g), ㄴ(n), ㄷ(d), ㄹ(l,r), ㅁ(m), ㅂ(b), ㅅ(s), ㅈ(dg), ㅊ(z), ㅋ(k), ㅌ(t), ㅍ(p), ㅎ (h) bil- den. Die Schöpfungsidee des Hangeul bezieht sich auf das „große Absolute“, das heißt auf die „Quelle der Doppelgrundregel von Yin (–) und Yang (+)“, wobei vier Vokale (ㅗ, ㅓ, ㅜ, ㅏ) diese Grundregel durch vier Himmelsrichtungen und Jahreszeiten verdeutlichen (vgl. Abbildung 1).

Mit dem Hangeul kann man fast alle Laute der menschlichen Sprachen in Schrift umsetzen. 2007 anerkannte die World Intellectual Property Organization (WIPO) das Hangeul als eine der zehn wichtigsten Sprachen der Welt. 2009 führte das „Ziazia“-Volk in Indonesien, das keine Schriftsprache kennt, das Hangeul mit Hilfe der Gesellschaft für Hangeul-Forschung als offizielle Sprache ein (vgl. Ab- bildung 2). Kim_abb_02 Titelblatt des koreanischen Lehrbuchs für das Ziazia-Volk

Abbildung 2

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2.2 Linguistische Struktur des Hangeul Die Aussprache der Konsonanten wird analog zur Schneide- oder Backenzahn-, zur Zungen-, Lippen- oder Kehlkopfstimme determiniert, wobei die Vokale ebenso lauten, dann allerdings ohne Kontakt zwischen Zähnen, Zunge und Lippen. Beim Hangeul lassen sich Silben dadurch bilden und trennen, dass die 24 Buchstaben auf- und nacheinander kombiniert werden. Dazu kann die koreanische Schrift von oben nach unten oder von links nach rechts geschrieben und gelesen werden. Doppelkonsonanten wie ㄲ, ㄸ, ㅃ, ㅆ, ㅉ, ㄶ, ㅀ und doppelte Vokale, etwa ㅐ, ㅒ, ㅔ, ㅖ, ㅚ, ㅟ, sind eine gängige Kombination für eine nahezu unbegrenzt zu erweiternde Silbenbildung.

2.3 Zum Umgang mit dem Computer beim Schreiben des Hangeul

Koreaner tippen auf dem Keyboard des Computers wie auf der deutschen Tastatur, aber sie können das Tippen auf das Fünf- bis Zehnfache in Relation zum Schrei- ben einer europäischen oder anderen Sprache beschleunigen, da die Konsonanten auf der linken Seite und die Vokale auf der rechten Seite des Keyboards symmet- risch angeordnet sind (vgl. Abbildung 3). Das Schreiben im symmetrischen Wech- sel hat den Vorteil einer geringeren körperlichen Belastung, sodass man länger und motivierter am PC arbeiten kann. Kim_abb_03 Koreanisches Keyboard

Abbildung 3

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Zudem ermöglicht das Hangeul eine große Beschleunigung beim Chatten. Bei- spielsweise muss man für onomatopöetische Effekte, etwa des Lachens „Ha, Ha, Ha“, nur den ersten Konsonanten „ㅎㅎㅎ“ oder „ㅋㅋㅋ“ eintippen. Mit den zehn Grundbuchstaben von ㄱ, ㄴ, ㄷ, ㄹ, ㅁ und ㅏ, ㅓ, ㅗ, ㅜ, ㅣ lässt sich nicht nur leicht schreiben. Es können auch zahlreiche Kombinationen gebildet werden. Diese Option hat in den Klassenzimmern zum Phänomen der sogenannten „thumb gangs“, der Daumen-Gangs geführt, wobei Schüler und Studenten wäh- rend des Unterrichts oder der Vorlesung nur beide Daumen zum Tippen benutzen, ohne auf die Zeichen der Tastatur zu blicken.

3. Bildungsniveau und Bereitschaft der Bevölkerung zur Nutzung digitaler Medien

3.1 Analphabetenquote: nahezu null Prozent

Nahezu 1000 Jahre galt in Korea eine literarische Prüfung aus der klassi- schen chinesischen Literatur und einem darauf basierenden Aufsatztext als Vo- raussetzung für den Eintritt in das hoch geschätzte Beamtentum. 1950 wurde die Schulpflicht bis zum Abschluss der Grundschule (Unterricht in Hangeul, sechs Klassen) sowie ab 1985 die Schulpflicht bis zum Abschluss der Mittelschule (neun Klassen) eingeführt. Derzeit absolvieren 99,6 Prozent der Schüler eines Jahrgangs die High School (von der 10. bis zur 12. Klasse) und 84 Prozent der Schulabsol- venten studieren an den 200 Universitäten (vier Jahre bis zum Bachelor of Arts/ Science) oder an den 146 Colleges (zwei Jahre).

Eine fundierte Schul- und Universitätsbildung gilt als Erfolgsgrundlage für jeden Beruf. Der Abschluss an besonders renommierten Universitäten wie zum Bei- spiel der University, der Korea University, der Yonsei University (die soge- nannten SKY-Universitäten) garantiert herausragende berufliche Erfolgschancen. Die Industrialisierung und Informatisierung der südkoreanischen Gesellschaft wären allerdings ohne eine gute Allgemeinbildung breiter Bevölkerungskreise unmöglich gewesen.

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3.2 Zur Mentalität der Südkoreaner oder der Spieltrieb des Homo ludens

Koreaner genießen gern Dinge und Aktivitäten, die Freude in den Alltag bringen. In den Dörfern der alten Agrargesellschaft spielten die Bauern mit Schlaginstru- menten im schnellen Dreiviertel- oder Sechsachteltakt Tanzmusik, wobei diese Aktivität die Solidargemeinschaft stärkte und die Psyche der Menschen für eine Weile von der Last der harten Landarbeit befreite. Mit dem Beginn der Industri- alisierung, das heißt in der nachfolgenden Industriegesellschaft, spielten die Ar- beiter in ihren Dachkammern das Kartenspiel Go-Stop, sahen sich im Wohnzim- mer TV-(Melo-)Dramen an oder fuhren auf den Straßen mit ihren Autos herum.

In der Informationsgesellschaft bedienen sich die Südkoreaner nun der digitalen Medien, mit denen sie sich auf die Suche nach individuellen Vergnügungen, sei es in Form von Internetspielen oder Chats, begeben. Dazu kommt noch ihre Vorliebe für hohe Geschwindigkeiten (pali pali). Mit einem Mobiltelefon oder einem Com- puter bleiben die Koreaner weiterhin kommunikationsfreudig. Sie unterhalten sich mit ihren Mitmenschen nicht mehr allein in der Form der langsam getakteten direkten Kommunikation, sondern in Form des blitzschnellen Chats oder Ge- sprächs im Internet oder auf dem Handy mit den Cyber-Nachbarn.

3.3 Wohnungsstruktur

Mit der Industrialisierung entstanden Ballungsgebiete und große Städte, in denen nun die meisten Bürger Apartments mit komfortablen Ausstattungen bevorzugen. Die neuen Wohnanlagen sind mit Pförtnern, Aufzügen, Möbeln, elektronischen Geräten, Parkhäusern und Videoüberwachungsanlagen ausgestattet, und es lebt sich darin sicher und bequem. Über 70 Prozent der Bevölkerung wohnen heute in derartigen Apartments. Diese Wohnungsform erlaubt eine leicht zu installieren- de, standardisierte und weiträumig fernbedienbare Kabelvernetzung für alle elekt- ronischen Geräte – dies ganz im Sinne der von Florian Rötzer4 beschriebenen „Telepolis“ als einer ubiquitous city.

Darüber hinaus haben die Menschen auf Grund der bequemeren Wohnumgebung nun auch mehr Zeit für die Nutzung von Medien, woraus – nach Alexander Klu- ge – ein „neues Höhlenmenschentum“5 resultiert. Dieses neue Dasein bringt auch

4 Rötzer, Florian 1997 5 Kluge, Alexander 1985

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das Verschwinden traditioneller Orte oder Plätze zu Gunsten von cyber cities, computer cities, interactive cities, virtual cities, digital cities oder cities of bits mit sich.

4. Digitales Fernsehen (DTV)

In Südkorea gibt es derzeit drei öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (KBS, EBS, MBC) und einen Privatsender (SBS), deren Programme terrestrisch ausge- strahlt werden. Zirka 70 TV-Spartenprogramme werden über Kabel und Satellit verbreitet. 2001 begann das Zeitalter des digitalen Fernsehens bei KBS, MBC, SBS und EBS; alle analogen Ausstrahlungen werden bis 2012 (ursprünglich war das Jahr 2005 vorgesehen) eingestellt, und bis zu diesem Zeitpunkt wird die Di- gitalisierung des Fernsehens wie geplant abgeschlossen sein.

Gegenwärtig können Zuschauer, in deren Haushalt sich ein digitales Fernsehgerät befindet, zehn DTV-Kanäle über Kabel oder Satellit empfangen. Auch wenn alle Sender nun digitale Programme anbieten, besitzen viele Zuschauer noch analoge TV-Geräte.

Dass das südkoreanische DTV heute weltweit eine Vorläuferrolle spielt, ist vor al- lem auf die schnellen und einheitlichen Entscheidungsprozesse der südkoreani- schen Medienpolitik zurückzuführen. Während es in anderen Industrieländern wie in Japan, den USA oder in Deutschland langwierige Debatten über die zukünf- tig anzuwendenden Technologien und Standards, entweder HDTV (High-Defini- tion Television) oder DTV (Digital Television), gab, entschied sich die korea- nische Regierung zügig für die europäische Technologie DVB (Digital Video Broadcasting).

Mit dieser Technologie kann man entweder terrestrisch-immobil oder terres- trisch-mobil (zum Beispiel im Auto) Fernsehprogramme empfangen. Im Gegen- satz dazu erlaubt die amerikanische DTV-Technologie ATSC (Advanced Tele- vision Committee) nur einen Empfang im immobilen Zustand.

5. Internet

Bereits seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist nahezu jeder Haushalt in Südkorea mit einem Internetanschluss ausgestattet, wie man dies vom Fernsehen kennt. 60

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Prozent der Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren haben heute einen Internetzugang. Im Internet finden „Fernhandlungen“ in Form von zahlreichen zwischenmenschlichen Aktivitäten statt, wie zum Beispiel der Austausch von E-Mails, Chats, Erziehung, Verwaltung, Wahlen, Werbung, Kauf und Verkauf, Kultur, Sport, Freizeitbeschäftigungen usw.

Die rapide Verbreitung des Internets impliziert eine entscheidende soziale Verän- derung, nämlich den Verlust der (physischen) Mobilität. Südkoreaner müssen auf Grund dieses raschen Strukturwandels der Öffentlichkeit das Verschwinden öffentlicher Plätze und Orte in Kauf nehmen. Ohne die Internetwelten und -orte, wie die Homepages, Blogs, Cyworlds, die kommerziellen Internetcafés usw. kön- nen sie kaum noch etwas unternehmen.

Im Vergleich zum Nutzungsverhalten bei den traditionellen Medien stellt sich das Verhalten der Internetuser radikal anders dar. Sie begeben sich begeistert auf die Suche nach Daten und Informationen (im Web 1.0). Im Web 2.0 finden sich nun auch Daten- und Informationsangebote von weiteren Usern (UCCs: User Created Contents), die einen Austausch von Informationen und Botschaf- ten, die Bildung von Foren erlauben und somit eine Art kollektiver Intelligenz im Sinne von Pierre Lévy6 konstituieren.

6. Mobiles Telefon

Die enorme Verbreitung des mobilen Telefons in Südkorea kann an der erheblich größeren Zahl von Apparaten als der Zahl der Gesamtbevölkerung (48 Millio- nen) ersehen werden. Das mobile phone führt zu einer Revolution der Kommu- nikation zwischen den südkoreanischen Bürgern, das heißt, es ist in weltweit ein- zigartiger Weise nun zum ersten Mal von einem „Distributionsapparat“ zu einem „Kommunikationsapparat“7 mutiert. Das „Handyreich“ Südkorea gründet nicht zuletzt auf einer harten Konkurrenz zwischen verschiedenen Betreibern (SKT, KT, LGT usw.), die billige Geräte mit günstigen Nutzungsgebühren anbieten.

Mobile phones fungieren als „Supermultimedien“, als Übermittler von Briefen, als (Bild-)Telefon, Radio, Fernsehen, Internet, Wörterbuch, Notizbuch, Kredit- karte, Ausweis, SMS (Short Message Service), E-Ticket, Rechner, Kalender, Uhr, MP3-player, Videorekorder, Kamera; sie dienen zur Verbreitung von Bulletins

6 Lévy, Pierre 1997 7 Brecht, Bertolt 1967, S. 129 329 FOCUS-Jahrbuch 2011

und Werbung, zur Navigation, zum Spielen usw. Papier und Bargeld ver- schwinden; mit und in den Multimedia-Apparaten wird eine umfassende medi- ale Konvergenz vollzogen.

7. DMB (Digital Multimedia Broadcasting)

Weltweit gesehen wurden im Dezember 2005 zum ersten Mal in Südkorea Pro- gramme über das Digital Multimedia Broadcasting (DMB) verbreitet. Diese neue Sendeform basiert zum Teil auf der deutschen Technologie DAB (Digital Audio Broadcasting, Eureka-147). Zusätzlich wurde für das DMB die neue koreanische Multimediatechnologie Wibro angewendet, die die Grenzen zwischen TV, PC und mobilen Telefonen aufhebt und 2005 als internationaler Standard angenommen wurde. Mit diesen beiden Technologien ließ sich ein neues Hand-, Taschen- oder Autofernsehen als terrestrisches DMB und Satelliten-DMB entwickeln (vgl. Abbildung 4). Die neuen Multimedien sind nun im Freien mobil nutzbar unab- hängig davon, ob sie sich am menschlichen Körper oder im Auto befinden. Kim_abb_03 DMB auf einem Mobiltelefon (links) und einem Navigationssystem (rechts)

Abbildung 4

Im Mai 2009 gab es 19,54 Millionen terrestrische DMBs, darunter 13,2 Millionen in mobilen Telefonen, 2,65 Millionen in kostenlosen Auto-Navigationssystemen, 1,1 Millionen in PCs, 2,69 Millionen in PMPs (Portable Multimedia Players) be-

330 Digitale Medien Südkoreas im soziokulturellen Kontext Kim_tab_01

DMB-Anbieter in Korea

Terrestrisches DMB U-KBS TV U-KBS STAR, U-KBS HEART V-Radio U-KBS MUSIC Data U-KBS CLOVER TPEG KBS MOZEN TPEG Region landesweit MBC DMB TV MY MBC V-Radio MBC RADIO Data MY MBC Data Broadcasting TPEG DMB Drive Rent MBN V-Radio, Arirang Radio Region Seoul, Chuncheon, , , Andong, , Jeju SBS und TV SBS und TV DMB V-Radio SBS V-Radio Data SBS und Data Broadcasting TPEG SBS ROADi TPEG Rent SBS CNBC, TBS V-Radio Region Seoul, Gangwon, Daejeon, Gwangju, Daegug, Busan, Jeju YTN DMB TV mYTN Data nBEEN TPEG 4Drive Rent WOW-TV, TBN Korea DMB TV QBS Data QBS DATA Rent tvN go, #Love tbs U1 Media TV U1 Data U1 Data Rent uMTN, MBN

Satelliten-DMB Video MBC Everyone, SBS Drama, KBS Drama, TU Cinema, Channel CGV, TU Sports, tvN/Olive, TUBOX, MY MBC, YTN, EBS u, Any Box, on-game- net, Comedy TV, SBS Golf & Sports, J Golf, Premium 19+, NGC, CNN/ Korean Economy TV, MBN/BBC World, OBS W, MBC NET Audio Hit Songs, Power Dance, Ballade, Hit Songs, Trot, Hot Pops, Easy Classic, TU Request, Green Music, Audio Book, Arirang Radio, BBC World Service, TBS eFM, TBS FM, YTN FM TPEG TU Ride On

Quelle: Korean Wikipedia Tabelle 1

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ziehungsweise PDAs (Personal Digital Assistants). Zu diesem Zeitpunkt gab es 1,9 Millionen Satelliten-DMBs, darunter 1,8 Millionen in mobile phones, 0,1 Millionen in Auto-Navigationssystemen. Sechs terrestrische DMBs und drei Satelliten-DMBs konkurrieren miteinander (vgl. Tabelle 1). Bevorzugte DMB-For- mate sind Sport, Nachrichten, Dramen, Musik usw.

8. Die Zukunft der digitalen Medien in Südkorea

Im Zeitalter der Medienkonvergenz stehen die digitalen Medien im Mittelpunkt des Interesses von Medienschaffenden und -wissenschaftlern. Mit Blick auf die digitalen Medien in Südkorea sind zwei gegenläufige Entwicklungstendenzen zu beobachten. Einerseits befinden sich in den Haushalten Medien wie das Internet und DTV in einem „rasenden Stillstand“8, andererseits bewegen sich Medien wie DMB oder mobile phones mit hoher Geschwindigkeit im Freien.

2008 trat das IP-TV-(Internet Protocol Television-)Gesetz in Kraft, das zu 1,85 Millionen IP-TV-Abonnenten führte. Darunter befinden sich 0,9 Millionen Kun- den von Korea Telekom (Stand: September 2009). Auf dem IP-TV-Markt herrscht gegenwärtig ein Anbietermonopol oder -kartell. Deshalb bestehen die Content produzierenden Fernsehsender darauf, dass innerhalb einer Zeitspanne von zwölf Stunden keine Programminhalte ins Internet geladen werden können, das heißt, diese erscheinen dort mit einer entsprechenden Verzögerung. Bei Live- sendungen soll IP-TV bis dato allerdings hauptsächlich nur als ein ergänzender Service für terrestrisches Fernsehen, Kabel- und Satellitenfernsehen fungieren. Von den IP-TV-Abonnenten wird heute der kostengünstige QPS (Quadruple Play Service), das heißt der Zusammenschluss von IP-TV, High-Speed-Internet, Tele- fon (Festnetz) und mobiler Kommunikation bevorzugt.

Wohin führt nun die Entwicklung der digitalen Medien in Südkorea? In Rich- tung der Utopie des „global village“9, der „telematischen Gesellschaft“10 oder der Dystopie des „telescreen“11? Diese Frage lässt sich vielleicht mit Vilém Flusser beantworten. Die koreanische Gesellschaft hätte in seinem Sinne für eine so- zialisierende „Telematisierung“ zu sorgen; denn die „Telematisierung wäre dem- nach eine Technik, die Programme aus dem Besitz der Sender zu reißen, um sie zum Eigentum aller Beteiligten zu machen“12.

8 Virilio, Paul 1992 9 McLuhan, Marshal 1962 10 Flusser, Vilém 1996 11 Orwell, George 1949 12 Flusser, Vilém 1996, S. 17

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Professor Dr. Seong-Jae Kim ist Dekan am Sozialwis- senschaftlichen College der Chosun University, Gwangju, in Südkorea. Er wurde 1957 in Jeonnam, Südkorea, gebo- ren. Er studierte Germanistik an der Yonsei-Universität Seoul und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Pädagogik und Sinologie an der Universität Münster. Nach seiner Promo- tion 1992 (Kim, Seong-Jae, 1993: Mode und Gegenmode: Sozialwissen- schaftliche Ansätze zu einer Kommunikationstheorie der Öffentlichkeit. Frankfurt am Main) war er als Lehrbeauftragter an der Jungang-, Korea-, und Yonsei-Universität Seoul tätig. Seit 1994 lehrt er Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Chosun-Universität in Gwangju, wo er die Schwerpunkte Kommunikationstheorie, -philosophie und Medien- ästhetik vertritt. 1998 war er Gastforscher an der Universität Münster und von 2007 bis 2008 Gastprofessor an der Universität Bayreuth. Seit 2008 ist er Dekan an der Chosun University.

Literatur:

Brecht, Bertolt (1967): Radiotheorie 1927–1932. In: Schriften zur Literatur und Kunst I. Frankfurt am Main, S. 127–134

Flusser, Vilém (1996): Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen

Huizinga, Johan (1971): Homo Ludens: A Study of the Play-Element in Culture. Boston

Kluge, Alexander (1985): Die Macht der Bewusstseinsindustrie und das Schick- sal unserer Öffentlichkeit. Zum Unterschied von machbar und gewalttätig. In: Bis- marck, Klaus von/Kluge, Alexander/Sieger, Ferdinand (Hrsg.): Industrialisierung des Bewusstseins, München, S. 51–129

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Korean Wikipedia (2010): 대한민국의 디지털 멀티미디어 방송국. Abgerufen unter http://enc.daum.net/dic100/contents.do?query1=10XXX95078. am 22.8.2010

Lévy, Pierre (1997): Die kollektive Intelligenz: Für eine Anthropologie des Cyber- space. Mannheim

McLuhan, Marshal (1962): The Gutenberg Galaxy. Toronto

Müller, J. E. N. A. (2009): Mediale Recyclings und Re-Mediationen im digitalen Zeitalter – zur Auflösung des „Werk-Begriffs“. In: Gundel, Jörg/Heermann, Peter W./Leible, Stefan (Hrsg.): Konvergenz der Medien – Konvergenz des Rechts? Je- na, S. 19–30

Rötzer, Florian (1997): Die Telepolis: Urbanität im digitalen Zeitalter. Berlin

Orwell, George (1949): Nineteen Eighty-Four. London

Virilio, Paul (1992): Rasender Stillstand. München, Wien

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