SEEED

Die Geschichte von Seeed ist eine dieser Geschichten, in denen ganz zu Anfang der Satz fällt: "Hättest du mir das vor drei Jahren erzählt, kein Wort hätte ich dir geglaubt." In gerade mal 36 Monaten schaffte es die Crew vom anfangs unter-schätzten Lokal-Act zum doppelten Echo-Gewinner, Top-Seller und dicksten -Ding im deutsch-sprachigen Raum. 2001 war das. Allein eine schwere Krankheit konnte das Kommando Seeed kurz stoppen. Jetzt sind sie wieder da. Aus den "New Dubby Conquerors" morphten die "Music Monks". , Ende der 1990er Jahre. Dancehall- , der Sound Jamaikas hatte die Stadt erobert. Die Szene boomte. Mit dem Foundation-Sound Concrete Jungle hatte alles begonnen. Supersonic, Such-A- Sound, Urban Bass, Souljah Sistaz und andere zogen nach. Hamburg war als Dancehall-Hauptstadt abgelöst worden. Rekordjagd in B: Kein Wochenende ohne mindestens drei große Dances. Statt einmal im Jahr kamen nun alle paar Monate jamaikanische Stars. Und sie leuchteten nicht nur von großen Plakaten, sondern traten auch tatsächlich auf. Zur pfingstlichen, an den Karneval der Kulturen gekoppelten Langen Nacht der Soundsystems pilgerten Tausende, um im Bass zu baden. Was zum kompletten Glück fehlte, waren Sänger, waren Bands, die in der Lage waren, Dancehall live zu spielen. Das Dilemma sollte von einer Band beendet werden, die sich eigentlich nur so zum Spaß zusammengefunden hatte: Seeed.

Pierre Baigorry aka Enuff spielte schon seit Teenagertagen in diversen Berliner P-funkbands. CPS, eine Kreuzberger HipHop- Halb - Legende, war das letzte Projekt in einer langen Reihe von high hopes und Bauchlandungen. Eigentlich wollte er, genervt von ständiger Pleitegeierei, die "Profi"-Musikkarriere an den Nagel hängen. Der Berliner Karneval der Kulturen, 1998 längst ein Massenspektakel für Hunderttausende, provozierte dann allerdings eine brillante Idee: eine Band wie sie es in Berlin noch nie gegeben hatte, ein mobiles Reggae-Einsatzkommando, kreiert nach dem Vorbild der großen Marching Bands aus New Orleans! Ein Haufen Drums, Horns, 3 Sänger und mehr sollten sich zusammenfinden, um an jedem beliebigen Ort spielen zu können. Diese Band sollte aber eben nicht New Orleans Second-Line-Zeug spielen sondern Reggae und Dancehall.. Hinter der Band würde ein mit Technik und Lautsprechern beladener Soundlaster fahren, ein mobiles Studio, betreut von einem Live-Remixer, der in real time Dub- Mixe der Marching Band anfertigt. Eine fantastische und bestechend größenwahnsinnige Idee und, so Pierre, "natürlich ein tierisch krasses Projekt, von dem irgendwie klar war, dass es nie dazu kommen würde." Aber die Beteiligten hatten ohnehin keine weitergehenden Ambitionen mit dieser Band. Das Ganze war als ein Spaßprojekt angelegt, ohne jeden verpflichtenden Druck, ohne Gedanken an Aufnahmen und Platten. Die Band sollte einfach all die Musiker zusammenbringen, die immer schon mal zusammen spielen wollten. Dieses Kongglomerat bildete die Ursuppe für den Seeedschen Urknall. Neben Pierre sollte die spätere Reggae Big Band aus den Sängern Frank Dellé aka Eased, Demba Nabé aka Ear, dem Percussionisten Alfi Trowers (der einzige Jamaikaner an Bord), DJ Illvibe, Keyboarder Dubmaster Reibold, Drummer Based, Gitarrist Rudeboy Rudy, Bassist Tobsen, Posaunist Jerome Bugnon und Saxophonist Moritz Delgado (geboren zwischen 1955 und 1980) bestehen.

Nachdem das Projekt der Reggae Marching Band in der Spree versenkt worden war, ließen erste Auftritte der Ur-Seeed-Formation an der Spree den Seeed-Motor langsam warmlaufen. Ein Benefiz-Gig ´98 für das legendäre "Yaam", ein an Sommerwochen-enden von Tausenden besuchter open air Reggae Club direkt am Ufer der Spree gelegen, begeisterte Publikum und auch die Band derartig, dass sofort klar war: wir machen weiter. Der Ur-Seeed-Sound orientierte sich noch an 70s Vorbildern wie Lee Perry, Max Romeo oder Bob Marley. Andererseits waren bereits die Stärken von Seeed zu hören: der Druck und die Energie, die von dieser großen Band erzeugt werden konnten, das bruchlose kombinieren von Elektronik und "Live"-Instrumenten. Ebenso die sich perfekt umeinander schlingenden Stimmen der drei Sänger, die auf der Bühne tonnenweise Charme versprühten. Und schließlich, ein ganz entscheidender Faktor des späteren Erfolges: die Erfindung des "Seeed Speech", jener Fähigkeit, mühelos geschmeidige, unpeinliche, deutsche Texte mit einem Pseudo-Patois zu kombinieren, ohne dabei auch nur eine Millisekunde den Flow zu unterbrechen. Weitere erfolgreiche und harte Arbeit im Proberaum und eine ganze Reihe Auftritte ließen aus den gewollten Amateuren allmählich Profis werden. Seeeds Entwicklung ging plötzlich in riesigen Schritten weiter: Im Sommer 2000 erschien, auf dem kleinen Downbeat-Label produziert, die "New Dubby Conquerors" EP. Neben der Lee Perry-Hommage "Wee Seeed" (auf dem genial arrangierten "Police And Thieves" riddim) enthielt sie zwei eigene Stücke. Der südafrikanisch angehauchte Dancehall-Track "Yaam" zeigte, wohin die Reise gehen könnte. Live wurde die Band, auch wenn sie aus organisatorischen Gründen (man besaß nicht mal einen Bandbus) selten auftrat, von Konzert zu Konzert tighter. Als die "New Dubby Conquerors" EP erschien, tourte die Band mit der jamaikanischen Dancehall - Reggae Legende Buju Banton, und im Juli traten Seeed dann zum ersten Mal beim bei dem riesigen Reggae Festival "Summer Jam" in Köln auf. Da hatte die Industrie bereits den Braten gerochen: "The Tide Is High", die zweite EP, erschien gerade mal drei Monate nach "New Dubby Conquerors" bei wea. Das dickste Seeed Ding sollte aber noch kommen.

Im Herbst 2000 machte ein Dub-Plate die Runde bei ausgesuchten DJs. In das weiche Wachs war eine Zeitbombe geritzt, die zunächst in den Clubs und dann in den Charts explodieren sollte: "Dickes B". Diese teils ironisch gebrochene Hymne und Hommage an die Stadt und die Dancehall Szene etablierte endgültig den Namen Seeed. Der Track funktioniert überall - ob in Ulm, Hannover oder Bielefeld. Die Band wird zum Pop - Phänomen. Im Mai 2001 erscheint die LP/CD "New Dubby Conquerors" und überrascht selbst die inzwischen an Wunder gewöhnten Beobachter. Zunächst, weil das Album beein-druckend gut ist und über mehr magische als maue Momente verfügt. Und dann, weil es sich Monate in den Charts hält. Bis heute wurden rund 130.000 "New Dubby Conqueror" Copies verkauft. Was folgt sind bislang ungekannte Erfolge: Seeeds Record Release Party führt mitten in Berlin zu einem amtlichen Road-Block. Bei der jährlichen Fete de la Musique, einer stadtweiten gratis Open Air- Konzertreihe, bei der Dutzende von Bands auftreten, ziehen zehntausend Menschen zu Seeed in den Mauerpark. Eine Zuschauerkulisse, an die sich die Band gewöhnen muss. Wer oder was soll Seeed noch stoppen? Eine schwere Erkrankung von Sänger Pierre Baigorry aka Enuff ließ den Seeed Motor Ende 2001 für einige Monate stottern. Teile einer Tournee müssen abgesagt, der Workaholic Pierre abgebremst werden. Bevor Pierre eine längere Erholungspause antritt, wird noch eine Track mit dem jamaikanischen Artist Anthony B produziert: Waterpumpee, der im April 2002 auf der gleichnamigen EP erscheint. Im März 2002 hatte die Band noch eine hohe Auszeichnung entgegen nehmen können: den Echo für den besten deutschen Newcomer. "Waterpumpee" wird im Sommer auch als Seven Inch bei Germaican Records veröffentlicht und - das ist einer deutschen Band bislang noch nie passiert - ein Hit in Trinidad & Tobago! Für Anfang September ist die Rückkehr von Seeed auf der Bühne angekündigt. Eine zunächst gebuchte Halle erweist sich schnell als viel zu klein. Man zieht schließlich in die "Arena", die nach ein paar extra für dieses Event ausgeführte Umbauten gut 7.000 Menschen fasst. Das Konzert ist in kürzester Zeit ausverkauft und wird zu einem Triumph für die Band. Auf der Bühne stehen Black Kappa, Taffari, Gentleman und diverse Gäste. Ein Radiosender überträgt fünf Stunden dieses gigantischen Konzertes, das ein historisches Datum markiert. Seit Bob Marleys Performance vor zwanzigtausend Menschen in der Waldbühne hatte es in Berlin kein so gewaltiges Reggae-Konzert mehr gegeben.

MUSIC MONKS "Und wieder bringt Berlin die Lieder dann, wenn ihr bereit seid..." Mit "Music Monks" legen Seeed nun endlich ihr neues Album vor. Und wie kaum anders zu erwarten, hat die Berliner Dancehall-Zelle einen kräftigen Schritt nach vorn getan - und in die Weite. Seit dem Sommer letzten Jahres war das Elftett bereits wieder im Studio zugange, und das gleich in mehreren, wie es sich für eine Band in Bewegung gehört. Berlin, Hamburg, Hannover und sogar Rügen waren die hiesigen Stationen für die Sessions, allerdings ließen Seeed es sich nicht nehmen, auch einen Abstecher nach Jamaica zu machen. Dort traf man sich u.a. mit Tanya Stephens, die spätestens seit der 1996er Hymne Yuh Nuh Ready fi Dis Yet zu den Top-Vokalistinnen des Reggae gehört und seither mit renommiertesten Producernamen und erstklassigen Alben in Verbindung gebracht wird. Dementsprechend relaxt kommt die combination Double Soul daher: ein souliger Rootstune, der seine Wurzeln tief im Dub hat - eigentlich ein klassisches Duett, nur daß eben drei seeedvocalists als chor den MensPart übernehmen und Miss Stephens augenzwinkernd kontert. Die Produktion von "Music Monks" nahmen Seeed selbst vor, vielmehr der nimmermüde Pierre Baigorry, der sich die Tracks mit viel technischem Feingefühl und einer konkreten Soundvision zur Brust nahm. Viel Input kam auch von DJ Illvibe, Eased und Olsen Involtini, die zusammen "Music Monks" zu einer Sternstunde deutscher Produktion machen und einen bemerkenswerten Sound kreieren. Da drücken nicht nur die sich teilweise tief im Sub-Bereich bewegenden Bässe aus den Boxen, sondern auch eine Fülle von Soundgimmicks, die durch das ganze Album schwirren und flirren, und die jedes Hören zu einer Erlebnistour machen. Aber vor allem ist es tanzbar : Satte Dancehall-Beats treiben so die erste Single Music Monks voran, auf der Enuff, Ear und Eased ihrem zügigen Flow freien Lauf lassen können. Checkt dabei die unzähligen Sound-Details, die zwischen die Beats gestreut sind wie die Gewürze ins Gumbo. Zugleich macht der Track klar, dass das Konzept Seeeds, deutschen und englischen Gesang organisch miteinander verwachsen zu lassen, auch "Music Monk" sicher trägt und reichlich zur Unverwechselbarkeit Seeeds beiträgt . Aber natürlich gibt es auch Neuerungen im Seeed-Spektrum, die sich freilich auf New Dubby Conquerors bereits anbahnten. So kommt What You Deserve Is What You Get als ElektroMonster daher, das sich in bester Kopfnicker-Manier vorwärts schiebt. Auch Goldmine macht einen Ausflug in die Elektro-Ecke, hier allerdings in düsterer Massive Attack-Manier, die einen hypnotischen Effekt zur Folge hat. Der Hypnose- Meister ist Ear, der mit dem Track seinen ersten Solo-Vokaleinsatz präsentiert. Man nehme dann noch man ein paar (vom berliner türkiyem-Orchester live eingespielte!) Orientstreicher , wie bei Music Monks und dem feurigen Dancehall-Track Pressure, und dann ist das weltumspannende Flair Seeeds auch schon auf den Punkt gebracht. Dabei liegen die Wurzeln fest im ultraentspannten Reggae, woraus Respectness keinen Hehl macht, das zudem themengerecht mit einem Robert Johnson- Bluesriff startet. Insgesamt ist es wieder die mit untrüglichem Gespür angerichtete Mischung, die Music Monks zu einem echten Seeed-Album machen: Viel Dancehall, ein Schnittchen RootsReggae, ein Quentchen Elektro - das alles wie aus einem Guss. Dazu die universale SEEED-eigene Sprachmelange und ihre wohltuende Unaufgeregtheit: "Wenn mal wieder Stress is, legt diese Scheibe auf und dann vergesst es..." Im Sommer werden Seeed wieder unbeschwert auf die Bühne gehen und alle wichtigen Sommerfestivals spielen, u.a. Splash, Bizarre, Hurricane/Southside und Berlinova. Es gibt keinen Grund zu zweifeln, dass Seeed auch in dieser Saison weiträumig abräumen werden, und schon jetzt kann man sich auf eine Tour freuen, die voraussichtlich im September startet.