HN 9852 Vorwort.Fm
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III VORWORT Das Concert für Violine und Violoncell mit ses zu Joachim vorübergehend sogar aufge- Orchester op. 102, das sogenannte Doppel- ben wollte (Johannes Brahms im Briefwech- konzert, schrieb Johannes Brahms wäh- sel mit Joseph Joachim, Bd. 2, Berlin 21912 rend seines Schweizer Sommeraufenthaltes [= Brahms-Briefwechsel VI], S. 230 f.; Jo- 1887 am Thuner See. Spätestens Mitte Juli hannes Brahms: Briefe an Fritz Simrock, 1887 war die Komposition, Anfang August Bd. 3, Berlin 1919 [= Brahms-Briefwechsel auch die Partiturniederschrift beendet. XI], S. 158 f.). Den – in der Brahms-Literatur häufig auf- Eine maßgebliche Anregung zur Entste- gegriffenen – Spekulationen des Brahms- hung des Doppelkonzertes scheint demge- Biographen Max Kalbeck über die Entste- genüber von dem Cellisten Robert Haus- hungshintergründe des Werkes sollte man mann ausgegangen zu sein (siehe Kalbeck, mit Skepsis begegnen. So lässt sich Kalbecks Brahms IV/1, a. a. O., S. 31–36). Zunächst Behauptung, das Doppelkonzert sei „aus ur- brachte Brahms im November 1886 seine sprünglich symphonischen Gedanken“, das kurz zuvor vollendete 2. Cellosonate mit heißt dem „Material zu einer fünften Sym- Hausmann in Wien zur Uraufführung und phonie“, hervorgegangen (Max Kalbeck: Jo- kam ein Jahr später mit dem Doppelkonzert hannes Brahms, Bd. IV/1, Berlin 21915, der Bitte des Cellisten „um ein Konzertstück S. 64), weder durch Äußerungen des Kom- für sich“ zumindest teilweise nach, wie sei- ponisten noch durch die überlieferten Ma- nen humorvollen Äußerungen zu entnehmen nuskripte oder die Werkgestalt selbst bele- ist: Durch Joachim ließ er Hausmann Ende gen. Das Themenmaterial scheint in Cha- Juli 1887 bei der Übersendung der ersten rakter und Verarbeitung vielmehr gleich auf flüchtig notierten Solostimmen ausrichten, die doppelkonzertante Anlage hin ausgerich- der Cellist möge seinen „guten Willen aner- tet zu sein. Undifferenziert und überzogen kennen“ (Brahms-Briefwechsel VI, a. a. O., ist auch Kalbecks Behauptung, Brahms ha- S. 232); später meinte er ironisch, Haus- be das Doppelkonzert geschrieben, um sich mann habe es wohl „ungnädig u.[nd] übel mit seinem Freund, dem Geiger Joseph Joa- vermerkt“, dass er „zu einem V’Cell-Con- chim, nach einem mehrjährigen Zerwürfnis cert gar noch eine Solo-Violine nehme“ zu versöhnen; zu diesem Zweck habe er (Friedrich Bernhard Hausmann: Brahms Themen aus Giovanni Battista Viottis und Hausmann, in: Brahms-Studien, Bd. 7, 22. Violinkonzert übernommen, das beide Hamburg 1987, S. 21–39, hier S. 29). Wenn liebten (a. a. O., S. 63). Obwohl einzelne Brahms im Juli 1887 Elisabeth von Herzo- thematische Affinitäten beider Werke kaum genberg andeutete, er schreibe gerade „eine zu leugnen sind, haben sie für das Doppel- Geschichte auf“, die weder „in seinem Kata- konzert keine tiefer gehenden formalen log“ noch „in dem anderer Leute“ vorkom- Konsequenzen. Immerhin ist zutreffend, me (Johannes Brahms im Briefwechsel mit dass es 1880 zum persönlichen Bruch der Heinrich und Elisabet[h] von Herzogen- Freunde gekommen war, als Brahms im berg, Bd. 2, Berlin 41921 [= Brahms-Brief- Scheidungsprozess des Ehepaares Joachim wechsel II], S. 159), zeigt diese Formulie- die Partei der Sängerin Amalie Joachim er- rung, dass er weitere konzertante Werke für griffen hatte. Zwar blieb die gegenseitige Violine, Cello und Orchester – etwa diejeni- künstlerische Hochachtung von dem Kon- gen Johann Christian Bachs, Louis Spohrs flikt unberührt, doch zeigen verschiedene oder der Vettern Andreas Jacob Romberg Äußerungen von Brahms, dass er das ge- und Bernhard Heinrich Romberg – nicht plante Werk wegen des gestörten Verhältnis- kannte. IV Kalbecks Spekulationen sind somit auf stieß. So schätzten Clara Schumann und der folgenden triftigen Kern zu reduzieren: Aus bedeutende Wiener Musikkritiker Eduard den Anregungen Hausmanns ging die reiz- Hanslick die künstlerischen Überlebens- volle Idee eines Doppelkonzertes für Geige chancen des Doppelkonzertes eher skeptisch und Cello hervor, die Brahms trotz des Kon- ein, während Joseph Joachim es gegen Ende fliktes mit Joachim nicht aufgab. Auf seine seines Lebens offenbar noch über das Violin- erste vorsichtige Anfrage hin zeigte sich Jo- konzert stellte (siehe Brahms, Neue Ausgabe achim so interessiert an dem neuen Werk, I/10, S. XVIII–XXII). Angeblich gab Brahms dass es im Verlauf der Diskussionen, Proben daraufhin den Plan zu einem zweiten Doppel- und Aufführungen tatsächlich zu einer Ver- konzert auf (Kalbeck, Brahms IV/1, a. a. O., söhnung der Freunde kam. Wenn Brahms im S. 75). Kontrovers waren nicht allein die Ur- Juni 1888 auf dem Joachim zugedachten Ex- teile, die das Werk teils als spröde und spiel- emplar des Partitur-Erstdruckes die hand- technisch undankbar, teils als ausgespro- schriftliche Widmung notierte: „An den[,] chen eingängig und instrumentengerecht be- für den es geschrieben[,] mit herzlichen Grü- zeichneten, sondern schon die Aussagen ßen J. Br.“ (siehe Johannes Brahms: Neue darüber, ob es eher symphonisch-konzer- Ausgabe sämtlicher Werke, Serie I, Bd. 10: tant oder primär solistisch-konzertant ange- Doppelkonzert a-Moll opus 102, hrsg. von legt sei. Michael Struck, München 2000 [= Brahms, Trotz der historischen Urteilswider- Neue Ausgabe I/10], Frontispiz unten), sig- sprüche schätzten Interpreten und Hörer nalisiert das vor allem, dass ihm auch bei das Doppelkonzert durchaus, so dass es auf dieser Komposition Joachims unvergleichli- eine kontinuierliche Aufführungsgeschichte ches Geigenspiel vorgeschwebt hatte. Den- zurückblicken kann. Wenn es weniger Auf- noch war die Versöhnung nicht Zweck, son- führungen erlebte als die anderen drei dern Folge des Werkes. Brahmsschen Konzerte, lag das nicht zuletzt Brahms probte das Doppelkonzert mit daran, dass hier stets zwei Solisten ver- Joachim und Hausmann im September 1887 pflichtet (und honoriert) werden mussten. in Baden-Baden am Klavier und am 23. Sep- Mit dem Doppelkonzert schuf Brahms ein tember mit dem dortigen Kurorchester in Werk, das – im Vergleich mit der vorange- Anwesenheit von Freunden und Bekannten. henden dunkel gefärbten, tragischen, letzt- Am 18. Oktober 1887 dirigierte er die Ur- lich pessimistischen 4. Symphonie – trotz aufführung im Kölner Gürzenich; die Solis- allen Ernstes und ungeachtet seiner hoch- ten Joachim und Hausmann spielten das konzentrierten Gestaltung teilweise bemer- noch ungedruckte Werk im Herbst 1887 und kenswert extrovertiert, optimistisch, ja ver- Winter 1887/88 zudem bei weiteren, teils von söhnlich anmutet. Vielleicht war für den Or- Brahms, teils von anderen Dirigenten gelei- chesterkomponisten Brahms eine solche teten Aufführungen in Wiesbaden, Frank- Haltung damals nur noch im Bereich des furt am Main, Basel, Leipzig, Berlin und Konzertes möglich. So zieht das Doppelkon- London. Danach ging das Konzert in den zert nicht nur ein originelles, sondern auch Druck und erschien im Mai und Juni 1888 in ein eigentümlich bewegendes Resümee seines Gestalt von Klavierauszug, Solostimmen, orchestralen Schaffens. Orchesterstimmen und Partitur im Verlag N. Simrock, Berlin. * Angesichts von Brahms’ damaliger inter- nationaler Geltung ist es erstaunlich, auf Vorliegende Studien-Edition folgt dem welch kontroverse Reaktionen das Doppel- Text der neuen Brahms Gesamtausgabe konzert in der Tages- und Fachpresse, aber (Brahms, Neue Ausgabe I/10). Näheres zur auch im Freundeskreis des Komponisten Entstehung, frühen Aufführungsgeschichte, V Rezeption und Publikation findet sich in der schenkabschrift des langsamen Satzes im Einleitung des Gesamtausgaben-Bandes; der Klavierauszug – nicht erhalten. dortige Kritische Bericht informiert auch Die durch Fußnoten im Notentext ange- ausführlich über Quellenlage und -bewer- zeigten textkritischen Bemerkungen am En- tung, über Brahms’ kompositorische Kor- de der Studien-Edition verweisen einerseits rekturen sowie über die textkritisch relevan- auf besonders gravierende Textprobleme. ten Lesarten-Unterschiede und die zahlrei- Andererseits machen sie auf zusätzliche chen auf Grund der Quellenkritik notwendi- Spielanweisungen der gedruckten Solostim- gen editorischen Eingriffe. men (vereinzelt auch des gedruckten Kla- Hauptquelle des Notentextes ist Brahms’ vierauszuges) aufmerksam, die auf die Ur- Handexemplar des Partitur-Erstdruckes. aufführungssolisten Joseph Joachim und Korrigierende Referenzquellen sind das Robert Hausmann zurückgehen; diese An- Partiturautograph (Archiv der Gesellschaft gaben müssen als von Brahms autorisiert der Musikfreunde in Wien) und die hierauf gelten und sind aufführungspraktisch wie basierende, als Stichvorlage für den Parti- aufführungshistorisch bedeutsam. Die Takt- turdruck dienende Partiturabschrift (bis angaben folgen dem auf S. 180 erläuterten 2001 Privatbesitz, Deutschland; seit 2002 System. Privatbesitz, USA, New York City) sowie die Herausgeber und Verlag danken allen Erstdrucke und die zu Brahms’ Lebzeiten Bibliotheken und Privatbesitzern, die oder kurz nach seinem Tode erschienenen freundlicherweise Quellen zur Verfügung Folgeauflagen des Klavierauszuges, der So- stellten. lo- und der Orchesterstimmen. Manuskrip- te des Klavierauszuges, der Solo- und der Orchesterstimmen sind – mit Ausnahme ei- Kiel, Herbst 2002 ner für die Drucklegung unerheblichen Ge- Michael Struck PREFACE The Concerto for Violin and Violoncello with “from ideas that were originally symphonic,” Orchestra, op. 102 – the so-called “Double namely, from “the material for a fifth sym- Concerto” – was written in 1887 during phony” (Max Kalbeck: Johannes Brahms, Brahms’s summer vacation