Der Zu Erfahrende Mythos
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Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades eines Dr. Phil. am Fachbereich Kulturwissenschaft der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Der pantomimische Mythos Das Sprachproblem und das Identitätsproblem bei H. v. Kleist Eingereicht von: Asayo Ono Wintersemester 2004/2005 Gutachter: Prof. Dr. Anselm Haverkamp Prof. Dr. Gerhard Neumann Inhaltsverzeichnis Einleitung 4 Kapitel 1: Das Problem des Gesprächs bei Kleist 1-1-1 Einleitung 6 1-1-2 Da-Sein in einer Atmosphäre 9 1-1-3 Verschiedene Elemente des Geprächs 11 1-1-4 Du. Ein sonderbarer Quell 15 1-1-5 Das Gespräch. Eine Wechselwirkung im Spannungsfeld 18 1-1-6 Die Überlegung und das Sprechen beim Reden 21 1-1-7 Die Sprache und das durch Sprache Ausgedrückte 24 1-1-8 Das Gemüt und seine Erregung beim Gespräch 28 1-2-1 Einleitung für „Über das Marionettentheater“ 33 1-2-2 Die tanzende Marionette 35 1-2-3 Die Marionette und der Maschinist. Die Zusammenarbeit 37 1-2-4 Der Schwerpunkt. Der Weg der Seele 39 1-2-5 Das störende Bewusstsein. Die Ziererei 40 1-2-6 Der Sündenfall. Der Verlust des Paradieses 42 1-2-7 Der Verlust der Unschuld 44 1-2-8 Das schwaches Bewusstsein. Das Tier 47 1-2-9 Das Gespräch, in dem Grazie entsteht 49 Kapitel 2: „Der zerbrochne Krug“ 2-1 Einleitung 54 2-2 Adams ‚Fall’ 57 2-3 Die zweideutige Sprache 67 2-4 Die verbale Lüge und pantomimische Wahrheit Adams 75 2-5 Der ‚zu sich selbst Verurteilte’ Adam 80 Kapitel 3: Der Mythos der Geburt und des Todes. Kleists Familienerzählungen 3-1-1 Einleitung 83 3-1-2 „Das Erdbeben in Chili“: Einleitung 84 3-1-3 Das erschütterte Bewusstsein 86 3-1-4 Die Paradies-Szene 90 2 3-1-5 Sprachverwirrung und Massenhysterie 96 3-2-1 „Der Findling“: Einleitung 100 3-2-2 Die versiegelte Familie 102 3-2-3 Ohnmacht und Pantomime 105 3-2-4 Das geheimnisvolle Zimmer 107 3-2-5 Die Sprache und das Missverständnis 108 3-2-6 Das katastrophale Ende 111 Kapitel 4: Der zu erfahrende Mythos. „Amphitryon“. Der Mythos in der Liebe 4-1 Einleitung 114 4-2 Sosias: Die Diener-Szene 120 4-3 Das innerste Gefühl 126 4-4 Die Jupiter-Identität 134 Schluss: Der Wannsee-Mythos. Kleists Selbstmord 144 Literaturverzeichnis 154 3 Einleitung In seinem Essay „Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist“ schreibt Max Kommerell: In jedem großen Drama ist etwas Pantomime. Das wußten alle Dramatiker, die ihre Kunst inmitten einer hauptstädtischen Bühnenkultur und eines Publikums von aufgeschlossenem Theatersinn geübt haben. Die Armut an Pantomime ist eine Gefahr des Dramas von vorwiegend literarischer Gesinnung: Grillparzer überwiegt die geist und sprachgewaltigeren deutschen Schöpfer deshalb in manchem Fall. Auch Kleist ist bühnenfremd. Aber er erfindet das stumme Drama mitten im geredeten Drama, das anderen ihr Theatersinn eingibt, unter dem Zwang seiner dramatischen Vision und aus seinem besonderen Talent zum Geheimnis: das aufgeführte Geheimnis heißt Mysterium und alles Mysterium ist Pantomime. Weswegen uns auch Kleists Dramen, obwohl sie nicht der Bühne zuliebe erdacht sind, bei einer Darstellung im echten Geist geradezu unterjochen. Das Wort „patomimisch“ möge hier, obschon es eigentlich auf ein Drama ohne Worte deutet, die Wortlosigkeit und die dafür eintretenden Ersatzmittel an fast allen wesentlichen Wendepunkten des Kleistischen Dramas bezeichnen. [...] Ausgiebig oder sparsam machen alle dramatischen Dichter von der Bühnenanweisung Gebrauch. Aber Kleist – und das war nie da – belehrt sie zum Ausdrucksmittel, das dem Drama beispringt, wo die Gestalten des Dichters stumm sind und er selbst die Sprache verwirft.1 (Hervorhebungen: A.O.) Unter den zahlreichen Beiträgen zur Kleistforschungen ist Kommerells Essay deswegen auffällig, weil er nicht versucht, zu beschreiben, wie die Werke von Kleist sind. Sein etwas enigmatischer und auf andere Interpretationen anspielender Essay zielt auf die Darstellung dessen ab, was Kleists Werke eigentlich sind. Dazu erläutert er genau die Stellen bei Kleist, in denen die Diskrepanz zwischen Sprache und Unaussprechlichem Thema ist, wobei der Verzicht auf Sprache als wesentlicher Zug des Autors Kleist in den Blick gerät. Die Protagonisten von Kleist sind in entscheidenden Momenten sprachlos2, anders ausgedrückt, wird dem Publikum kein direkter verbaler Zugang zu ihren Regungen ermöglicht. Stattdessen finden ihre Hauptmotive pantomimischen Ausdruck. Für Kommerell ist diese Darstellungsweise die des Mysteriums. Meine Dissertation beruht auf der These, dass Kleists Hauptthema die Darstellung des Mythos selbst sind und die Pantomime ein Unvermögen diesen verbal auszudrücken indiziert. Der ‚unaussprechliche’ Mythos, der im Folgenden zu diskutieren ist, ist der Mythos des Sündenfalls, dessen Aspekte der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und Paradiesvertreibung in Kleists Schriften von immer wieder auftauchen. Bemerkenswert ist, dass dabei weniger nach mythologischer 1 Vgl. Kommerell, Max. Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist. In: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe. Schiller. Kleist. Hölderlin. Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann), 1962, S. 243-317, hier S. 305-309. 2 Vgl. Max Kommerell, a.a.O., S. 303. 4 Vergangenheit als vielmehr nach deren aktueller Erfahrbarkeit gefragt wird geht. Die Kleistschen Helden sind zu sich selbst Verurteilte3, die nicht wissen, dass die Spur des Sündenfall-Mythos in ihrem Körper verborgen ist. Diese Spur ist die Wahrheit ihres Daseins. Sie leben in ihrem Geheimnis, weil dieses Teil ihres Körpers ist. Um es zu entdecken, müssen sie abermals vom Baum der Erkenntnis essen, und zwar abermals unter Einfluss eines Partners. 3 Vgl. Max Kommerell, a,a,O., 259-260. „Held ist bei Kleist der zu sich selbst Verurteilte. Die Nicht-Helden leben in Unwissenheit: sie mögen immer den Willen Gottes, der Natur und des Staats erfüllen, Kleist würdigt sie keines Blicks. Das Meinen über den Menschen, die Bürgschaft der Sicherheit, der Schonung und Verständigung ist zunächst gegenwärtig im Meinen des Menschen über sich selbst. Das Bewußtsein ist dem untertan, erst in der Schule der Entscheidung wird es dem Meinen abtrünnig und kann der Majestät des Unbewußten eine dienende Fackel vorantragen. In den tragischen Menschen Kleists ist die Möglichkeit, sich so zu finden, da. Daß sie es wirklich tun, dazu bedarf es einer äußersten Bedingung. Denn alles, was lebt, sträubt sich gegen die Wahrheit, die es selber ist. Der Zufall der Novelle und das Schicksal des Dramas stellen die äußerste Bedingung her, unter der ein Wesen bereit wird, von sich selbst wahrzuträumen und wahrzusagen und in den Abgrund seines Müssens hinabzufallen und an der eigenen Überschönheit zu sterben. Wie die Folter aus einem Menschen die schlimme Wahrheit hervornötigt, so foltert das Kleistische Schicksal eine Seele, bis sie ihre Wahrheit preisgibt; aber diese Wahrheit heißt; daß die Seele schöner ist, als sie sich selbst gedacht hat. So furchtbar schön, daß die anderen sich vor Schreck versteinern. Denn das ursprüngliche Sein der Seele stört die Vereinbarungen und willigt nicht in den gedeihlichen Anbau.“ 5 Kapitel 1: Das Problem des Gesprächs bei Kleist 1-1-1 Einleitung Die beiden Aufsätze, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und „Über das Marionettentheater“ werden in der Kleistforschung allenthalben verwendet.4 Zusammen mit zahlreichen Briefen scheinen sie den Interpreten den Schlüssel zum Werk von Heinrich von Kleist zu liefern. Aber ihr konkreter heuristischer Wert ist bis heute ungeklärt. Daher soll zunächst gefragt werden, welches Thema diese zwei Aufsätze gemein haben. Im ersten Kapitel meiner Dissertation geht es um die Frage, welche Problematik oder welches Motiv des Gesprächs man in diesen kleinen rätselhaften Schriften sehen kann, und wie sich genau dieses Motiv in den Werken von Kleist und in seiner Biographie widerspiegelt. So entwickelt das folgende Kapitel eine Möglichkeit der Interpretation der Werke von Kleist in Bezug auf die Probleme menschlicher Kommunikation. Meine Untersuchung beruht auf der These, dass in diesen Aufsätzen ein eigenartiges Gesetz des Gesprächs beschrieben wird, das für Kleists Werk und seine Biographie relevant ist. Es ist in Betracht zu ziehen, wie die Beziehung von Dialogpartnern stufenweise entwickelt wird. Die hier zu untersuchenden Aufsätze behandeln keinen Monolog. Vom Anfang bis Ende geht es um eine Beziehung zwischen einem Redner und seinem Partner und um die Kommunikationsmethode, nämlich die Sprache, die diese zwei Personen verbindet bzw. Missverständnisse provoziert. Anhand eines Gesprächsgesetztes entwickelt Kleist eine besondere Atmosphäre, in der die Protagonisten seiner Werke agieren. Das gilt sowohl für das dramatische als auch das Erzählwerk. Für Kleists Protagonisten können Erfolg oder Scheitern von Gesprächen existentiell sein. Das Verständnis der besonderen Atmosphäre in den Kleist-Werken ist also an die Klärung dessen geknüpft, was Kleist mit dem Begriff ‚menschliches Gespräch’ gemeint hat.5 Denn seine Anthropologie wird am Problem des Dialogs entwickelt.6 4 Der Text von Heinrich von Kleist: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Neunte, vermehrte und revidierte Auflage. Hrsg. v. Helmut Sembdner. München (Carl Hanser), 1993. Im Folgenden abgekürzt als: ‚CH’. 5 Vgl. Neumann, Gerhard. Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall-Rechtsfall-Sündenfall. Hrsg. v. Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau (Rombach), 1994. S. 13-30, hier S. 14. 6 Vgl. Neumann, Gerhard. Heinrich