<<

III. Rhetorik / Bildlichkeit WS 09/10

Einführung in die Literaturwissenschaft

III. Rhetorik / Bildlichkeit

1. Rhetorik Viele wesentliche Grundideen des Faches lassen sich auf Ideen der klassischen Antike zurückführen, die in neuer Form immer wieder auftauchen. Trotzdem haben sich grundsätzliche Dinge verschoben, so auch die Bedeutung der Rhetorik für die Literaturwissenschaft. Man kann sagen, dass die Poetik bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts als ein Teilbereich der Rhetorik angesehen wurde, die Dichtung also nur als ein Spezialfall von ›Reden‹ galt. Dementsprechend war auch die Dichtung den rhetorischen Regeln unterworfen, die jeder Dichter kennen und anwenden musste (unter den Bedingungen der Rhetorik ließen sich daher ›richtige‹ und ›falsche‹ Dichtungen objektiv unterscheiden). Im Zuge eines Prozesses der Ausdifferenzierung gewann die Literatur zunehmend an Autonomie gegenüber der Rhetorik. Die Verbindlichkeit ehemaliger Normen und die Zweckgebundenheit fielen weg – entsprechend wichtiger wurde der letztlich subjektive ›Geschmack‹. Trotz allem spielt die Rhetorik auch heute noch eine wichtige Rolle sowohl in der Poetik als auch im Alltagsleben. So gehört etwa das oberste Grundprinzip des aptum (das ›Angemessene‹) bzw. decorum (das ›Geziemende‹) auch heute noch zum allgemeinen ›Anstand‹ (wir würden uns dem Bundespräsidenten gegenüber anders verhalten als gegenüber unserem kleinen Bruder). Rhetorik definiert sich allgemein als die ›Lehre des richtigen Redens‹, wobei ›richtig‹ im Sinne von ›erfolgreich‹ und ›wirkungsvoll‹ zu verstehen ist. Sie stellt also die auf ein konkretes Ziel gerichtete Kunst der Überzeugung bzw. Überredung ( persuasio ) dar (vgl. Johann Matthäus Meyfahrt). Somit wohnt ihr auch immer ein ethischer Aspekt inne. Genau diese Zweckgebundenheit markiert seit dem späten 18. Jahrhundert dann die Differenz zur eigenständigen Poetik, die Dichtung nicht mehr als Spezialfall einer zielgerichteten Rede ansieht, sondern die Autonomie (›Zweckfreiheit‹) betont. Ihre Blütezeit hat die Rhetorik im republikanischen Rom gehabt. Marcus Fabius Quintilian definiert sie als ars bene dicendi (Regelsystem für richtiges Reden) und sieht sie somit als erlern- und kritisierbar an. Sein Ideal eines Redners läuft auf den vir bonus (rechtschaffener Mann) hinaus: er legt also Wert auf die ethische Komponente der Rhetorik. Markus Tullius Cicero hingegen formuliert das Ideal des perfectus orator (vollkommenen Redners), setzt also vor allem auf die Regelhaftigkeit und das Handwerkszeug der Rhetorik, wobei die Verpflichtung auf Ethik mitgedacht ist. Im Mittelalter wird die ›ars rhetorica‹ ins System der sieben ›artes liberales‹ (freie Künste im Sinne von ‚Dimensionen der Philosophie‘) eingeordnet. Dieses besteht aus einem (sprachlichen) Trivium

© www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de

III. Rhetorik / Bildlichkeit WS 09/10

Einführung in die Literaturwissenschaft

von Grammatik, Dialektik und Rhetorik und einem (mathematischen) Quadrivium aus Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. 1 Wichtigstes Prinzip der Rhetorik von literaturwissenschaftlicher Relevanz ist die Unterscheidung von drei Stilebenen, den genera dicendi . Wir alle sind unbewusst damit vertraut und halten uns mehr oder weniger instinktiv an die Unterscheidung von ›hohem‹ Stil ( genus grande bzw. sublime ), ›mittlerem‹ Stil ( genus medium ) und ›niederem‹ Stil ( genus humile ). Definiert wurden die Stil- Ebenen für den deutschsprachigen Raum u.a. in Martin Opitz‘ Buch von der Deutscher Poeterey . Der hohe Stil ist definiert als Stilisierung ›nach oben‹, d.h. als veredelnde Umschreibung des eigentlich Gemeinten (insbesondere unter Ausschaltung alles Körperlichen). Der mittlere Stil ist sachlich und verzichtet auf jegliche Art der Stilisierung. Eine besonders drastische und derbe Beschreibung des eigentlich Gemeinten, d.h. eine Stilisierung ›nach unten‹ ist Merkmal des niederen Stils (insbesondere als Betonung des Körperlichen). Die Entscheidung für die jeweils richtige = angemessene Stil-Lage fällt – entsprechend dem Prinzip des aptum /decorum – unter Berücksichtigung der Figuren, der Situation und des Themas (vgl. Martin Opitz). So benutzt in seinem Trauerspiel Die Braut von Messina (Tragödie als höchste Form des Dramas) in Analogie zum hohen Personal (Fürsten) entsprechend den hohen Stil. Ein anschauliches Beispiel für Verstöße gegen die Regeln des aptum/decorum bietet ’ satirisches Lustspiel Peter Squenz , in dem sich Handwerker an der für sie unpassenden Form eines Trauerspiels versuchen und zwangsläufig daran versagen 2. Ein weiteres Prinzip der Rhetorik ist die Einteilung des Schreibens in die drei Arbeitsphasen der inventio (Idee), der dispositio (Anordnung) und der elocutio (Ausformulierung). Bei der Wirkung von Dichtung auf den Zuhörer oder Leser stehen das docere (Belehren) und das delectare (Unterhalten) im Mittelpunkt. Einige Rhetoriker erweitern das Konzept außerdem noch um das movere (Rühren = emotionale Wirkung auf den Adressaten). Als Stil-Ideale gelten in der traditionellen Rhetorik puritas (Reinheit), perspicuitas (Deutlichkeit/Klarheit) und brevitas (Kürze).

1 Weiterführende Literatur zur Geschichte der Rhetorik: Vgl. Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. München 2003; Gerd Ueding: Klassische Rhetorik. München 2000. 2 Andreas Gryphius: Absurda Comica oder Herr Peter Squentz. Schimpff-Spiel [1658]. In: Ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werk. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Band 7: Lustspiele I. Hg. von Hugh Powell. Tübingen 1969 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke, Neue Folge: Bd. 21), S. 1-40.

© www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de

III. Rhetorik / Bildlichkeit WS 09/10

Einführung in die Literaturwissenschaft

2. Bildlichkeit Bildlichkeit ist ein wichtiges Charakteristikum der Alltagssprache, ist aber auch in der Dichtung von besonderem Interesse. formuliert es so: „[…] jede Dichtung ist durch und durch ein Gebilde aus uneigentlichen Ausdrücken.“ 3 Wichtig ist bei der Analyse von Bildlichkeit vor allem die Unterscheidung von ›Metapher‹ und ›Metonymie‹. Bei Metapher und Metonymie handelt es sich um ›Tropen‹ (= Umwendungen), d.h. um Spezialfälle einer uneigentlichen Ausdrucksweise. Metonymien ( ετονοάξειν : neu benennen) werden in der Alltagssprache häufig verwendet, spielen in der Poesie jedoch eine nur untergeordnete Rolle. Sie dienen der Umbenennung oder der Verschiebung von Bedeutung (Bsp.: »Den neuen Handke [= Handkes neues Buch] finde ich toll.«). Als eine Spezialform der Metonymie kann die Synekdoche betrachtet werden, die entweder partikularisierend vorgeht ( pars pro toto ; z.B.: ›Tempo‹ für Papiertaschentuch) oder generalisierend ( totum pro parte ; z.B.: ›Deutschland ist Fußball-Weltmeister‹). Die Metapher ( εταφέρειν : umhertragen) kommt zwar auch in der Alltagssprache vor, wird in der Poesie (speziell in der Lyrik) aber häufiger genutzt. Es geht hierbei um die Übertragung von Bedeutung von einem Wort auf ein anderes und beruht auf Ähnlichkeit (Bsp: der Fuß des Berges; Ähnlichkeit: unterer Teil). Eine weitere wichtige Unterscheidung bei der Bildlichkeit ist die zwischen ›Symbol‹ und ›Allegorie‹. Bei einer Allegorie geht es um die Veranschaulichung eines meist abstrakten Begriffes mittels eines konkreten Bildes (häufig in Gestalt einer Personifikation – Bsp.: Justitia für Gerechtigkeit/Rechtsprechung). Ein Symbol ist ein allgemein verständliches Sinnbild, das auf einem bestimmten Kennzeichen oder Merkmal beruht (Bsp.: das Schwert der Justitia = Macht/Strafe). Während ein Symbol seine konventionelle Bedeutung immer als Ganzes hat (das Schwert der Justitia hat als Ganzes die Bedeutung der strafenden Gewalt – Griff oder Klinge haben jedoch keine spezifische Semantik), besteht eine Allegorie aus der Addition mehrerer Attribute (Symbole), die gemeinsam den vollen Sinn der Allegorie ergeben. Eine Allegorie ist somit ›Zeichen für Zeichen‹ lesbar wie ein normaler Satz. An dieser Stelle soll noch kurz auf eine Modeerscheinung des späten 16. / frühen 17. Jahrhunderts hingewiesen werden, die heute ihre literarisch-kulturelle Bedeutung weitestgehend verloren hat: das ›Emblem‹. Ein Emblem kombiniert Bild und Text in Form einer Idee und seiner Darstellung miteinander. Es besteht aus einer inscriptio (Überschrift), einer pictura/icon (graphische

3 Hugo von Hofmannsthal: Bildlicher Ausdruck [1897]. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 1: Prosa 1. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt am Main 1956, S. 333.

© www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de

III. Rhetorik / Bildlichkeit WS 09/10

Einführung in die Literaturwissenschaft

Darstellung) und einer subscriptio (Unterschrift), die das Sinnbild erklärt. Emblematische Beziehungen spielen in unserer Alltagssprache nur noch in Form von konventionalisierten Bildern und Bedeutungszusammenhängen eine Rolle (Bsp.: ›Krokodilstränen‹).

© www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de

III. Rhetorik / Bildlichkeit WS 09/10

Einführung in die Literaturwissenschaft

Zitate:

Johann Matthäus Meyfart – Teutsche Rhetorica oder Redekunst

„ [...] mit außerlesenen / zu der Sach dienlichen und heilsamen Worten reden: und zwar also reden / daß die jenigen / an welche die Rede geschickt / nach Gelegenheit der Zeit / sittiglich und gewaltiglich uberredet werden.“ 4

Martin Opitz – Buch von der deutschen Poeterey genus grande : „Hergegen in wichtigen sachen / da von Göttern / Helden / Königen / Fürsten / Städten vnd dergleichen gehandelt wird / muß man ansehliche / volle vnd hefftige reden vorbringen / vnd ein ding nicht nur bloß nennen / sondern mit prächtigen hohen worten vmbschreiben.“ 5 genus medium : „Die mittele oder gleiche art zue reden ist / welche zwar mit jhrer ziehr vber die niedrige steiget / vnd dennoch zue der hohen an pracht vnd grossen worten noch nicht gelanget.“ 6 zur Angemessenheit: „[…] weil aber die dinge von denen wir schreiben vnterschieden sind / als gehöret sich auch zue einem jeglichen ein eigener vnnd von den andern vnterschiedener Character oder merckzeichen der worte. Denn wie ein anderer habit einem könige / ein anderer einer priuatperson gebühret / vnd ein Kriegesman so / ein Bawer anders / ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte / zue hohen ansehliche / zue mittelmässigen auch mässige vnd weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen.“ 7

Friedrich Schiller – Die Braut von Messina

„Nicht dreimal hat der Mond die Lichtgestalt Erneut, seit ich den fürstlichen Gemahl Zu seiner letzten Ruhestätte trug [...]“ 8

E.T.A. Hoffmann – Lebensansichten des Katers Murr

„Was ist's das die beengte Brust, Mit Wonneschauer so durchbebt, Den Geist zum Himmel hoch erhebt, Ist's Ahnung hoher Götterlust?

4 Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634]. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1977 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock Bd. 25), S. 60. 5 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Band II: Werke von 1621 bis 1626, 1. Teil. Stuttgart 1978, S. 331-416, hier: S. 384. 6 Ebd., S. 384f. 7 Ebd., S. 382. 8 Friedrich Schiller: Die Braut von Messina [1803]. In: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert herausgegeben von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. Band II: Dramen 2. Hg. von Peter-André Alt. München und Wien 2004, S. 824-912, hier: S. 825, V. 13-15.

© www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de

III. Rhetorik / Bildlichkeit WS 09/10

Einführung in die Literaturwissenschaft

Ja - springe auf, du armes Herz, Ermut'ge dich zu kühnen Taten, Umwandelt ist in Lust und Scherz, Der trostlos bitt‘re Todesschmerz, Die Hoffnung lebt - ich rieche Braten!“ 9

Gottfried Benn – Nachtcafé

„[…] Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot. Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende. […]“ 10

Theodor Storm – Immensee

„Komm, Elisabeth“, sagte Reinhardt, „ich weiß einen Erdbeerenschlag; du sollst kein trockenes Brot essen.“ So gingen sie in den Wald hinein: als sie eine Strecke gegangen waren, sprang ein Hase über den Weg. „Böse Zeichen!“ sagte Reinhardt. […]. „Wo bleiben deine Erdbeeren?“ fragte Elisabeth, indem sie stehen blieb und einen Atemzug tat. Sie waren bei diesen Worten um eine schroffe Felsenkante herumgegangen, Reinhardt machte ein erstauntes Gesicht. „Hier haben sie gestanden“, sagte er; „aber die Kröten sind uns zuvorgekommen, oder die Marder, oder vielleicht die Elfen.“ […] Nach einer Weile traten sie aus dem schattigen Laube wieder in eine weite Lichtung hinaus. „Hier müssen Erdbeeren sein“, sagte das Mädchen, „es duftet so süß.“ Sie gingen suchend durch den sonnigen Raum; aber sie fanden keine. „Nein“, sagte Reinhardt, „es ist nur der Duft des Heidekrauts.“ 11

9 E.T.A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern [1820-1822]. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Harmut Mangold und Ursula Segebrecht. Band 5: Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 1820-21. Hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt am Main 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker Bd. 75), S. 9-458, hier: S. 157, V. 25-33. 10 : Nachtcafé [1912]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn herausgegeben von Gerhard Schuster. Band 1: Gedichte 1: Gesammelte Gedichte 1956. Stuttgart 1986, S. 19. 11 : Immensee [Erstfassung 1849]. Zitiert nach dem Stellenkommentar in Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band I: Gedichte. Novellen. 1848-1867. Hg. von Dieter Lohmeier. Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker Bd. 19), S. 1026.

© www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de