Welt.Literarische Landschaften im Vergleich William Shakespeares Macbeth und Franz Kranewitters Um Haus und Hof

Verfasserin:

Friederike Luise Polner

Angestrebter akademischer Grad

Magistra der Philosophie

Innsbruck, 2017

Studienkennzahl laut Studienblatt: C 393

Studienrichtung laut Studienblatt: Vergleichende Literaturwissenschaft

Betreuer: Ao. Univ.-Prof. Dr. Johann Holzner

Eidesstattliche Erklärung Hiermit erkläre ich eidesstattlich, dass die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst wurde. Ich habe alle direkten und indirekten Zitate deutlich gekennzeichnet und die Quellen im Literaturverzeichnis korrekt angegeben.

2

Gender Erklärung Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Diplomarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

3

Danksagung Dass die hier vorliegende literaturwissenschaftliche Arbeit zu Ende geschrieben werden durfte, ist vielen Menschen geschuldet, die mich auf meinem langen Weg durch das Studium begleitet haben. Ihnen allen danke ich an dieser Stelle auf das herzlichste. Meiner Mutter, meiner Schwester Barbara und Frau Eveline Kiss, Sekretärin i.R. der Vergleichenden Literaturwissenschaft, verdanke ich Vertrauen und Unterstützung in mannigfacher Art und Weise. Ich musste nicht studieren, ich durfte es. Als ich 2006 im Wintersemester an der Universität Innsbruck im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft inskribierte, schienen alle meine Wünsche erfüllt. Ich wusste damals noch nicht, welch steiniger und langer Weg auf mich warten sollte. Im Herbst 2012 erkrankte ich schwer und verbrachte etliche Wochen in der Universitätsklinik Innsbruck, auf der „anderen Seite“, gegenüber der Universität. Ohne die Kunst der Ärzte und die professionelle und liebevolle Betreuung der Krankenschwestern, wäre ein Fortsetzen des Studiums nicht möglich gewesen. Einen Dank möchte ich daher richten an Herrn Dozent Dr. Daniel Reimer, Herrn Professor Dr. Christian Marth, Herrn Primar Dr. Michael Rohde vom Landeskrankenhaus Bregenz und an Schwester Lisi und Schwester Anna sowie das gesamte Team des Pflegepersonals der Onkologie in der Kopf- Klinik Innsbruck. Sie alle haben mein Leben gerettet. Nach sieben Monaten konnte ich sowohl mein Studium als auch meine berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen. Mein Arbeitgeber, die Firma Rupp AG in Hörbranz, hatte mir meinen Arbeitsplatz freigehalten. Dafür und für die so menschliche Begleitung während meiner langen Krankheit sowie die großzügige Abwicklung meiner Abwesenheiten für den Besuch der Lehrveranstaltungen, danke ich ganz besonders Herrn Direktor Harald Fischli. Sehr verbunden bleibe ich der Studienabteilung der Universität Innsbruck für die überaus kulanten Fristverlängerungen, um mir die Chance zu geben, mein Studium als Diplomstudium zu beenden. Den größten Dank jedoch schulde ich meinen drei Professoren. Ich durfte in ihren Lehrveranstaltungen nicht nur an ihrem enormen Wissen teilhaben und neue spannende Wege der Literaturwissenschaft beschreiten, sondern – als bereits „fortgeschrittene Jugendliche“ mit oft eingefahrenen Denkmustern und Ansichten – Welt und Literatur aus neuen Blickwinkeln kennen lernen. Ich danke also von ganzem Herzen Herrn Univ.-Prof. Dr. MA Sebastian Donat, Herrn Univ.-Prof. Dr. Martin Sexl und meinem Betreuer, Herrn

4

A.o. Univ.-Prof. Dr. Johann Holzner, dem ich diese hier vorliegende Arbeit zueignen möchte. Danke Ihnen allen, für Ihre Unterstützung und Ihre Geduld.

Welche heilende Wirkung Literatur und ihre Wissenschaft auf uns Menschen, besonders in Krisenzeiten, ausüben können, durfte ich persönlich intensiv erfahren. Vermittlerin sein zwischen Welt in Literatur und Gesellschaft, sehe ich als mein Wirkungsfeld und meine persönliche Berufung nach dem Abschluss dieses wunderbaren Studiums.

5

Für Johann Holzner, in Dankbarkeit.

6

Inhaltsverzeichnis

Danksagung 4

Einleitung: WELT. Literarische Landschaften im Vergleich 11

1. Theorie und Methode 14 1.2 Die Rezeptionsästhetik 15 1.2.1 Erwartungshorizont, ästhetische Distanz und Horizontwandel 16 1.2.2 Historische Distanz und Rezeptionsbedingungen 16 1.2.3 Der Hermeneutische Zirkel 18

2. „Kanon und Wertung“ 18 2.1 Kanon -Terminologie und Etymologie 20 2.2 Kanontheorien und –geschichte 21 2.2.1 Ursprung und Entwicklung des Kanons 23 2.2.2 Der Autorenkanon der Antike 23 2.2.3 Der Schulkanon unter dem Einfluss des Klerus 24 2.2.4 Der Kanon in der Renaissance und im Humanismus 25 2.2.5 Kanones im Zeitalter der Aufklärung und der Säkularisierung 26 2.3 Martin Opitz als Wegbereiter der Kanonisierung literarischer Werke in deutscher Sprache 27 2.4 Der literarische Kanon unter dem Einfluss der Emanzipation des Autors 29 2.5 Der Einfluss der „Weimarer Klassik“ 32 2.6 Die Ausgliederung Österreichs aus dem Deutschen Staatenbund und ihre literaturhistorische Konsequenz 34 2.7 Der österreichische Literaturkanon 35 2.8 Österreichische Literatur innerhalb von Kanondebatten und Literaturgeschichte Missverständnisse, Irrtümer und Ignoranz 41 2.9 Kanon und kulturelles Gedächtnis 44

7

3. Franz Kranewitter (1860 – 1938) 46 3.1 Autobiographisches 47 3.2 Die literarische Landschaft Tirols um 1900 49 3.3 Erste Veröffentlichungen und ihre Rezeption 51 3.4 Der Tiroler Kulturkampf 54 3.5 Franz Kranewitters Debüt als Dramatiker 56

3.6 Um Haus und Hof. Tragödie in vier Aufzügen 57 3.6.1 Die Handlung 58 3.6.2 Die einzelnen Aufzüge 59 3.6.3 Dramentheorie 67 3.6.3.1 Der Stoff 67 3.6.3.2 Motive 70 3.6.3.3 Einheit von Raum, Zeit und Handlung 72 3.6.4 Um Haus und Hof – Uraufführung am 04. Januar 1895 – Reaktionen 75

4. (1564 – 1616) 80 4.1 Biographisches 81 4.2 Die Londoner Theaterwelt zu Shakespeares Zeit 82 4.3 Shakespeares Blankvers versus Kranewitters Dialekt 84 4.4 Christoph Martin Wielands Shakespeare 85 4.5 Lebens- und Arbeitsbedingungen im Elisabethanischen England 86 4.6 Theater als Unterhaltung für alle Gesellschaftsschichten 87 4.7 Shakespeares Quellen 88 4.8 Soziales, politisches und wirtschaftliches Umfeld für Kulturschaffende im Vergleich 89

4.9 Macbeth oder die „Unheimliche Schottentragödie“ 90 4.9.1 Entstehungsgeschichte 91 4.9.2 Stoff und Motive 92 4.9.3 Dramentheorie 93 4.9.4 Das Trauerspiel, vom Macbeth – Christoph Martin Wielands Übersetzung 93

8

4.9.5 Macbeth – Die Handlung 94

5. Parallelen bei Macbeth und Um Haus und Hof 96 5.1 Redundante Themen und Motive in Shakespeares Drama im Vergleich 96 5.1.1 „Die gestörte Ordnung“ 97 5.1.2 „Vernunft und Leidenschaft“ 101 5.1.3 „Die Natur“ 104 5.1.4 „Fortuna“ 106 5.1.5 „Mann und Frau“ 111 5.1.6 Wille und Ehrgeiz als Fallstricke 118 5.2 „Shakespeare und der Naturalismus“ 121 5.3. Äquivalenz und Differenz 126

6. Kanonrevision – eine Skizze 127

7. Literaturverzeichnis 130

Curriculum Vitae 142

9

„ […] Die grössten Geister sind der grössten Laster so gut wie der grössten Tugenden fähig, und auch die, welche nur langsam gehen, können doch weit vorwärts kommen, wenn sie den geraden Weg einhalten und nicht, wie Andere, zwar laufen, aber sich davon entfernen. […]“

René Descartes.

10

Einleitung – WELT. Literarische Landschaften im Vergleich Die beiden geographischen Schauplätze der Dramen bzw. Tragödien im Fokus gegenständlicher Untersuchung trennen nicht nur räumlich 2067 Kilometer1, sondern sie liegen auch zeitlich 289 Jahre voneinander entfernt. Die Erstaufführung William Shakespeares Macbeth wird auf das Jahr 1606 datiert2, die Uraufführung Franz Kranewitters Um Haus und Hof fand nachweislich am „04. Jänner 1895“ statt.3 Während Kranewitter die Handlung seines ersten Bühnenstücks in seiner Gegenwart verortet, versetzt Shakespeare seine Tragödie ins elfte Jahrhundert, also von 1606 noch einmal um 500 Jahre zurück. Somit erstreckt sich die historische Distanz zwischen den beiden Theaterstücken auf insgesamt 789 Jahre. Die Auseinandersetzung mit dem Werk Franz Kranewitters erfolgt in dieser Arbeit nicht zum ersten Mal. Obgleich in der europäischen Literaturlandschaft bis in unsere Gegenwart weitgehend unbekannt, so befindet sich das Oeuvre des Tiroler Dramatikers – hermetisch abgeschlossen in der Nische der Heimatdichtung - zumindest im materialen Bestand des kulturellen Gedächtnisses österreichischer Literatur. Das heißt, sein Werk wurde irgendwann einmal „ausgewählt“ und ins „Regal“ gestellt.4 Es somit material noch verfügbar und zieht sehr wohl immer wieder – wenn auch in größeren zeitlichen Intervallen – die Aufmerksamkeit verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen auf sich. Literatur- bzw. theaterwissenschaftliche Untersuchungen zum Werk Franz Kranewitters leisteten z.B. Johann Wick mit einer Dissertation im Jahr 1937 unter dem Titel Der Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter5 oder Waltraud Rass im Mai 1971, ebenfalls mit einer

1Vgl. :https://www.viamichelin.at/web/Routenplaner?departure=Forres%2C%20Schottland&arrival=Nassere ith%. 26.02.2017. Unter der Prämisse, dass Kranewitter den Schauplatz seiner Tragödie Um Haus und Hof in seinem Heimatort Nassereith im Winkel, vor allem aber in Tirol, angedacht hat. (Anm. FP) 2 Vgl.: Crystal, Ben: Macbeth. Before….During….After….. Arden Shakespeare. Springboard Shakespeare. Bloomsbury Arden Shakespeare. An imprint of Bloomsbury Publishing Plc. Bloomsbury London. Oxford u.a., 2013. S. 3. 3 Holzner, Johann : Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Haymon Verlag, Innsbruck, 1985. S. 46. 4 Vgl. dazu auch: Assman, Aleida: „Kanon und Kanonisierung im Spiegel des kulturellen Gedächtnisses“. In: „Deskriptive Kanontheorien“. In: „Literaturwissenschaftliche Kanontheorien und Modelle der Kanonbildung“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 80-82. 5 Wick, Johann: Der Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter. Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der philosophischen Fakultät der Universität Wien im März 1937.

11

Dissertation, Die Frauengestalten in der Dichtung von Franz Kranewitter6 und Anton Mantler, auch mit einer Doktorarbeit, Die Bühnenwelt Franz Kranewitters. Eine dramaturgische Studie, aus dem Jahr 1976.7 Die hier vorliegende Auseinandersetzung mit dem Theaterstück Um Haus und Hof, das als Schnittstelle zwischen Volkstheater/Bürgerlichem Trauerspiel und Moderne betrachtet werden kann, und der Vergleich mit Shakespeares Macbeth, erfolgt weder im Fokus der Tiroler noch der Englischen Literatur per se und auch nicht in Relation zu den jeweiligen Gesamtwerken der beiden Dichter. Nicht der im westlichen Kanon fest verankerte Name William Shakespeare und der im Schatten einer Nationalliteratur verortete Franz Kranewitter – einhergehend mit der subjektiven Konnotation von groß versus klein oder bedeutend versus unbedeutend - werden einander gegenübergestellt, sondern versucht, Parallelen zweier Tragödien, deren Stoff und Gehalt die Verfasstheit der Menschheit gleichermaßen widerspiegeln, in einem Metaraum herauszuarbeiten. In diesem Kontext werden sehr wohl beider Werke Entstehungszeit und die momentane gesellschaftliche und politische Situation ihrer Orte beleuchtet. Dabei wird sich herausstellen, dass die Gemeinsamkeiten dieser äußerlich so ungleich erscheinenden Tragödien weitgehend in der spezifischen Thematik der Stücke selbst liegen. So sind weder Macbeth noch Um Haus und Hof Sozialdramen, auch wenn die Entstehung der Tragödie Franz Kranewitters in die kurze literarische Epoche des Naturalismus fällt. „Soziale Problematik lag ihm (Kranewitter) fern […] ‚Um Haus und Hof‘ ist […] eine herbe, unerbittliche Tragödie“8. „Unerbittlich“ ist auch Shakespeares Macbeth. Es findet sich hier bereits die erste Gemeinsamkeit beider Werke. Shakespeare und Kranewitter waren genaue Beobachter. Beiden Tragödien implizit sind Hinweise auf die gesellschaftliche Verfasstheit während ihrer Entstehungszeit, auf deren Denkmodelle und ihr geltendes Recht. Es wird daher zunächst die in dieser Arbeit vorwiegend angewandte Theorie der Rezeptionsästhetik erläutert und danach die Funktion des Literaturkanons in der Rezeption literarischer Werke untersucht, um seine besondere Bedeutung und seinen Einfluss hinsichtlich der Präsenz oder der Abwesenheit eines Werkes innerhalb der

6 Rass, Waltraud: Die Frauengestalten in der Dichtung von Franz Kranewitter. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, im Mai 1971. 7Mantler, Anton: Die Bühnenwelt Franz Kranewitters. Eine dramaturgische Studie, Innsbruck, im April 1976. 8 Wick, Johann: Der Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter. S. 69.

12

Literaturgeschichte und –Rezeption zu demonstrieren. Im Hauptteil werden die beiden Dichter sowie die Tragödien Macbeth und Um Haus und Hof vorgestellt und dabei schon Gegenüberstellung und Hinweise auf Parallelen angestrengt. In einer anschließenden verdichteten Analyse, vor allem anhand der von Hans-Dieter Gelfert erarbeiteten redundanten Stoffe und Motive in Shakespeares Stücken9, werden Gemeinsamkeiten beider Tragödien im Kontext von Welt und Metawelt10 herausgearbeitet. Dabei wird in einem kurzen Kapitel auch Shakespeares Verhältnis zum Naturalismus beleuchtet, ein Thema, das bereits zwei Jahre vor der Entstehung von Um Haus und Hof den deutschen Autor Heinrich Bulthaupt beschäftigte und zum gleichnamigen Aufsatz „Shakespeare und der Naturalismus“ 11 inspirierte. Zuletzt wird eine Revision mit dem Fokus, den bestehenden Literaturkanon aufzubrechen, skizziert und die Frage nach Möglichkeiten der Rezeptionserweiterung und Bewahrung im kulturellen Gedächtnis des Werks Kranewitters im Allgemeinen sowie der Tragödie Um Haus und Hof im Speziellen in den Raum gestellt. Auf welche Weise könnte Franz Kranewitter einem Weltpublikum vorgestellt werden? In dieser Arbeit wird auf piktorale Dokumentation verzichtet und lediglich die jeweiligen „Orte“ des Geschehens – das Bühnenbild von Um Haus und Hof und die Handlungslandschaft von Macbeth abgebildet. Der Grund dafür liegt darin, dass nach Ansicht der Verfasserin beide Stücke, sowohl Macbeth als auch Um Haus und Hof, jedes für sich, so textmächtig sind, dass sie eigentlich keiner Kulisse bedürfen. Diese Behauptung basiert auf der intensiven Lektüreerfahrung beider Texte über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr. Die Wirkung ihrer Rhetorik bleibt auch nach wiederholter Lektüre ungebrochen, was versucht wurde, anhand zahlreicher Textbeispiele zu demonstrieren. Die Macht der Performanz der Sprache stellt ein bedeutendes gemeinsames Element der untersuchten Tragödien dar.

9 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. C.H. Beck. München. 2014. S. 31 - S. 50. 10 Beiden Termini implizit sind Weltsichten und Zeitgeschichte, die nach Ansicht der Verfasserin in beide Texte eingewoben sind. 11 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“ Einleitender Vortrag zur Jahresversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, am 23. April 1893. In: Supplement zu Bd. 28 des Jahrbuchs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 1893. S. 1-S. 25. Zur Verfügung gestellt von: SUB,Digizeitschriften eV. Geschäftsstelle DigiZeitschriften e.V. Göttingen. E-Mail von Szsczepaniak, Sebastian an die Verfasserin, vom 29. Mai 2017.

13

1. Theorie und Methode Bei der Umsetzung der gegenständlichen Untersuchung wäre es schon aufgrund des Titels dieser Arbeit – Welt. Literarische Landschaften im Vergleich – verlockend gewesen, auf die Theorie der Literaturgeographie Barbara Piattis zurückzugreifen12. Piattis Denkmodell basiert u.a. auf dem 1990 von Erika Fischer-Lichte wahrgenommenen “ ‘Shift of the Paradigm: From Time to Space’: ‘Across the many different theoretical approaches, recent years have seen a shift in focus from a poetological reflection oriented towards categories of time to an approach which tends to give presedence (precedence) to categories of space.’ ”13 Diesen „Shift of Paradigm“ verortet Sigrid Weigel 2001 in der europäischen Kulturwissenschaft14 als „topographical turn“15. Der Terminus beinhaltet das Streben nach kartographisch fixer Verortung sozialer, politischer, kultureller und historischer Wahrnehmungen und Ereignisse.16 Im Lichte solchen Verständnisses erscheint der Tenor des „topographical turn“ auf Eingrenzung und Abgrenzung literarischer Phänomene an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit fokussiert, aber gleichzeitig den Metaraum möglicher zeit-, genre- und bedeutungsübergreifender poetologischer Gemeinsamkeiten verschiedener Werke im Verhältnis zueinander auszuschließen. Piattis Grundidee lautet: „Literarische Handlungsräume sollen in ihrem Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit, zu ‚realen‘ Landschaften und Städten gedeutet werden. Es geht somit um die Beziehung dieser beiden Felder, um die wechselseitige Erhellung von Text und Schauplatz, Literatur und Raum.“17 Diese Theorie vernachlässigt einen für die Untersuchung zu Welt. Literarische Landschaften im Vergleich wichtigen Aspekt: Die Interaktion zwischen Werk und

12 Vgl.: Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Wallstein Verlag. Göttingen. 2008 13 Fischer-Lichte, Erika: “The shift of a Paradigm: From time to space? Introduction.”In: Proceedings of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association, (Space and Bounda ries), Munich, 1988. Edited by Roger Bauer et al., vol. 5, München 1990, S. 15-18. Hier: S. 15. In: Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Wallstein. Göttingen . 2009. S. 24. 14 Vgl.: Mayer, Michael: Europa der Kulturwissenschaften. Eine Tagung in Berlin. In: Neue Zürcher Zeitung (Feuilleton). 29.10.2001. Abgerufen auf: http://www.zfl-berlin.org/veranstaltungen- detail/items/figuren-des-europaeischen-forschungsperspektiven-fuer-eine-kultu.html; 05.03.2017. 15 Vgl.: Mayer, Michael: Europa der Kulturwissenschaften. Eine Tagung in Berlin. In: Neue Zürcher Zeitung (Feuilleton). 29.10.2001 und: Vgl: Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. S. 24. 16 Vgl.: Ebd. 17 Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. S. 23.

14

Rezipienten. Für eine Gegenüberstellung von Shakespeares Macbeth und Kranewitters Um Haus und Hof bietet die Rezeptionsästhetik, als Teildisziplin der Hermeneutischen Theorien, eine fruchtbarere Methode.

1.2 Die Rezeptionsästhetik Die Rezeptionsästhetik oder Rezeptionstheorie18 ist ein relativ junger Teilbereich der Hermeneutischen Literaturtheorien. Im englischsprachigen Raum bekannt als „Reader Response Criticism“,19 wurde sie in Deutschland in den späten 1960er Jahren von einer Forschergruppe aus den Fachbereichen Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft, der „Konstanzer Schule“, begründet.20 Die Rezeptionsästhetik erweiterte die seinerzeit dominierenden Denkmodelle der „marxistischen Literatursoziologie“ und der „werkimmanenten Methode “ des „Formalismus“21 um die „historische Dimension“22 und die aktive Teilhabe des Rezipienten, des Lesers, am Prozess des VERSTEHENS und der „Tradierung von Werken“.23 Der Romanist Hans Robert Jauß (1921-1997), einer der Mitbegründer der „Konstanzer Schule“24 stellte diese neue Literaturtheorie anlässlich seiner Antrittsrede 1967 dem akademischen Publikum vor und löste damit „einen Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft“ aus.25 Für Jauß ist ein literarisches Werk in erster Linie für den Leser bestimmt.26 Sowohl die marxistische Literatursoziologie als auch der Formalismus aber verfehlen den Leser in seiner genuinen, für die ästhetische wie für die historische Erkenntnis gleich unabdingbaren Rolle – als den Adressaten, für den das literarische Werk primär bestimmt ist. Denn auch der Kritiker, der sein Urteil über eine Neuerscheinung fällt, der Schriftsteller, der sein Werk angesichts der positiven oder negativen Normen eines vorangegangenen Werkes konzipiert, und der Literarhistoriker, der ein Werk in seine Tradition einordnet und geschichtlich erklärt,

18 Vgl.: Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. In: Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie. Facultas Verlags- und Buchhandels AG. WUV. Wien. 2004. S. 146. 19 Vgl.: Ebd. 20 Vgl.: Ebd. 21 Vgl.: Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. S. 146. 22 Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. S. 146. 23 Ebd. 24 Vgl.: Ebd. 25 Vgl.: Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. S. 146. 26 Vgl.: Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“. In: Jauß, Hans Robert: Literaturwissenschaft als Provokation. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1970. S. 144-207. Hier: S. 169.

15

sind erst einmal Leser, bevor ihr reflexives Verhältnis zur Literatur selbst wieder produktiv werden kann.27

1.2.1 Erwartungshorizont, ästhetische Distanz und Horizontwandel28 Jeder Leser nähert sich einem neuen Text innerhalb (s)eines „Erwartungshorizont(s)“29, bestehend aus der Summe seiner ästhetischen und kulturellen sowie Lebens-Erfahrungen, seines „Vorwissens“30 und „aus dem Vorverständnis von Form, Thematik und Gattungsmerkmalen.“31 Die „ästhetische Distanz“32 ergibt sich aus der Reaktion des Lesers, wenn er mit seinem eigenen Erwartungshorizont auf ein neues Werk trifft, das er entweder ablehnen oder aber annehmen kann und damit seinen Erwartungshorizont vergrößert.33 Ein „Horizontwandel“34 kann erfolgen, wenn der Erwartungshorizont durch die Konfrontation mit neuen Denkmustern und durch eine neue Lektüreerfahrung gestört, gelockert und schließlich in der Annahme des neuen Unbekannten erweitert wird. Die Erweiterung der produktionsbedingten und werkimmanenten Literaturtheorien um eine „Rezeptions- und Wirkungsästhetik“35, unter Einbeziehung literaturgeschichtlicher Aspekte, erlaubt eine ganzheitlich geführte Analyse. Damit bieten die rezeptionstheoretischen Prämissen ideale Bedingungen für die Untersuchung poetologischer und sozialgeschichtlicher Parallelen bei Macbeth und Um Haus und Hof, im Kontext literaturgeschichtlicher Betrachtung.

1.2.2 Historische Distanz und Rezeptionsbedingungen36 Ein quasi natürlicher „Horizontwandel“ könnte nicht nur durch die zunehmende historische Distanz, ab der Entstehung eines Werkes bis in die Gegenwart, sondern auch durch die Veränderung der Rezeptionsbedingungen stattfinden. Wird z.B. Kranewitters Lena Lotter in den „Literarischen Notizen“ der Neuen Freie Presse vom 15. Februar 1899

27 Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“. In: Jauß, Hans Robert: Literaturwissenschaft als Provokation. S. 169. 28 Vgl.: Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. S. 147. 29 Vgl.:Ebd.. 30 Vgl.: Ebd. 31 Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. S. 147. 32 Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“. S. 177. 33 Vgl.: Ebd. 34 Leiteritz, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. S. 147. 35 Ebd. 36 Vgl.: Leiteritz, Christiane: „Rezpetionsästhetik und Reader-Response Criticism“. In: „Hermeneutische Theorien“. S. 146 – S. 150.

16 in einer Rezension zu „Jungtirol. Ein moderner Musen=Almanach aus den Tiroler Bergen“37 – der Verfasser wird nicht genannt - als „Lady Macbeth im Dirndlkleid“38 bezeichnet, so findet sich im Online-Archiv (ohne Angabe des Verfassers) des Stadttheaters Bruneck, zur Vorstellung des Theaterbezirks Unterpustertal für den 13. April 2012, folgende Premieren- Ankündigung: Um Haus und Hof ist Kranewitters erstes Stück. Nur auf den ersten Blick nimmt sich die Geschichte aus wie ein billiger Heimatroman: Lena, ein armes Mädchen, wird von ihrem Bruder, dem Lotter (,) ausgebeutet. Um der Unterdrückung und der Armut zu entkommen, macht sie sich an den Sohn des reichen Klotzenbauern heran und bekommt ein Kind von ihm. […] Im Grunde aber ist das Stück ein ernst zu nehmendes Dokument des Zerfalls eines hierarchischen Weltbildes. Es beschreibt das Ende lange gültiger Normen und hat damit einen aktuellen Bezug zur heutigen Gesellschaft. […].39

Ein Horizontwandel in der Rezeption der weiblichen Hauptprotagonistin kann aus der Beschreibung in oben zitiertem Text auch 2012 auf den ersten Blick nicht wahrgenommen werden. Sie „macht sich an den Sohn des reichen Klotzenbauern heran“. Lena Lotters Bestreben, aus ihrer Armut auszubrechen, eine eigene Familie zu gründen, einen eigenen Haushalt zu führen, wird als berechnend und negativ konnotiert. Aus feministischem Blickwinkel erscheint diese Bewertung der Rolle Lenas noch kritischer, weil dem Stück „ein aktueller Bezug zur heutigen Gesellschaft“ bescheinigt wird. Andererseits wäre die historische Distanz zwischen der Erstaufführung und der Gegenwart groß genug, um die Tragödie in kritischer Revision der Entstehungszeit in ihrer Beziehung zur Gegenwart des 20./21. Jahrhunderts neu zu inszenieren. Inwieweit die Beschreibung Lena Lotters in der Theaternotiz tatsächlich in der Brunecker Inszenierung umgesetzt wurde, wird nur durch die Rezeption gegenständlicher Aufführung per se feststellbar sein..

37Bacher, Dr. Eduard, Benedikt Moriz, Hg.; Kohler, Karl Felix, Verantwortlicher Redakteur: Neue Freie Presse: Ausgabe 15. Februar 1899. Nr. 12987, Literatur=Blatt:. http://anno.onb.ac.at/cgi- content/anno... S. 4. Abgerufen am 27.12.2016. 38 Ebd. 39 Vgl.: Stadttheater Bruneck, „Um Haus und Hof. Der Theaterbezirk Unterpusteral spielt ein Volksstück von Franz Kranewitter.“: http://www.stadttheater.eu/Produktionen/Theater/Archiv_2011_2012/Um _Haus_und .Hof. Abgerufen am 08.03.2017. (Hervorhebung FP).

17

1.2.3 Der Hermeneutische Zirkel In der Rezeptionsästhetik erfüllen sich auch die Prämissen des „Hermeneutischen Zirkels“40. Die Rezeption und Wirkung beider Theaterstücke, Shakespeares Macbeth und Kranewitters Um Haus und Hof, erfolgt somit auch im Zusammenspiel von „erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt – so Hans-Georg Gadamer – zwischen Vergangenheit und Gegenwart.“41 Am Beispiel Franz Kranewitters erstem Drama betritt das Publikum den Saal mit einem „Vorverständnis“42 für das Ganze: das Tiroler Volksstück von 1895, die Tragödie in vier Akten. Ein wirklich ganzheitliches Verständnis wird sich jedoch erst einstellen, wenn die einzelnen Charaktere, die sozio-kulturellen Umstände in der literarischen Landschaft der Entstehungszeit als Teile43 wahrgenommen werden, um dann im subjektiven Vergleich mit den eigenen Zeit- und Lebensumständen interpretiert zu werden. „Somit gibt es keine endgültige Interpretation eines Textes.“44

2. „Kanon und Wertung“45 Damit jedoch Rezeption überhaupt stattfinden kann, muss ein Werk öffentlich – coram publico - sichtbar gemacht werden und bleiben. Der Name William Shakespeare ist seit dem frühen 17. Jahrhundert fest in den Literaturkanones, den Lektüre- und Leselisten, verankert. Seine Dichtung gehört unumstritten zum sogenannten Höhenkamm der (europäischen)46 Weltliteratur, obgleich er seine Stücke ursprünglich zur Unterhaltung eines breiten Publikums, bestehend aus dem gemeinen Volk und der Königin gleichermaßen47 geschrieben hatte. Es „setzte sieben Jahre nach seinem Tod die Kanonisierung mit der

40 Vgl.: Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie. S. 296. 41 Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie, S. 296. 42 Ebd. 43 Vgl.: Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie, S. 296 44 Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie. S. 296. 45 Vgl.: Rippl, Gabriele und Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG. Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. 46 Vgl.: Klettenhammer, Sieglinde: VO 608550 Überblick über die deutsche Literaturgeschichte (1500-1848) SoSe 2015. Institut für Germanistik. Sitzung vom 15.04.2015. 47 Vgl.: Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. In: „Großbritannien“. In: „ Englischsprachige Literaturen“ In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart.2013. Lizenzausgabe für die WBG Darmstadt. 2013. S. 290.

18

Veröffentlichung seiner Dramen im prestigeträchtigen Folio-Großformat (das sog. First Folio, 1623) ein.48“

Im Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte werden im „Personenregister“ zum Namen „Shakespeare, William“ fünfundzwanzig verschiedene Seiten angeführt, wo auf den englischen Dichter des 16. /17. Jahrhunderts und sein Werk rekurriert wird.49 Er steht somit in der Publikation von Rippl und Winko in numerischer Zitation quantitativ ex aequo mit Goethe, Johann Wolfgang, v.50 an erster Stelle, gefolgt von siebzehn Seitenangaben zu „Schiller, Friedrich“. 51 Auf Shakespeares Landsmann John Milton wird an sechs Stellen rekurriert.52 Aus der Gruppe klassischer österreichischer Dichter finden sich im Personenregister vier Seitenverweise auf „Grillparzer, Franz“53 , zwei auf „Nestroy, Johann Nepomuk“54 und ebenso zwei auf „Raimund, Ferdinand“55, beide Wiener Volksdichter56. Über Tiroler Volksdichter wie Karl Schönherr oder Franz Kranewitter findet sich im zitierten Kanon-Handbuch kein Eintrag. Nach dem Dramatiker Kranewitter wird in den einschlägigen Literaturlexika oder –geschichten meist vergeblich gesucht. Ein kurzer Eintrag zu Leben und Werk, verfasst vom Tiroler Germanisten Johann Holzner, steht im Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache57. Aufnahme fand er auch im von Klaus Zeyringer und Helmut Gollner 2012 publizierten Band Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650.58 Darin wird sowohl in Kapitel 10 „Moderne –

48 Schneider, Ralf: „Großbritannien“. In: „Englischsprachige Literaturen.“ In:“Kanonbildung und Kanondynamik“. In: „Kanongeschichten“. S. 290. 49 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 290. 50 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 420. 51 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 426. 52 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 424. 53 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 420. 54 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 424. 55 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 425. 56 Vgl.: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 425. 57 Holzner, Johann, in: Killy Walther (Hrsg.) unter Mitarbeit von Hans Fromm, Frank Josef Görtz u.a.: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 7, Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh. 1990. S. 17. 58 Zeyringer, Klaus, Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. Studienverlag. Innsbruck. S. 382 und S. 451-451.

19

Dichtung, Kunst, Wissenschaft“59 als auch in Kapitel 25 „Theater um das Ländliche“60 explizit auf Um Haus und Hof Bezug genommen.

Die deutschsprachige Internet-Plattform Google führt zu William Shakespeare ca. 54.700.000 Einträge61, sowie ca. 498.000 Ergebnisse zu Macbeth62. Franz Kranewitter wird ca. 25.600mal63 erwähnt und Um Haus und Hof ca. 8.100mal.64

In die Lektüreliste (Stand: 2015) für angehende Deutschlehrer im ersten und zweiten Studienabschnitt an der Universität Innsbruck wurden die Werke Kranewitters nicht aufgenommen.65

2.1 Kanon – Terminologie und Etymologie Was ist überhaupt ein (Literatur)kanon, und warum erscheint er in der Gegenwart des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch immer so (über-)mächtig, dass er über das Erinnern und Vergessen eines literarischen Werkes und seines Autors zu entscheiden vermag? Dieser Frage widmet sich der akademische Diskurs schon lange, ohne eine definitive Antwort darauf gefunden zu haben. „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“?66 Ohne die Einbeziehung der Literaturgeschichte und ihren Einfluss auf den Kanon und die Wertung von Literatur, in Ergänzung zu literaturtheoretischer Arbeit, kann Literatur in ihrer Wirkung und Interaktion zwischen Werk und Rezipient nicht verstanden werden. Wenn daher Literaturvermittlung samt ihren Möglichkeiten, Chancen und Grenzen gleichfalls (literatur)wissenschaftliches Imperativ sein darf, muss eine Forschungsarbeit ganzheitlich erfolgen, das heißt, literaturtheoretisch und –geschichtlich. Die Rolle Franz Kranewitters und seines Dramas Um Haus und Hof im Vergleich zu William Shakespeares Macbeth im Kontext genannter

59 Zeyringer, Klaus, Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. S. 381. 60 Zeyringer, Klaus, Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. S. 450 – 451. 61 Vgl.: https://www.google.at/#q=William+Shakespeare&*. Abgerufen am 12.03.2017. 62 Vgl.: https://www.google.at/#q=William+Shakespeare%2BMacbeth&*. Abgerufen am 12.03.2017 63 Vgl.: https://www.google.at/#q=Franz+Kranewitter&*. Abgerufen am 12.03.2017. 64 Vgl.: https://www.google.at/#q=Franz+Kranewitter%2BUm+Haus+und+Hof&*. Abgerufen am 12.03.2017. 65 Vgl.: Lektüreliste zur VO 608550.: -Leiterin: Klettenhammer, Sieglinde. Überblick über die deutsche Literaturgeschichte (1500-1848). SoSe2015. 66 Vgl.: Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“. In: Jauß, Hans Robert: Literaturwissenschaft als Provokation. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1970. S. 144-207.

20

Prämissen, kann also nur dann verstanden werden, wenn auch die Bedingungen für Literaturproduktionen, für das Entstehen materialer und Deutungskanones, zumindest im Ansatz erforscht werden.

2.2 Kanontheorien und -geschichte Damit sind auch schon zwei Fachtermini genannt, die für die nähere Betrachtung des Kanons und seiner Wirkungsgeschichte von zentraler Bedeutung sind: Materialer- und Deutungskanon.

Der materiale Kanon versammelt eine Reihe (in letzter Instanz immer subjektiv) ausgewählter Werke, die für überlieferungswürdig erachtet werden.67 Als „Editoren“ solcher materialer Kanones fungieren bis in die Gegenwart entweder kirchliche oder weltliche, öffentliche Institutionen und/oder von der staatlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit befugte Personen. Es ist jedoch nicht sicher feststellbar, wer in letzter Instanz die Kanonisierungsprozesse tatsächlich bestimmt.68 Ein Kanon ist nichts Natürliches, nichts Ontologisches,69 sondern ein, wenn auch mächtiges, Konstrukt. Es gibt „keine einheitliche Bezugstheorie oder ein verbindliches Kanonmodell […]“70

Die Kanon-„Terminologie wurde erstmals von Renate von Heydebrand (1998b, 613) systematisiert“71. Die beiden prominentesten Termini bilden, wie oben schon erwähnt, der „materiale[r] Kanon“72, als eine Versammlung kanonisch definierter73 Werke, die den Rezipienten physisch zur Verfügung stehen, und der ,Deutungskanon“74, in dem bestimmte Werke des materialen Kanons mithilfe von „Deutungsmuster(n)“75 und „gängigen

67 Vgl.: Klettenhammer, Sieglinde: VO 608550. Überblick über die deutsche Literaturgeschichte (1500- 1848). SoSe2015. Institut für Germanistik. Sitzung 15.04.2015. 68 Vgl.: Ebd. 69 Ebd. 70 Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“. In:„Deskriptive Kanontheorien“. In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone, Hg: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien. Instanzen.Geschichte. WBG, Darmstadt, 2013. S. 66 – S. 76. Hier: S. 70. 71 Heydebrand, Renate von: „Kanon Macht Kultur. Versuch einer Zusammenfassung.“ In: Heydebrand 1998a, 612-625. (= Heydebrand 1998 b). Zitiert in: Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“ „In: „Deskriptive Kanontheorien“. S. 70 und S.75. 72 Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“. S. 70 73 Beilein, Matthias. „Kanonterminologie“. S. 70. 74 Ebd. 75 Ebd.

21

Methoden“76 einer bestimmten kulturellen Epoche interpretiert werden77 Die Ergebnisse der Kanondebatten manifestieren sich in den Lektürelisten, dem „idealen Kanon“78 , wohingegen jene Werke, welche die Leser schlussendlich tatsächlich rezipieren, stark von den Vorgaben dieses „idealen Kanons“ abweichen können und den sogenannten „realen oder wilden Kanon“ darstellen.79 Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Unterscheidung zwischen „offenen literarischen Kanones“80, die sich ständig erweitern oder verändern81 und den „geschlossenen Kanones“82, die von einem autorisierten Expertenteam als permanent gültig definiert werden.83 Mit den Begriffen „Kern- und Randkanon“84 werden Texte hinsichtlich ihrer Prominenz innerhalb bestehender Kanones untersucht.85 So weisen Werke, die innerhalb einer „Kultur“86 hohe Anerkennung und Bekanntheit genießen, lange Präsenz und Wirkkraft auf.87 An den Rändern eines Kanons befinden sich jene Texte, die „erst seit Kurzem als kanonisiert gelten“88 oder deren „dauerhafte Kanonizität“89 angezweifelt wird.90 Rekurrierend auf die beiden in dieser Arbeit zur Diskussion stehenden Texte, kann William Shakespeares Macbeth zweifellos dem europäischen Kernkanon klassischer Werke zugeordnet werden, während Franz Kranewitters Um Haus und Hof in den europäischen (materialen) Kanon gar keine Aufnahme fand und im österreichischen Randkanon sein Stern sowohl im materialen als auch im Deutungskanon fast schon erloschen ist.

Die Diskussion um und mit Kanontheorien läuft Gefahr, sich in endlosen Bifurkationen zu verlieren. Für das Verständnis des Gegenstands per se ist es daher hilfreich, sich kurz mit der Etymologie des Begriffs auseinanderzusetzen und gleichzeitig seine historische Entwicklung ein Stück weit zu verfolgen.

76 Ebd. 77 Vgl.: Klettenhammer, Sieglinde: Sitzung vom 15.04.2015. 78 Vgl.: Ebd. 79 Vgl.: Ebd. 80 Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“. S. 70. 81 Vgl.: Ebd. 82 Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“. S. 70. 83 Vgl.: Ebd. 84 Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“. S. 71. 85 Vgl.: Ebd. 86 Vgl.: Ebd. 87 Vgl.: Ebd. 88 Beilein, Matthias: „Kanonterminoligie“. S. 71. 89 Ebd. 90 Vgl.: Ebd.

22

2.2.1 Ursprung und Entwicklung des Kanons91 Der Terminus „Kanon“, in der „Bedeutung von ästhetisch normativer Fixierung eines Traditionsbestandes von Autoren bzw. Texten“92 hat semitische Wurzeln und bedeutet ursprünglich „Maßstab“.93 Er findet sich erstmals als Titel „Kanon“ einer „nur fragmentarisch erhaltenen Schrift des Bildhauers Polyklet (5. Jh.), die von der Proportionenlehre des menschlichen Körpers handelt.“94 Zur selben Zeit verwendete den Begriff Aristophanes „parodistisch“95 in seiner Komödie Die Frösche (405 v.Chr.).96 Die Bezeichnung von ‚Kanon‘ als eine willkürliche Auswahl von Autoren, welche als ästhetisch normierte Werke schufen,97 „verwendet […] erst der Leidener Philologe David Ruhnken in seiner „Historia critica oratorum Graecorum“ von 1768 (XCV).“98

2.2.2 Der Autorenkanon der Antike99 Die Kanones bzw. „das Phänomen der Kanonbildung“100 der philologischen Antike galten nicht Texten bzw. bestimmten Gattungen, sondern besonderen Autoren, „[…] sprachlich und in anderer Hinsicht mustergültige(n), nachahmenswerte(n) Schriftsteller(n) “101 die in „Autorenlisten“102 geführt wurden, wie z.B. „Dyonisios von Halikarnassos und Thukydides“103 als „Kanon der Geschichtsschreibung“104 und „Lysias“105 als „bester ‚Kanon‘ der attischen Beredsamkeit‘“.106 In der Bibliothek von Alexandria entstanden unter Mitwirkung von „Aristophanes von Byzanz (ca. 255-ca. 180 v.Chr.) und Aristarchos von Samothrake (ca. 216-ca. 144 v. Chr.), Auswahllisten der ‚besten‘ Vertreter ihrer Gattung. […]“107 Darunter befanden sich die

91 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Der Begriff ‚Kanon‘. In: „Antike Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In: Rippl, Gabriele, Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 264. 92 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Der Begriff ‚Kanon‘“. S. 264. 93 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Der Begriff ‚Kanon‘“. S. 264. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Der Begriff ‚Kanon‘“. S. 264.. 97 Vgl.: Ebd. 98 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Der Begriff ‚Kanon‘“. S. 264. 99 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: “ Antike“. In: „Antike Literaturen.“ In:. „Kanongeschichten“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 264 – S. 271 100 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 264. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Huber-Rebenich, Gerlinde: “Antike“. S. 265.

23

„Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides“108 sowie „neun Lyriker“109 – u.a. Pindar und Sappho110 – „die drei Iambographen Archilochos, Semonides und Hipponax sowie die „zehn attischen Redner […]“111. Während also der jüdisch-christliche Kanon Texte aus(er)wählte,112 wurden im ‚Kanon‘ der „vorhellenistischen Zeit“113 nur „Schriften von Autoren erhalten, die Eingang in die Auswahllisten fanden.“114 Jedoch sind heute von „130 Tragödien des Sophokles“115 nur „sieben“116 erhalten und von „75“117 Tragödien „des Euripides“118 nur „siebzehn“.119 Vergil, Terenz, Cicero und Sallust bilden den „Kernbestand“120 des römischen Kanons, „der bis in die Neuzeit hinein stabil bleibt“.121

2.2.3 Der Schulkanon unter dem Einfluss des Klerus‘122 Im siebten und achten Jahrhundert wurde Latein nur noch als „Zweitsprache“123 von der „Bildungsschicht“124 gesprochen und mussten für die Aufnahme in den „Schulkanon“ 125 eigene Grammatikbücher und „Vokabularien“126 erstellt werden.127 Für die berufliche Karriere war es nötig, Latein zu sprechen und auch die klassischen römischen Dichter des Autorenkanons zu lesen.128 Im neunten Jahrhundert, der „Karolingerzeit“129, oblagen Schulerziehung und

108 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 264. 109 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265. 110 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265. 111 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265. 112 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265. 113 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265 114 Ebd. 115 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Antike“. S. 265. 121 Ebd. 122 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Mittelalter“. In: „Antike Literaturen“. S. 267 – S. 268. 123 Huber-Rebenich, Gerlinde: “ Mittelalter“. In: „Antike Literaturen“. S. 267. 124 Ebd. 125 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: “ Mittelalter“. S. 267. 126 Huber-Rebenich, Gerlinde: “ Mittelalter“. S. 267. 127 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: “Mittelalter“. S. 267 128 Vgl.: Ebd. 129 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Mittelalter“. S. 267.

24

„Literaturproduktion“130 vornehmlich dem Klerus.131 Die christliche Literatur verdrängte die Autoren der Spätantike. Rezipiert wurde lediglich noch Vergil.132

2.2.4 Der Kanon in der Renaissance und im Humanismus133 Erst in der Epoche der Renaissance, im Humanismus, der Reformation und Gegenreformation wuchs wiederum das Interesse an lateinischer und griechischer, an antiker Literatur und Kultur.134 Das Mittelalter, in dem vornehmlich Kirche und Klerus bestimmten, welche Werke als tradierungswürdig galten, nämlich christlich-religiöse, wurde als „eigene Epoche“135 negiert und aus den Kanones der Neuzeit verbannt.136 1561 schrieb Julius Caesar Scaliger seine „normative[n] Poetik („Poetices libri VII, Lyon 1561)“137 „Das poetische Vorbild schlechthin bleibt für Scaliger der konstante ‚Kernautor‘ Vergil […]“.138 Auch im Humanismus bedeutete der „Kanon“ eine Versammlung ausgewählter Autoren139. Der Erwerb sowie die Pflege der lateinischen Sprache sowie die Lektüre antiker Dichtung waren Bestandteil der „studia humanitatis“140. Martin Luthers Bibelübersetzung und –auslegung von 1534 ermöglichte die aktive Rezeption dieses religiösen Textes durch das Volk, auch im Leseprozess, zumindest jener Bevölkerungsgruppe, welche lesen konnte. Der Reformator und Humanist Philipp Melanchton war maßgeblich an der Erstellung von Schul- und Universitätskanones beteiligt.141 Auch ihm galt als Vorbild für seine Schüler die „Nachahmung der besten Schriftsteller […], deren sprachliche und moralische Vorbildhaftigkeit die Schüler anstreben sollen,“142 mit dem Ziel, durch den Erwerb von Sprachkompetenz die christliche Lehre richtig verstehen zu können.143 Die Studenten wurden zur Lektüre der antiken Literatur der Griechen „Hesiod, Homer, Sophokles,

130 Ebd. 131 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Mittelalter“. S. 267. 132 Vgl.: Ebd. 133 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus-Reformation-Gegenreformation“. In: „Antike Literaturen“. S. 268 – S. 270. 134 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation – Gegenreformation“. S. 269. 135 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation – Gegenreformation“. S. 269. 136 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: Humanismus – Reformation – Gegenreformation“. S. 269. 137 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation – Gegenreformation“. S. 269. 138 Ebd. 139 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation – Gegenreformation“. S. 269. 140 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation – Gegenreformation“. S. 269. 141 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation - Gegenreformation“. S. 269. 142 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation - Gegenreformation“. S. 269. 143 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation - Gegenreformation“. S. 269.

25

Euripides […]“144 und der Römer „Vergil, Terenz, Cicero, Caesar und Quintilian“145 angehalten.

2.2.5 Kanones im Zeitalter der Aufklärung und der Säkularisierung146 Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung und der Industriellen Revolution sowie der Erstarkung des (Bildungs-)Bürgertums und zunehmender „Säkularisierung“147 wurden sowohl die lateinische Sprache, die „lingua franca“148 als Sprache der Wissenschaft149 als auch die Rezeption der Werke durch die jeweiligen Nationalsprachen verdrängt. Vom jahrhundertelang gepflegten Kanon der Autoren der griechisch-römischen Antike blieben – wenn auch konstant bis ins einundzwanzigste Jahrhundert – nur noch wenige übrig. 150 So finden sich zum Beispiel in der „1980“151 von „Fritz J. Raddatz“152 veröffentlichten „‘Zeit‘- Bibliothek der 100 Bücher“153 von den „antiken auctores“154 „Homers Odyssee, Platons Apologie, Vergils Aeneis, Tacitus‘ Germania, Longos‘ Daphnis und Chloe und Augustins Confessiones […].“155 Wie oben erwähnt, (auser-)wählten Dichter oder Gelehrte in der Antike jene Autoren, deren Werke Exzellenz versprachen und für die Aufbewahrung in Bibliotheken und die Tradierung in Schulen und Universitäten geeignet erschienen. Im Mittelalter oblag die kanonische Macht den Kirchenvätern. Bildung und Erziehung für eine kleine Elite der Bevölkerung fand wiederum in den Institutionen Klosterschulen und christlich-religiös geführten Universitäten statt. Der Tenor im Mittelalter lag nicht mehr in der Auswahl von Autoren, sondern in jener von (kirchlichen) Texten, ein Faktor, der nicht nur die Vielfalt an Literatur, sondern auch ihren Rezeptionsradius einschränkte.156

144 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Humanismus – Reformation - Gegenreformation“. S. 269. 145 Ebd. 146 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Die Epochenschwelle des 18. Jahrhunderts – ein Ausblick“. In: „Antike Literaturen“. S. 270 – S. 271. 147 Vgl.: Huber-Rebenich, Gerlinde: „Die Epochenschwelle des 18. Jahrhunderts – ein Ausblick“. S. 270. 148 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Die Epochenschwelle des 18. Jahrhunderts – ein Ausblick“. S. 270. 149 Vgl.: Ebd. 150 Vgl.: Ebd. 151 Huber-Rebenich, Gerlinde: „Die Epochenschwelle des 18. Jahrhunderts – ein Ausblick“. S. 270. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd. 156 Vgl. auch: Neuhaus, Stefan: „Einführung: Zwei Paradigmenwechsel“. In: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen.“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 271-280. Hier: S. 272.

26

Fiktionale Literaturproduktion157 und deren Aufschreibung erfolgte in Auftragsarbeiten für „Mäzene der Schriftsteller158, die sich auf diese Weise in der Hervorhebung ihrer „mehr oder weniger tatsächlich vorhandenen Leistungen und herausragenden Eigenschaften […]“159 ein literarisches Denkmal setzten.

2.3 Martin Opitz als Wegbereiter der Kanonisierung literarischer Werke in deutscher Sprache160 Das Bestreben, „Regeln für eine eigene deutschsprachige Literaturtradition aufzustellen“161 spiegelt sich in Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey […]162 wider. Diese „bekannteste[n] Poetik des 17. Jh.s „163 erschien ein Jahr nach der 1623 stattgefundenen Erstveröffentlichung der Dramen Shakespeares, dem First Folio, womit Shakespeare zum Nationaldichter Englands erhoben worden war und den englischsprachigen Literaturkanon begründete.164 „Ohne Zweifel ist das Werk Shakespeares das Kernstück des englischen Kanons.“165 Der Germanist Stefan Neuhaus unterstreicht als vornehmliche Leistung Martin Opitz‘ die Wahl der deutschen Sprache für sein Werk, was zu seiner Zeit eine enorme Innovation darstellte. „Dass Opitz in deutscher Sprache schreibt und ausführt, wie eine deutschsprachige Literatur im Unterschied zur damals noch hegemonialen neulateinischen aussehen könnte, ist die erste besondere Leistung seiner Poetik.“166 Opitz, der sich mit den zeitgenössischen Gattungen Lyrik, Drama und Komödie befasste, forderte eine „Reform des Versmaßes“.167 Während bis dahin das Metrum der Antike von der Länge der Silben bestimmt wurde,

157 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Einführung: Zwei Paradigmenwechsel“. S. 272. 158 Neuhaus, Stefan: „Einführung: Zwei Paradigmenwechsel“. S. 272. 159 Ebd. 160 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. In: Neuhaus, Stefan: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 271-280. Hier: 273. 161 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. In: „Deutschland“. In:“„Deutschsprachige Literaturen“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 271-280. Hier: S. 273. 162Ebd. und Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Hg.: Sommer, Cornelius. Reclam . Stuttgart. 1995 (1970). 163 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273. 164 Vgl.: Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. In: „Englischsprachige Literaturen“ In:. „Kanongeschichten“. In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. S. 289 - S. 296. Hier. S. 290. 165 Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. S. 290. 166 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273. 167 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273.

27 plädierte Opitz nunmehr dafür, die Wortbetonung dem Metrum anzupassen.168 „Die Wahl der sprachlichen Mittel hängt für Opitz immer von der Funktion ab, die sie im Text haben.“169 Neuhaus verweist bei Opitz‘ Poetik auf erste Anzeichen der Genieästhetik des 18. Jh.s.170 Er schreibt in seinem Werk aus dem Jahr 1624: „So ist auch ferner nichts naerrischer / als wann sie meinen /die Poeterey bestehe bloß in ihr selber; die doch alle andere kuenste vnd wissenschaften in sich helt.“171 Die antike Vorgabe der mimetischen Literaturproduktion172 hielt Opitz für obsolet. Wenngleich der Terminus „Fiktion“, so wie sie im Roman des 19. Jahrhunderts stattfand, noch weit entfernt war, forderte er die Dichter auf, in ihren Werken mögliche oder wünschenswerte Welten zu erschaffen.173 Die Adressaten dieser fiktiven Welten jedoch waren vornehmlich Mitglieder seiner „christlich-feudalen“174 Gesellschaft.

Von einer Rezeptionsästhetik im Sinne von offizieller Interaktion zwischen Werk und Leser, kann in der Literaturvermittlung jener Zeit nicht gesprochen werden, denn die im 17. Jahrhundert geschaffenen Werke wurden dem zeitgenössischen Publikum, ohne Aufforderung zur aktiven Auseinandersetzung, zur Lektüre gereicht. Die Regeln für die literarische Produktion in der Epoche des Barock waren klar definiert in der Einhaltung der metrischen Formen und den Vorgaben der aristotelischen Poetik betreffend Übereinstimmung von Ort, Zeit und Handlung sowie die höhere Wertung der Tragödie gegenüber der Komödie.175

Maßgeblich für die weitere Entwicklung von Kanon und Wertung in „der neueren deutschen Literaturgeschichte“176 waren dann „zwei radikale Paradigmenwechsel“177:

168 Vgl.: Ebd. und Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. S. 49. In: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273. 169 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273. 170 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273 171 Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey. [1624]. Reclam. (= RUB) 18214. Stuttgart. 2002. S. 17. In: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273 172 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273. 173 Vgl.: Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. S. 17. In: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273 174 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 273. 175 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 274. 176 Neuhaus, Stefan: „Einführung: Zwei Paradigmenwechsel“. S. 272. 177 Ebd.

28

2.4 Der literarische Kanon unter dem Einfluss der Emanzipation des Autors Der erste Paradigmenwechsel fand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Terminus „Genieästhetik“178 statt. Mit der Aufklärung erlangte das Bürgertum mehr Selbstbewusstsein, „die Alphabetisierung nahm zu179“. Die rasante Produktion und Distribution der Printmedien wie Zeitschriften, Journale und Almanache lieferten die zeitgenössische Literatur in alle Häuser und Salons.180 Das „Programm“181, mit dem sich das Bürgertum vom feudalen Adel, den Bauern und den Handwerkern gleichermaßen distanzierte182 lautete: „Der Mensch soll zu einem vernünftigen Wesen erzogen werden, er soll moralisch und tugendhaft handeln, seine Emotionen durch den Verstand zügeln.“183

Johann Christoph Gottscheds Poetik „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730)“184 versuchte diesem Anspruch Rechnung zu tragen. Literatur sollte nicht Abbild der Wirklichkeit,185 sondern „Nachahmung der Natur“186 sein. Moral, Tugendhaftigkeit, das Wahre, das Erhabene sind die Vorgaben der zeitgenössischen Literatur. „Mit dem Begriff des Geschmacks ist die zentrale Legitimations- und Wertungskategorie des 18. Jh.s angesprochen.“187 „Schönheit“188 wurde zum Synonym für Ästhetik.189 Als die geeignetste Performations- und Rezeptionsplattform für dieses Erziehungsprogramm schien Gottsched das Theater.190

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sollte dann ein anderer Dichter die deutsche Literaturlandschaft prägen und den Deutungskanon neu definieren. plädierte für die schöpferische Freiheit des Dichters191. Für ihn, wie auch für Goethe,

178 Ebd. 179 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 274. 180 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 274. 181 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 274. 182 Vgl.: Ebd. 183 Neuhaus, Stefan: „Einführung: Zwei Paradigmenwechsel“. S. 274. 184 Gottsched, Johann Christoph: Schriften zur Literatur. Hg.: Steinmetz, Horst. Stuttgart. 1998. In: Neuhaus, Stefan. „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik.“ S. 274 f. 185 Vgl.: Gottsched, Johann Christoph: Schriften zur Literatur. Hg.: Steinmetz, Horst. Stuttgart. 1998. In: Neuhaus, Stefan. „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik.“ S. 274 f. 186 Gottsched, Johann Christoph: Schriften zur Literatur, Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1998. S. 34. In: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik.“ S. 274. 187 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 274. 188 Ebd. 189 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 274. 190 Vgl.: Ebd. 191 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 275.

29 war Shakespeare ein Vorbild.192 Shakespeare nahm sich die dichterische Freiheit, historische Quellen umzuformen und daraus neue Geschichten, noch dazu im reimlosen Blankvers, zu schreiben, und er hielt sich auch nicht an die aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Was Lessing, wie andere Dichter in der Tradition ihrer Bühnenwerke von jenen ihres englischen Vorbildes trennte, war die Intention. Shakespeare wollte unterhalten, seine Absicht war es nicht, Menschen zu erziehen oder zu moralisieren. Shakespeare erzählte gute Geschichten, Lessings Bestreben war es, das Publikum in den Vorstellungen zu „Mitleid“ und „Schauder“193 zu rühren, zu wirken. „Lessings Ästhetik ist (daher) zugleich Wirkungsästhetik.“194 Die Bühne war ihm „Simulationsraum“195, „in dem Erfahrungen gemacht werden, die helfen, die eigene Persönlichkeit weiter auszubilden. Diesem im weiteren Sinn pädagogischen Ziel sind die Bewertungskriterien der Literatur untergeordnet.“196 In seinem 1772 verfassten Trauerspiel Emilia Galotti vereinigen sich die spätaufklärerischen Prämissen der Literaturproduktion, welche die bürgerlichen Ideale wie Tugendhaftigkeit, Vernunft und Gefühl sowie das Autonomiebestreben gegenüber dem feudalistischen Adel widerspiegeln. Emilia Galotti wählt den Freitod um sich dem Missbrauch durch den Prinzen Gonzaga zu entziehen.197

Auch wird in der literarischen Epoche des „Sturm und Drang“198 den Deutschen Idealismus199 für die Tugend, die Treue und die Freundschaft, in seinen Werken propagieren und „d[Die] Schaubühne als moralische Anstalt betrachte[t]n.“200

Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt. […] Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern,

192 Vgl.: Ebd. 193 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 275. 194 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 275. 195 Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung. Konstanz. 2009. S. 235. In: Neuhaus, Stefan.: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 275. 196 Neuhaus, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 275. 197 Vgl.: Lessing, Gotthold, Ephraim: Emilia Galotti. Trauerspiel. Philipp Reclam jun.; Stuttgart.1995. http://gutenberg.spiegel.de/buch/emilia-galotti-1174/3. Abgerufen am: 10.12.2017. 198 Neuhaus Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. S. 275. 199 Vgl.: Safranski, Rüdiger: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. Biographie. Carl Hanser Verlag. München. Wien. 2004. 200 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Schiller und die Folgen“. In: Neuhaus, Stefan: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung.Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 271-280, hier: S. 275.

30

wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze.201

Schiller setzt auf die Wirkung des Dargestellten im „Simulationsraum“ der Bühne:

Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den Spiegel vorhält […] Die Schaubühne allein kann unsre Schwächen belachen, weil sie unsrer Empfindlichkeit schont und den schuldigen Thoren nicht wissen will. […] Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. […]

Die Wirkungsästhetik202 Schillers und seine unverhandelbaren Wertmaßstäbe von einem „sittliche(n) Ideal“203, die den Rezipienten als quasi besseren Menschen vom Besuch der Schaubühne in die historische Wirklichkeit entlassen müssen, bestimmen die „Bewertungspraxis“204 des Deutungskanons der deutschsprachigen Literatur.205 Stefan Neuhaus bezeichnet „Schillers Ästhetik […] als so etwas wie das Betriebssystem der deutschsprachigen Literatur […], modifiziert und verändert, angepasst oder auch pervertiert (wie z.B. im Nationalsozialismus) – je nach Zeit und Gruppenbedürfnissen.“206

201 Schiller, Friedrich: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet.(Vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784.).“ In: Ders.: Schillers Sämmtliche Werke, Vierter Band. Cotta’sche Buchhandlung Stuttgart. 1879. S. 39- 46. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3328/1. Abgerufen am 22.03.2017. S. 1 und 2. 202 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Schiller und die Folgen“. S. 276. 203 Neuhaus, Stefan: „Schiller und die Folgen“. S. 276. 204 Ebd. 205 Vgl.: Ebd. 206 Neuhaus, Stefan: „Schiller und die Folgen“. S. 276. (Hervorhebung FP).

31

2.5 Der Einfluss der „Weimarer Klassik“ Die Wirkkraft Schillers‘ Ästhetik des Idealismus reichte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.207 Schiller war der prominenteste Vertreter der Ära des „Sturm und Drang“, Ende des 18. Jahrhunderts. Er war jedoch auch noch Protagonist der nachfolgenden literarischen Epoche, der sogenannten „Weimarer Klassik“, dem „literarischen Quartett“208 des 19. Jahrhunderts, dem Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder angehörten und das sich um den Weimarer Hof von Herzog Carl August gruppierte.

Auch die Dichter des 18. Jahrhunderts waren auf die Gunst des adeligen Grundherrn angewiesen, obwohl die meisten neben ihrer poetischen Tätigkeit Brotberufen nachgingen. Johann Wolfgang von Goethe z.B. war Jurist. Gleichzeitig bestimmte und beherrschte er auch als unumstrittener Literaturkritiker die literarische Landschaft seiner Zeit. Seine Werke dominieren bis in die Gegenwart den deutschsprachigen Kanon der so genannten „Höhenkammliteratur“. Faust, Die Leiden des jungen Werther, Die Wahlverwandtschaften u.v.m. bilden nach wie vor den fixen Bestandteil jeder universitären und schulischen Lektüreliste innerhalb deutschsprachiger Literatur.

Seine umfassende Bildung, Originalität und Wandlungsfähigkeit sowie seine hervorragenden Kontakte gehören zu den Gründen, die dazu führten, dass er schon zu Lebzeiten als der weltweit bekannteste deutschsprachige Autor galt. Schriftsteller aus ganz Europa pilgerten zu ihm […], um sich Ratschläge zu holen und mit ihm in einen Diskurs über Dichtung einzutreten (für den Goethe schließlich den Begriff der ‚Weltliteratur‘ prägte). 209

Goethe etablierte mit Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) die Novelle und mit Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) den Bildungsroman in der

207 Vgl.: Neuhaus Stefan: „Schiller und die Folgen“. S. 276. 208 Vgl.: Kuhl, Miriam: Literaturkritik im deutschen Fernsehen. Am Beispiel der Sendung „Das literarische Quartett.“. Tectum Verlag. Marburg. 2003: Das „Literarische Quartett“ wurde einmal pro Woche im Deutschen Fernsehen gesendet und bestand aus Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler (die 2000 von Iris Radisch abgelöst wurde), Hellmuth Karasek und jeweils einem neuen Gast.. Dieses Quartett besprach ab 25.März 1988 in 77 Sendungen 400 Bücher. S. 78 und 82. (Das „Literarische Quartett“ verfügte quasi über kanonische Macht, indem den dort besprochenen Werken Qualität und Rezeptionswert zu- oder aber unwiderruflich abgesprochen und somit über den Erfolg eines Autos Gericht gehalten wurde.) 209 Neuhaus, Stefan: „Schiller und die Folgen“. S. 276.

32 deutschsprachigen Literatur.210 „Form, Stoff und Gehalt“211 mussten ästhetisch aufeinander abgestimmt sein. Werke und ihre Produzenten, die nicht den Kriterien des Goetheschen Deutungskanons entsprachen, hatten große Schwierigkeiten, überhaupt nur in den materialen Kanon aufgenommen zu werden. Kleists Penthesilea, die er Goethe im Januar 1808 „auf den Knien seines Herzens“212 zur Rezension übersandte, löste bei diesem Befremden aus: „Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region, daß ich mir Zeit nehmen muß mich in beide zu finden.“213 Kleists Tragödie über die Amazonenkönigin war in Aufbau und Dramaturgie ihrer Zeit weit voraus, sie konnte sich bei der zeitgenössischen Fachwelt, und auch beim Publikum des frühen 19. Jahrhunderts nicht durchsetzen.

Goethe verstand es, seine Werke von einer mäßigen Getragenheit und vor allem immer ästhetisch wohlgeformt in Aufbau und Rede seinem Publikum vorzulegen, er schrieb von „einer Art teilnehmender Beobachtung natürlicher Gegebenheiten und Entwicklungsprozesse“214. Dennoch gelang es ihm, mittels ‚geistigen Seziermessers‘ die inneren Leidenschaften und Verirrungen seiner Protagonisten freizulegen und ihre Geschichten und Reaktionen in Relation zu den Gesetzmäßigkeiten in der Naturwissenschaft, denen sich der Mensch nicht entziehen kann, was besonders in den Wahlverwandtschaften215 zum Ausdruck kommt, zu setzen. Es fällt in den Werken Goethes am Ende alles in die von der Natur vorgegebene (rechte) Form zurück.216

210 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Schiller und die Folgen“. S. 276. 211 Vgl.: Goethe, Johann,Wolfgang: West-östlicher Divan. Studienausgabe. Hg.: Knaupp, Michael. Reclam. Stuttgart.1999. S. 341. 212 Sembdner, Helmut (Hrsg.): . Der Dichter über sein Werk. WBG. Darmstadt. 1996. S. 38. 213 Goethe, Johann, Wolfgang: „Brief an Kleist vom 01. Febr. 1808.“ In: SW II, S. 806. In: Lubkoll, Christine und Oesterle, Günther (Hrsg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Königshausen & Neumann, Würzburg. 2011. S. 206. FN 40. 214 Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert“. In: Neuhaus, Stefan: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung.Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 271-280. Hier: S. 276. 215 Goethe, Johann Wolfgang: „Die Wahlverwandtschaften“ . In: Heiseler, Bernt von. Hrsg.: Goethe, Johann Wolfgang. Gesammelte Werke in acht Bänden. Fünfter Band. „Romane II“. Bertelsmann Reinhard Mohn OHG. Gütersloh. Buch-Nr. 2379. o.J. S. 391 – 620. 216 Vgl.: Goethe, Johann Wolfgang: „Die Wahlverwandtschaften“. S. 424 – 425.

33

Wie bereits ausgeführt, fand „[I]in der neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte“217 der erste „radikale Paradigmenwechsel“218 mit der „Genieästhetik, die das Schöpferische des Produktions- wie letztlich auch des Rezeptionsprozesses betont“219, statt.

2.6 Die Ausgliederung Österreichs aus dem Deutschen Staatenbund und ihre literarhistorische Konsequenz Der zweite große Einschnitt oder Bruch und Paradigmenwechsel erfolgte „Ende des 19. Jh.s“220 . Das gesamte 19. Jahrhundert war von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt. Napoleon wurde 1813 besiegt,221 das Deutsche Kaiserreich gegründet und Österreich aus dem Deutschen Bund ausgegliedert.222 In den Verhandlungen auf dem Wiener Kongress 1814/15 sollte durch die Restauration der europäische Status quo vor der Französischen Revolution wieder hergestellt 223 und wieder so geordnet werden, wie es vor der französischen Revolution 1789 war.224 Gleichzeitig wurde der „Deutsche[n] Bund“225 eingerichtet, „der mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 eine möglichst umfassende Zensur auch und gerade der Literatur beabsichtigt(e)“226 Sie sollte erst hundert Jahre später wieder abgeschafft werden.227 Das Bürgertum flüchtete sich in die gesellschaftliche innere Emigration, ins Biedermeier. Künstler und Literaturschaffende, die sich „gegen das restaurative Feudalsystem wenden, gehen ins Exil.“228 Nach der „gescheiterte(n) Revolution 1848/49“229 arrangierten sich viele ehemalige kritische Intellektuelle mit der Monarchie.230 Die politische Überwachung der Dichtkunst gestaltete die Wertung von Literatur und die Kriterien für die Kanonisierung noch willkürlicher.231 Die öffentliche Fokussierung auf die

217 Neuhaus, Stefan: „Einführung: Zwei Paradigmenwechsel“. S. 272. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Vgl.: http://www.habsburger.net/de/kapitel/schlachten-zwischen-kaisern-und-voelkern (22.03.17) 222 Vgl. : Neuhaus, Stefan : « Das ‘bürgerliche 19. Jahrhundert“. S. 277. 223 Vgl. : http://www.habsburger.net/de/kapitel/die-neuordnung-europas-von-181415 (22.03.17) 224 Vgl.: http://www.habsburger.net/de/kapitel/die-neuordnung-europas-von-181415. (22.03.17) 225 Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert.“ S. 277. 226 Ebd. 227 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Das 20. und beginnende 21. Jahrhundert“ In: Neuhaus, Stefan.: :„ Deutschland“. In: Neuhaus, Stefan:„Deutschsprachige Literaturen.“ In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung.Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 271-280, hier: S. 277. 228 Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert.“ S. 277. 229 Ebd. 230 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert.“ S. 277. 231 Vgl.: Ebd.

34

Bildung einer „‘deutschen Nation‘“232 engte den Kanon weiter ein.233 Das Bürgertum war praktizierender Teil im Prozess der Nationenbildung.234 Das neue deutsche Selbstbewusstsein erweiterte den materialen Kanon um „Texte[n] des Mittelalters und der frühen Neuzeit“,235 und es wurde der Grundstein „für die schrittweise Etablierung des Fachs Germanistik“ 236 gelegt. Gleichzeitig jedoch entwickelten sich in Gesellschaft und Literatur „fremdenfeindliche, auch antisemitische Tendenzen“.237 Nach der Ausgliederung Österreichs aus dem Deutschen Staatenbund musste das Fach Österreichische Literatur seinen Platz innerhalb der deutschsprachigen Literatur erst definieren.

2.7 Der österreichische Literaturkanon Denn bereits Johann W. Nagl und Jakob Zeidler, welche die „erste[n] österreichische[n] Literaturgeschichte“238 publizierten, schreiben im „ersten Band des Handbuchs Deutsch- Österreichische Literaturgeschichte (1899) in der „Einführung“239, „[…], dass die österreichische Literatur in Deutschland weithin eine Unbekannte sei.“240 In seiner Fragment gebliebenen Deutsche(n) Nationalliteratur der gesammten Länder der österreichischen Monarchie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart historisch-chronologisch dargestellt 241 aus dem Jahr 1849242, nimmt Joseph Georg Toscano del Baner die Österreicher mit in die Verantwortung für diesen Missstand, dass: Österreichs Antheil an der deutschen Literatur wenig, bei Einigen in manchen Perioden gar nicht oder doch nur so berücksichtigt werde, dass unser schlichtes

232 Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert.“ S. 277. 233 Vgl.: Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert.“ S. 277. 234 Vgl.: Ebd. 235 Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert“. S. 277. (Neuhaus bezieht sich an dieser Stelle auf: Hermand, Jost: Geschichte der Germanistik. Reinbek b. Hamburg. 1994. S. 31 ff). 236 Neuhaus, Stefan: „Das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert“. S. 277. 237 Ebd. 238 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ In: Holzner, Johann:„Österreich“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: „Kanongeschichten“: In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. 2013. S. 281 – S. 285. Hier: S. 281. 239 Ebd. 240 Ebd. 241 Baner, del, Toscano, Joseph Georg: Die deutsche Nationalliteratur der gesammten Länder der österreichischen Monarchie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart historisch-chronologisch dargestellt. 1. B. Das Mittelalter. Wien 1849. Jasper, Hügel & Manz. In: Nagl, J.W. und Zeidler, Jakob, Hg.: Deutsch=Österreichische Literaturgeschichte. 1. Band. Von der Kolonisation bis 1750. Fromme, Carl, G.m.b.H., Wien und Leipzig. 1898. S. XI f. In: Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“, S. 281. 242 Vgl.: Ebd.

35

Vaterland, wenn nicht gar die Schattenseite, doch immer eine schwache Stellung darinnen einnimmt. […] Nie dachten wir daran, was leider wohl noch geschieht, unsere Männer im Leben anzuerkennen, und ebenso wenig trugen wir Sorge, ihren Verdiensten das gehörige Denkmal zu setzen. Daher bleiben unsere großen Männer bei all ihren Verdiensten um die Literatur, und wenn auch ihre Arbeiten noch immer segnend fortwirken, unbekannt oder ungenannt.243 „Also wie im Jahre 1746 auch im Jahre 1849 noch eine ‚Gesellschaft der Unbekannten in den österreichischen Ländern!‘ „244

Johann Holzner verweist auf zwei wichtige Kriterien in der „österreichische(n) Kanondiskussion“245 Das eine betrifft „den spezifisch österreichischen materialen Literaturkanon“246, an dessen Spitze bis in die Gegenwart die beiden Nationaldichter, nämlich Ferdinand Raimund, als „Repräsentant des Volkstheaters vor Nestroy und Horváth“247 und , „als Staatsdichter“248, unangefochten als Vertreter genuin österreichischer Literatur stehen.249 Diese beiden österreichischen Dichter „par excellence“250 fanden nie Aufnahme in den Kanon deutschsprachiger Literatur, während andere österreichische Schriftsteller und Poeten, wie z.B. Adalbert Stifter und Georg Trakl251 sowie später Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann und Peter Handke im Kanon der deutschsprachigen Literatur sehr wohl registriert wurden und werden.252 Weder „Marie v. Ebner-Eschenbach, Ferdinand v. Saar, Peter Rosegger, […], Theodor Kramer, Heimito von Doderer“253 noch Christine Lavant konnten sich jemals in den materialen Kanon deutschsprachiger Literatur außerhalb der Landesgrenzen Österreichs einschreiben.

243 Baner, del, Toscano: Die deutsche Nationalliteratur der gesammten Länder der österreichischen Monarchie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart historisch-chronologisch dargestellt. 1. B. Das Mittelalter. Wien 1849. Jasper, Hügel & Manz. In: Nagl, J.W. und Zeidler, Jakob, Hg.: Deutsch=Österreichische Literaturgeschichte. 1. Band. Von der Kolonisation bis 1750. Fromme, Carl, G.m.b.H., Wien und Leipzig. 1898. S. XI und S. XII. 244 Nagl, J.W. und Zeidler, Jakob, Hg.: Deutsch=Österreichische Literaturgeschichte. 1. Band. Von der Kolonisation bis 1750. Fromme, Carl, G.m.b.H., Wien und Leipzig. 1898. S. XII. 245 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 281. 246 Ebd. 247 Ebd. 248 Ebd. 249 Vgl.: Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ S. 281. 250 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ S. 281. 251 Vgl.: Ebd. 252 Vgl.: Ebd. 253 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 281.

36

Das zweite von Nagl und Zeidler für die österreichische Kanonschreibung festgesetzte Kriterium betrifft die „methodologischen Fundamente der Literaturgeschichtsschreibung (aus österreichischer Perspektive)“.254 Nagl und Zeidler verstehen unter „deutscher Literatur“255 „ ‚das Product aller Stämme‘, aller Landschaften des deutschsprachigen Raums (Nagl/Zeidler 1899, XIV).“256 Aus dieser „Perspektive“257 heraus entsteht in der Zeit von 1912 – 1928258 Josef Nadlers vierbändige „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“259, ein „stammesethnographischer Ansatz der Literaturbetrachtung“260, der „die Hinwendung des Autors zum völkischen Lager sichtbar macht.“261 Die zweite Auflage aus dem Jahr 1960, mit dem Titel Geschichte der deutschen Literatur zeigt dieselben deutschnationalen Tendenzen262, dieses Werk verschwindet jedoch in den 1960er Jahren aus der „österreichischen Öffentlichkeit“.263 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand der österreichische „schulische Lektürekanon[s]“264 nicht nur unter dem Schock der vergangenen Kriegsjahre, sondern unter starkem bildungspolitischem Einfluss der alliierten Besatzungsmächte. Gelesen wurden „amerikanische, englische, französische und russische Dichtungen“265 in deutscher Übersetzung. Dies erweiterte einerseits den Lektüre-Erfahrungshorizont auf weltliterarischer Ebene, schränkte jedoch andererseits eine Auseinandersetzung mit der eigenen österreichischen Literatur ein. Der Tiroler Heimatdichter Franz Kranewitter, aber auch Karl Schönherr und andere, fanden keine Aufnahme in jene Lektürelisten266.

254 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 281. 255 Vgl.: Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 281.

256 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 281. 257 Ebd. 258 Vgl.: Ebd. 259 Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 281. 260 Ebd. 261 Ebd. 262 Vgl.: Ebd. 263 Vgl.: Holzner, Johann: „Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“. S. 282. 264 Holzner, Johann: „Von der Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre: Das Beispiel des schulischen Lektürekanons.“ In: Holzner, Johann: „Österreich“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. 2013. S. 281 – S. 285. Hier: S. 282. 265 Ebd. 266 Vgl.: Holzner, Johann: „Von der Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre: Das Beispiel des schulischen Lektürekanons“. S. 282.

37

Erwähnenswert ist, dass in Österreich „das Lehrfach ‚Unterrichtssprache‘ […] erst ab dem Schuljahr 1955/56 wieder ‚Deutsch‘ hieß.“267 Im Vergleich mit den übrigen europäischen Ländern wird an Österreichs Schulen und Universitäten erst in den 1970er Jahren der bestehende Kanon aufgebrochen268 und die verpflichtende Schullektüre zur „Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart“269 auf „Einblicke“270 reduziert sowie in den 1980er Jahren die Verantwortlichkeit und die willkürliche Auswahl für die Lektüre tradierter und kanonisierter Werke aus der literarischen Vergangenheit vollständig „den Lehrenden und den Studierenden“271 überlassen. „Was allerdings bald dazu führt, dass sich in der Öffentlichkeit der Eindruck breit macht, um die Kenntnis v.a. der älteren, aber auch der neueren Literatur sei es schlechter bestellt als je zuvor.“272 Doch die Abkehr vom starren Kanon der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit seinem besonderen Fokus auf den materialen Kanon des vorangegangenen Jahrhunderts, öffnete den offiziellen Rezeptionsraum um bis dahin unbeachtete Autoren, Werke und Genres. 273 Johann Holzner verweist hier auf die von der „Autorin und Kulturkritikerin“274 Hilde Spiel 1976 erschienene Publikation aus „der Reihe Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart“275, mit dem Titel „Die zeitgenössische Literatur Österreichs“.276 Mit diesem Werk initiiert sie die Wiederaufnahme der Diskussion um eine genuin österreichische Literatur. Hilde Spiel versammelt in ihrer Literaturgeschichte sowohl „Exilliteratur“277 als auch die österreichische „Avantgarde“278, und verknüpft die Namen und Werke der Schriftsteller chronologisch mit den jeweiligen literarischen Strömungen, im Kontext

267 Holzner, Johann: „Von der Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre: Das Beispiel des schulischen Lektürekanons“. S. 282. 268 Vgl.: Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. In: Holzner, Johann: „Österreich“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. 2013. S. 281 – S. 285. Hier: S. 283. 269 Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. 270 Ebd. 271 Ebd. 272 Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. 273 Vgl.: Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. 274 Ebd. 275 Vgl.: Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. 276 Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa/. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Fischer TB-Verlag. Frankfurt/Main. 1980. Zitiert in: Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. 277 Vgl.: Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. 278 Ebd.

38 kultureller Entwicklungen. So finden sich im Index ihrer Literaturgeschichte nicht nur Elias Canetti und Marlen Haushofer, Peter Handke und Ingeborg Bachmann, sondern auch Manès Sperber, Albert Drach, oder Fritz von Hermanovsky-Orlando sowie Karl Heinrich Waggerl.279 In ihrer Einleitung schreibt Spiel, dass Österreich sich im 20. Jahrhundert durch die beiden Weltkriege zweimal neu definieren musste280, „eine neue Identität zu finden“281 war. Und sie stellt in der Einleitung die Frage: „Gibt es eine österreichische Literatur? Die Frage muß so lapidar gestellt sein, weil sie ebenso lapidar verneint zu werden pflegt.“282 Hilde Spiel stellt fest, dass international österreichische Schriftsteller, die in Deutsch schreiben, im Ausland oft als „Deutsche Autoren“ verortet werden: „Schon die Tatsache, daß einige der bedeutendsten in Österreich geborenen Autoren (Ingeborg Bachmann, Erich Fried, Peter Handke) in den Band Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen und dort ausführlich behandelt wurden, zeugt davon, daß hier keine reinliche Unterscheidung möglich ist. […]“283 Sie verweist auf die Notwendigkeit für die österreichischen Dichter des frühen 19. Jahrhunderts, sich neu zu positionieren, weil nach „1806“284 das Habsburger Reich nicht mehr Mitglied des „Heiligen Römischen Reich(s) Deutscher Nation“285 war. Franz Grillparzer „sah sich zwar als österreichischen Menschen, aber als deutschen Dichter.“286 Hilde Spiels Literaturgeschichte thematisiert, rückblickend auf Anfänge, Ursachen und Begründungen in der historischen Vergangenheit, die österreichische Literatur nach 1945, die seinerzeit zeitgenössische Literatur. Franz Kranewitter starb am 04. Jänner 1938. Er und sein Werk fanden keine Aufnahme in den materialen Kanon Hilde Spiels. Ein Indiz für die Nichtrezeption dieses Dichters außerhalb Tirols bietet sein Schreiben selbst, die Tiroler Mundart, die nicht ins Hochdeutsche übersetzt werden kann und sich daher seine Sprache und sein Werk gegen die Rezeption von außen verschließen. Franz Kranewitter war Tiroler, der den Großteil seiner Werke in Tirolisch verfasste. Auch wenn er in Hilde Spiels Literaturkanon keine Erwähnung findet, so trifft doch ihre Feststellung über die

279 Vgl.: Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa/. S. VI. 280 Vgl.: Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa. S. 3. 281 Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa/. S. 3. 282 Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa/. S. 4 283 Ebd. 284 Ebd. 285 Ebd. 286 Grillparzer, Franz: Sämtliche Werke, 3. Bd.. Hrsg. Von P. Frank und K. Pörnbacher, München 1964, S. 685. In: Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa/. S. 4 und In: Anmerkungen: S. 129.

39

österreichische Literatur (nach 1806) auch auf ihn zu, wenn sie schreibt: Die „Abgrenzung zur deutschen Literatur (war) nicht prinzipiell, sondern individuell“.287 Hilde Spiels Neuordnung des österreichischen materialen Kanons folgten zahlreiche weitere akademische Versuche, aber auch renommierte Tages- und Wochenzeitschriften, wie z.B. „2001 das österreichische Magazin profil“,288 beteiligten sich und ihre Leserschaft an der Suche nach einer Lektüreliste, in der die lesenswertesten und wertvollsten Werke deutschsprachiger Literatur enthalten sein sollten. „Die im literaturwissenschaftlichen Diskurs des ausgehenden 20. Jh.s angestellten Reflexionen über die Essenz, die Fundamente der Kultur werden dabei allerdings kaum mehr aufgegriffen.“289 Die Literaturwissenschaft reagiert darauf mit Publikationen neuer Literaturgeschichten290, wie z.B. mit Wynfrid Kriegleders 2011 erschienener Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich 291 oder mit Klaus Zeyringers und Helmut Gollners Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650.292 In beiden Werken wird er denn auch explizit genannt: Franz Kranewitter. Kriegleder rekurriert auf den Tiroler Dramatiker in „Kapitel IV. Kakanien 1848 bis 1918, 2. Die Jahrhundertwende und das Ende der Monarchie: 1885 bis 1918“293, im Zusammenhang mit der Gruppe „Jung-Tirol“.294 Zeyringer und Gollner widmen Kranewitter zwei Einträge, und zwar einmal in Verbindung mit Hermann Bahr und der Wiener Moderne295, deren alpenländisches Pendant sie in der „Anthologie Jung-Tirol“ verorten: „So richtete sich 1899 die Anthologie Jung-Tirol gegen die konservative Literaturpolitik; dieser Band brachte zwar die Tragödie Um Haus und Hof von Franz Kranewitter, in den meisten Beiträgen jedoch ein völkisch-deutschnationales Pathos.“296 Noch einmal wird auf den Tiroler Dramatiker „aus

287 Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I/Einführung/Prosa/. S. 4. 288 Holzner, Johann: „Die 1970er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“. S. 283. “ 289 Ebd. 290 Vgl.: Holzner, Johann: „Der materiale Kanon in den neuesten Literaturgeschichten“. In: Holzner, Johann: „Österreich“. In:“Deutschsprachige Literaturen“. In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. 2013. S. 281 – S. 285. Hier: S. 283 f.. 291 Kriegleder, Wynfried: Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. Menschen – Bücher – Institutionen. Praesens Verlag. Wien. 2014. Zitiert in: Holzner, Johann: „Der materiale Kanon in den neuesten Literaturgeschichten“. S. 283 f. 292 Zeyringer, Klaus. Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. StudienVerlag. Innsbruck. Wien. Bozen. 2014. Zitiert in: Holzner, Johann: „Der materiale Kanon in den neuesten Literaturgeschichten“. S. 284 f.. 293 Kriegleder, Wynfried: Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. S. 5. 294 Vgl: Kriegleder, Wynfried: Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. S. 309 und S. 310. 295 Vgl.: Zeyringer, Klaus. Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. S. 382. 296 Zeyringer, Klaus. Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. S. 382.

40 der Provinz“297 im Kapitel „26. Theater um das Ländliche“298 Bezug genommen. Dabei schildern Zeyringer und Gollner die Hindernisse, die Kranewitter von den Zensurbehörden in den Weg gelegt wurden299. Die Tragödie Um Haus und Hof klassifizieren sie als ein Werk der „Heimat- und Kolportageliteratur“300 und merken an: „[…], bei ihm greifen jedoch am Ende die Normen der konventionellen Ordnung nicht mehr. Haus und Familie als Hölle, das ist eine Konstellation, die auf dem Theater der Zeit häufig zu finden war“301

2.8 Österreichische Literatur innerhalb von Kanondebatten - Missverständnisse, Irrtümer und Ignoranz Wo positionieren sich nun die Österreichische Literatur und der österreichische Literaturkanon innerhalb von Welt.literarischen Landschaften und deren Rezeption? Für die Literaturbeilage „Le Monde des Livres“ der französischen Tageszeitung Le Monde vom 3. März 2017 verfasste Pierre Deshusses die Rezension zur französischen Übersetzung eines Romans des in Bregenz (Vorarlberg) geborenen Autors Wolfgang Hermann (*1961): „ADIEU SANS FIN (Abschied ohne Ende) […] traduit de l’allemand (Autriche) par Olivier Le Lay, Verdier, 116 p., 15€.“302 Der Artikel trägt den Titel „Prière pour le fils mort“ und darunter steht: „Dans ‘Adieu sans fin’, l’Allemand Wolfgang Hermann raconte le vertige du deuil et la lente reconquête de la vie. Bref et percutant ». Demnach rezensiert Deshusses das Buch eines „deutschen“ Autors, der in „österreichischem Deutsch“ schreibt und bestätigt mit diesem offensichtlichen Missverständnis – oder aufgrund von Unkenntnis - die auch noch 2017 evidente Verwirrung hinsichtlich der unterschiedlichen Bedeutung der Termini „deutsch“ und „deutschsprachig“ in der Literatur sowie hinsichtlich der Positionierung der österreichischen innerhalb der deutschsprachigen Literatur. Ein Irrtum gleicher Art passierte der renommierten amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin Barbara Ehrenreich (*1942). Sie schreibt in ihrer 1997 erschienenen Studie Blood Rites. Origins and History of the Passions of War: “[…] Even pacifists like the German novelist Stefan Zweig felt a temptation to put aside their scruples and join the great

297 Zeyringer, Klaus. Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. S. 450. 298 Ebd. 299 Zeyringer, Klaus. Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. S. 450 und S. 451. 300 Zeyringer, Klaus. Gollner, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650.S. 451. 301 Ebd. 302 Deshusses, Pierre: « Prière pour le fils mort ». In : « Le Monde des Livres. Critiques Littérature ». In : Le Monde. Vendredi 3 mars 2017, 73ième année – n° 22437. S. 5.

41

‘awakening of the masses’ prompted by the war.”303

Dieter Lamping und Frank Zipfel antworten auf die Frage “Was sollen Komparatisten lesen?”304: „Weltliteratur“.305 Im Inhaltsverzeichnis werden unter dem Kapitel „Werke der Weltliteratur“306 folgende Literaturen angeführt:

Griechische Literatur, Lateinische Literatur, Französische Literatur, Spanische Literatur, Portugiesische Literatur, Italienische Literatur, Deutsche Literatur, Englische und irische Literatur, Russische Literatur, Polnische Literatur, Tschechische Literatur, Skandinavische Literatur, Neugriechische Literatur, Türkische Literatur, Jiddische Literatur, Israelische Literatur, Arabische und Persische Literatur, Nordamerikanische Literatur, Lateinamerikanische Literatur, Afrikanische Literatur, Australische Literatur, Indische Literatur, Chinesische Literatur, Japanische Literatur.307

Die Vermutung, dass unter der Rubrik „Deutsche Literatur“ sowohl Schweizer als auch Österreichische Literatur verstanden werden soll, bestätigt die Zahl der dort verzeichneten Autoren und Werke: Angeführt werden österreichische Dichter wie Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke – geboren in Prag, Robert Musil sowie Franz Kafka – auch geboren in Prag - angeführt und finden sich ebenso die Schweizer Max Frisch sowie Friedrich Dürrenmatt.308 Die Annahme, dass „Deutsche Literatur“ vielleicht als Überbegriff für „deutschsprachige Literaturen“ fungiert, bestätigt sich jedoch nicht, weil in der oben zitierten Aufzählung sehr wohl zwischen „Englische(r) und irische(r) Literatur“ unterschieden wird. Es sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass sich unter den deutschen Autoren, deren Werke zur Weltliteratur gezählt werden, keine einzige Schriftstellerin befindet.309

303 Ehrenreich, Barbara: Blood Rites. Origins and history of the passions of war. Virago Press, Great Britain. 1998. S. 13-14. (Sie rekurriert auf: Mosse, George L.: Confronting the Nation: Jewish and Western Nationalism. Hannover and London: Brandeis University Press. 1993. P. 64.). (Hervorhebung FP). 304 Lamping, Dieter/Zipfel, Frank: Was sollen Komparatisten lesen? Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. Berlin 2005. 305 Lamping, Dieter/Zipfel, Frank: Was sollen Komparatisten lesen? S. 7. 306 Lamping, Dieter/Zipfel, Frank: Was sollen Komparatisten lesen?S. 5. 307 Ebd. 308 Vgl.: Lamping, Dieter/Zipfel, Frank: Was sollen Komparatisten lesen? S. 42 und 44. 309 Vgl.: Lamping, Dieter/Zipfel, Frank: Was sollen Komparatisten lesen?S. S. 39 – 44.

42

„Vor allem die in Deutschland im 20. Jh. immer wieder aufflammende Kanondiskussion wird in Österreich gewöhnlich mit Argusaugen beobachtet, Ausgrenzungs- wie auch Vereinnahmungsprozesse werden aufmerksam registriert“310.

Um es gleich vorweg zu betonen: die evidente Subsummierung genuiner österreichischer Literatur und Schriftsteller unter den Sammelbegriff „deutsche Literatur“ darf nach der Meinung der Verfasserin nicht als bewusst willkürliche Handlung negativer Konnotation betrachtet werden. Die Gründe für eine Verortung von Namen wie Peter Handke oder Ingeborg Bachmann im Kontext „deutscher“ Literatur liegen vermutlich auch darin, dass ihre Werke bei deutschen Verlagen publiziert wurden und werden. Ingeborg Bachmann veröffentlichte bei Piper und Suhrkamp, Peter Handke vornehmlich bei Suhrkamp. Thomas Glavinic wird bei Hanser und Fischer verlegt. Österreichische Autoren werden in Deutschland durch deutsche Literaturpreise geehrt, wie z.B. Peter Handke zuletzt durch den im März 2016 verliehenen „Würth-Preis für Europäische Literatur“, „der Stiftung des schwäbischen Unternehmers Reinhold Würth“.311 Auf der Liste der österreichischen Verlage, deren Zahl sich laut Eintrag des Literaturhauses Wien auf weit über 100 Editionshäuser beläuft, befinden sich auch bekannte Häuser, wie der „Paul Zsolnay-Verlag und Deuticke Verlag“ in Wien sowie die beiden Salzburger Verlagshäuser „Otto Müller Verlag“ und der „Residenz Verlag“.312 Dennoch bevorzugen österreichische Schriftsteller der Gegenwartsliteratur offensichtlich deutsche Verlage. Die Südtiroler Autorin Sabine Gruber wird von C.H. Beck in München betreut und der ebenfalls in Tirol gebürtige Norbert Gstrein von Hanser und Suhrkamp. Felix Mitterer jedoch ediert seine Arbeiten beim Tiroler Haymon Verlag. Die Wahl für einen deutschen Verlag garantiert österreichischen Autoren eine breitere Publikumswirksamkeit respektive Rezeptionsplattform. Dass sich österreichische Literaturproduktionen damit jedoch quasi nolens volens in deutschen Kanondiskussionen und -Verortungen wiederfinden, ist verständlich, weil durch die Veröffentlichungen

310 Holzner, Johann: „Österreich“. In:“ Deutschsprachige Literaturen.“ In: „ Kanongeschichten“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 281 – 285. Hier: S. 281. 311 Vgl.: http://derstandard.at/2000033549830/Peter-Handke-mit-Preis-fuer-Europaeische-Literatur- ausgezeichnet. o.V.. Abgerufen am 26.03.2017. 312 Vgl.: http://literaturhaus.at/index.php?id=10022. Abgerufen am 26.03.2017.

43

österreichischer Werke in Deutschland und ihre Bewerbung beim Publikum vornehmlich auf deutschen Buchmessen, wie Leipzig und Frankfurt, und somit auf dem gegenüber Österreich weit größeren Marktplatz deutschsprachiger Literatur, bei deutschen Lesern, stattfindet. Der Abwanderung österreichischen Literaturguts aus ökonomischen Bestrebungen steht jedoch der akademische Diskurs über die österreichische Literatur per se gegenüber, und es bleibt die Frage, ob seit den „Fin-de-Siècle-Produktionen Ende des 19. Jahrhunderts in Wien – von Arthur Schnitzler über Joseph Roth bis Hugo von Hofmannsthal – DIE österreichische Literatur per se überhaupt noch als eigenständige Gattung rezipiert wird, und wenn ja, welches ihre Spezifika sind? Welche österreichische Gemeinsamkeit könnten zum Beispiel die Werke Ingeborg Bachmanns, Peter Handkes, Christine Lavants, Felix Mitterers, Sabine Grubers und Anita Pichlers, Franzobels, Thomas Glavinics, Wolf Haas‘, Alois Hotschnigs, Anna Mitgutschs und vieler mehr verbinden, und worin unterscheiden sie sich von den Werken genuin deutscher Autoren? Die Frage kann nicht in geographischer und nationaler Unterscheidung beantwortet werden. Literatur, egal in welcher Sprache, ist immer Welt.Literatur, also Welt in Literatur und vice versa. Sehr wohl weben Dichter in ihre Werke lokales Kolorit, wie Soziales, gesellschaftliche Spezifika, Politik und Kultur mit ein. Dennoch entsteht ein literarisch wertvoller Text immer aus sich selbst heraus. Aber er muss entdeckt und rezipiert werden, das heißt, zunächst einmal im materialen Kanon seinen Platz finden, haptisch verfügbar sein. Nur so erhält er auch die Chance, im kulturellen Gedächtnis evident zu bleiben.

2.9 Kanon und kulturelles Gedächtnis Aleida Assmann schreibt in ihrem Beitrag „Kanon und Kanonisierung im Spiegel des kulturellen Gedächtnisses“:313 Das Verfahren, das wir ‚Kanonisierung‘ nennen, ist durch drei Merkmale ausgezeichnet: Auswahl, Wert und Dauer. Auswahl setzt Entscheidungen voraus, die immer auch mit Machtkämpfen verbunden sind. Das zweite Merkmal ist die Wertzuschreibung; Kanonisierung bedeutet ‚Heiligung‘, ob es sich dabei um religiöse Texte, Personen oder Kunstwerke handelt. Kanon bedeutet drittens:

313 Assmann, Aleida: „Kanon und Kanonisierung im Spiegel des kulturellen Gedächtnisses“ (S. 80 – S. 82). In: Assmann, Aleida:„Theorien des kulturellen Gedächtnisses“. In: „Literaturwissenschaftliche Kanontheorien und Modelle der Kanonbildung“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 77 – S. 84. Hier: S. 81. (Hervorhebung FP).

44

dauerhafter Bestand, denn die anhaltende Geltung des Kanonisierten ist das angestrebte Ziel des Prozesses. Kanonische Texte manifestieren sich ferner dadurch, dass sie ein Schrifttum kommentierender Meta-Texte hervorbringen. […]314

Genau diese Beschreibung Aleida Assmanns eröffnet dem Literaturwissenschaftler die Möglichkeit, ort- und zeitzentrierte Texte aus ihrem engen Raumkorsett herauszuheben und in einem vor allem übernationalen Kontext zu betrachten. Gleichzeitig legitimiert sie einmal mehr den hier angestrengten Vergleich William Shakespeares mit Franz Kranewitter und vice versa. Fiktive literarische Landschaften in Romanen, Dramen, Gedichten gegen Ende des 20. und gegenwärtig im 21. Jahrhundert, können sich von Verpolitisierung, von der die Literaturproduktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im gesamten deutschsprachigen Literaturraum vereinnahmt wurde und immer noch wird, befreien, wenn sie es wollen, weil gegenwärtig wieder „frei erfundene Geschichten erzählt“ werden dürfen. Die zeitgenössischen Fabeln jedoch, wie z.B. Sabine Grubers neuestes Werk Daldossi oder Das Leben des Augenblicks (C.H. Beck 2016) oder Norbert Gstreins gleichfalls 2016 (bei C.Hanser) erschienener Roman In der freien Welt zeigen anderes. Für die Welt.Literatur der Gegenwart kann daher die Frage in den Raum gestellt werden, ob außerhalb von Lyrik überhaupt noch unpolitisches Schreiben passiert? Die Medien- und Theorienpluralität des 21. Jahrhunderts läuft Gefahr, dass weniger in die Tiefe, als viel mehr in die Breite geforscht wird. Aber sie birgt gleichzeitig das Potential in sich, im Fundus des kulturellen Gedächtnisses Bestehendes neu zu entdecken, es zu vermitteln und dadurch zu bewahren. Das kulturelle Gedächtnis kennt zwei Modelle des Bewahrens, das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis. Die Vergangenheit wird in den Institutionen des Bewahrens wie Museen oder Bibliotheken auf zwei sehr unterschiedliche Arten repräsentiert, zum einen als eine ‚vergangene Vergangenheit‘ und zum anderen als eine ‚präsent gehaltene Vergangenheit‘. […] Was in den Kanon bzw. das Funktionsgedächtnis gelangt, ist von empathischer Wertschätzung getragen, was sich im Archiv bzw. Speichergedächtnis befindet, ist Gegenstand historischer Neugier. In Zeiten der Kanonkrise und des Wertewandels wird eben

314 Assman, Aleida:“Kanon und Kanonisierung im Spiegel des kulturellen Gedächtnisses“. S. 81.

45

diese Trennwand durchlässig und Elemente des Archivs rücken auf in den Kanon, während umgekehrt Elemente des Kanons ins Archiv absteigen. Was bereits vergessen und ohne Spur verloren ist, kann nicht mehr ins kulturelle Gedächtnis zurückgeholt werden.315

„Gegenstand der Wiederentdeckung“ in dieser Arbeit ist das Drama des Tiroler Dichters Franz Kranewitter Um Haus und Hof und die Untersuchung möglicher Gemeinsamkeiten mit der wohl für immer im weltkulturellen Gedächtnis präsenten Tragödie William Shakespeares, Macbeth.

Wie bereits im Kapitel zur Rezeptionsästhetik ausgeführt, kann die Zeit- und Entstehungsgeschichte für die Analyse eines Werks nicht ausgeblendet werden. Im Hinblick auf die Interaktion zwischen Autor, Werk und Leser innerhalb des Rezeptionsprozesses müssen daher vor einem Vergleich der beiden dieser Arbeit zugrunde liegenden Tragödien auch ihre Entstehungsbedingungen näher beleuchtet werden.

3. Franz Kranewitter (1860 – 1938) Im November 1932 erschien in Innsbruck der Band Franz Kranewitter. Gesammelte Werke.316 Ursprünglich war eine dreiteilige Werkausgabe geplant, worauf aus wirtschaftlichen Gründen verzichtet werden musste. Die Adolf-Pichler-Gemeinde hatte versprochen, Franz Kranewitters Werke zu dessen 70. Geburtstag zu publizieren. Hans Lederer als Vertreter der Herausgeberin spricht im Vorwort die schwierige gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage jener Jahre explizit an: Es erfüllt sie (die Adolf-Pichler-Gemeinde als Herausgeberin) mit stolzer Freude, daß es ihr trotz der Ungunst der Wirtschaftslage möglich ist, ihr Versprechen hiermit einzulösen, weil gerade wegen der würgenden Not der Zeit der Wert des geistigen Schaffens mehr denn je betont werden muß, Kulturgüter bewahrt und späteren

315 Assmann, Aleida: „Zwischen Kanon und Archiv – kulturelle Überlieferung zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis“. In: Assman, Aleida: „Theorien des kulturellen Gedächtnisses“. In: „Deskriptive Kanontheorien“. In: „Literaturwissenschaftliche Kanontheorien und Modelle der Kanonbildung“. In: Rippl, Gabriele. Winko, Simone: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 82-83. Hier: S. 83. (Hervorhebung FP) 316 Vgl.: Adolf-Pichler-Gemeinde in Innsbruck (Hrsg.): Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Hans Lederer und mit einer Selbstbiographie des Dichters. Im Verlag „Das Bergland-Buch“. Deutsche Vereins-Druckerei A.G. Graz.Wien.Leipzig.Berlin. 1933.

46

Geschlechtern überliefert werden sollen, sondern weil sie damit auch einem der besten Söhne des Landes im Gebirge den Weg zu seinem Volke zu ebnen meint.317

3.1 Autobiographisches In den autobiographischen Notizen „Aus meinem Leben“318 zieht der 72-jährige Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter auf vierunddreißig Seiten Bilanz über sein Leben und sein Werk und erlaubt darin Einblick in seine persönliche Sicht auf die Vergangenheit. Diese „Selbstbiographie“319 bedeutet Erinnerung und Abrechnung zugleich. Sein persön- liches Lebensprogramm spiegelt sich im Hebbel-Zitat wider, das er seinen autobiographischen Notizen voranstellt: „Was einer werden kann, das ist er schon.“320 Das Zitat verweist auf vorgegebene und hingenommene Grenzen, ohne die Option, diese zu überschreiten oder aus ihnen auszubrechen, anzudenken. Er berichtet von einer Kindheit in einem Dorf, das bessere Zeiten gesehen hatte: Wohlhabend einst und volkreich zur lustigen Knappen- und Fuhrmannszeit, gefüllt mit Wirtshäusern, Kramläden und tragenden Rossen. Nun aber zur Zeit meiner Geburt schon seit vielen Jahrzehnten durch die Zollschranken von Deutschland abgeriegelt, durch die Eisenbahn, die meilenfern vorüberzieht, um seinen Verdienst gebracht, von seinem Wohlstand herabgekommen, pflegelos, ja verarmt. […] Kein Sang erschallt mehr, und kein Juchschrei, […] ja Fröhlichkeit und munteres Wesen gilt fast schon als verrucht. Dafür ist ein anderes aus der Grundsuppe des allgemeinen Elends emporgesproßt: der Neid gegen den Nachbarn und eine bitterböse Zunge. […]321 Diese Kindheits-Wahrnehmungen bieten u.a. den Stoff, aus dem er später seine Dramen weben wird. Gleichzeitig beschreibt er auch eine glückliche Kindheit in großer Verbundenheit mit der Heimat Tirol und der Natur: Was gab es da trotz allem nicht für lauschige Winkel, Stiegen und Treppen, prächtige Höfe zum Versteckenspiel. […] Dazu die duftenden Gärtlein mit allen den Bauernblumen […]. Und wieder Anger waren da hinter den Häusern voll uralter Pflaumen-, Apfel- und Bergamottbirnbäume, deren Früchte wir, wenn die Leute auf

317 Lederer, Hans: „Vorwort“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 9. 318 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 11 – 45. 319 Vgl.: Adolf-Pichler-Gemeinde in Innsbruck (Hrsg.):Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 3. 320 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 11. 321 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. S. 12.

47

dem Felde, mit stockendem Herzschlag zwar, aber nur um so gieriger stehlen und naschen konnten. […].322

Kranewitters Eltern waren Zolleinnehmer und Bauern, sein Großvater hatte „die Weberei und Spinnerei Nassereith“323 gegründet, die der Sohn jedoch wegen der „Waghalsigkeit und Untreue eines Schwagers“324 aufgeben musste, genauso wie das neue Geschäftshaus.325 In der Wohnstube des alten Elternhauses, „das seit zwei Jahrhunderten im Besitz der Familie war“326 lässt er sich von der Großmutter „Sagen von Zauberern und Hexenmeistern“327 und „die Geschichte der Starkenberger Ritter“328 erzählen.

Franz Kranewitter wurde am 18.12.1860329 geboren. Nach der Grundschule besuchte er das „Privatinstitut des Carl von Brentano in Nassereith“330, wo er eine umfassende humanistische Bildung erfuhr. „Er studierte dort Deutsch, Griechisch, Italienisch und Französisch, Naturlehre, Erdkunde, Weltgeschichte und Religion.“331 Von 1872 bis 1873 besuchte er das Franziskanergymnasium in Bozen, ging danach nach Hall und 1875 ans Gymnasium in Innsbruck, wo er schließlich auch maturierte.332 Kranewitter schreibt über die Innsbrucker Schul- und Studienzeit von Querelen mit dem Lateinlehrer,333 der Erkenntnis: „Nicht Fachgelehrter, Germanist, will er ja werden, wie es in den Hörsälen Zweck aller Übung ist, denn der Alp, der darin lauert, liegt ihm noch vom Gymnasium her schwer auf der Brust“334, und von den Vorlesungen, die er so gerne besucht hätte, wozu ihm aber das Geld fehlte335 und weil, „um sie zu belegen, [wie] er zu

322 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 13. 323 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 33. 324 Ebd. 325 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Haymon Verlag. Innsbruck. 1985. S. 18. 326 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 18 327 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 15. 328 Ebd. 329 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 18. Kranewitter selbst nennt in seinen autobiographischen Notizen den 17.12.1860. (S. 11). 330 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 18. 331Ebd. 332 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 19. 333 Vgl.: Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 28. 334 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 31. 335 Vgl.: Ebd.

48 weltunkundig und von Natur aus zu unschmiegsam [ist] gewesen sei, um bei den Professoren vorzusprechen und ihre Gunst sich zu erschmeicheln.“336 Und so verbringt der Student seine Zeit in den Lesesälen der Universitätsbibliothek.337 Kranewitter wurde bereits im „ersten Semester, im Winter 1882/83, […] in den Akademischen Germanisten-Verein aufgenommen […]; in diesem Kreis las er auch seine ersten Gedichte338“

3.2 Die literarische Landschaft Tirols um 1900 Den „Erwartungshorizont“339 der tirolischen Leser gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfüllten die Erzählungen des Priesters Joseph Praxmarer (1820-1883)340, wie z.B. „Aus den Flegel- in die Mannesjahre“341, erschienen 1869342. Es ist die Geschichte der drei Söhne des Nuiterbauern343, für deren Ausbildung die gesamte Familie aufkommt. Das Schicksal der Schwestern wird nicht thematisiert.344 Das Programm Joseph Praxmarers‘ Literatur befürwortete die konservative kaiser- und kirchentreue, ultramontanistische Linie sowie „den Sieg der monarchisch-konservativen Kräfte, den Neoabsolutismus“345, über die revolutionären Kräfte von 1848. Alles sollte bleiben wie es war. Das „Tiroler Dichterbuch“346 unterstützte diese konservative Linie. Die Intention des „Herausgeber(s) Ambros Mayr“347 war die chronologische Sammlung tirolischer Literatur „von den Anfängen bis zur Gegenwart“348 ein Kanon, dessen Autoren und Werke im Dienste von

336 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. S. 31. 337 Vgl.: Ebd. 338 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 19. 339 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 20. 340 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 23. 341 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 20- 21. 342 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 21. 343 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 23. 344 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 20- 24. 345 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 22. 346 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 24. 347 Ebd. 348 Ebd.

49

„Gott, Kaiser und Vaterland“349 agierten. Johann Holzner fasst die Atmosphäre der literarischen Landschaft Tirols in den 1880er Jahren – in einer Analyse des Gedichts „Aus den Liedern eines Einsiedlers350“, das weiter unten zitiert wird - zusammen: Der Dichter gilt als Priester, als Glaubensbote, dessen Botschaft keine Auseinandersetzung, sondern ausschließlich identifizierende Lektüre verträgt. Jede Form der Polemik, jedes unangepaßte Verhalten ist aus dem Bereich der Kunst zu verbannen.- Indem das lyrische Ich [dieses Gedichtes] unterstellt, eine allgemein gültige Auffassung zu äußern, droht es zugleich jedem Schriftsteller, der sich von der hier vorgetragenen Haltung distanziert, er könnte in eine ausweglose Außenseiterposition geraten.351

Verfasser gegenständlichen Gedichtes, das im Dichterbuch erschien, war Ignaz Vinzenz Zingerle, Inhaber der „Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Innsbruck“: 352

Aus den Liedern eines Einsiedlers

Laßt die altverehrten Heiligen Ungestört auf ihren Malen, Doch wir wollen Säulen setzen Unsern geistigen Idealen.

Gleiches Recht für alle Priester, Die das Gute, Schöne pflegten, Die den Samen der Veredlung In das Herz des Menschen legten,

Mochten sie als Glaubensboten Durch die wilde Welt einst schreiten, Mögen sie mit Kunst und Liedern Durch das Leben uns begleiten.353

349 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 25. 350 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 26 351 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 26. 352 Ebd. 353 Ebd.

50

Dieser kurze Blick, im Kreuzreim, auf die literarische Landschaft, die den jungen Kranewitter in Innsbruck Ende des 19. Jahrhunderts umgab, skizziert beinahe reliefartig, den steinigen Weg, der den Tiroler Dramatiker in spe erwarten sollte. Der Konflikt erscheint aus heutiger Sicht vorprogrammiert.

Wie oben erwähnt, war Franz Kranewitter mit seiner Heimat stark verbunden und gleichzeitig in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen354. Er und seine Kommilitonen im Akademischen Germanisten-Verein diskutierten „Neuerscheinungen“ und „Klassiker“, die Dichter „des Sturm und Drang“ sowie „Grillparzer“ und „Uhland“ „und insbesondere über politische Lyrik: Anastasius Grün […]“355 und andere. Seine autobiographischen Aufzeichnungen „Aus meinem Leben“ erscheinen wie ein intertextueller Teppich. Darin rekurriert er sowohl implizit als auch explizit auf Schiller Die Räuber (S. 27), auf Herodot (S. 29), Goethe (S. 29) und Uhland (S. 33) sowie auf Shakespeare (S. 37) und Cervantes (S. 35).356

3.3 Erste Veröffentlichungen und ihre Rezeption Es überrascht daher nicht, dass sein Gedicht „Luther“ – das in der Gedichtsammlung Lyrische Fresken, der ersten Publikation Kranewitters, veröffentlicht im Jahr „1888“, erschien, wenig Akzeptanz und noch weniger positive Rezensionen erntete.357 Er hatte zwar die gängige Versform, den halben Kreuzreim oder unterbrochenen Reim eingehalten, sich jedoch durch die Wahl des Titels und des Inhalts beinahe schon Brecht’scher Verfremdungstechniken bedient. Die Verbreitung des Protestantismus war in Tirol bis 1875 erfolgreich verhindert worden.358 „Daß Kranewitter die Ausbreitung des Protestantismus in seinem Gedicht verklärte, mußte aus der Sicht der Konservativen als aggressive Anfechtung bewertet werden.“359 Es sei hier – als Gegenüberstellung zur seinerzeit erwünschten Lyrik– zitiert:

354 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 18. 355 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 19. 356 Vgl.: Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 11 – 45. 357 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 28. 358 Vgl.: Ebd. 359 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 28.

51

Luther

Die Nacht saß schwarz und schaurig Auf Wolkenhügeln da. Ein riesengroßer Adler, Der stumm zur Erde sah.

Zu Wittenberg im Kloster That weit sich auf das Thor: Ein Mönch mit ernsten Zügen Trat sinnend d’raus hervor.

Er lenkte seine Schritte Zum Fürstenschloß hinan Und schlug dort seine Thesen Am Kirchportale an.

Da kaum am ersten Nagel Noch lose hieng das Blatt, Durchfuhr ein dumpfes Beben Die Kirchen in der Stadt.

Und lauter, immer lauter Erklang die stille Nacht, Daß d’rob gar mancher Schläfer Aus seinem Traum erwacht.

Und weiter scholl’s und weiter, Bis wo die Stadt Konstanz Im Bodensee sich spiegelt Mit ihrem Mauerkranz.

Dort stieg ein mächtig‘ Wesen Aus seinem Grab heraus Und streckte wie zum Beten Die Feuerarme aus.

Und sieh‘! die Flammen wuchsen Zum Himmel hoch empor, Und wie mit einemmale Zerriß sein Wolkenflor:

Ring’s lagen Berg und Thäler Von Maienlicht erhellt,

52

Und wie ein Lenzeswehen Zog’s hin durch alle Welt.360

Im Zuge der Buchbesprechung zu Lyrische Fresken attestierten die „liberalen ‚Innsbrucker Nachrichten‘ vom 07.01.1889 Kranewitters Gedicht ‚Luther‘ ‚Ideen, große ernste, würdige Ideen‘, […] kritisierten aber gleichzeitig die Nachahmung der ‚trivialen‘ Verse Heines.“361 Zu seinen ersten schriftstellerischen Versuchen, die Kranewitter der Öffentlichkeit übergab, zählt eine Studie über den Tiroler Dichter „Hermann v. Gilm“.362 Darin offenbart er implizit seine persönliche Theorie über die Rolle der Literatur sowie den darin enthaltenen Anteil an Lebenswirklichkeit und ihre Wirkung in der Gesellschaft : „Literatur soll in seinem Verständnis nicht glorifizieren, sondern irritieren, ein kritisches Korrektiv zur gesellschaftlichen Realität bedeuten.“363 Mit diesem Credo distanzierte sich Kranewitter von einem bekannten und beliebten Dramatiker seiner Zeit, von Ludwig Anzengruber, dessen Autorintention „moralisierende und […] enthistorisierende Tendenzen“364 verfolgte und damit „die Beruhigung des Lesers; der Leser kann am Ende ungerührt bleiben, weil er sich nicht betroffen fühlen muß.“365 Für Franz Kranewitter waren es die Dichter Hermann von Gilm und sein Mentor Adolf Pichler, der auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, die im 19. Jahrhundert Tiroler und Deutsches Literaturschaffen wieder miteinander in Verbindung brachten.366 Mit dem zweiten größeren Werk, dem 1890 in Leipzig herausgegebenen Epos Kulturkampf ,367 reagierte er – wenn auch – nicht halbherzig, sondern halbmutig - auf den von der „katholisch-konservativen Partei des Landes“368 1861 eröffneten „Kultur- und

360 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 27 – 28. 361 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 28 und: Anm. 67: S. 293. 362 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 30 und 31. 363 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 31. (Hervorhebung FP) 364 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 61. 365 Ebd. Holzner bezieht sich an dieser Stelle auf einen Vergleich Hans Lederers zwischen Um Haus und Hof und Anzengrubers Der Sternsteinhof . 366 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 30. 367 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 31. 368 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 34.

53

Verfassungskampf, der sich über dreißig Jahre hinziehen sollte“.369 Das politisch konservative und klerikale Lager fürchtete um seine Autonomie.370 Das liberale Lager, „dem Intellektuelle, das Bürgertum in den Städten und zum Teil der Adel angehörten“371, konnte sich nicht durchsetzen.372

3.4 Der Tiroler Kulturkampf Dieser „Kulturkampf“ beeinflusste die gesamte politische Landschaft Tirols und die Arbeitsbedingungen der Schriftsteller des Landes, so auch jene Franz Kranewitters, nachhaltig. Er erstreckte sich über drei Phasen:373 1. Von 1866 – 1875 war es unter Billigung der Wiener Regierung in Tirol untersagt, protestantische Gemeinden zu gründen. Gleichzeitig wurde der Kirche die Aufsicht über die Schulen entzogen und das Ehegesetz wieder der staatlichen Gerichtsbarkeit unterstellt. Beide Maßnahmen „wurden von der Kirche in Tirol als ungültig betrachtet“ und der „Ausbau des Schulwesens“ sowie die „Erweiterung des Lehrstoffes“ massiv behindert: „Je ausgebildeter das Schulwesen, desto mehr Verbrecher“ (!) lautete die Begründung.374 2. 1875 Das Bollwerk des Katholizismus stürzte ein. „In Innsbruck und Meran durften die Protestanten eigene Gemeinden gründen.“ Die Konservativen verloren an Macht.375 3. In der dritten Phase des Kulturkampfes, die von 1880 bis 1892 dauerte, wurden wieder einige Ämter mit klerikalen Vertretern besetzt und der „Einfluß der Liberalen“ zurückgedrängt. Zensorische Maßnahmen erfolgten mittels einer

369 Ebd. und: Johann Holzner führt folgende Ursachen für den Kulturkamp an: Ende des Neoabsolutismus. Beginn des parlamentarischen Lebens – nach dem Oktoberdiplom von 1860, dem Februarpatent 1861, und dem Wiener Zentralismus. Die katholisch-konservative Partei fürchtete um die Glaubenseinheit des Landes sowie um die politische Eigenständigkeit. 370 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 34. 371 Ebd. 372 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 34. 373 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 34 – 35. 374 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 35. 375 Ebd.

54

„durchgreifenden Revision“ der Schulbibliotheken.376 „Bücher über Maria Theresia und Joseph II., die Werke Schillers, die Märchen der Gebrüder Grimm und andere sittlich bedenkliche Produkte fielen der Zensur zum Opfer. Mit der Annahme des tirolischen Landesschulgesetzes erhielten die Klerikalen überall wieder das Übergewicht.“377

Kranewitters Epos Kulturkampf 378 spiegelt den Zwiespalt wider in dem sich nicht nur seine Heimat, sondern auch der Autor selbst befanden. Zum Zwecke der Einbettung des sozialpolitischen Gefüges der 1890er Jahre in den Gesamtkontext der Analyse der Arbeitsbedingungen Franz Kranewitters soll auch dieses Jugendwerk in groben Zügen skizziert werden: Ein „Dorf im Oberinntal“379 ist der Schauplatz des Geschehens. Als Hauptprotagonist oder besser – Bösewicht – setzt Kranewitter einen Priester ein, der mit eiserner Hand das Zepter über die kirchliche und staatliche Gerichtsbarkeit hält. „Atheistische Ideen“380 aus „dem neuen deutschen Reich“381 will er ausmerzen. Mit seinem „Fanatismus“382 spaltet er das ganze Dorf und treibt seinen Gegenspieler, den liberalen Gemeinde-Rath samt Familie beinahe in den Ruin.383 Quasi als deus ex machina wird ein „hoch betagter, ehrwürdiger Priester“384 eingesetzt, der zwischen den „feindlichen Parteien“385 vermitteln soll. Der ultramontanistische Priester lenkt am Ende ein, ist zu einem „Kompromiss“386 bereit. Mit seinem Text Kulturkampf löst Franz Kranewitter einerseits bei den Journalisten und Rezensenten Befremden aus.387 Andererseits gilt er in seiner Heimat als „unbequemer

376 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 35. 377 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 35. 378 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S.31 – S. 34. 379 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S.31. 380 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 32. 381 Ebd. 382 Vgl.: Ebd. 383 Ebd. 384 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 32. 385 Ebd. 386 Ebd. 387 Vgl.: Thaler, Karl v.: „Dichtungen aus Deutsch-Österreich“. In: Neue Freie Presse: 12.04.1892. Zitiert In: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 33 und S. 293, Anm. 74.

55

Kritiker“388 und literarische persona non grata.389 Quasi zwischen zwei Stühlen wird er bis in die 1910er Jahre sitzen, denn erst dann sollen seine Stücke, auch durch die Aufführungen der Exl-Bühne, akzeptiert und positiv rezipiert werden.390

3.5 Franz Kranewitters Debüt als Dramatiker Drei Jahre nach dem Ende des Tiroler Kulturkampfes schrieb Franz Kranewitter mit knapp dreißig Jahren, sein erstes Drama: Um Haus und Hof. Die Uraufführung fand „am 4. Jänner 1895 im Innsbrucker Stadttheater“391 statt. Johann Holzner verweist auf zwei für die Erschließung dieser Tragödie wichtige Eckpunkte: Die mögliche Verbindung zu Shakespeares Macbeth (um 1606)392 und den Einfluss der literarischen Strömung des Naturalismus, der, aus Deutschland kommend, auch in Innsbruck rezipiert und für literarische Produktionen angewandt wurde.393 Die holzschnittartige naturalistische Wiedergabe von Realität und Hoffnungslosigkeit findet sich z.B. bereits in Franz Kranewitters 1896 publizierter Erzählung Schnaps,394 die, so Johann Holzner – obwohl später veröffentlicht – als Entwurf für die Tragödie Um Haus und Hof gelten kann.395 „[…] Stark beeindruckt vom programmatischen Erneuerungsanspruch des Naturalismus, vom Kampf gegen alles Stagnierende oder Erstarrte, erhebt auch Kranewitter das ‚Postulat der Wahrheit‘ zum obersten Prinzip seiner literarischen Bemühungen; […]“396 Die Welt so abbilden, wie sie ist, diese Forderung entspricht nicht dem klassischen Dramenmodell nach antiker Vorgabe. Wenn auch eine Gegenüberstellung zwischen dem Elisabethanischen Theater und dem naturalistischen nicht umgangen werden kann, wird in der vorliegenden Arbeit nicht der

388 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S.35. 389 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 35. 390 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 161. 391 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 46. 392 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 46. 393 Vgl.: Ebd. 394 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S.65 – S. 68 f.. 395 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 65. 396 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 68.

56 naturalistische Strang per se weiterverfolgt, sondern – in einem Welt.Literarischen Kontext – nach möglichen Parallelen und Schnittmengen zwischen Franz Kranewitters Um Haus und Hof und William Shakespeares Macbeth, in Bezug auf ihre thematischen sowie motivischen, im Kontext mit den jeweiligen Rezeptionen, gesucht. Die Intention dieser Arbeit verfolgt das Herausheben der Tragödie Kranewitters aus ihrem eng gesteckten Orts- und Zeitrahmen, zum Zwecke eines literaturwissenschaftlichen Vergleichs mit Macbeth. Dazu wird zunächst Franz Kranewitters 1895 entstandene Tragödie in vier Aufzügen untersucht.

3.6 Um Haus und Hof. Tragödie in vier Aufzügen

Abb. 1 . Abb. 2

Abb. 3

Abb.1 – Abb. 3: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. Volksstück in vier Aufzügen. Georg Heinrich Meyer, Leipzig. 1899. :397

397Vgl. auch: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 51.

57

Ort der Handlung: Ein Dorf in Tirol. Zeit: Gegenwart. Zwischen dem ersten und zweiten, dem zweiten und dritten Aufzuge liegt ein Zeitraum von mehreren Monaten.398

3.6.1 Die Handlung: Lena Lotter und ihr Bruder leben im Armenhaus, Ihr Bruder ging früher einer Arbeit als Bauarbeiter nach. Nach einem Arbeitsunfall kann er seine Tätigkeit nicht mehr ausüben und wird vom Arbeitgeber entlassen. Er lebt von Almosen und Betteleien, und er ist Alkoholiker. Lotter war auch schon im Gefängnis, weil er Essen gestohlen hatte. Lena verdient sich ein Zubrot mit Handarbeiten für die Bauern im Dorf. Seit zehn Jahren ist sie mit Hies Klotz, dem jüngeren Sohn eines angesehenen Bauernhofs befreundet. Außer Kathl, einem jungen Mädchen aus dem Dorf, besitzt Lena keine Freunde. Sie möchte endlich heiraten. Ihr ehrgeiziges Ziel ist es, Klotzenbäuerin zu werden und aus dem Hof den schönsten des Dorfes zu machen. Alleine der Altbauer will das Gut nicht an seinen jüngeren Sohn übergeben. Franz, der Erstgeborene, ging vor zehn Jahren nach einem Streit in die weite Welt. Die Familie hat schon lange nichts mehr von ihm gehört. Er gilt als verschollen. Die Arbeiten am Hof verrichten der Bauer Klotz und Hies. Die Beziehung zwischen Lena und Hies ist der Gemeinde ein Dorn im Auge. Zudem distanziert sich Lena von den Mitbewohnern im Armenhaus, was ihr die alte Ursch sehr übel nimmt. Sie will Lena eine Lektion erteilen und engagiert eine Gruppe männlicher Dorfbewohner, die Lena ein Ständchen in Form einer „Katzn-Musik“ darbieten, womit ihr endgültiger Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft besiegelt ist. Lena steht nun allein mit ihrem Bestreben, ihr soziales Umfeld zu verlassen und mit ihrer Liebe zu Hies, der sich nicht gegen seinen Vater durchzusetzen vermag. Mit dem Rücken zur Wand verlangt sie von Hies eine Entscheidung und gibt sich als Belohnung ihm hin. Hies lässt sich dazu überreden, den Vater mittels eines vinkulierten Kaufvertrages zur Hofübergabe zu zwingen. Einige Monate vergehen. Lena ist endlich Bäuerin am Klotzenhof. Der Schwiegervater lebt nicht mehr im gemeinsamen Haushalt. Eines Abends kehrt der als verschollen geglaubte Bruder Franz zurück. Er bekundet noch am selben Abend sein Vorhaben, den Hof vom Vater zu übernehmen. Als er durch Zufall eine Unterhaltung zwischen Lotter und dem Ehepaar mithört, erfährt er, wie es wirklich um den Hof, den Vater und sein Erbe steht. Es kommt zum Streit. Hies erschlägt seinen Bruder mit der Axt. Seine Leiche wird vor dem Haus,

398 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 3. („Gegenwart“ ist das Jahr 1895. Anm. FP.)

58 neben dem alten verfallenen Ziehbrunnen, vergraben. Am folgenden Tag erscheint der Klotzenbauer, der von Lotter erfuhr, dass sein Sohn Franz zurückgekehrt sei. Als auch noch der Pfarrer zu Besuch kommt, um zwischen den verfeindeten Familienmitgliedern zu vermitteln und davon spricht, dass Gott alles verzeihe, sogar Mord, bricht Hies zusammen und gesteht seine Tat. Lena sieht den einzigen Ausweg im Suizid und stürzt sich und ihr ungeborenes Kind in den Brunnen.

3.6.2 Die einzelnen Aufzüge Erster Aufzug: (In Lenas Kammer im Armenhaus – Spital) Lotter sucht seine Schwester Lena auf, um sich wieder einmal Geld für Schnaps von ihr zu fordern. Sie weigert sich, es entsteht ein Streit zwischen den beiden Geschwistern. Plötzlich ist von der Straße Lärm zu hören. Eine Gruppe Vermummter steht vor Lenas Fenster und veranstaltet eine „Katz’nmusik“399. In der Regieanweisung steht: „Man hört wildes Gejohle, untermischt mit den Tönen aus Bockshörnern, Gießkannen u.s.w.“400 Die vier Gesellen nennen sich Rothbart, Herzog von Sachsen, Herzog von Schwaben und Herzog von Bayern.401 Zwei Vermummte dringen in Lenas Kammer ein und ziehen sie hinaus auf die Straße wo sie mehrere Spottlieder auf sie und Hies singen: Herzog von Sachsen: 402 A klein verliebt’s Paarl, A Hahn und a Henn, Was gebt’s mir, ihr Graf’n, Wenn i sie enk nenn. Die geh’n leicht zehn Jahr schon’ Mit’n heirat’n um, Vor lauter lang Wart’n Sind d’Füß ihnen krumm. Die Lena wird tscherket Und triefet dazue Und schreit sich fast heiser: „Wann nimmst mi denn, Bua?!“

In der Zwischenzeit durchsucht Lotter Lenas Zimmer, bis er das Geld findet. Als Lena, gedemütigt und zornig, in ihre Kammer zurückkehrt, bemerkt sie den Diebstahl und fordert vom Bruder ihr Geld zurück:

399 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 15. 400 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 7. 401 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 8. 402Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 11.

59

Lena: Mein Geld, auf der Stell‘ mein Geld her, oder bei Gott i zeig di an. Ohne Barmherzigkeit an!403

Lotter macht sich mit dem Geld auf und davon. In die Kammer tritt die Auftraggeberin der „Katz’nmusik“ mit weiteren Armenhausbewohnern ein. Sie wirft Lena erneut ihren Hochmut vor:

Ursch: […] Hat’s g’schmeckt, hat’s g’schmeckt, du stolze, hochnasige Dirn. Gelt, das war ein Süpp’l, das man dir einbrockt. Gut g’schmalz’n. Hi. Wie mi dös freut. Ganz unbändig freut’s mi. Der Herrgott is a Mannl, der giebt no was auf d’alt Ursch und ihr Bet’n. Jetzt wird’s wohl aus sein mit dein Gethue!

Hies Klotz erscheint. Er und Lena werden nochmals von Ursch und ihren Begleitern verspottet und beschimpft, bis Hies die Gesellschaft kurzerhand hinauswirft. Lena verlangt von Hies eine Entscheidung, aber Hies ist weiterhin zögerlich und will warten. Lena: Wart’n und wieder wart’n und alleweil wart’n. Wie lang no? Bis der Alte einmal abfährt, bis der andre Bruder heimkommt und uns den Biss’n vom Mund schnappt. Wart’n bis wir alt sind. Und das sagst du mir. Ist das dein ganzer Trost. Kannst nit einmal mehr lüg’n!404

Hies: Aber um’s Himmelswill’n, was soll i denn. I sieh kein Ausweg. I kann nit anders.405 Lena: Kannst nit anders. Du kannst nit anders. I sag dir, wo Barthlemä Most holt. Weil’s dir am Will’n fehlt – am fest’n ernsthaft’n Will’n. Weil mi zum Best’n hast.406

Und am Ende der Auseinandersetzung sagt Lena: […] Es ist etwas in mir, das schreit auf bäumt sich und steigt mir siedend heiß ins G’sicht. So war i leb, wenn mi sitz’n läß’st, wenn i nit Bäurin werd auf’n Klotz’hof, i bring di um und mi.407

Mitten in diesen Konflikt platzt Kathl, Lenas einzige Freundin, herein, um ihr mitzuteilen, dass der Vater jeglichen weiteren Umgang mit ihr verboten hat. Kathl: Er hat g’sagt, ein Mädl, dem man Katz’nmusik g’macht hab - -408 Lena: I will dir draufhelf’n. Sei z’schlecht zu deiner Freundin. Nit wahr, so hat er g’sagt.409

403Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 14. (Hervorhebung FP) 404 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 20-21. 405 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 21. 406 Ebd. (Hervorhebung FP) 407 Ebd. 408 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 22. 409 Ebd.

60

[…]

Kathl: Du wirst mir’s nit nachtrag’n. Man muß halt, a wenn’s geg’n sein Will’n ist – damit die Kirch im Dorf bleibt.410

Lena: Natürlich! Selbstverständlich muß man. Geh nur ruhig heim und sei sicher, mit kein Blick wird i die mehr beleidig’n. I hab di nie kennt. ‚s wär zu arg: Die Grusch’n=Kathl und eine, der man Katz’nmusik g’macht hat. Daß Gott erbarm. Was müßt’n sich die Leut denk’n. Die Lotter Lena, die ein Liebhaber hat, off’n und frei, gar am hellicht’n Tag, indes er zu euch kommt bei Nacht, bei Sturm und Wind wie ein Dieb. Die Schlechtigkeit. Natürlich i muß g’steinigt werd’n, weil i off’n und ehrlich bin, aber ihr, die ihr kein Haar besser seid als i, aber heuchelt und scheinheilig thut, ihr bekommt den Kranz für Tugend und Sittlichkeit. Lach’n könnt i, lach’n, hell auflach’n, wenn’s mir nit gar z’wehthät.411

Die Katzenmusik hat ihre Wirkung vollbracht. Nach dem Auftritt Kathls erscheint der Dorfvorsteher und fordert die beiden auf, ihr Verhältnis sofort zu beenden, sonst würden Lena und ihr Bruder ihren Platz im Armenhaus verlieren. Lena besteht darauf, dass nun sofort geheiratet wird. Mit weiblicher Verführungskraft gelingt es ihr, Hies zum Handeln zu bewegen. Der Winkeladvokat Gramperle verfasst einen Kaufvertrag, den zu unterschreiben der Klotzenbauer gezwungen werden soll.

Zweiter Aufzug: (In der Wohnstube des Klotz’nbauern) Mehrere Monate sind verstrichen. Hies liest nochmals den von Gramperle erstellten Kaufvertrag: Ich der endesgefertigte Klotz’nbauer vom Schildhof, übergebe hiemit bei gesunden Sinnen und vollkommenen Verstand am heutigen Tage meinem zweitgeborenen Sohne Matthias meinen Hof, samt Vieh und Fahrniss’n, beweglichen und unbeweglichen, um den Kaufpreis von 1800 Gulden, wofür ich ihm mit diesem dankend quittiere Schildhof, am 18. Juni 1898. Josef Klotz.412

Hies: Der Vater wird nicht herauswoll’n mit der Unterschrift, so viel ist g’wiß. Was nachher. G’macht muß die Sach‘ werd’n, und das gleich. Für’s erste hab i’s der Lena versproch’n, und für’s zweite – wenn nur das nicht g’wes’n wäre – setzt uns der Teuf’l sein Ei in die Wirtschaft. Die Lena kommt in’s G’red und dann ist’s vorbei.413

410 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 23. (Hervorhebung FP) 411 Ebd. (Hervorhebung FP). 412 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 33. 413 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 35.

61

Als der Klotzenbauer nach Hause kommt, bringt er seinen Nachbarn, den Sepp Zaggler, mit. Dieser sieht elend aus und erzählt, was ihm passiert sei. Er hätte seinem Sohn den Hof überschrieben, damit dieser eine Familie gründen und seine langjährige Freundin heiraten könne. Sohn und Schwiegertochter würden es ihm jedoch schlecht vergelten. Zaggler: […] Nichts ist ihnen recht, was i thue, nit wenn i geh, und nit wenn i steh! Selbst ‚s Brot hab’n’s mir versteckt. Alter Fresser heißt’s, den ganz’n Tag hast nie g’nug. Und am Tisch mit ihnen darf i schon lang nimmer. In der Kuchl wird mir ang’richt. Die Kinder grauset’n sich ja. […]414

Zagglers Schwiegertochter Anna erscheint und beschimpft ihn, er sei faul und hätte selbst keinen Pfennig mehr. Sie will ihn ins Armenhaus abschieben. Zagglers Ziehtochter Marie hört den Lärm, als sie am Hof des Klotz’nbauern vorbeigeht.

Marie: Wohin Vater? Da bleibst. Verzeiht’s Nachbar, daß i g’rad so hereinlauf zu Euch, aber i kann mi nimmer halt’n, mir dreht’s s’Herz um. (Zu Anna.) I hab di schrei’n g’hört bis hinunter zur Straß. Schamst di nit so z’red’n zu dem alt’n Mann, so z’thun mit einem, der deines Mannes Vater ist und a dein Vater. Dir wird’s nit gut geh’n auf der Welt, wenn no ein Gott im Himm’l ist und sein Gebot etwas gilt.415

Marie richtet sich an Sepp Zaggler: […] Du hast mi aufg’nommen von der Straß, hast mi lernen lass’n und hast mi aufzog’n in Ehr und Gottesfurcht. Dies kann i dir nie vergess’n, mein Leb’n lang nit. I hab zwar wenig, aber das Wenige ist dein. Und dann, Vaterle, g’hört dir wenigstens mein Herz und das ganz.416

Als der Klotzenbauer allein ist, treten Hies und Lena mit dem Kaufvertrag in der Hand in die Stube. Sie versuchen den Vater zu überreden, aber ohne Erfolg. Auch als Hies dem Vater eröffnet, dass Lena ein Kind von ihm erwartet, lässt dieser sich nicht erweichen. Er beschimpft Lena, die Auseinandersetzung eskaliert, Klotz erhebt die Hand gegen seinen Sohn. Es kommt zum Kampf, Hies obsiegt. Klotz: (Auf einmal ganz gebrochen.) Laß mi los, i unterschreib. Kein Schritt mehr weiter. Bis dahin hab i mein Vater zog’n. Herr im Himm’l du bist g’recht.417

414 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 40. 415 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 44 -45. 416 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 45. 417 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 52. (Hervorhebung FP).

62

Dritter Aufzug: (In der Wohnstube des Klotz’nbauern). Wiederum sind mehrere Monate vergangen. Man hört lange Zeit nichts als das Tosen des Windes und das Schnurren eines Spinnrades.418 Hies: Ist die Höll heut los, a so ein Wetter. Der Erdbod’n bebt, als hätt‘ er’s Fieber. Der Uhu und die Hausunk schreit, und’s Vieh gibt keine Ruh im Stall: Und horch, der Wind tost drauß’n im Kamin und reißt die Bretter weg vom Dach. Heut giebt’s ein Unglück no. Mach jetzt die Läd’n zu und wirf vom g’weiht’n Kraut in den Kamin.

Lena: A Nacht zum Graus’n. Hies: Der Mond so rot wie Blut.

In dieser Nacht kehrt Franz nach über zehn Jahren in der Fremde nach Hause zurück. Die Freude, wieder in der Heimat zu sein, ließ ihn den ganzen Weg von der Bahn zu Fuß durch den nächtlichen Wald laufen, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein. Er hält Lena zunächst für die Wirtschafterin, bis er sich an sie erinnert.

Franz: I meint fast, i sollt die kennen. Bist nit die Lotterische vom Armenhaus?419

Franz freut sich, dass er in der elterlichen Wohnstube alle Dinge so vorfindet, wie er sie vor Jahren verlassen hatte. Aber er wundert sich über den kühlen Empfang.

Auf Lenas Frage, was er nun zu tun gedenke, bekennt Franz: Franz: Das ist bald g’sagt. Als Bauer bin i fort, ein Bauer will i wieder sein und wenn’s dem Vater recht ist, übernimm i’s Gütl. […]420 Er will auch sofort den Vater begrüßen. Lena und Franz überzeugen ihn, bis zum nächsten Morgen zu warten. Der Vater sei alt und krank und schlafe schon. Die Wahrheit ist, dass er schon seit längerer Zeit nicht mehr im Hause wohnt. Endlich zieht sich Franz in seine Kammer zurück. Lena und Hies sind alleine in der Wohnkammer. Hies: Der Schreck liegt mir in Mark und Bein. Kommt der daher bei Nacht und Neb’l. I glaubt mi trifft der Schlag. Was ist jetzt z’thun.421

Die Eheleute realisieren, dass nun ihre unlautere Vorgehensweise bei der Hofübernahme ans Licht kommen wird, und Hies hält Lena vor, dass es falsch war, den Vater vom Hof zu jagen.

418 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 53. 419 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 57. 420 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 58. 421 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 61.

63

Für Lena gibt es nur eine Lösung:

Lena: Wenn er nit da wär, Hies! Hies: Wär’s freilich ‚s Beste. Doch jetzt ist er da. Lena: Und wenn man’s mach’n könnt‘, wenn’s halt ein Mitt’l gäb, als wär er gar nit da. Hies: Was red’st daher? Lena: I mein nur, Hies, i mein nur, wenn es gieng, daß er auf einmal einschlafet. Zwei, drei Tag schlafet. Gar nimmer aufwachet. Lena: Na, na brauchst keine solch’n Aug’n z’mach’n. Mir kann’s ja recht sein. In Gott’snam‘- Geh’n wir halt bett’ln, Land auf und Land ab. Ja Hies, bettlen, wenn’s no gut geht. Hies: Wenn’s gut geht – was? Lena: Und sonst ins Zuchthaus, Hies, denn wenn er’s anzeigt. Hies: I sollt ins Zuchthaus. Na, das darf nit sein, hörst, es darf nit sein. Um alles in der Welt nit. Lena: Da wär es, wenn er schlafet, do das Beste? Hies: Weib, mir graut vor dir und mir. Lena: Di schreckt’s und du tragst Hos’n? Ist das dein Mut. Hies: Ein Mord, ein Mord, na und in Ewigkeit na, das darf nit sein. Lena, denk do nach. Lena: Mord, Mord, das Wort ist häßlich und nit wahr. Nur Notwehr ist’s. Notwehr ist’s, denn wenn wer einbricht in dein Haus, schlägst ihn nit nieder? Ist’s nit dein Recht?422 Der Eheleute Schmieden finsterer Pläne wird durch das Auftauchen Lotters unterbrochen. Er ist betrunken und hält den beiden erneut ihre Machenschaften vor, mittels welcher sie sich den Hof aneignet und den Altbauern davongejagt hatten. Als Lotter endlich wieder fort ist, erscheint Franz auf der Stiege. Er hat alles mitgehört: Franz: Was hab i g’hört? Was geht da los? Betrog’n bin i und belog’n! Wo ist der Vater? Jetzt will i Rech’nschaft – auf der Stell“.423

Hies will einlenken, bietet seinem Bruder an, ihn auszuzahlen, aber Franz will davon nichts wissen. Franz: Ihr seid fertig, so, das wird sich weis’n, so wahr i leb! Wie i den Vater kenn, und übergeb’n, freiwillig übergeb’n. Nie. Ihr habt’s ihm abpreßt, abpreßt auf infame Weis‘, abpreßt mit Gewalt. Hies: So laß do red’n, Franz! Franz: Und ihn hinausg’jagt dann, natürlich, wie’s die gut’n Kinder immer thun. Do wart’s. No giebt’s ein G’richt, no giebt’s ein G’rechtigkeit, die ruf i an. Der Vater muß mit Zeug‘ sein und wär er krank im Bett, er muß heraus, heraus muß er. I prozessier‘, i prozessier und nimmt den Hof der Advokat, mir gleich, ganz gleich ist’s mir. Hies: Franz! Franz: I will nix wiss’n, brauch nix z’wiss’n. I weiß jetzt g’nug. Ins Zuchthaus müßt ihr mir, so wahr i leb, ins Zuchthaus.424

422 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 61. 423 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 68. 424 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 71.

64

Franz geht nach oben, um sich anzuziehen. Lena redet indessen auf Hies ein, fordert ihn auf, sich zu ermannen. Lena: Bist du ein Kerl? Da hast mein Schurz. Leg Weiberkleider an, setz di zum Spinnrad hin und plär aus Reu. – I oder er, entscheid di.425

Hies fleht Lehna an, bis zum nächsten Tag mit einer Entscheidung zu warten. Sie sagt, sie wolle es selbst tun, wenn er, Hies, zu feig wäre.426 Hies: Erbarm di, hab Erbarmen, du weißt nit, was du willst. Lena: Hör, Hies. (Tritt dicht an ihn heran.) Du mußt.427 Hies: I muß, sagst du. I muß. Schau mi nit so an. Weib, du bist fürchterlich. Du hast ein G’walt.428 Als Franz das Haus verlassen will, hält ihn Hies zurück. Lena holt heimlich die Axt aus dem Nebenzimmer. Die Brüder kämpfen, und Hies schlägt zu. Franz: O, was ist das! Mörder! Hilfe! (fällt.) Lena: Schlag no einmal, man könnt ihn hör’n. Hies: (Wirft sich auf ihn.) Nun bist du fertig!429

Vierter Aufzug: Am nächsten Tag.

Vor dem Bauernhaus. „Neben der Hausthür befindet sich eine hölzerne Bank. Seitwärts vom Hause ein halbverfallener unbedeckter Ziehbrunnen und nahe daran ein frisch umgegrabener Streifen Erde.“430

Hies. (Auf der hölzernen Bank neben der Hausthür.): So leer und grau. Kein Farb das Gras. Kein Licht der Himm’l. Mir ist’s, als ob i aufwacht aus ein tief’n Rausch. Dumpf der Kopf und schwer das Herz. Da drinnen nagt’s und nagt’s. So muß es sein am jüngst’n Tag. Feucht stockt die Luft und ein Still‘ und ein Dunk’l ist, und ein Angst und eine Schwere. Da fährt ein Riß durchs Firmament – blutrot – die Berg‘ erheb’n die Erd‘ fliegt auf, in weiß’n Lak’n kriecht’s heraus, es geht ein Fröstl’n durch die Knoch’n; Lena, Lena, hörst wie’s schreit, Mörder, Mörder, Brudermörder Kain!431

Hies ist schwer gezeichnet von seiner Schuld. Lena ermahnt ihn, sich zusammenzureißen. Es graut ihm davor, ins Haus zurückzukehren, wo er in der Nacht seinen Bruder erschlug.

Lena: Herrgott Mensch, wie schaust du aus. Der reine arme Sünder. Zittert der an Hand und Fuß, und hat ein‘ Blick. Mensch hätt‘ i das gedacht von dir – do jetzt ist’s z’spät. Do merk: Wenn mi in’s Unglück bringen willst, zum Teuf’l! so mußt du z’erst dran. I

425 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 74. 426 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 75. 427 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 75. 428 Ebd. 429 Ebd. 430 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 78. 431 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 79.

65

wehr mi mit Hand und Fuß. I weiß von nix. Du hast’s than, derweil i g’schlaf’n. Du lieber Mann, hör, Hies, es gilt’s Leben. Sei do gescheit und geh ins Haus. Der Bruder ist’s, wenn er di sieht, der Lump.432

Lotter erscheint. Er bemerkt die frisch aufgeworfene Erde neben dem Brunnen und treibt Lena mit seinen Fragen so lange in die Enge, bis sie nicht mehr leugnet, dass sie und Hies den Franz ermordeten. Für Lotter scheint die Rechnung aufzugehen, er hat eine unversiegbare Geldquelle – Schweigegeld – gefunden und ein Getränk, das seinen Rachedurst gegenüber Lena und der ganzen Welt, die er für sein Schicksal verantwortlich macht, stillt. Er beginnt gleich damit, Lena zu demütigen. Ein Wort von ihm, und beiden Eheleuten droht die Hinrichtung auf dem Galgen.

Lena: Sei barmherzig! Lotter: Das sagst du, die stolze Lena! Geh, sag’s no einmal.433

Den Hügel zum Haus herauf kommt der Klotzenbauer, der seinen Sohn Franz sehen will. Lotter hatte ihm verraten, dass er da sei. Nun aber sagt Lotter, er habe sich getäuscht. Wenig später erscheint der Pfarrer. Pfarrer (kommt von der rückwärtigen Seite des Hauses.): Pfarrer: Gut’n Tag, Kinder. Verzeiht, wenn i einmal einsprich auf den Klotz’nhof. Lena: Ist uns a Ehr‘. Pfarrer: Ah, der Klotznbaur und der Hies kommt auch.

Der Pfarrer will zwischen den verfeindeten Familienmitgliedern vermitteln, aber die Gräben sind zu tief. Beide Parteien bleiben unversöhnlich: Klotz: Es nützt nix, Pfarrer, nein es nützt nix. Pfarrer. Warum? Alles kann vergeb’n werd’n, jede Sünd‘, und wär sie selbst der Mord.

Da horcht Hies auf.

Hies: Was! – Was sagt Ihr, Pfarrer? Ihr sprecht vom Mord. Auch den vergäb der Herr? Lena: Hies! Pfarrer: Ja auch den, der Herr vergiebt, wenn er bereut, selbst den Vater= - den Brudermord. 434

432 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 82. 433 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 87. (Hervorhebung FP) 434 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 94.

66

Als Lena, um die Situation zu retten, dem Klotz’nbauern Versöhnung anbietet, doch jener hartnäckig ablehnt, wird noch einmal in der Tragödie der Begriff „Barmherzigkeit“ bemüht: Pfarrer: (zum Klotz’nbauern): Ihr müßt (vergeben), wenn Ihr Barmherzigkeit erlangen wollt.435

Als der Pfarrer auf den Knien den Klotzenbauer, Lena und Hies bittet, einander die Hände als Zeichen der Versöhnung zu reichen, bricht Hies zusammen. Hies: Die Hand, was will er mit der Hand. I will nit, laßt mi los. Zum Teuf’l no – Na – o i bekenn, ich hab’s ja than, das Blut erstickt mi, da, i hab den Franz erschlag’n!436

Lena versucht noch, Hies‘ Geständnis als Ausdruck geistiger Verwirrung und als Lüge hinzustellen, aber es nützt nichts mehr. Als sie merkt, dass alles verloren ist, stürzt sie sich in den Brunnen. Lena: Mein Gott, ins Zuchthaus, auf’n Galg’n, giebt’s kein Mitt’l? […] No giebt’s ein’s. […].

Sie stürzt sich und ihr ungeborenes Kind in den Brunnen.

Pfarrer: Hilfe! Lotter: Der Schafskopf bringt mi um All’s.437

3.6.3 Dramentheorie 3.6.3.1 Der Stoff Als Quelle für Kranewitters erste Tragödie können gemäß seiner autobiographischen Schilderungen unter anderem die bis ins 18. Jahrhundert geltenden literarischen Vorbilder und die noch die im 19. Jahrhundert üblichen „Chroniken […] und geschichtliche(n) Werke aller Art, Tagebücher, Biographien, Autobiographisches […]“438 angenommen werden. Primär jedoch besteht der Stoff, woraus Um Haus und Hof gewoben ist, aus „eigenen Beobachtungen und eigene(n) Erlebnisse(n)[…].“439 In seinen autobiographischen Notizen schreibt Kranewitter über die Erzählungen, die Geschichten von Leuten, die in der Wohnstube der Eltern, die auch als Mauteinnahmestelle diente, saßen:

435 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 94. 436 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 95. 437 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 96. (Hervorhebung FP) 438 Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Francke Verlag Bern und München. 1965. S. 56. 439 Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. S. 57.

67

Schweigsame darunter, denen kaum ein Laut zu entreißen war, aber auch solche von flinker, beredsamer Zunge, die, wie Egel des Menschen Blut, den Dorfklatsch einsogen und wieder von sich spien. Guillotinen und Brecheln jedes guten Namens, für mich als Kind weniger angemessen, aber für den künftigen Dramatiker von um so größerer Bedeutung. Besonders die Weiber, von denen sechs damals allgemein im Dorfe als Hexen und gemeinsame Dienerinnen des Satans beschrien […]. Im übrigen lebendige Geschichtsbücher der Vergangenheit des Dorfes, in denen bis auf die vierte Geschlechterfolge zurück alle Missetaten der Familien verzeichnet waren. […] Aber sie wußten auch Besseres. […] Noch einmal werden in ihrem Munde lebendig die langsam verklingenden Sagen von Zauberern und Hexenmeistern […].440

Gleichzeitig schildert er den erlebten wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Verfall der Dorfgemeinschaft, nachdem sie durch die Errichtung der Eisenbahn, welche die Güter transportierte, um ihren Verdienst als Mautstelle gebracht wurde.441 Über den literarischen Stoff schreibt Wolfgang Kayser: „Was außerhalb eines literarischen Werkes in eigener Überlieferung lebt und nun auf seinen Inhalt gewirkt hat, heißt STOFF. Der Stoff ist immer an bestimmte Figuren gebunden, ist vorgangsmäßig und zeitlich und räumlich mehr oder weniger fixiert.“442 Kranewitters Stoff ist gewoben aus den Geschichten und Chroniken seiner Nordtiroler Heimat, wo auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Dörfern strenge Hierarchien im Besitztum sowie im Zusammenleben herrschten und neben der Religion immer noch viel Raum für heidnische Bräuche, Geister und Dämonen übrig blieb. Dieselbe Art von Stoff – die Hierarchie und das Besitzstreben in einer Dorfgemeinschaft, denen sich jedes Individuum zu unterwerfen hat und zu der Außenseiter keinen Zutritt erhalten - findet sich z.B. auch in den Werken Theodor Storms. In seiner Novelle Draußen im Heidedorf (1871) wird der Bauernsohn Hinrich von der Dorfgemeinschaft verstoßen, weil er das Slowakenmädchen Margret liebt, die keine Bäuerin ist und unvermögend. Auch diese Fabel endet mit dem Selbstmord des Protagonisten.443

440 Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 14 – 15. 441 Vgl.: Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“ . In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 12. 442 Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. S. 56. 443 Vgl.: Storm, Theodor: Draußen im Heidedorf. Erich Matthes, Leipzig und Hartenstein in Sachsen, 1919.

68

„Außerhalb des literarischen Werkes“444 skizziert Sigurd Paul Scheichl in seinem Aufsatz „UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“445 die Lebensbedingen in Tirol um 1900.446 Ce pays a été, à l’époque, peut-être la province la moins moderne de l’empire habsbourgeois, donc la plus dominée par l’agriculture. S’il connaissait les débuts du tourisme, il ignorait presque totalement l’industrie. Du point de vue politique il était un haut lieu du conservatisme et un fief de l’église catholique […] ; le curé était partout la personne la plus importante dans le village. 447

Sigurd P. Scheichl berichtet, dass aufgrund der geographischen Position, die alpine Lage der Bauernhöfe die landwirtschaftlichen Erträge nicht ausreichten, um eine bäuerliche Großfamilie zu ernähren.448 Es galt die Regelung der Hofübergabe zugunsten der erstgeborenen Söhne : 449 […] les fils cadets et les filles – les paysans avaient souvent beaucoup d’enfants – n’héritaient rien; ils devaient quitter leurs village ou étaient obligés de travailler pour un salaire ridicule à la ferme du frère héritier. Souvent ils étaient réduits plus ou moins à l’état de mendiants qui traversaient le pays avec leur roulotte (Karren) pour gagner un peu d’argent en aiguisant les couteaux et en réparant la vaisselle ; pour désigner ces gens plus ou moins vagabonds il y avait un mot régional : Karrner.450

Diese Aufzeichnungen und Beweisführung für die Existenz eines ländlichen Naturalismus in Österreich als Pendant zum städtischen Naturalismus in Deutschland, decken sich mit den

444 Vgl.: Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. S.56. 445 Scheichl, Sigurd Paul:“UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. In: Ziegler, Karl & Fergombé Amos: Théâtre naturaliste. Théâtre moderne? ÉLÉMENTS D’UNE DRAMATURGIE NATURALISTE AU TOURNANT DU XIXe au XXe SIÈCLE. Actes du colloque organisé à l’Université de Valenciennes 18, 19 et 20 novembre 1999. Recherches Valenciennoises n° 6. PRESSES UNIVERSITAIRES DE VALENCIENNES. S. 79 – S. 89. 446 Vgl.: Scheichl, Sigurd Paul: :“UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. S. 82. 447 Scheichl, Sigurd Paul: :“UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. S. 82. 448 Vgl.: Ebd. 449 Vgl.: Ebd. 450 Scheichl, Sigurd Paul: :“UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. S. 82.

69

Aufzeichnungen Johann Holzners zum Tiroler Kulturkampf 451, und zwar in der photographischen Wiedergabe der gesellschaftlichen Wirklichkeit im literarischen Text. In Kenntnis dieser realen bäuerlichen (Lebens-)Bedingungen zum Zeitpunkt der Entstehung erscheint Kranewitters Tragödie, in der eine Frau, die gar keinen gesellschaftlichen Status innehat und ein Zweitgeborener, die sich beide gegen das herrschende System auflehnen – auch wenn sie damit scheitern – beinahe revolutionär.

3.6.3.2 Motive Sowohl für Lena als auch für Lotter und Hies schafft Kranewitter redundante Motive. Bei Lena ist es das Ausgestoßensein, das Motiv des Außenseiters, das Stigma einer Armenhäuslerin. Sie wird nicht als standesgemäße Partnerin von Hies Klotz akzeptiert. Eng gekoppelt an das Motiv des Außenseiters ist jenes der Kränkung, die Lena durch ihre gesellschaftliche Stellung immer wieder erduldet, bis der Leidensdruck sie schließlich entmenschlicht und in die Katastrophe führt. Lena Lotter ist die einzige aktive Figur in Kranewitters Stück, auch wenn sie Franz Klotz nicht selbst ermordet, sondern Hies manipuliert, seinen Bruder zu erschlagen. Lena Lotter ist die treibende Kraft in der Tragödie, von dieser Figur hängt das Schicksal aller Figuren ab, die sich in ihrem Umfeld befinden. Das Motiv des Hies ist zum einen auch jenes des Außenseiters. Bei ihm findet sich aber zusätzlich das beliebte Motiv des „Sturm- und Drang-Drama(s), […] das Brudermotiv.“452 Wolfgang Kayser verweist dazu auf die „im Schicksalsdrama fest miteinander gekoppelten […] Hauptmotive […]: Verwandtenmord, Heimkehr eines Totgeglaubten, Blutsünde, Weissagung eines Verbrechens oder Unglücks, Familienfluch.“453 Das Motiv des Außenseiters, aber auch jenes der Rachsucht besetzen die Figur des Lotter, Lenas Bruder, von dem nicht einmal der Vorname genannt wird. Das ihm als Bauarbeiter widerfahrene Unglück – der Unfall, die darauf folgende Entlassung durch den Arbeitgeber, die verbüßte Haftstrafe für einen Lebensmitteldiebstahl - all diese Erfahrungen ließen ihn verbittern. Er bleibt jedoch passiv, verfällt dem Alkohol und lebt von Almosen und Intrigen. Weitere Motive bestehen in der Macht- und Besitzgier, welche sowohl den Klotzenbauern,

451 Vgl.: Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus, S. 34 – 35. 452 Vgl.: Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. S. 61. 453 Vgl.: Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. S. 61.

70 als auch seinen Sohn Franz und Lena beherrschen und das Thema der Barmherzigkeit, das heißt: deren Abwesenheit, die dreimal im Stück explizit ausgesprochen wird. Im ersten Akt, im vierten Auftritt, als Lena merkt, dass ihr der Bruder Geld gestohlen hat, um sich Schnaps zu kaufen: „Mein Geld, auf der Stell‘ mein Geld her, oder bei Gott i zeig di an. Ohne Barmherzigkeit an!“454 Das zweite Mal verlangt Lena von ihrem Bruder Barmherzigkeit, als dieser den Mord an Franz Klotz entdeckt und mit Verrat droht:

Vierter Akt, dritter Auftritt:

„Lena: Sei barmherzig! Lotter: Das sagst du, die stolze Lena! Geh, sag’s no einmal.“455

Das letzte Mal bemüht der Pfarrer den Begriff, im letzten Akt, im fünften Auftritt, als Lena, um ein Geständnis Hies‘ zu verhindern, Josef Klotz die Hand zur Versöhnung reicht: Lena: Vater, wir woll’n vergess’n und verzeih’n. – Klotz: Nie sag i! Pfarrer: Ihr müßt, wenn Ihr Barmherzigkeit erlangen wollt.456

„Barmherzigkeit“ bildet allerdings eine leere Worthülse, genauso wie die Verwendung anderer stereotyper religiöser Floskeln.

In Franz Kranewitters Um Haus und Hof gibt es nur zwei Menschen, die barmherzig sind: Das ist zum einen Sepp Zaggler, der seinem Sohn den Hof überschreibt, um ihm die Gründung einer Familie zu ermöglichen und zum anderen seine Adoptivtochter Marie, die den Vater zu sich nimmt, als er vom eigenen Sohn und seiner Familie vom Hof vertrieben wird.457 Diese beiden Figuren aber passen nicht recht ins Gesamtbild der Tragödie, und es scheint, als wollte der Autor damit lediglich ein Negativexempel demonstrieren, was geschehen kann, wenn ein Bauer seinen Besitz frühzeitig übergibt und vielleicht auf das Schicksal hinweisen, das den Klotzenbauern erwartet, der im Übrigen bei der unfreiwilligen Hofübergabe mit seinem eigenen Vater nicht anders verfahren war:458

454 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 14. 455 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof, S. 87. 456 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 94. 457 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 39 – 46. 458 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof: S. 52.

71

3.6.3.3 Einheit von Raum, Zeit und Handlung In der Tragödie Um Haus und Hof werden die Vorgaben der klassischen Tragödie, der Einheit von Raum, Zeit und Handlung, nicht erfüllt. Wohl spielt die Handlung in ein und demselben Nordtiroler Dorf, aber bereits im ersten Akt findet die Handlung sowohl in Lenas Zimmer im Armenhaus als auch auf der Straße statt, wo die Katzn’Musik gespielt wird.459 Zwischen Aufzug eins und zwei sowie zwischen dem zweiten und dritten Akt vergeht jeweils ein Zeitraum von „mehreren Monaten“.460

Um Haus und Hof kann weder der „tektonischen“, der geschlossenen, noch der „atektonischen“, 461 der offenen Dramenform zugeordnet werden.

In der Tragödie Um Haus und Hof könnte die Exposition im ersten Akt mit dem Spiel der „Katz‘n Musik“462 verortet werden, denn sie bildet die Einleitung, das Programm, das zur Katastrophe führen wird. Der Terminus „Katzenmusik (Charivari, Chalivali, Schaalwari, Scharewari u. ä.“463 hat seinen Ursprung in der Musik . Die Instrumente der Katzenmusik bestehen aus „Trommeln und Pfeifen, Ratschen und Tierhörnern, Glöckchen, Schellen, Peitschen und Dreschflegeln, Blecheimern und Topfdeckeln“464 Sie wird im alpenländischen Raum auf Polterabenden, „winterlichen Lärmumzügen“, wie in der „Tiroler ‚Fasnacht‘„ und den Vorarlberger „Guggenmusiken“ gespielt.465 Ihr Markenzeichen ist, dass sie einen „Heidenlärm“ verursacht.466 Für Kranewitters Tragödie ist allerdings jene Funktion der Katzenmusik interessant, welche sie „ [I]im Brauchtum der Naturvölker wie der älteren und jüngeren Hochkulturen“467 innehatte. Dort nämlich galt ihre Performanz dem öffentlichen Anprangern468 von Verfehlungen, von „Ausbrüche(n) aus der Norm“469

459 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 1 – 14. 460 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. Blatt 3. 461 Vgl.: Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. S. 173. 462 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 22. 463 Suppan, Wolfgang: Art. „Katzenmusik (Charivari, Chalivali, Schaalwari, Scharewari u.ä.: engl. Rough music“. In: Oesterreichisches Musiklexikon online...: http://www.musiklexicon.ac.at/ml/musik. K/Katzenmusik.xml. Abgerufen am 03.04.2017. S. 1. 464 Ebd. 465 Vgl.: Suppan, Wolfgang: Art. „Katzenmusik (Charivari, Chalivali, Schaalwari, Scharewari u.ä.: engl. Rough music“. S. 1. 466 Vgl.: Ebd. 467 Suppan, Wolfgang: Art. „Katzenmusik (Charivari, Chalivali, Schaalwari, Scharewari u.ä.: engl. Rough music“. S. 1. 468 Vgl.: Suppan, Wolfgang: Art. „Katzenmusik (Charivari, Chalivali, Schaalwari, Scharewari u.ä.: engl. Rough music“. S. 1. 469 Suppan, Wolfgang: Art. „Katzenmusik (Charivari, Chalivali, Schaalwari, Scharewari u.ä.: engl. Rough music“. S. 1.

72

Im Zentrum solcher K. (Katzenmusik) steht demnach die rügerichterliche Funktion, die durch öffentliches Belärmen des oder der Delinquenten, außerdem durch Belagerung des Hauses, körperliche Züchtigung, Sachbeschädigung bis zur Friedloslegung ausgedrückt wird. […] Aber auch Häuser verhasster Politiker konnten durch Lärm-Musik ‚gekennzeichnet‘ werden. Schließlich diente Charivari seit der Zeit des Barock abendländischen Komponisten als Stilmittel, um Unordnung und Schreckliches zu charakterisieren. […]470

Somit wird in der Katzenmusik bereits im ersten Akt das Schicksal Lena Lotters besiegelt, der endgültige Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft, ihre Stigmatisierung als Armenhäuslerin und ewige Braut. Begonnen hatte das Unglück allerdings vor zehn Jahren: Vor zehn Jahren verließ Hies‘ Bruder Franz nach einem familiären Streit die Heimat, seit zehn Jahren sind Lena und Hies ein Paar, und vermutlich seit zehn Jahren – dies wird jedoch nicht explizit im Text erwähnt – passierte Lotter der Arbeitsunfall. Kranewitter gibt zu diesen Hypothesen keine Erklärung. Katzenmusik, Häme der Dorfbewohner, Spott des Bruders, Verlust der Freundschaft und Angriff des Dorfvorstehers entziehen der Hauptprotagonistin der Tragödie mehr und mehr die soziale und – sollte sie Hies Klotz nicht heiraten können und nicht Bäuerin auf dem Klotzenhof werden – wirtschaftliche Lebensgrundlage. Diametral zu den Bedrohungen von außen steht der unbeugsame Wille Lenas.

Die Katastrophe vollzieht sich durch die Ermordung des Bruders im dritten und den Selbstmord Lenas im vierten Aufzug. Es gibt jedoch in Kranewitters Tragödie keine Peripetie, keine Helden, die fallen, kein eleos und phobos, kein aussagekräftiges Ende und vor allem keine Katharsis. Die geschlossene Dramenform nach klassischem Vorbild erfordert „Evozierung einer höheren Wahrheit im Untergang des einzelnen Menschen“.471 In Kranewitters Tragödie Um Haus und Hof gibt es keine „höhere“ Wahrheit. Im Zentrum stehen der materielle Besitz und der Wille zur Macht, in Verbindung mit starren sozialen Hierarchien einer Dorfgemeinschaft.472

470 Ebd. (Hervorhebung FP) 471 Hofmann, Michael: Drama. Grundlagen. Gattungsgeschichte. Perspektiven. S. 22. 472 Vgl. dazu: Scheichl, Sigurd Paul: :“UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. S. 82.

73

Auch kann von keiner explizit offenen Dramenform, wie sie mit Shakespeare zum ersten Mal vorkommt,473 gesprochen werden. Beim offenen Drama ist die Haupthandlung durchbrochen von Nebenhandlungen und neben dem Tragischen finden sich genauso komische Elemente474. Es gibt in Um Haus und Hof, bis auf die kurze Sequenz, in welcher die Geschichte des Zaggler-Bauern thematisiert wird, keine Nebenhandlungen und auch nichts Komisches. Die Nichteinhaltung der „Ständeklausel“ sowie die Abwesenheit jeglicher Metaphysik sind weitere Kriterien der offenen Dramenform, die auch in Kranewitters Tragödie vorkommen. Die offene Dramenform wurde vor allem in der „Shakespeare-Rezeption im Sturm- und Drang, in der Romantik475“ wiederbelebt. Wie bei Georg Büchner, sind auch bei Franz Kranewitter die Protagonisten keine Helden, sondern einfache Menschen aus dem Volk, die durch die Fallstricke des Lebens oder des Schicksals bzw. in der Antike – der Götter – straucheln. Die Figuren in Um Haus und Hof durchleben keine individuelle diskursive Entwicklung, sondern steuern linear, bewusst-los, ohne Aussicht auf eine Alternative, dem Abgrund entgegen. Weder für Lena und Hies noch für Macbeth und Lady Macbeth ist nach den von ihnen verübten Kapitalverbrechen Mord, zu denen sie sich in ihrem Ehrgeiz und Machtrausch hinreißen lassen, ein Kurswechsel möglich. Als erste Gemeinsamkeit von Um Haus und Hof und Macbeth können jene Konsequenz und Kompromisslosigkeit verortet werden, mit welchen Franz Kranewitter beschrieb, was er wahrnahm und erlebte: „gesellschaftliche Verhältnisse und Deformationen“476, die er jedoch nicht kommentierte. Ländlicher477 Naturalismus478, Sturm- und-Drang, aber auch Züge realistischer Schreibweise bilden die Ingredienzen der Tragödie Um Haus und Hof. Naturalismus, Realismus, Moderne? Der hier angestrengte Vergleich mit Shakespeares Macbeth erscheint auch wegen der nicht eindeutig möglichen Gattungszuordnung von Um Haus und Hof legitim und damit die Frage, ob auch bei Shakespeare naturalistische Züge eruiert werden können?479

473 Vgl.: Hofmann, Michael: Drama. Grundlagen. Gattungsgeschichte. Perspektiven. S. 23. 474 Vgl.: Ebd. 475 Hofmann, Michael: Drama. Grundlagen. Gattungsgeschichte. Perspektiven. S. 23. 476 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 46. 477 Vgl.: Scheichl, Sigurd Paul: :“UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. S. 79 – S. 89. 478 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 46. 479 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. Einleitender Vortrag zur Jahresversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, am 23. April 1893.In: Supplement zu

74

Doch vorerst soll die Rezeption Kranewitters Tragödie näher beleuchtet werden.

3.6.4 Um Haus und Hof – Uraufführung am 04. Januar 1895 - Reaktionen Wie bereits ausgeführt, fand die Premiere von Um Haus und Hof am Freitag, den 04. Januar 1895 im Innsbrucker Landestheater statt. In einer Vorausschau gaben die Innsbrucker Nachrichten am Tag der Uraufführung ihrer Hoffnung Ausdruck, dass aufgrund der bereits bekannten Werke, Kranewitter ein Drama, bar jener „Sentimentalität der konventionellen Volksstücke“480 liefern werde. Am folgenden Tag erschien in denselben Innsbrucker Nachrichten eine Rezension: Gestern gieng des heimatlichen Dichters Franz Kranewitter Volksstück: Um Haus und Hof, welches den Kampf um den Besitz des Guts, die Uebergabe und deren tragische Consequenzen in scharfer, wahrer Schilderung behandelt, in Scene. Auf das treffliche Stück, das bei jedem Actschluß sowie bei offener Scene Beifall erntete, kommen wir noch zu sprechen. Der Dichter wurde gerufen und erhielt einen Lorbeerkranz mit rother Schleife als verdienten Lohn. […]481 Für den Leser des 21. Jahrhunderts enigmatisch bleibt der letzte Satz der oben zitierten Rezension: „Die Schlußscene lag nicht so in der Absicht des Dichters, wie sie gegeben wurde.“482 Entgegen seiner Ankündigung kam der Rezensent nicht mehr „[A]auf das treffliche Stück […] zu sprechen“. Die letzten zwei Drittel seiner Theaterbesprechung waren den verschiedenen Schauspielern und ihren Rollen gewidmet.483 Bereits die Erstaufführung schien das Publikum zu polarisieren. So muss, gemäß der oben zitierten enthusiastischen Reaktion, der private Teil der Zuschauer die Thematik erkannt, verstanden und bestätigt haben, während konservative Politiker, Touristenverbände und

Bd. 28 des Jahrbuchs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 1893. S. 1 – S. 25. Zur Verfügung gestellt von: SUB, Digizeitschriften eV. Geschäftsstelle DigiZeitschriften e.V. Göttingen. E-Mail von Szsczepaniak, Sebastian an Polner Friederike vom 29. Mai 2017. Heinrich Bulthaupt war deutscher Autor. 480 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 63. 481 Innsbrucker Nachrichten. 42. Jahrgang. Nr. 4.:„Theater und Musik“. Rezension über Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. Erstaufführung vom 04. Januar 1895 im Landestheater Innsbruck. 05.01.1895. S. 8. In: ANNO Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische National- bibliothek online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content anno [...]. Abgerufen am: 27.12.2016. Der Name des Verfassers der Rezension wird nicht genannt. (Hervorhebung FP) 482 Ebd. 483 Vgl.: Innsbrucker Nachrichten vom 05. Januar 1895: S. 8.

75

Zensoren, das offizielle Tirol, das Stück „ganz abscheulich“484 fanden und sich bemühten festzustellen, „daß die Tiroler Bauern so schlecht nicht seien“485 und „man befürchtete schließlich einen Schaden für den Fremdenverkehr“,486 wie Franz Kranewitter in seinen autobiographischen Aufzeichnungen berichtet.487 Aus weiteren Besprechungen der Erstaufführung in Tageszeitungen zitiert Johann Holzner, und zwar aus dem Tiroler Tagblatt: „Die Handlung, ‚dieser wüste Vorgang‘, sei ‚mit beachtenswerther dramatischer Kraft dargestellt‘, mit einer Kraft freilich, die, so hoffte der Rezensent, ‚sich bald weniger primitiver und abgebrauchter Motive bedienen‘ sollte“.488 Der Bote(n) für Tirol und Vorarlberg489 bemängelt das Fehlen des aristotelischen Moments die durch eleos und phobos evozierte „Katharsis“. „ ‚Um Haus und Hof‘ erwecke nur ‚peinliches Grauen‘ „490 Anton Renk schreibt in den Innsbrucker Nachrichten:“[…]Das erste realistische Drama der Tiroler betrat die Tiroler Bühne. Rücksichtslos redet Kraft und Leidenschaft. Die erste That ist gethan! Möge das Stück weiter wirken!“491 Die Tragödie wurde sehr bald vom Spielplan der Tiroler Schaubühnen entfernt. Erwähnung auch außerhalb Tirols erlangte sie erst wieder anlässlich ihrer Veröffentlichung in der „Anthologie ‚Jung Tirol‘“492, im Jahr 1899, welche zu Ehren des 80. Geburtstags ihres Mentors, Adolf Pichler,493 beim Verlag Georg Heinrich Meyer in Leipzig erschien.494 Erst die Exl-Bühne, bei der Kranewitter 1910 unter Vertrag geht,495 wird seine erste Tragödie

484 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 46. 485 Ebd. 486 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 47. 487 Vgl.: Kranewitter, Franz: „Aus meinem Leben“. In: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. S. 37. 488 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 63 – S. 64. 489 Vgl.: Tiroler Tagblatt vom 06.01.1895: In: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 63 – S. 64 und Anm. 110 auf S. 295. 490 Vgl.: Bote für Tirol und Vorarlberg vom 08.01.1895. In: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 64 und Anm.111 auf S. 295. 491 Vgl.: Innsbrucker Nachrichten vom 14.01.1895. In: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 64 und Anm. 112 auf S. 295. 492 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 73. 493 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 75. 494 Jung-Tirol. Ein moderner Musenalmanach aus den Tiroler Bergen. Hrsg. Von Hugo Greinz und Heinrich v. Schullern. Leipzig. 1899. In: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 73 f. und Anm. 127, S. 296. 495 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 161.

76 sowie alle seine weiteren Dramen fest in ihr Repertoire aufnehmen und so wieder einem breiteren Publikum zur Rezeption darbieten. Im Grazer Tagblatt vom 19. Jänner 1899 erschien unter dem Titel „Jung-Tirol“ eine Buchbesprechung, gezeichnet von „Ettmayer“496 In diesem Artikel wird die Gruppe der „Tiroler Moderne“497 vorgestellt und dabei auch der Beitrag Franz Kranewitters zum Musenalmanach rezensiert, seine Tragödie Um Haus und Hof: Franz Kranewitter, auf den wir so viele Hoffnungen setzten, druckt zum erstenmale sein Volksstück Um Haus und Hof ab. Ein echter Tiroler Stoff, behandelt er die sociale Frage unserer Bauern, die mit dem altererbten ‚Höferechte‘ zusammenhängt: der älteste Sohn erbt den ganzen Hof, der jüngere wird abgefertigt. Die Uebergabe des Hofes geschieht bei Lebzeiten des Vaters, der Zeitpunkt hängt aber von dessen gutem Willen ab. Erst nach der Uebergabe darf der junge Bauer heiraten. Die darin liegenden tragischen Momente hat Kranewitter glücklich herausgegriffen. […] Die Sprache ist kräftig, urwüchsig und fern allen städtischen Traditionen. Die Gestalten sind lebenswahr, und episodische Züge, wie das Haberfeldtreiben, sind glücklich verwertet. Doch läßt sich eine gewisse Unebenheit der Dichtung nicht verkennen. Mir ist die Aufführung des Stückes, der ich vor einigen Jahren in Innsbruck beiwohnte, nicht mehr genug erinnerlich, um feststellen zu können, wo seither Veränderungen und Verbesserungen vorgenommen wurden. Wenn auch diese Veröffentlichung für das Publicum sicher eine wertvolle Bereicherung der Tiroler Literatur bedeutet, so hätten Kranewitters Freunde lieber etwas aus jüngerer Zeit kennen gelernt.498

Weniger freundlich fällt die Kritik in der Wiener Zeitung Neue Freie Presse vom 15. Februar desselben Jahres aus.499 Auch dort wird, unter der Rubrik „Literarische Notizen. Jungtirol. Ein moderner Musenalmanach aus den Tiroler Bergen […]“500 die von Hugo

496 Vgl.: Ettmayer, Karl v. „Jung-Tirol“. In: Grazer Tagblatt . Organ der Deutschen Volkspartei für die Alpenländer. 19. Jänner 1899: Nr. 19. 9. Jahrg.. o.S. In: ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online: http://anno.onb.ac.at/cgi- content/anno? Abgerufen am: 27.12.2016. 497 Ettmayer, Karl v.: „Jung-Tirol“. o.S. 498 Ebd. 499 Vgl.: Neue Freie Presse. Nr. 12387 vom 15. Februar 1899: „Literarische Notizen“. o.V. S. 4. In: ANNO Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?... Abgerufen am 27.12.2016. 500 Vgl.: Ebd.

77

Greinz und Anton v. Schullern herausgegebene Anthologie zu Ehren Adolf Pichlers besprochen.501 Dabei bezeichnet der Rezensent Kranewitters Hauptprotagonistin Lena Lotter als „Lady Macbeth im Dirndlkleid“502, die ihren „Geliebten“ zum Mord am jüngeren Bruder aufstachelt.503 „Das Stück ist nicht ohne Kraft, aber auch nicht ohne Rohheit. Die kann man bei einem dramatischen Conflict unter Bauern freilich schwer vermeiden.“504

Eine Assoziation zu Shakespeares Macbeth trifft ebenso Hugo Greinz, Mitherausgeber der Anthologie Jung-Tirol, in seinem Artikel in der Linzer Tages-Post vom vierten Februar 1900, in dem er „Zwei österreichische Dramatiker“505 vorstellt. Kranewitters Um Haus und Hof war kurz zuvor, nachdem es fünf Jahre lang ins Vergessen geschickt worden war, erneut in Innsbruck aufgeführt worden: „Der Erfolg war ein überaus starker, die Leute jubelten, wir lasen auch von zwanzig Hervorrufen des Autors, wir lasen auch von der Annahme seines Dramas am Deutschen Volkstheater zu Wien und seit einigen Tagen sehen wir Um Haus und Hof auch auf unseren Theaterzetteln als in Vorbereitung angekündigt.“506 Greinz verortet sowohl Kranewitters“ als auch Franz Adamus‘ Werke im Naturalismus, als zwei Autoren, die aus der Provinz in die Großstadt drängten und sich dort ebenso behaupten könnten wie Schlaf, Holz und Hauptmann.507 . Zu Kranewitters Tragödie Um Haus und Hof bemerkt Greinz, dass der Autor seinen Stoff aus dem eigenen Leben als „Tiroler Bauernbub“508 bezog. Die Handlung skizziert Greinz in kurzen Zügen, die Schuldzuweisung am Unglück gleich inbegriffen: […] Die Lotter Lena wurde eine Lady Macbeth im Bauernkittel genannt, ihre Gestalt erhebt sich bei Kranewitter beinahe über das Maß des Menschlichen, ihr Ehrgeiz läßt ihren Gelieb(t)en im Kampfe Um Haus und Hof zum Mörder werden, und sie selbst sühnt diesen Brudermord, indem sie sich – allerdings nur aus Furcht vor dem Galgen oder dem Zuchthaus – in den Ziehbrunnen stürzt. So wird auch sie, die dem ihr

501 Vgl.: Ebd. 502 Neue Freie Presse. Nr. 12387 vom 15. Februar 1899: „Literarische Notizen“. o.V. S. 4. 503 Vgl.: Neue Freie Presse. Nr. 12387 vom 15. Februar 1899: „Literarische Notizen“ o.V. S. 4. 504 Neue Freie Presse Nr. 12387. vom 15. Februar 1899: „Literarische Notizen“ o.V. S. 4. 505 Greinz, Hugo: „Zwei österreichische Dramatiker“. In: Tages-Post. Linz. XXXVI. Jahrgang. Nr. 27. Vom 4. Februar 1900. In: ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online:http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?..... Abgerufen am 27.12.2016. Die Dramatiker sind Franz Kranewitter und Franz Adamus (Synonym für Ferdinand Bonner 1867 – 1948). S. 1 - 2. 506 Greinz, Hugo: „Zwei österreichische Dramatiker.“ S. 1. 507 Vgl.: Greinz, Hugo: „Zwei österreichische Dramatiker.“ S. 2. 508 Greinz, Hugo: „Zwei österreichische Dramatiker“. S. 1.

78

ergebenen Manne ihren eigenen starken Willen aufdrückte, zum Opfer ihrer eigenen Ehrsucht und Leidenschaft.509

Thema der zitierten Parallelen zwischen Um Haus und Hof und Macbeth ist stets der Vergleich zwischen den weiblichen Hauptpersonen. Bei Franz Kranewitter spielt die weibliche Hauptprotagonistin auch die tragende Rolle im Stück. Lady Macbeth wirkt zwar nachhaltig auf ihren Gatten ein, damit dieser den Mord am König begeht. Aber nach dem ersten Verbrechen entfernen sich die beiden Gatten immer mehr voneinander, Lady Macbeth tritt mehr und mehr in den Hintergrund des Geschehens und erscheint zuletzt nur noch als Nachtwandlerin, als geistig Verwirrte. Sie stirbt im fünften Akt in der fünften Szene, unspektakulär eines natürlichen oder eines Freitodes. Shakespeare gibt dazu keine Erklärung.510

Gemeinsamkeiten in den beiden Tragödien zeigen sich jedoch nicht nur in der erwähnten Bezugnahme von Lena Lotter auf Lady Macbeth. Kranewitter selbst hegte besonderes Interesse an Shakespeares wohl „schwärzester“ Tragödie. Verbindende Elemente zwischen Macbeth und Um Haus und Hof sind ebenso in der zehn Jahre nach der Erstaufführung entstandenen „Studie“ über Macbeth erkennbar.511 Jene zeit- und raumübergreifenden Elemente in zwei Werken, deren jeweilige Entstehungen, wie bereits eingangs ausgeführt, nicht nur geographisch 2067 km, sondern auch 789 (literar-)historische Jahre trennt, stehen im Fokus der folgenden Ausführungen und beginnen, wie beim Autor von Um Haus und Hof wiederum mit einem Rückblick auf die Entstehungsgeschichte und –bedingungen von William Shakespeares Macbeth. Der Umfang gegenständlicher Arbeit erlaubt es nicht, die englische Kanongeschichte und –theorie detailliert zu zu untersuchen. Wichtig ist jedoch zu erwähnen, dass mit dem Werk William Shakespeares, in der ersten Veröffentlichung seiner Dramen in einem Band, dem „sog. First Folio, 1623“512, das sieben Jahre nach Shakespeares

509 Greinz, Hugo: „ Zwei österreichische Dramatiker“. S. 1. (Hervorhebung FP) 510 Shakespeare, William: „Das Trauerspiel vom Macbeth.“ Übersetzt von Christoph Martin Wieland. In: William Shakespeare. Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Hrsg.: Hans und Johanna Radspieler. Band 15.“ Das Tauerspiel, vom Macbeth.“ Haffmans Verlag. Zürich. 1993. S. 112.- 113. 511 Vgl.: Kranewitter, Franz: „Macbeth. Studie.“ In: Innsbrucker Nachrichten. 51. Jahrgang. Nr. 45. „Feuilleton“. 25. Februar 1904. In: ANNO. Historische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online: http://anno.onb.ac.at/cgi- content/anno?aid=ibn&datum=19040225&seite=1. Abgerufen am: 16.04.2017. S. 1 – 2. 512 Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. In: Schneider, Ralf: Großbritannien“. In: Schneider, Ralf: „Englischsprachige Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In: Rippl, Gabriele und

79

Tod 513 durch seinen „Dichterkollegen Ben Jonson“514, die englische nationale Kanonschreibung einsetzte. Mit der „Materialität des Buchs“515 setzte das Bewusstsein um den Wert seiner enthaltenen Texte und seine Bedeutung für England ein.516 Ralf Schneider zitiert das Widmungsgedicht Ben Johnson zu diesem First Folio: „’Triumph, my Britain, thou hast one to show/ To whom all Scenes of Europe homage owe./ He was not of an age, but for all time!’ ”517 William Shakespeares Werke, konzipiert als Unterhaltungskultur für ein breit gefächertes Publikum, erhielten mit der Publikation des First Folio im Jahr 1623 „überzeitliche(n) Bedeutung“.518 Aus welchem Stoff das Leben und die Zeit des britischen Nationaldichters519 gewoben war, soll – auch unter dem Blickwinkel etwaiger Parallelen zur gesellschaftlichen Verfasstheit der Gegenwart Franz Kranewitters im späten 19. Jahrhundert – im nächsten Kapitel untersucht werden.

4. William Shakespeare (1564 – 1616) William Shakespeare hinterließ seiner Nachwelt weder Briefe noch Tagebücher. Als er am 23. April 1616 starb, galt er in seiner Heimatstadt Stratford upon Avon als angesehener geschäftstüchtiger und wohlhabender Bürger.520 Obwohl er auch als erfolgreicher Schauspieler und Stückeschreiber – als Playwright – Bekanntheit erlangt hatte, finden sich in den Annalen von Stratford dazu keine Eintragungen und nach seinem Ableben auch kein offizieller Nachruf auf ihn als Künstler. Zu Shakespeares Zeiten zählte das Verfassen von Dramen nicht zu den poetischen und literarisch wertvollen Tätigkeiten. „Dramen galten nicht als ‚Literatur‘, sondern als Gebrauchstexte, heutigen Filmdrehbüchern oder Fernsehstücken vergleichbar, deren Autoren im Allgemeinen weniger bekannt zu sein

Winko,Simone, Hg.: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG, Darmstadt.2013. S. 289 – S 296. Hier: S.290. 513 Vgl.: Ebd. 514 Ebd. 515 Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. S. 291. 516 Vgl.: Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. S. 291. 517 Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. S. 291. 518 Ebd. 519 Vgl.: Schneider, Ralf: „Kanonbildung und Kanondynamik“. S. 291. 520 Vgl.:Boltz, Ingeborg: „Die Geschichte der biographischen Forschung“. In: Boltz, Ingeborg.: „Die Persönlichkeit.“ In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch - Das Werk – Die Nachwelt. Alfred Kröner Verlag Stuttgart. 2000. S.119 -192. Hier: S. 120.

80 pflegen als das Staraufgebot der Besetzung.“521 „Dichter“522 war, wer es verstand, mit „Sonetten, Versepen oder Prosaschriften“523 sein Publikum zu beeindrucken.

4.1 Biographisches William Shakespeares Vater, John Shakespeare (geboren um 1529)524, übte die Zunft eines Handschuhmachers aus, und er bekleidete nachweislich mehrere höhere Ämter der Stadt, darunter 1568/69. das Amt des Bürgermeisters und Friedensrichters.525 Von 1564 bis 1577 war er Mitglied des Stadtrats, was aus den Sitzungsprotokollen hervorgeht.526 Ab 1577 erlitt John Shakespeare massive wirtschaftliche Einbußen. 1579 war er gezwungen, das Erbteil seiner Frau Mary Arden zu verpfänden.527 Das 1576 gestellte Ansuchen John Shakespeares auf Führung eines Familien-wappens wurde abgewiesen. William Shakespeare sollte 1596 den Antrag für seinen Vater erneut stellen, und ihm wurde er dann stattgegeben.528 Als John Shakespeare 1601 starb, war er offensichtlich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich rehabilitiert, denn sein Name erschien erneut in den Sitzungsprotokollen der Ratsversammlungen von Stratford.529 Als einer der Gründe für die schwierige Lage der Familie Shakespeare in den späten 1570er und 1580er Jahren wird ein religiöser angenommen. Zu jener Zeit war die Ausübung des Katholizismus in England streng verboten. Katholiken mussten den anglikanischen Gottesdienst besuchen. 1592 wurden noch Namenslisten über jene Bürger geführt, die dieser Pflicht nicht nachkamen.530 Shakespeare und weitere acht Personen, die sich auf dieser Liste befanden, konnten jedoch nachweisen, dass sie aus „Furcht vor Gläubigern“531, welche Schuldner „am Sonntag vor der Kirchentür verhaften“532 ließen, dem Gottesdienst fernblieben.533 John Shakespeare zog sich in seinen letzten Lebensjahren aus dem öffentlichen Leben zurück.534

521 Boltz, Ingeborg: „Die Geschichte der biographischen Forschung“. S. 120. 522 Ebd. 523 Ebd. 524 Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. In: Boltz, Ingeborg.: „Die Persönlichkeit“. In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch: S. 136. 525 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 137. 526 Vgl.: Ebd. 527 Vgl.: Ebd. 528 Vgl.: Ebd. 529 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 138. 530 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 137 u. S. 138. 531 Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 138. 532 Ebd. 533 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 138. 534 Vgl.: Ebd.

81

William Shakespeares Mutter, Mary Arden, entstammte einer streng katholischen Landadelsfamilie. Sie brachte ein beträchtliches Vermögen als Mitgift in die Ehe mit John Shakespeare.535 Das Ehepaar hatte acht Kinder, wovon zwei ältere Schwestern William Shakespeares schon sehr früh starben.536 Im Jahr der Geburt William Shakespeares, 1564, starben in Stratford von 1500 Einwohnern 200 an der Pest.537

Es wird aufgrund der Tatsache, dass sein Vater hochrangige Ämter der Stadt innehatte, angenommen, dass William Shakespeare die King’s Grammar School538 in Stratford besuchte und dort auf Lehrer traf, die selbst universitäre Ausbildung genossen hatten.539 Shakespeares Unterricht beinhaltete Religion und Staatsbürgerschaftskunde, aber auch Latein in Wort und Schrift.540 In der genannten Schule wurden Theaterstücke in lateinischer Sprache aufgeführt, und es wird angenommen, dass William Shakespeare dort mitspielte.541 Weitere erste Begegnungen mit Schaustellern und Komödianten dürfte der junge Shakespeare auf den in den 1580er Jahren in Stratford alljährlich im Mai und September stattgefundenen „Volksbelustigungen und Theaterdarbietungen“542 gemacht haben.543 Beliebt waren zu jener Zeit Gastspiele fahrender Schauspieler544, wie der „‘Queen’s Men‘ und der ‚Earl of Worcester’s Men‘ im Jahre 1569.“545

4.2 Die Londoner Theaterwelt zu Shakespeares Zeit Die Initialzündung für seine zukünftige genuine Gestaltungskraft als Playwright und Schauspieler erhielt Shakespeare jedoch vermutlich 1587 beim Besuch der Vorstellung von Christopher Marlowes Tamerlan, im Londoner „Rose“, gegeben von den „Lord Admiral’s Men“546 Stephen Greenblatt beschreibt Marlowes Tamerlan – „[D]das in epischem Maßstab konzipierte Stück [ist] voll von Lärm, exotischem Gepränge und Strömen von

535 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 136. 536 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 139. 537 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 139. 538 Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 139. 539 Vgl.: Ebd. 540 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 139.- 140. 541 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 140. 542 Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 140. 543 Vgl.: Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 140 544 Vgl.: Ebd. 545 Boltz, Ingeborg: „Shakespeares Leben“. S. 140. 546 Vgl.: Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin. 2004. S. 217 und S. 218.

82

Theaterblut […] – aber seine Anziehungskraft gewinnt es letztlich durch seine beschwörende Verherrlichung des Willens zur Macht.“547 Im Rahmen dieses Stückes sind alle moralischen Regeln, die den Menschen in Schulen, Kirchen, in Predigten, Verlautbarungen und nüchternen Traktaten eingeimpft werden, aufgehoben. Das höchste Gut – ‚die höchste Wonne und das einz’ge Glück‘ ist nicht die Versenkung in Gott, sondern der Besitz einer Krone. Es zählt keine Hierarchie des Blutes, keine gottgewollte legitime Autorität, keine ererbte Verpflichtung zum Gehorsam, keine moralische Beschränkung. Stattdessen gibt es ein rastloses, gewaltsames Streben, das sich nur dadurch voll befriedigen läßt, daß man die höchste Macht erringt (oder davon träumt, sie zu erringen).548

In dieser Interpretation steckt schon das Programm für Shakespeares Macbeth und – um den Vergleich zu ziehen – auch für jenes in Franz Kranewitters Um Haus und Hof: Der Wille und der Ehrgeiz sowie die Skrupellosigkeit zur Erlangung von sowohl materiellen als auch immateriellen Insignien der Macht.

Als das „Idiom“ des Versmaßes kann bei Marlowe – und später auch bei Shakespeare - der typisch englische Blankvers betrachtet werden. Christopher Marlowe stellt ihn dem Publikum in seiner Tragödie Tamerlan vor. Er lässt seine Schauspieler den Text in Blankversen rezitieren. Stephen Greenblatt hebt in den Hypothesen seiner Deutung zu Marlowes Aufführungen aus dem Jahr 1587 den berühmten Schauspieler seiner Zeit, Edward Alleyn hervor, aber, schwärmt er: Der Zauber, der die Zuschauer anzog, lag nicht ausschließlich in der schönen Stimme des Schauspielers und noch nicht einmal in der kühnen Vision des Helden von dem seligen Gegenstand, auf den er sich stürzt, der irdischen Krone. Die wie gebannt lauschende Menge kostete Tamerlans Macht bereits in der beispiellosen Energie und der imponierenden Eloquenz der Blankverse des Stückes – dem dynamischen Fluß ungereimter Zehnsilber mit fünf Hebungen -, die der Autor Christopher Marlowe für die Bühne gemeistert hatte. […]549

547 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. S. 218 .(Hervorhebung FP) 548 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. S. 218 und 219. (Hervorhebung FP) 549 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 219.

83

4.3 Shakespeare Blankvers versus Kranewitters Dialekt Diesen Blankvers, welcher im Englischen geradezu prädestiniert für die Sprach- und Wortspiele Shakespeares ist, in die deutsche Sprache zu übersetzen, beschreibt Friedrich Gundolf (1880 – 1931) als „Verstümmelung des Textes“.550 Bis in die zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts wurden englische Theaterstücke auch auf dem Kontinent in der Originalsprache vorgetragen und dadurch der Vers beibehalten.551 Gundolf gibt an, dass dies vor allem aus „mnemotechnischen Gründen“552 geschah, „denn es war leichter Verse zu behalten als Prosa.“553 Die deutschen Theaterstücke im 17. Jahrhundert wurden vor allem in Knittelversen und in Prosa aufgeführt.554 Gundolf bemerkt, wie oben ausgeführt: „Die erste große Verstümmelung des Textes fand jedenfalls statt, als die Stücke aus dem Englischen in das ausdrucksunfähige Deutsch übertragen wurden, um dem Publikum außer der Pantomime auch den Inhalt näher zu bringen.“555 Dass aber der Blankvers nicht nur eine Form-, sondern vor allem eine Inhaltsdarstellung war, stellte den deutschen Geist des 17. Jahrhunderts vor ein Problem. „Der Blankvers […], geboren aus einer leidenschaftlichen Bewegung der Seele, machte Ansprüche an innere Kräfte, die keineswegs im damaligen Deutschland entwickelt waren.“556 Die deutsche Nachbildung hat „mit dem fliegenden Atem des englischen Theaterverses nichts zu tun“.557 Also wurde in Prosa übersetzt, was bis dahin den „Narrenszenen“558 vorbehalten war. Als nun die Prosa auch die tragischen Szenen beherrschte, „verschwand der letzte Rest eines Gefühls für die Stücke als gegebene und innerhalb gewisser Grenzen feste Einheiten.“559 Was Gundolf andeutet ist, dass damit Shakespeares Werke in der deutschen Sprache quasi als Freiwild für Interpretationen aller künftigen literarischen Strömungen vom deutschen Geist vereinnahmt wurden, sodass am Ende sich die Frage stellte, wieviel echter Shakespeare tatsächlich noch in den deutschen Übersetzungen vorhanden war.560 Einer solchen Gefahr konnte und kann sich die Mundart- Tragödie Franz Kranewitters dezidiert entziehen. Jene äußere Form der Sprachführung,

550 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. Georg Bondi in Berlin. 1911. S. 18 und S.19. 551 Vgl.: Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 18. 552 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 18. 553 Ebd. 554 Vgl.:Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 19. 555 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 18. 556 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 19. 557 Ebd. 558 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 20. 559 Ebd. 560 Vgl.: Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. S. 20 – S. 21.

84 welche Kranewitters Tragödie trotz der Statik ihrer Figuren dramatische Stärke und Lebendigkeit verleiht, die das Publikum schauern macht und dem Leser Alpträume beschert, ist das Idiom des Tiroler Dialekts. Johann Holzner vermerkt dazu: „Das Drama Kranewitters kann nicht in die Hochsprache übersetzt werden.“561 Durch den Dialekt, der die abgeschlossene Dorfgemeinschaft kennzeichnet, entsteht eine spezielle Dramen-Dynamik und Homogenität von Zeit und Raum, aber gleichzeitig werden dadurch auch der Rezeption, vor allem außerhalb des idiomatischen Sprachkreises, markante Grenzen gesetzt. Was also die Verbreitung der Kranewitterschen Tragödie außerhalb des Tirolischen Sprachraumes behindert, ist weder der Stoff noch der Gehalt, sondern die Form.

4.4 Christoph Martin Wielands Shakespeare Dass eine Prosaübersetzung Shakespeares dem englischen Original sehr wohl nahe sein kann, beweisen die Übertragungen Christoph Martin Wielands, der in der Zeit von 1762 bis 1766 die erste vollständige Übersetzung der Shakespeare’schen Werke schuf, die als Arbeitsbasis sowohl von den Sturm- und Drang-Dichtern, wie Friedrich Schiller, als auch von jenen der Romantik , wie Schlegel und Tieck, herangezogen wurde562. Wielands Shakespeare-Übertragungen bescheinigt der amerikanische Germanist „Kenneth E. Larson 1984 im ‚Lessing Yearbook XVI‘, [U]unter dem Titel ‚Wieland’s Shakespeare: A Reappraisal‘ „: His translation, in its frequently scrupulous attention to the rhythms and other stylistic details of Shakespeare’s language, challenges the German of his time rather than conforming to it, as Goethe and generations of critics following him would imply. And despite its use of prose it manages to reproduce far more of the ‘poetry’ of Shakespeare’s language than Wieland’s detractors in the last two centuries have perceived.563

561 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 60. 562 Vgl.: Radspieler, Hans: „Wieland’s SHAKESPEAR“. In: Clausberg, Karl (Hrsg.): Almanach der KRATER Bibliothek. Das erste Jahr. Verlegt bei Franz Greno. Nördlingen. 1986. S. 159 – S. 175. Hier: S. 173. 563 Larson, Kenneth: “Wieland’s Shakespeare: A Reappraisal„. In: “Lessing Yearbook XVI‘(1984”): In: Radspieler, Hans: „Wieland’s SHAKESPEAR“. S. 174.

85

Es wird daher in vorliegender Arbeit Wielands Prosa-Übersetzung für den Vergleich mit Franz Kranewitters Um Haus und Hof herangezogen. Vor der Untersuchung möglicher Schnittmengen in den Parallelen beider Tragödien, soll auch die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Landschaft Shakespeares Gegenwart beleuchtet werden.

4.5 Lebens- und Arbeitsbedingungen im Elisabethanischen England Elisabeth I von England war ohne Nachkommen und somit die letzte Monarchin aus dem Hause Tudor564. Ihr folgte 1603 der Sohn der 1587 hingerichteten schottischen Königin Mary Stuart, James I (Jakob I) auf den Thron. Wie auch während der Entstehungszeit Franz Kranewitters Um Haus und Hof, Ende des 19. Jahrhunderts, beeinflusste in der frühen Neuzeit in England und Schottland die Religion maßgeblich das politische und wirtschaftliche Leben. „Die Religion erfasste alle Lebensbereiche, sie war das zentrale gemeinschaftsstiftende Element der Epoche.“565 Elisabeth I gelang es 1559 mit dem „Elizabethan Settlement of Religion“566 einen Kompromiss in der Zusammenarbeit zwischen Parlament und Kirche zu schaffen.567 Der Protestantismus war Staatsreligion und die Monarchin das Oberhaupt der Kirche. Der Katholizismus war unter Elisabeth I nicht verboten, aber seine Rechte eingeschränkt.568 Als jedoch Elisabeth I „1570 vom Papst exkommuniziert (wurde) und vom Kontinent aus [startete] die katholische Gegenreformation startete,“569 fanden in England viele Hinrichtungen von Katholiken statt.570 Am 05. November 1605 verübten katholische Oppositionelle ein Sprengstoffattentat auf das Parlament.571 Der Anschlag konnte noch rechtzeitig vereitelt werden. Die Angelegenheit ging als „Gunpowder Plot“ in die Geschichte ein und verschlechterte die Situation der Katholiken in England nachhaltig.572

564 Vgl.: Klein, Bernhard: „Religion und nationale Identität.“ In: Klein, Bernhard: „England in der Frühen Neuzeit“. (S. 2 – S. 47). In: „DIE ZEIT“. In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch - Das Werk – Die Nachwelt. S. 8 565 Klein, Bernhard: „.Die protestantische Nation“. In: Klein, Bernhard: „Religion und nationale Identität“ S. 13. 566 Klein, Bernhard: „Die Kirche“. In: Klein, Bernhard: „ Religion und nationale Identität“ In: Klein, Bernhard:„ England in der Frühen Neuzeit“. S. 12. 567 Vgl.: Ebd. 568 Vgl.: Ebd. 569 Klein, Bernhard: „ Die Kirche“. In: Klein, Bernhard: „ Religion und nationale Identität“ . S. 13. 570 Vgl.: Ebd. 571 Vgl.: Ebd. 572 Vgl.: Ebd.

86

William Shakespeare lebte in einer Zeit, in der die Bevölkerung unter starken „existentiellen Bedrohungen“573 wie „Feuer, Armut, Krankheit, Hunger“574 litt. 1592 wurde sie von einer Pestepidemie heimgesucht, gefolgt von großer Hungersnot in den Jahren 1594 bis 1596,575 verursacht durch „eine Serie von Missernten“576 Die Staatskasse Elisabeth I war durch den langen Seekrieg mit Spanien leer.577 Protestantismus, Puritanismus, Katholizismus sowie die Residuen des mittelalterlichen „Volksglauben(s) an Magie“578 und der Glaube an Hexerei 579 standen im Widerstreit mit der neuzeitlichen Entdeckung des zweifelnden und denkenden Individuums, des persönlichen Willens, der Eigenverantwortlichkeit und der „Würde des Menschen“ 580 sowie der Renaissance antiken Gedankenguts. Die Epoche des Humanismus bedeutete für England in den Jahrhunderten von „1450 bis 1560“ „[G]gesellschaftliche[r]n und kulturelle[r]n Wandel“581 „Die Humanisten waren keine Heiden – ihr Ziel war die Synthese von christlichen und klassischen Werten […]“.582

4.6 Das Theater als Unterhaltung für alle Gesellschaftsschichten In diesem Schmelztiegel realer Gegebenheiten und humanistischer versus mittelalterlicher metaphysischer Denkbilder, entstanden Shakespeares Dramen und mutierte das Theatergeschäft per se zu einer der wichtigsten Einnahmequellen. Die Vergnügungsviertel mit ihren Jahrmärkten, Bordellen, Kampfarenen, wo blutige Bärenkämpfe stattfanden sowie den Theatern, siedelten sich an den Stadträndern an, wohin der Arm der städtischen Gerichtsbarkeit nicht reichte.583 Schauspieltruppen standen meist unter der Schirmherrschaft eines Adeligen. „[…] 1567 errichtete der wohlhabende Londoner Lebensmittelhändler John

573 Klein, Bernhard: „Welt-, Menschen- und Selbstbilder.“ In: .“: England in der Frühen Neuzeit“. In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch: S. 16. 574 Ebd. 575 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. C.H. Beck. München. 2014. S. 9. 576 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. C.H. Beck. München. 2014. S. 9. 577 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. C.H. Beck. München. 2014. S. 9. 578 Klein, Bernhard:“ Welt-, Menschen- und Selbstbilder.“ In: Klein, Bernhard: “ England in der Frühen Neuzeit“. S. 16. 579 Vgl.: Klein, Bernhard:“ Welt-, Menschen- und Selbstbilder.“ In: Klein, Bernhard: “ England in der Frühen Neuzeit“. S. 16 . 580 Klein, Bernhard: „.Gesellschaftlicher und kultureller Wandel“. In: Klein, Bernhard: „England in der Frühen Neuzeit“: S. 35. 581 Ebd. 582 Ebd. 583 Vgl.: Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S.207.

87

Brayne das erste freistehende öffentliche Schauspielhaus der Stadt, das „Red Lion“ in Stepney.“584 Das Schauspielensemble stand unter dem Schutz des Earl of Leicester.585 In den 1580er Jahren begannen die Schauspieltruppen, Eintrittsgeld zu verlangen.586 Am Eingang des Theaterareals befand sich eine Schenke, und auf dem Vergnügungsgelände konnten sich die Besucher mit Naschereien und Getränken versorgen.587 Für einen Penny gelangte man in den Hof und hatte zwei oder drei Stunden lang einen Stehplatz in der Menschenmenge, man konnte herumlaufen, sich Äpfel, Orangen, Nüsse und Ale in Flaschen kaufen oder sich so nahe wie möglich an den Rand der Bühne drängen. Mit einem weiteren Penny entging man dem Regen […] und bekam einen Sitz in einer der überdachten Galerien, die rings um den Hof angeordnet waren; mit einem dritten Penny erhielt man einen gepolsterten Sitz in einem der gentlemen’s rooms auf der unteren Ebene der Galerien, […].588

Das Theater wurde zum festen Bestandteil gesellschaftlicher Amüsements und Spektakel, deren Äquivalent in unserer Gegenwart die Unterhaltungsindustrie darstellt. Die Konkurrenz unter den Truppen war sehr groß. Gespielt wurde bei Tageslicht, und Frauenrollen wurden von Knaben verkörpert. „Die offenen Amphitheater waren groß – sie faßten 2000 oder noch mehr Menschen […]“.589 Ein Ensemble musste fünf bis sechs verschiedene Stücke pro Woche spielen,590 das ergab „20 neue Stücke pro Jahr und dazu noch etwa 20 Stücke, die man aus früheren Spielzeiten übernahm.“591 Shakespeare und seine Kollegen mussten für ein Publikum schreiben, dessen Mitglieder sowohl aus Tagelöhnern, Bauern und Bürgern, als auch aus dem Adel bestand. Jeder Geschmack wollte bedient sein.

4.7 Shakespeares Quellen Die Stoffe für seine Stücke holte sich Shakespeare nicht nur aus Holinshed’s Chronicle, sondern vor allem aus dem Leben, wo Hinrichtungen, Bärenhatzen, Folter und Gewalt an

584 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 208. 585 Vgl.: Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 208. 586 Vgl.: Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 211. 587 Vgl.: Ebd. 588 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 211. 589 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 216. 590 Vgl.:Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 216 . 591 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 216.

88 der Tagesordnung waren. Shakespeares Zeitgeschichte findet sich in seinen Dramen, seinen Komödien und Tragödien wieder, konserviert wie in einem Herbarium. Sein Werk war nicht als Höhenkammliteratur konzipiert, sondern als Unterhaltung und Schauspiel für das Volk gedacht, das weder lesen noch schreiben konnte, und für seine Königin bzw. seinen König. Erst in der Sturm- und Drang-Periode und in der Folge in der Romantik, wurde Shakespeare unter die Prämissen des deutschen Idealismus gestellt, wo er sich heute, im 21. Jahrhundert, noch immer befindet.

4.8 Soziales, politisches und wirtschaftliches Umfeld für Kulturschaffende - im Vergleich Das soziale, politische und wirtschaftliche Umfeld, außerhalb der jeweiligen Epochenbedingungen und zivilisatorischen Entwicklungen, von William Shakespeare und Franz Kranewitter zeigen Parallelen in der Prekarität der armen Bevölkerungsschicht und den Restriktionen, mit welchen sich Kulturschaffende durch Vertreter der jeweiligen Religionen konfrontiert sahen. Waren im Elisabethanischen Zeitalter die Katholiken unterdrückt bzw. verhindert und verfolgt, so wurde in Tirol in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die evangelische Glaubensgemeinde bekämpft. Beide Dramatiker bilden den Zeitgeist ihrer Epoche in ihren Tragödien ab, und beide wurden rezipiert vom Volk. Shakespeare und seine Kollegen standen zwar unter dem Schutz der Königin und des Adels, aber die Theater fanden erbitterte Gegner in den protestantischen Obrigkeiten und den Puritanern, die Schaubühnen immer wieder schließen ließen, 1642 sogar endgültig.592 Auch Franz Kranewitters Widersacher war nicht das Publikum, das sehr gut verstand, was er in der Tragödie Um Haus und Hof zum Ausdruck bringen wollte, sondern die Zensur, der Klerus sowie Politiker und Wirtschaftstreibende. Das öffentliche Argus-Auge wachte über allen kulturellen, damit auch literarischen, Entwicklungen und Werken. In der konservativen ultramontanistischen Landschaft Tirols Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Karriere des Franz Kranewitter und in der Folge sein wirtschaftlicher Erfolg verhindert. Fürsprecher für seine Werke fand Kranewitter in Dichterkollegen. Shakespeare und seine Kunst standen unter dem Schutz der Königin und des Königs. Der Verfasser von Macbeth , der im Elisabethanischen Zeitalter des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts lebte und arbeitete,

592 Vgl.: Klein, Bernhard: „Theater als sozialer Raum“. In: Klein, Bernhard: „ England in der Frühen Neuzeit“. S. 45.

89 war ein erfolgreicher Unternehmer und Geschäftsmann, der sein Publikum gut und klug zu unterhalten wusste. Shakespeares Bühne war keine „moralische Anstalt“,593 genau so wenig wie jene Franz Kranewitters. Beide realisierten auf ihre Art und Weise auch den Zustand ihrer Zeit auf der Bühne. Der Unterschied zwischen den Darstellungen bei Shakespeares Macbeth und Kranewitters Um Haus und Hof besteht darin, dass Franz Kranewitters Tragödie jenes „Theaterzaubers“594 entbehrt, der das Markenzeichen sämtlicher Shakespeare’schen Werke bedeutet und sogar noch seiner schwärzesten Tragödie innewohnt.

4.9 Macbeth oder die “Unheimliche Schottentragödie“595 Als William Shakespeare Macbeth für die Bühne konzipierte, war er 42 Jahre alt und bereits ein bedeutender Schauspieler und Playwright. Es war in jener Zeit für Dichter unüblich, eigene Werke oder gar gesammelte Werke herauszugeben, denn, wie bereits erwähnt, galten Dramen als „Gebrauchsliteratur“.596 Erst sein Theaterkollege, Freund und Konkurrent, Ben Johnson publizierte 1616 seine eigenen Texte in „einem Band“ und ordnete damit sein literarisches Werk explizit seiner genuinen Autorschaft, seinem eigenen Namen, zu. Dies kann bereits als ein Anspruch auf Urheberrecht an geistigen Werken betrachtet werden.597 William Shakespeare veröffentlichte in eigenem Namen nachweislich nur zwei Werke:“ […] 1593 und 1594 […] seine beiden Kurzepen, Venus and Adonis und The Rape of Lucrece, mit namentlich unterzeichneter Widmung.“598 Zu jener Zeit zählt Shakespeare bereits „zu den namhaftesten Mitgliedern der Lord Chamberlain’s Men“,599 die Jakob I kurz nach seiner „Thronbesteigung“ als die King’s Men unter seinen Schutz stellt. 600

593 Vgl.: SCHILLER, Friedrich : « Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet ». (Vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784.). In: SCHILLER, Friedrich: Schillers Sämmtliche Werke, Vierter Band. Cotta’sche Buchhandlung. Stuttgart. 1879. Abgerufen von: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3328/1 am 22.03.2017. 594 Rohrmoser, Klaus: Interview vom 08.03.2017. 595 Brandl, Alois: Shakespeare. Leben – Umwelt – Kunst. A. Ziemsen Verlag.Wittenberg (Bez. Halle). Ernst Hofmann & Co. Berlin. 1923. S. 384. 596 Vgl.: Klein, Bernhard: 7. Theater als sozialer Raum“. In: .“: A. England in der Frühen Neuzeit“. In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch: S. 43. 597 Vgl.: Ebd. 598 Suerbaum, Ulrich: Shakespeares Dramen. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel. 1996. S. 244. 599 Ebd. 600 Vgl.: Ebd.

90

4.9.1 Entstehungsgeschichte Die Tragödie Macbeth entstand vermutlich zwischen 1605 und 1606, worauf es mehrere Hinweise im Stück selbst gibt. So nennen die Hexen gleich zu Beginn in ihrer Prophezeiung ein Schiff namens „Tiger“.601 Ein solches Schiff war tatsächlich in Seenot geraten und ist erst nach 81 Wochen „Irrfahrt im Juni 1606 in Milford Haven gelandet.“602 Ein weiteres Indiz auf das Entstehungsjahr der Tragödie findet sich im zweiten Akt, Szene drei. Dort wird auf das am 05. November 1605 vereitelte Attentat katholischer Fanatiker auf das englische Parlament rekurriert, das „Gunpowder Plot“603, und zwar auf die Doktrin des Jesuiten H. Garnet, der in seiner Schrift A Treatise of Equivocation,604 behauptete, dass „eine Falschaussage vor einer weltlichen Autorität keine Sünde vor Gott sei, wenn der Sprecher eine andere Bedeutung im Kopf habe“.605 Garnett wurde der Mitwisserschaft des Komplotts beschuldigt und hingerichtet. In der Tragödie Macbeth lässt Shakespeare nach der noch nicht entdeckten Ermordung König Duncans, als Macduff und Lennox ans Schlosstor pochen, den Pförtner folgende Verse sprechen: II.3. Enter a Porter. Knocking within. PORTER: Here’s a knocking, indeed […] Who’s there in th’ other Devil’s name? Faith here’s an equivocator, that could swear in both the scales against either scale, who committed treason enough for God’s sake, yet could not equivocate to Heaven: oh come in, equivocator. […]”606

Diese Szene übersetzt Christoph Martin Wieland wie folgt: Vierte Scene. Ein Thürhüter tritt auf (Man hört klopfen.) Türhüter: „[…] Knak! Knak! Wer ist hier in T.. Namen? Mein Treu! Ein J*s**t, der vermittelst einer Distinction oder einer doppelten Meynung Ja und Nein beschwören kan, der Verräthereyen genug um Gottes willen begangen hat, und mit allen seinen Subtilitäten sich doch nicht hat in den Himmel hineinlügen können. […]“607

601 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: William Shakespeare in seiner Zeit. C.H. Beck Verlag. München. 2014. S. 365. 602 Gelfert, Hans-Dieter: William Shakespeare in seiner Zeit. S. 365. 603 Schülting, Sabine: „Die späteren Tragödien“ (S. 529 – S. 574). In: „DAS WERK“. In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt. (S. 195 – S. 608). Hier: S. 561. 604 Vgl.: Schülting, Sabine: „Die späteren Tragödien“. S. 561. 605 Schülting, Sabine: „Die späteren Tragödien“. S. 561. 606 Shakespeare, William: Macbeth. Penguin Popular Classics. Penguin Books Ltd. London, 1994, S. 49. 607 Shakespeare, William: Das Trauerspiel: vom Macbeth. Band 15. William Shakespeare. Theatralische Werke in 21 Einzelbänden übersetzt von Christoph Martin Wieland. Hans und Johanna Radspieler, Hrsg. Haffmans Verlag Zürich. 1993. S. 41.

91

„Die erste nachgewiesene Aufführung von Macbeth fand im April 1611 im Globe statt.“608 Wie bereits oben ausgeführt, erschien der Text in gedruckter Form erst in der Folio-Ausgabe 1623,609 sieben Jahre nach Shakespeares Tod. Die Edition übernahmen die Schauspielerkollegen und Freunde John Heminges und Henry Condell .610 Von dieser Folio- Ausgabe wurden „ca. 1000 Exemplare“ gedruckt.611 Es sind davon heute noch „rund 200 Stück erhalten, allerdings nur 14 in unversehrtem Zustand.“612

4.9.2 Stoff und Motive Stoff und Motive bezog Shakespeare, wie bei seinen anderen Stücken, auch für seine Tragödie Macbeth – wie oben ausgeführt - vornehmlich aus „Holinshed’s Chronicles of England, Scotland, and Ireland (in der 2. Auflage von 1587)“613 und bezog sich […] darin „auf H. Boethius‘ lateinische Chronik von Schottland (ca. 1527).“614 Als weitere Quellen werden für die „Hexenszenen […] The Discovery of Witchcraft (1584) von R. Scot oder auch James‘ Demonology (1597)”615 angenommen. Gleichfalls könnte er bei der „Begegnung zwischen den Hexen und Macbeth […] auf ein kurzes lateinisches Stück, Tres Sibyllaie von M. Gwinne“616 rekurriert haben. Aber Shakespeare schöpfte auch aus den Quellen des Elisabethanischen Alltags. Die Gräueltaten, die er auf die Bühne projizierte, spiegelten Szenen der Londoner Straßen wider. Hinrichtungen und Folter fanden öffentlich statt. Dieben wurde am Ort ihres Vergehens „die rechte Hand abgehackt, und den blutenden Übeltäter führt(e) man anschließend durch die Straßen zum Hinrichtungsplatz.“617 Die gesamte Elisabethanische Welt befand sich mit einem Bein noch im Mittelalter, mit dem anderen bereits in der Neuzeit und so auch William Shakespeare und sein Werk.

608 Schülting, Sabine: „Die späteren Tragödien“. S. 561. 609 Vgl.:Schülting, Sabine: „Die späteren Tragödien“. S. 561 . 610 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 27 611 Vgl.: Ebd. 612 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 27. 613 Schülting, Sabine: „Die späteren Tragödien“. S. 562. 614 Ebd. 615 Ebd. 616 Ebd. 617 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. S. 203.

92

4.9.3 Dramentheorie William Shakespeare hält sich nicht stringent an die aristotelische Dramentheorie. Es handelt sich bei Macbeth um ein atektonisches, offenes, Drama. Die Einheit von Handlung, Ort und Zeit wird nicht erfüllt. Die Schauplätze der Handlung sind in England und in Schottland, und die Handlung erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Obgleich Macbeth als „Thane“ – als Graf – der aristokratischen Schicht angehört, fällt er nicht aufgrund einer Schwäche oder eines Makels, nicht durch die Götter, sondern durch eine willentliche Fehlentscheidung, die sein Leben einem nicht mehr korrigierbaren Kurswechsel unterzieht. Macbeth handelt nicht nur, er denkt auch, er zaudert, reflektiert, hält über sich selbst Gericht, ist Spielball zwischen Leidenschaft und Vernunft und scheitert am Ende an seinem Ehrgeiz und der Gier nach Macht. Die Peripetie setzt schon nach dem Mord an König Duncan, zu Beginn des zweiten Akts, ein. Statt „Schaudern und Fürchten“ erlebt das Publikum das Stück vielmehr als Alptraum, in dem es denselben Ängsten vor Geistern, Schicksal und Zauberei begegnet, wie sie auch die Elisabethanische Seelenlandschaft bevölkern. Wenn Macbeth am Ende durch Macduff getötet wird, stellt sich keine aristotelische Katharsis ein, sondern bleibt mit der Ausrufung von Malcolm zum neuen König von Schottland die grausige (Vor-)Ahnung, dass eben wie in einem Alptraum, die Tragödie sich wiederholen wird. Auch schweift Shakespeare in Nebenschauplätze und Nebenhandlungen ab, wie zum Beispiel in den Hexenszenen. Bis auf den Auftritt des Pförtners im zweiten Akt entbehrt die Tragödie Macbeth der sonst üblichen komischen Szenen auch in Shakespeares Tragödien. Shakespeare experimentiert mit Stoffen, Motiven, Wortspielereien und im Wechsel zwischen Volkssprache und gehobener Sprache, was Übersetzungen besonders schwierig gestaltet und sich deutschsprachige Übertragungen oft vom Original entfernen.

4.9.4 Das Trauerspiel, vom Macbeth – Christoph Martin Wielands Übersetzung Christoph Martin Wieland übernimmt bei der Übertragung aus dem Englischen ins Deutsche die fünf Akte. In der Aufteilung der Szenen jedoch weicht er vom Original ab. Insgesamt beinhaltet seine deutschsprachige Fassung Das Trauerspiel vom Macbeth 37

93

Szenen. Er hält sich damit an die Szeneneinteilung Pope-Warburtons618, während Shakespeares Original 27 Szenen enthält. Wieland übersetzt den Blankvers in Prosa, behält jedoch das Metrum des vierhebigen Trochäus in den Versen der Hexen bei. Es werden in der Folge die Textbeispiele in der Übersetzung von Christoph Martin Wieland wiedergegeben und wo es zur Erklärung der Handlung nötig erscheint, auf den englischen Text zurückgegriffen.

4.9.5 Macbeth - Die Handlung:

Zeit: 11. Jahrhundert619 Orte: Schottland und England.

Abb. 4: Bellamy, Kate. Illustrator. In: Crystal, Ben: Macbeth. Before… During…. After. Springboard Shakespeare Series. Bloomsbury, London Oxford u.a.; 2013. S.22.620

618 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. Band 15. William Shakespeare. Theatralische Werke in 21 Einzelbänden übersetzt von Christoph Martin Wieland. Hans und Johanna Radspieler, Hrsg. Haffmans Verlag Zürich. 1993. S. 126. 619 Vgl.: Crystal, Ben: Macbeth. Before… During…. After. Springboard Shakespeare. The Arden Shakespeare. Bloomsbury Arden Shakespeare. London. New York. 2013. S. 6. 620 Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Ben Crystal. E-Mail [email protected] an [email protected]. 3.5.2017.

94

Der Feldherr des schottischen Königs Duncan, Macbeth, Than (Baron)621 von Glamis, besiegt das Heer des norwegischen Königs Sweno. Auf dem Weg nach Forres, zur Residenz des Königs, begegnen er und sein Kamerad Banquo drei Hexen, die Macbeth mit einer Weissagung begrüßen: 1. Hexe: Heil dir, Macbeth! Heil dir, Than von Glamis! 2. Hexe: Heil dir, Macbeth! Heil dir, Than von Cawdor! 3. Hexe: Heil dir, Macbeth; der einst König seyn wird!622 (I,4)

Banquo prophezeien sie, dass seine Kinder Könige sein werden.623 Im Schloss angekommen erfahren die beiden Soldaten, dass Macdonwald, Than von Cawdor, der ihnen selbst als großer Feldherr galt, als Verräter zum Tode verurteilt sei. Macbeth erhält dessen Insignien. Somit hat sich die erste Weissagung erfüllt und in Macbeth wird der brennende Ehrgeiz entfacht, auch die zweite in die Realität umzusetzen. Er ertappt sich dabei, wie er in Gedanken den Mord an König Duncan plant, schaudert aber ob seines Vorhabens vor sich selbst. In einem Brief setzt Macbeth seine Gattin von den Vorkommnissen in Kenntnis. Lady Macbeth spinnt den Gedanken ihres Mannes weiter. Sie denkt, er sei zu schwach um die Tat zu begehen und beschwört alle Geister, sie zu „entweiben“ (I,7)624, damit es ihr gelinge, Macbeth zur Tat, dem Mord an König Duncan, zu bewegen. Der König trifft mit seinem Gefolge auf Macbeths Schloss Inverneß ein. Ihm zu Ehren wird ein großes Fest veranstaltet. In der Nacht ermordet ihn der Hausherr. Die Lady drückt den mit Schlafmittel betäubten Dienern des Königs den Dolch in die Hand, damit der Verdacht auf sie falle. Am nächsten Morgen, als die Tat entdeckt ward, fliehen die Söhne des Königs, Malcolm und Donalbain, nach England und Irland. Sie trauen Macbeth nicht, der die beiden verdächtigen Kämmerer des Königs tötete (II,5), um, wie er sagt, den Mord an Duncan zu rächen. Mit ihrer Flucht belasten sich Malcolm und Donalbain jedoch selbst. Macbeth wird König von Schottland. Aber weder er noch Lady Macbeth können mit ihrer Schuld leben. Macbeth fühlt sich zunehmend bedroht und verfolgt. Er traut niemandem und lässt sogar seinen Freund Banquo ermorden. Dessen Sohn Fleance entkommt (III,4). Bei einem Bankett erscheint der Geist des Kameraden, den aber nur Macbeth sehen kann

621Vgl.: Shakesepeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 5. Wieland übersetzt für den schottischen Adelstitel „Thane“ mit „Baron 622 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 16. 623 Vgl.: Ebd. 624 Shakespeare,William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 25.

95

(III,5).625 Die Gäste verlassen entsetzt das Schloss (III,5) Macbeths Geisteszustand erweckt bei den Thans Misstrauen. Macduff beschließt, König Duncans Söhne in England aufzusuchen und beim englischen König Eduard um Unterstützung zum Sturz des Tyrannen Macbeth zu ersuchen (III,7). Er lässt Frau und Kinder zurück. Macbeth rächt sich, indem er Macduffs gesamte Familie ermorden lässt (IV,3). Macbeths Schreckensherrschaft ist gezeichnet von einer Serie blutiger Morde an vermeintlichen Widersachern im ganzen Land. Macbeths Geisteszustand verschlechtert sich von Tag zu Tag. Er sucht erneut die Hexen auf, die ihm nun prophezeien, dass er von niemandem besiegt werde, der von einer Frau geboren wurde (IV,2) und dass seine Macht erst zu Ende sein werde, wenn „der grosse Birnam-Wald auf Dunsinans Hügel gegen ihn angezogen kommen wird.“626 (IV,2) Lady Macbeth verfällt dem Wahnsinn und stirbt (V,5). Fast zeitgleich mit der Mitteilung über den Tod der Königin meldet ein Diener Macbeth, dass der Wald von Birnam sich gegen Dunsinane zu bewege. Macbeth zieht in die Schlacht und wird von Macduff, der durch einen Kaiserschnitt zur Welt kam, getötet (V,8).

Mit Macbeths Kopf in der Hand verkündet Macduff das Ende der Schreckensherrschaft und begrüßt Malcolm als den neuen König Schottlands (V, 8).

5. Parallelen zwischen Macbeth und Um Haus und Hof Für die detaillierte Überprüfung der möglichen Schnittmengen beider Tragödien werden zwei Deutungsstränge herangezogen: Zum einen Hans-Dieter Gelferts Aufarbeitung zentraler Themen in Shakespeares Tragödien627 und zum anderen Franz Kranewitters Essay über Macbeth aus dem Jahr 1904.628

5.1 Redundante Themen und Motive in Shakespeares Drama im Vergleich: „Von keinem englischen Dichter werden so viele Aussagen zur conditio humana zitiert wie von Shakespeare.“629 Dennoch mahnt Hans-Dieter Gelfert in seiner „Einführung in Leben

625 Vgl.: Shakespeare,William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 66. 626 Shakespeare, William: Das Trauerspiel , vom Macbeth. S. 79. 627 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 31 – 51. 628 Kranewitter, Franz: „ ‚Macbeth‘ . Studie von Franz Kranewitter.“ In: Innsbrucker Nachrichten. 51. Jahrgang. Nr. 45. 25.02.1904. Feuilleton. S. 1 und S. 2. 629 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 31.

96 und Werk des wohl größten englischen Dichters“630 davor, die in seinen Stücken dargestellte Weltsicht als jene ihres Autors zu betrachten. Shakespeare bringt in seinen Stücken den Zeitgeist des Elisabethanischen und später Jakobs I auf die Bühne. Seine Schauspieler verkörpern die Themen, „die Ansichten und Problemstellungen“631 welche evident und virulent erscheinen.. In seiner Analyse konstatiert Gelfert folgende redundante Themen und Motive in den Shakespeareschen Dramen: Ordnung, Vernunft und Leidenschaft, Ehre, Natur, Schein und Sein, Fortuna, Mann und Frau, Gerechtigkeit und Gnade, Glauben und Skepsis sowie Tragik.632

5.1.1 „Die gestörte Ordnung“ Sowohl bei Macbeth als auch bei Um Haus und Hof bildet die „gestörte Ordnung selber„633 ein zentrales Thema.634 Macbeth übernimmt durch einen Staatsstreich, den Mord an König Duncan, die Macht in Schottland. Die legitimen Thronfolger, die Söhne Malcolm und Donalbain fliehen nach England. Der König hatte Macbeth nach der gewonnenen Schlacht gegen die norwegische Armee mit den Insignien des Verräters Macdonwald ausgezeichnet. Duncan ist ein milder Herrscher, der sich mehr auf seine Generäle verlässt als auf sein eigenes Urteilsvermögen. Dass er damit Titel und Güter von einem auf einen anderen Betrüger überträgt und somit den Staatsstreich sogar begünstigt, nimmt er intuitiv, aber nicht bewusst wahr, als die Nachricht von der Hinrichtung Macdonwalds, des Thans von Cawdor, bei ihm einlangt: König: Sein Beyspiel überführt mich, daß es keine Kunst giebt, die innere Gestalt des Gemüths in einem Gesicht zu lesen: Er war ein Mann, auf den ich mein ganzes Vertrauen baute. (I,6)635

Ein schwacher König begünstigt die Störung der staatlichen Ordnung. Nicht nur am Beispiel der Weitergabe von Insignien von einem Verräter auf den anderen ist die gestörte Ordnung in Macbeth sichtbar. Gleich zu Beginn, quasi als Exposition, verweisen die drei Hexen auf die Grundpfeiler der Tragödie (I.1) 636: Thunder and lightening. Enter three Witches.

630 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. Vorwort des Verlages C.H. Beck. o.S. 631 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 31. 632 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 32 – S. 51. 633 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 32 634 Vgl.: Ebd. 635 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 21. 636 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 7 und S. 8.

97

First Witch: When shall we three meet again? In thunder, lightening, or rain?

Second Witch: When the hurly-burly’s done, When the battle’s lost, and won.

Third Witch: That will be ere the set of sun. First Witch: Where the place? Second Witch: Upon the Heat Third Witch: There to meet with Macbeth. First Witch: I come, Graymalkin. All: Paddock calls anon: Fair is foul, and foul is fair, Hover through the fog and filthy air. (I.1)637

Gewitter und Regen, “wahr ist falsch und falsch ist wahr” verkünden, dass subversive Kräfte, Intrigen und Verrat, die „staatliche Ordnung“638 , in diesem Spiel stören werden.

In Franz Kranewitters Um Haus und Hof ist die Ordnung der Dorfgemeinschaft durch zwei dominante Aspekte gestört: Die mittellose Lena Lotter, die auch nicht im Dorf geboren wurde, heiratet nach zehn Jahren Wartezeit den Sohn eines stattlichen, alten Bauernhofs. Den zweiten Normbruch der dörflichen Gemeinschaft stellt die Forderung des jüngeren Sohns nach der Hofübernahme dar, die er mittels eines vinkulierten Vertrages von seinem Vater erpresst. (II.1)639 Dabei erfährt das Publikum, dass der Klotzenbauer einst genauso an seinem eigenen Vater handelte. (II.8)640 Nach einem heftigen Streit, in dem Josef Klotz den erwachsenen Sohn schlägt, bricht der Vater zusammen und gibt jeden Widerstand auf. Er erinnert sich: Klotz. (Auf einmal ganz gebrochen.) Laß mi los, i unterschreib. Kein Schritt mehr weiter. Bis dahin hab i mein Vater zog’n. Herr im Himm’l du bist g’recht.641

Kranewitter thematisiert damit die gestörte Ordnung an sich, nämlich das Recht auf die Hofübernahme durch den Ältesten und gleichzeitig die ungeregelte Übergabe, die Weigerung der Altbauern, ihren Kindern beizeiten den elterlichen Betrieb zu überlassen. Auch in Kranewitters Tragödie kann hypothetisch das „foul is fair und fair is foul“ (I.1)642 gelten, denn am Beispiel des Bauern Zaggler, der seinem Sohn freiwillig den Hof

637 Shakespeare, William: Macbeth. S. 25. 638 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 32. 639 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S.33. 640 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 52. 641 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 52. 642 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 7

98

überschrieb, damit dieser heiraten konnte, erweist sich der vorzeitige Rücktritt des Eigentümers sowie die rechtlich und wirtschaftlich nicht geregelte Absicherung für den übergebenden Bauern als fatal (II. 4-6)643 . Dasselbe Schicksal, die Vertreibung vom Hof, ereilt letzten Endes auch den Klotzenbauer, der nicht freiwillig an seinen jüngeren Sohn übergibt.

Lena Lotters Ordnungsverstoß, nämlich der Versuch, aus den engen Grenzen ihrer gesellschaftlichen Herkunft auszubrechen, wird gleich zu Beginn des Stücks in der „Katznmusik“ (I.2,3)644 geahndet, in der sie als ewige Braut des Hies Klotz – als alte Jungfer aufs „Sterzinger Moos“645 geschickt wird. Sie erleidet in dieser „Charivari“ öffentliche Verhöhnung und Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft, deren Insignien Geld, Besitz sowie patriarchale Machtstrukturen darstellen. Lena Lotters Stigmatisierung wird in dieser öffentlichen Verspottung zum Auslöser für den linearen Verlauf der Tragödie in den Abgrund: Herzog von Bayern. I nahm di schon Lena War so raar nit das Geld, So weit zwei Flöh springen, So groß is mein Feld

Herzog von Sachsen. O lieber Bua, steif und hoch Trag i mein Gnack, Denn was i hab, macht gr’ad Zum Betteln an Sack. Ist der nur recht tief und weit, Kann’s uns nit fehl’n, Können wir alle Nacht D’Brodbrock’n zähl’n.

[…] Herzog von Sachsen. An Karr’n, an neuen, Verschafft uns die Gmoan, Blau g’ringelt, rot g’malen Und fein nit zu kloan.

643 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 39- S. 46. 644 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 7 – 14. 645 Vgl.: http://www.sagen.at/doku/volksleben/moos_fahren.html. Abgerufen am : 04.05.17.

99

I zieh bei der Stangen, Du schiebst hinten drein, Und unter ‚ner Staud’n Soll’s Brautbett’l sein. [...] Herzog von Bayern. I dank für dei Freundschaft, Sie ist schon recht groß, Und mein, du gingst g’scheider Auf’s Sterzinger Moos.

Chor. Und mein, du gingst g’scheider auf’s Sterzinger Moos. (Neuer Lärm der Bockshörner.) (I.3)646

Shakespeare inszeniert die gestörte Ordnung, die Abläufe der Machtübernahme bei Macbeth subversiver, denn das Ehepaar Macbeth führt seinen Plan heimtückisch und hinterhältig aus. Die beiden Hauptprotagonisten in Um Haus und Hof stellen ihre Forderung offen, um sie dann dennoch mit derselben brutalen Gewalt wie Macbeth zu verwirklichen. Aber in beiden Tragödien geschieht der Mord nicht nach lange im Voraus geschmiedetem Plan, sondern aus einer für das Verbrechen günstigen spontanen Situation heraus.

„Die Wiederherstellung der Ordnung am Ende der Stücke geschieht […] in den Tragödien durch die Eliminierung des Störers, also des Helden […]. An dessen Stelle tritt regelmäßig ein Nachfolger von deutlich geringerem Format. […]“647

Lady Macbeth stirbt an ihrem Wahnsinn; ob durch Selbstmord, Mord oder eines natürlichen Todes, erklärt Shakespeare nicht. Macduff tötet den Tyrannen Macbeth. Der Sohn des ermordeten König Duncan, Malcolm, der sich während der gesamten Schreckensherrschaft in England versteckte, kehrt als Thronfolger nach Schottland zurück. Die staatliche Ordnung scheint wieder hergestellt.

Franz Kranewitters Tragik erscheint dem Rezipienten konsequenter und radikaler als jene Shakespeares, obwohl in Macbeth sehr viel mehr Blut fließt, mehr Menschen ermordet werden. In Um Haus und Hof wird der älteste Sohn vom Bruder erschlagen, die Initiatorin des Unglücks, Lena Lotter, begeht Selbstmord, als sie ihren Kampf Um Haus und Hof für verloren erkennt. Hies Klotz wird als Mörder hingerichtet werden. In diesem Stück bleibt

646 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 12 – 14. 647 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 32.

100 nur der „alte König“, Josef Klotz, übrig, und es bewahrheitet sich seine eigene Prophezeiung (II.7) metaphorisch: „Ja, ja so lang die Welt steht, bleibt’s wahr; Übergeb’n, nimmer leb’n.“648 Er wird bis an sein Lebensende der Herr auf seinem Hof bleiben. Auch diese wieder instandgesetzte Ordnung hinterlässt beim Publikum einen schalen Nachgeschmack, weil sich am Grundproblem, den zementierten Normen einer Gesellschaft sowie dem Fehlverhalten „der Regenten“ nichts ändert. Eliminiert wird das Symptom, die unrechtmäßige Machtübernahme durch Gewalt, die Fehlbarkeit des Individuums, nicht jedoch die Ursache, nämlich obsolete, morsche gesellschaftliche Grundstrukturen, die in beiden Tragödien nur angedeutet, nicht aber explizit erörtert werden.

5.1.2 „Vernunft und Leidenschaft“649 Die aristotelische Vorgabe, dass in einer Tragödie ein aristokratischer Held wegen seiner „Schwachstelle“650 durch „die Götter oder das Schicksal“651 fällt, wird weder bei Macbeth noch bei Um Haus und Hof erfüllt. Shakespeares Helden sind reflektierende Charaktere, deren innerer Konflikt zwischen „Vernunft und Leidenschaft“652 sich dem Publikum offenbart. Macbeth ist der Neffe des Königs Duncan, ist ihm als Feldherr und verwandtschaftlich verbunden . Duncan vertraut ihm. Arglos reist er nach Inverness, genießt auf Macbeths Schloss das Fest zu seinen Ehren. Macbeth zieht sich von der Abendgesellschaft frühzeitig zurück. Vernunft und Leidenschaft bevölkern sein Inneres gleichermaßen: Macbeth (allein.): Wenn (*)653 alles vorbey wäre, wenn es gethan ist, so wär’s gut, wenn’s schnell gethan würde; wenn der Meuchelmord zugleich die Folgen auffischen könnte, und dieser einzige Streich hier alles enden würde – so möchten wir Muth haben hier auf diesem Sandbank der Zeit über das künftige Leben wegzuspringen. Aber in solchen Fällen empfangen wir gemeiniglich unser Urtheil schon hier, indem wir andern einen blutigen Unterricht geben, der zulezt auf des Erfinders eignen Kopf zurük fällt. Die gleich-messende Gerechtigkeit nöthigt uns, die Hefen unsers eignen Gift-Kelchs auszutrinken – Er sollte gedoppelt sicher seyn; einmal weil ich sein Verwandter und Vasall bin, beydes starke Beweggründe gegen die That: Hernach als sein Wirth, der, anstatt den Streich selbst zu führen, die Thüre vor seinem Mörder verschliessen

648 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 46. 649 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 33. 650 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 33 651 Ebd. 652 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 34. 653 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. Fußnote .Wieland. S. 29.:“Der erste Theil dieser Rede ist auch nach einer Restauration, die wir Popen zu verdanken haben, eine der dunkelsten in unserm Autor.“

101

sollte. […] Ich habe keinen Sporn, der den Lauf meines Vorhabens treibt, als allein den Ehrgeiz, der sich selbst überspringt, und auf einen andern einstürzt –(I.9)654

Macbeth begeht mit seinem Plan nicht nur ein Kapitalverbrechen, den Mord, zudem an einem Verwandten, sondern verstößt auch gegen das Recht der Gastfreundschaft. Der König wähnt sich nirgends sicherer als unter dem Schutz seiner Familie und seines Feldherrn, was das Verbrechen noch perfider macht. Macbeth entscheidet sich schlussendlich aus freiem Willen dazu, die Tat auszuführen, aber er wird von Lady Macbeth quasi hingeführt, in manipulativer Rhetorik zerstreut sie seine letzten Zweifel. Der Krieger Macbeth steht vor einer Wegkreuzung seines Lebens. Er hat die Wahl: Entscheidet er sich gegen das Verbrechen, wird sein Leben vielleicht moderat, in angenehmen, aber unspektakulären Bahnen weiterlaufen. Wählt er jedoch den Weg des Verbrechens, wird er vielleicht für kurze Zeit seinen Ehrgeiz befriedigen können, aber Macbeth weiß schon VORher, dass die Entscheidung in diese Richtung ihn ins Verderben stürzen wird. Die Vernunft hätte ihn vom Verbrechen abhalten können.

Zehnte Scene (Lady Macbeth tritt auf.) Macbeth: Wir wollen nicht weiter in dieser Sache gehen. Er hat mich kürzlich mit Ehren- Zeichen überhäuft; und ich habe goldne Meynungen von allen Arten von Leuten gekauft, die nun in ihrem neuesten Glanz getragen und nicht so früh bey Seite geworfen seyn wollen (I,10)655.

Es ist Lady Macbeth, die ihn schließlich dazu überredet, sich für die Tat zu entscheiden. Es ist der Zwiespalt zwischen Krieger und Edelmann, der in ihm herrscht und er entscheidet sich letztendlich für hinterlistige Kriegsführung: Macbeth: Ich bin entschlossen, Weib, und alle meine Sehnen strengen zu dieser furchtbaren That sich an. Komm und laßt unser Vorhaben unter die schönste Larve verbergen! (I,10)656 Wird nun die Shakespeare’sche Folie von Vernunft und Leidenschaft über jene Franz Kranewitters Hauptprotagonisten gelegt, so ist auch hier festzustellen, dass die Vernunft männlich und die Leidenschaft weiblich konnotiert ist. Auch Hies zögert bei Entscheidungen, welche der Moral und den guten Sitten widersprechen, aber auch er – wie

654 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 29. 655 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 31. 656 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 32.

102

Macbeth – trifft schlussendlich aus freiem Willen die Wahl des Fehltritts. Belegt werden kann dies anhand folgender Beispiele: Hies will nicht heiraten, sondern warten, bis der Vater freiwillig den Hof übergibt. Nach der Erniedrigung, die sie durch die Katzenmusik erfahren hatte, bedrängt Lena Hies erneut, mit dem Vater wegen der Hofübergabe zu reden: Hies: So plag mi do nicht immer mit dem Gleich’n Du weißt’s ja so gut wie i, i hab than was i könnt hab. I hab g’redt, i hab bettelt, glaub mir Lena, stundenlang. Was hat’s g‘nützt. Er will einmal nix wiss’n vom Übergeb’n. Wir müssn’n wart’n, ‚s bleibt uns nix übrig.(I.7)657

Shakespeare vertrat in seinen Stücken die Meinung, „dass Vernunft feige mache“.658 In der Rede des Hies spiegelt sich diese These wider. Von der Scheu vor dem Handeln hebt sich Lena Lotters leidenschaftliches Aufbegehren gegen ihren sozialen und gesellschaftlichen Status quo deutlich ab: Lena: Du hast’s freilich leicht – du hast kein solch’n Bruder z’Haus. Du brauchst nit z’hör’n, was sie mir anthun auf Schritt und Tritt. Weit vom Schuß ist sicher vor’m Treffn. Aber hör, Hies. Es ist etwas in mir, das schreit auf Bäumt sich und steigt mir siedend heiß ins G’sicht. So war i leb, wenn mi sitz’n läß’st, wenn i nit Bäurin wird auf’n‘ Klotz’hof, i bring di um und mi. (I.7) 659

Freiwillige Vernunft- und Sittenüberschreitung findet sodann auch in der Zustimmung Hies‘ zur Erstellung eines Verkaufsvertrages durch den Winkeladvokaten Dr. Gramperle statt. Mittels dieses Vertrags wird der Vater gezwungen, den Hof seinem jüngeren Sohn zu verkaufen.(2.2. und 2.3).660 Hies lässt es in der Folge auch zu, dass sein Vater – weil dieser sich nicht mit Lena verträgt – den gemeinsamen Haushalt verlassen muss, worauf im fünften Auftritt, im dritten Aufzug, als der verschollen geglaubte Bruder plötzlich mitten in der Nacht nach Hause zurückkehrt.661

657 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 20. 658 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 35. 659 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 21. 660 Vgl.: Kranewitter, Franz.: Um Haus und Hof. S. 35 – 38.. 661 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 61.

103

Während Lena von Anfang an ganz klar ihr Ziel vor Augen hat und es aktiv ohne Rücksicht oder Schuldgefühle verwirklicht, zögert Hies immer wieder, bevor er unter starkem Einfluss der gezielten Rede seiner Braut, ähnlich jener Lady Macbeths, zuerst mit dem Vater bricht und dann den Mord an seinem Bruder begeht: Hies: Daß es hat so kommen müss’n. Mein Gott, mein Gott! Lena: Siehst ein jetzt, daß kein Ausweg mehr, daß aus’s Vertuschl’n und Verschweig’n? Hies: Um der ewig’n Seligkeit will’n, Lena, i kann nit, alles, nur das nit. Lena: Es muß sein, sag i dir. Hies: Giebt’s gar kein andern Ausweg mehr. I bit‘ di, denk‘ do nach, mir’zlieb denk nach. Lena: Es giebt nur eins, die That.(3.9)662 […] Hies: Erbarm di, hab Erbarmen, du weißt nit, was du willst. Lena: Hör, Hies. (Tritt dicht an ihn heran.) Du mußt. Hies: I muß, sagst du. I muß. Schau mi nit so an. Weib, du bist fürchterlich. Du hast ein G’walt. Lena: Willst’s thun. Hies: I will. Nein, nein, i kann nit, Lena, schau i kann nit, er ist mein Bruder. Lena: So thu i’s. Ein Weib. Hies: Du, du. I will. Lena: Du guter Mann. (Bringt Schnaps.) Da Trink, - noch ein. (3.9)663

Sowohl bei Macbeth als auch in Um Haus und Hof obsiegt die negative Leidenschaft.

5.1.3 „Die Natur“ Naturelemente bilden in beiden Tragödien ein Medium mit der inhärenten Funktion der Vorankündigung tragischer Ereignisse, der Ambivalenz zwischen Schein und Sein sowie der Täuschung. Macbeths und Banquos Zusammentreffen mit den drei Hexen findet während eines Unwetters statt. Die drei „Schiksals-Schwestern“664 weisen bereits in der ersten Szene

662 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 72. 663 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 75. 664 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 14.

104 darauf hin, dass in der Geschichte, welche das Publikum erwartet, Täuschung und Betrug stattfinden werden (I, 1)665. „Fair ist foul und foul ist fair.“ (I.1)666 Täuschen lässt sich auch König Duncan, als er in Inverneß auf Macbeths Schloss eintrifft und das gesunde Klima lobt: König: Dieses Schloß hat eine angenehme Lage, die Luft empfiehlt sich durch ihre Feinheit und Milde unserm allgemeinen Sinn. (I.8)667

Als Lenox und Macduff am frühen Morgen nach dem Mord in Macbeths Schloß ankommen, beklagen sie die unruhige Nacht. Lenox: Diese Nacht war eine unruhige Nacht; in dem Gemach, wo wir lagen, wurde das Camin herunter geweht; und, wie sie sagen, so hörte man ein klägliches Geschrey in der Luft, und gräßliche Todes-Stimmen. […] Die Eule schrie die ganze Nacht durch, und einige sagen, die Erde selbst habe in fieberhaftem Schauer gezittert. (II,4)668

Auch Franz Kranewitter arbeitet mit atmosphärischen Naturgewalten. Wie in Macbeth fungiert in Um Haus und Hof die Eule / „der Uhu“669 als Todesbote, und der Wind fungiert in beiden Tragödien als Metapher für die Unbändigkeit der Elemente. Sogar die Wortführung bei Kranewitter (3.1.) gleicht jener in der oben zitierten Textpassage aus Macbeth (II.4).

Lena, Hies. (Man hört lange Zeit nichts als das Tosen des Windes und das Schnurren eines Spinnrades.) Hies: (Sitzt auf der Ofenbank.) Ist die Höll heut, los, a so ein Wetter. Der Erdbod’n bebt, als hätt‘ er’s Fieber. Der Uhu und die Hausunk schreit, und’s Vieh giebt kein Ruh im Stall: Und horch, der Wind tost drauß’n im Kamin und reißt die Bretter weg vom Dach. Heut giebt’s ein Unlück no. Mach jetzt die Läd’n zu und wirf vom g’weiht’n Kraut in den Kamin. Lena: A Nacht zum Graus’n. Hies: Der Mond so rot wie Blut. […](3.1) 670

665 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 7 – 8) 666 Shakespeare, William: Macbeth. S. 25. 667 Shakespeare, William: Macbeth. S. 27. 668 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 43. 669 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 53. 670 Ebd.

105

Das Spiel mit den Naturgewalten oder –elementen als Metapher für Atmosphären, für Geschehnisse, die „in der Luft liegen“, bildet eine Schnittmenge zwischen den beiden Tragödien. Kranewitter bedient sich dieses Stilmittels, um in der Mordnacht die Spannung zu steigern.

5.1.4 „Fortuna“671 Hans-Dieter Gelfert verortet in seiner Studie „Shakespeare“ 672 die Rolle der „Schicksalsmächte“ 673 in Shakespeares Tragödien einerseits als bei Macbeth am stärksten ausgebildet, stellt jedoch andererseits ihre Funktion in Zweifel, denn zwei der so genannten Prophezeiungen der Hexen stellen sich als gar keine heraus: Macbeth ist durch den Tod seines Vaters „Than von Glamis“, das ist sowohl Macbeth als auch dem Publikum bekannt.674 Auch dass der Feldherr Titel und Insignien des Verräters „Than von Cawdor“ vom König erhält, wissen die Zuschauer schon, bevor es Macbeth mitgeteilt wird.675 Die dritte Weissagung von der Thronbesteigung kann als tatsächliche Prophezeiung betrachtet werden, wobei ihre Umsetzung in die Wirklichkeit unter Anwendung von Gewalt ganz alleine in Macbeths persönlicher Entscheidung liegt. 676 Das mittelalterliche Weltbild vom „Rad der Fortuna“677, dem die Menschen hilflos ausgeliefert sind, steht in Konkurrenz mit dem freien Denken des Humanismus, mit dem Menschen, der sich gegen sein Schicksal zu wehren beginnt. Dieser Zwiespalt zwischen Mittelalter und Renaissance, die Ambivalenz zwischen Schicksalsergebenheit und Aufbegehren gegen festgesetzte Grenzen spiegeln sich auch in Shakespeares Theaterproduktionen und somit in Macbeth wider. Grenzüberschreitungen, wie die Verletzung der Gastfreundschaft und der Königsmord (II,2)678 sowie der Wunsch zur „Entweibung“ (I,7) 679der Frau in der Rolle der Lady Macbeth und ihre Anstiftung zum Mord (I,10)680, steht das Gewissen des Individuums gegenüber, woran schließlich beide Hauptprotagonisten in Shakespeares Tragödie Macbeth zu Grunde gehen. Die Prämisse der Renaissance, die „das Streben nach dem Höchsten zur

671 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 41. 672 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. C.H. Beck. München. 2014. 673 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 43. 674 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 43. 675 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare .S. 43. 676 Vgl.: Ebd. 677 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 41. 678 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 35 – 37. 679 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 25. 680 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 30 – 32.

106

Tugend erklärt hatte“,681 erfährt durch das Ehepaar Macbeth eine Perversion. Die Tugend mutiert zum Laster, der Ehrgeiz zur Gier.

Die „Schiksals-Schwestern“682 (I.3) der „Fortuna683“ sind in der Zeit Shakespeares noch allgegenwärtig, aber die Realisierung ihrer Weissagungen wird doch dem menschlichen Individuum überantwortet. Die drei Hexen hätten gerne die Macht, vollkommen über das Schicksal der Menschen zu bestimmen, aber ihr Einfluss ist begrenzt, was Shakespeare bereits in den ersten Szenen seiner Tragödie darstellt, als sie auf der Heide zusammenkommen und sich gegenseitig von ihren Aktivitäten erzählen (I,3). Dabei beschwert sich eine darüber, dass ihr eine Matrosenfrau nichts von den Kastanien anbot, die jene verspeiste.(I,3)684 Die drei Hexen wollen sich gemeinsam an der geizigen Frau rächen und deren Mann, der sich auf einer Seereise nach Aleppo befindet,685 eine beschwerliche Heimreise gestalten: 1. Hexe: […] Ohne Rast und ohne Schlummer, Soll auf seinem Augdach wachen, Nacht und Tag, und Tag und Nacht; Und so soll er in der Acht Siech und elend sich verzehren; Und ists gleich in meiner Willkuhr nicht, Sein Schiff an Klippen zu zerstören; So soll’s doch übel zugericht Von Sturm und Wetter wiederkehren.[…] (I.3)686

Das Ende von Macbeths Schreckensherrschaft vollzieht sich daher nicht in der Erfüllung der Weissagung, „Fürchte dich nicht bis der Birnam-Wald nach Dunsinan kommt“687, sondern durch das von Malcolm und Macduff nach Schottland geführte „Kriegsheer“688, dessen Soldaten sich Zweige des Birnam-Waldes als Tarnung umgebunden hatten. (V,6)689

681 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 41. 682 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 14. 683 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 41. 684 Vgl.: Shakespeare,William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 12. 685 Vgl.: Ebd. 686 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 13. (Hervorhebung FP) 687 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 114. 688 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 115. 689 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 115

107

Auch Macbeth wird getäuscht, durch eine Kriegslist. Ein Bote meldet ihm in der fünften Szene des fünften Auftritts: BOTE: Wie ich auf dem Hügel auf meinem Posten stand, schaut‘ ich gegen Birnam und da dauchte mich, der Wald bewege sich gegen mich her.690

Die Protagonisten in Shakespeares Macbeth weben sich ihr Schicksal durch in freier Entscheidung begangene Handlungen.

Franz Kranewitters Plot ist im Gegensatz zu jenem Macbeths im viel engmaschigeren Handlungs-Netz des Naturalismus gefangen. Die Protagonisten naturalistisch geprägter Dramen und Tragödien bewegen sich fremdgesteuert und holzschnittartig im vom Autor definierten Raum. Die Handlung gleicht einer schwarz-weiß-Fotografie und bleibt statisch. Tenor ist das ausweglose soziale Problem. Lena Lotter scheitert nicht grundsätzlich an ihrem Ehrgeiz und Besitzstreben, sondern an ihrer Armut, am rigiden sozialen Gefüge einer Dorfgemeinschaft und an den ihr nicht zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Ressourcen. In Um Haus und Hof gibt es keine Alternativen für die Protagonisten. Ein Ausbruch aus dem herrschenden System kann nur durch Flucht oder Verbrechen stattfinden. Im Falle der Macbeths steht die soziale Frage nicht zur Debatte. Die Handlung spielt innerhalb einer aristokratischen Gesellschaft. Lady Macbeths Motivation erklärt Shakespeare nicht näher, auch nicht, wie die Verbindung zu Macbeth zustande gekommen war. Es gibt im Stück keinen Hinweis auf wirtschaftliche Nöte oder soziale Probleme des Ehepaares, das kinderlos zu sein scheint. Dennoch deutet Shakespeare immer wieder auf dunkle Flecken in beider Vergangenheit hin: Als Lady Macbeth ihrem Mann dessen Skrupel und mangelnden Mut vorwirft (I,10) bezieht sie sich in ihrem Monolog auf frühere Mutterschaften wenn sie sagt: „[…] Ich habe Kinder gesäugt, und weiß wie zärtlich die Liebe zu dem Säugling ist, der an meiner Brust trinkt; […]“691 Auf Besonderheiten in Macbeths Vergangenheit verweist Shakespeare im Aufzug III,5. Nachdem Macbeth Banquo ermorden hatte lassen, verfolgt ihn dessen Geist. Auf einem großen Fest, an dem die Fürsten des Landes mit ihm an der Tafel sitzen, erscheint ihm plötzlich wieder der Geist Banquos. Aber nur er sieht ihn, die anderen Gäste nehmen nur mit Befremden ihres Gastgebers merkwürdiges Verhalten wahr:

690 Ebd. 691 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 31.

108

Macbeth (zum Geist.) Du kanst nicht sagen, ich hab es gethan: schüttle deine blutigen Locken nicht so gegen mich! (III,5)692

Lady Macbeth versucht die Gäste zu beschwichtigen, als diese gehen wollen. Lady: Bleibet sizen, liebe Freunde, Milord ist oft so, und ist von Jugend an so gewesen. Ich bitte euch, behaltet eure Pläze. Der Anstoß daurt nur einen Augenblik, in einem Gedanken wird er wieder wohl seyn. […](III,5)693

Macbeth hatte also von Jugend an das „zweite Gesicht“, litt unter Vorahnungen oder vielleicht auch Wahnvorstellungen. Shakespeare weist wiederholt auf seine biographische Vergangenheit hin, aber er bietet keine näheren Erklärungen, sondern überlässt es dem Zuschauer und dessen Phantasie, über das Vorleben des Macbeth nachzudenken.

Franz Kranewitter hingegen erklärt im Verlauf des Dramas immer wieder die Motive der Handlungen seiner Protagonisten: Lena Lotter erlebt von Kind an Demütigungen wegen ihrer Herkunft. Kranewitters Hauptprotagonistin will ihr Leben verändern – oder sterben. Sie will alles oder nichts. Diesen Willen zur Veränderung hat sie mit Lady Macbeth gemein, wobei Kranewitter Lenas Beweggründe transparenter darstellt als Shakespeare jene der Lady Macbeth. Lena scheitert am Status Quo der Gesellschaft, in der sie lebt. Sie ist „entweibt“ durch ihren Lebenslauf. Ihre Shakespeare’sche Gegenspielerin fordert die „Entweibung“ von den angerufenen Geistern (I,7)694 Beide Frauen müssen ihr (weibliches) Gewissen deaktivieren, um ihre Ziele zu erreichen.

Das Schicksalsmotiv oder die „Fortuna“ erfüllt sich in beiden Tragödien, und zwar durch aktive Handlungen und passive Teilnahme an der Ermordung jener Personen, die den Hauptprotagonisten im Wege stehen. In beiden Dramen strebt das Individuum nach eigenem persönlichen Glück, begehrt gegen sein Schicksal auf und gerät unter das mittelalterliche „Schicksalsrad“, das alle erfasst, die ihr Los nicht demütig hinnehmen und ertragen. In Shakespeares Macbeth geraten mittelalterliches Demutsdenken und neuzeitliches „Streben

692 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 67. 693 Ebd. (Hervorhebung FP) 694 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 25.

109 nach dem Höchsten [..]“695 miteinander in Konflikt. Franz Kranewitters erste Tragödie entstand unter dem Einfluss des Naturalismus‘ sowie den positivistischen Denkkonzepten696 des französischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857)697, wonach […] alle Vorgänge festen und unveränderlichen Gesetzen unterworfen seien.“698 Sein Schüler Hyppolite Taine (1828-1893)699 erweitert den philosophischen Positivismus für die „Literaturgeschichtsschreibung“700 um „ethnologische, historische und soziologische Fragestellungen“701. Für Taine ist der Mensch kein freies Wesen, sondern sein Schicksal geprägt von „‘la race, le milieu et le moment‘ “ (Taine 1863, Bd. 1, XXIIf.)“702 : „ ‚Race‘ meint die angeborenen und vererbten Eigenschaften, wie sie sich in Temperament und Körperstruktur manifestieren. […] ‚Milieu‘ […] bezeichnet klimatische und geographische Bedingungen ebenso wie politische und soziale Verhältnisse, […] – ‚Moment‘ schließlich zielt auf speziellere geschichtliche Kausalität, […].(Mennemeier 1985, 29)“.703 Der Germanist Wilhelm Scherer (1841-1886)704 transformiert die Begriffe Taines in der deutschen Übersetzung in „ein Determinationsgefüge von ‚Ererbtem, ‚Erlebtem‘ und ‚Erlerntem‘.“705 Das individuelle Schicksal ist innerhalb dieser Prämissen vorherbestimmt und determiniert. Darauf verweist Kranewitter selbst im Zitat Friedrich Hebbels, das er seinen Lebenserinnerungen voranstellt: „Was einer werden kann, das ist er schon“706. Bei Franz Kranewitter drehen soziales Umfeld und Zeitgeist das „Schaufelrad der Fortuna“.707 Die Schnittmenge von Macbeth und Um Haus und Hof bildet hier die Bestrafung gegen das Aufbegehren gegen das vorgegebene Schicksal und das Kapitalverbrechen Mord.

695 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 41. 696 Vgl.: Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. WBG, Darmstadt.2011. S. 21. 697 Vgl.: Ebd. und S.141. 698 Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. S. 21 699 Vgl.: Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. S. 22 und S. 144. 700 Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. S. 22. 701 Ebd. 702 Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. S. 23. 703 Ebd. 704 Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar. 2011. S. 33. 705 Ebd. 706 Hebbel, Friedrich: Tagebücher. Ausgewählt und herausgegeben von Anni Meetz. Reclam, Stuttgart. 2013. S. 133: „ ‚Genoveva‘-Brocken: ‚Was einer werden kann, das ist er schon‘. Gott wird nicht auf die Sünden sündiger Individuen gegen e i n a n d e r das entscheidende Gewicht legen, sondern nur auf die Sünden gegen die Idee selbst, und da sind wirkliche und bloß mögliche völlig eins. (2290)“ 707 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 41.

110

5.1.5 „Mann und Frau“ In der Beziehungskonstellation der Ehepaare Macbeth und Lotter/Klotz bestehen signifikante Parallelen. Die Charaktere sowohl von Macbeth also auch von Hies Klotz werden als grundsätzlich loyal und vernünftig gezeichnet, das heißt, beide wissen um die Bedeutung des herrschenden Rechts und besitzen ein Verständnis für Unrecht. Auf beider Wesen kann jedoch die Beschreibung durch Lady Macbeth zutreffen, die sie in ihrem Monolog wiedergibt, als sie den Brief ihres Mannes über die Prophezeiung der Hexen liest (I,7): „[…] Du bist nicht ohne Ehrgeiz; du möchtest groß seyn; aber nicht durch schlimme Mittel. Du möchtest gewinnen was dir nicht gehört, und doch nicht falsch spielen; du wünschest nicht daß es ungethan bleibe, aber du scheuest dich es selbst zu thun. […]“708 Sowohl Macbeth als auch Hies Klotz begehen die Tat schlussendlich durch die Manipulation, welche ihre Frauen auf sie ausüben. Die Verfahrenstechniken dieser Manipulation sind bei Shakespeare und Kranewitter quasi dieselben, was bedeutet, dass das Frauenbild im frühen 17. Jahrhunderts sich wenig von jenem Ende des 19. Jahrhunderts unterschied. Obwohl in England mit Elizabeth I eine Frau die Geschicke des Landes lenkte, galten Frauen im Elisabethanischen Zeitalter „nicht nur körperlich, sondern auch moralisch schwächer […] als Männer. […] Sie galten als Wesen von schwachem Verstand und starker Sinnlichkeit, […].“709 Ob Lady Macbeth und Lena Lotter „von schwachem Verstand“ waren, muss, ob der Zielstrebigkeit, mit der sie ihre Ziele verfolgten, bezweifelt werden, dass sie aber beide mit all ihren Sinnen arbeiteten, kann nicht geleugnet werden. Beide Protagonistinnen arbeiten subversiv mit Mitteln der Erotik und gleichzeitig mit Angriffen auf das männliche Selbstwertgefühl ihrer Partner. So überredet Lena Hies in Um Haus und Hof (I, 10) dazu, den Vater zur Hofübergabe zu zwingen, um endlich heiraten zu können. Kranewitter setzt in diesen Szenen die geltenden zeitgenössischen Normen der Religion und der Gesellschaft ad absurdum: Hies: Lena, mir fällt was ein. Wir heirat’n und zieh’n in die Stadt, dort verdien‘ i unser täglich’s Brot, ehrlich und rechtschaff’n. I will arbeit’n. Lena: So, und damit glaubt du, bi i z‘fried’n. Meinst i hab mir desweg’n herumzieh’n lass’n durch zehn Jahr, um no tiefer hinein z’g’rat’n in die Not, - um ein

708 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 24. 709 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare: S. 44.

111

Taglöhnersweib z’werd’n! Hies: Aber Lena, bist du stolz! Lena: Das bin i und will’s, daß es a du bist. (Zieht den Strumpf höher über ihr wohlgeformtes Bein.) Hies! Hies: O Lena, wie bis du schön. Lena: Geh jetzt fort, Hies, es ist Zeit zum Schlaf’n. Hies: Jetzt soll i geh’n, jetzt. Lena: Es ist besser. Hies: Nit um alles in der Welt. Laß mi. Lena: Und das alles könnt dein sein. Hies: O nur einmal bei dir sein, eine Stund bei dir sein, di ganz hab’n. Lena, Weib! I muß di hab’n, kost’s was es will. Lena: Tapper! Hies: Sag was verlangst, damit i’s verdienen kann. Lena: Willst’s thun, Hies? Hies: Meinetweg’n in d’Höll, wenn’s mit Dir ist. Lena: Du lieber, herziger Bua! (küßt ihn.) Aber wenn d’falsch bist. Es ist doch besser, du gehst. Hies: I bin nit falsch Lena, na. Um das? I bitt‘ di verlang. Soll i’s Haus anzünd’n? Lena: So schwör. Hies: I schwör. Lena: Bei deiner Seligkeit! Hies: Bei meiner Seligkeit! (1,10)710

Hölle, Seligkeit, Schwüre, das vierte Gebot - „Du sollst Vater und Mutter ehren“ -, fallen in diesen Szenen ineinander und bilden das Konglomerat der Tragödie, das die Protagonisten in die Katastrophe führen wird.

Der Philologe Alois Brandl (1855 – 1940) publizierte 1894 in Berlin711, im selben Jahr, in dem Kranewitter Um Haus und Hof schrieb,712 seine „“ Shakespeare-Biographie.713 Brandl verweist im Kapitel „Starke Männer und stärkere Frauen“ auf Shakespeares „Learquelle“714. „Goneril und Regan sind bereits Weiber mit schroffem Eigenwillen, die sich vor dem Helden aufbäumen und ihm mehr als die Wage halten. […]“715

710 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. I.10. S. 28-30. (Hervorhebung FP). 711 Vgl.: Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 46. 712 Vgl.: Ebd. 713 Vgl.: Brandl, Alois: Shakespeare. Leben – Umwelt – Kunst. In: Hofmann, Ernst: „Geisteshelden“ (Führende Geister). Eine Sammlung von Biographien. Band. 8. A. Ziemsen Verlag. Mittenberg (Bez. Halle), 1923. 714 Brandl, Alois: Shakespeare. Leben – Umwelt – Kunst. S. 393. 715 Ebd.

112

Brandl führt weiter aus, dass in den Beziehungsgeflechten in Shakespeares Tragödien männliche Helden durch ihre Frauen fallen: „Immer bezahlt dabei der Mann das Zusammengehen zunächst mit dem höheren Adel, der ihm ursprünglich in der Brust saß, dann mit seinem Frieden, endlich mit all seinem äußern Glück. […]“716 Diese Folie der Paarbeziehung kann auch über Franz Kranewitters Um Haus und Hof gelegt werden. In Shakespeares Quelle zu Macbeth, dem Holinsheds Chronicle, wird auf den Ehrgeiz der Lady Macbeth verwiesen. Sie wollte um jeden Preis Königin werden. Sie galt in den Geschichten Holinsheds als die treibende Kraft beim Mord an König Duncan. „The woords of the three weird sisters also (of whom before ye haue heard) greatlie incouraged him herevnto, but speciallie his wife lay sore vpon him to attempt the thing, as she that was verie ambitious, burning un vnquenchable desire to beare the name of a queene.”717 Es ist dies übrigens der einzige Eintrag zu Lady Macbeth in Holinshed’s Chronicle.718 William Shakespeare verarbeitete seine Inspirationen nie quellentreu und schrieb somit die alten Geschichten neu. Seine Lady Macbeth war nicht nur ehrgeizig, sondern sie konnte sogar lesen,719 was für eine Frau im England des frühen 17. Jahrhunderts sehr ungewöhnlich erscheint, um so mehr, als die Handlung von Shakespeare noch einmal zurückversetzt, im elften Jahrhundert stattfindet.720

Die weiblichen Strategien demonstriert Shakespeare an folgendem Beispiel: Als Macbeth den Plan, König Duncan zu ermorden, aufgeben will, entgegnet ihm seine Frau:

Lady: War die Hoffnung trunken, die euch vor kurzem so entschlossen machte? […] Wie? Fürchtest du derjenige in der That zu seyn, der du zu seyn wünschest? Strebest du nach dem, was du für die Zierde des Lebens ansiehst, und willst in deinen eignen Augen als eine Memme leben? […] (I,10)721 Macbeth: Ich bitte dich, halt ein. Ich habe zu allem Muth, was einem Mann anständig ist; wer mehr hat, ist keiner. (I,10)722

716 Brandl, Alois: Shakespeare. Leben – Umwelt – Kunst. S. 384. 717 Nicoll, Allardyce & Josephine (Hrsg.): Holinshed’s Chronicle as used in Shakespeare’s Plays. J.M. Dent & Sons LTD., London. 1959. S. 211. (Hervorhebung FP). 718 Vgl.: Nicoll, Allardyce & Josephine (Hrsg.): Holinshed’s Chronicle as used in Shakespeare’s Plays. J.M. Dent & Sons LTD., London. 1959. S 719 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. I.7. S. 23 f. 720 Vgl.: Greenblatt, Stephen. In: Greenblatt, Stephen; Cohen, Walter; Howard, Jean E.; Eisaman Maus, Katharine: The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition. Tragedies. W.W. Norton & Company. New York. London. S. 785. 721 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 31. 722 Ebd.

113

Lady: Was für ein Thier war denn das, das euch antrieb, mir die erste Eröffnung von diesem Vorhaben zu thun? Als ihr den Muth hattet es auszuführen, da war’t ihr ein Mann; und wenn ihr mehr wäret was ihr waret, so würdet ihr um so viel mehr Mann seyn. […] (I,10)723

Macbeth ist Soldat und zieht quasi durch die Parolen seiner Frau angefeuert, „in den Krieg“ . Er hält als Krieger den Freibrief, Feinde zu töten, um zu gewinnen. Der Feind ist in seinem Fall König Duncan und der Gewinn die Königskrone Schottlands. Er bewundert seine Frau ob ihrer Zielstrebigkeit, und der Plan festigt noch einmal mehr ihre Verbindung (I, 10):

Macbeth: Welch ein Weib! Bringe mir keine Töchter! Aus deinem Metall müssen nur Männer gebildet werden! […] Ich bin entschlossen, Weib, und alle meine Sehnen strengen zu dieser furchtbaren That sich an. […] (I,10)724

Derselbe Macbeth, der sich durch der Gattin Worte zur tragischen Wendung seines Schicksals verführen lässt, wird von seinen Heerkameraden beschrieben als „heldenmüthige(r) Macbeth“ (I,2)725 und als „wahrer Liebling der Tapferkeit“726 oder als „Bellonas Bräutigam“727.

Lady Macbeth initiiert die unglückliche Wendung, den Fall des umjubelten Helden, aber Shakespeare lässt sie nach dem Bankett, als Macbeth der Geist Banquos erschienen war, von der Bühne abtreten. Macbeth bleibt allein zurück. Sein geistiger Zustand oszilliert zwischen wirren Vorahnungen und klarem Bewusstsein. Macbeth: […] Morgen früh will ich zu den Zauber-Schwestern; sie müssen mir mehr sagen; dann nun bin ich schon gezwungen, zu meinem Besten, durch die schlimmsten Mittel, das Aergste zu wissen. Ich bin so tief in Blut hineingestiegen, daß wenn ich izt nicht weiter fortwatten wollte, das Zurükgehen so gefährlich wäre als jenes; Ich habe wunderbare Dinge im Kopf, die meine Hand fordern, und ausgeführt werden müssen, eh sie nur vermuthet werden können. (III,5)728

723 Ebd. 724 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 32. 725 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 9. 726 Ebd. 727 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 11. 728 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 71.

114

Lady Macbeth entrückt der Welt, ihr Unbewusstes, in dem sich die Schuld am Mord an König Duncan manifestiert, überschwemmt ihr Bewusstsein, das heißt, es stellt sich bei ihr, anders als bei Lena Lotter, unbewusstes Schuldwissen ein, wohingegen Reue bei beiden Frauen nicht erkennbar ist.

Obwohl der Stoff beider Tragödien aus Machtpolitik, Besitzgier nach materiellen und immateriellen Gütern, gewoben ist, bildet den Ausgangspunkt für die Dynamik des Unglücks die jeweilige Paarkonstellation. Die Beziehungen zwischen Macbeth und Lady Macbeth sowie jene zwischen Hies Klotz und Lena Lotter werden gezeichnet von Abhängigkeit und Manipulation. Sowohl Shakespeare als auch Kranewitter schaffen mit ihren Figuren Kontrafrakturen zur allgemeinen gesellschaftlichen und moralisch überhöhten Vorstellung von einer Ehegemeinschaft Innerhalb der Rezeption in der philologischen Fachwelt fällt auf, dass die Rolle der Schuld am Unglück beinahe unisono den beiden weiblichen Charakteren der hier untersuchten Tragödien zugewiesen wird: Auch Lady Macbeth stellt Brandl in die Reihe jener Frauen, die ihre Männer auf subversive Weise in eigener Sache beeinflussen und schreibt so die Schuld und die Verantwortung am tragischen Geschehen den weiblichen Protagonisten zu: „Lady Macbeth denkt erst an die Krone, sobald ihr diese in erreichbare Nähe rückt, ruft nur flüchtig einmal die Hilfe der Totengeister an, wandelt aber dann den Gatten aus einem treuen Vasallen stufenweise in einen Schlächter.“729 In der englischen Sprache kann dies treffend formuliert werden: „She made him kill the king“. Unbeachtet bleibt dabei, dass Macbeth Soldat war und während des Krieges zwischen Norwegen und Schottland in der Schlacht bereits als Schlächter agierte: Officier […] der heldenmüthige Macbeth (wohl verdient er diesen Namen) hieb mit edler Verachtung des Glüks, mit seinem von blutiger Arbeit rauchenden Schwerdt, wie ein wahrer Liebling der Tapferkeit, sich seinen Weg bis unter die Augen des Sclaven durch; und ließ nicht eher von ihm ab, bis er ihn vom Wirbel bis zum Kinn aufgespaltet, und seinen Kopf als ein Siegeszeichen vor den Augen unserer Schaaren aufgestekt hatte. (I,2)730

Beweise für Brandls Aussage finden sich im Text, wie an folgender Stelle im Stück ersichtlich ist: Im ersten Akt, in der zehnten Szene (Wielands Übersetzung) zeigt Macbeth

Brandl, Alois: Shakespeare. Leben – Umwelt – Kunst. S. 384. 730 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 9.

115

Skrupel und Gewissen. Er will den Meuchelmord an König Duncan nicht begehen. Lady Macbeth reagiert: Lady: War die Hoffnung trunken, die euch vor kurzem so entschlossen machte? Hat sie seitdem geschlaffen, und erwachte sie nun, um so bleich und grün beym Anblik dessen, was sie vorher liebte auszusehen? Wie? Fürchtest du derjenige in der That zu seyn, der du zu seyn wünschest? Strebest du nach dem, was du für Zierde des Lebens ansiehst, und willst in deinen eignen Augen als Memme leben? [...] (I.10).731 […] Als ihr den Muth hattet es auszuführen, da war’t ihr ein Mann; und wenn ihr mehr wäret was ihr waret, so würdet ihr um so viel mehr Mann seyn. Damals bot sich euch weder Zeit noch Ort an, und ihr wolltet beyde machen; sie haben sich selbst gemacht, und ihre Bereitwilligkeit schrekt euch ab […] (I.10)732

Es folgt der wohl grausamste Monolog in der Tragödie Macbeth, in der Shakespeare eine Frau skizziert, die in der Paarbeziehung eindeutig dem Partner den Vorzug gibt und ihrer Mutterrolle zugunsten dieser Beziehung zum Gatten eine eindeutige Absage erteilt. Lady: […] Ich habe Kinder gesäugt, und weiß wie zärtlich die Liebe zu dem Säugling ist, der an meiner Brust trinkt; aber ich wollte -- ja Macbeth! indem er mich liebkosend angelächelt hätte, wollt‘ ich meine Warze aus seinem beinlosen Kiefer gezogen, um ihm das Hirn ausgeschlagen haben, wenn ich es so geschworen hätte, wie ihr das geschworen habt. (I.10)733

Diese Textpassage evoziert beim Rezipienten Entsetzen und sie wirft gleichzeitig viele Fragen auf, welche Shakespeare im Stück unbeantwortet lässt. Welche Motive begründen das leidenschaftliche Machtstreben dieser Frau, das sie auf ihren Gatten überträgt? Lady Macbeth ist Mitglied der Aristokratie, wie ihr Mann. Es gibt innerhalb der Handlung keine Hinweise auf materielle Not oder gesellschaftliche Ächtung, wie es bei Lena Lotter der Fall ist. Was der Leser erfährt, ist, dass beide Partner eine eigene Vergangenheit besitzen. Macbeth leidet offenbar seit seiner Jugend an Wahnvorstellungen (III.5)734 und Lady Macbeth war entweder schon einmal verheiratet oder aber ihre Kinder sind als Säuglinge gestorben (I.10)735 Es kann hier nicht näher auf die Beziehungsgenese der Eheleute Macbeth

731 Shakespeare, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. S. 30 und 31. 732 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 31. 733 Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 31. 734 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 67. 735 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 31 und 32. Lady Macbeth sagt, sie habe bereits Kinder gesäugt und Macbeth ruft einige Zeilen später aus: „Welch ein Weib! Bringe mir keine Töchter! Aus deinem Metall müssen nur Männer gebildet werden!“ (S.32)

116 eingegangen werden, die jedoch umfangreichen Stoff für eine wissenschaftliche Untersuchung bieten würde.

Es wurde bereits oben ausgeführt, dass Frauen im Elisabethanischen England gesellschaftlich kein bedeutender Rang eingeräumt wurde. Ihre nicht unerhebliche Macht jedoch, die sich auch in Shakespeares Theater widerspiegelt, wird dem Reich der Sinne, der unberechenbaren Natur und des Dämonischen zugeordnet. In beiden Tragödien nehmen die Ehegatten betroffen die dämonische Seite ihrer Partnerinnen wahr. Sichtbar wird diese Erfahrung in den Textpassagen, in denen die Frau als „Weib“ angesprochen wird, wie oben ausgeführt bei Macbeth in I.10736 und bei Um Haus und Hof in 3.5, als Lena Hies dazu überredet, den Bruder zu töten: Lena: I mein nur, Hies, i mein nur, wenn es gieng, daß er auf einmal einschlafet. Zwei, drei Tag lang schlafet. Gar nimmer aufwachet. Hies: Was willst, Weib! (3.5)737

Als Alternative zum Mord stellt Lena Hies das Zuchthaus vor Augen. Hies: I bitt‘ di –Weib nur das nit. Du glaubst es selbst nit. (3.5)738

Während Lady Macbeth wohl als Urheberin des Verbrechens verortet wird, tritt sie nach 55 Einsätzen im fünften Akt nach der ersten Szene seelisch und geistig verwirrt von der Bühne ab. In der fünften Szene des fünften Aktes wird König Macbeth ihr Tod – ob Selbstmord oder natürlicher Tod ist unklar – gemeldet. Der Bruch zwischen den beiden Eheleuten vollzieht sich jedoch bereits im dritten Akt lautlos, nach dem Mord an Banquo, den Macbeth seiner Frau verheimlicht.

Lena Lotter bleibt als Hauptprotagonistin präsent bis zur letzten Szene. Die Beziehung zu Hies zerbricht unmittelbar nach dem Mord an Franz. Hies Klotz bricht mit dem Geständnis seiner Tat die Verbindung zu Lena ab und fügt sich, indem er seine Schuld gesteht, wieder in die Gemeinschaftsordnung ein – auch wenn auf ihn die Todesstrafe wartet. Schuld und

736 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. S. 32. 737 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 62. 738 Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 63.

117

Sühne sind in der Tragödie Kranewitters für die Rezipienten offen sichtbar, transparent, vom Anfang bis zum Ende. Macbeth ficht seinen Kampf im Inneren aus und wird niemals gestehen. Seine Rolle ist jene des Verschleierns, Vertuschens. Er findet trotz aller inneren Monologe und Grübeleien weder Einsicht noch Reue für seine Taten. Somit kann abschließend zur Paarkonstellation in den beiden Tragödien festgehalten werden, dass Lady Macbeth, Lena Lotter und Macbeth statische Figuren bleiben, die keine Persönlichkeitsentwicklung betreffend Einsicht und Verantwortung erfahren. Macbeths subtile psychische Verästelungen und philosophische Monologe können erkenntnistheoretisch nicht als Entwicklung der Persönlichkeit verortet werden. Wie Lena Lotter entzieht auch er sich der Verantwortung durch (Frei-)Tod im prophezeiten Zweikampf mit Macduff. Einzig Hies Klotz stellt sich seiner Tat und der irdischen Gerichtsbarkeit, weil er von der göttlichen Vergebung erwarten darf (4.5) 739 Er tritt somit als Einziger aus dem circulus vitiosus heraus. Nach den sondierten Parallelen in Shakespeares Macbeth zu Franz Kranewitters Um Haus und Hof soll im Vergleich dieser beiden historisch und geographisch so weit voneinander entfernten Tragödien kurz und abschließend die Frage nach der Rolle des Willens, des Ehrgeizes und der Macht als Fallstricke erörtert werden. Diese Frage impliziert zugleich die Überlegung, wie der freie Wille im Rahmen der Prämissen des Positivismus und des Naturalismus existieren kann und ob bzw. in welchem Verhältnis Shakespeare und der Naturalismus per se stehen.

5.1.6 Wille und Ehrgeiz als Fallstricke Am 25. Februar 1904, neun Jahre nach der Uraufführung von Um Haus und Hof, erscheint im Feuilleton der Innsbrucker Nachrichten Franz Kranewitters Studie zu Macbeth. 740 In der Einleitung schreibt er: Eine der größten Tragödien der Weltliteratur, schon deswegen, weil sie wie keine zweite das Grund- und Urelement aller Tragik und alles Seins überhaupt, den Willen selbst, zur Grundlage hat. Einen Willen, der gleichsam die Basis bildet, den die Säure eines gewaltigen Ehrgeizes zum Schäumen und Brausen bringt, um ihn rastlos über

739 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. S. 94 und 95. 740 Vgl.: Kranewitter, Franz: „ ‚Macbeth‘ Studie von Franz Kranewitter“ In: Feuilleton der Innsbrucker Nachrichten. 51. Jahrgang 1904. Nr. 45. 25. Februar 1904. S. 1 – S. 3.

118

Blutlachen und Leichenhügel hinüberzuhetzen, bis er endlich wie die Motte an dem Lichte der Erkenntnis, das sich jede geschehene Tat unfehlbar in der menschlichen Brust aufsteckt und mit dem sie sich beleuchtet, sich die Flügel verbrannte und todmüde zugrunde geht. 741

Die treibenden Kräfte für die Handlungen der Hauptprotagonisten, des Ehepaares Macbeth sowie Lena Lotters und Hies Klotz‘ sind der Wille und der Ehrgeiz in Verbindung mit Besitz- und Machtstreben. Beide Antriebskräfte, in beiden Tragödien pervertiert ins Negative, bilden bei allen vier Protagonisten die Fallstricke, an denen sie zugrunde gehen. Die Macbeths sind getrieben von der Gier nach Macht und ihren Insignien, wie der Königskrone. Bei Lena Lotter ist es der Wille, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten, sozial und materiell unabhängig zu sein sowie der Ehrgeiz, Herrin auf dem Klotzenhof zu werden, mit allen Mitteln. Hies Klotz scheitert an seiner physischen Abhängigkeit von Lena. Auch wenn Macbeth und Hies Klotz zunächst noch zögern vor der Tat, Macbeth seine Verbrechen immer wieder reflektiert, gestalten sowohl Shakespeare als auch Kranewitter ihre Figuren nicht als in ihren Handlungen frei agierende Figuren. Kranewitter führt dazu in seiner Studie für Macbeth aus, was – unter den Prämissen positivistischen Denkens - auch für die Figur des Hies Klotz gelten kann: […]. Der Wille ist vielmehr nur bedingt oder relativ frei. Bedingt nicht bloß durch die ihm selbst zum Bewußtsein kommenden Einwirkungen der einzelnen Dinge, sondern auch jener dunklen, unsichtbaren, unbewußten Einflüsse, welche die allgemeine Lage der Dinge, der allgemeine Charakter der ihn umgebenden Natur- und Menschenwelt, sozusagen die Atmosphäre der allgemeinen Zustände und Verhältnisse auf seine Tat, die, wie gesagt, für ihn ein Ereignis ist, ausübt.742

Kranewitter greift hier die positivistischen Denkmodelle seiner Zeit auf, was auch sein eigenes „Motto“743 widerspiegelt, das er seinen Lebenserinnerungen voransetzt,744 im Satz

741 Kranewitter, Franz: „‚Macbeth‘. Studie von Franz Kranewitter“ S. 1. 742 Kranewitter, Franz: „ ‚Macbeth‘. Studie von Franz Kranewitter“. S. 1. 743 Kranewitter, Franz: Gesammelte Werke. S. 11. 744 Vgl.: Kranewitter, Franz: Gesammelte Werke. S. 11.

119

Friedrich Hebbels, „Was einer werden kann, das ist er schon“.745 Die Folie der Charakterisierung des Macbeth, gelegt über die Figur des Hies Klotz, ergibt in diesem Falle zwei Protagonisten, die nicht an ihrer Willensstärke, sondern an deren – schwäche scheitern. In seinem Aufsatz thematisiert Kranewitter gleichfalls die Nachfolge im Familienbesitz und spannt damit in seinen Ausführungen zu Shakespeares Tragödie implizit den Bogen zu seinem ersten dramatischen Werk: Er weist die Figur des Macbeth als die ideell746 befähigter aus, als jene des König Duncan, ein Königreich zu regieren. „Aber dieser ideellen Berechtigung, die nur Befähigung, aber kein Recht ist, steht das reelle positiv gültige Recht Duncans gegenüber. Er hat das Recht, König zu bleiben, weil er es auf Grund der positiv bestehenden Rechtsverhältnisse einmal ist.“747 Kranewitter rekurriert damit auf die Aufzeichnungen in Holinsheds Chronicle.748 Macbeth ist der Neffe des Königs, nach dem realen geltenden Recht hat er keinen Anspruch auf die Krone, solange der König und dessen Söhne leben.

Dasselbe Spannungsverhältnis zwischen ideellem und realen Recht findet sich in Um Haus und Hof. Nachdem der Erstgeborene des Klotzenbauern nach einem Streit den Hof und das Land verlässt, um zehn Jahre im Ausland zu bleiben, hat der jüngere Sohn die Geschäfte übernommen und den Hof erfolgreich weitergeführt. Ideell wäre er der rechtmäßige Nachfolger seines Vaters. Lena Lotter will dieses ideelle Recht, vor allem auch aus eigenen Motiven, mit Gewalt durchsetzen.

Somit belegt zuletzt auch Kranewitters Studie aus dem Jahr 1904 die inhaltliche Nähe seiner Tragödie Um Haus und Hof zu Shakespeare’s Macbeth. Was beide Werke voneinander unterscheidet, ist ihre jeweilige genuine Rhetorik, der Blankvers sowie sprachliche Eloquenz und Diversität im Wortspiel bei Shakespeare und der Tiroler Dialekt als Idiom der

745 Hebbel, Friedrich: Tagebücher. Ausgewählt und herausgegeben von Anni Meetz. Reclam, Stuttgart. 2013. S. 133: „ ‚Genoveva‘-Brocken: ‚Was einer werden kann, das ist er schon‘. Gott wird nicht auf die Sünden sündiger Individuen gegen e i n a n d e r das entscheidende Gewicht legen, sondern nur auf die Sünden gegen die Idee selbst, und da sind wirkliche und bloß mögliche völlig eins. (2290)“ 746 Vgl.: Kranewitter, Franz: „Macbeth. Studie.“ In: Feuilleton der Innsbrucker Nachrichten 51. Jahrgang 1904. Nr. 45. 25. Februar 1904. S. 2. 747 Kranewitter, Franz: „ ‚Macbeth‘. Studie von Franz Kranewitter.“ S. 2. 748 Vgl.: Nicoll, Allardyce & Josephine (Hg.): Holinshed’s Chronicle as used in Shakespeare’s Plays. J.M. Dent & Sons Ltd., London. 1959. S. 207.

120

Dorfbevölkerung als Abgrenzung zur Außenwelt, im Gegensatz zur Hochsprache des außenstehenden Pfarrers und des Sohnes Franz bei Kranewitter.749

5.2 „Shakespeare und der Naturalismus“750 Im Kapitel „Naturalistische Perspektivelosigkeit“751 seines Werkes zu Franz Kranewitter schreibt Johann Holzner: Um das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten, das Kranewitters erstes Stück bereitstellte, noch einmal zu vergegenwärtigen: ‚Um Haus und Hof‘ konnte u.a. auch das Nachdenken des Zuschauers darüber inspirieren, daß eine auf das Privateigentum aufbauende Gesellschaftsordnung in sich selbst die Ursachen für die Auflösung dieser Ordnung virtuell enthält. Der in der Struktur des Dramas eingeschlossene Fatalismus, seine Perspektivelosigkeit hätte also mittelbar durchaus den Blick für neue Perspektiven öffnen können – unter der Voraussetzung, daß man die kritischen Ansätze des Werkes adäquat, d.h. in diesem Fall kreativ weitergedacht hätte.752

Dieser Fatalismus findet sich auch in der Tragödie Shakespeares. Macbeth hätte auf legalem Wege niemals die Königskrone erworben, auch wenn er der geeignetere Monarch gewesen wäre. Genau wie Lena Lotter wäre es Macbeth und Lady Macbeth niemals gelungen, für eine geraume Zeit die ihr von der Gesellschaft und vom geltenden Recht vorgeschriebenen sozialen Milieus zu verlassen, wobei das soziale Thema per se in Macbeth nicht thematisiert wird.

Wenn nun Heinrich Bulthaupt in seinem Essay „Shakespeare und der Naturalismus“ den Beweis erbringen möchte, dass beide Genres, das Elisabethanische und das naturalistische Drama nicht miteinander vergleichbar sind, dann kann ihm, zumindest hinsichtlich der Tragödie Macbeth, nur bedingt zugestimmt werden. Perspektivelosigkeit und Fatalismus im

749 Vgl.: Holzner,Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 60. 750 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. Einleitender Vortrag zur Jahresversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, am 23. April 1893.In: Supplement zu Bd. 28 des Jahrbuchs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 1893. S. 1 – S. 25. Zur Verfügung gestellt von: SUB, Digizeitschriften eV. Geschäftsstelle DigiZeitschriften e.V. Göttingen. E-Mail von Szsczepaniak, Sebastian an Polner, Friederike vom 29. Mai 2017. Heinrich Bulthaupt (1849 – 1905) war deutscher Autor. 751 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 63 – S.72. 752 Holzner, Johann: Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 63.

121

Inhalt und im Handlungsverlauf finden sich nämlich sehr wohl in Shakespeares, im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts entstandener Tragödie, wie mittels der Inhaltsangabe und vieler Textbeispiele zu demonstrieren versucht wurde. Werden die Hexenszenen753 und das komische Intermezzo des Torwächters im zweiten Akt754 abstrahiert, dann bleibt ein Plot - genau wie in Um Haus und Hof - dessen Fatalismus und Perspektivelosigkeit, unwiderruflich auf den Abgrund sowie den Untergang der Hauptprotagonisten - und mit die humanistischen Werte - zusteuern.

Was Bulthaupt in seinen Ausführungen vornehmlich kritisiert, ist die fehlende Eloquenz in der naturalistischen Rhetorik, beziehungsweise deren partielle völlige Absenz.755 Bulthaupt verwendet für seine Beweisführung unter anderem den Vergleich der Liebesszenen in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang756 mit jenen in William Shakespeares Romeo und Julia.757 Bulthaupt schreibt: In einem neueren Drama, das bei Gelegenheit seiner Aufführung auf der ‚Freien Bühne‘ in Berlin viel von sich reden machte – ‚Vor Sonnenaufgang‘ heißt es, und ist sein Verfasser – findet sich inmitten der abschreckendsten Darstellungen jede Art von Gemeinheit, in einer widrigen, betäubenden Atmosphäre von Alkohol, eine Liebesscene, die auch den grimmigsten Hassern des Stückes ein Wörtchen der Anerkennung ablockte – […] In dieser Scene […] schreibt der Verfasser in einer Klammer seinen Geschöpfen oder ihren Darstellern nach allerlei Präliminarien des Liebesgeständnisses wörtlich Folgendes vor: […] Ein Geben und ein Nehmen von Küssen ist eine Zeit hindurch die einzige Unterhaltung – stumm und beredt zugleich – der Beiden.‘ Nun folgen einige mehr gestammelte als gesprochene Worte; dann heißt es in einer neuen Klammer: ‚Das Spiel mit dem Küssetauschen und sich gegenseitig Betrachten wiederholt sich‘ – und so geht es fort. Kaum daß sich je ein ganzer, freier, zusammenhängender Satz von den Lippen der Beiden löst. […] Jeder Ansatz dazu wird durch einen Kuß unterbrochen, und um das Verstummen der Liebenden, ihre gänzliche Unfähigkeit, Worte für das sie bewegende Gefühl zu

753 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. I.1., S.7-S.8.; I.3, S.12-S.14; I.4, S.15-S.16; III.6, S. 72; IV.1, S. 76; IV.2, S. 76-S.81. 754 Vgl.: Shakespeare, William: Das Trauerspiel vom Macbeth. II.4; S.40-S.42. 755 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. S. 4. f. 756 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. S. 3.f. 757 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. S. 5 f.

122

finden, […] zeichnet der Autor nach jedem begonnenen und nicht zu Ende geführten Satz , nach jedem Ach oder O eine Reihe von Punkten vor, die der Phantasie den breitesten Spielraum lassen und das stumme Spiel der Darsteller ganz nach Belieben ins Grenzenlose verlängern. […]758

Bulthaupt spricht der naturalistischen (mangelnden) Rhetorik poetischen und damit ästhetischen Gehalt ab.759 Er bemängelt die Interjektionen und stellt der Szene aus „Vor Sonnenuntergang“ die romantisch verbrämte Schlegel-Tieck’sche Übersetzung von Romeo und Julia gegenüber. So spricht Julia im zweiten Aufzug, in der zweiten Szene760 zu Romeo: Sag, liebst du mich? Ich weiß, du wirst’s bejahn, Und will dem Worte traun; doch wenn du schwörst So kannst du treulos werden; wie sie sagen, Lacht Jupiter des Meineids der Verliebten. […] (II,2)761

Weniger romantisch lautet dieselbe Szene in Christoph-Martin Wielands Übersetzung: [...]Liebst du mich? Ich weiß, du wirst sagen, ja; und ich will mit mit deinem Wort zufrieden seyn – wenn du schwörst, so könntest du meineydig werden; Jupiter lacht nur, sagen sie, zu den falschen Schwüren der Verliebten. […] (II,2)762 Und William Shakespeare schreibt:

[…] Dost thou love me? I know you wilt say ay: And I will take thy word, yet if thou swear’st, Thou mayst prove false: at lover’s perjuries They say Jove laughs; […] (II,2)763

Bulthaupt rekurriert in seinem Vergleich auf den Pointillismus764 und den Sekundenstil,765 die photographische Wiedergabe einer Situation, kurz, die Prämissen des von Arno Holz und

758 Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. S. 4 und S. 5. 759 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus.“ S. 5 und S. 8. 760 Shakespeare, William: Romeo und Julia. In: Shakespeares Werke.in zwölf Teilen. Vierter Teil. König Heinrich der Achte – Romeo und Julia – Ein Sommernachtstraum. Übersetzt von A.W. von Schlegel und L. Tieck. In: Goldene Klassiker-Bibliothek. Hempels Klassiker-Ausgaben in neuer Bearbeitung. Deutsches Verlagshaus Bong & Co. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart. o.J.. S. 114. 761 Vgl.: Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. S. 5 und S. 6. 762 Shakespeare, William: Romeo und Juliette. Ein Trauerspiel. In: Radspieler, Hans und Johanna. Hg.:William Shakespeare. Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Band 17: Haffmans Verlag. Zürich. 1993. S.49. 763 Shakespeare, William:Romeo and Juliet. Penguin Popular Classics. Pinguin Group. London. 1994. S. 61. 764 Vgl.: Stöckmann, Ingo. Naturalismus. S 165. 765 Vgl.: Ebd.

123

Johannes Schlaf erfundenen „Konsequenten Naturalismus.“766 Im Hinblick auf seine Gegenüberstellung der wortlosen Liebesszene bei Gerhart Hauptmann und der wortreichen bei Shakespeare schreibt Bulthaupt: „Eine Liebesszene haben wir dort wie hier: bei Gerhart Hauptmann und bei Shakespeare. In der einen v e r s t u m m t der Autor, wo seine Menschen in Wirklichkeit höchst wahrscheinlich geschwiegen haben würden; in der anderen r e d e t der Dichter, wo seine Geschöpfe im Leben ebenso wahrscheinlich geschwiegen haben würden; […].767 Was Bulthaupt kritisch beleuchtet, ist eben die photographische Wiedergabe von Wirklichkeit, „das Elend in hundertfacher Gestalt, im Frohn der schmutzigsten Arbeit, im Krankenzimmer, auf dem Stroh der Mansarde, in der Spelunke beim Branntwein, in den Armen des Lasters.“768 Aber kann die Bulthaupt’sche Folie des Verhältnisses zwischen Shakespeare und dem Naturalismus über Franz Kranewitters Um Haus und Hof gelegt werden? Die Frage muss verneint werden. Kranewitters Tragödie, die Sigurd P. Scheichl dem „ländlichen Naturalismus“ zuordnet, steht vielmehr in der Tradition eines analytischen Dramas, wie es der norwegische Dichter (1828 – 1906) in Europa geprägt hat.769 „Fast alle reiferen Dramen Ibsens folgen einer statischen Dramaturgie, in der das Bühnengeschehen die Folge von Ereignissen ist, die der Bühnenhandlung zeitlich vorausliegen; analytisch ist diese Dramaturgie, weil die Handlung zugleich die Rekonstruktion ihrer eigenen Bedingungen vollzieht.“770 Unter dem Einfluss von Ibsen wurden im Drama des Deutschen Naturalismus bis dato tabuisierte Bereiche wie „Alkohol, Inzest, Selbstmord oder erblich bedingte Erkrankungen […]“771 offen thematisiert. Gleichzeitig eröffnete er in ganz Europa den literarischen bzw. dramatischen Diskurs um die Gleichberechtigung der Frauen in „sozialen und ökonomischen Belangen.“ 772 Diese neue Entwicklung in der Literatur fand fast zeitgleich in Norwegen, mit Ibsens Nora, Ein Puppenheim (1879), in Frankreich, mit Gustave Flauberts Madame Bovary (1856), in Russland, mit Leo Tolstois Anna Karenina (1877/78) und in Deutschland, mit Theodor Fontanes Effi Briest (1894) statt. Alle weiblichen Hauptprotagonistinnen genannter Texte, die sich das Recht auf eine eigenbestimmtes Leben

766 Vgl.: Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 163 – S 174. 767 Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus.“ S. 8. 768 Bulthaupt, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. S. 9. 769 Vgl.: Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S 19. 770 Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19. 771 Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 18. 772 Ebd.

124 nahmen, scheiterten und starben, bis auf Ibsens Nora, die am Ende aus eigener Entscheidung ihren Ehemann und ihr „Puppenheim“ verlässt. In diese Tradition fügt sich ebenso Franz Kranewitters Lena Lotter, die ihr Leben aktiv gestalten, verändern, sich selbst verwirklichen will und: scheitert. Dramaturgen und Schauspieler Klaus Während bei Shakespeare Macbeth der Hauptprotagonist bleibt, spielt in Um Haus und Hof eine Frau die Hauptrolle, wobei jedoch nicht der tragende Einfluss der subversiv agierenden Lady Macbeth vergessen werden darf. Zu weiteren Merkmalen des „analytischen Dramas“773 nach Henrik Ibsen zählt die Einmischung von außen,774 welche die tragische Entwicklung der Handlung antreibt und den „analytischen Prozess in Gang setzt.“775 Diese Einmischung von außen findet in Um Haus und Hof durch die Dorfbewohner statt, beginnend mit der Katzenmusik und fortgesetzt durch „den Boten“776 in der Gestalt des Gemeindevorstehers, der Lena und Hies im Namen der Dorfgemeinde befiehlt, ihre Beziehung zu beenden777. Die „Boten“ haben „Vermittlerfunktion“, wie sie „eigentlich für narrative Texte kennzeichnend“778 sind und (bilden) auf der Bühne das „dramatisierte Äquivalent der Erzählerfunktion“779 [bilden]. „Boten“ gibt es auch in Macbeth zahlreiche, wie die weissagenden Hexen zu Beginn der Tragödie oder den echten Boten ebendort, welcher König Duncan vom Sieg Macbeths über den Feind berichtet, um nur zwei Beispiele zu nennen. Dass Franz Kranewitters Tragödie aber nur bedingt als rein naturalistisches Drama rezipiert werden kann, zeigt sich daran, dass er zwar ein dem Naturalismus unabdingbares Sujet, das soziale Milieu thematisiert, aber nicht explizit demonstriert. Sowohl bei Macbeth als auch in Um Haus und Hof steht die psychologische Analyse des Willens zur Macht beim Individuum und der Weg zur Umsetzung bzw. die Demonstration des Scheiterns an einem deformierten und außer Kontrolle geratenen Streben nach Dingen und nach Macht, im Mittelpunkt. Somit erscheint auch Kranewitters Tragödie in erster Linie als ein Drama der conditio humana, und erst in zweiter Instanz als naturalistisches Theater. Kranewitter nähert sich damit mit Um Haus und Hof noch einmal Shakespeares Macbeth.

773 Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19. 774 Vgl.: Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19. 775 Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19. 776 Vgl.: Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19. 777 Vgl.: Kranewitter, Franz: Um Haus und Hof. Aufzug 1, 9. Auftritt. S. 24 – S. 27. 778 Vgl.: Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19. 779 Stöckmann, Ingo: Naturalismus. S. 19.

125

Klaus Rohrmoser verortet Kranewitter als „Theaterhandwerker“, der „seiner Zeit voraus“ war780.

5.3 Äquivalenz und Differenz „Da die Bühne der Shakespearezeit keine Kulissen kannte, musste alles, was nicht real gezeigt werden konnte, durch Worte beschworen werden. Der englische Regisseur Peter Hall bezeichnete Shakespeares Stücke als ‚fully verbalised‘. Durch die vollständige Verbalisierung erfährt der Zuschauer mehr über die Motive, Ansichten und Wertbegriffe der Charaktere als im realistischen Illusionstheater, […]“781 Im elisabethanischen Theater prägten „Hyperbel“ und „Metapher“ die Dialoge.782 Bei Franz Kranewitters Um Haus und Hof, als ländlichem Gegenstück zur Wiener Moderne und zum Deutschen Naturalismus, werden die Charaktere durch den Tiroler Dialekt dargestellt und determiniert. Am Ende gegenständlicher Untersuchung von Macbeth und Um Haus und Hof wird festgestellt, dass beide Dramen textgewaltig auch ohne Kulisse bestehen. Die Rezeption erfolgt nicht nur visuell, durch den Besuch einer Theatervorstellung, sondern vor allem durch das (Hin-)Hören –während der Lektüre. Franz Kranewitters Dialoge tragen scharfe Konturen und bleiben dennoch wirkkräftig in ihrer Kargheit und erfassen den Rezipienten auch bei wiederholter Lektüre stets aufs Neue. In beiden Tragödien nehmen die Autoren keinerlei Partei für ihre Protagonisten. Sie realisieren eine Handlung. Was Um Haus und Hof von Macbeth entfernt ist der Shakespeare eigene „Theaterzauber“783, der sich in der Anrufung von Feen, Geistern und Hexen, aber auch in der Melodie des Blankverses sowie in mannigfacher Variation des Sprechmilieus – dem einfachen Volk und dem Adel - mit der er in seinen Stücken jongliert, äußert. Aber das besondere Metathema der conditio humana, der konsequente Weg hin zum Abgrund, ohne Alternativen zur Korrektur – nach den Morden – verbinden Shakespeares Macbeth und Kranewitters Um Haus und Hof. Wenn also hinsichtlich der Form – offenes Drama, Aufhebung der Ständeklausel und eigenwillige Sprachführung, hier im Blankvers, dort im Tiroler Dialekt - und des Gehalts beider Tragödien viele Parallelen erkennbar sind, bleibt die Frage, wie Kranewitters Werk

780 Vgl.: Rohrmoser, Klaus: Interview vom 08.03.2017. 781 Gelfert, Hans Dieter: Shakespeare. S.65. 782 Vgl.: Gelfert, Hans Dieter: Shakespeare. S. 66. 783 Rohrmoser, Klaus: Interview vom 08.03.2017.

126

Um Haus und Hof aus dem Archiv des kulturellen Gedächtnisses784 zurück ins funktionelle Gedächtnis785 des Literaturkanons geholt werden und dort einen konstanten Platz, nicht unter der Rubrik „Volkstheater“, sondern als „Schwellenstück zur Moderne“, einnehmen könnte?

6. Kanonrevision – eine Skizze „ […] Kunstwerke (werden) vom Moment ihres Eintritts in die Welt von einem nie endenden Prozess der Bewertung begleitet.“ 786 Bewertungen von Kunstwerken sind in letzter Instanz immer subjektiv, genauso wie ihre Rezeption. Das erklärt auch, warum viele literarische Werke einem Zeitgeist folgend zunächst in den Literaturkanon aufgenommen werden und nach der Veränderung jenes Zeitgeistes wieder in den Nischen des kulturellen Archivs verschwinden. Nur wenige Dichter vermögen, mit ihrem Werk dieser Willkür von Verortung standzuhalten. William Shakespeare ist einer davon. Für Hans-Dieter Gelfert ist die konstante Permanenz der Dramen Shakespeares im Weltkanon nicht der Sprache seiner Dramen geschuldet, sondern ihrem Gehalt. „Was diese Welt für den heutigen Leser und Theaterbesucher erlebbar macht, muss […] etwas sein, was Shakespeare darin substanziell als Grundbefindlichkeit des Menschen aufzeigt.“787 Shakespeare kritisiert nicht die „Ordnung des elisabethanischen Weltbilds“788, aber er stellt es „auf die Probe“789. „In seinen Stücken sind die Menschen dem Schicksal ausgeliefert und doch für ihr Handeln verantwortlich. Jeder Wert scheint eine Schattenseite zu haben. […].“790 Shakespeare zeigt die Ambivalenz der menschlichen Seele per se, verpackt in einen Plot, der von allen Rezipienten zu allen Zeiten verstanden wird, weil er eben die Fehlbarkeit der

784 Vgl.: Assmann, Aleida: „Kanon und Kanonisierung im Spiegel des kulturellen Gedächtnisses“. In: Assmann, Aleida: „Theorien des kulturellen Gedächtnisses“. (S. 76 – S. 84), In: „Deskriptive Kanontheorien“ (S. 66 – S. 84). In: Rippl, Gabriele und Winko, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. S. 80 f. 785 Vgl.: Assmann, Aleida: „Zwischen Kanon und Archiv – kulturelle Überlieferung zwischen Funktions- gedächtnis und Speichergedächtnis“. In: Assmann, Aleida: „Theorien des kulturellen Gedächtnisses“. S. 82 f. 786 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S.112. 787 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 114. 788 Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 115. 789 Ebd. 790 Ebd.

127

Menschen darstellt, ohne zu werten. „Goethe zeigt, wie hoch der Mensch steigen, Shakespeare, wie tief er fallen kann.“791 Die Metaebene einer „Grundbefindlichkeit des Menschen“ sowie ihrer Ambivalenz792 und der Verantwortung für sein Handeln in letzter Instanz, ohne offene Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, wird ebenso in Kranewitters erstem Drama thematisiert.

Um das Lesepublikum auf Franz Kranewitter wieder aufmerksam zu machen, wäre in erster Instanz die Neuauflage seiner Gesammelten Werke in Druckschrift hilfreich. Die jüngste Fassung stammt aus dem Jahr 1933793 und ist in Frakturschrift gehalten, was eine zeitgenössische Lektürerezeption, vor allem beim jüngeren Publikum, erschwert. Wie oben bereits erwähnt, gründet der englische Literaturkanon auf der First Folio -Fassung der Dramen Shakespeares aus dem Jahr 1623. Kanonisiert werden können nur jene Werke, die in materialer Form vorliegen und der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Zweitens müsste dann diese Neuauflage der Werke Kranewitters in Druckschrift an den Schulen, und auch an den Universitäten, in die Lektürelisten aufgenommen werden, damit die Studenten den österreichischen Dichter Kranewitter kennen lernen und für sich selbst entscheiden können, ob sie seine Werke aus ihrer Sicht als tradierungswürdig erachten.

„Das Drama Kranewitters kann nicht in die Hochsprache übersetzt werden“.794 Der Auffassung des Germanisten Johann Holzner schließt sich auch Klaus Rohrmoser, Schauspieldirektor und Autor, an. Er hat nicht nur Macbeth am Innsbrucker Landestheater (2005), sondern auch Um Haus und Hof 1999 in Nordtiroler und 2012 am Stadttheater Bruneck, in Südtiroler Mundart, inszeniert795, sondern auch selbst als Schauspieler in beiden Stücken (Macbeth und Um Haus und Hof mitgewirkt.796 Die Rezeption Kranewitters Tragödie wird durch die Schwere des Stücks und den Dialekt behindert. 797 So besteht die Chance für eine Präsenz und Rezeption seiner Werke außerhalb

791 Ebd. 792 Vgl.: Gelfert, Hans-Dieter: Shakespeare. S. 115. 793 Adolf-Pichler-Gemeinde Innsbruck. Hg.: Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. „Das Bergland-Buch“. Graz. Wien. Leipzig. Berlin. 1933. 794 Holzner, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. S. 60. 795 Vgl.: Rohrmoser, Klaus: Interview vom 08.03.2017 796 Vgl.: Ebd. 797 Vgl.: Ebd.

128

Tirols und des deutschsprachigen Raumes per se, eigentlich nur in der Übersetzung aus dem Tiroler in einen anderen Dialekt.798 Die Übertragung von Um Haus und Hof, mit seinen starken idiomatischen Dialogen, zum Beispiel in einen irländischen Dialekt, sähe Klaus Rohrmoser als eine große Bereicherung.799 Ein Gemeinschaftsprojekt von Studenten der Universität Innsbruck und einer irischen Universität, in Zusammenarbeit mit Theaterschaffenden beider Länder könnte diese Bereicherung initiieren, den Literaturkanon aufbrechen und um eine neue Dimension der Literaturvermittlung erweitern. Für dieses Vorhaben müsste allerdings auch ein Literaturwissenschaftler und /oder Theaterschaffender gefunden werden, der sowohl des Tiroler als auch des Irischen Dialekts mächtig ist, um eine Übersetzung zu ermöglichen. Dafür könnte vielleicht der Tiroler Autor und Komparatist Raoul Schrott gewonnen werden.

798 Vgl.: Ebd. 799 Vgl.: Ebd.

129

Literaturverzeichnis:

ASSMANN, Aleida: „Theorien des kulturellen Gedächtnisses“. In: „Deskriptive Kanontheorien“. In: „Literaturwissenschaftliche Kanontheorien und Modelle der Kanonbildung“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 76 – S. 84.

BACHER, Dr. Eduard, BENEDIKT, Moriz. Hg.; KOHLER, Karl Felix. Verantwortlicher Redakteur: „Jungtirol. Ein moderner Musen=Almanach aus den Tiroler Bergen“ (o.A. des Verfassers). In: „Literarische Notizen“. In „Literatur=Blatt“ In: Neue Freie Presse. Nr. 12387. Ausgabe 15. Februar 1899Abgerufen auf: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno.. .am 27.12.2016. S. 4.

BANNER, del, Toscano: Die deutsche Nationalliteratur der gesammten Länder der österreichischen Monarchie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart historisch- chronologisch dargestellt. 1. B. Das Mittelalter. Wien 1849. Jasper, Hügel & Manz. In: NAGL, J.W. und ZEIDLER, Jakob, Hg.: Deutsch=Österreichische Literaturgeschichte. 1. Band. Von der Kolonisation bis 1750. Fromme, Carl. G.m.b.H., Wien und Leipzig. 1898. Zitiert in: HOLZNER, Johann: „Österreich“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 281.

BEILEIN, Matthias: „Kanonterminologie“. In: „Deskriptive Kanontheorien“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 70 und S. 71.

130

BOLTZ, Ingeborg: „Die Persönlichkeit.“ In: Schabert, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch - Das Werk – Die Nachwelt. Alfred Kröner Verlag Stuttgart. 2000. S.119 – S. 192.

BRANDL, Alois: Shakespeare. Leben – Umwelt – Kunst. A. Ziemsen Verlag. Wittenberg (Bez. Halle). Ernst Hofmann & Co. Berlin. 1923.

BUNZEL, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus: WBG. Darmstadt. 2011.

BULTHAUPT, Heinrich: „Shakespeare und der Naturalismus“. Einleitender Vortrag zur Jahresversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, am 23. April 1893.In: Supplement zu Bd. 28 des Jahrbuchs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 1893. Zur Verfügung gestellt von: SUB, Digizeitschriften eV. Geschäftsstelle DigiZeitschriften e.V. Göttingen. E-Mail von Szsczepaniak, Sebastian an Polner, Friederike vom 29. Mai 2017. S. 1 – S. 25.

CRYSTAL, Ben: Macbeth. Before… During…. After….. Arden Shakespeare. Springboard Shakespeare. Bloomsbury Arden Shakespeare. An Imprint of Bloomsbury Publishing Plc. Bloomsbury London, Oxford u.a. 2013.

DEHUSSES, Pierre: „Prière pour le fils mort“: In: „Le Monde des Lires. Critiques Littérature ». In : Le Monde. Vendredi 3 mars 2017. 73ième année – n° 22437.

EHRENREICH, Barbara: Blood Rites. Origins and history of passions of war. Virago Press. Great Britain. 1998.

ETTMAYER, Karl v. : « Jung-Tirol ». In : Grazer Tagblatt. Organ der Deutschen Volkspartei für die Alpenländer. 19. Jänner 1899: Nr. 19., 9. Jahrgang o.S.: In: ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?... : Abgerufen am 27.1.2016.

131

FISCHER-LICHTE, Erika: „The shift of a Paradigm: From time to space? Introduction.” In: Proceedings of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association (Space and Boundaries). Munich. 1988. Edited by Roger Bauer et al., vol. 5. München 1990. S. 15 – S. 18. In: Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Wallstein Verlag. Göttingen. 2009. S. 24.

GELFERT, Hans-Dieter: William Shakespeare in seiner Zeit. C.H. Beck oHG Verlag. München. 2014.

GELFERT, Hans-Dieter: Shakespeare. C.H. Beck oHG. München. 2014.

GOETHE, Johann Wolfgang: „Brief an Kleist am 01. Febr. 1808“. In: SW II, S. 806. In: LUBKOLL, Christine und OESTERLE, Günther (Hrsg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Königshausen & Neumann. Würzburg. 2011. S. 206. FB 40.

GOETHE, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Heiseler, Bernt von. Hrsg.: Goethe, Johann Wolfgang. Gesammelte Werke in acht Bänden. Fünfter Band. Romane II. Bertelsmann Reinhard Mohn OHG. Gütersloh. Buch-Nr. 2379. o.J.

GOETHE, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. Studienausgabe. Hg.: Knaupp, Michael. Philipp Reclam jun. Stuttgart. 1999.

GOTTSCHED, Johann Christoph: Schriften zur Literatur. Hg. von STEINMETZ, Horst. Stuttgart. 1998. In: NEUHAUS, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. In: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 274 f.

132

GREENBLATT, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. Aus dem Amerikanischen von PFEIFFER, Martin. BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH. Berlin. 2004.

GREENBLATT, Stephen; COHEN, Walter; HOWARD, Jean E.; EISAMAN MAUS, Katharine: The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition. Tragedies. W.W. Norton & Company. New York. London. 1997.

GREINZ, Hugo: „Zwei österreichische Dramatiker“. In: Tages Post Linz. XXXVI. Jahrgang. Nr. 27. Vom 4. Februar 1900. In: Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?...: Abgerufen am 27.12.2016.

GUNDOLF, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. Georg Bondi in Berlin. 1911.

HEBBEL, Friedrich: Tagebücher. Ausgewählt und herausgegeben von Anni Meetz. Reclam. Stuttgart. 2013.

HEYDEBRAND, Renate von: „Kanon Macht Kultur. Versuch einer Zusammenfassung.“ In: Heydebrand 1998a, 612-625. (= Heydebrand 1998 b). Zitiert in: Beilein, Matthias: „Kanonterminologie“ „In: „Deskriptive Kanontheorien“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 70 und S.75.

HOFMANN, Michael, unter Mitarbeit von ESAU, Miriam und KANNING, Julian: Drama. Grundlagen.Gattungsgeschichte. Perspektiven. W. Fink Verlag. München. 2013.

HOLZNER, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Haymon Verlag. Innsbruck. 1985.

133

HOLZNER, Johann: Lexikoneintrag zu Leben und Werke von Franz Kranewitter. In: KILLY, Walther (Hrsg.) unter Mitarbeit von FROMM, Hans, GÖRTZ, Frank Josef u.a.: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 7. Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH. Gütersloh. 1990. S. 17.

HUBER-REBENICH, Gerlinde: „Antike Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 264 – S. 271. JAUß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“. In: Jauß, Hans Robert: Literaturwissenschaft als Provokation. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1970.

KAYSER, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Francke Verlag Bern und München. 1965.

KLEIN, Bernhard: „England in der Frühen Neuzeit“. In: „Die Zeit“: In: SCHABERT, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk. Die Nachwelt. Alfred Kröner Verlag Stuttgart. 2000. S. 2 – S. 47.

KLETTENHAMMER, Sieglinde: Überblick über die deutsche Literaturgeschichte (1500- 1848). VO 608550. SoSe 2015: Institut für Germanistik der Leopold-Franzens- Universität Innsbruck. Mitschriften FP und Lektüreliste.

KRANEWITTER, Franz: „Aus meinem Leben“. In: PICHLER, Adolf. Gemeinde in Innsbruck (Hrsg.): Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. Das Bergland-Buch. Deutsche Vereins-Druckerei A.G. Graz.Wien.Leipzig.Berlin. 1933. S. 11 – S. 45.

134

KRANEWITTER, Franz: Luther. Gedicht. In: PICHLER, Adolf. Gemeinde in Innsbruck (Hrsg.): Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. Das Bergland-Buch. Deutsche Vereins-Druckerei A.G. Graz.Wien.Leipzig.Berlin. 1933. S. 70. Zitiert in: HOLZNER, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Haymon Verlag. Innsbruck. 1985. S. 27 – S. 28.

KRANEWITTER, Franz: Um Haus und Hof. Volksstück in vier Aufzügen. Meyer, Georg Heinrich. Leipzig. 1899.

KRANEWITTER, Franz: „Macbeth. Studie von Franz Kranewitter.“ In: Innsbrucker Nachrichten. „Feuilleton“. 51. Jahrgang 1904. Nr. 45. 25. Februar 1904. In: ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. In: Österreichische Nationalbibliothek online: http://anno.onb.ac.at/cgi- content/anno?aid=ibn&datum=19040225&seite=1. Abgerufen am 16.04.2017.

KRIEGLEDER, Wynfried: Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. Menschen – Bücher – Institutionen. Praesens Verlag. Wien. 2014.

KUHL, Miriam: Literaturkritik im deutschen Fernsehen. Am Beispiel der Sendung „Das literarische Quartett.“ Tectum Verlag. Marburg. 2003.

LAMPING, Dieter / ZIPFEL, Frank: Was sollen Komparatisten lesen? Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. Berlin. 2005.

LARSON, Kenneth: “Wieland’s Shakespeare: A Reappraisal„. In: Lessing Yearbook XVI‘(1984): In: Radspieler, Hans: „Wieland’s SHAKESPEAR“. S. 174.

LEDERER, Hans: „Vorwort“. In: PICHLER, Adolf. Gemeinde in Innsbruck (Hrsg.): Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. Das Bergland-Buch. Deutsche Vereins-Druckerei A.G. Graz.Wien.Leipzig.Berlin. 1933. S. 9 – S. 10.

135

LESSING, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Trauerspiel. Philipp Reclam jun.; Stuttgart.1995: http://gutenberg.spiegel.de/buch/emilia-galotti-1174/3. Abgerufen am: 10.12.2017.

LEITERITZ, Christiane: „Hermeneutische Theorien“. In: Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien. 2004. S. 129 – S. 159.

MANTLER, Anton: Die Bühnenwelt Franz Kranewitters. Eine dramaturgische Studie. Theaterwissenschaftliche Dissertation. Wien. 1976.

MAYER, Michael: Europa der Kulturwissenschaften. Eine Tagung in Berlin. In: Neue Zürcher Zeitung (Feuilleton). 29.10.2001: http://www.zfl- berlin.org/veranstaltungen-detail/items/figuren-des-europaeischen- forschungsperspektiven-fuer-eine-kultu.html; Abgerufen am 05.03.2017

NAGL, J.W. und ZEIDLER, Jakob, Hg.: Deutsch=Österreichische Literaturgeschichte. 1. Band. Von der Kolonisation bis 1750. Fromme, Carl. G.m.b.H., Wien und Leipzig. 1898.

NEUHAUS, Stefan: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 271 – S. 280.

NICOLL, Allardyce & Josephine (Hrsg.): Holinshed’s Chronicle as used in Shakespeare’s Plays. J.M. Dent & Sons LTD. London. 1959.

OPITZ, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Reclam. [=RUB] 18214. 2002. In: NEUHAUS, Stefan: „Von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik“. In: „Deutschland“. In: „Deutschsprachige Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In:

136

RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S.273 f.

PIATTI, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungräume, Raumphantasien. Wallstein Verlag. Göttingen. 2008.

PICHLER, Adolf. Gemeinde in Innsbruck (Hrsg.): Franz Kranewitter. Gesammelte Werke. Das Bergland-Buch. Deutsche Vereins-Druckerei A.G. Graz.Wien.Leipzig.Berlin. 1933.

RADSPIELER, Hans: „Wielands SHAKESPEAR“. In: CLAUSBERG, Karl (Hrsg.): Almanach der KRATER Bibliothek. Das erste Jahr. Verlegt bei Franz Greno. Nördlingen. 1986.

RASS, Waltraud: Die Frauengestalten in der Dichtung von Franz Kranewitter. Inaugural- Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, 1971.

RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013.

ROHRMOSER, Klaus: Interview vom 08.03.2017.

SAFRANSKI, Rüdiger: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. Carl Hanser Verlag. München. Wien. 2004.

SCHABERT, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk. Die Nachwelt. Alfred Kröner Verlag Stuttgart. 2000.

137

SCHEICHL, Sigurd Paul: „UN NATURALISME RURAL: FRANZ KRANEWITTER ET KARL SCHÖNHERR“. In: Ziegler, Karl & Fergombé, Amos: Théâtre moderne? ÉLÉMENTS D’UNE DRAMATURGIE NATURALISTE AU TOURNANT DU XIXe au XXe SIÈCLE. Actes du colloque organisé à l’Université de Valenciennes 18, 19 et 20 novembre 1999. Recherches Valenciennoises n° 6. PRESSES UNIVERSITAIRES DE VALENCIENNES. S. 79 – S. 89.

SCHILLER, Friedrich : « Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet ». (Vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784.). In: SCHILLER, Friedrich: Schillers Sämmtliche Werke, Vierter Band. Cotta’sche Buchhandlung. Stuttgart. 1879. Abgerufen von: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3328/1 am 22.03.2017.

SCHNEIDER, Ralf: „Großbritannien“. In: „Englischsprachige Literaturen“. In: „Kanongeschichten“. In: RIPPL, Gabriele und WINKO, Simone (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. WBG Darmstadt. J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. 2013. S. 289 – 296.

SCHÜLTING, Sabine: „Die späteren Tragödien“. In: „Die einzelnen Dramen“. In: „Das Werk.“ In: SCHABERT, Ina. Hrsg.: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk. Die Nachwelt. Alfred Kröner Verlag Stuttgart. 2000. S. 529 – S. 574.

SEMBDNER, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Der Dichter über sein Werk. WBG. Darmstadt. 1996.

SHAKESPEARE, William: Macbeth. Penguin Popular Classics. Penguin Books Ltd. London. 1994.

SHAKESPEARE, William: Das Trauerspiel, vom Macbeth. Übersetzt von WIELAND, Christoph Martin. In: Hans und Johanna Radspieler, Hrsg.: William Shakespeare.

138

Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Band 15. Das Trauerspiel, vom Macbeth. Haffmans Verlag. Zürich. 1993.

SEXL, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien. 2004.

SPIEL, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I / Einführung / Prosa /. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Fischer TB-Verlag. 1980.

STÖCKMANN, Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. J.B. Metzler. Stuttgart. Weimar. 2011.

STORM, Theodor: Draußen im Heidedorf. Erich Matthes. Leipzig und Hartenstein in Sachsen. 1919.

SUERBAUM, Ulrich: Shakespeares Dramen. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel. 1996.

SUPPAN, Wolfgang: K/Katzenmusik.xml: Art. „Katzenmusik (Charivari,Chalivali, Schaalwari, Scharewari u.ä.: engl. Rough music“. In: Oesterreichisches Musiklexikon online: http://www.musiklexicon.ac.at/1/musik. Abgerufen am 03.04.2017.

THALER, Karl v.: „Dichtungen aus Deutsch-Österreich“. In: Neue Freie Presse: 12.04.1892. Zitiert In: HOLZNER, Johann: Franz Kranewitter. Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Haymon Verlag. Innsbruck. 1985. S. 33 und S. 293, Anm. 74.

WICK, Johann: Der Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter. Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der philosophischen Fakultät der Universität Wien. 1937.

139

ZEYRINGER, Klaus. GOLLNER, Helmut: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. Studienverlag. Innsbruck. 2012.

ZEITSCHRIFTEN-ABRUF VON: ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. http://anno.onb.ac.at:

INNSBRUCKER NACHRICHTEN. Jahrgang 42. Nr. 4. Vom 05. Jänner 1895: Theater und Musik. Rezension über KRANEWITTER: o.V.:, Franz: Um Haus und Hof. Erstaufführung vom 04. Januar 1895 im Landestheater Innsbruck.. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno … Abgerufen am 27.12.2016. S. 8.

NEUE FREIE PRESSE. Nr. 12387. Vom 15. Februar 1899: „Jungtirol“. In: „Literarische Notizen“o.V. In: „Literatur=Blatt“. http://anno.onb.ac.at/cgi- content/anno?...: Abgerufen am 27.12.2016. S. 4.

TAGES POST LINZ. XXXVI. Jahrgang. Nr. 27. Vom 4. Februar 1900. GREINZ, Hugo: „Zwei österreichische Dramatiker“. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?...: Abgerufen am 27.12.2016. S. 1 und S. 2.

INNSBRUCKER NACHRICHTEN. 51. Jahrgang. 1904. Nr. 45. 25. Februar 1904: Feuilleton. Macbeth. Studie von Franz Kranewitter. http://anno.onb.ac.at/cgi- content/anno?aid=ibn&datum=19040225&seite=1. Abgerufen am 16.04.2017. S. 1 und S. 2.

URL http://www.stadttheater.eu/Produktionen/Theater/Archiv_2011_2012/Um_Haus_und_Hof.: „Stadttheater Bruneck: Um Haus und Hof. Der Theaterbezirk Unterpustertal spielt ein Volksstück von Franz Kranewitter.“ Abgerufen am 08.03.2017. https://www.google.at#q=William+Shakespeare&* Abgerufen am 12.03.2017. https://www.google.at/#=William+Shakespeare%2BMacbeth&*. Abgerufen am 12.03.2017.

140 https://www.google.at/#=Franz+Kranewitter&*. Abgerufen am 12.03.2017. https://www.google.at/#Franz+Kranewitter%2BUm+Haus+Hof&*.Abgerufen a 12.03.2017- https://.viamichelin.at/web/Routenplaner?departure=Forres%2C%20Schottland&arrival=N assereit%. Abgerufen am 26.02.2017. http://www.habsburger.net/de/kapitel/schlachten-zwischen-kaisern-und-voelkern. Abgerufen am 22.03.2017. http://www.habsburger.net/de/kapitel/die-neuordnung-europas-on181415. Abgerufen am 22.03.2017. http://www.derstandard.at/2000033549830/Peter-Handke-mit-Preis-fuer-Europaeische- Literatur-ausgezeichnet. (APA 2403.2016). o.V.. Abgerufen am 26.03.2017. http://www.literaturhaus.at/index.php?id=10022. Abgerufen am 26.03.2017. http://www.sagen.at/doku/volksleben/moos_fahren.html. Abgerufen am 04.05.2017.

ABBILDUNGEN Abb. 1 – Abb. 3: KRANEWITTER, Franz: Um Haus und Hof. Volksstück in vier Aufzügen. Georg Heinrich Meyer. Leipzig. 1899. Bühnenbild und Personenangabe.

Abb. 4: BELLAMY, Kate: Illustrator. In: CRYSTAL, Ben: Macbeth. Before…. During …… After. Springboard Shakespeare Series. Bloomsbury. London. Oxford. Mit freundlicher Genehmigung von Ben Crystal in der E-Mail [email protected] an [email protected] vom 03.05.2017.

ANDERE QUELLEN Interview der Verfasserin dieser Arbeit mit Klaus Rohrmoser, Theaterdirektor, Regisseur und Schauspieler, vom 08.03.2017.

141

Curriculum Vitae

Persönliche Angaben

Name: Friederike Luise POLNER Adresse: Juchartstraße 13 A-6971 Hard Geburtsdatum 06.02.1958 Telefon: +43(0) 664 4071367 E-Mail: [email protected]

Ausbildung

Ab Oktober 2006 Diplomstudium der Vergleichenden Literaturwissenschaft - C393 - Leopold-Franzens-Universität, A-6020 Innsbruck Mai 2006 Berufsreifeprüfung an der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik Institut Sr. Josef, A-6800 Feldkirch 1972 – 1975 Fachschule für wirtschaftliche Frauenberufe MARIENBERG, A-6900 Bregenz

Sprachen

Deutsch Mutter- und Bildungssprache Englisch Fließend in Wort und Schrift Französisch B2 Spanisch A1 Niederländisch Fließend in Wort und Schrift Serbokroatisch Grundkenntnisse

142