Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/176

Deutscher

Stenografischer Bericht

176. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Inhalt:

Absetzung des Zusatztagesordnungspunktes 7 20879 A Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 20887 A (CDU/CSU) ...... 20888 B Tagesordnungspunkt 34: Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ a) Zweite und dritte Beratung des von der DIE GRÜNEN) ...... 20889 C Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der (Spandau) (SPD) ...... 20890 C Hochqualifizierten-Richtlinie der Euro- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 20891 D päischen Union (Drucksachen 17/8682, 17/9436) ...... 20879 B (DIE LINKE) ...... 20893 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- (BÜNDNIS 90/ nenausschusses DIE GRÜNEN) ...... 20894 A – zu dem Antrag der Abgeordneten (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 20895 C Daniela Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 20897 C Petra Ernstberger, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Pro- (CDU/CSU) ...... 20898 C gramm zur Unterstützung der Si- Dr. (CDU/CSU) ...... 20900 A cherung des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 35: Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Pothmer, weiterer Abgeordneter und Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, wei- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- terer Abgeordneter und der Fraktion der NEN: Fachkräfteeinwanderung durch SPD: Praxisgebühr abschaffen – Haus- ein Punktesystem regeln ärztinnen und Hausärzte stärken (Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436) 20879 B (Drucksache 17/9189) ...... 20901 B Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister b) Antrag der Abgeordneten , BMI ...... 20879 D Dr. , Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) ...... 20881 C LINKE: Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten jetzt abschaffen (CDU/CSU) ...... 20883 C (Drucksache 17/9067) ...... 20901 B Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) ...... 20884 A c) Antrag der Abgeordneten Birgitt Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 20884 B Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 20886 A der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

NEN: Zusatzbeiträge aufheben, Über- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ schüsse für Abschaffung der Praxisge- DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 31GO) 20933 C bühr nutzen (Drucksache 17/9408) ...... 20901 B Tagesordnungspunkt 37: Dr. (SPD) ...... 20901 C Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, (CDU/CSU) ...... 20903 A Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer (DIE LINKE) ...... 20904 D Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kampfkraft der Gewerkschaften stärken – Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 20906 A Anti-Streik-Paragraphen abschaffen Dr. Karl Lauterbach (SPD) ...... 20906 D (Drucksache 17/9062 (neu)) ...... 20934 D Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 20908 B Jutta Krellmann (DIE LINKE) ...... 20934 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 20908 D 20935 D Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 20936 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 20909 B (SPD) ...... 20937 D (CDU/CSU) ...... 20911 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 20939 A Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 20913 A Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 20939 C Stephan Stracke (CDU/CSU) ...... 20913 C Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 20940 D Jens Spahn (CDU/CSU) ...... 20914 A (CDU/CSU) ...... 20941 D Steffen-Claudio Lemme (SPD) ...... 20914 C Heinz Lanfermann (FDP) ...... 20915 D Tagesordnungspunkt 36: Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 20917 B Erste Beratung des von den Fraktionen der Heinz Lanfermann (FDP) ...... 20917 D CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugend- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) ...... 20918 B gerichtlichen Handlungsmöglichkeiten (CDU/CSU) ...... 20919 B (Drucksache 17/9389) ...... 20942 D Dr. (SPD) ...... 20920 C Jörg van Essen (FDP) ...... 20942 D (DIE LINKE) ...... 20921 A (SPD) ...... 20944 A Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 20922 C Siegfried Kauder (Villingen-Schwen- ningen) (CDU/CSU) ...... 20945 B (CDU/CSU) ...... 20923 C (CDU/CSU) ...... 20945 C Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 20947 A Zusatztagesordnungspunkt 6: (BÜNDNIS 90/ Zweite und dritte Beratung des von den Frak- DIE GRÜNEN) ...... 20947 D tionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜND- (CDU/CSU) ...... 20949 A NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 20949 C Stabilisierungsmechanismusgesetzes Dr. Edgar Franke (SPD) ...... 20950 D (Drucksachen 17/9145, 17/9435) ...... 20925 C (CDU/CSU) ...... 20925 D Tagesordnungspunkt 39: (SPD) ...... 20927 A Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 20928 C Stadtentwicklung gemäß § 62 Abs. 2 der Ge- (FDP) ...... 20928 D schäftsordnung des Deutschen Bundestages (DIE LINKE) ...... 20930 A – zu dem Antrag der Abgeordneten , , , Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) ...... 20931 A der SPD: Für einen neuen Infrastruk- turkonsens – Schutz der Menschen vor Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 20932 A Straßen- und Schienenlärm nachdrück- Klaus Riegert (CDU/CSU) ...... 20932 C lich verbessern Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 III

– zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Anlage 1 Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 20961 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bürgerinnen und Bürger dau- erhaft vom Bahnlärm entlasten – Alter- Anlage 2 native Güterverkehrsstrecke zum Mit- telrheintal angehen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eigenständige Jugendpolitik – Mehr – zu dem Antrag der Abgeordneten Chancen für junge Menschen in Deutschland Dr. , , (Tagesordnungspunkt 38) Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 20962 A Schutz vor Bahnlärm verbessern – Ver- Dr. (CDU/CSU) ...... 20963 A altetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen (SPD) ...... 20964 A (Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652, Sönke Rix (SPD) ...... 20964 D 17/9257) ...... 20951 C Florian Bernschneider (FDP) ...... 20965 C Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ Diana Golze (DIE LINKE) ...... 20966 B DIE GRÜNEN) ...... 20951 D Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 20952 C DIE GRÜNEN) ...... 20966 D Gustav Herzog (SPD) ...... 20954 A Werner Simmling (FDP) ...... 20955 D Anlage 3 Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen DIE GRÜNEN) ...... 20957 A Rede zur Beratung des Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht- (DIE LINKE) ...... 20957 C licher und anderer Vorschriften (175. Sitzung, Tagesordnungspunkt 15) (CDU/CSU) ...... 20958 B (CDU/CSU) ...... 20967 D Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 20958 D Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 20960 A Anlage 4 Karl Holmeier (CDU/CSU) ...... 20960 B Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: Tagesordnungspunkt 38: – Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte stabilisieren – Realwirtschaft stärken – Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Kommunalfinanzierung sichern Markus Grübel, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU – Besonderheiten der nationalen Finanz- sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, märkte bei Umsetzung von Basel III be- Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, rücksichtigen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (175. Sitzung, Tagesordnungspunkt 27) FDP: Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen für junge Menschen in Deutsch- Manfred Zöllmer (SPD) ...... 20969 B land (Drucksache 17/9397) ...... 20960 C Anlage 5 Nächste Sitzung ...... 20960 D Amtliche Mitteilungen ...... 20970 B

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20879

(A) (C)

176. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. : geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die GRÜNEN Sitzung ist eröffnet. Fachkräfteeinwanderung durch ein Punkte- system regeln Der Zusatzpunkt 7, die von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP verlangte Aktuelle Stunde mit dem Titel – Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436 – „Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland weiterhin im Aufschwung“, wird heute abgesetzt. Sind Sie damit Berichterstattung: einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist Abgeordnete Reinhard Grindel das so beschlossen. Rüdiger Veit Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a und b auf: Memet Kilic (B) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (D) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richt- Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- linie der Europäischen Union nen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für – Drucksache 17/8682 – die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist schusses (4. Ausschuss) auch das beschlossen. Dann eröffne ich jetzt die Aussprache und erteile als – Drucksache 17/9436 – erstem Redner dem Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Berichterstattung: Friedrich das Wort. Abgeordnete Reinhard Grindel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rüdiger Veit Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In- Petra Pau nern: Memet Kilic Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Herren! Noch niemals zuvor waren so viele Menschen in richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) Deutschland in sozialversicherungspflichtigen Arbeits- verhältnissen beschäftigt. Die Wirtschaft in unserem – zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Lande ist – trotz des schwierigen konjunkturellen und Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Petra gesamtwirtschaftlichen Umfelds in der Welt und in Eu- Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der ropa – leistungs- und wettbewerbsfähig. Wir müssen ge- Fraktion der SPD meinsam dafür sorgen, dass das so bleibt. Programm zur Unterstützung der Sicherung Da gibt es eine Reihe von Herausforderungen. Eine des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Auf- davon hat in dieser Woche eine besondere Rolle gespielt, enthaltsrechts auch bei der Kabinettssitzung: die demografische Ent- wicklung. Die Menschen in Deutschland werden weni- – zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, ger, vor allem die jungen Menschen werden weniger. Ein Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Ab- Rückgang der Zahl der Auszubildenden und Studenten 20880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich (A) heute bedeutet weniger Fachkräfte morgen. Wir brau- richtig, dass wir uns um das Thema Bevölkerungswan- (C) chen Fachkräfte: Schon heute haben wir in einigen Be- derung in der Welt kümmern. reichen die Situation, dass sich der Fachkräftemangel Heute geht es um die Frage: Wie gewinnen wir für wachstumshemmend auswirkt. unser Land die Hochqualifizierten, die wir brauchen? Deswegen hat sich die in dieser Woche vorgestellte Was können wir dafür tun, damit sie zu uns kommen? Demografiestrategie auch mit der Frage beschäftigt: Wie Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass sie qualifiziert können wir unter diesen Bedingungen die Wettbewerbs- sind, also leistungsfähig, und dass sie auch Leistung fähigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirt- bringen wollen. Zweitens. Wir müssen für attraktive Be- schaft aufrechterhalten? Wichtigste Antwort: indem wir dingungen für ihre Lebensgestaltung sorgen, damit sie dafür sorgen, dass sich die Menschen entfalten können, zu uns kommen wollen. Deswegen kommt in der Umset- dass das Potenzial, das wir im Lande haben, ausge- zung der Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union, schöpft wird. Ich glaube, da sind wir alle in diesem Haus die wir heute beraten, deutlich zum Ausdruck: Wenn je- uns einig: Die Bildung unserer jungen Menschen, die mand 45 000 Euro Gehalt geboten bekommt, dann ist Fort- und Weiterbildung, die Gestaltung einer Arbeits- das zum einen ein klares Zeichen dafür, dass er von ei- welt, in der sich jeder optimal nach seinen persönlichen nem Arbeitgeber gebraucht wird, und zum anderen, dass Möglichkeiten einbringen kann, das ist die wichtigste er leistungsfähig ist; denn sonst würde man ihm ein sol- Antwort überhaupt. ches Angebot nicht machen. Bei Mangelberufen geht man sogar von einem geringeren Mindestlohn von (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann machen 35 000 Euro aus, wobei das nicht heißt, dass dieser Min- Sie doch mal was!) destlohn der Preis ist, zu dem Ingenieure und Ärzte zu Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen in die- uns kommen, sondern es ist eine in der Richtlinie festge- sem Lande einbringen können, auch in die Gestaltung legte Untergrenze; ich glaube, das muss man dazusagen. der Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Was bieten wir den jungen Menschen, die zu uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen? Wir bieten ihnen nach drei Jahren – bei guter Integration nach zwei Jahren – eine unbefristete Nieder- Zweitens. Deutschland ist attraktiv, als Land, als Le- lassungserlaubnis in Deutschland. Wir bieten ihnen – das bensstandort, als Arbeitsmarkt, attraktiv für viele junge ist in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen –, dass sie Menschen in Europa. Wir haben in Europa eine durchaus ihre Familien, ihre Frauen, ihre Männer, ihre Kinder, heterogene Situation: Die Jugendarbeitslosigkeit in Spa- mitbringen können. Ich glaube, das ist ein wichtiges Kri- nien liegt über 45 Prozent, in Italien liegt sie über terium. 35 Prozent. In anderen Ländern, zum Beispiel Portugal, (B) gibt es viele Hochschulabsolventen, die nach Arbeits- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) stellen, nach angemessener Beschäftigung suchen. De- NEN]: Das ist nur die halbe Wahrheit!) nen sagen wir: Wir müssen Europa als eine gemeinsame Ein Ingenieur aus Indien hat keine Lust, seine Kinder zu- Einheit sehen. Es muss innerhalb Europas selbstver- rückzulassen und alleine nach Deutschland zu kommen. ständlich sein, von einem Land zum anderen zu ziehen, Deshalb müssen wir ihm eine entsprechende Perspektive so wie es heute selbstverständlich ist, in Deutschland bieten. Auch das ist im Gesetz vorgesehen. von einem Bundesland zum nächsten zu ziehen. Diese Möglichkeit müssen wir schaffen und attraktiv halten. Wir haben im Gesetz also folgenden Dreiklang für Deutschland vorgesehen: Geringqualifizierte erhalten Ich bin sehr froh, dass sich sowohl die Bundesanstalt eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Hochqualifi- für Arbeit, Frau Kollegin von der Leyen, als auch die Ar- zierte erhalten nach drei Jahren, manche nach zwei Jah- beitgeberverbände sehr bemühen, insbesondere den jun- ren, ein Aufenthaltsrecht und Niederlassungsrecht. gen, qualifizierten Menschen überall in Europa zu sagen: Höchstqualifizierte – also Nobelpreisträger – unterliegen Ihr werdet gebraucht. Wir müssen gemeinsam dafür sor- keinen Einschränkungen; sie erhalten sofort die unbe- gen, dass unser Euro, dass das Euro-Land wettbewerbs- fristete Niederlassungserlaubnis. fähig bleibt. Jeder junge Mann und jede junge Frau, der oder die sich in Deutschland in den Arbeitsmarkt ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bringen kann, statt in Italien arbeitslos zu sein, ist eine Ich komme zu Ihren Anträgen, die sich mit dem Entlastung für den Euro, ist ein Beitrag zur Wettbe- Punktesystem auseinandersetzen. Welche Systematik hat werbsfähigkeit Euro-Lands. das Gesetz, welche Systematik hat unser Ansatz? Wir sa- Drittens. Deutschland ist immer schon ein weltoffe- gen: Du kannst kommen, wenn du einen konkreten Ar- nes Land gewesen. Wir sind Exportweltmeister, keine beitsplatz in Aussicht hast. – Mit dem Punktesystem, das Frage. Handel und Wandel rund um den Globus, das ist viele Experten diskutieren und loben und das in vielen schon immer – man kann fast sagen: seit Jahrhunderten – Ländern funktioniert, verfolgt man einen anderen An- deutsches Prinzip gewesen. Es ist normal, dass junge, satz: Wir holen Menschen, die bestimmte Eigenschaften qualifizierte Menschen aus Deutschland ihr Glück in der haben, und geben ihnen für diese Eigenschaften Punkte. Welt suchen. Von Kanada bis Australien gibt es deutsche Die Frage ist, nach welchen Kriterien das geschieht. Ich Männer und Frauen, die ihr Glück suchen, und sie finden habe gelernt: Es gibt eine zentrale Planungskommission, es auch. Umgekehrt wird es immer junge und auch alte die diese Kriterien festlegen soll. Wenn die Menschen Menschen geben, die ihr Glück in Europa, in Deutsch- die Punkte haben, dann kommen sie. Die in dieser Wo- land suchen wollen. Deswegen ist es notwendig und che behandelte Demografiestrategie zeigt aber, dass das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20881

Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich (A) nicht bedeutet, dass die Menschen da hingehen, wo wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) sie zwingend brauchen. Sie steigen erst einmal in Mün- Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe von der chen, Stuttgart oder Frankfurt aus dem Flugzeug, und SPD-Fraktion. dann ist noch lange nicht gesichert, dass sie im Erzge- birge, im Bayerischen Wald oder im Harz, wo sie in den (Beifall bei der SPD) mittelständischen Unternehmen gebraucht werden, an- kommen. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Deswegen ist für uns der entscheidende Ansatz: Für Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und die Möglichkeit, hierherzukommen, muss ein konkreter Kollegen! Fachkräftesicherung auch durch Zuwande- Arbeitsplatz mit einem bestimmten Mindesteinkommen rung, das ist ein immer wichtiger werdendes Thema für nachgewiesen werden. Wir steuern die Zuwanderung unsere Volkswirtschaft. Das hat auch die Koalition er- nach Deutschland also nicht durch eine zentrale Pla- kannt. Dazu erst einmal herzlichen Glückwunsch – und nungskommission, sondern jeder Arbeitgeber, jeder, der fast noch mehr dazu, dass Sie sich bei diesem Thema tat- einen Betrieb unterhält und Fachkräfte braucht, hat die sächlich zusammengerauft haben. Möglichkeit, diese Leute zu holen. Zur Ehrlichkeit gehört aber dazu, dass Sie erst durch die Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Handeln gezwungen worden sind. Sie haben Anfang neten der FDP) März mit einem Jahr Verspätung ein Gesetz zur Umset- Das bedeutet natürlich nicht, dass der Mittelständler zung vorgelegt. Man kann sagen: Die Europäische nur in der Welt herumfährt, zum Beispiel nach Ägypten Union hat hier ein gutes Werk getan und Schwarz-Gelb oder Indien, und nach Ingenieuren sucht, sondern das zum Jagen getragen. muss durch die Wirtschaft, die über ihre Verbände viele (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten internationale Kontakte hat, organisiert werden. Zudem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass junge Männer und Frauen – damit sie nicht mit einem Drei-Monats- Ein Teil des Lobes geht also an die Europäische Union. Touristenvisum hier herumfahren und nach einem Ar- beitsplatz suchen müssen – ein halbes Jahr Zeit haben, Wenn man den Gesetzentwurf, der hier am 1. März zu schauen, ob sie in diesem Land gebraucht werden beraten worden ist, mit dem heute hier vorgelegten Ge- bzw. ob ihnen jemand ein Angebot macht und bereit ist, setzentwurf vergleicht, kann man sagen: Glücklicher- für das, was sie bieten und leisten können, 45 000 Euro weise hat das Struck’sche Gesetz Wirkung gezeigt. Das zu zahlen. Es ist also ein sechsmonatiges Visum zur Ar- Struck’sche Gesetz – für die, die es nicht kennen – lau- (B) (D) beitsuche vorgesehen. Auch das ist, glaube ich, ein tet: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es in ihn wichtiger Punkt in diesem Gesetz. hineingekommen ist. Das hat dem Entwurf wirklich gut- getan. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) anderer und besserer als der vom 1. März. Ich komme zum letzten Punkt: Hochschulabsolven- (Rüdiger Veit [SPD]: Erstaunlich, aber gut!) ten. Wenn jemand in Deutschland mit deutschen Steuer- Bevor ich zum Gesetz selber komme, erwähne ich ei- geldern eine Universität besucht hat, dort ausgebildet nen mindestens genauso wichtigen, wenn nicht sogar wurde, gut integriert ist, Deutsch kann und einen Hoch- noch wichtigeren Aspekt: Es lohnt sich, die Wirkmäch- schulabschluss hat, müssten wir verrückt sein, wenn wir tigkeit dieses Gesetzes anzuschauen und sie einzuschät- dem sagen würden: Jetzt gehst du aber bitte wieder dahin zen. Was kann ein solches Gesetz beitragen, um den zurück, wo du hergekommen bist. Vielmehr brauchen Fachkräftemangel in unserem Land wirklich abzumil- wir diese Leute. Wir wollen sie für unseren Arbeitsmarkt dern? Wenn man Herrn Friedrich zuhört, hat man den auch haben. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir in Eindruck, dass die gutqualifizierten Fachkräfte draußen diesem Gesetz auch Erleichterungen für diejenigen vor- vor dem Tor stehen und nur warten, dass die Bundesre- sehen, die hier studiert und ihren Abschluss gemacht ha- gierung endlich ein Gesetz einbringt, damit sie alle zu ben. uns kommen können. Ich meine, dass die Erwartungen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt die die Bundesregierung weckt, deutlich überzogen sind. geht es jetzt darum, dass auch die Arbeitgeber aktiv wer- Die Änderungen des bestehenden Zuwanderungsge- den. Die Zeiten sind vorbei, in denen man alles auf dem setzes sind moderat. Sie sind zum Großteil wirklich be- Silbertablett geliefert bekam. Vielmehr muss man etwas grüßenswert, aber eine Revolution ist das beileibe nicht. tun. Man muss sich darum kümmern, dass man die Men- Um einem Fachkräftemangel vorzubeugen, wäre es schen, die man für seinen Betrieb, für sein Unternehmen wichtig, die Potenziale, die wir im Lande haben, zu he- braucht, auch bekommt. Wir schaffen die rechtlichen ben, zum Beispiel im Bereich des Bildungssystems. Herr Voraussetzungen bzw. den Rahmen dafür. Ich denke, Friedrich, Sie haben dieses Thema zwar angesprochen, dass das ein guter Ansatz ist, und ich hoffe, dass dieses aber auf Aktivitäten, die dazu beitragen, dass in diesem Gesetz hier mit großer Mehrheit angenommen wird. Land wirklich jeder einen Schulabschluss macht, gege- Vielen Dank. benenfalls im zweiten oder dritten Anlauf, müssen wir lange warten. Im Gegenteil: Sie marschieren in die an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dere Richtung. 20882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Daniela Kolbe (Leipzig) (A) Zur Vorbeugung eines Fachkräftemangels gehört (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Reden Sie (C) auch, die Potenziale der hier lebenden Migrantinnen und doch mal zum Thema, Frau Kolbe!) Migranten in den Blick zu nehmen. Man darf nicht im- mer nur auf die gut Ausgebildeten im Ausland schielen. Das ist absurdes Theater, das hier zur Aufführung kommt. (Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD) Auch in dieser Hinsicht gilt bei Ihnen bisher: komplette Fehlanzeige. Das Klima, das die Bundesregierung produziert, scha- det der Sache viel mehr, als drei solcher Gesetze wieder- (Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski gutmachen können. Ich finde, Herr Friedrich alleine [CDU/CSU]: Lesen Sie das Gesetz einmal schadet der Sache mehr, als es dieses Gesetz gutmachen richtig, Frau Kolbe!) kann. Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften nach Noch wichtiger ist Folgendes: Wenn das Gesetz Wir- Deutschland ist längst kein Selbstläufer mehr. Die gut- kung entfalten soll, wenn Hochqualifizierte wirklich qualifizierten Menschen entscheiden selbst, ob sie nach nach Deutschland zuwandern sollen, dann brauchen wir Deutschland kommen wollen. eine lebendige Willkommenskultur. Das wird auch von Max Frisch sagte einst, als wir schon einmal Fach- Ihnen häufig angesprochen. kräfte nach Deutschland gerufen haben, den wunderba- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Der Begriff ren und emotionalen Satz: Wir riefen Arbeitskräfte, und kommt von uns!) es kamen Menschen. – Wenn aus diesem Satz nicht wer- den soll: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kam nie- Zu einer Willkommenskultur gehört aber mehr als ein mand“, dann haben gerade Ihre Parteien noch ein ganz Sektempfang für die neue Kollegin aus Kanada. Auf- schön großes Stück Arbeit vor sich. grund dieses Gesetzes sollen Menschen aus der ganzen Welt zu uns kommen. Eine Willkommenskultur wäre (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine Kultur, die Vielfalt als Bereicherung begreift, eine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kultur, die Einwanderung als Bereicherung begreift, und Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der sich seit zwar unabhängig von der ökonomischen Verwertbarkeit der ersten Lesung verbessert hat. Es freut uns, dass der der Menschen, die zu uns kommen. Dabei geht es zum Gesetzentwurf sich ein ganzes Stück dem SPD-Antrag Beispiel auch um die Familienangehörigen. Es bedarf ei- genähert hat. ner Kultur, die Andersartigkeit als gleichwertig begreift. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/ (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) CSU]: Das ist eine kühne Behauptung!) Es bedarf einer Kultur weit ab von jeder Leitkultur- debatte. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Situation für Bildungs- ausländer, gerade für Studierende aus Drittstaaten und „Willkommenskultur“, das ist ein Wort, das gerade Azubis, zu verbessern Sie sehr häufig im Munde führen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das kommt (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja!) aber nicht von der SPD, Frau Kolbe! Seien Sie Wir werden das in der heutigen Debatte von Ihrer Seite einmal ein bisschen ehrlich!) noch häufig zu hören bekommen. – natürlich; lesen Sie unseren Antrag – und ihre Arbeit- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Selbstver- suche in Deutschland zu erleichtern. Grundsätzlich posi- ständlich! Der Begriff kommt von uns, Frau tiv ist, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsu- Kolbe!) che eingeführt wird. Wir hätten gerne ein Punktesystem zur Zuwanderung eingeführt bzw. ein entsprechendes Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Modellprojekt aufgelegt, weil ein solches Modell aus an- Koalition: Damit geben Sie wirklich ein reichlich schrä- deren Ländern bekannt ges Bild ab. Hier hören wir Willkommenskulturforde- rungen en masse. Auf der anderen Seite haben wir einen (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Aber Herrn Kauder, der über den Islam dampfplaudert, dass nicht bewährt!) man vor lauter Kopfschütteln ein Schleudertrauma be- und potenziellen Zuwanderern daher leichter zu vermit- kommt, teln ist. Ein solches Modell sendet das ganz klare Signal (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Reinhard aus, dass wir Einwanderung wollen. Die von Ihnen vor- Grindel [CDU/CSU]: Daran haben Sie aber gesehene Erlaubnis zur Arbeitsuche ist aber ein Schritt lange gearbeitet!) in die richtige Richtung. und einen Innenminister, der uns jenseits aller Fakten er- Ausdrücklich loben möchte ich, dass Sie einen ganz klärt, wie schlimm die muslimische Jugend sei, und als pragmatischen Vorschlag aus unserem Antrag übernom- Wahlkampfhilfe für Sarkozy gleich die europäischen men haben, nämlich dass ein Antrag auf Vorrangprüfung Grenzen innen und außen dichtmachen will. Hinzu kom- für einen Arbeitnehmer, der bereits einen Arbeitsplatz in men unsägliche Debatten über die doppelte Staatsange- Deutschland gefunden hat, nach einer gewissen Zeit als hörigkeit. genehmigt gilt, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20883

Daniela Kolbe (Leipzig) (A) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) haben Sie erfunden?) Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Volker Kauder. auch wenn die zuständige Behörde noch nicht beschie- den hat. Genau diese Prüfung ist in der Tat für viele Unternehmen und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Volker Kauder (CDU/CSU): nehmer ein ganz langwieriges Prozedere, das sie nicht Frau Kollegin Kolbe, Sie hatten wohl den Eindruck, einschätzen können. Daher stellt sie ein großes Hinder- Sie müssten eine Aussage von mir in einer Art und nis bei der Zuwanderung dar. Diese Entscheidungs- Weise qualifizieren, die ich in aller Form zurückweise. fiktion ist richtig. Sie setzen dafür einen Zeitraum von Bevor Sie eine solche Qualifizierung vornehmen, sollten zwei Wochen an. Das ist aus unserer Sicht allerdings ein Sie einmal ein bisschen nachdenken. wenig zu kurz. Insgesamt haben wir also relativ viel (Zurufe von der SPD: Oh!) Übereinstimmung hinsichtlich des Gesetzentwurfs. Ich habe wörtlich gesagt, dass der Islam nicht zu In einem Punkt widersprechen wir aber, und dieser Deutschland gehört, dass aber Muslime zu Deutschland betrifft das Herz Ihres Gesetzentwurfs: die Umsetzung gehören. der Bluecard-Richtlinie. Es geht um die Frage, wie viel ein Zuwanderer mindestens verdienen muss, um eine (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Es Bluecard zu erhalten. Für Mangelberufe schlägt die Bun- wird nicht besser, Herr Kauder!) desregierung eine Schwelle von etwa 34 000 Euro Jah- Diese Aussage wurde von prominenten Personen unter- resverdienst vor. Da können wir aus zwei Gründen nicht stützt, die Sie ebenfalls der Dampfplauderei bezeichnen, mitgehen: obwohl sie geistig wahrscheinlich schon mehr geleistet haben, als Sie aufgrund Ihres Alters bisher leisten konn- Erstens ist dies europarechtswidrig niedrig. Ich habe ten. das in der ersten Lesung hier vorgetragen, und in der An- hörung wurde dem wenig Stichhaltiges entgegengesetzt. (Widerspruch bei der SPD sowie bei Abgeord- Ich möchte uns warnen, ein Gesetz, das möglicherweise neten der LINKEN und des BÜNDNIS- europarechtswidrig ist, zu verabschieden. SES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens ist diese Schwelle arbeitsmarktpolitisch zu – Sie alle sollten die neueste Ausgabe von Cicero lesen, niedrig. Wir sprechen über Fachkräfte, über Ingenieure, in der sehr schön beschrieben wird, dass es in dieser Re- über Physikerinnen und Physiker, über Mathematikerin- publik einige gibt, die meinen, wir seien eine Recht- (B) nen und Mathematiker. 34 000 Euro Jahresgehalt bedeu- haberrepublik. (D) tet in diesen Branchen auch für Berufseinsteiger ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Lohndumping. Zum Vergleich: Das Einstiegsjahresge- GRÜNEN]: Das beste Beispiel spricht ge- halt im öffentlichen Dienst beträgt in TVöD 13 etwa rade!) 40 000 Euro. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die SPD will qualifizierte Zuwanderung, aber wir wollen Ich habe das Recht, meine Meinung klar und deutlich zu kein Lohndumping. formulieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jetzt möchte ich noch etwas sagen, und zwar in aller des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ruhe. Wissen Sie, auch das zeichnet Leute, die so argu- mentieren wie Sie, aus: Sie nehmen für sich in An- Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf geht in die spruch, die Wahrheit zu sagen, aber hören anderen gar richtige Richtung. Er enthält viele positive Aspekte. Die nicht mehr zu. Das ist nicht in Ordnung; das muss man angesetzte Mindestverdienstgrenze halten wir jedoch einmal klar und deutlich sagen. politisch und rechtlich für zu niedrig angesetzt. Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden wir uns in der Abstimmung über den Gesetzent- wurf enthalten. Damit dieses Gesetz, dem wir in der Meine Aussage wurde von Martin Mosebach, Dampf- Grundintention zustimmen, wirklich wirkt, damit also plauderer, Monika Maron, Dampfplauderer, und Heiner qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen, Geißler unterstützt. muss sich an ganz anderer Stelle etwas ändern. Zuge- (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des wanderte müssen wissen, dass sie – das muss gelebte BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Realität sein – in deutschen Unternehmen, Behörden und auf der Straße erwünscht und willkommen sind und Dass die Zustimmung in der Bevölkerung riesengroß ist, wertgeschätzt werden. Bis wir diese Haltung durchge- wird Sie wahrscheinlich nicht erstaunen. Ich möchte setzt haben, ist es noch ein weiter Weg, gerade für diese trotzdem noch einmal klar und deutlich sagen: Dass der Koalition. Islam nicht zu Deutschland gehört, hat etwas mit Tradi- tion und Identitätsbildung in diesem Land zu tun. Die Vielen Dank. Menschen gehören zu uns. Von dieser Aussage habe ich nichts zurückzunehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 20884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) Zur Erwiderung, bitte, Frau Kolbe. Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist, die Chan- cen der Zuwanderung für unser Land besser zu erschlie- Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): ßen und den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderung Sehr geehrter Herr Kollege Kauder, nichts liegt mir bereicherten Gesellschaft zu stärken. Wenn wir heute ge- ferner, als Ihnen Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu meinsam den vorliegenden Gesetzentwurf der Koali- nehmen. Ich nehme mir jedoch das Recht heraus – auch in tionsfraktionen verabschieden, dann vollenden wir das meinem jungen Alter, auf das ich sehr stolz bin –, hochambitionierte Programm, das wir uns in der christ- (Zurufe von der FDP: Oh! – Tolle Leistung!) lich-liberalen Koalition vorgenommen haben. Sie darauf hinzuweisen, dass Ihre Aussagen natürlich (Beifall bei der FDP) auch eine Wirkung entfalten. Sie können sagen, was Sie wollen. Aber: Sie sind Vorsitzender einer großen – leider Am Anfang dieser Wahlperiode, im Herbst 2009, der größten – Fraktion dieses Hauses. Sie haben mit Ih- habe ich an dieser Stelle gesagt: Deutschland verändert ren Aussagen einen gravierenden Einfluss auf die Stim- sich. Die neue Bundesregierung wird diese Veränderung mung in diesem Land, auf das Zusammenleben in die- gestalten. Migration und Integration stellen Deutschland sem Land. Ich möchte diesen Hinweis auch an Herrn vor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue Friedrich adressieren, der im Hinblick auf die Studie zu Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente jungen Muslimen in diesem Land Aussagen getroffen Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine hat, die für unser Zusammenleben schädlich sind. aktive Integrationspolitik geeinigt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na!) Heute wird diese neue Zuwanderungssteuerung im Bundestag verabschiedet. Wir verbinden die wirksame Das ist für die Menschen, die hier leben, ein Problem, Integration mit der aktiven Steuerung von Zuwanderung, und es ist im Zusammenhang mit der Zuwanderung qua- ökonomische Vernunft und Fairness, Offenheit und Klar- lifizierter Fachkräfte ein Problem. In ein Land, in dem heit, Fördern und Fordern. Dieser rote Faden zieht sich man immer wieder als andersartig bezeichnet wird, durch die christlich-liberale Integrations- und Migra- möchte man eben nicht gerne einwandern. In Ländern, in tionspolitik. denen jeder, welcher Religion auch immer er oder sie an- gehört, herzlich willkommen ist, aufgenommen wird und Man schaue sich die schon erreichten Erfolge an: Wir leben darf, wie er oder sie es möchte, haben die Visa-Warndatei eingeführt. Wir erleichtern so den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland (B) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das darf man bei unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stär- (D) uns ja!) ken zugleich die Sicherheit unseres Landes, ohne aus- ist das eine ganz andere Geschichte. Fahren Sie einmal ufernde Datenerfassung und unter Wahrung der Bürger- in die USA – Sie waren sicherlich schon dort –, und rechte. überlegen Sie, warum so viele Menschen gerade in die- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ses Land, das die rigideste Einwanderungspolitik macht, der CDU/CSU) wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben den Einstieg in eine dauerhafte bundesge- DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: setzliche Bleiberechtsregelung geschaffen. Erstmals wurde Wegen der Sprache! Das wissen auch Sie! für minderjährige, heranwachsende geduldete Ausländer Eine ganz schwache Replik!) ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Blei- berecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Das ist huma- nitäre Rechtssicherheit. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat der Wir haben die Übermittlungspflichten zugunsten von Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion. Kindern abgeschafft und die Residenzpflicht für die Ausbildung und Bildung gelockert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Men- schenhandel auf drei Monate ausgedehnt und sind damit Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): einem Petitum von Opferverbänden und der Polizei ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich folgt. glaube, es ist sinnvoll, dass wir zum Thema zurückkom- Wir haben die Bedingungen für die Abschiebehaft si- men. gnifikant verbessert. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Und wir haben ein eigenständiges Wiederkehr- und NEN]: Das ist das Thema!) Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsver- Es ist nämlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dass heiratungen geschaffen und den eigenständigen Straftat- die Sozialdemokraten den großen Erfolg der Koalition bestand der Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Op- gerade in diesem Bereich niederreden wollen, indem sie ferschutz, verbunden mit dem klaren Appell, unsere einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen. freiheitliche Werteordnung zu achten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20885

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Andere reden, meine Damen und Herren, wir haben botsorientiertheit. Der befristete Zuzug zur Arbeitsuche, (C) es gemacht. Die Koalition aus Union und FDP hat tat- also ohne bestehenden Arbeitsvertrag, ist ein wesentli- sächlich eine neue Zuwanderungs- und Integrationspoli- cher Schritt, der dies deutlich macht. tik auf den Weg gebracht, die sich vom ideologischen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ballast links-rot-grüner Utopien befreit hat. der CDU/CSU) Eine effiziente und interessengeleitete Steuerung von Zuwanderung ist das Gebot der Stunde. Statt bürokrati- Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit darge- sche Hemmnisse aufzubauen, wollen wir die Zuwande- stellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstrukti- rung sinnvoll und interessengeleitet steuern. Die EU- ven und sehr fortschrittlichen Verhandlungsprozess in Richtlinie zur Zuwanderung von Hochqualifizierten und der Zuwanderungspolitik gefunden. Lieber Reinhard zur Blauen Karte bietet jetzt Anlass, den nächsten, wei- Grindel, wir machen noch weiter, nicht? tergehenden Schritt zur Umsetzung des Konzepts der (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Koalition zu tun, und wir gehen deutlich über die Richt- Aha, keine Zustimmung! – Gegenruf des Abg. linie hinaus. Rainer Brüderle [FDP]: Er hat genickt!) Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten Diese Koalition hat einen entscheidenden Kurswechsel und Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Ar- in der Zuwanderungspolitik umgesetzt: mit Fördern und beitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Fordern, ohne ideologische Scheuklappen, integrations- Unternehmen wichtig. und arbeitsmarktorientiert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Glauben Sie, was der CDU/CSU) Sie sagen?) Deutschland braucht qualifizierte Fachkräfte, For- Die Koalition setzt Zug um Zug eine konsequente scher und Entwickler und auch Unternehmer aus dem Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine Ausland. Diese brauchen klare, transparente und einfa- aktive Integrationspolitik um. Wir wollen eine neue Kul- che Regeln. Diese schaffen wir mit dem vorliegenden tur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen Gesetz. auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Wichtig ist zudem, dass im Ausland für den Ausbil- Perspektiven eröffnet. dungs-, Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutsch- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- land geworben wird. Auch deshalb müssen die aufent- NEN]: Was ist damit gemeint?) halts- und arbeitsmarktrechtlichen Hürden zum Beispiel (B) für Studenten aus Drittstaaten oder eben auch für Hoch- Wir halten es nicht, wie die Grünen oder die Linken, (D) qualifizierte deutlich abgebaut werden. Dabei stehen die für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern wollen An- EU-Mitgliedstaaten gegenseitig in einem starken Wett- reize dafür setzen. bewerb um die klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb neh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men wir heute mit einer verbesserten Zuwanderungs- steuerung auf. Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich Wir werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die positiv und aktiv denken. Ich erwarte – Frau Kollegin Zuwanderung von Hochqualifizierten entbürokratisie- Andreae, das ist damit gemeint –, dass wir durch service- ren, beschleunigen und vereinfachen. Wir wollen zu- orientierte Behörden auch im Vollzug vor Ort, zum Bei- gleich zusätzliche Integrationsanreize schaffen. Wir mo- spiel bei Frau Öney in Baden-Württemberg, die in unse- dernisieren das deutsche Zuwanderungsrecht und passen rem Gesetz angelegten Anforderungen in täglich gelebte es den Bedürfnissen einer global vernetzten Gesellschaft Willkommenskultur umsetzen. an. Schnelle behördliche Entscheidungen schaffen Klar- heit. Dabei achten wir darauf, dass die Öffnung für (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Auch in Ih- Hochqualifizierte nicht missbraucht wird. ren Bundesländern!) Zusätzlich zielt der Gesetzentwurf darauf ab, die Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft, die Möglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme von auslän- ganze Nation, wird durch Zuwanderung bereichert. Wis- dischen Absolventen deutscher Hochschulen und den sen ist längst international. Arbeit ist längst internatio- dauerhaften Zuzug von Fachkräften, für die auf dem nal. Forschung und Entwicklung machen eben nicht vor deutschen Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht, zu erleich- Grenzen halt. Die deutsche Wirtschaft ist auf allen tern. Die bürokratische Vorrangprüfung entfällt in we- Märkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte sentlichen Bereichen. ist längst international. Zuwanderung von Hochqualifi- zierten schafft Arbeitsplätze und weitet gesellschaftlich Um den dauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten den Horizont. nach Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die Gehaltsschwelle deutlich. Für Beschäftigte aus Mangel- Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der berufen ist der Zuzug signifikant vereinfacht worden. christlich-liberalen Bundesregierung diese Veränderun- gen – ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei. Entscheidend ist zudem: Wir schaffen den Paradig- menwechsel in der Arbeitsmigration. Wir kommen aus- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten länderrechtlich von einer Nachfrage- hin zu einer Ange- der CDU/CSU) 20886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht; denn selbst wenn man die Zahlen der volkswirt- (C) Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Frak- schaftlichen Gesamtrechnung zugrunde legt – dies ist ja tion Die Linke das Wort. nach Auskunft von unserem Staatssekretär Ole Schröder die einzig mögliche und von der Bundesregierung ge- (Beifall bei der LINKEN) wählte Bezugsgröße –, werden die Vorgaben der Richtli- nie nicht erfüllt. Wir müssen auch nicht groß rechnen, Jörn Wunderlich (DIE LINKE): um den Trick der Bundesregierung zur möglichst effekti- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- ven Absenkung der Mindestgehaltsschwelle zu durch- gen! Um eines vorweg klarzustellen: Die Linke war schauen. Dieser besteht, wie gesagt, darin, nicht nur die schon immer für Einwanderungserleichterungen, aller- Gehälter der Vollzeitbeschäftigten heranzuziehen, son- dings nicht, wie es in dem vorliegenden Gesetzentwurf dern auch die Löhne von Teilzeit- und geringfügig Be- vorgesehen ist, ausschließlich nach Nützlichkeitserwä- schäftigten, Minijobbern, Schülern, Rentnern mit Aus- gungen der reichen Industrienationen, hilfstätigkeiten usw. (Beifall bei der LINKEN) Ich bitte Sie: Es geht hier um die Beschäftigung von sondern im Sinne von Menschenrechten und im Inte- Hochqualifizierten, und Sie berechnen deren Mindestge- resse der Menschen. Wir möchten keine Politik unter- halt mithilfe der häufig nicht einmal existenzsichernden stützen, die Menschen zu trennen versucht nach denen, Löhne in prekären Beschäftigungen, für deren zahlen- die uns nützen, und denen, die uns vermeintlich ausnüt- mäßige Vermehrung Sie im Übrigen verantwortlich sind! zen. Wenn Hochqualifizierte teilzeitbeschäftigt werden sol- len, finde ich das okay. Dann können sie sich mehr um Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Anwer- die Familie kümmern; ich bin ja auch Familienpolitiker. ben von Fachkräften aus dem Ausland schon so ein biss- Dann ziehen Sie aber auch nur für diese die Löhne der chen in die Nähe von Neokolonialismus kommt. Teilzeitbeschäftigten heran. (Beifall bei der LINKEN – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was?) Warum bezieht sich die Bundesregierung nicht auf die Zahlen von Eurostat, wie es in der Richtlinie vorgesehen Wir bedienen uns nicht nur der Rohstoffe von Drittlän- ist? Einfach deshalb, weil sich diese Zahlen auf Vollzeit- dern, sondern auch ihres „Humankapitals“, wie es ein arbeitskräfte beziehen. Das Statistische Bundesamt hat Sachverständiger in der Anhörung am Montag aus- Eurostat deshalb zuletzt einen Wert von 42 100 Euro drückte; ein Wort, das ich ausgesprochen schrecklich Bruttojahresgehalt geliefert. Das anderthalbfache davon finde; es war im Übrigen auch Unwort des Jahres 2004. sind 63 150 Euro. Das müsste nach der Richtlinie das (B) Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gibt es im De- Mindestgehalt sein. Das sind aber fast 20 000 Euro (D) tail weitere Defizite im Gesetzentwurf. Ich möchte auf mehr, als von der Bundesregierung vorgesehen. Sehen- zwei eingehen: den Auges nimmt diese Regierung lieber ein Vertrags- Zunächst – das ist schon angesprochen worden – die verletzungsverfahren in Kauf, als von dem durchsichti- mangelhafte Umsetzung der EU-Richtlinie in einem zen- gen Versuch, die Löhne zu drücken, abzulassen. Zu den tralen Punkt. Ich sage Ihnen: Die Berechnung der Ge- maßgeblichen Hintergründen wird nachher meine Kolle- haltsschwellen für Fachkräfte aus dem Ausland unter gin Krellmann noch Stellung nehmen. Einbeziehung der Löhne von Menschen in Teilzeit und in prekärer Beschäftigung verstößt eindeutig gegen die Der zweite Punkt betrifft die Verhinderung des soge- EU-Vorgaben. nannten Braindrain, also des Talentschwunds in den Ländern, aus denen die Fachkräfte kommen. Auf die (Beifall bei der LINKEN) Frage, ob eine Verordnung geplant ist – das ist ja vorge- Das haben in der Anhörung am Montag auch gleich drei sehen –, um ein Ausbluten der Herkunftsländer bezüg- Sachverständige bestätigt. lich der von ihnen ausgebildeten Fachkräfte zu verhin- dern, und welche Kriterien eine solche Verordnung oder (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt Liste haben müsste, konnte die Bundesregierung am doch gar nicht! Falsch!) Montag in der Anhörung keine Antwort geben. Viel- Die anderen haben sich dazu nicht konkret geäußert. leicht kann im Verlauf dieser Debatte noch jemand dazu Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie muss die Erteilung der Auskunft geben. Denn ansonsten gehe ich davon aus, Bluecard davon abhängig gemacht werden, dass die Ge- dass es eine solche Verordnung nicht geben wird und haltshöhe dem 1,5- bzw. 1,2-Fachen des durchschnittli- diese Bestimmung ein bloßes Feigenblatt darstellt. Aber chen Bruttojahresgehalts des betreffenden Mitgliedstaa- selbst wenn es eine solche Vorschrift geben sollte, be- tes, also in diesem Fall Deutschland, entspricht. Das ist stünde nach wie vor noch die Möglichkeit, Fachkräfte das Mindestniveau. über § 18 Aufenthaltsgesetz einwandern zu lassen, ohne auf die möglichen negativen Folgen in den Herkunfts- Ich unterstelle einfach einmal, dass die Bundesregie- ländern zu achten. rung weiß, dass sie die Richtlinie in diesem Punkt falsch umsetzt. Wie anders ist zu erklären, dass im Gesetzent- Von all dem abgesehen gilt – das ist schon angespro- wurf jede nachvollziehbare Darlegung der Berechnung chen worden; Sie und ich wissen das auch –, dass die des Bruttojahresgehalts fehlt? Selbst auf Nachfrage mei- Fachkräfte im Ausland, egal welche Gesetze wir hier er- ner Fraktion wurden die Zahlen verweigert. Das wundert lassen, gewiss nicht nach Deutschland strömen werden, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20887

Jörn Wunderlich (A) solange wir ein gesellschaftliches Klima haben, welches Allerdings verlieren wir gerade selbst hochqualifizierte (C) nicht gerade der Migration zuträglich ist. Fachkräfte an diese Nachbarstaaten. Das ist doch hirnris- sig, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir konnten es gerade wieder live erleben, was für ein sowie bei Abgeordneten der SPD) Klima hier in Deutschland herrscht. Hören Sie endlich Die Frist für die Umsetzung der Bluecard-Richtlinie auf, von Integrationsverweigerern und Einwanderern in lief am 19. Juni letzten Jahres aus. Die Bundesregierung die Sozialsysteme zu schwadronieren! Wenn das aufhört, ist nicht nur im Verzug, sondern setzt manche Vorgaben würde das die Bereitschaft von Fachkräften, nach der europäischen Richtlinie gar nicht um. Ein Beispiel Deutschland zu kommen, in der Tat fördern. Dann könn- dafür ist die Festlegung der Gehaltsgrenze für hochquali- ten wir wirklich eine vernünftige Einwanderungspolitik fizierte Fachkräfte. Diese bemisst sich nach dem Gesetz- machen. entwurf der Bundesregierung an der Beitragsbemessungs- (Beifall bei der LINKEN) grenze der allgemeinen Rentenversicherung. Hierzu ist zum einen festzustellen, dass wir in Deutschland zwei Diesen Gesetzentwurf müssen wir ablehnen. Beitragsbemessungsgrenzen haben, nämlich für Ost und (Beifall bei der LINKEN) West, und zum anderen, dass die europäische Richtlinie vorschreibt, dass die Gehaltsgrenze sich am durch- schnittlichen Bruttojahresgehalt im jeweiligen Land Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: orientieren muss. Sie haben insofern einen mangelhaften Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie lieber zurückziehen Bündnis 90/Die Grünen. sollten. Wer die Blaue Karte EU so schlecht und schlam- pig umsetzt wie die Bundesregierung, der verdient nur Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eine Rote Karte, meine Damen und Herren. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Zuwanderungsgesetz hat sich zu einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Paragrafendschungel entwickelt. Anstatt den Paragra- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- fendschungel zu lichten, wurschtelt die Bundesregierung KEN) darin weiter und erreicht nur eine Verdunkelung. Schwarz-Gelb beschränkt den Kreis der Begünstigten Die Bundesregierung hat in der ersten Plenardebatte auf Hochschulabsolventen. Menschen mit langjähriger zur Hochqualifizierten-Richtlinie reumütig angekün- Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulab- (B) digt, ihren mangelhaften Gesetzentwurf zu verbessern. schluss vergleichbar ist, werden nicht berücksichtigt. (D) Allerdings hat sie mit ihren Änderungen nur für mehr Das sorgt für Streit innerhalb der Koalition. Der Gesund- Verwirrung und weniger Transparenz gesorgt. Die Ein- heitsminister gibt sich mit den geplanten wanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte hat sie Änderungen nicht zufrieden. Er fordert, die Einwande- teilweise sogar verschlechtert. Der Teufel steckt hier im rungsbedingungen für Pflegekräfte zu lockern. Während Detail, Herr Bundesinnenminister. sich die Koalition streitet, entgeht uns das großen Poten- zial an Fachkräften. Wenn die Bundesregierung es ernst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meint mit der Anwerbung von klugen Köpfen aus dem Spezialisten und leitende Angestellte sollen in Zu- Ausland, muss sie endlich umdenken. kunft nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis für drei (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da sagen Jahre erhalten. Bisher haben diese Personen eine Nieder- die Sachverständigen aber etwas anderes!) lassungserlaubnis, also ein unbefristetes Aufenthalts- recht, bekommen. Glaubt die Bundesregierung ernsthaft, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusam- dass sie mit einem befristeten Aufenthaltsrecht die klu- men: Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist gen Köpfe aus dem Ausland locken kann? Denken Sie der große Wurf leider ausgeblieben. wirklich, dass diese Leute mit einer befristeten Aufent- haltserlaubnis ihre Zukunft in Deutschland planen wer- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie re- den? Natürlich werden sich die Hochqualifizierten lieber den, wir haben es gemacht!) einen Staat aussuchen, der ihnen einen sicheren Aufent- Trippelschritte im Zuwanderungsrecht reichen nicht aus, haltsstatus gibt. Die Bundesregierung verpasst hier lei- zumal es auch teilweise Rückwärtsschritte sind. Der Ge- der Chancen. Das geht nicht an. setzentwurf ist nicht nur kleinteilig und bürokratisch, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sondern enthält sogar Vorschriften zur Verschärfung der derzeitigen Rechtslage. Insgesamt ist dieses halbherzige Der Regierungsvorschlag, die Vergabe einer unbefris- Vorgehen ein falsches Signal an diejenigen Fachkräfte, teten Aufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte von den denen man angeblich attraktive Einwanderungsbedin- Deutschkenntnissen abhängig zu machen, ist fatal. Ein gungen bieten möchte. Informatiker, für dessen Tätigkeit die englische Sprache entscheidend ist, sollte nicht aufgrund geringer deut- Im Gegensatz zur Bundesregierung arbeiten wir kon- scher Sprachkenntnisse ausgeschlossen werden. Ansons- struktiv. Deshalb haben wir zu unseren Kritikpunkten ei- ten kann Deutschland nur noch auf die klugen Köpfe aus nen sinnvollen und lösungsorientierten Entschließungs- Österreich und der deutschsprachigen Schweiz hoffen. antrag eingebracht. Hier kann die FDP endlich über 20888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Memet Kilic (A) ihren eigenen Schatten springen, eine letzte gute Tat tun vorwerfen zu müssen. Das ist nicht in Ordnung, Frau (C) und unserem Antrag zustimmen. Kollegin. Wir müssen dringend das deutsche Einwanderungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- recht grundlegend und umfassend reformieren. Die Leit- neten der FDP) gedanken sollten dabei sein: erstens Vereinfachung, Mit unserem Gesetzentwurf kommen wir einem im- zweitens mehr Systematik und Transparenz sowie drit- mer wieder gerade auch von der Wirtschaft vorgetrage- tens weniger Bürokratie. Das kann man am besten mit nen Wunsch nach, nämlich den Zugang von ausländi- der Schaffung eines sogenannten Punktesystems reali- schen Fachkräfte zu erleichtern, ohne allerdings auf eine sieren. Dazu haben wir bereits einen Antrag eingebracht, notwendige Steuerung der Zuwanderung zu verzichten. der heute auch zur Abstimmung steht. Neben dem DGB, Wir beseitigen bürokratische Hürden und erleichtern es den Arbeitgeberverbänden und der Wissenschaft streben den Unternehmen gerade aus dem Mittelstand, gegen auch SPD und FDP ein Punktesystem an. Die Linke den Fachkräftemangel anzugehen. spielt dabei mit der Union die Dagegenpartei und blo- ckiert die notwendige Modernisierung. Dafür bekom- Ich will jedoch gleich eines festhalten: Beim Kampf men beide null Punkte. um die klugen Köpfe reicht es nicht aus, allein für eine transparente und nachvollziehbare rechtliche Grundlage (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ zu sorgen. Jetzt ist die Wirtschaft gefragt, selbst substan- CSU und der LINKEN) zielle Beiträge zu leisten und Deutschland attraktiver für Vielen Dank, meine Damen und Herren. kluge Köpfe zu machen, die aus aller Welt zu uns kom- men sollen. Eines müssen wir uns ja vor Augen führen: (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Leider verlassen Deutschland immer noch mehr Fach- DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: Kin- kräfte, als neue zu uns kommen. Das kann ersichtlich dergarten!) nicht am Ausländerrecht liegen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Woran liegt Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von das wohl?) der CDU/CSU-Fraktion. Seit der Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte aus den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zehn neuen EU-Beitrittsländern sind gerade einmal 60 000 Arbeitnehmer aus diesen Staaten zu uns gekom- men. Mit bis zu einer halben Million hatte man gerech- Reinhard Grindel (CDU/CSU): net. Deutschland muss insgesamt attraktiver werden. (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das geht über die rechtlichen Rahmenbedingungen hi- (D) Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es für notwendig erach- naus. tet, diese Debatte zu einem Angriff auf unseren Frak- tionsvorsitzenden zu nutzen. Ausländischen Fachkräften muss schlicht und ergrei- fend eine bessere Bezahlung angeboten werden. Auslän- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Majestätsbe- dische Studienabsolventen, in die wir gerade viel inves- leidigung! Der treue Schildknecht steht ihm tiert haben, dürfen nicht mit Praktika oder kurzfristigen bei!) Zeitverträgen abgespeist werden, sondern sie müssen Ich finde, Sie sollten darüber nachdenken, ob man nicht eine ordentliche Anstellung bekommen. Und unsere Un- ausländische Mitbürger auch dadurch verunsichert, dass ternehmen müssen mehr in die Sprachkompetenz ihrer man Äußerungen des politischen Gegners bewusst fehl- Mitarbeiter investieren. Das ist genau das, was wir mit interpretiert. Willkommenskultur meinen. Es müssen diejenigen, die nicht zuletzt zu unserem Wohlstand beitragen, die not- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wendigen Rahmenbedingungen vorfinden, um sich in der FDP) unserem Land wohlfühlen zu können. Unsere Mitbürger muslimischen Glaubens gehören zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- uns und zu unserem Land. Wir führen mit ihnen den Dia- neten der FDP) log. Ich will deutlich hervorheben, dass die Koalitions- (Zuruf von der LINKEN: Wer ist denn „wir“?) fraktionen substanzielle Veränderungen des ursprüngli- chen Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorgenom- Aber wer den Dialog führt, der muss seine eigene Identi- men haben. Unsere Änderungen haben das Gesetz besser tät, seine eigene Geschichte und seine eigene Herkunft gemacht. Das ist uns in einer bei dieser ausländerrechtli- kennen. Sonst kann kein ehrlicher Dialog geführt wer- chen Thematik ungewöhnlichen Breite von den Sachver- den. ständigen bei der Anhörung am Montag bestätigt wor- (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Bestreitet den. Deswegen wird sich die SPD, auch wenn man es auch keiner!) nach der Rede von Frau Kolbe kaum glauben kann, heute hier wie im Innenausschuss enthalten. Dazu hat sich Volker Kauder geäußert. Sie sollten nicht mit Fehlinterpretationen unsere ausländischen Mitbürger Wenig Verständnis habe ich angesichts dieser Diskus- verunsichern und damit politische Spielchen treiben. So sionslage dafür, dass ausgerechnet der Deutsche Indus- erreichen Sie genau das, was Sie meinten, Volker Kauder trie- und Handelskammertag größter Kritiker unseres Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20889

Reinhard Grindel (A) neuen Gesetzes ist, noch dazu mit Argumenten, die von Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Sachkenntnis völlig ungetrübt sind. Ich will hier eines Lieber Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu, deutlich betonen: Es wäre auch Aufgabe des DIHK mit dass Sie in § 19 Abs. 2 Nr. 3 eine Regelung streichen? seinen Außenhandelskammern gewesen, also den Ver- Bisher bekommen die dort genannten Spezialisten und tretungen in den Ländern, in denen die klugen Köpfe leitenden Angestellten eine Niederlassungsgenehmi- sind, die zu uns kommen sollen, mehr zu tun, um Fach- gung. Sie werden im Zuge der Bluecard-Regelung jetzt kräfte für den Arbeitsplatzstandort Deutschland zu inte- in den neu geschaffenen § 19 a geschoben. Dadurch er- ressieren. Da hat es in der Vergangenheit erhebliche Ver- reichen Sie nur Verwirrung. säumnisse gegeben. Ich rufe uns alle auf, Politik, aber auch Wirtschaft, gemeinsam mehr zu tun, wo immer wir Stimmen Sie mir auch zu, dass die Hochqualifizierten können, gerade auch im Ausland, um dafür zu werben, gemäß § 19 ihre Ehegatten nachziehen lassen und mit- hier in Deutschland sein Glück zu machen und hier sei- nehmen konnten, ohne dass sie deutsche Sprachkennt- nen Arbeitsplatz zu wählen. Die notwendigen Rahmen- nisse hatten, und diese eine eigenständige Niederlas- bedingungen haben wir dafür jetzt geschaffen. sungsgenehmigung und Arbeitsgenehmigung bekommen haben, jetzt aber, wo sie in den § 19 a geschoben werden, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Ehegatten die Niederlassungsgenehmigung nicht au- tomatisch bekommen, es sei denn, sie sind Bluecard-In- In Zukunft gibt es einen einheitlichen Aufenthaltstitel haber oder Pflegekräfte, und sie ihre Ehegatten nur dann für ausländische Fachkräfte. Wer sagt, lieber Herr Kol- mitnehmen können, wenn die Ehe bereits bestanden hat, lege Kilic, wir hätten den Dschungel noch vergrößert, aber nachziehende Ehegatten dann doch deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen? (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!) Ist das eine Vereinfachung, oder wie soll man das ver- stehen? Können Sie mir erklären, wieso ich mich ange- der rennt als Schwarzmaler mit einer Sonnenbrille durch sichts dessen wie mit einer Sonnenbrille im Dschungel den Dschungel. Das kann man so nicht stehen lassen. bewegen soll? Nach drei Jahren Beschäftigung gibt es jetzt für alle eine Niederlassungserlaubnis. Wir glauben, dass man in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tat von einer Integration in den Arbeitsmarkt ausgehen und bei der SPD) kann. Wenn der betroffene ausländische Arbeitnehmer besonders gute Deutschkenntnisse nachweist, dann kann Reinhard Grindel (CDU/CSU): er schon nach zwei Jahren die Niederlassungserlaubnis Was meinen Sie wohl, was die Zuschauer, die uns (B) erlangen. jetzt über Phoenix zuschauen, bei Ihrer Frage eben ge- (D) dacht haben? Die haben nichts verstanden. Ich will hier – auch der Bundesinnenminister hat das dankenswerterweise schon getan – noch einmal beson- (Beifall des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] ders hervorheben: Erstmals verknüpfen wir im Aufent- [FDP] – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE haltsrecht eine Integrationsleistung mit einer Verbesse- GRÜNEN) rung des Aufenthaltsstatus. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel in diesem neuen Gesetz: Die aufent- Ihre Frage zeigt, dass Sie das Gesetz nicht verstanden haltsrechtliche Situation des Ausländers verbessert sich, haben. je mehr er selbst für seine Integration leistet. Das halte (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich für die wegweisende Neuorientierung. Wir sollten NEN) überlegen, das auch an anderen Stellen des Ausländer- rechts zu machen. Wer Ja zu unserem Land sagt, wer Es gibt jetzt einen einheitlichen Aufenthaltstitel für alle sich selbst um die Integration bemüht, wer gute Sprach- und damit natürlich auch für die Gruppe, die Sie ange- kenntnisse erwirbt, sprochen haben. Es wäre doch völlig widersinnig, wenn wir einen Aufenthaltstitel für Bluecard-Inhaber und dann (Zuruf des Abg. Dr. noch einen Aufenthaltstitel für leitende Angestellte und [SPD]) Spezialisten hätten. Wir schaffen eine einheitliche Rege- lung beim Ehegattennachzug; das haben wir Ihnen ge- der bekommt auch schneller einen gesicherten Aufent- sagt. Die Spezialisten und Fachleute werden jetzt ge- haltsstatus. Das ist kluge Integrationspolitik. nauso behandelt wie alle anderen Bluecard-Inhaber. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden eine dauerhafte Perspektive in Deutschland ha- ben, wenn sie so qualifiziert sind, wie sie es nach der ge- setzlichen Grundlage sein müssen. Das ist ja gerade, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenn Sie so wollen, das Anti-Dschungel-Instrument die- Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic? ses Gesetzes: ein Aufenthaltstitel für alle ausländischen Fachkräfte, die zu uns kommen wollen. Ich halte das für transparent, für nachvollziehbar, und das wird hoffent- Reinhard Grindel (CDU/CSU): lich erfolgreich sein, wenn man nicht mit solchen ver- Wenn er nicht wieder irgendwelche Karten zeigt und wirrenden Zwischenfragen Unruhe und Unfrieden stif- Noten gibt, ja. tet, Herr Kollege Kilic. 20890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Reinhard Grindel (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wochen entscheidet; sonst gilt die Zustimmung als er- (C) der FDP – Lachen bei Abgeordneten des teilt. Aber es bleibt eben beim Vorrang. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schlusssatz, Herr Präsident: Mit unserem Gesetz zur Ich will nur noch auf einen Punkt hinweisen, bei dem Zuwanderung von ausländischen Fachkräften machen es um eine Frage der inhaltlichen Sichtweise von Politik wir den Arbeitsplatz- und auch den Studienstandort geht. Sie haben im Innenausschuss einen Änderungsan- Deutschland attraktiver. Die Politik hat die notwendigen trag zu der Regelung eingebracht, die ich gerade genannt Rahmenbedingungen geschaffen. Jetzt ist die Wirtschaft habe: Rund drei Jahre guter Aufenthalt mit Beschäfti- an der Reihe, ihren Beitrag zu leisten, damit unser Land gung in Deutschland führt zur Niederlassungserlaubnis; den Kampf um die klugen Köpfe gewinnt. wenn man gute Deutschkenntnisse hat, gibt es die Nie- Herzlichen Dank fürs Zuhören. derlassungserlaubnis schon nach zwei Jahren. Das woll- ten Sie streichen. Sie schreiben zur Begründung Ihres (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Änderungsantrages – das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen –: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mit dem Änderungsantrag wird darüber hinaus die Das Wort hat der Kollege Swen Schulz von der SPD- Pflicht, Deutschkenntnisse nachzuweisen, gestri- Fraktion. chen. (Beifall bei der SPD) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Hochqualifizierte!) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist der Unterschied zwischen Grünen und CDU/ Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland CSU: Wir prämieren, wenn man Deutsch lernt. Sie wol- muss ein offenes Land werden – offener, als es heute be- len prämieren, wenn man nicht Deutsch lernt. reits ist, ein Land, das Menschen einlädt, zu uns zu kom- (Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist doch völliger men und hier mitzuhelfen, mitzutun. Es ist wichtig, dass Blödsinn!) Deutschland ein Land wird, das Menschen Chancen gibt, auch Anerkennung gibt – unabhängig von ihrer Her- Das ist der Unterschied in der Integrationspolitik. Ich kunft. halte den Weg, den Sie da beschreiten, Herr Kollege Kilic, für einen ziemlichen Irrweg. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das An- erkennungsgesetz haben wir auch schon ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) schaffen!) (D) Ich kann auch beim besten Willen nicht nachvollzie- Das ist wichtig für unsere Gesellschaft. Das ist wichtig hen, wie Sie uns hier Lohndumping vorhalten können; für die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit und auch denn gerade Lohndumping und ausbeuterische Arbeits- für die Finanzierung von sozialer Sicherheit. bedingungen werden mit dem Bluecard-Gesetz verhin- dert. Die von uns gewählten Einkommensgrenzen sorgen Die gute Nachricht von heute – bei allen Unterschie- gerade dafür, dass tatsächlich nur qualifizierte Fach- den in der Debatte – ist, dass alle Fraktionen bekundet kräfte in unser Land kommen. Kein einheimischer Ar- haben, dass sie das vom Grundsatz her genauso sehen. beitsloser muss befürchten, durch das Bluecard-Gesetz Das war aber in der Vergangenheit mitnichten immer der ins Hintertreffen zu geraten. Gleichzeitig sehen wir bei Fall. Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie es den Mangelberufen, bei denen die Einkommensgrenzen war, als Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard etwas niedriger liegen, sogenannte Vergleichbarkeitsprü- Schröder ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt hat. Es fungen vor, die eben für faire Arbeits- und Entlohnungs- wurde insbesondere von der CDU/CSU nachgerade mit bedingungen sorgen. Unser Gesetz sorgt gerade nicht da- dem Messer zwischen den Zähnen bekämpft. Wir wissen für, dass Arbeitslosen in Deutschland Konkurrenz durch das noch sehr genau. willige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland ent- (Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski steht. Das wollen wir als CDU/CSU gerade nicht, liebe [CDU/CSU]: Weil es einfach schlecht war! Kolleginnen und Kollegen. Schlechten Gesetzen muss man doch nicht zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stimmen, Herr Schulz!) neten der FDP) Aber Sie sind inzwischen ein gutes Stück weit auf uns zugekommen. Das will ich hier auch einmal positiv her- Wir wollen auch, dass es dabei bleibt, dass derjenige, vorheben. Dies zeigt sich auch bei der Umsetzung der der als Deutscher oder Ausländer bei der Bundesagentur Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union. als Arbeitsloser gemeldet ist und in genau der gleichen Es hat lange gedauert; es war mühsam; es bedurfte des Weise qualifiziert ist wie eine ausländische Fachkraft, Anschubs der Europäischen Union. Aber jetzt gab es im- die in unser Land kommen soll, grundsätzlich Vorrang merhin dann doch den Gesetzentwurf der Bundesregie- hat, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz zu besetzen. rung. Daran wird nicht gerüttelt. Es bleibt beim Vorrang unse- rer einheimischen Arbeitslosen. Es gibt jetzt die Ver- Was mich heute Morgen ganz besonders milde pflichtung – Kollege Wolff hat zu Recht darauf hinge- stimmt, ist Folgendes: Die Koalitionsfraktionen sind auf wiesen –, dass die Bundesagentur innerhalb von zwei Verbesserungsvorschläge eingegangen. Wir haben unter Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20891

Swen Schulz (Spandau) (A) anderem beantragt, dass die Zuverdienstmöglichkeiten Außerdem brauchen wir endlich bessere Schulen. Da (C) ausländischer Studierender verbessert werden und dass muss der Bund dann auch den Ländern helfen. die Frist für die Arbeitsplatzsuche von Absolventen ver- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die Länder längert wird. Dem sind Sie gefolgt. sind aber zuständig, Herr Kollege!) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Keine Aber Sie von der Regierungskoalition verweigern sich ja Sorge! Auf die Idee sind wir allein gekom- der Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungs- men!) bereich. Die Beratungen haben also etwas gebracht. Das will ich (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen hier auch einmal ausdrücklich loben, meine sehr verehr- doch die Länder nicht mit! Reden Sie doch ten Damen und Herren. nicht so einen Unsinn!) (Beifall bei der SPD) Zudem brauchen wir mehr Studienplätze. Aber die Fi- Bevor Sie jetzt aber vor lauter Komplimenten von nanzplanung der Bundesregierung sieht nach der Bun- meiner Seite rot werden, will ich doch noch auf einige destagswahl 2013 eine Kürzung im Bildungsbereich vor. Fehlstellen hinweisen. CDU/CSU und FDP setzen den Rotstift an der Bildung an, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ge- Im Gesetz werden beruflich Qualifizierte schlechter nau der falsche Weg. gestellt als Akademiker. Das ist ein Problem. Auch bei der Definition der Angemessenheit der Arbeit hätte es (Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski Vereinfachungen geben sollen. Grundsätzlich wäre es [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! – besser gewesen, ein reformiertes Zuwanderungsrecht zu Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ein schaffen, anstatt an einzelnen Stellen herumzuschrau- Quatsch!) ben. Erst mit einem neuen Punktesystem aus einem Guss – Schauen Sie sich doch die mittelfristige Finanzplanung kommen wir wirklich auf einen internationalen Stan- Ihrer Bundesregierung an. Was passiert denn nach 2013? dard, der uns voranbringt. Aber da waren offenbar die 2014 bis 2016 sind über eine halbe Milliarde Euro weni- Einwände und die Vorbehalte bei der Union zu groß. ger vorgesehen. Das ist die bittere Wahrheit. Sie sollten Es gibt noch andere Themen, die die Koalition nicht sich einmal mit Ihren eigenen Vorlagen beschäftigen, im Blick hat. So ist die Frage der Fachkräfte eine The- liebe Kollegen. matik nicht nur des Zuwanderungs- und des Aufenthalts- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen Sie sich rechts. Da braucht es eine Politik, in der die Zahnräder einmal an, was in Ihrem Landeshaushalt pas- (B) ineinandergreifen und sich sozusagen ergänzen. Das siert!) (D) lässt die Koalition leider schmerzlich vermissen. Ich will hierzu nur einige Stichworte aus dem Bereich der Bil- Bei allem Lob, das ich Ihnen zu Beginn der Rede für dungspolitik nennen. Verbesserungen an dem Gesetzentwurf gezollt habe, fällt die Bilanz insgesamt also ziemlich durchwachsen aus. Nach einer aktuellen Studie bekunden 80 Prozent der Ordentlich voran kommen wir wohl erst bei einem Re- ausländischen Studierenden, dass sie nach ihrem Ab- gierungswechsel nach den nächsten Wahlen. schluss hierbleiben wollen; aber nur 26 Prozent schaffen das tatsächlich. Das ist selbstverständlich auch eine (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Frage des Aufenthaltsrechts, aber eben nicht nur. Da Herzlichen Dank. geht es auch um weitere Rahmenbedingungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten An dieser Stelle will ich auf einige Punkte hinweisen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Menschen, die hier arbeiten wollen und Familie haben, nützt eine Diskussion um das Betreuungsgeld überhaupt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nichts. Sie brauchen Betreuungsangebote, meine sehr Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der verehrten Damen und Herren. FDP-Fraktion. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der FDP) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie brauchen gute Schulen mit den entsprechenden Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Ganztagsangeboten. Für ausländische Absolventen be- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nötigen wir auch mehr Studienplätze. Da ist eine Aufsto- Auch ich glaube, es ist heute ein guter Tag; denn wir ckung der Mittel des Hochschulpaktes erforderlich. An brauchen in Deutschland dringend mehr Zuwanderung. allen diesen Stellen herrscht bei der Regierungskoalition Ich bin froh darüber, dass hierin offenbar zwischenzeit- leider Fehlanzeige. lich Einigkeit besteht. Ganz wichtig ist, dass natürlich auch und vor allem Die Lage ist klar. Schauen wir uns die demografische die Menschen, die bereits hier leben, in der Bildung und Entwicklung an: Im Jahr 2025 werden wir in Deutsch- im beruflichen Bereich unterstützt und gefördert werden. land 6,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter Da ist das Betreuungsgeld genau falsch; es ist kontrapro- weniger haben als heute. Negative Auswirkungen sind duktiv. schon heute absehbar. Wenn ich mit mittelständischen 20892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) Unternehmen meines Wahlkreises im Sauerland rede, zur Einreise. Danach kann er sich innerhalb eines Jahres (C) zum Beispiel mit Unternehmen der Automobilzuliefer- in Ruhe um einen Arbeitsplatz kümmern. Man muss sich industrie, dann sagen die Unternehmer: Wenn wir in Zu- also nicht wundern, dass das bisherige System in kunft Ingenieurstellen nicht mehr besetzen können, dann Deutschland nicht wettbewerbsfähig war. Es ist gut, dass wird das auch die Arbeitsplätze der Angestellten in der sich die christlich-liberale Koalition die Aufgabe stellt, Produktion gefährden. Umgekehrt gilt: Wenn wir gute das zu reformieren. Das ist ein Erfolg für unser Land. und hochqualifizierte Ingenieure finden, dann ist sicher- gestellt, dass wir auch in Zukunft innovative Produkte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten entwickeln und weitere Arbeitsplätze schaffen können. – der CDU/CSU) Deswegen müssen wir alles tun, um auf den demografi- Schauen wir uns an, was durch den Gesetzentwurf er- schen Wandel zu reagieren. reicht werden soll. Die Vorrangprüfung für Mangelbe- rufe wird ausgesetzt. Eine Genehmigungsfiktion bei der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorrangprüfung wird eingeführt. Die Gehaltsgrenzen für neten der FDP) Mangelberufe werden auf ein realistisches Maß zurück- Das heißt zuvorderst, sich den inländischen Potenzia- geführt. Wir geben den Menschen, die hier studiert ha- len zu widmen. Es geht natürlich um die Älteren am ben und sich danach einen Arbeitsplatz suchen wollen, Arbeitsmarkt, um Frauen am Arbeitsmarkt, um Weiter- bessere Voraussetzungen als bisher. Hier wünsche ich bildung, Qualifikation und lebenslanges Lernen, um die mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- Anerkennung von Abschlüssen und um die Bekämpfung tion, angesichts dieses Paradigmenwechsels mehr Aner- der Arbeitslosigkeit. All diesen Themen widmet sich die kennung. christlich-liberale Koalition bereits sehr erfolgreich. (Zuruf von der SPD: Noch mehr?) Aber all das zusammen wird nicht reichen. Auch wenn Ich habe mich über Ihr Lob gefreut. Aber eines haben in allen Bereichen alles gelingt: Ohne mehr Zuwanderung Sie unterschlagen: Durch die Einführung des Arbeit- wird es nicht gehen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns suchvisums kommen wir erstmalig von der zwingenden auf die erfolgreiche Zuwanderungstradition in Deutsch- Voraussetzung des Vorliegens eines Arbeitsplatzes weg, land berufen. Man muss noch einmal klar sagen: In auf den man sich vom Ausland aus bewerben muss. Das Deutschland ist die Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte. ist ein entscheidender Paradigmenwechsel. Diese Sys- Vor 300 Jahren sprach ein Viertel der Einwohner in Berlin temveränderung leiten wir ein. Das ist gut für unser fließend Französisch. Vor 100 Jahren sprachen eine halbe Land. Das ist die entscheidende Reform, über die wir Million Menschen im Ruhrgebiet fließend Polnisch. uns heute alle freuen können. Heute sprechen zwei Millionen Menschen in diesem (B) Land fließend Türkisch, weil sie türkische Wurzeln ha- (Beifall bei der FDP) (D) ben. All diese Zuwanderer in der Vergangenheit haben nicht nur unsere Gesellschaft bereichert, sondern auch die Richtig ist natürlich: Es kann nicht nur bei einem Sys- wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in Deutschland mitge- tem bleiben. Ein wettbewerbsfähiges modernes Zuwan- schrieben. Das muss man klar sagen. derungssystem ist ein entscheidender Faktor im Wettbe- werb um die klugen Köpfe. Das ist aber nicht der (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD einzige. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir brauchen drei Dinge, drei Ws: Zunächst benöti- NEN]: Und was folgt daraus?) gen wir ein wettbewerbsfähiges System; das führen wir heute ein. Hiermit schaffen wir den entscheidenden Deshalb müssen wir uns auf diese Tradition besinnen; Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen denn heute – das müssen wir ehrlich anerkennen – sind – und da wird die Wirtschaft in der Tat besonders gefor- wir nicht gut im Wettbewerb um die klugen Köpfe auf dert sein – die deutschen Unternehmen um die klugen dem globalen Arbeitsmarkt. Das hat Gründe. Diese lie- Köpfe im Ausland werben; sie müssen eine ganz kon- gen auch in unserem Zuwanderungssystem. Wir müssen krete Anwerbungspolitik betreiben. Außerdem – ich uns folgende Situation vergegenwärtigen: Wenn sich freue mich, dass auch darüber heute Konsens herrscht – beispielsweise ein gut ausgebildeter junger Mensch von brauchen wir eine Willkommenskultur. Das halte ich im den Philippinen überlegt hat, sein Land zu verlassen und Übrigen für eine überparteiliche Aufgabe. In der Vergan- in Deutschland zu arbeiten, dann musste er Deutsch genheit ist hier in allen politischen Bereichen viel schief- sprechen lernen – das ist richtig und muss auch so blei- gelaufen. Wir – das heißt die deutschen Behörden, wir ben –, weil hier nicht allein die Weltsprache Englisch ge- als Politiker und die deutsche Gesellschaft – brauchen sprochen wird. Aber außerdem musste dieser junge eine gemeinsame Willkommenskultur. Mann, der sich vom Ausland aus auf eine Stelle bewarb, in Deutschland eine langwierige Vorrangprüfung durch Ich will mit gutem Beispiel vorangehen und möchte die Bundesagentur für Arbeit durchlaufen, oder er in diesem Zusammenhang den neuen Bundespräsidenten musste sehr viel verdienen, was für die meisten Berufs- Gauck zitieren. Zum Thema Willkommenskultur hat einsteiger völlig unrealistisch ist. nicht nur der vorherige Bundespräsident kluge und wich- tige Dinge gesagt, sondern gestern in der Paulskirche in In Kanada beispielsweise kann jemand innerhalb we- Frankfurt auch der neue Bundespräsident Gauck. Er niger Minuten im Internet ermitteln, ob er zuwandern sprach zu jungen Migrantinnen und Migranten, also darf. Ist das der Fall, dann bekommt er die Genehmigung Menschen mit ausländischen Wurzeln, die im Rahmen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20893

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) eines Stipendienprogramms, das vor zehn Jahren einge- schulausbildung verdient in Niedersachsen nach Tarif- (C) führt wurde, gefördert werden. Er hat etwas gesagt, was vertrag 47 000 Euro pro Jahr, ein Diplomingenieur oder der Grundsatz einer Willkommenskultur sein sollte und eine Diplomingenieurin 53 000 Euro. Es liegt auf der was wir denjenigen Menschen, die noch nicht in Hand, dass bei der beabsichtigten Absenkung der Min- Deutschland leben, ebenfalls sagen sollten. Ich zitiere destgehaltsgrenze Ingenieure und Ingenieurinnen aus den Bundespräsidenten: dem Nicht-EU-Ausland dazu missbraucht werden kön- nen, um das derzeitige Einkommensniveau der heutigen Wir glauben an Euch! Nicht nur als Fachkräfte von Ingenieure unter Druck zu setzen. morgen, sondern als Bürger, Menschen an unserer Seite, hier in diesem unserem Land! (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie ha- ben den Markt nicht verstanden!) Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist der Geist unserer Politik. Das ist nicht hinnehmbar! Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Linksfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf deshalb der CDU/CSU) entschieden ab. Wir lehnen es ab, dass sich die Unter- nehmen hemmungslos auf dem weltweiten Arbeitsmarkt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: günstig bedienen können, statt für gute Jobs, für Qualifi- Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von kation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für ge- der Fraktion Die Linke. nügend Ausbildungsplätze zu sorgen. (Beifall bei der LINKEN) Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, schieben den Fachkräftemangel doch nur vor. Es gibt er- Jutta Krellmann (DIE LINKE): hebliche Zweifel über das Ausmaß des Fachkräfteman- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gels. Ich erinnere nur daran, dass beispielsweise das Kollegen! Ich freue mich auf die Zuwanderung von vie- DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, ei- len Menschen aus dieser Welt. Allerdings finde ich, dass nen nennenswerten Ingenieurmangel bestreitet. Für dieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als wieder ein- meine Region kann ich nicht behaupten, dass es keine mal der Versuch, Lohndumping in dieser Republik zu Probleme gäbe. Bei uns klagen Betriebe durchaus über befördern. Ingenieurmangel, insbesondere im Bereich Elektrotech- nik. Die Unternehmen klagen aber nicht über die Höhe (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Oh weh!) des Schwellenwertes, sie fordern auch nicht die Absen- (B) (D) Sie wollen die Mindestgehaltsgrenzen für die Ertei- kung, sondern ihr Ziel ist die Einstellung von Fachkräf- lung der Aufenthaltsgenehmigung von Beschäftigten aus ten. Sie bieten freiwillig gute Bedingungen und gutes außereuropäischen Ländern deutlich unter den bestehen- Geld. den Tarifentgelten ansetzen. (Beifall bei der LINKEN) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Legen Wenn Sie etwas gegen den Fachkräftemangel in Sie doch mal die ideologischen Scheuklappen diesem Land tun wollen, dann erweisen Sie diesem ab!) Anliegen mit Ihrem Gesetzentwurf regelrecht einen Bä- – Jetzt rede ich, danach dürfen Sie. – Das ist unverant- rendienst. Lohndrückerei hat mit nachhaltiger Beschäfti- wortlich, sowohl gegenüber den zuwandernden wie auch gungspolitik und Qualitätssicherung nichts zu tun. Was gegenüber den einheimischen Arbeitskräften. Die Be- wir eigentlich brauchen, ist ein umfassendes Maßnah- schäftigten werden gegeneinander ausgespielt. Der Wert menpaket. Wir brauchen gute Tarifverträge, gute Ausbil- von Tarifverträgen für Hochqualifizierte wird von der dungs- und Arbeitsbedingungen, den Abbau von Bil- Politik infrage gestellt. Wo bleibt eigentlich Ihr Auf- dungshürden und die langfristige Förderung und schrei bei diesem politischen Angriff auf die Tarifauto- Weiterbildung der Menschen hier in diesem Land. nomie? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die IG Metall, Bezirk Niedersachsen und Sachsen- Sie präsentieren sich an anderer Stelle, insbesondere Anhalt, hat am vergangenen Montag ein solides Konzept wenn es um Mindestlöhne geht, als die großen Hüter. mit Maßnahmen für die Fachkräftesicherung im Inge- Und jetzt? Anscheinend gilt Ihre Sorge um die Tarifauto- nieursbereich vorgelegt. Ich kann Ihnen die Lektüre die- nomie nur dann, wenn Sie die Interessen von Arbeitge- ses Konzepts nur wärmstens empfehlen. bern schützen können. Die Linke fordert: Streichen Sie die Anstiftung zum Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Bundesland, Lohndumping aus diesem Gesetzentwurf. Das wäre ganz aus Niedersachsen: Nach den Vorstellungen der Koali- einfach: Sie müssten einfach nur die Vorgaben der EU- tion soll ein hochqualifizierter Ingenieur aus einem Richtlinie umsetzen. Nicht-EU-Staat in Zukunft hierzulande für ein Entgelt (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ein von 34 000 Euro im Jahr arbeiten können. Derzeit be- Blödsinn!) läuft sich dieser Schwellenwert auf 66 000 Euro pro Jahr. Ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit Fachhoch- Mein Kollege Wunderlich hat das hier schon dargelegt. 20894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Jutta Krellmann (A) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ja, der reicht, wenn sie sich darum bemühen. Wunderbar! Wa- (C) hat es nicht verstanden!) rum steht im Gesetzentwurf, dass diese Regelung nach vier Jahren ausläuft? Das ist doch keine Willkommens- Orientieren Sie die Mindestgehaltsgrenze am durch- kultur, mit der Sie signalisieren: Klar, wir machen etwas schnittlichen Bruttojahresgehalt eines Vollzeitbeschäf- für euch. Stattdessen schaffen Sie eine weitere Hürde. tigten und lassen Sie uns dann darüber sprechen, wie wir Wovor haben Sie denn Angst? die Fachkräftesituation verbessern können, und zwar im Interesse der zuwandernden und der einheimischen Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schäftigten. sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Vielen Dank. Schipanski [CDU/CSU]: Wir schauen, ob die Regelung sich bewährt hat! – Hartfrid Wolff (Beifall bei der LINKEN) [Rems-Murr] [FDP]: Danach machen wir sie noch besser!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Natürlich können Sie nach vier Jahren eine bessere Re- Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die gelung schaffen. Kollegin Kerstin Andreae. (Otto Fricke [FDP]: Ja, wir!) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Entschuldigung, Gesetze verabschiedet man nicht mit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und der Absicht, irgendwann einmal bessere zu verabschie- Herren! Die wichtigste Ressource unserer Wirtschaft den. Stattdessen bringt man das Bestmögliche auf den sind die Köpfe gut ausgebildeter Fachkräfte. Der VDI Weg, und wenn man weiß, wie es besser geht, dann setzt sagt: Uns fehlen derzeit 110 000 Ingenieure; damit ein- man es gleich um. Mit dem, was Sie tun, signalisieren her geht ein Wertschöpfungsverlust von 8 Milliarden Sie nur – darauf bezieht sich doch der Streit zwischen Ih- Euro. Deutsche Schlüsselindustrien wie Maschinenbau, nen –, dass Sie nicht wirklich wollen, dass wir uns hier Elektrotechnik, Fahrzeugbau und Telekommunikation als offene, moderne Gesellschaft präsentieren. sind massiv betroffen. Aber auch in anderen Branchen fehlen Fachkräfte; etwa im Pflegebereich gibt es 42 000 (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Beschäftigen offene Stellen. Sie sich mal mit Entbürokratisierung!) Deshalb brauchen wir eine bessere Aus- und Weiter- Immer wieder tragen Sie Scheuklappen, und immer bildung von Jugendlichen und von älteren Beschäftigten wieder nähern Sie sich der Sache mit Angst vor zu viel und natürlich die Integration der Frauen in den Arbeits- Zuwanderung. (B) markt. Darüber hinaus sind deutlich attraktivere Be- (D) dingungen für qualifizierte Spezialisten und Hoch- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ach, schulabsolventen aus dem Ausland und deren Frau Kollegin! Cool bleiben!) Familienangehörige vonnöten. Ich betone: Es bedarf Stattdessen sollten Sie einfach sagen: Ja, ausländische deutlich besserer Bedingungen. Diese beiden Aspekte Hochschulabsolventen, wir sehen es gern, dass ihr zu – Bildung hier, Zuwanderung dort – dürfen wir nicht ge- uns kommt. – Das ist die Botschaft, die Sie senden soll- geneinander ausspielen; wir brauchen beides. ten. Wovor haben Sie eigentlich Angst? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartfrid Wolff [Rems- sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartfrid Murr] [FDP]: So ist es!) Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Vor Ihnen nicht! Die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richt- Keine Sorge!) linie wäre eine Chance für eine neue Willkommenskul- Dass uns jetzt eine große Anzahl von ausländischen tur. Aber Sie verstecken sich hinter dieser Richtlinie, an- Fachkräften Arbeitsplätze wegnimmt, das ist doch nicht statt sie als Türöffner zu nutzen. Viele Regelungen in die Realität. diesem Gesetzentwurf sind kleinteilige Ausnahmen, die manches eher erschweren. Damit bauen Sie Hürden auf. (Otto Fricke [FDP]: Stimmt!) Die in Sonntagsreden geforderte Willkommenskultur wird genau damit nicht geschaffen. Sie verstecken sich. Wir müssen eine Willkommenskultur schaffen und den Sie springen halb, aber keineswegs ganz, meine sehr ver- ausländischen Hochschulabsolventen sagen: Ja, kommt ehrten Damen und Herren von der Koalition. zu uns! Unser Fachkräftemangel ist allein national nicht zu bewältigen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir sprin- gen ganz hoch!) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ist es!) Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Vogel hat von der arbeitsplatzunabhängigen Einwanderung von Hoch- Um damit fertigzuwerden, brauchen wir auch Hoch- schulabsolventen gesprochen. Gute Idee! Hochschulab- schulabsolventen aus dem außereuropäischen Ausland. solventen können für sechs Monate – nach unserer Auf- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Stimmt!) fassung wäre ein Zeitraum von einem Jahr besser gewesen – hierherkommen; das ist okay. Um kommen Dann müssen Sie aber vor allem auch bessere Rah- zu dürfen, müssen sie keinen Job vorweisen, sondern es menbedingungen für die Familienangehörigen schaffen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20895

Kerstin Andreae (A) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Haben wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) doch!) Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. Herr Vogel, der von Ihnen erwähnte Philippiner ist doch vielleicht ein junger Mann, der Familie hat. Für ihn wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- relevant sein: Was ist mit meinen Familienangehörigen? neten der FDP) Können sie mitkommen? Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: § 3 der ent- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr ge- sprechenden Verordnung!) ehrte Kollegen! Das Gesetz, das wir heute debattieren, Wir müssen uns fragen: Was müssen wir ihnen anbieten? ist in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist in Wie sind die Regeln für einwanderungswillige Fach- dem Gesamtzusammenhang zu sehen, dass wir aufgefor- kräfte? Wie werden ihre Familienangehörigen hier auf- dert sind, den sich weiterhin zuspitzenden Fachkräfte- genommen? Mit dem vorliegenden Regelwerk bauen Sie mangel zu bekämpfen. Eines muss aber auch klar sein: keine Brücken; Sie haben Hindernisse aufgestellt. Das Der Schwerpunkt muss weiterhin auf der Pflege und der Entscheidende ist, dass wir bessere Rahmenbedingungen Hebung des inländischen Potenzials liegen. für Familienangehörige schaffen. Es geht auch in Zukunft darum, mehr für die Siche- rung der Beschäftigung für die schon aktiv im Arbeitsle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben stehenden Menschen zu tun. Es wird in Zukunft ver- sowie bei Abgeordneten der SPD – Reinhard stärkt darum gehen, mehr für die Integration von Grindel [CDU/CSU]: Ich glaube, Sie haben Arbeitsuchenden, auch für die Integration von Arbeitsu- den alten Entwurf noch vor Augen!) chenden mit Handicaps, in den ersten Arbeitsmarkt zu – Nein, das steht leider auch noch im neuen Entwurf. tun. Wir müssen weiterhin die Bildungschancen auch der Benachteiligten von Beginn an erhöhen. Es wird in Zu- Sie könnten aber auch andere Sachen machen: die kunft verstärkt darum gehen, mehr in die Qualifizierung Vereinfachung der Einreisebürokratie. Laut Normenkon- von Jugendlichen und Arbeitsuchenden zu investieren, trollrat dauert es sechs Wochen und länger, bis ein Vi- insbesondere in die Aus- und Weiterbildung. sum erteilt wird. Die reine Bearbeitungszeit beträgt ei- Es wird, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- nen halben Tag. Sie könnten außerdem ein zentrales gen, auch darum gehen, sich noch mehr der Vereinbar- Informationsportal auf Deutsch und Englisch ins Internet keit von Beruf und Familie zuzuwenden. Dazu gehören stellen. Dinge wie der vollkommen richtige Ausbau von Kinder- (B) krippen und Kinderbetreuungseinrichtungen für unter (D) Jetzt noch die Sache mit den Deutschkenntnissen: Die Dreijährige. Hier investiert die christlich-liberale Koali- Sprache der Wirtschaft wird mehr und mehr Englisch. tion insgesamt 4 Milliarden Euro. Das ist richtig und gut. Wenn wir hier immer wieder sagen, dass Deutschkennt- nisse für die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltser- Genauso richtig ist, dass auch das Betreuungsgeld laubnis verpflichtend sind, dann sind wir nicht am Welt- kommt. Das eine schließt das andere nicht aus. Der Staat markt und an einer modernen Zukunft orientiert, dann hat hier nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht, eine sind wir nicht an einer Wirtschaft orientiert, die auf dem Lebensform der anderen vorzuziehen und sie vorzugs- Weltmarkt bestehen muss. Die Bindung der Aufenthalts- würdig zu behandeln. Wir müssen beides tun – nicht das erlaubnis an Deutschkenntnisse ist realitätsfremd. Das eine tun und das andere unterlassen –: sowohl in den Be- sollten Sie hier ändern. reich der Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrich- tungen investieren als auch denjenigen etwas zuteilwer- den lassen, die nicht von den Kinderkrippen Gebrauch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: machen, aus welchen Gründen auch immer. Der Staat Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Andreae. Sie hat nicht das Recht, hier diskriminierend vorzugehen. sind schon anderthalb Minuten drüber. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz, das heute verabschiedet wird, schafft kein Fazit: Wir kommen an einer grundlegenden Neuaus- grundlegend neues Zuwanderungsrecht; aber es ist eine richtung der Zuwanderungspolitik nicht vorbei, aus hu- zeitgemäße und moderne Anpassung an die Bedürfnisse manitären Gründen, aber auch weil wir sonst nicht nur der Arbeitswelt und an die wirtschaftliche Situation. Ich den Kampf um die kreativsten Köpfe, sondern auch die kann durchaus verstehen, meine sehr verehrten Kolle- Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft verlieren. Hö- ginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sich ren Sie mit diesem ideologischen Klein-Klein auf und echauffieren; denn Sie sind orientierungslos. entwickeln Sie eine Willkommenskultur, die tatsächlich ihren Namen verdient. (Lachen des Abg. Memet Kilic [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vielen Dank. Die SPD – liebe Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gekündigt – wird sich kraftvoll enthalten. Allein dies sowie bei Abgeordneten der SPD) zeigt schon: Es klappt nicht mehr, mit den alten Stig- 20896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Stephan Mayer (Altötting) (A) mata, Klischees und Allgemeinplätzen zu agieren, die nate verlängern. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt in (C) Sie uns bei derartigen Diskussionen immer um die Oh- Richtung der so vielzitierten Willkommenskultur. ren hauen wollten. Es heißt dann, wir seien rückwärtsge- wandt, wir wollten nur einer Wagenburgmentalität Vor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schub leisten, wir wollten die Schotten dichtmachen. der FDP) Wir handeln tatsächlich. Sie haben in Ihrer Regierungs- Es ist auch richtig, dass wir die Frist für einen Aufent- zeit immer nur geredet. Aber wir tun mehr für die Zu- halt von Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Ländern wanderung von Hochqualifizierten nach Deutschland. von drei auf sechs Monate verlängern. Voraussetzung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dabei ist, dass sie nachweisen können, dass ihr Lebens- unterhalt gesichert ist. Dies ist aber – auch das möchte Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von ich vermerken – kein Einstieg in das Punktesystem. Das den Grünen, auch Sie haben sich im Innenausschuss Visum, das in Zukunft für sechs Monate ausgereicht kraftvoll enthalten. Lieber Herr Kilic, liebe Frau wird, ist wie bisher nachfrageorientiert, das heißt, es Andreae, Sie müssen schon einmal erklären, was denn muss ein konkreter und der geforderten Qualifikation nun gilt. Gilt die Aussage von Herrn Wieland im Innen- entsprechender Arbeitsplatz bei der späteren Arbeitsauf- ausschuss, der klargemacht hat, dass sich die Grünen nahme nachgewiesen werden. Das Verfahren ist wesent- enthalten werden? Oder gilt Ihre Rote Karte, Herr Kilic? lich unkomplizierter und unbürokratischer als ein Punk- Ich war zunächst erschrocken, als Sie uns die Rote Karte tesystem und macht dieses aus meiner Sicht schon allein gezeigt haben; als überzeugter Anhänger des FC Bayern deshalb überflüssig. Ein Punktesystem wäre ein bürokra- München habe ich sofort gedacht: Nicht noch eine tisches Monster, starr und unflexibel, weil nur irgend- Sperre für das Champions-League-Finale; es reicht welche abstrakten, möglicherweise gar nicht benötigten schon, wenn drei Stammspieler am 19. Mai gesperrt Qualifikationen ohne einen konkreten Arbeitsplatznach- sind. Aber wir haben dann festgestellt: Ihre Rote Karte, weis bewertet werden müssten. Herr Kilic, ist vollkommen wirkungslos. Ich möchte auf das Beispiel Kanada, insbesondere auf (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Provinz Quebec verweisen, die immer als Beispiel Nächste Wahlperiode sind Sie gesperrt!) einer Vorzeigeprovinz herangezogen wird. Fahren Sie einmal dorthin. Die Arbeitslosigkeit in Quebec ist höher Wir werden weiterhin erfolgreich regieren. Wir werden als in Deutschland. Die Begeisterung über das dort prak- im September oder Oktober nächsten Jahres eine Ver- tizierte Punktesystem ist beileibe nicht so groß, wie uns tragsverlängerung von den Wählerinnen und Wählern in hier von mancher Seite weiszumachen versucht wird. Deutschland bekommen. Wir werden trotz Ihrer Roten Ein Punktesystem ist starr, unflexibel, und es bedeutet, Karte wieder aufgestellt, weil wir handeln und nicht nur (B) dass jeder, der die Punkteanzahl einfach nur von der (D) reden. Quantität her erfüllt, eine Niederlassungserlaubnis in (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Kanada erhält, ohne dass er einen konkreten Arbeitsplatz GRÜNEN]: Das war ja jetzt gar keine Flos- nachweisen muss, was zur Folge hat, dass viele entweder kel!) sofort oder zumindest sehr schnell in die Arbeitslosigkeit rutschen. Der Grundsatz im Bereich der Zuwanderung Hoch- qualifizierter muss sein, dass wir uns verstärkt denjeni- (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen zuwenden, die sich bereits in Deutschland befinden. Woher haben Sie das?) Es ist leichter, diejenigen zum Bleiben zu bewegen, die Es ist außerdem richtig, dass die Neuregelung auf drei bereits in Deutschland sind, als diejenigen, die noch Jahre befristet ist, aber das heißt nicht, dass sie nicht nicht in Deutschland sind, zu motivieren, nach Deutsch- fortg land zu kommen. esetzt wird; das möchte ich in aller Deutlichkeit sa- gen, Frau Kollegin Andreae. Wenn ein neues Instrument Es mag durchaus sein, dass viele ausländische Hoch- eingeführt wird, dann ist es aus meiner Sicht richtig, drei schulabsolventen bisher den abstrakten Wunsch hatten, Jahre abzuwarten, die Erfahrungen zu evaluieren und in Deutschland zu bleiben. Aber wir mussten feststellen, dann ganz offen darüber zu debattieren, ob es richtig ist, dass nur etwa 25 Prozent von dieser Möglichkeit Ge- die Regelung nach Ablauf der drei Jahre fortzusetzen. brauch gemacht haben. 75 Prozent der ausländischen Hochschulabsolventen haben Deutschland nach dem (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abschluss wieder verlassen. Interessanterweise sind die NEN]: Das kann man bei jeder Regelung ma- meisten nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, chen!) sondern in andere, vermeintlich attraktivere Länder wie Genauso richtig ist es, dass die Niederlassungserlaub- die USA, Frankreich, Großbritannien oder die skandina- nis zunächst nicht als unbefristete, sondern als befristete vischen Länder gegangen. Aufenthaltsgenehmigung gewährt wird. Dadurch besteht (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Ja- die Möglichkeit, Anreize zu schaffen. Wer einen ent- wohl!) sprechenden Nachweis über Deutschkenntnisse der Stufe B 1 erbringen kann, erhält einen Bonus von einem Es gilt, sich diesem Personenkreis in Zukunft verstärkt Jahr, das heißt, dass schon nach zwei Jahren die unbe- zuzuwenden. Es ist deshalb richtig, dass wir die Frist für fristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland gewährt die Suche nach einem Arbeitsplatz von 12 auf 18 Mo- wird. Das zeigt, dass wir Ernst machen mit einer erfolg- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20897

Stephan Mayer (Altötting) (A) reichen Politik der Integration in die deutsche Gesell- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) schaft. Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, es hat überhaupt nichts mit Zwangsgermani- (Beifall bei der SPD) sierung und Deutschtümelei zu tun, wenn wir Anreize schaffen, Deutsch zu lernen. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE SPD-Fraktion möchte ich Herrn Kollegen Mayer und an- GRÜNEN]: Warum fangen Sie nicht bei sich deren sagen: Wir bleiben trotz einiger Ihrer Wortbeiträge selber an?) bei Enthaltung. Das fällt uns nach anderthalb Stunden Debatte mit Positionierungen, die teilweise kaum zu er- Es ist nun einmal so, Frau Kollegin Andreae: Wenn man tragen waren, jedoch ein wenig schwerer. Ich will das sich in Deutschland aufhält, muss man Deutsch können begründen. Worum geht es uns? und sich in der deutschen Gesellschaft bewegen können, obwohl die Lingua franca im Wirtschaftsleben mittler- Wir haben schon jetzt die Sorge, dass wir zu wenig weile Englisch ist. Fachkräfte haben. Der Bedarf wird möglicherweise stei- gen. Wir werden ihn aber nur schwer decken können. Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben gerade auf mein Nach den anderthalb Stunden frage ich mich angesichts Idiom Bezug genommen. Ich möchte dazu sagen, dass es der Themen, die wir hier behandelt haben: Wie würden eine neue Studie im Zusammenhang mit der Evaluation es eigentlich Interessierte, die aus dem Ausland zu uns aller 16 Bundesländer gibt, was die Deutschkenntnisse, kommen wollen, einschätzen, wie willkommen sie sind, das Sprachverständnis, die Orthografie usw. anbelangt. wenn sie hören, wie wir hier debattieren? Ich glaube, da Erstaunlicherweise hat Bayern – für die kundigen The- war mehr Abschreckung im Spiel als tatsächliche Einla- baner ist das aber gar nicht so erstaunlich – am besten dung. abgeschnitten. (Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [CDU/CSU]: Vonseiten der Opposition!) NEN]: Sie waren aber nicht dabei!) Wie würden Menschen, die schon hier sind und einen Wenn die Baden-Württemberger zu Recht behaupten: Migrationshintergrund haben und deren Motivation und „Wir können alles, außer Hochdeutsch“, dann kann Bay- Potenziale durch Ihre Politik überhaupt nicht abgeholt ern mittlerweile sagen: Wir können alles, auch Hoch- werden, diese Debatte von anderthalb Stunden verste- (B) deutsch. hen? Weiter frage ich: Wie verstehen eigentlich die Bil- (D) dungsverlierer, von denen wir in Deutschland viele ha- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Fangen Sie ben, unsere Diskussion? doch mal damit an!) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hochquali- Abschließend darf ich noch sagen, dass wir einen fizierte werden sie verstehen!) deutlichen Fortschritt in Sachen Entbürokratisierung und Wenn wir über Fachkräfte und Bedarfssicherung re- Schaffung von Rechtssicherheit erreichen, indem wir ei- den, brauchen wir einen Dreiklang von Bildungs-, Ar- nen langgehegten Wunsch der Wirtschaft in die Tat um- beitsmarkt- und Innenpolitik. Wenn ich auf Ihre Politik setzen, dass nämlich bei der Vorrangprüfung mit einer schaue, gibt es da keine Harmonie. Ich höre da einen Genehmigungsfiktion gearbeitet wird. Nach zwei Wo- Missklang nach dem anderen. chen gilt die Vorrangprüfung als erfüllt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – kann man festhalten: Wir schaffen mit dieser Neurege- Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Dann hören lung ein intelligentes und interessengeleitetes Zuwande- Sie mal richtig zu! – Hartfrid Wolff [Rems- rungsrecht, das auch dem Gedanken des Humanismus Murr] [FDP]: Ich glaube, Sie waren gerade und des christlichen Menschenbildes Rechnung trägt. woanders!) Derjenige, der verfolgt wird, dessen Leib und Leben be- Denn wir tun zu wenig für die Menschen in Deutsch- droht sind, hat immer die Möglichkeit, in Deutschland land, die wir entwickeln wollen, damit sie gute Fach- Zuflucht zu finden. kräfte werden. Wir haben Bildungsverlierer ohne Ende. Betonen möchte ich zuletzt: Nach der Beschlussfas- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: In der SPD sung über dieses Gesetz sehe ich die Wirtschaft verstärkt vielleicht!) in der Verantwortung, dieses Gesetz sinnvoll anzuwen- den und aktiv mehr für die Anwerbung von ausländi- Wir sind stolz darauf – jedenfalls einige von Ihnen –, schen Fachkräften zu tun, damit diese nach Deutschland dass wir jährlich nur noch 53 000 Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss haben. Was machen wir mit kommen. über 7 Millionen funktionalen Analphabeten, die er- Herzlichen Dank. werbsfähig sind? Wir lassen sie allein. Es gibt bei uns auf dem Arbeitsmarkt Potenziale ohne Ende, die aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht Ihr Interesse für politische Aktion auslösen. 20898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Deshalb sage ich: Wir erkennen die Schritte an, die wir heute den Bundestag passieren lassen, haben Sie (C) Sie jetzt auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts unter- nichts im Köcher, was echte Zuwanderung möglich nommen haben. Seien Sie aber ehrlich: Wären Sie ohne macht. Deshalb werden die in Deutschland lebenden die EU-Richtlinie da hingekommen? Ich gehe gerne Ausländer sagen: Die Willkommenskultur ist noch noch einmal auf den ausgezeichneten Wortbeitrag mei- mächtig ausbaufähig. – Dafür sollten wir eine Menge ner Kollegin Kolbe ein. „Mit großer Verspätung“ und tun. „zum Jagen getragen“, das waren ihre Worte. Dazu kann Vielen Dank. ich nur sagen: Das unterschreiben die Sozialdemokraten sofort, weil sie leider recht hat. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen wir zu dem Thema gute Arbeit: Ist es ei- Das Wort hat jetzt der Kollege Tankred Schipanski gentlich attraktiv, zu uns zu kommen, wenn man weiß, von der CDU/CSU-Fraktion. dass wir mehr Teilzeit- und befristete Stellen als Voll- zeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse haben? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Steht das auf der Einladungskarte als Plus? Steht als Plus neten der FDP) auf der Einladungskarte an diejenigen, die wir haben wollen: „Wir machen Betreuungsgeld statt Krippenaus- Tankred Schipanski (CDU/CSU): bau“? Ist es einladend, wenn wir sagen: „Ja, wir küm- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute mern uns auch um diejenigen, die in der Grundsicherung vorliegende Gesetzespaket bezieht sich auf eine typische sind. Wir erhöhen die Hinzuverdienstgrenzen, aber, ehr- Querschnittmaterie zwischen den Bereichen Inneres, lich gesagt, um existenzsichernde sozialversicherungs- Bildung und Arbeit. Ein ganz herzliches Dankeschön an pflichtige Beschäftigung kümmern wir uns nicht“? Ist die involvierten Arbeitsgruppen. Ein herzlicher Dank an das einladend? Kommen die Leute aufgrund dieses Kli- die vielen Abgeordneten, die an der Vorbereitung dieses mas gerne nach Deutschland? Gesetzespakets mitgearbeitet haben. Im Bildungsbereich waren das unser Sprecher und von der Man gewinnt den Eindruck, dass Sie sich geradezu FDP Patrick Meinhardt. Im innenpolitischen Bereich wehren müssen, weil Millionen von Menschen an unse- waren das der Kollege Grindel und der Kollege Wolff. ren Grenzen darauf warten, endlich nach Deutschland kommen zu können, dass sich dort regelrecht Schlangen Als Forschungs- und Bildungspolitiker der Koalition bilden. Und dann sagen wir ihnen noch: Sie sind uns kann man nur sagen: Es hat sich gelohnt. Die Anhörung (B) willkommen, wenn Sie hochqualifiziert sind. Dann kön- am 23. April dieses Jahres hat von allen Sachverständi- (D) nen Sie gerne – allerdings mit vielen Einschränkungen, gen viel Lob und Anerkennung gebracht. über die heute schon gesprochen wurde – Ihre Familie (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: mitbringen. – Wissen Sie, das ist ein wenig halbherzig. Waren Sie überhaupt da?) Ich glaube, diese Halbherzigkeit spüren alle, um die wir eigentlich werben. Wir sind doch nicht die einzige Na- Die Sachverständigen der Bundesagentur für Arbeit, des tion, die um Hochqualifizierte wirbt. Viele Staaten, nicht sächsischen Innenministeriums, des Sachverständigen- nur europäische, sagen: Wir brauchen das für unsere rats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Entwicklung. ein Richter vom Verwaltungsgericht in Darmstadt und die Sachverständigen unserer Verbände, des Wirtschafts- Herr Kollege Mayer, die kanadische Provinz Quebec rats, des BVMW, des Hochschulverbands und der BDA, ist ein schlecht gewähltes Beispiel. Ihre Sachkenntnis alle waren sich einig: Dieses Gesetz ist ein großer Wurf. scheint nicht tief genug zu gehen. In dieser Provinz, in der Französisch gesprochen wird, wird Kompetenz in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) französischer Sprache besonders hoch bepunktet. Die Der Kollege Stephan Mayer hat zu Recht festgestellt: von Ihnen angesprochene Schieflage ist typisch für diese Das Verhalten der SPD, ihre Enthaltung heute, ist ein- eine Provinz. Deshalb taugt Quebec nicht als Beispiel. – fach nicht nachvollziehbar. Ich habe leider recht, auch wenn Sie mit dem Kopf schütteln. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wir können auch dagegen stimmen!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Nur Die SPD hat, wie bei der ersten Lesung, keine einheitli- weil Sie es behaupten, haben Sie noch nicht che Position. Frau Kolbe schürt hier gemeinsam mit den recht!) Linken Angst vor Lohndumping. Das ist billiger Popu- lismus. Ich komme auf unseren Antrag zurück, den ich we- (Beifall des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ sentlich zukunftsweisender finde. Wir sagen: An einem CSU] – Widerspruch der Abg. Daniela Kolbe Punktesystem ist vermutlich viel Gutes. Es lohnt, es aus- [Leipzig] [SPD]) zuprobieren. Es lohnt, die Sache zu überprüfen und sie nicht gleich in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn ei- Im Kern dieses Gesetzespakets geht es um Hochqua- nes ist klar: Neben den mangelhaften Regelungen, die lifizierte; daran möchte ich in dieser Debatte noch ein- Sie zur Umsetzung der Richtlinie vorschlagen und die mal erinnern. Heinrich Alt von der Bundesagentur für Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20899

Tankred Schipanski (A) Arbeit hat in der Anhörung ebenso wie Reinhard Grindel erworben haben, konnten bislang nur zwölf Monate bei (C) heute hier im Plenum richtigerweise festgestellt: In uns bleiben, bevor sie eine Anstellung gefunden haben Deutschland haben wir bei den Hochqualifizierten im- mussten. Diese Orientierungsphase verlängern wir auf mer noch eine negative Wanderungsbilanz. Das heißt, es 18 Monate. Ähnliches gilt für einen neuen Aufenthaltsti- gibt mehr Hochqualifizierte, die Deutschland verlassen, tel, § 18 c Aufenthaltsgesetz, den wir für ausländische als solche, die zuziehen. Absolventen eingeführt haben. Das sind wirkungsvolle Maßnahmen. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl?) Es geht auch darum, junge Unternehmer zu gewin- nen. Wir erleichtern Unternehmungsgründungen bzw. Genau da setzt die christlich-liberale Koalition, insbe- Selbstständigkeit über § 21 des Aufenthaltsgesetzes und sondere in der Bildungspolitik, an, und zwar nicht nur ergänzen somit die Entrepreneurship-Studiengänge an mit diesem Gesetz, sondern auch, wie gestern Abend den Hochschulen. hier behandelt, mit einem Antrag zum wissenschaftli- chen Nachwuchs, mit dem sehr ambitionierten Berufsan- Sie sollten also keine Schwarzmalerei betreiben. erkennungsgesetz, das wir im September 2011 hier be- Wenn Sie an die Hochschulen gehen, werden Sie fest- schlossen haben, stellen, dass man sich dort über das Gesetz freut. In Ge- sprächen an meiner Heimathochschule in Ilmenau – dort (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das hat gibt es etwa 800 ausländische Studierende – wurde deut- nichts mit christlich zu tun, was ihr hier macht! lich, dass die ausländischen Studierenden begeistert von Absolut nicht!) diesem Gesetz und dankbar dafür sind. Wir gehen weit über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus. und mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz, über welches wir in Kürze in diesem Hohen Hause debattieren wer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der FDP) Herr Kollege Schipanski, erlauben Sie eine Zwi- schenfrage des Kollegen Kilic? Heute sprechen wir über Änderungen des Aufent- haltsgesetzes und der damit verbundenen Verordnungen. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die die Will- Nein, ich habe nur noch eine halbe Minute Redezeit. kommenskultur in Deutschland etablieren. Es ist schon verwunderlich, welche Seiten des Hohen Hauses heute die Willkommenskultur etabliert haben möchten. Frau Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) Kolbe, Sie haben versucht, diesen Begriff zu interpretie- Die Redezeit wird dafür angehalten. ren. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht nötig; denn wir, die Koalition, haben diesen Begriff bereits klar besetzt. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Er kann ja nach meiner Rede eine Kurzintervention Wir setzen mit diesem Gesetz nicht irgendwelche machen. Forderungen aus einem SPD-Antrag um, sondern Forde- rungen der Bologna-Konferenz des vergangenen Jahres. Ich darf gerade den Grünen noch ein Sahnehäubchen Wir setzen Ideen um, die wir durch intensive Gespräche präsentieren; dies haben sie wahrscheinlich nicht gese- mit den Studierenden und den Lehrenden an den Hoch- hen. § 3 der Beschäftigungsverfahrensverordnung wird schulen entwickelt haben, ebenfalls geändert. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wer hat (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP], an den Abg. es erfunden? Wir haben es erfunden!) Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: So ist es, Herr Kollege! Hören Sie aber auch durch Gespräche mit Unternehmern vor Ort. einmal zu!) Diese Koalition ist eben nah an den Menschen und kann zuhören. Die Ehepartner ausländischer hochqualifizierter Fach- kräfte dürfen in Deutschland künftig eine Beschäftigung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ausüben, ohne dass dies zuvor von der Ausländerbe- Blicken wir einmal auf die neuen Regelungen für aus- hörde genehmigt werden muss. Für die Betroffenen ist ländische Studenten. Ich nenne dazu immer die entspre- dies ein Meilenstein. chenden Paragrafen, damit Kollege Kilic die Systematik (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – dieses Gesetzes versteht. § 16 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz: Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das ist ja Die Begrenzung der Beschäftigung in einem Nebenjob eine Gnade! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ wird von bisher maximal 90 Tagen auf 180 Tage pro DIE GRÜNEN]: Und die Pflegekräfte?) Jahr erweitert. Abschließend darf ich sinngemäß die Aussage eines (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sachverständigen der Universität Konstanz wiederge- Sie haben es falsch zitiert! Auf 120 haben Sie ben, der am Montag feststellte: Man hat mit dem vorlie- erhöht!) genden Gesetzentwurf für die betroffenen Gruppen alles gemacht, was man machen kann. § 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz: Ausländische Hoch- schulabsolventen, die in Deutschland ihren Abschluss Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 20900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Tankred Schipanski (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auf der einen Seite sehr deutlich sagen, was wir von ih- (C) neten der FDP) nen erwarten, etwa was Sprachkenntnisse oder die Be- reitschaft angeht, sich mit unserer Gesellschaft und unse- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rer Kultur auseinanderzusetzen, dass wir auf der anderen Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Seite aber gleichzeitig eine Willkommenskultur der aus- jetzt das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der gestreckten Hand praktizieren. Hier können wir von klas- CDU/CSU-Fraktion. sischen Einwanderungsländern wie Kanada und Austra- lien einiges lernen; die Kollegin Lösekrug-Möller hat das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- richtigerweise angesprochen. neten der FDP) Meine Damen und Herren, wir sind aber auch im Wandel zu einer Arbeitnehmergesellschaft. Die Knapp- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): heit von Arbeitskräften führt dazu, dass wir auch in der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Ar- Arbeitswelt über ein neues Miteinander nachdenken beitsmarktpolitiker muss ich sagen: Für den deutschen müssen. Ich finde deshalb die Idee sehr reizvoll, durch Arbeitsmarkt ist die Umsetzung der Hochqualifizierten- einen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung den Graben richtlinie eine gute Nachricht. Die vorgeschlagenen zwischen Kapital und Arbeit zu überbrücken und neue Maßnahmen helfen uns, Arbeitsplätze zu sichern und Formen des partnerschaftlichen Arbeitens zu etablieren. Arbeitsplätze neu zu schaffen. Das betrifft nicht nur den Das könnte ein Alleinstellungmerkmal werden, das uns Bereich der Hochqualifizierten, sondern ich sehe auch für hochqualifizierte Arbeitskräfte auch international at- indirekte positive Wirkungen für die weniger Qualifi- traktiv macht. zierten, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Da- mit kommen wir unserem Ziel näher, gerade auch diesen Gute Standards für gute Arbeit durch mitarbeiter- Menschen eine Arbeitsperspektive zu bieten. Sosehr ich orientierte Personalpolitik und eine gute Unternehmens- diese Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der deut- kultur sind dabei auch eine Bringschuld der Wirtschaft. schen Wirtschaft verstehe – sie ist richtig –: Es geht auch Die Forderung nach olympiareifen Arbeitnehmern, die um den Erhalt und Ausbau von Beschäftigungschancen billig sind, ist ein Irrweg. Der Mensch kommt nicht als derjenigen, die nicht unter diese Richtlinie fallen. Das Produktionsfaktor zur Welt, und er verlässt sie auch hat Kollege Vogel in aller Deutlichkeit gesagt. nicht als solcher. Nichts rechtfertigt die Annahme, er könne dazwischen darauf reduziert werden. Ich sage sehr deutlich: Das darf keine isolierte Maß- nahme sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anzahl (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] derjenigen abnimmt, die ohne Schulabschluss und Aus- [SPD]) (B) (D) bildung sind. Wir müssen die Erwerbsbeteiligung Älte- Wer in Arbeit nur einen Produktionsfaktor sieht, ver- rer fördern und für eine bessere Vereinbarkeit von Fami- grault am Ende vielleicht diejenigen Menschen, die drin- lie und Beruf sorgen. Diese unterschiedlichen Bausteine gend gebraucht werden. Dann sucht sich der Produk- gehören zusammen und ergänzen sich. tionsfaktor nämlich eine Umgebung, in der er als Mensch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ernst genommen wird und besser gedeihen kann. Besonders gefreut hat mich – der Kollege Schipanski (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ist darauf eingegangen –, dass wir die Anreize für aus- bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und ländische Studenten, neben dem Studium zu arbeiten, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verbessert haben und ihnen auch eine längere Frist ein- Deutschland für Fachkräfte attraktiver zu gestalten geräumt haben, nach dem Studium hier eine Arbeit zu und Abwanderung zu stoppen, ist also nicht nur eine finden. Ich habe es immer als widersinnig betrachtet, Frage des Zugangs und der guten Bezahlung, sondern es junge Menschen aus dem Ausland hier bei uns zum Stu- bedarf auch einer neuen Form des Miteinanders, am Ar- dium zuzulassen und es ihnen nach dem Studium so beitsplatz wie in der Gesellschaft. Dies zu leisten, ist schwer zu machen, bei uns eine dauerhafte Perspektive häufig jenseits unserer Möglichkeiten als Gesetzgeber. zu finden. Seien wir ehrlich: Wir können doch um jeden Es ist aber in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. guten Studenten froh sein, der nicht in die USA oder nach Kanada geht, sondern sich für eine deutsche Uni- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versität entscheidet. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich schließe die Aussprache. Die neue Regelung erleichtert den beruflichen Einstieg Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- in Deutschland und ist auch ein Stück praktischer Inte- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- grationspolitik. zung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a Die Kollegin Kolbe hat ein Zitat von Max Frisch an- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9436, geführt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Menschen.“ Wir sind es den Menschen, die wir rufen, che 17/8682 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich schuldig, sie nicht nur als Arbeitskräfte anzusehen. Dazu bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- gehören meines Erachtens zwei Dinge: dass wir ihnen schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20901

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der (C) ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grünen angenom- Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Ab- men. schaffung der Praxisgebühr nutzen Dritte Beratung – Drucksache 17/9408 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf das so beschlossen. ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- SPD-Fraktion. tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9437. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie- ßungsantrag ist abgelehnt. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp- gen! Es ist Teil der Wahrheit: Die Praxisgebühr, die wir fehlung auf Drucksache 17/9436 fort. heute besprechen, ist damals von uns mit Unterstützung Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- der Union, die im Vermittlungsausschuss den Vorschlag fiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der durchgesetzt hat, eingeführt worden. Wir müssen fest- Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9029 mit dem Titel stellen, dass wir, die SPD, die Praxisgebühr damals für „Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fach- richtig gehalten haben. kräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts“. Wer Der Hintergrund ist ganz klar: Wir haben uns davon stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt erwartet, dass es zu einer Reduktion der Zahl der Arztbe- dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- suche kommt. Wir haben damals erwartet, dass die haus- lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- ärztliche Versorgung im Vergleich zur fachärztlichen fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPD Versorgung besser angesteuert werden kann, und wir ha- und Grünen. (B) ben damals ebenfalls davon erwartet, dass es ein höheres (D) Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch- Kostenbewusstsein geben wird. stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Alle drei Erwartungen haben sich nachweislich nicht Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- erfüllt: Die Zahl der Arztbesuche ist nicht gesunken. sache 17/3862 mit dem Titel „Fachkräfteeinwanderung Nach dem, was wir wissen, gilt dies insbesondere auch durch ein Punktesystem regeln“. Wer stimmt für diese für die Zahl der überflüssigen Arztbesuche. Es konnte Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer nicht erreicht werden, dass Hausärzte im Vergleich zu enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist an- Fachärzten einfacher angesteuert werden können, und es genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gibt auch kein gestiegenes Kostenbewusstsein, wie jeder und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grü- der täglichen Praxis, den Studien und der Berichterstat- nen und Enthaltung der SPD-Fraktion. tung entnehmen kann. Somit kann man sagen: Die Pra- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis c auf: xisgebühr hat enttäuscht. Sie hat, wenn man so will, ver- sagt und gehört daher abgeschafft. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Abgeordneter und der Fraktion der SPD bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Praxisgebühr abschaffen – Hausärztinnen und [FDP]) Hausärzte stärken Das ist insbesondere deshalb so, weil die Praxisge- – Drucksache 17/9189 – bühr auch unerwartete Nebenwirkungen mit sich bringt. Wir wissen, dass die Praxisgebühr Obdachlose, Einkom- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald mensschwache, Arbeitslosengeldempfänger und Men- Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei- schen mit Migrationshintergrund und mit geringen Ein- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE künften auch dann vom Arztbesuch abhält – oft im Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten Übrigen ohne tatsächlichen Grund; denn oft sind sie von jetzt abschaffen der Zuzahlung der Praxisgebühr gar nicht direkt betrof- fen –, wenn er sinnvoll ist. Das ist natürlich eine gravie- – Drucksache 17/9067 – rende Nebenwirkung. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Völlig rich- Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth tig!) 20902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Dr. Karl Lauterbach (A) Ich spitze es zu: Man kann sagen, die Praxisgebühr ist braucht so lange, bis ihr es auch lernt! – Wei- (C) ungerecht, weil sie Arme und Einkommensschwache be- tere Zurufe von der LINKEN: Genau! – lastet. Sie hat keine positive Wirkung. Eine Nebenwir- Stimmt ja auch!) kung ist, dass sie Einkommensschwache von nötigen Arztbesuchen abhält. Sie ist im Prinzip eine Arznei nur Es gibt kein Thema, bei dem Sie es nicht vorher schon mit negativen Wirkungen und keiner positiven Wirkung besser gewusst haben; das wissen wir. und gehört daher vom Markt genommen. Es muss sozu- (Heinz Lanfermann [FDP]: Seit 1948!) sagen der Rote-Hand-Brief verschickt werden, meine lieben Genossinnen und Genossen. – Ja, ganz genau. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Aber nichtsdestotrotz ist der Punkt heute der, dass wir Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das sagen wir aus gemachten Fehlern lernen. Wir sind gewählt, um zu seit Jahren!) regieren, um etwas gebacken zu bekommen. Was wir derzeit bei der Regierungskoalition sehen, zeigt: Die Re- – Ich glaube, dass wir in dieser Frage, Herr Zöller, alle gierungskoalition bekommt nichts gebacken. Es gibt hier im Saal Genossinnen und Genossen sind; denn hier kein noch so kleines Thema, bei dem Sie etwas geba- kann ja nicht über die Inhalte gestritten werden. Selbst cken bekämen. Selbst bei der Praxisgebühr sind Sie zer- Herr Bahr stimmt mir in dieser Sache ausnahmsweise stritten. Minister Bahr von der FDP hat recht, wenn er zu. sagt: Die Praxisgebühr hat keinen Wert. Auch die FDP Jetzt muss man sich die Frage stellen: Wieso lehnt die kann einmal recht haben. Union weiterhin die Abschaffung der Praxisgebühr ab? (Heiterkeit – Heinz Lanfermann [FDP]: Das Sie ist heute hier im Plenum die einzige Partei, die die war die Debatte schon wert, Herr Kollege!) Praxisgebühr weiter verteidigt. Ich kann es Ihnen sagen: Es geht um Ideologie. Es kann keine Sachgründe geben, Nur weil die FDP einen Vorschlag unterstützt, ist er sondern ihre Ideologie ist: Je mehr Zuzahlungen und je nicht automatisch falsch. mehr direkte Belastungen es für den Versicherten und für den Patienten gibt, desto besser ist das Gesundheitssys- (Heiterkeit – Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr! – tem. Heinz Lanfermann [FDP]: Dass das heute so lustig wird!) (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie hat Angst vor Zusatzbeiträgen!) Aber was immer gilt, ist: Diese Regierung bekommt nichts mehr gebacken. Es gibt kein Thema, bei dem noch Hier zeigt sich noch einmal die alte Zuzahlungsideologie etwas entschieden werden könnte. (B) der Union. Diese Ideologie wird heute von den Bürgern, (D) von den Patienten und von allen anderen Fraktionen hier (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann im Saal abgelehnt. [SPD] – Mechthild Dyckmans [FDP]: Wir ha- ben gerade ein tolles Gesetz gemacht!) (Beifall bei der SPD) Daher sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich zurück. Be- Es ist eine konservative Ideologie, die darauf hinaus- achten Sie: Der Wähler kann das nicht mehr ertragen. läuft, dass man Dinge macht, auch wenn man weiß, dass Der Wähler will, dass wir handlungsfähig sind. Der sie nicht richtig sind, weil man glaubt, damit eine alte Wähler will, dass wir in der Sache streiten, nicht über konservative Idee verteidigen zu können. Wir erleben Ideologien. Der Wähler will nicht, dass wir mit jeder das Gleiche derzeit beim Erziehungsgeld, oder, genauer Sachfrage Wahlkampf machen. gesagt, beim Nichterziehungsgeld. Mit dem Nichterzie- hungsgeld soll ein Anreiz gegeben werden, damit Ein- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was machen kommensschwache ihre Kinder nicht in die Kita brin- Sie denn?) gen. Das ist Unsinn! Das ist eine Tatsache. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer so etwas be- hauptet, redet Unsinn! Da haben Sie recht!) Wenn es so ist, dass Sie eine Position nicht verteidi- gen können, dass Sie keinen einzigen Vorteil für die Pra- Bei der Praxisgebühr soll ein Anreiz gesetzt werden, da- xisgebühr anführen können, dann, meine sehr verehrten mit Einkommensschwache nicht zum Arzt gehen. Auch Kolleginnen und Kollegen und Nicht-Genossen von der das ist Unsinn. Somit ist es nichts anderes als eine Be- Union, sage ich Ihnen: Nehmen Sie davon Abstand. Ma- strafung und im Prinzip eine Sanktion gegen die Bedürf- chen Sie das, was der Bürger will. Machen Sie das, was tigen und aus meiner Sicht somit eine Politik gegen Vor- uns die Sachverständigen sagen. Machen Sie, wofür Sie beugung und gegen Prävention. gewählt sind. Wir müssen daher heute gemeinsam betonen, was wir Vielen Dank. gelernt haben. Wir werden gleich von den Kollegen von der Linkspartei das hören, was wir immer hören: Die (Beifall bei der SPD) Linkspartei hat das schon immer gewusst, zum Beispiel bei der Finanzkrise. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] – Jetzt hat das Wort der Kollege Jens Spahn für die Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Aber ihr CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20903

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner (C) neten der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/ [SPD]: Klamauk machen Sie ständig! – Harald CSU]: Genosse Spahn!) Weinberg [DIE LINKE]: Schauen Sie doch mal auf die Website der FDP!) Jens Spahn (CDU/CSU): Schade ist daran, dass Sie es am Ende nicht mehr hinbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- kommen, zu dem zu stehen, was Sie selber beschlossen nosse Lauterbach, ich erinnere mich an die Debatten, die haben, und zwar aus guten Gründen. Sie sind in Ihrer wir vor zwei Jahren geführt haben, übrigens auch vor ei- ganzen Rede, die auch von Klamauk und Witzemachen ner Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Sie verliefen geprägt war, nicht bereit gewesen, sich ernsthaft mit den damals nach dem Motto Und täglich grüßt das Murmel- ganzen Fragen auseinanderzusetzen. tier, und genau so machen Sie es jetzt sitzungswöchent- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sind Sie zu spät lich auch. gekommen?) Wir haben damals übrigens – das ist ganz spannend – SPD und Grüne haben 2004 aus guten Gründen die regelmäßig in Aktuellen Stunden über Ihren Vorwurf Praxisgebühr zusammen mit anderen Zuzahlungen mit diskutiert, wir würden im Gesundheitswesen nicht genug unserer Zustimmung eingeführt. sparen. Das haben Sie 2010 gesagt: Wir sollten mehr sparen. Bei Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern und (Elke Ferner [SPD]: Nicht mit Ihrer Zustim- der Pharmaindustrie sollten wir endlich einmal richtig mung!) hinlangen. Zuzahlungen und Eigenbeteiligung sind nämlich auch Nun – zwei Jahre später – kann Ihnen, der Opposition ein Ausdruck von Solidarität. insgesamt, das Geldausgeben nicht schnell genug gehen. Wir haben eines der besten Gesundheitswesen der (Elke Ferner [SPD]: Zwei Jahre später haben Welt. Sie die Kopfpauschale eingeführt!) (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was haben Sie für einen Realitätsbegriff?) Sie wollen alle Zuzahlungen – das sind 5 Milliarden Euro – abschaffen. Wir bieten flächendeckend in allen Regionen des Landes eine Gesundheitsversorgung auf einem Niveau, wie es (Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE das in keinem anderen Land der Welt gibt, und jeder hat LINKE]) unabhängig vom Einkommen Zugang dazu. Ich be- haupte, wir haben das beste Gesundheitssystem der (B) Sie wollen mehr Geld für die Krankenhäuser. Frau (D) Kollegin Bunge hat gestern angedeutet, sie könne sich Welt. bis zu 600 Millionen Euro mehr für die Apotheker vor- Wir haben 2004 gemeinsam gesagt, dass sich derje- stellen. nige, der von diesem hervorragenden Gesundheitssys- tem profitiert – das auch ein teures ist, aber wir wollen Sie wollen also mehr für Ärzte und Krankenhäuser das –, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit der Eigen- und im Zweifelsfall die Zuzahlungen streichen, ohne beteiligung auch ein Stück weit mit einbringen soll. Das auch nur einen Satz darüber zu sagen, wie das gegenfi- ist auch Solidarität damit, dass wir ein so tolles System nanziert werden soll. Das macht, wie übrigens Ihre zur Verfügung stellen, auf das man auch unabhängig ganze Rede, einmal mehr den Unernst deutlich, mit dem vom Einkommen und dem, was man nötig hat, zugreifen Sie diese Diskussion führen. kann. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Man macht sich (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE über Sie lustig!) GRÜNEN]: Genau das ist der Punkt!) Ihnen geht es an dieser Stelle nicht um die Sache, son- Bei der Eigenbeteiligung durch Zuzahlungen und Pra- dern schlicht und ergreifend um die Landtagswahlen in xisgebühren gibt es aber Einkommensgrenzen. Ein chro- Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. nisch Kranker muss nicht mehr als 1 Prozent seines Ein- Es ist bemerkenswert, dass nach dem Spruch „Curry- kommens insgesamt für Zuzahlungen und Praxisgebühr wurst ist SPD“, den ich für den Höhepunkt des Unerns- aufbringen, die anderen nicht mehr als 2 Prozent. Das tes im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gehalten sind bei 800 Euro Rente oder Einkommen im Monat habe, Frau Kraft und Frau Löhrmann vor dem Landtag 8 Euro monatlich, die man im Fall der Fälle maximal an in Nordrhein-Westfalen, einem Ort, an dem eigentlich Zuzahlungen aufbringen muss. über die Fragen der Landespolitik diskutiert werden (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist bei müsste – in Nordrhein-Westfalen gäbe es viel zu disku- 800 Euro eine Menge!) tieren, was die Verschuldung angeht; das kann ich als Westfale sagen –, plakatieren: Die Praxisgebühr muss Ich finde, das ist am Ende ausgewogen und ein Aus- weg. druck von gegenseitiger Solidarität. Es bringt zum Aus- druck, dass man bereit ist, für den Nutzen des guten Ge- Wenn es noch eines Beispiels bedurfte, dass es Ihnen sundheitssystems auch etwas mit einzubringen, dass nicht um die Sache, sondern um Klamauk und Wahl- aber gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass niemand über- kampf geht, dann ist das an dem Tag deutlich geworden. fordert wird. 20904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Jens Spahn (A) Sie machen sich nicht einmal die Mühe, auch nur an- Daher macht es doch Sinn, in guten Zeiten Rücklagen (C) satzweise zu erklären, warum das 2004 eingeführt wor- aufzubauen und diese dann in den Zeiten, in denen es den ist und warum auch das einen vernünftigen Kern teurer wird und wirtschaftlich nicht mehr so gut läuft wie hatte. Sie geben sich nur dem Wahlkampf hin, weil es im Moment, zu nutzen. Jedenfalls wäre es fatal, in einer viel einfacher ist, alles zu vergessen, was man einmal für beginnenden Wirtschaftskrise wie in den Jahren 2004, richtig gehalten hat. 2005 oder 2008 als Erstes die Krankenversicherungsbei- träge erhöhen oder ein massives Sparprogramm auflegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zu müssen; das wäre das Schlechteste. Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber Sie lernen nicht dazu! Das ist der Unterschied!) Alles, was wir vorschlagen und worüber wir diskutie- ren – zum Beispiel zusätzliche Leistungen oder gerin- Hinzu kommt die Frage der Finanzlage der gesetzli- gere Einnahmen –, muss dauerhaft finanziert sein. Das chen Krankenversicherung. ist es nicht, wenn man wie Sie kurzfristig auf 5 Milliar- (Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Die ist gut!) den Euro verzichtet. Sie machen die Praxisgebühr nicht umsonst zum Thema in einem Landtagswahlkampf; Ihnen kann es mit Hinweis darauf, dass unsere Finanz- denn Sie wissen, dass man für die Forderung nach Ab- lage so gut ist wie seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehn- schaffung dieser Gebühr zuerst Applaus erntet. ten nicht mehr, nicht schnell genug gehen, das Geld schnellstmöglich auszugeben, ohne zu sagen, wie das (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Der Antrag war mittel- und langfristig sauber finanziert werden soll. schon lange vorher gestellt!) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Doch!) Aber wir meinen, dass es zwar unpopulär, aber der Sa- che wert ist, sachlich zu argumentieren und darauf zu Es ist erst einmal etwas Schönes – ich jedenfalls freue verweisen, dass die Praxisgebühr eine Komponente der mich darüber –, dass es die Politik dieser christlich-libe- Solidarität und der zukünftigen finanziellen Tragfähig- ralen Koalition geschafft hat, dass wir zum ersten Mal keit darstellt. Wir wollen deshalb an der Praxisgebühr seit vielen Jahren in der Gesundheitspolitik nicht über festhalten und die Rücklagen in der gesetzlichen Kran- Defizite, Sparmaßnahmen und Kostendämpfungen reden kenversicherung für schlechte Zeiten aufheben. Das ist müssen, wie noch 2004, als wir etwa Brillen aus der Er- zwar nicht populär, liegt aber im Interesse der Menschen stattung ausgegliedert haben. Wir haben aufgrund der und ist für eine medizinische Versorgung auch in Zu- guten wirtschaftlichen Entwicklung und der Spargesetze kunft das Richtige und das Verantwortbare. dieser Koalition für 2011und 2012 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Elke Ferner [SPD]: Nein, durch Beitragserhö- (D) hungen!) Vizepräsidentin Petra Pau: für Solidität und eine gute Finanzlage in der gesetzlichen Das Wort hat für die Fraktion Die Linke der Kollege Krankenversicherung gesorgt, wie es sie seit vielen Jah- Klaus Ernst. ren nicht mehr gegeben hat. Ich finde, wir sollten uns zu- (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ erst einmal über die gute wirtschaftliche und finanzielle CSU]: Das ist der Gesundheitsexperte!) Lage freuen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Klaus Ernst (DIE LINKE): neten der FDP) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Sie erwecken den Eindruck, als wäre nun alles egal, Herren! Die Anträge, mit denen wir uns heute befassen, weil es gut läuft. Mehr Geld für Krankenhäuser, Ärzte sind höchst erfreulich. Aber ich kann nicht glauben, Herr und Apotheker sowie Abschaffung der Zuzahlungen, je- Lauterbach, der bekommt das, was er sich wünscht. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Genosse!) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir sind nicht die dass ihr die unerwünschten Nebenwirkungen der Praxis- FDP!) gebühr erst nach sechs Jahren bemerkt haben wollt. Da Sie können mir glauben: Wir würden das ebenfalls gerne hättet ihr ein wenig schneller sein sollen. machen. Aber wir sind der Meinung, dass wir auch Ver- (Beifall bei der LINKEN) antwortung für die langfristige Finanzierbarkeit der ge- setzlichen Krankenversicherung haben. Wir alle wissen, Sie alle haben die bundesrepublikanische Bevölkerung dass sich die Gesundheitsversorgung in einer älter wer- eigentlich einem Feldversuch ausgesetzt. Dieser ist denden Gesellschaft und in einem System, in das wir gründlich gescheitert. Es ist erfreulich, dass Sie, meine medizinischen Fortschritt integrieren wollen – wir wol- Damen und Herren von der SPD, nun zur Vernunft kom- len doch, dass die Menschen auch in Zukunft von dem men. Von Ihnen, Herr Spahn, kann man das nicht be- profitieren, was die Medizin ermöglicht – verteuern haupten. wird. (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann ( [SPD]: Dafür brauchen wir [FDP]: Andere Feldversuche haben 40 Jahre ein Präventionsgesetz!) gedauert!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20905

Klaus Ernst (A) Die Praxisgebühr war von Anfang an grober Unfug. Jahr 2011 haben wir erneut einen Versuch unternommen, (C) Es war von Anfang an klar, dass es den Menschen an die die Praxisgebühr abzuschaffen. Wer war dagegen? Die Geldbörse geht und dass Arztbesuche nicht mehr in dem CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Wir wa- Maße stattfinden, wie es notwendig wäre. Die Bürokra- ren die Einzigen, die die Abschaffung gefordert haben. tie wurde aufgebläht, und das ausgerechnet durch Sie, Jetzt wird es spannend. Was treiben Sie von der FDP die Sie sich sonst immer gegen Bürokratie wenden. Die eigentlich hier? Wir haben im Jahr 2012, vor kurzem, Parität bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung hier einen Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr wurde weiter ausgehöhlt. Im sogenannten Zuzahlungs- bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen vorgelegt und gesagt: Lasst uns sofort darüber abstim- men. – Wie haben Sie sich verhalten? Bei der Abstim- heißt es – das müsste Ihnen wirklich zu denken geben, mung darüber hat die CDU/CSU natürlich mit Nein ge- auch Ihnen Herr Spahn, der Sie über alles Mögliche re- den, nur nicht über die Patienten – zur Praxisgebühr: stimmt, auch die SPD hat mit Nein gestimmt – im Jahr 2012, wohlgemerkt –, auch die FDP hat mit Nein (Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie nicht zu- gestimmt. Jetzt machen Sie den doppelten Rittberger gehört?) und stellen sich an die Spitze der Bewegung. Das glaubt Ihnen von der FDP doch kein Schwein mehr in diesem Allerdings hat sie insbesondere bei einkommens- Land, um das einmal deutlich zu sagen. schwachen Versicherten zu einer Verzögerung oder Vermeidung von subjektiv notwendigen Arztbesu- (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ chen beigetragen. CSU]: Das sind ja Ausdrücke hier!) Das sagen nicht wir, sondern die gesetzlichen Kranken- Die Grünen haben schon richtigerweise mit uns ge- kassen. Wenn Sie sich weiterhin weigern, die Praxisge- stimmt. bühr abzuschaffen, sind Sie persönlich für den sich ver- schlechternden Gesundheitszustand dieser Menschen Die Gründe sind spannend. Die SPD hat ihre Ableh- nung immer damit begründet, die Abschaffung sei nicht mitverantwortlich, Herr Spahn. finanzierbar. Die Grünen sagten früher, es fehle an Bele- (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ gen, die eine Abschaffung rechtfertigten. Die FDP argu- CSU]: Das ist hier kein Parteitag!) mentierte, es fehle an Alternativen, wie die Anzahl der Arztbesuche begrenzt werden könne. Das waren Ihre Ar- Jetzt könnte man sagen: Die FDP macht es richtig. gumente. Es hat sechs Jahre gedauert, von 2006 bis Fünf stellvertretende Ministerpräsidenten der Länder ha- 2012, bis einige zur Vernunft kamen – einige. Die CDU/ ben sich gegen die Praxisgebühr ausgesprochen. Es wa- CSU ist noch weit von der Vernunft entfernt. Herr Spahn ren Heiner Garg, Martin Zeil aus Bayern – bei dem hat hat das gerade unter Beweis gestellt. (B) es mich besonders gewundert –, Jörg-Uwe Hahn, Jörg (D) Bode und Sven Morlok. Alle sagen, dass die Praxisge- Aber was Sie, Kolleginnen und Kollegen von der bühr als Steuerungsinstrument versagt hat. Das Zah- FDP, zurzeit treiben, ist der Hammer. Weshalb? Weil wir lungsausfallrisiko liegt bei den Ärzten, die Belastung für heute über einen Antrag der Linken entscheiden und die die Praxen ist hoch, und es gibt weitere Argumente. Das Praxisgebühr abschaffen könnten, wenn Sie nicht im ist vollkommen richtig. Ausschuss die Behandlung unseres Antrags verhindert hätten, sodass er heute nicht zur Abstimmung steht. In der gemeinsamen Erklärung der FDP-Minister heißt es dann – ich zitiere –: (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Was steht da noch drin außer der Praxisgebühr?) Die stellvertretenden Ministerpräsidenten der FDP erwarten von der Bundesregierung, dass die Versi- Das ist die Wahrheit. cherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nicht länger mit der Erhebung einer Praxisgebühr neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN belastet werden. und der Abg. Elke Ferner [SPD]) Richtig. Da haben sie ausnahmsweise einmal recht. Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn. Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie treiben, schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. (Beifall bei der LINKEN) (Heinz Lanfermann [FDP]: Der Antrag geht Nur, ich sage Ihnen: Wir müssen uns natürlich die doch zur Bürgerversicherung und nicht zur Frage stellen, warum wir die Praxisgebühr noch haben, Praxisgebühr!) wenn die Oppositionsparteien und auch die FDP gegen Sie rennen durch die Gegend, Ihre Vizeministerpräsiden- die Praxisgebühr sind. Warum existiert sie eigentlich ten machen schöne Erklärungen, und wenn es zum noch? Schwur kommt, dann machen Sie den schlanken Hasen. (Beifall bei der LINKEN) Sie laufen doch schneller rückwärts, als Sie nach vorne denken können. Das ist Ihr Problem, wenn es konkret Wir kommen nicht daran vorbei, dass die Linke im wird. Jahr 2006 die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert hat. Wer hat die Abschaffung der Praxisgebühr durch (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann sein Nein hier im Bundestag verhindert? Das waren die [FDP]: Ihr Antrag war doch zur Bürgerversi- CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Im cherung! Lesen Sie doch die Überschrift!) 20906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Klaus Ernst (A) Deshalb sage ich Ihnen: Was wir brauchen, ist eine (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha! – Lars (C) Gesundheitspolitik im Interesse der Bürger. Sie führen Lindemann [FDP]: Lobbyist!) die Leute hinter die Fichte. Sie tun so, als ob Sie etwas ändern wollten, aber in Wirklichkeit verhindern Sie die All die Jahre haben Sie so getan, als stünden Sie da- Abschaffung der Praxisgebühr. Das ist die Wahrheit. Das hinter, lieber Herr Kollege Lauterbach, und jetzt auf ein- lassen wir Ihnen nicht durchgehen. mal tun Sie so, als hätten Sie es schon immer gewusst. Das nimmt Ihnen niemand ab. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das habe ich nicht ge- CSU]: Sozialistische Begeisterung!) sagt! Sie sind zu spät gekommen!)

Vizepräsidentin Petra Pau: – Das haben Sie gesagt, und das kann auch niemand Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Christine wegschieben. Aschenberg-Dugnus das Wort. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist unseriös, was Sie sagen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tatsache ist: Rot-Grün hat diese Praxisgebühr einge- führt. Nicht die FDP, sondern Rot-Grün war es, und das Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): kann man hier gar nicht oft genug wiederholen. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Herren! Wir beraten heute über zwei Anträge zur Praxis- gebühr. Ich habe schon beim letzten Mal gesagt: Es ist Wenn Sie jetzt im NRW-Wahlkampf die Abschaffung doch schön, dass wir hier solche Luxusdebatten führen der Praxisgebühr fordern, dann ist das absolut unglaub- können; denn es geht auch darum, dass wir Überschüsse würdig und unredlich. Es ist unseriös, weil Sie nämlich im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben. für diese Praxisgebühr verantwortlich sind. Wir werden nicht müde werden, das immer und immer wieder zu Herr Lauterbach, ich bin richtig begeistert. Allein die- wiederholen. Ich sage es noch einmal: Ihren Sinneswan- ser Debatte heute zu folgen, war es schon wert, hier zu del jetzt nimmt Ihnen sowieso niemand ab. sein. (Beifall bei der FDP) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Danke schön!) Sicher ist es müßig, darüber zu streiten, wer wann zu- Sie als reumütigen, irregeleiteten Menschen zu erleben, erst geahnt hat, dass mit der Praxisgebühr vielleicht der endlich zugibt, dass er unrecht gehabt hat, ist ein nicht das erreicht werden kann, was erreicht werden (B) (D) Grund, das heutige Datum im Kalender anzustreichen. sollte. Aber ich finde es ganz wichtig, dass wir hier Er- Aber das nimmt Ihnen hier in diesem Saale überhaupt kenntnisse darüber gewinnen, was die Praxisgebühr aus- niemand ab. macht, was sie anrichtet, und diese Erkenntnisse dann in unsere Beratungen einzuführen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. [SPD]) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine Das Konzept der Praxisgebühr geht nämlich auf einen Frage oder Bemerkung des Kollegen Lauterbach? Vorschlag des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zurück. In dem Vorschlag Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): heißt es: Aber gern doch, Herr Kollege. In diesem Zusammenhang steht auch die Erhebung einer sog. Praxisgebühr … zur Diskussion. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Dann werden viele Worte über die positiven Effekte ei- Frau Dugnus, erinnern Sie sich daran, dass wir die ner finanziellen Schwelle gegenüber sogenannten Baga- Abschaffung der Praxisgebühr bereits gefordert haben, tell-Inanspruchnahmen geschrieben. Also, es wird die als noch gar nicht klar war, Praxisgebühr befürwortet. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dass Nun dürfen Sie mal raten, wer einer der Sachverstän- die überhaupt kommt, oder wie?) digen war, der diesen Vorschlag verfasst und unter- dass Ihnen durch ein Missgeschick die Neuwahl in NRW schrieben hat! droht? (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!) (Heinz Lanfermann [FDP]: Lieber Neuwahlen Na? als neue Schulden! Das war kein Missge- schick!) (Otto Fricke [FDP]: Nein, das kann doch nicht sein!) Wir waren keine Hellseher. Ein Blick auf die Termine wird Ihnen zeigen: Nur die Linkspartei hat möglicher- Richtig! Es war Karl Lauterbach, Institut für Gesund- weise schon gewusst, dass es zu Neuwahlen kommt, und heitsökonomie, Universität Köln. auch die Grünen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20907

Dr. Karl Lauterbach (A) (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Zur Sache Vizepräsidentin Petra Pau: (C) bitte!) Kollegin Dugnus, es gibt einen weiteren Wunsch, eine Frage zu stellen oder eine Zwischenbemerkung zu Stimmen Sie mir somit zu, Frau Dugnus, dass wir machen, nämlich vom Kollegen Harald Weinberg. dies schon gefordert haben, als wir von der Neuwahl noch nichts wussten, und dass Ihr Vorwurf daher nicht redlich ist? Wir haben Ihnen nicht vorgeworfen, dass Sie Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): sich dieser Forderung jetzt im Wahlkampf NRW an- Jetzt würde ich gern meine Ausführungen zu Ende schließen. bringen, – (Heinz Lanfermann [FDP]: Der Wahltermin Schleswig-Holstein ist schon seit einem Drei- Vizepräsidentin Petra Pau: vierteljahr bekannt!) Gut. Das habe ich der FDP nicht vorgeworfen, weil ich das auch nicht unterstellen möchte. Wieso – das ist meine Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Frage – werfen Sie uns etwas vor, was nachweislich so – und nachher können wir gern weitermachen. nicht stimmen kann, derweil Sie sich selbst diesem Ver- dacht doch aussetzen? Das ist unredlich. Geht man bei der Praxisgebühr von einem Bearbei- tungsaufwand von nur vier Minuten aus, kommen wir im ( [CDU/CSU]: Das Scheitern ei- Jahr auf stolze 624 Millionen Minuten administrativen nes Schuldenhaushalts ist doch kein Missge- Aufwand insgesamt. Das entspricht über 10 Millionen schick!) Stunden, die in deutschen Arztpraxen für die Erhebung der Praxisgebühr aufgewendet werden. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): (Elke Ferner [SPD]: Abrechnung von Neben- Herr Kollege Lauterbach, Sie meinen sicher Schein- leistungen!) anträge wie die, die heute vorliegen, in denen es über- haupt nicht um die Praxisgebühr, sondern um andere Bei 87 000 Arztpraxen macht das pro Jahr und Praxis ei- Dinge geht, zum Beispiel um die Bürgerversicherung. nen Durchschnittswert von ungefähr 119 Stunden, die Das nimmt Ihnen ja auch niemand ab. einfach so für die Erhebung der Praxisgebühr draufge- hen. Hinzu kommen 1,4 Millionen Mahnverfahren. In Wir werden in der Koalition ganz in Ruhe darüber der Summe sprechen wir von Verwaltungskosten in (B) diskutieren. Wir legen hier unsere Argumente auf den Höhe von 360 Millionen Euro. (D) Tisch und werden im Gesundheitsausschuss mit unserem geschätzten Koalitionspartner diskutieren und die Argu- Wen wir auch nicht vergessen dürfen, sind die Patien- mente austauschen; dafür sind wir da. ten. Sie haben ebenfalls einen Aufwand, etwa wenn sie sich von der Praxisgebühr befreien lassen wollen. Sie (Lars Lindemann [FDP]: So machen wir das!) müssen Belege sammeln und das Ganze einreichen. Und wenn sie die 10 Euro nicht in der Tasche haben, müssen Daran lassen wir die Öffentlichkeit teilnehmen. sie noch einmal in die Praxis gehen und die Praxisgebühr Wir hatten immer eine klare Positionierung zur nachbezahlen. Praxisgebühr. Insofern haben wir uns da nichts vorzu- Im Ergebnis ist klar: Die Praxisgebühr ist ein Büro- werfen. Aber ich kann den Ball an Sie zurückgeben. Bei kratiemonster, und zwar eines, das keinerlei Steuerungs- Ihnen sieht das, glaube ich, ein bisschen anders aus. wirkung entfaltet hat. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Karin (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Maag [CDU/CSU]) Jetzt komme ich zu den lieben Kolleginnen und Kol- Ich würde jetzt gern in meiner Rede fortfahren und legen der Opposition. Wie ich eben schon angedeutet auf die Sachargumente zu sprechen kommen. – Die habe, ist in den Überschriften Ihrer Anträge die Forde- Steuerungseffekte, derentwegen die Praxisgebühr einge- rung nach Abschaffung der Praxisgebühr natürlich teil- führt wurde, sind – das wissen wir alle; das wurde be- weise enthalten. Sie versuchen hier heute vergeblich, ei- reits erwähnt – überhaupt nicht eingetreten. Die Gebühr nen vermeintlichen Widerspruch zwischen unserer hat die Zahl der sogenannten Bagatell-Inanspruchnah- Ablehnung Ihrer Anträge und unserer Forderung nach men – darum geht es ja – nicht nennenswert verringert. Abschaffung der Praxisgebühr herzustellen. Wo die Praxisgebühr allerdings unschlagbar ist – das ist unser Credo als FDP –, ist der unnötige Bürokratieauf- Die Wahrheit ist aber, dass Ihre Anträge Mogelpa- wand, der dadurch erzeugt wird. ckungen sind; denn Ihnen geht es doch gar nicht um die Abschaffung der Praxisgebühr. Im Kern wollen Sie alle Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Praxisgebühr in auf der linken Seite eine, wie auch immer geartete, Bür- Höhe von 10 Euro wurde nach Angaben der KBV, der gerversicherung einführen Kassenärztlichen Bundesvereinigung, im Jahr 2010 156 Millionen Mal erhoben. Das muss man sich einmal (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Mechthild auf der Zunge zergehen lassen. Rawert [SPD]: Das wäre ja gut!) 20908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Christine Aschenberg-Dugnus (A) – sehen Sie; Sie geben es ja zu –; eine Bürgerversiche- Überschrift „Zuzahlungen für Patientinnen und Patien- (C) rung, in die jede noch so kleine Sparbucheinlage und ten jetzt abschaffen“ und hat den Text: jede noch so kleine Mieteinnahme einfließen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Quatsch!) rung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Abschaffung sämtlicher Zuzahlungen in der gesetz- lichen Krankenversicherung vorzulegen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine (Jens Spahn [CDU/CSU]: Macht doch selber Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst? einen Gesetzentwurf!) Es geht um die Praxisgebühr und gibt keinen einzigen Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Hinweis auf die Bürgerversicherung, wie Sie behauptet Nein, danke; ich würde gerne zu Ende kommen. haben. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was? – Alexander ( [CDU/CSU]: Aber Ulrich [DIE LINKE]: Angst!) wollen tun Sie sie trotzdem!) – Jetzt geht es nämlich gegen Sie. Das müssen Sie sich Sie müssten auch noch einmal folgenden Wider- erst noch einmal anhören. Im Gewand eines Antrags auf spruch aufklären: Die FDP sammelt sowohl im schles- Abschaffung der Praxisgebühr präsentieren Sie uns näm- wig-holsteinischen Wahlkampf als auch im NRW-Wahl- lich in drei unterschiedlichen Varianten den gleichen Un- kampf Unterschriften gegen die Praxisgebühr. Auf der sinn der Bürgerversicherung. Deswegen werden wir Ihre Website der FDP hat sie eine Umfrage zur Praxisgebühr Anträge auch ablehnen. gestartet, an der inzwischen über 6 000 Personen teilge- nommen haben. Über 80 Prozent sind übrigens dagegen, Die FDP plädiert für die Abschaffung der Praxisge- um das ganz deutlich zu sagen. Das finde ich auch sehr bühr. Wir plädieren aber auch für eine sachliche Debatte gut. Schaufenstersachen macht die FDP also in einer über den Weg, auf dem wir dahin kommen. sehr ausführlichen Art und Weise. Wir widmen uns den tatsächlichen Herausforderun- Gleichzeitig verhindert sie allerdings den Beschluss gen des Gesundheitssystems. Wir haben es in der Koali- unseres Antrags. Außerdem wird sie nachher hier mit Si- tion in kürzester Zeit geschafft, die Finanzen auf eine cherheit auch die Sofortabstimmung über die Praxisge- stabile Grundlage zu stellen. Wir haben dafür gesorgt, bühr verhindern. Woher kommt diese Schizophrenie? dass die Menschen auch im ländlichen Raum beste me- Das müssen Sie mir einmal erklären. dizinische Versorgung erhalten. Jetzt sorgen wir dafür, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (B) (D) dass die Pflegeversicherung zukunftsfest gemacht wird. neten der SPD) Zudem haben wir noch ein Plus in den Kassen. Ich denke, dass sich das alles sehen lassen kann. Vizepräsidentin Petra Pau: Stellen Sie ruhig weiter Ihre Schaufensteranträge. Wir Sie haben das Wort zur Erwiderung. arbeiten ganz in Ruhe an der Sache. Wir führen diese (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wo ist die Sachdebatte da, wo sie hingehört, nämlich im zuständi- Bürgerversicherung in unserem Antrag? Zei- gen Gremium des Deutschen Bundestages, also im Ge- gen Sie mir den Passus!) sundheitsausschuss. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): GRÜNEN]: Eben nicht!) Ja, ich werde versuchen, Ihnen diesen Passus zu zei- gen. Sie wollen die Zuzahlung und bestimmte Dinge ab- Was wir nicht tun, ist, Ihren Schaufensteranträgen und schaffen. Das sind Teile der Bürgerversicherung. Ihren Mogelpackungen zuzustimmen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zwei Anträge!) Danke sehr. Falls ich mich geirrt haben sollte, entschuldige ich mich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten jetzt schon einmal dafür. der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich glaube, dass in anderen Anträgen die Bürgerversi- Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Weinberg cherung erwähnt wurde. Herr Kollege, wir können uns das Wort. darüber gerne noch einmal in Ruhe unterhalten. Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe schon wieder- Harald Weinberg (DIE LINKE): holt erläutert: Die FDP hat sich von Anfang an gegen die Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe mich zu Praxisgebühr gewandt. Ich kann Ihnen viele Veranstal- dieser Kurzintervention gemeldet, weil die Kollegin ge- tungen nennen, bei denen ich das öffentlich gesagt habe. rade zunächst einmal sehr gute Argumente gegen die (Elke Ferner [SPD]: Sie wollen die Selbstbe- Praxisgebühr vorgebracht hat, dann allerdings an einer teiligung der Patienten!) Stelle eindeutig die Unwahrheit gesagt hat. Unser An- trag trägt nämlich, um das ganz deutlich zu sagen, die Deswegen ist es in Ordnung, dass wir so argumentieren. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20909

Christine Aschenberg-Dugnus (A) Ich bin zum Beispiel seit 28 Jahren verheiratet. Was Weder vor den Osterferien noch in dieser Woche ist er (C) meinen Sie, wie oft ich mit meinem Mann unterschiedli- diskutiert worden. Dabei haben Sie gesagt, Sie wollten cher Meinung war? Zum Wohle der Familie haben wir diesem Anliegen einen Raum verschaffen. Es war nicht uns trotzdem immer geeinigt. So gehen wir auch in der einmal eine Diskussion möglich. Er wurde von der Ta- Koalition vor. gesordnung gestrichen. So viel zur Seriosität, zur Red- lichkeit, zur Verantwortlichkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber deswegen müssen doch nicht die Versi- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- cherten zahlen und darunter leiden, was Sie zu KEN) Hause machen!) Ich muss sagen: Wir haben ganz andere Anliegen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich möchte im Urlaub nach (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das Sylt fahren und mein Mann möchte nach Bayern fahren. denke ich mir!) Wir einigen uns dann auf einen Urlaub in Deutschland. Dazu, dass Sie dann als Krönung der SPD und den (Zurufe von der SPD) Grünen in NRW und in Schleswig-Holstein vorwerfen, Nun kommt der Nachbar und sagt: Ich fahre mit dir nach sie würden dieses Thema instrumentalisieren, sage ich Sylt. – Ich werde dann sicher nicht mit dem Nachbarn Ihnen: Es ist ein legitimes Anliegen, einem Thema, das nach Sylt fahren, sondern mich mit meinem Mann da- in weiten Teilen der Gesellschaft debattiert worden ist, rüber einigen, wohin wir gemeinsam in den Urlaub fah- zum Durchbruch zu verhelfen und zu verdeutlichen, dass ren. Sie dies auf der einen Seite zum Thema gemacht, aber auf der anderen Seite Versprechungen gemacht haben, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – die Sie überhaupt nicht realisieren wollen. Darum geht Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Schön!) es. Ich hoffe, Sie haben mit diesem Bild meine Intention (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! – verstanden. Über den Antrag unterhalte ich mich nach Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Es geht der Debatte gerne mit Ihnen. Dann können wir in den nicht um die Tatsache, dass es thematisiert Dialog treten, auch darüber, was ich über die Bürgerver- wird, sondern von wem!) sicherung behauptet habe. Ich nehme jedoch zur Kennt- Das treibt auch die Kollegen von der Union auf die nis, dass Sie nicht für die Bürgerversicherung sind. Palme. Es geht darum, dass Sie eine Forderung erheben, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Nein, das die erstens dem Koalitionsvertrag widerspricht und die (B) (D) habe ich nicht gesagt! Das steht nur nicht in sich zweitens in Ihrem Wahlprogramm so nicht wieder- unserem Antrag!) findet. Vielen Dank, Herr Kollege. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Woher wissen Sie das denn?) (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Gute Reise!) Sie haben dort immer von einer unbürokratischen Form der Selbstbeteiligung geredet. Sie haben aber nie die Selbstbeteiligung an und für sich infrage gestellt. Es Vizepräsidentin Petra Pau: ging Ihnen immer nur um den bürokratischen Aufwand, Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die der damit verbunden war. Das noch einmal zur Klarstel- Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort. lung. Dann führen Sie die Union vor und überlassen der Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Union die anderen Dinge, die in diesem Zusammenhang NEN): zu klären sind, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute an dieser Stelle (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das tun über Szenen einer Ehe rede statt über ein ganz klares An- wir nicht!) liegen: über Praxisgebühr, Zuzahlung und Zusatzbei- nämlich dafür sorgen, dass es für die Abschaffung der träge. Praxisgebühr eine entsprechende Gegenfinanzierung (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE gibt. Das ist der einzige Punkt, bei dem Jens Spahn vor- GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) hin recht hatte. Das ist heute das Thema. Dazu sind drei verschiedene (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anträge gestellt worden. Den Antrag der Linken gab es Natürlich muss man für eine Gegenfinanzierung sorgen, tatsächlich schon vor der Osterpause. In diesem geht es wenn man den Krankenkassen 2 Milliarden Euro weg- um die Abschaffung der Praxisgebühr. Sie hätten jeder- nimmt. zeit die Möglichkeit gehabt, der Diskussion dieser For- derung im Ausschuss tatsächlich einen angemessenen (Jens Spahn [CDU/CSU]: Und jetzt kommt die Rahmen zu geben. Bürgerversicherung, stimmt’s?) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ist es!) – Ganz genau. 20910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Maria Klein-Schmeink (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gebühr und wegen der Zuzahlungen nicht oder zu spät (C) Heinz Lanfermann [FDP]: Die Heilserwartung zum Arzt gehen. Das ist Ihnen bekannt; man kann das in der Bürgerversicherung! – Zurufe von der Arzneimittelreporten oder Gesundheitsreporten nachle- CDU/CSU: Ah!) sen. Aber es kommt noch mehr. Unser Antrag, der Ihnen (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist denen egal, das heute vorliegt, enthält drei Elemente: Wir haben Ihnen ist denen wurscht! Das ärgert mich!) erstens geraten, die Praxisgebühr abzuschaffen, zweitens Das ist der Sachstand. Heute ist es an der Zeit, endlich haben wir Ihnen geraten, die Zusatzbeiträge abzuschaf- gegenzusteuern. fen, und drittens haben wir Ihnen geraten – als wichtiges Element –, den Krankenkassen die Beitragsautonomie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zurückzugeben. bei der SPD und der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer hat sie denn eingeführt? Das ist doch der wahre Knackpunkt in diesem Spiel. Wer hat sie jahrelang verteidigt?) Sie haben mit der Gesundheitsreform 2010 ein System geschaffen, in dem für die Krankenversicherung zentra- – Es ist in der Tat so, dass die Grünen die Praxisgebühr listisch ein Einheitsbeitrag festgesetzt wurde. Das führte im Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisie- dazu, dass es bei den Krankenkassen keine wirkliche rungsgesetz mit eingeführt haben, und zwar auf Betrei- Steuerung gibt, sondern diese in irgendeiner Weise mit ben der Union, das ist ja klar. den Beiträgen zurechtkommen müssen. In diesem Fall hatten Sie großes Glück; denn Konjunktur und Arbeits- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Da müssen wir ja eine marktlage waren gut. machtvolle Opposition gewesen sein!) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir machen gute Es hat immer schon große Vorbehalte gegeben, aber Politik!) man ist auch ein Stück weit dem Rat der Sachverständi- gen gefolgt. Deshalb gibt es bei den Krankenkassen und im Gesund- heitsfonds einen immensen Überschuss. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Man könnte meinen, wir hätten regiert!) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist Ergebnis gu- ter Politik!) – Hören Sie mir mal zu? Haben Sie keine Lust mehr, zu- zuhören? Wir führen heute eine Debatte, die Sie draußen Dieser Überschuss aber – das muss man ganz klar in der Bevölkerung ereilen wird. Sie werden also schon sagen – gehört den Versicherten. zuhören müssen. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ohh!) (D) sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN) – Ja, genau so wird es sein. – Bei genauerem Hinsehen werden Sie feststellen, dass man für die Praxisgebühr Er gehört nicht den Krankenkassen. Die Krankenkassen nicht wirklich weiterhin werben kann. Man kann nicht sind zu Recht keine Sparkassen; vielmehr haben sie eine dafür einstehen, außer es geht um die Frage der Finan- definierte Liquiditätsreserve, die aber längst überschrit- zierung. Dann müssen Sie sich aber fragen lassen, wie ten ist. Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, in die Dis- insgesamt eine nachhaltige Finanzierung in der Gesund- kussion über die Abschaffung der Praxisgebühr einzu- heitspolitik aussehen soll. steigen. Sie haben mit dem Zusatzbeitrag ein Konstrukt ge- Ein weiterer Punkt. Ich habe aus Ihren Reihen nichts schaffen, angesichts dessen Sie sich heute eigentlich ent- gehört zur inhaltlichen Auseinandersetzung um die Pra- setzt abwenden müssten; denn Sie fürchten ja selbst die xisgebühr und die Zuzahlungen. Folgen dieser Zusatzbeiträge. Sie müssen heute dafür sorgen, dass es auf keinen Fall zur Einführung der Zu- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Zuhören!) satzbeiträge kommt. Sie müssen für eine Liquiditäts- Genau darum geht es aber im Wesentlichen. Alle drei reserve sorgen, ein Sicherheitspolster, das Sie sicher Elemente bedeuten zusätzliche unsolidarische Belastun- über die nächsten Wahltermine und bis 2013 bringt. gen, die einseitig nur die Versicherten treffen. Darum geht es doch. Darum kämpfen Sie, Jens (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen doch Spahn, für dieses Sicherheitspolster, weil Sie genau wis- gerade die Solidarität erklärt!) sen, dass Sie ansonsten in die Lage geraten, die Zusatz- beiträge wirklich einzuführen. Und was wäre dann? Das führt dazu, dass die von Ihnen genannten sozial Be- nachteiligten eben keine gerechte Teilhabe an der ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sundheitlichen Versorgung erfahren. Es gäbe einen bürokratischen Aufwand ohne Ende. Hier müssen wir gegensteuern. Darum geht es uns Schauen Sie sich die Regelungen im SGB V an: Sie um- heute. Wir wissen, dass wir gegensteuern müssen. Es fassen sieben Absätze mit zahlreichen Formulierungen sind die 20 oder 25 Prozent der immer wieder beschwo- und Regelungen, die in den Unternehmen und anderswo renen sozial Benachteiligten und der bildungsschwachen zu großem bürokratischen Aufwand führen werden. So Haushalte, die gesundheitlich schlecht versorgt sind, die, verhält es sich doch. Gleichzeitig ist es eine Tatsache: Es wie Studien nachgewiesen haben, wegen der Praxis- wird zu einer zusätzlichen Belastung ausschließlich der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20911

Maria Klein-Schmeink (A) Versicherten kommen. Auch das ist etwas, was Sie Ihre Vermutung ins Leere laufen wird. Das ist reine Spe- (C) heute, vor den Wahlen, nicht an die Oberfläche kommen kulation. lassen wollen. Darum geht es im Kern. Darum kämpfen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sie vonseiten der Union. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Klar ist natürlich auch, dass Sie darüber einen Ehe- GRÜNEN]: Warten wir mal ab! – Heinz zwist haben. Ich hätte an Ihrer Stelle ebenfalls keine Lanfermann [FDP]: Das sehen wir alle so! – Lust, allein für die Folgen einer solchen verfehlten Poli- Elke Ferner [SPD]: Das haben Sie doch schon tik einzustehen; auch darum geht es. Da macht sich die mal vorgeschlagen!) FDP nämlich in der Tat einen schlanken Fuß. Sie hat sich im Februar überlegt: Ach ja, die Abschaffung der Reine Spekulation ist auch das, was Sie uns in Bezug Praxisgebühr, das wäre populär. Das ist ein schönes auf das Thema Zusatzbeiträge unterstellen. Die wirt- Signal an die Ärzteschaft. – schaftliche Entwicklung in diesem Land ist so hervorra- gend, dass es weder in diesem Jahr noch im nächsten (Lars Lindemann [FDP]: Was hat denn das mit Jahr Zusatzbeiträge im Rahmen der gesetzlichen Kran- der Ärzteschaft zu tun?) kenversicherung geben wird. Also behaupten Sie nichts, was sich aufgrund der gegenwärtigen Lage als irreal he- Es ist gleichzeitig ein Signal, dass die FDP in der Lage rausstellt. Deutschland geht es gut, und die Menschen ist, ein wärmendes, soziales Mäntelchen zu tragen. Da- profitieren davon. Die Beschäftigung in Deutschland be- rum geht es. findet sich auf Rekordhöhe. In Deutschland sind mehr Schauen wir uns jetzt einmal Folgendes an: Sie haben Menschen als je zuvor in Lohn und Brot, und die Ar- schon heute die Möglichkeit, über den Antrag der Lin- beitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jah- ken abzustimmen. Sie haben in den nächsten Wochen die ren. Das ist das Ergebnis christlich-liberaler Politik, und Möglichkeit, über die in unseren verschiedenen Anträ- das ist das Ergebnis einer Politik für Wachstum, Stabili- gen enthaltenen Regelungen abzustimmen. Wir werden tät und Beschäftigung in diesem Land. erleben: Nichts davon wird kommen. Aber es wird wahr- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) scheinlich etwas anderes kommen. Es wird zu einer Art Eintrittsgebühr beim jeweiligen Arztbesuch kommen. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Tatsache, Darüber haben Sie nämlich schon Ende letzten Jahres dass die Effektivlöhne steigen werden, zeigen, dass der nachgedacht. Aufschwung bei den Menschen tatsächlich ankommt. Wir sorgen dafür, dass die Menschen auf breiter Front (Heinz Lanfermann [FDP]: Die wird nicht entlastet werden. Die CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass kommen! Sie müssen meine Presseerklärun- die Bürger ab dem Jahr 2009 um 24 Milliarden Euro ent- (B) gen lesen, Frau Kollegin!) (D) lastet wurden. Beispielsweise hat das Wachstumsbe- – Herr Lanfermann, noch Ende Dezember haben Sie da- schleunigungsgesetz durch die Erhöhung des Kindergel- von gesprochen, dass gegen eine kleine Selbstbeteili- des und eine Ausweitung des Kinderfreibetrags zu gung, die unbürokratisch ausgestaltet ist, nichts einzu- Entlastungen in Höhe von über 4,3 Milliarden Euro ge- wenden ist. Ich glaube, das zeigt sehr deutlich, wessen führt. Geistes Kind sämtliche Anliegen der FDP sind. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das Vizepräsidentin Petra Pau: müssen Sie gerade sagen!) Kollege Stracke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst? Ich habe jedenfalls größere Schwierigkeiten, zu glauben, dass Sie tatsächlich für Ihre Forderungen einstehen wer- Stephan Stracke (CDU/CSU): den. Ich möchte im Zusammenhang ausführen. Danach Vielen Dank. kann Herr Ernst gern eine Zwischenfrage stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das zeigt, wir entlasten die Bevölkerung hier auf brei- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- ter Front, und das gilt auch für die Sozialversicherungs- KEN) systeme. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Pau: GRÜNEN]: Und wer zahlt’s? – Der Versi- Der Kollege Stephan Stracke hat für die Unionsfrak- cherte!) tion das Wort. Beispielsweise sinkt der Rentenversicherungsbeitrag um (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 0,3 Prozentpunkte. Das ist insgesamt eine Entlastung der FDP) von 3 Milliarden Euro. (Elke Ferner [SPD]: Um wie viel haben Sie bei Stephan Stracke (CDU/CSU): der Krankenversicherung erhöht?) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Klein-Schmeink, Sie setzen da- Bei der Arbeitslosenversicherung hat es im Vergleich zu rauf, dass wir für jeden Arztbesuch eine Art Eintrittsge- 2005 Entlastungen von insgesamt rund 28 Milliarden bühr einführen wollen. Sie können davon ausgehen, dass Euro jährlich gegeben; auf die Arbeitnehmerschaft ent- 20912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Stephan Stracke (A) fallen dabei 14 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis (Mechthild Rawert [SPD]: Haben Sie einen (C) christlich-liberaler Politik. Das trägt, und das wirkt auch Rhetorikkurs mit Präsentationseinheiten ge- in die Bevölkerung hinein. macht?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist das Ergebnis; das macht die Bürgerversicherung tatsächlich aus. Denn die Bürgerversicherung trifft zu- Jetzt zum Thema Praxisgebühr. Es geht tatsächlich nächst einmal in ganz breiter Front die Mittelschicht und darum, wie die gesetzliche Krankenversicherung nach- die Leistungsträger in diesem Land. haltig finanziert wird. Wenn man sich beispielsweise die Vorschläge der (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich dachte, Grünen vergegenwärtigt: Sie wollen – – es geht um Steuerung!)

Wir haben einen Finanzierungsmix aus Beiträgen, aus Vizepräsidentin Petra Pau: staatlichen Zuschüssen und aus Zuzahlungen. Die Zu- Kollege Stracke, könnten Sie mir ein Zeichen geben? zahlungen belaufen sich auf insgesamt 5 Milliarden Ich habe jetzt mehrere Meldungen zu Zwischenfragen Euro. Ich glaube, das ist ein sozial ausgewogenes Kon- oder -bemerkungen. zept. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die haben doch alle Wenn es darum geht, wie die Gegenfinanzierung der noch Redezeit!) Abschaffung der Praxisgebühr aussehen soll, dann kommt aus dem Bereich der Linken natürlich wie immer überhaupt kein Vorschlag. Stephan Stracke (CDU/CSU): Das machen wir am Schluss. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wir geben keine 6 Milliarden an die FDP! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Als Schatzmeister Vizepräsidentin Petra Pau: kann ich bestätigen, dass wir keine 6 Milliar- Irgendwann ist die Redezeit um. Ich sage es Ihnen den Euro erhalten haben!) nur. Ich habe mir Ihren Antrag nämlich tatsächlich ange- schaut. Sie versprechen hier wie immer den Himmel auf Stephan Stracke (CDU/CSU): Erden, und in der Realität – das hat die Vergangenheit Dann machen wir keine Zwischenfragen. – Welche gezeigt – ist es oftmals die Hölle. Gegenvorschläge werden hier im Zusammenhang mit (B) der Bürgerversicherung vorgelegt? – Erhöhung der Bei- (D) Ich komme zur SPD und zu den Grünen. Wenn es um tragsbemessungsgrenze um 47 Prozent. Das trifft vor al- die Gegenfinanzierung geht, sagen sie zunächst einmal: lem 4,5 Millionen gesetzlich Versicherte, nicht, wie im- Wir haben ja die Rücklagen. – Ja, wir haben die Rückla- mer behauptet wird, vor allem die Privatversicherten. gen; aber wir wissen auch, dass diese Rücklagen nur über einen gewissen Zeitraum bestehen werden, weil es (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wissen Sie, aufgrund der demografischen Entwicklung eine Steige- wie hoch die Beitragsbemessungsgrenze ist? rung der Ausgaben im Gesundheitssystem um 60 Euro Wie hoch ist die überhaupt?) pro Jahr und Versichertem gibt. Das zeigt: Seriöse Poli- tik muss auch darauf achten, dass langfristig und gut fi- Das trifft vornehmlich die breite Mittelschicht in diesem nanziert wird. Lande und damit diejenigen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Dann wird immer das Stichwort Bürgerversicherung in den Raum geworfen. Das Stichwort Bürgerversiche- Dann wollen Sie Mieten, Pachten und Zinsen einbe- rung ist eigentlich das Ü-Ei, das Überraschungsei der ziehen. Das ist nichts anderes als eine zweite Einkom- Sozialdemokratie und vor allem der Grünen. mensteuer. Hier wollen Sie rund 4 Milliarden Euro gene- rieren. (Zurufe von der SPD: Nee! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die Kopfpauschale ist das Dann wollen Sie auch noch die beitragsfreie Fami- Überraschungsei!) lienversicherung für Ehegatten einschränken. Hier kas- sieren Sie noch einmal 1 Milliarde Euro ein. Da locken Sie zunächst einmal mit Verführerli und sa- gen: Wir schaffen die Praxisgebühr ab oder sorgen für (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE andere Wohltaten. – Wenn man sich das Überra- GRÜNEN]: Was ist mit den Zuzahlungen und schungsei Bürgerversicherung genauer anschaut, wenn mit den Zusatzbeiträgen?) man es auspackt, dann findet man einen Zettel. Das, was Sie als vermeintliche Wohltaten in Aussicht (Der Redner hält einen Zettel hoch – Zurufe stellen, wird also zunächst einmal an anderer Stelle ein- von Abgeordneten der SPD, der LINKEN und kassiert und dann verteilt. Das ist nicht seriös; die Bür- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Oh!) gerversicherung verspricht keine seriöse Politik. Die Bürgerversicherung ist in Wahrheit ein ganz faules Ei, Dort liest man: „Ätsch, reingefallen! Ihre SPD und das Sie der Bevölkerung unterschieben wollen. Deswe- Grüne.“ gen machen wir das nicht. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20913

Stephan Stracke (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Finanzierung, darauf möchte ich Sie aufmerksam ma- (C) Stefan Rebmann [SPD]: Thema war die Pra- chen. xisgebühr!) (Beifall bei der LINKEN) Wir sagen: Seriöse Politik zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Rücklagen, die die Versicherten mit ihren Vizepräsidentin Petra Pau: Geldern angespart haben, zunächst einmal aufbewahren, Kollege Stracke hat das Wort zur Erwiderung. weil wir ganz genau wissen, dass es aufgrund der demo- grafischen Entwicklung Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Das ist Stephan Stracke (CDU/CSU): seriöse, nachhaltige Politik; das ist die Politik der CDU/ Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Ernst, CSU. Ihre Ausführungen hatten einen sehr lehrerhaften Ton. Da kann man nur sagen: Solche Lehrer brauchen wir Herzlichen Dank. nicht in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber solche Schü- Vizepräsidentin Petra Pau: ler auch nicht!) Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Klaus Auch in der Sache liegen Sie falsch. Die Praxisgebühr Ernst das Wort. und alle Zuzahlungen sind sozial ausgewogen. Sie wis- sen ganz genau, dass wir beispielsweise im Rahmen der Klaus Ernst (DIE LINKE): Chroniker-Richtlinie die Grenze bei 2 Prozent des Ein- kommens festgelegt haben, Lieber Kollege Stracke, ich möchte eine Feststellung treffen: Sie haben sich so intensiv mit dem Vorschlag der (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Opposition auseinandergesetzt, dass sie in den ersten GRÜNEN]: 1 Prozent! Falsch!) zwei Minuten Ihrer Rede über den Arbeitsmarkt und die – Bei 1 Prozent. 2 Prozent sind es bei denjenigen, die Arbeitslosenversicherung geredet haben. von ihrer Einkommenslage her nicht so gut gestellt sind. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist ja auch (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Aber die Studien- wichtig!) ergebnisse sind klar und eindeutig!) Da würde ich erst einmal sagen: Thema total verfehlt. Es ist also ganz klar, dass wir im Rahmen unseres Zu- (B) Das muss ich einfach sagen. zahlungssystems durchaus die soziale Balance einhalten. (D) Zweiter Punkt. Sie haben dann gesagt, wir – da meine Ein zweiter Punkt. Herr Ernst, in Ihrem Antrag be- ich die gesamte Opposition – hätten keine Vorschläge schäftigen Sie sich mit keinem Wort mit der Gegenfinan- zur Gegenfinanzierung gemacht; aber dann setzen Sie zierung. sich den Rest Ihrer Rede mit der Bürgerversicherung auseinander, nicht mit dem eigentlichen Thema. Auch (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das Geld das ist ein interessanter Punkt. ist doch da 2012, 2013! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir haben doch Überschüsse!) Ich möchte zudem feststellen, dass Herr Spahn von Solidarität gesprochen hat. Für Sie, Herr Spahn, und für Das ist der eigentliche Skandal: Sie stellen Versprechen die CDU/CSU ist es offensichtlich der stärkste Ausdruck in den Raum. der Solidarität, dass wir mit dem System der Praxisge- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! bühr Menschen ganz bewusst vom Zugang zu einem Quatsch!) Arztbesuch ausgrenzen. Das ist offensichtlich Ihr Begriff von Solidarität. Sie sagen, Sie wollen die Beiträge zurückführen, aber Sie sagen mit keinem Wort, wie Sie das finanzieren wol- (Beifall bei der LINKEN) len. Ich finde das verwerflich. Das möchte ich in aller Klar- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Un- heit sagen. glaublich!) Wenn wir von Solidarität sprechen, dann möchte ich Das ist Ausdruck Ihrer Politik. Sie sagen einfach: Wir fi- einen Punkt in Bezug auf die Bürgerversicherung an- nanzieren das. Wir wissen zwar noch nicht genau wie, sprechen. Die Bürgerversicherung ist tatsächlich eine so- aber wir versprechen es schon einmal. Das ist nicht die lidarische Bürgerversicherung, und zwar deshalb, weil Form von seriöser Politik, wie wir sie betreiben. alle prozentual von ihren Einkommen den gleichen Bei- trag in die Versicherung einzahlen würden. Die Beiträge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- könnten sinken, und es wäre nicht so, dass die Sekretärin ruf von der LINKEN: Lächerlich!) letztendlich prozentual mehr für die Gesundheit ausge- ben muss als ihr Chef; denn das ist zutiefst unsolida- Vizepräsidentin Petra Pau: risch. Das System muss geändert werden, deshalb wol- Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege len wir die Bürgerversicherung. Das ist übrigens unsere Spahn das Wort. 20914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Jens Spahn (CDU/CSU): Da lassen wir Sie aber nicht heraus. Die größte Solidari- (C) Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte das Wort tät besteht in einer guten Finanzlage. ergreifen, weil der Kollege Ernst mich direkt angespro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – chen hat. Er hat auch Bezug auf das genommen, was Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das wissen Sie Stephan Stracke gesagt hat. doch selbst besser!) Zum Thema Solidarität. Ich bin der festen Überzeu- gung: Die größte Solidarität, die wir leisten können, ist Vizepräsidentin Petra Pau: die, dass wir insbesondere kranken Menschen und Men- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss jetzt erst schen mit geringem Einkommen ein Gesundheitssystem einmal ein paar geschäftsleitende Bemerkungen machen. in der Qualität und in der Dichte auch in den ländlichen Bei mir wurde, was jederzeit möglich ist, eine Kurzinter- Regionen zur Verfügung stellen, wie wir es in Deutsch- vention des Kollegen Spahn aus der Unionsfraktion an- land tun. Ein solches System, das die sofortige Teilhabe gemeldet. Auch wenn sich hier eine muntere Debatte am medizinischen Fortschritt möglich macht, etwa bei zwischen Kollegen entfaltet hat, die schon gesprochen neuen Medikamenten gegen Krebs, MS oder Parkinson, haben oder noch sprechen wollen, besagt unsere Ge- das die Kosten sofort erstattet, gibt es in keinem anderen schäftsordnung, dass nur der Kollege Stracke auf diese Land der Welt. Das ist der größte Ausdruck von Solida- Kurzintervention antworten kann. Ich habe kein Signal rität, den es geben kann, und genau die wird in der deut- gesehen, dass er das jetzt vorhat. Das heißt aber auch, schen gesetzlichen Krankenversicherung gelebt. Das ist dass die weiteren Wortmeldungen, die ich hier wahrge- mein erster Punkt. nommen habe, in ein anderes Format umgewandelt wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den müssten. Wir haben aber noch ein wenig Debatten- zeit; das bekommen wir sicherlich hin. Zum Zweiten. Es gehört zu unserem Verständnis dazu – Solidarität ist keine Einbahnstraße –, dass man sich im Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen-Claudio Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück weit an den Lemme für die SPD-Fraktion. Kosten beteiligt. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der FDP: So ist es! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die zahlen doch Beiträge! Die Steffen-Claudio Lemme (SPD): beteiligen sich doch!) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Herr Gesundheits- minister Bahr! Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz! Sie wissen genau, was das heißt – den Teil lassen Sie im- Meine Fraktion freut sich, dass es heute hier im Haus mer weg –: Ein chronisch Kranker muss maximal 1 Pro- (B) doch eine Mehrheit für die Abschaffung der Praxisge- (D) zent seines Einkommens zuzahlen: für Medikamente, für bühr gibt. Es gibt allerdings zwei Probleme und auch Praxisgebühr und alle anderen Dinge zusammen. Diese zwei Verlierer bei dieser Mehrheit. Das ist zum einen die Regelung führt dazu, dass niemand durch Zuzahlung FDP, die gegen ihren eigenen Parteitagsbeschluss han- und Praxisgebühr überfordert wird. delt. Zum anderen ist es die CDU/CSU, die die Patien- (Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE tinnen und Patienten in unserem Land nicht entlasten LINKE]) will. Das ist kein gutes Zeichen für unsere parlamentari- sche Demokratie. Wir finden schon – anders als Sie vielleicht, Sie sind groß im Verteilen des Geldes anderer Leute –, dass zur (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der Solidarität beide Seiten beitragen müssen. CDU/CSU) Ich möchte einen dritten Aspekt nennen. Zur Solida- Warum ist das so? Wir debattieren hier heute über ein rität gehört es auch, dafür zu sorgen, dass das Gesund- gesundheitspolitisches Steuerungsinstrument, das ein- heitswesen, das das beste auf der Welt ist, auch mittel- fach nicht mehr der Realität unserer Krankenversiche- fristig solide bleibt. Das Schlechteste, was wir rungslandschaft entspricht. Grundsätzlich gilt, dass jede insbesondere für kranke Menschen tun könnten, ist, ein politische Mehrheitsentscheidung auch immer Kind ih- Gesundheitssystem anzubieten, das nicht auf soliden fi- rer Zeit ist. Es ist unsere Aufgabe als politische Ent- nanziellen Beinen steht, sodass wir früher oder später scheidungsträger, Regelungen zu überprüfen und auch über Ausgliederung, über Senkungen, über Sparmaßnah- veränderte Rahmenbedingungen zu überdenken. Das ist men und über Kostendämpfung reden müssten. Das nun auch im Falle der Praxisgebühr notwendig gewor- wäre das Schlechteste. Deswegen sagen wir: Gerade im den. Wir müssen feststellen, dass sie klar hinter der er- Interesse von kranken Menschen wollen wir die solide warteten Steuerungswirkung zurückbleibt und nur un- finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung zureichend zur finanziellen Entlastung des Systems beibehalten. beiträgt. Hier müssten wir eigentlich gemeinsam han- deln. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Paritätische Beitragsfinanzierung!) Ich erinnere aber auch daran, dass es in der Vergan- genheit wiederholt zu anderen Einschätzungen der Sach- Da springen Sie leider zu kurz. Sie sagen an einer Stelle lage gekommen ist. Deshalb will ich uns kurz noch ein- immer nur: Abschaffen, abschaffen, abschaffen. An an- mal die Entstehung und Entwicklung der Praxisgebühr derer Stelle aber sagen Sie: Mehr Geld, mehr Geld, mehr ins Gedächtnis rufen. Wie mein Kollege Karl Lauterbach Geld. Wie es aber finanziert werden soll, sagen Sie nicht. bereits ausgeführt hat, ist die derzeitige Ausgestaltung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20915

Steffen-Claudio Lemme (A) Kompromissen geschuldet, die wir Sozialdemokraten Letztlich macht die Gebühr nur einen Bruchteil der (C) seinerzeit im Vermittlungsausschuss gegenüber CDU Finanzierungsgrundlage aus. Sie trägt nicht nachhaltig und CSU machen mussten. genug zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenver- sicherung bei. Hören Sie: Ich habe im Petitionsausschuss Die Union wollte damals mit ihrer Praxisgebühr von bei Entscheidungen zur Praxisgebühr wiederholt darauf den Patientinnen und Patienten noch wesentlich höhere hingewiesen, dass ein finanzieller Spielraum Vorausset- Zuzahlungen, während wir mit unserer Abgabe nur beim zung für die Abschaffung der Praxisgebühr ist. Die Ko- Facharzt die hausarztzentrierte Versorgung stärken woll- alition hat sich aber allen konstruktiven Vorschlägen zur ten. Beschaffung der notwendigen Mittel, zum Beispiel durch Einführung einer effektiveren Kosten-Nutzen-Be- (Elke Ferner [SPD]: Genau so war das!) wertung von Arzneimitteln, verweigert. Hierzu stehen wir auch heute. Wir halten weiter an un- (Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das serer Überzeugung der Notwendigkeit einer hausarzt- ist leider wahr!) zentrierten Versorgung fest. Diese Wahlperiode bot bisher keine finanziellen Wir mussten damals, in den Jahren 2003/2004, dafür Spielräume für Entlastungen. Aber die Rahmenbedin- Sorge tragen, dass sich die Defizite in der gesetzlichen gungen haben sich mittlerweile durch die gute Konjunk- Krankenversicherung – damals betrug der Fehlbetrag be- tur verbessert. Wir sollten diesen Spielraum nutzen. Ich reits drei Jahre in Folge durchschnittlich 1 Milliarde fordere Sie daher auf: Stimmen Sie der Abschaffung der Euro pro Jahr – nicht fortsetzten. Das ist uns damals Praxisgebühr zu, und sorgen Sie für eine Entlastung der auch gelungen. Die Praxisgebühr war nur ein Baustein Patientinnen und Patienten. von vielen zur Stabilisierung der gesetzlichen Kranken- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versicherung. der LINKEN) Für uns Sozialdemokraten war, ist und bleibt es zwin- Neben der Abschaffung der Praxisgebühr wird lang- gend, dass gerade bei der Finanzierung der gesetzlichen fristig jedoch nur eine Stärkung der Solidarität in der Krankenversicherung sauber gearbeitet wird. Schnell- GKV eine umfassende Entlastung für die Versicherten schüsse zahlen sich für die Versicherten nie aus. Sie wir- bringen. Die Rückkehr zur Parität, die Abschaffung von ken sich zu einem späteren Zeitpunkt negativ aus. Zusatzbeiträgen und letztendlich die Einführung der so- Die ersten Gutachten zur Praxisgebühr – etwa des lidarischen Bürgerversicherung müssen folgen; denn nur Wissenschaftlichen Instituts der AOK, des Zentralinsti- so wird unsere gesetzliche Krankenversicherung zu- kunftsfest gemacht. (B) tuts für die kassenärztliche Versorgung oder des Deut- (D) schen Instituts für Wirtschaftsforschung – zogen eine Vielen Dank. durchweg positive Steuerungsbilanz. (Beifall bei der SPD) Zweistellige Fallzahlenrückgänge bei Augenärzten, Chirurgen oder Orthopäden sprachen damals eine deutli- Vizepräsidentin Petra Pau: che Sprache. Auch die Akzeptanz des immer wieder dis- Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz kutierten Instruments wuchs in der Bevölkerung rasch. Lanfermann das Wort. So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahre 2010 an- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nähernd 70 Prozent der Befragten dafür aus, die Gebühr der CDU/CSU) unverändert beizubehalten. Heinz Lanfermann (FDP): Nichtsdestotrotz verweisen andere Studien, zum Bei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ha- spiel die Studie des Helmholtz-Zentrums München aus ben wir sie wieder gehört, die Heilserwartungen, die mit dem Jahr 2008, die zusammen mit der Bertelsmann-Stif- der Bürgerversicherung verbunden werden. Aber dazu tung herausgegeben wurde, auf negative Steuerungs- ist ja schon einiges gesagt worden. effekte. Danach würden junge und gesunde Menschen notwendige Arztbesuche dreieinhalbmal häufiger ver- Die Aufforderung aus den Reihen der Opposition, die schieben als ältere Menschen, Geringverdiener immer- uns gleich mit drei Anträgen beglückt hat, die FDP möge hin zweieinhalbmal häufiger als Besserverdienende. ihrer Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr Hierauf machen insbesondere Sozial- und Wohlfahrts- nachkommen, ist absolut scheinheilig. Das kann man verbände und Gewerkschaften aufmerksam. Sie betonen schon an den Überschriften der drei Anträge erkennen. insgesamt die negativen Auswirkungen für ältere Men- Das wird erst recht deutlich, wenn man die Anträge liest. schen und Geringverdiener. Das sind Hinweise, die wir (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Praxisgebühr nicht ignorieren können; denn wir alle wissen: Präven- abschaffen!) tionsmaßnahmen und die frühzeitige Behandlung von Krankheiten helfen, hohe Folgekosten zu vermeiden. Bei den Grünen zum Beispiel geht es um Änderungen bei der Beitragssatzautonomie, dabei geht es – das haben Kurzum: Die Praxisgebühr wurde seit ihrer Einfüh- wir ja gehört – in Richtung Bürgerversicherung. Die rung unterschiedlichen Zeugnissen unterworfen und SPD hat gleich auch noch ihr Hausarztmodell mit dazu- blieb stets Gegenstand kontroverser Debatten. gepackt. Das ist Ihr gutes Recht, aber dann tun Sie nicht 20916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Heinz Lanfermann (A) so, als gehe es hier nur um die Praxisgebühr. Die Linken zwar an die Piraten. Inwieweit Sie daraus Schlussfolge- (C) rufen in der Tat nach Abschaffung aller Zuzahlungen als rungen ziehen, mögen Sie unter sich ausmachen. Vorstufe zum Heil. Das ist sozusagen eine Eintrittskarte (Beifall bei der FDP) in den Himmel der Bürgerversicherung. Herr Weinberg, ich kann verstehen, dass man frustriert ist, wenn die Wir haben gerade eine weitere Falschaussage gehört. selbsternannten Gesundheitsexperten der Fraktionsspitze Es wurde behauptet, wir würden gegen Parteitagsbe- hier sprechen. Gestern hatten wir die „hälftige Fraktions- schlüsse verstoßen. Wenn Sie sich – ich hätte Ihnen das vorsitzende“ Künast als Pflegeexpertin, die hier ihre Un- empfohlen – auf Phoenix den Parteitag der FDP in kenntnis ausgebreitet hat. Heute hat Herr Ernst hier Karlsruhe angesehen haben, dann haben Sie gehört, wie gesprochen. Ich sage: Überlassen Sie das den Fachpoliti- begeistert dort die Delegierten gesagt haben: Ja, wir, die kern. Die Debatten sind dann etwas besser. FDP – es ging bei diesem Parteitag um uns als Partei –, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sind für die Abschaffung der Praxisgebühr. der CDU/CSU) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Herr Kollege Weinberg, Sie haben der Kollegin GRÜNEN]: Seit Februar!) Aschenberg-Dugnus einen falschen Vorhalt gemacht und Wir haben übrigens in dieser Debatte die Gründe dafür gesagt, sie hätte hier etwas Unwahres gesagt, als sie dargestellt. Kollegin Aschenberg-Dugnus hat sie aufge- meinte, in Ihrem Antrag sei von der Bürgerversicherung führt. Alle reden davon, man soll nicht polemisch sein die Rede, auf die Sie hinaus wollten. Sie haben hier laut und Sachdebatten führen, aber wer nennt einmal die gerufen: Dann zeigen Sie es mir doch einmal. – Sie hat Gründe, die dafür und dagegen sprechen? Ihnen angeboten, sich zu entschuldigen, sollte sie sich geirrt haben. Hören Sie mir jetzt bitte genau zu, damit (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie gleich die richtigen Worte gegenüber der Kollegin NEN]: Das haben wir hier alle gemacht!) finden. In Ihrem Antrag steht: Sie hat die Gründe genannt. Kollege Spahn hat auf die Die Abschaffung der Zuzahlungen ist damit zumin- finanziellen Fragen hingewiesen – völlig zu Recht. dest für 2012 gegenfinanziert. Ferner: Es hat niemals in der FDP die Auffassung gege- ben, dass wir diese Gebühr behalten wollen. Jetzt kommt der Blick in die Zukunft: Sie sagen – das war eine weitere Äußerung hier –, das Langfristig ist für eine gerechte und stabile Finan- sei gegen den Koalitionsvertrag. Das ist natürlich wieder zierung der gesetzlichen Krankenversicherung eine einmal nur so dahergeredet. solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung (B) einzuführen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Nein! Lesen Sie den mal vor!) (Zurufe von der FDP: Ah!) Im Koalitionsvertrag steht – ich darf wörtlich zitieren –: Sind wir nun diejenigen, die nicht lesen können, oder „Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbü- sind Sie es, Herr Kollege Weinberg? rokratisches Erhebungsverfahren überführen.“ (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ge- GRÜNEN]: Sie wissen genau, dass es um ei- nau!) nen anderen Antrag aus dem Ausschuss ging!) Erstens ist das finanzneutral ausgedrückt; denn die Fi- Wir haben hier – das war etwas kleinkariert – gehört, nanzfrage ist wichtig. Zweitens ist der Vorschlag – er dies sei eine Wahlkampfdebatte. Die Zuhörer merken, wurde übrigens im Wesentlichen von mir auf den Weg wer hier in der Sache argumentiert gebracht – allgemein gemacht worden und hat Fahrt auf- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE genommen, als die Finanzlage der Krankenversicherun- GRÜNEN]: Sie nicht!) gen, also Gesundheitsfonds plus Rücklagen der Kassen, nach den entsprechenden Berichten in die Diskussion und wer nervös ist. kam. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Pau: GRÜNEN]: Das ist aber was anderes als die Kollege Lanfermann. Abschaffung!)

Heinz Lanfermann (FDP): Dann sind in diese Diskussion auch andere eingestiegen, die sich jetzt hier als Väter und Mütter dieser Idee auf- Nein, danke. spielen. In Wirklichkeit sind sie nur Mitläufer und versu- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der chen, einen Keil zwischen uns zu treiben, nur weil wir FDP) gesagt haben: Das ist unser Vorschlag. Jetzt lasst uns doch einmal darüber diskutieren und Argumente austau- Das Spiegelbild der Debatte sind die Umfragen. Ent- schen. Das tun wir natürlich erst einmal innerhalb der gegen Ihren Erwartungen steigen in Schleswig-Holstein Koalition. Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun. und Nordrhein-Westfalen die Umfragewerte der FDP, während die Umfragewerte der Linken sinken – und das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dramatisch. Auch die Grünen verlieren Wähler, und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20917

Heinz Lanfermann (A) Denn ich rechne nicht damit, dass sich die Union bis war meines Erachtens zumindest inhaltlich durchaus (C) Mitte Mai eines anderen besinnt. Aber ich weiß, dass wir problematisch. dafür werben können und dass die Argumente nach Mitte Mai vielleicht etwas mehr Gehör finden. Ich bin von Herrn Lanfermann in Bezug auf meine Bemerkung zu den Aussagen der Kollegin Aschenberg- Sie können sich selbst im Ausschuss helfen. Dass Ihre Dugnus angesprochen worden. Ich möchte darauf hin- Forderungen scheinheilig und ein Trick sind, zeigt sich weisen: Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat auf die daran, dass in allen drei Anträgen die Praxisgebühr nur Anträge zur Praxisgebühr Bezug genommen – nicht auf ein Nebenthema ist. In Wirklichkeit haben Sie andere die Anträge auf Abschaffung der Zuzahlungen, sondern Anliegen. Sie wollen über diese Anträge weder unter- auf die Anträge zur Praxisgebühr; dazu liegt auch ein einander noch mit den anderen Fraktionen im Ausschuss Antrag von uns vor. Sie hat ausgeführt, in diesen Anträ- diskutieren. Wie kämen Sie sonst auf die seltsame Idee, gen sei jeweils ein Bezug zur Bürgerversicherung ent- hier Anträge vorzulegen, die nicht einmal in allen Punk- halten, de facto seien es also verkappte Anträge zur Bür- ten ordentlich ausformuliert sind und zu denen es viele gerversicherung. Daraufhin habe ich gesagt: In unserem Nachfragen gibt? Antrag zur Praxisgebühr mit der Überschrift „Praxisge- Uns werfen Sie hier vor – dabei handelt es sich um bühr abschaffen“ steht kein einziges Mal das Wort „Bür- ein ganz normales parlamentarisches Verfahren –, dass gerversicherung“. Kein einziges Mal! Insofern habe ich wir für die Überweisung stimmen. Wir wollen heute we- versucht, dies richtigzustellen. Es ist nach wie vor so, der Bürgerversicherung noch Zuzahlungsbefreiung ab- wie ich es gesagt habe, nicht anders. lehnen. Vielmehr wollen wir Ihnen die Chance geben, im (Jens Spahn [CDU/CSU]: Kindergarten hoch Ausschuss darüber zu diskutieren. Verweigern Sie das drei macht ihr hier! Echt! – Christine nicht. Sie können auch die öffentliche Diskussion wei- Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ach! Das ist doch terführen und Ihre Argumente nennen, warum man die albern!) Praxisgebühr abschaffen oder warum man sie durch ein anderes Instrument ersetzen sollte. – Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer sagen; sie lautet: 17/9031. Vizepräsidentin Petra Pau: Jetzt möchte ich noch ganz kurz auf das Argument Kollege Lanfermann, ich verrate Ihnen ein Geheim- von Herrn Lanfermann im Hinblick auf die Diskussion nis: Sie haben gleich noch die Chance, auf eine Kurz- im Ausschuss eingehen. Wir haben in der letzten Aus- intervention zu erwidern. Aber Sie müssen bitte zum schusssitzung beantragt, über diesen Antrag zu diskutie- Ende kommen. ren und ihn abzuschließen. Mit den Stimmen der Koali- (B) tion ist verhindert worden, dass er abgeschlossen wird (D) Heinz Lanfermann (FDP): und dass er heute Gegenstand im Plenum sein kann. Ich Ja. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es gibt eine wiederhole: mit den Stimmen der Koalition, auch und breite Palette von Möglichkeiten, wie man Zuzahlungen, gerade mit den Stimmen der FDP. Die FDP hat verhin- Eigenbeteiligungen oder Ähnliches regeln kann. Sie sind dert, dass er hier wieder zur Diskussion stehen kann. Ich eingeladen, darüber zu diskutieren, und zwar ergebnisof- habe in der Ausschusssitzung am Mittwoch dazu einen fen und unvoreingenommen. Ich bitte Sie, dies zum Ge- Wortbeitrag geleistet. Die Vertreter der Koalitionspar- genstand und zur Richtlinie Ihrer Beiträge zu machen. teien haben mit Hinweis auf die heutige Debatte auf Dis- kussionsbeiträge ihrerseits verzichtet. Also: Sie sollten Herzlichen Dank. nicht so tun, als sei die Diskussionskultur im Ausschuss (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten besonders ausgeprägt, was das betrifft. der CDU/CSU) Vielen Dank.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ Bevor ich dem Kollegen Weinberg das Wort zu einer CSU]: Kindergarten! Wie die Kinder: „Ich Kurzintervention gebe, weise ich darauf hin, dass unsere habe zuerst einen Antrag gestellt!“) Regelung in der Geschäftsordnung heißt: Der Präsident/ die Präsidentin kann das Wort zu Kurzinterventionen er- Vizepräsidentin Petra Pau: teilen. – Das impliziert auch eine andere Möglichkeit. Kollege Lanfermann, Sie haben das Wort zur Erwide- Ich werde im weiteren Verlauf der Debatte natürlich da- rung. rauf achten, dass die Proportionen eingehalten werden.

Bitte, Kollege Weinberg. Heinz Lanfermann (FDP): (Jens Spahn [CDU/CSU], an die LINKE ge- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist schon ein wandt: Hat der Weinberg bei Ihnen keine Re- rechtes Verwirrspiel, das der Kollege Weinberg hier auf- dezeit gekriegt, oder was?) zuziehen versucht. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Harald Weinberg (DIE LINKE): Lesen bildet!) Vielen Dank. – Herr Spahn, auch Sie haben Ihre Re- dezeit durch Ihre Kurzintervention etwas verlängert. Das Ich darf es für alle vielleicht kurz erklären. 20918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Heinz Lanfermann (A) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Haben Sie In ihrem Bericht vom letzten Jahr bekräftigte die WHO (C) es denn verstanden?) – ich darf zitieren –: Die Linken haben, um dieses Verwirrspiel zu inszenie- Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf ren, zwei Anträge gestellt. Den einen haben sie vor eini- die Gesundheit. Menschen im Moment der Inan- gen Wochen gestellt. Über ihn ist damals hier im Plenum spruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor diskutiert worden. Er ist auch mit erstaunlicher Ge- ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen. schwindigkeit im Ausschuss aufgesetzt und diskutiert worden. Dann haben sie aber schon mit den nächsten Eine Ratsuchende oder einen Hilfesuchenden eine Anträgen vor der Tür gestanden. Darüber diskutieren wir Eintrittsgebühr zum Arzt zahlen zu lassen, macht Ge- heute. Die Linke hat das Thema „Praxisgebühr“ sozusa- sundheit zur Ware. Das widerspricht dem Willen der gen zweimal vermarkten wollen. Heute geht es um den Mehrheit der Bevölkerung, und deshalb ist die Zustim- Antrag, auf den sich Herr Weinberg gerade zu beziehen mung in der Bevölkerung dafür so groß, dass die Praxis- versucht hat. Der andere Antrag steht heute nicht auf der gebühr und andere Zuzahlungen, durch die die Kranken Tagesordnung. Heute steht der Antrag auf der Tagesord- jährlich mit insgesamt 5 Milliarden Euro belastet wer- nung, aus dem ich zitiert habe. Darin wird auf die Bür- den, endlich weg müssen. gerversicherung verwiesen. Deswegen bleibt es nach (Beifall bei der LINKEN) wie vor Ihre Aufgabe, Herr Weinberg, dies gegenüber der Kollegin Aschenberg-Dugnus klarzustellen. Der Zeitpunkt dafür, diese Praxisgebühr abzuschaffen, war nie günstiger. Zu dem, was wir in den letzten Wo- Zum Zweiten. Ich habe Ihnen auch im Ausschuss aus- chen hier in der Politik beobachtet haben, sagen mir aber drücklich gesagt: Wir können über alles reden. – Wir ha- viele: Das ist doch ein Schmierentheater. So empfinden ben bewusst darauf verzichtet, den Antrag, der zum wir das. – Alle Oppositionsfraktionen wollen die Praxis- zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit auf der Ausschuss- gebühr abschaffen, der Bundesgesundheitsminister und tagesordnung stand, von der Tagesordnung abzusetzen. die FDP-Fraktion – allen voran der Fraktionschef – spre- Ich habe auf die entsprechende Frage der Vorsitzenden chen davon, und auch seitens der Union gibt es solche gesagt: Wir können heute beraten. Aber wir wollen nicht Meinungen. Der Patientenbeauftragte hat Ende März ge- abschließen. Denn zwei Tage später kommen aus dem sagt: Ich würde die Praxisgebühr gerne abschaffen. Plenum weitere Anträge in den Ausschuss. Alle Anträge können dann gemeinsam beraten werden. – Also: Sie ha- Daraufhin hat die Kanzlerin ein Machtwort verkün- ben alle Zeit der Welt, diese Anträge im Ausschuss zu den lassen. Ich denke, damit hat sie die Katze aus dem beraten. Deswegen: Tun Sie nicht so, als sei hier irgend- Sack gelassen. Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben völ- (B) ein Recht der Opposition unterdrückt worden. Mit unse- lig recht gehabt: Die Kanzlerin hat am 13. April 2012 (D) rem Abstimmungsverhalten wollten wir dafür sorgen, verkünden lassen, es sei im Moment kein Thema, die dass Sie mehr Gelegenheiten zum Diskutieren haben. Praxisgebühr abzuschaffen, es käme darauf an, das Geld Stellen Sie das hier bitte nicht anders dar. der Beitragszahler zusammenzuhalten; denn künftig müssten neue Zusatzbeiträge verhindert werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ja, das offenbart, warum Versicherten und Kranken das Geld vorenthalten wird: Die Kanzlerin möchte das Vizepräsidentin Petra Pau: Wahljahr 2013 schonen und schützen und ein Polster aufbauen, damit es nicht massenhaft zu Zusatzbeiträgen Nun hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Frak- kommt. Wir sagen dazu: Damit wird die Kopfpauschale tion Die Linke das Wort. durch die Hintertür eingeführt. Diese soziale Grausam- (Beifall bei der LINKEN) keit soll vom Wahljahr ferngehalten werden. Ich nenne das Angst vor dem Fluch der eigenen bösen Tat. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich: Was findet hier statt? Aber das Machtwort ist verpufft. Wir diskutieren wei- ter. Natürlich erreichen wir das auch mit unseren Anträ- (Otto Fricke [FDP]: Eine Debatte! – Gisela gen. Wir wollen, dass das Geld endlich zu denen fließt, Piltz [FDP]: Das ist der Deutsche Bundestag! denen es gehört. Es ist von den Kranken genommen Das ist eine Sitzung! – Heinz Lanfermann worden, und dorthin muss es zurückfließen. Deshalb ha- [FDP]: Auch Sie haben ein Mandat!) ben wir den Antrag heute auch ergänzt und sagen: Die Zuzahlungen müssen weg. Die Faktenlage ist eindeutig und erdrückend, aber nichts passiert. Die Praxisgebühr bringt Belastungen, sie hat Wenn heute abgestimmt werden würde, was Sie ja keinerlei Steuerungswirkungen, und sie verursacht Büro- verhindern – das ist hier ausreichend erläutert worden –, kratie. Also in Summe: Die Praxisgebühr ist unsinnig, dann könnte und müsste die Bundesregierung endlich unsozial und ungesund. handeln. Wissen Sie, wie es mir vorkommt, dass das nun (Beifall bei der LINKEN) verhindert wird, während die FDP trotzdem will – wir haben das auf Ihrer Internetseite gelesen, und auch der Faktisch verstößt Deutschland mit der Praxisgebühr Minister wird morgen garantiert wieder davon reden –, gegen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. dass die Praxisgebühr abgeschafft wird? Das ist wie ein Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20919

Dr. Martina Bunge (A) kleiner Hund, der laut bellt, aber nur so lange, wie er an Sie wissen, dass wir zu Beginn dieser Legislatur- (C) der Leine des großen Herrchens ist. periode zunächst die Finanzlage der GKV stabilisieren mussten. Bitte erinnern Sie sich an die düsteren Zu- (Beifall bei der LINKEN – Rudolf Henke kunftsszenarien für die gesetzliche Krankenversicherung [CDU/CSU]: Was sollen denn solche Tierbil- zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals wurden für der? Was ist denn das für eine Sprache von der 2011 Milliardendefizite vorausgesagt; damals kamen Linken? – Heinz Lanfermann [FDP]: Das war von der Opposition Rufe nach Spargesetzen. Mit mehre- unparlamentarisch!) ren Gesetzen, dem GKV-Änderungsgesetz, dem GKV- Fakt ist, dass für die Abschaffung der Praxisgebühr Finanzierungsgesetz und dem Arzneimittelneuordnungs- und der Zuzahlungen ein Zukunftskonzept für das Ge- gesetz, haben wir ein Paket geschnürt, das alle Seiten an sundheitssystem nötig ist. Das hat die Regierung nicht. den Lasten beteiligt: Leistungserbringer, Arbeitgeber, Das beweist ja die Angst der Kanzlerin vor den Zusatz- gesetzliche Krankenkassen, die Mitglieder der Kranken- beiträgen. Bei der Opposition sieht das mit den Model- kassen, pharmazeutische Industrie, Großhandel und len für eine Bürgerversicherung anders und günstiger Apotheken. aus. Aber Sie von CDU/CSU und FDP diffamieren all diese Alternativen nur. Damit kann man den Unterschied zwischen der Ge- sundheitspolitik der SPD und der der christlich-liberalen Unser Konzept, das konsequenteste von allen, tun Sie, Koalition in Euro berechnen: Das sind 30 Milliarden Herr Spahn – ich sehe ihn jetzt gar nicht mehr –, nur als Euro. Denn anstelle des erwarteten Defizits von 10 Mil- Schlagwort ab. Schauen Sie einmal auf die Internetseite liarden Euro schreibt der Gesundheitsfonds nun wieder unserer Fraktion. Dann werden Sie sehen, dass dieses schwarze Zahlen. Bei Krankenkassen und Gesundheits- Modell durchgerechnet ist. – Ich finde es toll, dass Herr fonds können wir uns über ein Plus von circa 20 Milliar- Spahn jetzt nicht da ist. Ich wollte ihm nämlich gerade den Euro freuen. Damit können wir heute feststellen: das Wesen der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung er- Diese Gesetze haben die erhoffte Wirkung gehabt. läutern: Wir beteiligen alle Bürgerinnen und Bürger nach Durch diese Gesetze konnten erhebliche Einsparpoten- ihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gesund- ziale in der gesetzlichen Krankenversicherung realisiert heitssystems und nicht die Kranken nach ihren Möglich- werden. Erstmals seit Jahren wird wieder mehr Geld für keiten an den Behandlungskosten. Das unterscheidet uns die ambulante Versorgung als für Arzneimittel aufge- in Bezug auf unser Verständnis von Solidarität. Ich wendet. Ohne diese erfolgreichen Gesetze würden wir denke, über diesen grundlegenden Unterschied sollten die heutige Debatte überhaupt nicht führen bzw. führen wir einmal reden. Dann werden wir hier auch weiter- können. Ihre heute formulierten Begehrlichkeiten wür- kommen. den völlig ins Leere laufen. (B) (D) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Natürlich weckt die aktuelle Situation Begehrlichkei- Dr. Edgar Franke [SPD]) ten bei allen, die damals einen Teil der Lasten zu über- nehmen hatten, erstaunlicherweise wohl auch bei den Vizepräsidentin Petra Pau: heutigen Antragstellern. So erleben wir, dass die Linke, Der Kollege Dietrich Monstadt hat für die Unions- die SPD und die Grünen – ich räume ein, mit jeweils et- fraktion das Wort. was anderer Argumentation – mit dem Füllhorn durchs Land ziehen und die Praxisgebühr als Wahlkampfge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schenk abschaffen wollen.

Dietrich Monstadt (CDU/CSU): (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- GRÜNEN]: Und die FDP? – Harald Weinberg gen! Meine Damen und Herren! Das Thema Praxisge- [DIE LINKE]: Nun machen Sie mal kein bühr zum wiederholten Male in diesem Hohen Haus! Überlebensgeschenk an die FDP!) Gott sei Dank, Frau Kollegin Bunge, sind wir hier nicht Interessant ist, welche Patienten von der Abschaffung im Zoo. Ihre Ausführungen sprechen für sich. der Praxisgebühr profitieren würden. Das sind jedenfalls Die SPD begründet ihre heutige Forderung mit der nicht die chronisch Kranken mit niedrigem Einkommen. aus ihrer Sicht diffusen Steuerungswirkung der Praxis- Beispielsweise hätte ein verheirateter, kinderloser, chro- gebühr und mit der aktuell positiven finanziellen Situa- nisch kranker Versicherter mit einem Jahreshaushaltsein- tion der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Praxis- kommen von circa 18 000 Euro eine Zuzahlungsgrenze gebühr fällt mir spontan etwas ein, was mit ihr von etwa 133 Euro pro Jahr. Als chronisch Kranker untrennbar verbunden ist: Einführung durch Rot-Grün, nimmt unser Patient regelmäßig Medikamente, zum Bei- durch die damalige Ministerin , auch wenn spiel Cholesterinsenker, Betablocker oder Blutverdün- bei Ihnen, verehrte Damen und Herren von der SPD, die ner. Dafür muss er pro Verordnung im Quartal 10 Euro Ministerin wohl nicht mehr so bekannt sein dürfte. Aber zuzahlen. Das wären 160 Euro im Jahr. Seine Zuzah- nicht nur ich, sondern auch die Wählerinnen und Wähler lungsgrenze liegt aber bei 133 Euro. Es kommt für ihn im Land, vor allem die in NRW und Schleswig-Holstein, also nicht mehr darauf an, ob er theoretisch beim Haus- verbinden die Praxisgebühr mit Ihrer Partei, auch wenn arzt pro Quartal 10 Euro Praxisgebühr oder beim Zahn- Sie, Herr Kollege Dr. Lauterbach, Ihr Produkt jetzt nicht arzt weitere 10 Euro zahlen müsste. Denn er zahlt sie mehr so attraktiv finden. nicht, weil sie oberhalb seiner Zuzahlungsgrenze liegt. 20920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Dietrich Monstadt (A) Deshalb kann ihn die Abschaffung der Praxisgebühr nachhaltigen Weiterentwicklung der Versorgungsstruk- (C) nicht entlasten. turen in diesem Land. Umgekehrt hätte ein verheirateter, kinderloser, gesun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommen In diese Richtung der Nachhaltigkeit sollten wir vor- von 39 000 Euro eine entsprechend hohe Zuzahlungs- anschreiten. Die vorliegenden Anträge leisten dazu lei- grenze von etwa 636 Euro pro Jahr. Ihm würde die Ab- der keinen Beitrag. schaffung der Praxisgebühr unmittelbar zugutekommen. Meine Damen und Herren von der Opposition, Herr Herzlichen Dank. Dr. Lauterbach, so viel zu Ihren sozialen Ungerechtig- keiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei der Praxisgebühr geht es um eine Einnahme in Vizepräsidentin Petra Pau: Höhe von circa 2 Milliarden Euro. Wie soll ihre Strei- Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar chung – das ist schon mehrfach angesprochen worden – Franke das Wort. langfristig gegenfinanziert werden? Wer aufgrund der guten aktuellen Situation eine Einnahmequelle dauerhaft (Beifall bei der SPD) abschafft, der muss sagen, woher das Geld im Zweifels- fall kommen soll, Dr. Edgar Franke (SPD): (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Parität wie- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und derherstellen zum Beispiel!) Herren! Ich glaube, ich kann die heutige Debatte, jeden- falls bis jetzt, folgendermaßen zusammenfassen: Wir insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen von sind uns mit Ausnahme der Union inhaltlich zumindest Konjunktur und Arbeitsmarkt einmal nicht mehr so in der Analyse einig. Bei der FDP scheitert es wahr- günstig sind wie heute. scheinlich ein bisschen an der Umsetzung, Frau Dazu schweigen sich die Antragsteller – das ist nach- Aschenberg-Dugnus. vollziehbar – aus. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE glaube ich nicht, Herr Kollege! – Heinz GRÜNEN]: Nein! Wenn Sie mal genau lesen, Lanfermann [FDP]: Geduld!) dann schweigen wir dazu nicht! Beitragsauto- Aber wir sind uns einig, dass die Praxisgebühr abzu- nomie!) schaffen ist, (B) (D) Meine Damen und Herren von der Opposition, erklä- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE ren Sie bitte klar und unmissverständlich den Wählerin- GRÜNEN]: Das freut uns!) nen und Wählern vor allem aktuell in NRW und Schles- wig-Holstein diese Politik! weil sie als Steuerungsinstrument versagt hat, weil sie sozial ungerechtfertigt ist und weil man damit nur Büro- Sparen ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, wie es kratie geschaffen hat. Darin sind wir uns hoffentlich ei- unser verehrter Herr Bundesfinanzminister vielleicht nig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ausdrücken würde. Aber die Beitragszahler haben ein Anrecht darauf, dass die von ihnen eingezahlten Mittel (Beifall bei der SPD) sparsam und effizient eingesetzt werden. Sie haben auch Das wird von sehr vielen Menschen so gesehen, na- Anspruch auf Nachhaltigkeit in der gesetzlichen Kran- türlich auch in Nordrhein-Westfalen. Denn die überwie- kenversicherung, gende Zahl der Menschen sagt: Die Praxisgebühr muss (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE abgeschafft werden. – Deshalb sind alle Anträge, die in GRÜNEN]: Was ist denn am Zusatzbeitrag diese Richtung gehen, richtig und gut. nachhaltig? Das möchte ich mal wissen!) Herr Ernst hat gesagt, ob eine Steuerungswirkung ein- die es erst ermöglicht, dass sie im Krankheitsfall Leis- tritt, hätte man schon früher sehen können. Sie haben, tungen in Anspruch nehmen können und die Kranken- glaube ich, gesagt, wir hätten einen Feldversuch ge- kassen sie bezahlen, dass sie am medizinisch-techni- macht. Aber was wollten wir ursprünglich? Wir wollten schen Fortschritt teilhaben und dass die Strukturen der klarmachen, dass Arztbesuche Geld kosten und sozusa- medizinischen Versorgung zum Beispiel angesichts der gen einen geldwerten Vorteil haben. Wir wollten vor al- demografischen Herausforderungen nachhaltig weiter- len Dingen klarmachen, dass Facharztbesuche sehr teuer entwickelt werden. sind, und zwar für die Solidargemeinschaft. Das war der Ursprungsgedanke. Man wollte vor allen Dingen das Gerade die von dieser Koalition durchgeführte Kon- Doktorhopping vermeiden, Herr Ernst. Das sind, glaube solidierung hat den Spielraum eröffnet, sich mit den ich, ehrenwerte Motive. Frau Ferner hat mir eben bestä- Grundsatzfragen der medizinischen Versorgung zu be- tigt, dass die Praxisgebühr anfangs Erfolge gezeitigt hat. fassen. So gehört das Versorgungsstrukturgesetz zu den Zu Beginn gab es weniger Arztbesuche. Aber in den ganz wenigen Gesetzen der letzten zehn Jahre im Ge- letzten Jahren ist die Zahl der Arztbesuche nicht mehr sundheitsbereich, die nicht Kostendämpfung betreiben. zurückgegangen. Deswegen ist es richtig, glaube ich, die Vielmehr befasst es sich mit der über den Tag hinaus Praxisgebühr nun abzuschaffen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20921

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: grund ist meine Kritik am damaligen Antrag der Linken (C) Kollege Franke, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- zu sehen. kung der Kollegin Vogler? (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Und Ihre Ge- genfinanzierung zum Hausarztkonzept?) Dr. Edgar Franke (SPD): Ja. – Ich komme gleich dazu. Frau Präsidentin, ich fahre jetzt fort. – Ich möchte Kathrin Vogler (DIE LINKE): noch auf Herrn Monstadt und Frau Aschenberg-Dugnus Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr eingehen, die gesagt haben, dass die Praxisgebühr unter Kollege Franke, ich kann mich noch gut daran erinnern, einer SPD-Ministerin eingeführt wurde. Jeder hier im dass wir im März dieses Jahres, als wir unseren Antrag Saal, der länger dabei ist, weiß, dass die Praxisgebühr auf Abschaffung der Praxisgebühr auf die Tagesordnung ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen der damaligen dieses Hauses gesetzt hatten, von Ihnen zu hören beka- Regierung und Horst Seehofer ist. Horst Seehofer hat men, diese Forderung sei populistisch und sei nicht ge- damals auf einer Pressekonferenz gesagt, dass das die genfinanziert. Deswegen war auch Ihre Fraktion damals schönste Nacht seines Lebens war. Was wollte Horst dagegen, mittels Sofortabstimmung – diese haben Sie Seehofer in dieser schönsten Nacht? Er wollte, dass je- nun für Ihren heutigen Antrag beantragt – über unseren der Arztbesuch mit einer Gebühr belegt wird. Das ist die Antrag zu befinden. Wir hätten also schon im März die- Wahrheit; das muss man hier auch sagen. Die Praxisge- ses Jahres auf dem gleichen Erkenntnisstand wie heute bühr ist nichts anderes als ein Kompromiss, der damals mittels Sofortabstimmung die Abschaffung der Praxis- geboren wurde. gebühr beschließen können. Da Sie noch im März dieses (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann Jahres unsere Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen, [FDP]: Er wollte ein anderes Kind zeugen als für nicht gegenfinanziert hielten, finde ich es erstaunlich, das, was jetzt auf der Welt ist! – Wolfgang warum Sie heute einen Antrag vorlegen, durch den, Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wenn ihm gefolgt wird, noch mehr finanzielle Belastun- hat uns der Herrgott geschenkt!) gen auf die Krankenkassen zukommen. So wollen Sie den Hausärzten mehr Geld geben, um die hausarzt- Festzuhalten bleibt, dass die Praxisgebühr nur noch zentrierte Versorgung zu stärken. Mich interessiert, wie ein Finanzierungsinstrument und kein Steuerungsinstru- Sie das mit der Gegenfinanzierung heute sehen und wa- ment mehr ist. Dafür war sie nicht gedacht. Deshalb ge- rum sich Ihre Auffassung gewandelt hat. Ich war relativ hört sie abgeschafft. (B) überrascht, nun in Zeitungen und im Internet zu lesen, (D) dass SPD und Grüne die Abschaffung der Praxisgebühr Des Weiteren werden Kranke und Einkommens- zum Wahlkampfthema in Nordrhein-Westfalen machen. schwache durch die Praxisgebühr besonders belastet. Ih- Die Abschaffung der Praxisgebühr sollte hier im Deut- nen steht dadurch weniger Geld zur freien Verfügung. schen Bundestag Thema sein. Das gehört hierhin und Deswegen ist die Praxisgebühr unsozial. Sie ist auch un- nicht in den Landtag von NRW. sozial – darin werden Sie mir zustimmen, Herr Ernst –, weil sie nicht paritätisch finanziert ist. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt sogar einen Antrag ge- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) stellt in NRW!) – Dann können Sie auch einmal klatschen. Das sage ich, obwohl wir Linke jederzeit bereit sind, al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten les zu unternehmen, um diese unsinnige Gebühr abzu- der LINKEN) schaffen. – Ich bedanke mich für den Applaus der Linken. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich komme ursprünglich aus dem Bereich der Prä- vention und der Unfallversicherung. Wenn Sie mit Zahn- Dr. Edgar Franke (SPD): ärzten sprechen, dann erfahren Sie, dass Kontrollunter- Liebe Frau Vogler, ich beantworte Ihre Frage sehr suchungen – Stichwort Prophylaxe – oftmals von gerne. Sie haben damals Ihren Antrag auf Abschaffung Einkommensschwächeren nicht wahrgenommen wer- der Praxisgebühr im Zusammenhang mit einem Antrag den, weil für solche Leute die Praxisgebühr im wahrsten auf Abschaffung aller Zuzahlungen gestellt. Das hätte Sinne eine Eintrittsgebühr bedeutet. insgesamt 5 Milliarden Euro gekostet. Sie wollten diese Summe durch eine – so haben Sie es formuliert – pau- Einen weiteren Punkt darf man nicht vergessen. Die schalierte Umverteilung locker gegenfinanzieren. Das ist Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie- und Ver- aus meiner Sicht ein Kritikpunkt, dem man sich stellen waltungskosten geführt. Wenn man mit Ärzten spricht, muss; denn die Frage nach der Gegenfinanzierung wird dann geißeln diese in schillernden Farben die Dokumen- sich spätestens 2013 stellen. Dann ist der Überschuss in tationspflichten und die Bürokratie. Aber auch der Nor- Höhe von 20 Milliarden Euro aufgebraucht. Insofern ist menkontrollrat hat festgestellt, dass wir 300 Millionen die Gegenfinanzierung der entscheidende Punkt. Man Euro Bürokratiekosten durch die Praxisgebühr haben. muss die Abschaffung der Praxisgebühr in ein seriös ge- Wenn wir diese abschaffen können, dann ist das vernünf- genfinanziertes Konzept einpassen. Vor diesem Hinter- tig; denn das ist letztendlich nicht nur gut für die Patien- 20922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Dr. Edgar Franke (A) ten, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte profitieren, Vizepräsidentin Petra Pau: (C) wenn sie dieses Geld einsparen. Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die Unionsfraktion. Frau Vogler, ergänzend zu dem, was ich auf Ihre Frage geantwortet habe: Die Praxisgebühr können wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nur dann abschaffen, wenn wir 2 Milliarden Euro gegen- finanzieren und eine konzeptionelle Anpassung vorneh- Erwin Rüddel (CDU/CSU): men. Nur dann erreichen wir, dass das System sich selbst ausbalanciert, wenn die Überschüsse nicht mehr da sind Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und und die Konjunktur nicht mehr so gut läuft. Herren! Wir sind für die heutige Debatte sehr dankbar, weil sie uns die Möglichkeit gibt, zwei Stunden über die Ein Argument wird immer wieder von der Koalition Erfolge dieser Koalition in der Gesundheitspolitik zu re- vorgebracht. Ich sehe gerade, dass auch Herr Brüderle, den. der Fraktionsvorsitzende der FDP, da ist. Auf dem Par- teitag haben Sie, Herr Brüderle, gesagt, dass Sie für die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gute Konjunktur verantwortlich sind. Wer hat aber die der FDP) gute Konjunktur wirklich geschaffen? Warum haben wir Die Gesundheitsausgaben in Deutschland hatten im Rücklagen in der Krankenversicherung, Herr Brüderle? Jahr 2010 ein Rekordniveau erreicht. Sie betrugen nach Warum haben wir so gute Arbeitsmarktzahlen? Warum den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ins- haben wir so gute Wirtschaftsdaten? All das ist das Er- gesamt 287,3 Milliarden Euro. Der Anstieg der Ausga- gebnis der Strukturreformen von Rot-Grün, das ist nicht ben gegenüber dem Vorjahr betrug damit 8,9 Milliarden auf diese Regierung zurückzuführen. Euro oder 3,2 Prozent. Damit entsprach der Zuwachs der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gesundheitsausgaben in 2010 in etwa dem durchschnitt- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lichen jährlichen Wachstum zwischen 2000 und 2009 in Höhe von 3 Prozent. Das muss man ganz klar sagen, um der Geschichtsklitte- rung, die gerne gemacht wird, entgegenzuwirken. Auch Warum stelle ich das an den Beginn meiner Ausfüh- Sie, Herr Brüderle, haben das rhetorisch geschickt – das rungen? Weil wir nicht so tun dürfen, als ob wir mit dem muss ich zugeben – auf dem Parteitag gemacht. gegenwärtigen Finanzpolster in der gesetzlichen Kran- kenversicherung leichtfertig umgehen können, und weil Was ist zu tun? In der Gesundheitspolitik dürfen nicht wir der Versuchung widerstehen sollten, kurzfristig Bei- allein die gesetzlich Versicherten, dürfen nicht allein die fall einzuheimsen auf Kosten einer stabilen und über den Patienten die Zeche zahlen. Das ist der entscheidende Tag hinaus soliden Finanzierung unseres Gesundheits- (D) (B) Punkt. Herr Stracke hat vorhin gesagt, wir hätten immer systems! das Überraschungsei Bürgerversicherung. Die Bürger- versicherung ist kein Überraschungsei. Das Konzept der (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Bürgerversicherung besagt, dass wir eine nominelle Pa- GRÜNEN]: Genau darum geht es! Aber ganz rität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen. anders, als Sie das machen!) Das bedeutet die Bürgerversicherung, und das ist ge- Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion die geforderte er- recht. Das sehen alle Menschen in unserem Land so. satzlose Abschaffung der Praxisgebühr ab. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass die Meine lieben Linken, wie wäre es mit Beifall? Der hat Praxisgebühr keine optimale Lösung ist. Ihre Steue- sich wohl an der einen Stelle erschöpft. rungswirkung ist beschränkt. Tatsache ist aber auch, dass die Gebühr für die Arztbesuche den Krankenkassen der- Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen zeit rund 1,5 Milliarden Euro im Jahr einbringt, die Pra- aber auch, dass wir den Faktor Arbeit nicht so stark be- xisgebühr für Besuche beim Zahnarzt noch einmal rund lasten dürfen. Das weiß die FDP anscheinend nicht; 400 Millionen Euro. denn sie hat die Beiträge erhöht, was zu den Rücklagen in der Krankenversicherung geführt hat. Wir brauchen Zuzahlungen sind in unserem Gesundheitswesen kei- – das sage ich abschließend der FDP – Beitragsautono- neswegs unüblich. Ich erwähne die Zuzahlungen im mie. Dann balanciert sich das System selber aus. Wir Krankenhaus, die jährlich etwa 700 Millionen Euro er- brauchen Effizienzsteigerungen, innovative und inte- bringen, und die Zuzahlungen bei Arzneimitteln, die sich grierte Versorgungssysteme und eine hausarztzentrierte 2010 auf knapp 1,7 Milliarden Euro beliefen. Versorgung. Dann können wir unser Gesundheitssystem (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Da waren die nachhaltig finanzieren. Arbeitgeber nicht dabei! Keine paritätische Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik muss immer Finanzierung!) der Patient, der Mensch stehen. Letztlich brauchen wir Insofern fällt es nicht aus dem Rahmen, dass seit dem eine solidarisch finanzierte Versorgung für die Men- Jahr 2004 gesetzlich Versicherte beim ersten Arztbesuch schen. im Quartal 10 Euro bezahlen müssen. Beschlossen Ich danke Ihnen. wurde das – das ist schon mehrfach erwähnt worden – in Zeiten der rot-grünen Regierung. Ich betone das deshalb, (Beifall bei der SPD) weil Sie auch in anderen Fragen von Ihrem eigenen Re- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20923

Erwin Rüddel (A) gierungshandeln nichts mehr wissen wollen, seit Sie in Die CDU/CSU-Fraktion ist stolz darauf, dass unser (C) der Opposition sind. Gesundheitssystem endlich einmal solide durchfinan- ziert ist. Das war – ich habe eben darauf hingewiesen – Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Die die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches gute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung Erhebungsverfahren überführen wollen. Dass die Praxis- ist deshalb ein wichtiger Erfolg dieser Koalition. gebühr angesichts der unbefriedigenden Steuerungs- funktion überprüft werden sollte, liegt auf der Hand. Al- (Beifall bei der CDU/CSU) lerdings bleibt die Frage, wie diese Einnahmequelle im Sie ist das Ergebnis der überaus positiven wirtschaftli- Gesundheitssystem – wir sprechen von 2 Milliarden chen Entwicklung in Deutschland und unserer klugen Euro – ersetzt werden kann. Gesundheitspolitik der vergangenen zwei Jahre. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. „Wenn man die Praxisgebühr abschaffen will, muss man über eine alternative Einnahmequelle reden“, hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Pfeiffer vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen festgestellt. Vizepräsidentin Petra Pau: (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr gut, dass GRÜNEN]: Genau! Tun wir ja!) Sie so zahlreich zu dieser Debatte und auch zur nachfol- genden Abstimmung erschienen sind. Ich bitte aber die Dem stimmen wir zu. Ich bin der Meinung, dass wir die Kolleginnen und Kollegen sowohl auf der Regierungs- Gebühr nur abschaffen können, wenn wir gleichzeitig bank als auch auf der von mir aus rechten Seite des Hau- die Einnahmen sichern, eine bessere Steuerungswirkung ses, dafür zu sorgen, dass wir der Kollegin Karin Maag erreichen und Bürokratie abbauen können, ohne chro- aus der Unionsfraktion jetzt auch folgen können. – Sie nisch kranke Menschen zu überfordern. haben das Wort. Aus diesem Grund wehren wir uns dagegen, wegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eines vielleicht populären, aber nur einmaligen Effekts die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Kranken- Karin Maag (CDU/CSU): versicherung in Not zu bringen. Denn wer sagt uns, dass Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- die gegenwärtig sehr positive wirtschaftliche Entwick- nen, liebe Kollegen! Ein guter Schluss sichert alles. Des- lung über Jahre hinweg unverändert anhalten wird? Des- wegen zitiere ich einfach einmal das Bundessozialge- halb wollen wir die beim Gesundheitsfonds liegenden richt: (B) (D) Rücklagen auch als Vorsorge für wirtschaftlich schlechte Zuzahlungen sind ein zweckmäßiges und taugliches Zeiten betrachten. Mittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienz (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE der Leistungen der GVK, aber auch ihrer Qualität GRÜNEN]: Kehren Sie zur paritätischen Fi- und Finanzierbarkeit. nanzierung zurück!) Das ist zwar nicht mein Satz; ich habe ihm aber nur we- nig hinzuzufügen. Ich wundere mich sowieso über Ihre Spendierfreudig- keit. Wir erinnern uns noch gut daran, wie Sie in Ihrer (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Regierungszeit fortwährend nach zusätzlichen Einnah- GRÜNEN]: Da könnten Sie sich aber einmal mequellen im Gesundheitswesen gesucht haben. Wir ha- ein bisschen fachwissenschaftlichen Verstand ben auch nicht vergessen, dass wir nach Bildung der angucken!) christlich-liberalen Koalition vor der Situation standen, Ich will gerne darüber reden, wie wir – das ist das An- ein drohendes Defizit der GKV in zweistelliger Milliar- gebot an die FDP – die Praxisgebühr vereinfachen kön- denhöhe abwenden zu müssen. Verglichen mit Ihrer Re- nen. gierungszeit haben wir es jetzt fast mit einem Luxuspro- blem zu tun, dies aber nur deshalb, weil wir erstmals seit Dem Antrag der Linken, der SPD und der Grünen, sie vielen Jahren für eine mittelfristig stabile und verlässli- abzuschaffen, werden wir natürlich auch im dritten An- che Finanzierung unseres Gesundheitssystems gesorgt lauf – und in allen weiteren Anläufen, merke ich vor- haben. sorglich einmal an – nicht zustimmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben in dieser Koalition mit nachhaltigen Refor- men – viele Redner haben es erwähnt – dafür Sorge ge- Meine Damen und Herren, den einzelnen Kassen tragen, dass unser Gesundheitssystem auch in Zukunft steht es doch frei, zumindest Teile ihrer Rücklagen in trägt, dass es bei einer guten medizinischen Versorgung Form von Prämien oder Erstattungen an ihre Versicher- bleibt und dass alle am medizinischen Fortschritt teilha- ten zurückzugeben. Das wäre im Übrigen durchaus sys- ben können. temkonform; denn wo es Zuzahlungen gibt, da sollte es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch Prämien und Erstattungen geben. Und wir sprechen der FDP) nicht ohne Grund davon, dass wir im Gesundheitswesen mehr Wettbewerb wollen. Was hindert die Kassen also Wir haben mit unseren nachhaltigen Gesetzen vor al- daran, in diesem Sinne tätig zu werden? lem dazu beigetragen, dass ein prognostiziertes Defizit 20924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Karin Maag (A) von 9 Milliarden Euro – so haben wir das Ganze über- das Jahr 2012 – das will ich auch einmal deutlich sagen – (C) nommen – nicht nur vermieden werden konnte, sondern liegen noch keine Abrechnungs- und Finanzdaten vor, dass heute die meisten Kassen – aber nicht alle Kassen; und Sie geben die Milliarden bereits aus. Ich habe mich das ist mir wichtig – Rücklagen bilden konnten. gestern beim Schätzerkreis informiert: Für das Jahr 2012 reden wir von einem Überschuss – Gott sei Dank – von Aber – jetzt bin ich bei den sehr einfachen Finanzie- 350 Millionen Euro. rungsvorschlägen, insbesondere von den Linken – bei den Kassen werden keine Vermögen angehäuft, die jetzt Frau Klein-Schmeink, liebe Kolleginnen und Kolle- als Spielmasse in einem Wahlkampf verschleudert wer- gen von den Grünen, nur am Rande: Wir haben mit den den können. guten Daten der Kassen eindeutig bewiesen, dass es zu einer Konsolidierung der Finanzen sicher keiner Bürger- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Seit 2006 fordern versicherung bedarf. wir das! Da war kein Wahlkampf! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Wir können die Pari- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE tät wiederhaben!) GRÜNEN]: Sie haben einen Schluck aus der Auch wenn wir im Boomjahr 2011 einen Überschuss Pulle genommen! 0,6 Punkte mehr Kranken- für alle Kassen – jetzt bin ich wieder bei allen Kassen – kassenbeitrag: So haben Sie das gelöst!) von rund 4 Milliarden Euro hatten, muss man doch diffe- Wir haben bewiesen, dass mit der Hebung von Effizienz- renziert jede einzelne Kasse betrachten. Schließlich gibt reserven und einer mittelguten Wirtschaftslage, für die es viele Kassen, die bisher noch nicht über ausreichend diese Regierung auch steht, in den bestehenden Verhält- Betriebsmittel und Rücklagen verfügten und die ihre Fi- nissen noch ganz gute Ergebnisse erzielt werden können. nanzsituation jetzt endlich erstmals verbessert haben. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beiträge erhöhen kann jeder!) GRÜNEN]: Wir reden ja auch über den Ge- sundheitsfonds!) Wenn Sie mittelfristig Ihre Bürgerversicherung als Fi- nanzierungsinstrument anbieten: Wie finanzieren Sie die Diese Kassen würden Sie doch wieder in die Übernah- kurzfristige Abschaffung der Praxisgebühr? Das alles mesituation treiben. Das wollen wir nicht. passt nicht zusammen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst einmal den Zusatzbeitrag ab- GRÜNEN]: Die ist gegenfinanziert! Das wis- schaffen! Das ist doch immer das Problem!) sen Sie auch! Der Spielraum ist da, auch (B) Zumindest meine Fraktion erwartet von den Kassen nächstes Jahr!) (D) ein nachhaltiges Wirtschaften. Wie soll das denn funk- Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sagen, tionieren, wenn wir diese Einnahmen der Kassen jetzt wir haben genügend Geld im System. Die Grünen und wieder der Beliebigkeit aussetzen? Mit uns wird so et- die SPD behaupten, in den kommenden Jahren sei mit was nicht funktionieren. einem dramatischen Anstieg der Beitragsbelastung der (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Versicherten zu rechnen. Hier setzen Sie uns ein großes GRÜNEN]: Sie haben doch den Zusatzbei- Fragezeichen vor die Nase. Was gilt denn nun? Auf der trag!) einen Seite fallen Weihnachten und Ostern offensichtlich zusammen, und auf der anderen Seite wird bei derselben Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, sieben Kassen Debatte von der übrigen Opposition eine Notlage herbei- haben es derzeit richtig gemacht – sieben Kassen, denen geredet. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie den es gut geht. Sie geben nämlich ihren Versicherten einen Menschen erklären wollen. Teil der Beitragsleistung in Form von Prämien zurück. Das ist aus meiner Sicht der einzig richtige Weg. Andere (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Kassen – auch das ist für mich beispielgebend – gehen in GRÜNEN]: Sie müssen vielleicht die Anträge die Leistungsverbesserung. So etwas dürfen wir doch noch einmal lesen!) nicht verhindern. Der GKV-Spitzenverband hat jedenfalls in der Anhö- Im Gesundheitsfonds hat sich 2011 ein Überschuss rung ausgeführt, ohne die Zuzahlungen fehlten den ge- von 5 Milliarden Euro angesammelt. Das sind 2 bis setzlichen Kassen rund 5 Milliarden Euro. Von diesen 3 Prozent der jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Kas- 5 Milliarden Euro entfallen 2 Milliarden Euro auf die sen. Praxisgebühr. Wenn wir in Beitragssatzpunkten rechnen: Die Summe von 5 Milliarden Euro entspricht konstant (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE 0,5 Beitragssatzpunkten. Wenn es dann tatsächlich nicht GRÜNEN]: Das ist aber fast doppelt so viel mehr reicht, was ich eingangs dargestellt habe, dann wie gesetzlich vorgesehen!) frage ich Sie: Wollen Sie dann die Beiträge entsprechend Können Sie sich vorstellen, wie schnell ein solches Pols- erhöhen? Oder woher nehmen Sie sonst das Geld? ter in Zeiten der zurückgehenden Konjunktur vervespert Uns wurde gestern in der Pflegedebatte vorgeworfen, ist? wir hätten angeblich nur – die Betonung liegt auf: nur – Es gibt den schönen Satz: Spare in der Zeit, dann hast 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und keine du in der Not. – Daran richten wir unsere Politik aus. Für 6 Milliarden Euro, die angeblich notwendig wären. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20925

Karin Maag (A) Auch das würden wir nur mit einer Erhöhung der Bei- Wir kommen zu den Anträgen auf Drucksachen 17/9189, (C) träge schaffen. 17/9067 und 17/9408. Die Fraktionen der SPD, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils (Elke Ferner [SPD]: Sie haben die Kranken- Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/ kassenbeiträge auch erhöht!) CSU und FDP wünschen jeweils Überweisung, und So viel Ehrlichkeit muss sein. Es ist Ihre und nicht un- zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit und sere Politik. Wir versuchen eine nachhaltige Gestaltung. mitberatend an den Ausschuss für Wirtschaft und Tech- nologie, an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und (Elke Ferner [SPD]: Ja, „Mövenpick“ sage ich an den Haushaltsausschuss. nur!) Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über die Das werden uns die Wählerinnen und Wähler danken. Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage des- halb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? – Jetzt möchte ich noch zwei Punkte zur angeblich feh- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann sind lenden Steuerungswirkung nennen: Die Begründung im die Überweisungen so beschlossen, und wir stimmen Jahr 2003 für die Praxisgebühr war vor allem, dass ein heute noch nicht in der Sache ab. Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen geleistet wer- den sollte. In einem zweiten Schritt sollten die Zahlen Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: der ärztlichen Konsultationen reduziert werden. Heute schämen Sie sich offenbar dafür, dass die Versicherten Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- zu zusätzlichen Leistungen herangezogen wurden. Das nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ werfe ich Ihnen gar nicht vor. Damals waren Sie in der DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Regierung. Damals ging es darum, sich um die Bezahl- Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungs- barkeit zu kümmern. Es ist Regierungsverantwortung, mechanismusgesetzes dass Sie Antworten auf solche Fragen geben. – Drucksache 17/9145 – (Elke Ferner [SPD]: Die Ausgestaltung der Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- Praxisgebühr ist auf Ihrem Mist gewachsen, ausschusses (8. Ausschuss) Frau Kollegin!) – Drucksache 17/9435 – Natürlich hat sich die direkte Steuerungswirkung abge- flacht. Die Versicherten haben sich tatsächlich daran ge- Berichterstattung: wöhnt. Dass Zuzahlungen aber generell steuern können, Abgeordnete Norbert Barthle (Erfurt) (B) sieht man auf dem Arzneimittelmarkt, wo beispielsweise (D) die Generika von der Zuzahlung befreit und deswegen Otto Fricke auch stark nachgefragt sind. Dr. Priska Hinz (Herborn) Ich möchte noch einen letzten Aspekt erwähnen. Es geht um die Bindung an den behandelnden Arzt durch Liebe Kolleginnen und Kollegen, es enttäuscht mich die Praxisgebühr. Sie haben die Hausarztverträge er- jetzt ein wenig, dass sich die Reihen aus für mich nicht wähnt. Ich teile Ihre Ansicht nicht. Die Hausarztverträge gerade erklärbarer Ursache so sehr lichten. Vor allen werden mit der Praxisgebühr unterstützt. Sie setzen dies Dingen bitte ich Sie aber, wenn Sie jetzt anderen Ver- leichtfertig aufs Spiel und damit die Option, weitere pflichtungen nachgehen müssen, dafür zu sorgen, dass Wirtschaftlichkeit ins System zu bringen. Die Hausarzt- wir hier ordnungsgemäß weitertagen können. Ich bitte verträge funktionieren nur dort, wo Versicherungen An- Sie also, die notwendigen Gespräche vor der Tür des reize bieten. Dazu gehört die Befreiung von der Praxis- Plenarsaals zu führen. gebühr. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich nehme Vizepräsidentin Petra Pau: an, dass die Geräusche hier neben mir rechts keinen Wi- Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit und kom- derspruch bedeuten. men zum Schluss. (Otto Fricke [FDP]: Zustimmung!) – Zustimmung. Dann ist so beschlossen. Karin Maag (CDU/CSU): Ich achte auf die Zeit und komme zum Schluss. – Es Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege gilt das Erstgesagte: Wir werden auch künftigen Anträ- Norbert Barthle für die Unionsfraktion. gen nicht zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit auch am Ende der Debatte. Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz passen wir die Re- gelungen zur Beteiligung des Deutschen Bundestages Vizepräsidentin Petra Pau: am temporären Rettungsschirm EFSF an die Vorgaben Ich schließe die Aussprache. des Bundesverfassungsgerichts an. 20926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Norbert Barthle (A) Die Tatsache, dass wir einen fraktionsübergreifenden sollten wir dieses gemeinsam erzielte Ergebnis, diesen (C) Kompromiss gefunden haben, zeigt, dass wir als Parla- Kompromiss, nicht zerreden, was dadurch geschieht, ment die Ausgestaltung unserer Rechte verantwortungs- dass sich einzelne Fraktionen als klüger darstellen als bewusst und gemeinsam in die Hand nehmen. Wir brin- andere. Wir sollten gemeinsam auf dieses Ergebnis stolz gen damit auch unseren Respekt vor dem obersten sein. Ich will an dieser Stelle ganz bewusst unserem Gericht zum Ausdruck. Ich möchte daher allen Beteilig- Bundestagspräsidenten danken, der ten ganz herzlich dafür danken, dass wir das Gesetz sich mit seiner Expertise eingebracht hat. Außerdem will heute so beschließen können. ich unserem Parlamentarischen Geschäftsführer danken, der den Diskussionsprozess moderiert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat. Auch mit Blick auf unsere europäischen Partner so- In der Diskussion über die Ausgestaltung unserer Par- wie zur Minimierung von Unsicherheiten an den Finanz- lamentsbeteiligung sind wir einen guten Schritt vorange- märkten ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wir kommen. Wie so oft liegt das beste Ergebnis tendenziell hinsichtlich möglicher Anwendungen des Rettungs- in der goldenen Mitte. Wir dürfen die fundamentalen, schirms für entsprechende Rechtssicherheit sorgen. Wir durch die Verfassung geschützten Rechte einzelner Ab- geben mit diesem Gesetz nahezu alle Entscheidungsbe- geordneter durch eine eilige Kriseninterventionspolitik fugnisse über die Vereinbarung neuer Hilfsprogramme nicht aufs Spiel setzen. Genauso wenig dürfen wir unse- an das Plenum des Deutschen Bundestages. Damit ge- ren Wunsch nach Mitsprache übertreiben; wir dürfen währleisten wir ein Maximum an parlamentarischer Mit- nicht bei allem und jedem mitbestimmen wollen. Wir bestimmung. müssen immer auch die Grenzen zwischen exekutiven Es bleibt nur eine Ausnahme: Mögliche Anträge zu und parlamentarischen Zuständigkeiten klar ziehen. Sekundärmarktaktivitäten, die einer besonders vertrauli- chen Behandlung bedürfen, werden zukünftig im soge- Meine Damen und Herren, wenn wir die Parlaments- nannten Neunergremium behandelt. Das Neunergre- beteiligung überziehen, blockieren wir nämlich letztlich mium wird dann sowohl die Mehrheitsverhältnisse im die Funktionsfähigkeit des Rettungsschirms und behin- Deutschen Bundestag widerspiegeln als auch dem dern seinen Zweck. Dann dürfen wir uns nicht wundern, Grundsatz der Spiegelbildlichkeit entsprechen. Es wird wenn die eigentlichen Aufgaben des Rettungsschirms zudem in geheimer Wahl mit der Mehrheit des Bundes- zum Beispiel von der EZB übernommen werden. tages gewählt und damit zusätzlich legitimiert. Außer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dem erhöht die Wahl von Stellvertretern die Legitima- der FDP) tion und Beschlussfähigkeit. Ich bin davon überzeugt, (B) (D) dass wir damit eine vernünftige sowie verfassungsrecht- Diese Lehre sollten wir auch für die Regelung der lich sichere Regelung gefunden haben. jetzt anstehenden Parlamentsbeteiligung beim Europäi- Diese Regelung ist sachlich von großer Bedeutung, schen Stabilitätsmechanismus im Hinterkopf behalten. um das Instrument der Sekundärmarktankäufe nicht im In Bezug auf die Frage der Eilbedürftigkeit haben wir Vorhinein zu lähmen. Das betone ich besonders, da die uns im Hinblick auf das StabMechG darauf geeinigt, einstweilige Verfügung, die erwirkt wurde, mögliche Be- keine gesonderte Regelung vorzunehmen. Ich kann die- schlüsse durch das Neunergremium noch komplett un- sen Kompromiss gut mittragen. Wir müssen uns aber tersagt hatte. Das Gericht hat dann aber klargestellt, dass auch bewusst sein, dass wir, und zwar das gesamte Haus, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Bundestages dann gegebenenfalls extrem schnell zusammenkommen prinzipiell rechtfertigen kann, dass der Bundestag zu- müssen. Die Praxistauglichkeit dieser Regelung wird mindest in Fällen besonderer Vertraulichkeit die Rechte sich zeigen, sollte sie tatsächlich zur Anwendung kom- des Plenums an ein kleineres Gremium delegieren kann. men. Ich will an dieser Stelle mögliche Kritikpunkte von- Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wir seiten der SPD-Kollegen vortragen, insoweit als man sie mit diesem Gesetz die Möglichkeit schaffen, im Haus- in den Protokollen der Sitzungen des Haushaltsausschus- haltsausschuss eine Anhörung zu Anträgen und Vorlagen ses nachlesen kann. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch der Bundesregierung in Bezug auf den Rettungsschirm der von der SPD vorgelegte Vorschlag zur Änderung des durchzuführen. Das gab es zu Zeiten der alten Gesetzes- StabMechG verfassungsrechtlich problematisch war, regelung in dieser Form nicht. Diese Neuregelung um- dass sie das Neunergremium allein aus Gründen beson- fasst den Inhalt des Änderungsantrags, den wir gemein- derer Eilbedürftigkeit etablieren wollte. Genau diesen sam erarbeitet haben. Wir, das Parlament, der Deutsche Grund hat das Verfassungsgericht nicht akzeptiert. Für Bundestag, haben die Aufgabe, das Ganze zu regeln, eilbedürftige und vertrauliche Fälle wollte die SPD den selbst in die Hand genommen. Das war richtig so und ist Haushaltsausschuss entscheiden lassen. Wie gesagt, die gut so. Eilbedürftigkeit in diesen Fällen, so das Bundesverfas- sungsgericht, wird auch vom gesamten Plenum zu ge- Ich freue mich, dass mit dieser Änderung die Rechte währleisten sein. der Mitglieder des Deutschen Bundestages insgesamt gestärkt werden und dass damit die Vorgaben des Verfas- Mit dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Änderungs- sungsgerichts vollumfänglich erfüllt sind. Ich bitte Sie, gesetzes legen wir etwas vor, was den Vorgaben des Ver- alle Fraktionen dieses Hauses, um Zustimmung zu die- fassungsgerichts vollumfänglich entspricht. Deshalb sem Gesetz. Damit würden wir das Vorhandensein eines Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20927

Norbert Barthle (A) rechtsfreien Raums beenden und demonstrieren, dass schirms der Zustimmung des Deutschen Bundestages (C) wir handlungsfähig sind. bedürfen. Dass wir dieses Urteil nicht bereits im Sep- tember 2011 mit einem adäquaten, verfassungsfesten Danke sehr. Beteiligungsgesetz umgesetzt haben, meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Otto Herren, ist kein Ruhmesblatt der deutschen Parlaments- Fricke [FDP]: Du wirst noch ein Staatsmann!) geschichte. Allerdings haben die Fraktionen daran durchaus unterschiedlichen Anteil. Das will ich anspre- chen. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz für die Die Sozialdemokraten müssen sich vorhalten lassen, SPD-Fraktion. dass sie im Herbst letzten Jahres bei der Schlussabstim- mung im Plenum unter dem Druck des Faktischen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) aufgrund eines Loyalitätsgefühls gegenüber einer letzt- endlich an dieser Stelle falschen Staatspraxis der Forde- Rolf Schwanitz (SPD): rung der Koalition nachgegeben haben und zunächst ein Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und verfassungswidriges Beteiligungsgesetz mit beschlos- Herren! sen haben. Allerdings hatte die SPD zuvor im Haushalts- ausschuss Änderungsanträge eingebracht, die genau die Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverant- schwierigen Stellen markierten, wortung des Deutschen Bundestages werden grund- sätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung (Otto Fricke [FDP]: Ja, aber falsch rum!) im Plenum wahrgenommen. … Vor diesem Hinter- grund ergibt sich der Grundsatz der Budgetöffent- und die mögliche Verfassungswidrigkeit im Ausschuss lichkeit aus dem … Öffentlichkeitsprinzip der De- thematisiert, und zwar in Bezug auf die Stellen, die spä- mokratie … ter bei dem Urteil eine zentrale Rolle spielten. Das gilt für die exzessive Verweisung von Beratungsgegenstän- So das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom den an das damalige Neunergremium: Wir wollten schon 28. Februar 2012 zur Klagesache unserer Kollegen damals, dass hier nur Sekundärmarktkäufe erfasst wer- Dr. und Swen Schulz. den und nicht mehr. Meine Damen und Herren, wir beschließen heute ein (Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch gar Gesetz zur Parlamentsbeteiligung beim Euro-Rettungs- nicht! Was soll denn das jetzt wieder?) schirm, das diesen Anforderungen endlich, und zwar im (B) vollen Umfang, gerecht wird, und das ist gut so. Das gilt auch für die von der Koalition gewollte Regel- (D) vermutung der besonderen Eilbedürftigkeit: Man wollte (Beifall bei der SPD) viele Beratungsgegenstände unter diesem Rubrum erfas- sen, was das Verfassungsgericht später bekanntermaßen Damit findet auch ein Emanzipationsprozess des Parla- kassierte. ments, der sich über fast zwei Jahre hingezogen hat, sein gutes Ende. Ich will noch einmal daran erinnern. So wie ich die Verantwortung der SPD thematisiere, Als die Bundesregierung den befristeten Euro-Ret- will ich auch ausdrücklich sagen: Es liegt in der Verant- tungsschirm, EFSF, auf den Weg gebracht hat, ging sie wortung der anderen Fraktionen – die Linke, die hier an- davon aus, dass der Deutsche Bundestag dabei genauso ders votiert hat, ausgenommen –, dass diese Vorschläge wenige Mitwirkungsrechte bekommen muss wie bei al- damals im Haushaltsausschuss abgelehnt worden sind len klassischen Euro-Angelegenheiten. Da wird über Fi- und wir erst durch eine neue Verfassungsklage hier zu ei- nanzgipfel auf Europaebene in der Regel nur informiert, nem Umdenkungsprozess gekommen sind. und das war es dann auch. Natürlich war klar, dass der (Zuruf des Abg. [BÜND- Gewährleistungsrahmen der EFSF insgesamt per Gesetz NIS 90/DIE GRÜNEN]) genehmigt werden musste. Aber für das laufende Ret- tungsgeschehen sah das Beteiligungsgesetz vom Mai An dieser Stelle, meine Damen und Herren, will ich 2010 deshalb nur vor – ich darf zitieren –: den Kollegen Peter Danckert und Swen Schulz meinen ausdrücklichen Dank und Respekt aussprechen, die mit Vor Übernahme von Gewährleistungen … bemüht ihrer Verfassungsklage letztendlich den Weg zu unserer sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem heutigen Gesetzesänderung eröffnet haben. Das ist kein Haushaltsausschuss … herzustellen. leichter Gang und alles andere als eine Selbstverständ- Zu mehr waren die Bundesregierung und die sie tra- lichkeit, wenn zwei Kollegen sich aufmachen und vor gende Koalition damals nicht bereit. dem Bundesverfassungsgericht quasi ihr eigenes Parla- ment verklagen. Das ist für beide Kollegen nicht leicht Das änderte sich erst durch das Urteil des Bundesver- gewesen. Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, in fassungsgerichts zur EFSF und zur Griechenland-Hilfe. dem das rechtlich möglich ist. Ich finde, beide Kollegen Nun war klar, dass wir auch beim laufenden Rettungsge- haben Respekt für diesen Vorgang verdient. schehen im Kernbereich des parlamentarischen Budget- rechts sind und die Handlungen der Bundesregierung (Beifall bei der SPD sowie des Abg. auch auf der übernationalen Ebene des Euro-Rettungs- [DIE LINKE]) 20928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Plenum von allen Abgeordneten im Lichte der Öffent- (C) Herr Kollege Schwanitz, darf der Kollege Willsch Ih- lichkeit entschieden werden. nen eine Zwischenfrage stellen? (Otto Fricke [FDP]: Müssen!) Rolf Schwanitz (SPD): Das Budgetrecht des Parlaments wird damit faktisch auf Nein, ich möchte bitte weiter vortragen. das Agieren der Bundesregierung in Bezug auf den Euro- Rettungsschirm erstreckt – ein Standard, der sicherlich Was wir heute am Gesetz ändern, sorgt für eine Parla- auch beim dauerhaften Rettungsschirm ESM nicht mehr mentsbeteiligung, die der Stellung des Budgetrechts als infrage gestellt werden wird. Königsrecht des Parlaments wirklich gerecht wird. Die SPD findet ihre Vorschläge, die sie hier mit eingebracht Meine Damen und Herren, die heutige Entscheidung hat, nahezu vollständig wieder. markiert ein gutes Stück Parlamentsgeschichte in Deutschland. Die Entscheidung ist wichtig für die Ak- Alle Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen und ihre zeptanz und Legitimation des Rettungsgeschehens und Änderungen werden künftig im Plenum des Deutschen auch für die Akzeptanz und das Funktionieren unserer Bundestages, das heißt von allen Abgeordneten und im Demokratie in Deutschland. Deswegen bitte ich um eine Lichte der Öffentlichkeit, entschieden. Das gilt für Dar- breite Zustimmung. lehen, für Ankäufe am Primärmarkt und für vorsorgliche Maßnahmen ebenso wie für Kredite zur Rekapitalisie- Herzlichen Dank. rung von Finanzinstituten; es gilt aber auch für Leitlinien (Beifall bei der SPD) und für sogenannte Hebel, über die viel diskutiert wor- den ist, und schlussendlich auch dann, wenn sich die Be- dingungen für finanzielle Instrumente geändert haben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Willsch Im Haushaltsausschuss werden künftig auch bei Re- das Wort. gierungsvorlagen Minderheitenrechte für Anhörungen bestehen. Damit wird der unwürdige Zustand beendet, dass die Opposition bei der Befassung und bei der Orga- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): nisation fachlicher Expertise im Ausschuss von der Herr Kollege Schwanitz, ich hätte Ihnen gerne eine Gnade der Mehrheit abhängig ist und dass die Koalition Zwischenfrage gestellt, aber nun muss ich mein Anlie- eine solche Anhörung mit ihrer Mehrheit schlicht und gen in einer Kurzintervention darstellen. einfach verhindern kann. Damit haben wir in den zu- rückliegenden Monaten hinreichend Erfahrung sammeln Man wird mir ohne Weiteres abnehmen, dass es in (B) müssen. meinem Interesse liegt, dass eine Verhandlung dieser (D) Angelegenheiten im Parlament und damit in der Öffent- Das Sondergremium wird sich künftig ausschließlich lichkeit erfolgt. Die Union wirkt ja bei der Gesetzesän- mit Sekundärmarktkäufen befassen. Die exzessive Zu- derung mit. Wenn es aber Ausweis der Bedeutung ist, ordnung von Vorlagen und das überdimensionierte Agie- die die Mitglieder des federführenden Ausschusses, ren hinter verschlossenen Türen werden aus dem Gesetz nämlich des Haushaltsausschusses, dieser öffentlichen gestrichen. Das Sondergremium wird durch Stellvertre- Debatte beimessen, dass heute von zehn Mitgliedern der ter vergrößert und durch geheime Wahlen im Plenum des SPD dieses Ausschusses gerade zwei anwesend sind, Deutschen Bundestages mit der Mehrheit der Mitglieder dann will ich meine Sorge zum Ausdruck bringen, was dieses Hauses ordentlich demokratisch legitimiert. das für die Zukunft der Parlamentsbeteiligung in diesen Fragen bedeutet. (Otto Fricke [FDP]: Das hatten wir vorher doch auch schon!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Auch die Auszahlung der Hilfstranchen, also dort, wo quasi richtiges Geld fließt, wird künftig nur nach vorhe- riger Beteiligung des Haushaltsausschusses erfolgen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Seine Stellungnahmen müssen von der Bundesregierung Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die berücksichtigt werden. Das ist richtig so; denn auch mit FDP-Fraktion. der Auszahlung von Teilbeträgen können politische Fra- gen von erheblicher Bedeutung verbunden sein. Deshalb (Beifall bei der FDP) ist es richtig, dass wir von einer bloßen Kenntnisnahme zu einem echten Beteiligungsrecht des Haushaltsaus- Otto Fricke (FDP): schusses kommen. Geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und (Beifall bei der SPD) Kollegen! Man sollte in den Vordergrund stellen, dass für das Gesetz drei Dinge maßgeblich waren: erstens die Mit den Änderungen im vorgelegten Gesetzentwurf in Vorgaben des Zweiten Senats des Bundesverfassungsge- Bezug auf den befristeten Euro-Rettungsschirm EFSF richts eins zu eins umzusetzen; ich glaube, wir haben sie wird es eine Weiterentwicklung von einer partiellen zu sogar übererfüllt; zweitens – das ist das Schwierigere – einer umfassenden Parlamentsbeteiligung und -entschei- die Handlungsfähigkeit der EFSF zu erhalten; und drit- dung geben. Künftig gilt auch hier das Plenarprinzip: tens die von uns gerade dargestellte interfraktionelle Alle wichtigen Entscheidungen können in Zukunft im Übereinkunft zu erreichen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20929

Otto Fricke (A) Im Einzelnen und zum Verständnis: Worum geht es Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Haus- (C) heute eigentlich? Geht es heute um die Frage der Euro- haltsausschuss sind, will ich eines deutlich sagen: Jeder Rettung als solche? Nein, es geht um eine Grundfrage Abgeordnete muss sich darüber klar sein, dass, wenn es von Demokratie, um die Grundfrage, wie wir in Staaten für Europa notwendig ist – mit Blick auf die Stabilisie- miteinander umgehen. Wenn man so will, geht es um rung des Kontinents, aber auch auf die Stabilisierung un- Locke und Montesquieu, um Gewaltenteilung. seres Staates, unserer Sozialsysteme, unserer Altersvor- sorge; denn wir brauchen Europa –, die gefundene Faktisch ist es hier doch so: Wir haben eine Regie- Lösung notfalls bedeutet, dass am Pfingstsonntag eben rung, die auf europäischer Ebene handeln will und muss, nicht nur der Heilige Geist über ihn kommt, sondern und wir haben ein Parlament, das die Haushaltsverant- auch eine notwendige Abstimmung. Für meine Fraktion wortung hat. Übersetzt heißt das: Das Parlament hat die sage ich: Wenn es für Europa, für unsere Bürger, für un- Verantwortung, zu bestimmen, wann und unter welchen sere Altersvorsorgesysteme usw. notwendig ist, werden Bedingungen die andere Gewalt, die Regierung, konkret wir am Pfingstsonntag hier sein. Da werden wir weitere über wie viel Geld entscheiden kann und wie weit wir Erfahrungen sammeln; aber nach dem, was ich erlebt dabei ins Detail gehen. habe, werden wir auch Gemeinsamkeiten finden. Die dritte Gewalt, die Rechtsprechung, versucht auch Wir als FDP haben an bestimmten Stellen zurückste- wieder, die unterschiedlichen Gewaltenstränge einiger- cken müssen. Das ist der kleine Wasseranteil, den ich in maßen in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir vor den Wein gieße; Sie haben das ja auch gemacht. Aber, fünf Jahren – das müssen wir erkennen – gesagt hätten, Kollege Schwanitz, ich muss auch sagen: Auch bei der dass wir in diesem Bundestag wiederholt darüber ent- SPD hat es durchaus kleinere Änderungen gegeben. Ich scheiden müssen, was der richtige Weg ist, dann hätten habe mir noch einmal Ihren Gesetzentwurf vom Septem- wir Stimmen gehört – diese gibt es weiterhin –, die ge- ber angesehen. In dem hieß es noch: Über Eilfälle soll in sagt hätten: Eigentlich sollte das Parlament überhaupt einem Neunergremium beschleunigt entschieden wer- nicht darüber entscheiden; das ist eine reine Exekutivent- den; aber in Vertraulichkeitsfällen sei das eigentlich scheidung. – Ich glaube, dass die Lösung, die wir jetzt nicht notwendig. Das Verfassungsgericht hat das umge- gefunden haben, vertretbar ist. Ob sie die richtige ist, kehrt gesehen. Wir sind zu neuen Erkenntnissen gekom- wird die Zeit erweisen. Ich halte sie jedenfalls für eine men, und das ist auch in Ordnung. gute. Mit dem, was wir heute zur EFSF beschließen – dabei geht es um den temporären Schutzschild des Euro –, ge- Ich sage das unumwunden: Wir alle – alle Parteien, hen wir sehr viele Punkte an, die mit Blick auf eine Par- die Regierung und übrigens auch das Verfassungsgericht – lamentsbeteiligung beim ESM schon die Richtung wei- (B) haben jeweils Veränderungen unserer Positionen vorge- sen. Zwei Umstände sehe ich allerdings durchaus als (D) nommen. Die Regierung hat erkennen müssen, dass es schwierig an. Einen hat der Kollege Barthle schon deut- ein selbstbewusstes Parlament gibt. Sie hat erkennen lich gemacht. Wenn wir unsere Parlamentsbeteiligung müssen, dass das nicht nur im Haushaltsausschuss so ist, destruktiv wahrnehmen und nicht klarmachen, unter wel- sondern dass das gesamte Parlament – wie auch die ge- chen Bedingungen der Finanzminister im Gouverneurs- samte Bevölkerung – Interesse an diesem wichtigen rat handeln kann, und wenn es daraufhin zu einer Hand- Thema hat. Das ist nicht nur deshalb so, weil es um so lungsunfähigkeit der Stabilitätsmechanismen kommt, viel Geld geht, sondern auch, weil es darum geht, wie dann wird die Europäische Zentralbank, bei der wir kein Europa eigentlich aussehen soll. Vetorecht haben, sagen: Na, dann noch eine „dicke Bertha“. Übersetzt heißt das: noch einmal 500 Milliarden Das Verfassungsgericht hat in seiner ersten Entschei- Euro, und zwar ohne Bedingungen und ohne der Politik dung gesagt – das war für uns maßgeblich –: Wir haben in anderen Ländern sagen zu können: Ihr müsst Refor- eine Vorstellung davon, wie ihr das machen könnt. Es men machen. hat dann aber einen weiteren Satz gesagt, der für uns alle, damals übrigens auch für die SPD und die Grünen, Ich will einen zweiten Punkt deutlich ansprechen: durchaus sehr prägend war. Die ursprüngliche Entschei- Wenn wir das Neunergremium in der geplanten Ausge- dung des Verfassungsgerichts – daran möchte ich immer staltung haben, sind wir uns dann sicher, dass es nur in wieder erinnern – war nämlich: In Eilfällen kann die Re- Fällen von Sekundärmarktaktivität tätig wird, weil nur in gierung, die exekutive Gewalt, das allein machen. diesen Fällen Vertraulichkeit notwendig ist, um einen Effekt zu erzielen? Deswegen will ich für meine Frak- Ich hätte mir sehr gewünscht, dass sich das Bundesver- tion sagen: Die Handlungsfähigkeit wird auch davon ab- fassungsgericht in seinem neuen Urteil mit diesem Satz hängen, dass nicht gesagt wird: Da man das nicht ver- auseinandergesetzt hätte. Dass es jetzt anders entschieden traulich machen kann, müssen wir das Ganze jetzt leider hat, haben wir auch den beiden Abgeordneten zu verdan- über die EZB machen. – Ich bitte darum, dass wir alle ken, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. So uns das sehr genau anschauen; denn wir wollen doch er- gehört sich das auch. Ich bin nicht immer derselben Mei- reichen, dass parlamentarische Beteiligung, wo sie not- nung wie der Kollege Danckert gewesen. Auch der Kol- wendig ist, von dem richtigen Gremium wahrgenommen lege Danckert – er kann heute wahrscheinlich leider nicht wird. kommen; das ist aber okay – muss anerkennen, dass seine Vorstellung – er meinte, der Haushaltsausschuss müsse Wir haben jetzt diese Verteilung. Wir alle werden die wesentlichen Dingen entscheiden – nicht umgesetzt weiter lernen. Wir alle haben schon hinzugelernt. Inso- wurde. Vielmehr machen wir das jetzt im Plenum. fern ist dies wirklich ein guter Tag für die Gewaltentei- 20930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Otto Fricke (A) lung und für die Demokratie. Manchmal sollte es eben dass der Deutsche Bundestag im Plenum in geschlosse- (C) auch so im Parlament ablaufen. ner Sitzung tagen darf. Es liegt an uns, diese Rechte in Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich finde, angesichts Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende. der Summen, über die wir hier reden, sind wir nicht nur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aufgerufen, sondern sogar verpflichtet, diese Verantwor- der CDU/CSU) tung wahrzunehmen. Wir reden wahrscheinlich über mehrere Milliarden Euro. Ich finde, diese Verantwortung kann man nicht Einzelnen überlassen. Dafür sind wir Präsident Dr. Norbert Lammert: alle zusammen zuständig. Das schöne Wochenende wird noch einen Augenblick auf sich warten lassen müssen, aber die Wünsche kön- (Beifall bei der LINKEN) nen ja schwerlich zu früh kommen. Schauen wir uns einmal an, was in den vergangenen Jetzt hat der Kollege Steffen Bockhahn für die Frak- Wochen und Monaten noch so alles passiert ist. Bei der tion Die Linke das Wort. Abstimmung über das zweite Griechenland-Rettungs- paket war keine Kanzlermehrheit vorhanden. (Beifall bei der LINKEN) (Otto Fricke [FDP]: War sie nötig?) Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum SPD und Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Grüne diesem Gesetzentwurf jetzt zustimmen. Damit Damen und Herren! Worum geht es heute? Wir müssen entlasten Sie die Koalition, die offensichtlich nicht mehr klären, wie der Deutsche Bundestag künftig bei den in der Lage ist, bei Entscheidungen, bei denen es um die Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem europäi- europäische Stabilität geht, eine eigene Mehrheit herzu- schen Rettungsschirm notwendig sind, mitentscheiden stellen. soll. Momentan geht es noch um den temporären Ret- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: tungsschirm, also um die EFSF. De facto reden wir aber Es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen ei- auch schon über das, was künftig mit dem ESM passie- gener Mehrheit und Kanzlermehrheit!) ren soll. Dabei geht es dann um 700 Milliarden Euro. 22 Milliarden Euro sind von Deutschland bar einzule- Durch Ihre Zustimmung ermöglichen Sie es, dass die gen, und 168 Milliarden Euro muss Deutschland jeder- Koalition treue Kolleginnen und Kollegen in das Neu- zeit als abrufbares Kapital zur Verfügung stellen. Wir re- nergremium entsendet. Dort hat die Koalition dann eine den also über Summen, die mehr als die Hälfte des eigene Mehrheit und ist auf Sie gar nicht mehr angewie- gesamten Bundeshaushalts eines Jahres ausmachen. sen. Im Plenum sähe die Sache anders aus. Dort müsste (B) unter Umständen auch anders verhandelt werden, weil (D) Nun geht es um die Frage: Bei welchen Maßnahmen die Mehrheitsverhältnisse im Plenum offensichtlich wird sich das Parlament wie einbringen? Ja, es ist gut, nicht so sind, wie sie im Neunergremium schnell herzu- dass geklärt ist, dass der Bundestag im Grundsatz im stellen sind. In das Neunergremium kann ich zwei, drei Plenum in Gänze zu entscheiden hat. Es gibt aber eine Leute schicken, auf die ich mich verlassen kann. Im Ple- Ausnahme, nämlich die sogenannten Sekundärmarkt- num habe ich es mit der Gesamtheit des Parlaments und käufe. Das heißt, über den Ankauf von Staatsanleihen, damit mit der Gesamtheit der politischen Ansichten zu die schon im Umlauf sind, die also eine Bank hat und die tun. Das ist zwar komplizierter, aber es ist ehrlicher, und von anderen gekauft werden sollen, nämlich vom ESM, es ist auch verantwortungsvoller gegenüber dem Haus- hat das sogenannte Neunergremium zu entscheiden. Es halt. heißt, solche Fälle bedürften einer besonderen Vertrau- (Beifall bei der LINKEN) lichkeit, und deshalb könne man darüber nicht offen im Plenum entscheiden. In solchen Fällen soll das soge- Sie mögen das jetzt so interpretieren, dass wir eigent- nannte Neunergremium, über das wir hier reden, aktiv lich nur wieder einen Grund gesucht haben, um Nein zu werden. sagen. Aber es ist ausdrücklich nicht so. Uns geht es da- rum, dass wir über Beträge reden, die sich niemand mehr Es geht um Transparenz und Beteiligung. Ich gebe zu: vorstellen kann. Wir sprechen bei diesem Thema über Ich bin ein wenig irritiert ob einiger Sätze, die ich heute Zahlen mit neun Nullen. Diese Zahlen sind jenseits von gehört habe. Es heißt, wenn der Deutsche Bundestag Gut und Böse, niemand versteht sie. Allein die 22 Mil- seine Rechte zu sehr in Anspruch nähme, würde er letzt- liarden Euro Bareinlage, die wir im ESM zu zahlen ha- lich den Europäischen Stabilitätsmechanismus gefähr- ben, über die ich persönlich sage: „Ja, wir haben hier den. eine Verantwortung“, sind mehr als das Doppelte der (Otto Fricke [FDP]: Nein!) Haushaltsmittel, die das Bundesinnenministerium und das Bundesfamilienministerium im ganzen Jahr haben. Das ist für mich unter demokratietheoretischen Aspekten Ich finde, über diese Mittel müssen wir alle zusammen eine sehr problematische Auslegung. transparent entscheiden. Niemand von Ihnen würde ak- zeptieren, dass über einen Einzelplan des Haushalts (Beifall bei der LINKEN) nicht im Plenum, sondern in einem Neunergremium ent- Ich sage Ihnen auch, warum: weil es suggeriert, dass es schieden wird. keine Möglichkeit gäbe, dass der Deutsche Bundestag Danke. Dinge vertraulich behandelt. Nehmen Sie das Grundge- setz: Art. 42 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sieht vor, (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20931

Steffen Bockhahn (A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Die Kollegin Priska Hinz hat nun das Wort für die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das Sondergremium kann nach dem Urteil des Ver- fassungsgerichts für die Sekundärmarktankäufe weiter Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bestehen. Alle anderen Aufgaben, die das Sondergre- NEN): mium laut dem ursprünglichen Gesetz hatte, sind jetzt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber auf das Plenum übertragen worden. Ich verhehle nicht, Kollege Bockhahn, es geht heute nicht um die Parla- dass ich die Stellvertreterregelung für problematisch mentsbeteiligung für den ESM, den ständigen Rettungs- halte. Ich bin nicht sicher, ob dies insgesamt praktikabel schirm. Heute geht es ausdrücklich um die Parlaments- sein wird und das Gremium jemals tagen wird. Aber wir beteiligung für den vorläufigen Rettungsschirm, die alle lernen mit diesen Gesetzen dazu. Die Staatsschul- EFSF. Ich finde, das muss man auseinanderhalten. denkrise dauert Gott sei Dank noch nicht so lange an, dass wir schon alle parlamentarischen Erfahrungen da- (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das habe mit hätten machen können. Wir werden sehen, ob es sich ich getan!) bewährt oder ob die EZB künftig auch in dieser Frage einschreiten muss. In diesem Lichte müssen wir dann Zu dem anderen Gesetzentwurf werden wir erst noch noch einmal über die Aufgaben des Sondergremiums eine Anhörung durchführen. diskutieren. (Otto Fricke [FDP]: Ja!) (Otto Fricke [FDP]: Das stimmt!) Im Lichte dieser Anhörung werden wir dann darüber dis- Das Gleiche gilt für die Eilfälle. Die Eilfallregelung kutieren, wie man eine gute Parlamentsbeteiligung hin- wurde nicht mehr in den Gesetzentwurf aufgenommen, bekommen und gleichzeitig – das ist ein Balanceakt – weil SPD und Grüne dagegen waren, dass die Regierung den ständigen Rettungsschirm funktionsfähig machen entscheidet, was ein Eilfall ist, und halten kann. Das wird für uns alle eine schwierige Aufgabe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und und weil wir auch nicht akzeptieren wollten – entschul- der FDP) digen Sie bitte –, dass der Bundestagspräsident allein entscheidet, was ein Eilfall ist. Auch dies fanden wir un- wenn wir tatsächlich an der Euro-Rettung interessiert parlamentarisch. (B) sind. (D) Zum Zweiten. Die Parlamentsbeteiligung im Rahmen Präsident Dr. Norbert Lammert: dieses Gesetzes hat sich – genauso wie das Gesetz – wei- Was im Übrigen, wie Sie wissen, auch nicht vorgese- terentwickelt. Das muss man so sagen. Ich habe jetzt hen war. keine Lust auf das Schwarzer-Peter-Spiel, hin und her, (Heiterkeit) wer hat was wann eingebracht. (Otto Fricke [FDP]: Wir alle nicht!) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das kann draußen an den Bildschirmen sowieso nie- Von daher gibt es jetzt im Gesetzentwurf keine Rege- mand nachvollziehen. Ich glaube, wichtig ist, dass wir lung für Eilfälle. Das heißt, das Plenum muss zusam- heute feststellen, dass wir das zweite Urteil des Verfas- mentreten, wenn es einen Eilfall gibt, notfalls auch in der sungsgerichts nicht nur umsetzen, sondern teilweise da- sitzungsfreien Zeit in der Sommerpause. Auch damit rüber hinausgehen. werden wir Erfahrungen sammeln müssen, um beurtei- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!) len zu können, ob das praktikabel ist oder ob man im Hinblick auf Eilfälle, in denen das nicht funktioniert, et- Das will ich nachdrücklich festhalten. Deswegen werden was im Gesetz ändern muss. wir diesem Gesetzentwurf heute zustimmen. Wo wir als Grüne, als es um dieses Gesetz ging, leider Die Formulierungen des Gesetzes sind klarer gewor- nicht durchgedrungen sind, ist das Thema Anhörung. den, und die Rechte der Abgeordneten wurden gestärkt, Eine Anhörung zu beantragen, wird auch für eine Min- weil jetzt weitestgehend alle Entscheidungen vom Bun- derheit ermöglicht. Allerdings wollten wir gerne die Re- destag in Gänze getroffen werden müssen. Das ist zum gelung, dass entweder zwei Fraktionen oder 25 Prozent Beispiel hinsichtlich der Leitlinien wichtig. Ich erinnere der Mitglieder des Haushaltsausschusses eine Anhörung an den Streit, den wir über die Frage der Hebelung ge- beantragen können. Die Mehrheit des Hauses wollte das führt haben. Die Koalition wollte nicht, dass wir über nicht akzeptieren. Das finden wir bedauerlich, weil das diese Frage hier im Bundestag diskutieren und entschei- im Zweifel natürlich uns als kleinere Fraktion betreffen den. Letztendlich haben wir dann hier darüber diskutiert. würde. Insofern war die Öffentlichkeit beteiligt und die Ent- (Otto Fricke [FDP]: Uns ja auch!) scheidung transparent. Künftig wird es generell so sein. Das halten wir in diesem Fall für richtig. Aber daran wollen wir das Gesetz nicht scheitern lassen. 20932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Priska Hinz (Herborn) (A) Sinnvoll wäre aus unserer Sicht gewesen, eine Anhö- herauskäme, könnten Deutschland und allen anderen (C) rung zu diesem neuen Gesetzentwurf am 7. Mai durch- Mitgliedstaaten der Europäischen Union milliarden- zuführen, wenn auch eine Anhörung zum ESM und zum schwere Schäden entstehen. Fiskalpakt stattfindet. Aus Zeitgründen ist von der Mehrheit darauf verzichtet worden. Das finden wir wirk- Das Thema Eilbedürftigkeit will ich nicht weiter ver- lich nicht sinnvoll. Uns wäre es wichtig gewesen, eine tiefen. In der Zukunft hat das Plenum des Deutschen Anhörung durchzuführen. Aber davon machen wir un- Bundestages die Gesamtverantwortung. Das heißt, dann sere Entscheidung nicht abhängig, weil wir es für sach- muss das Plenum in allen Fällen entscheiden. Ich glaube, lich gerechtfertigt halten, die starke Parlamentsbeteili- von der Kollegin Hinz ist schon gesagt worden: Das gung, die im Gesetz verankert ist, jetzt zu vollziehen. kann durchaus eine sportliche Veranstaltung für das Ple- num des Deutschen Bundestages werden. Wenn wir aber Danke schön. die Wahrung der Parlamentsrechte bzw. des Budget- rechts in vollem Umfang gewährleisten wollen, dann ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, hört dazu auch, dass wir zur Stelle sind, wenn dies gebo- bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- ten ist. geordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Riegert möchte und darf offenkundig Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort für eine Zwischenfrage stellen. – Bitte sehr. die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klaus Riegert (CDU/CSU): Herr Kollege Kalb, mit „sportliche Veranstaltung“ ha- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): ben Sie mir gerade ein Stichwort gegeben. Sie haben ja Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- von der Stabilität der Währung gesprochen. Unser Saal- nen und Kollegen! Als letzter Redner, der feststellen diener Hermann Rost hat als Zeugwart für stabile Ver- kann, dass wir uns weitestgehend einig sind, könnte ich hältnisse in der Bundestagsfußballmannschaft gesorgt. mit Karl Valentin sagen: Es ist schon alles gesagt, nur Er hat heute seinen letzten Arbeitstag, ist bis zuletzt an noch nicht von jedem. – Aber gerade aus Gründen des seinem Platz und bringt uns das köstliche Wasser. Respekts vor dem Bundesverfassungsgericht und aus Gründen der Selbstachtung des Parlaments (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ja!) Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass wir ihn mit ei- (D) nem herzlichen Dankeschön und dem Wunsch eines sta- ist es geboten, diese Debatte sehr ernsthaft und seriös zu bilen Alters und einer stabilen Pension verabschieden führen. sollten? Wir tragen mit dieser Gesetzesänderung den Vorga- (Heiterkeit und Beifall) ben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Dieses hat mit seinem Urteil die haushalts- politische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundes- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): tages gestärkt und damit auch die Zuständigkeiten des Herr Kollege Riegert, ich freue mich ganz ausdrück- sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktakti- lich über diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit vitäten begrenzt. Damit ist klargestellt, dass dieses gibt, den Dank, den Sie schon ausgesprochen haben, Gremium, das eingerichtet werden soll, ein Spiegelbild auch meinerseits – ich denke, auch für die vielen Kolle- der Mehrheitsverhältnisse sein muss. Die Parlamenta- ginnen und Kollegen – zum Ausdruck zu bringen. Ich rischen Geschäftsführer haben – dafür darf ich mich kenne Hermann Rost schon seit 25 Jahren, und ich durfte ganz herzlich bedanken – unter der Führung von Peter auch einmal ein bisschen in der Fußballmannschaft des Altmaier, wie ich glaube, eine sehr gute Lösung gefun- Bundestages mitspielen. den, (Iris Gleicke [SPD]: Man kann ihm auch dan- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Unter seiner ken, ohne Fußball gespielt zu haben!) Führung? Aha!) Herzlichen Dank und alle guten Wünsche an Hermann sodass wir jetzt zu einer einvernehmlichen Regelung und Rost! Entscheidung kommen und den Vorgaben des Bundes- verfassungsgerichts in vollem Umfang Rechnung tragen Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, dann können. darf ich dies zum Anlass nehmen, Hermann Rost auch stellvertretend für die vielen zu danken, die uns hier im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Plenum des Deutschen Bundestages, in den Ausschüssen usw. mit voller Hingabe tagtäglich treu zur Seite stehen Ich habe bereits gesagt, dass die Zuständigkeiten des und unsere Arbeit ermöglichen. Herzlichen Dank an alle sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktakti- und alles Gute für Hermann Rost im Ruhestand. vitäten begrenzt werden. Ich halte das für dringend geboten. Denn wenn durch Indiskretionen irgendetwas (Beifall) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20933

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: rem und im Interesse unserer Bürger, dass wir für stabile (C) Das Präsidium schließt sich diesen guten Wünschen Verhältnisse in Europa, in der Europäischen Union und ausdrücklich und gerne an. Sie hätten auch in keiner pas- insbesondere in der Währungsunion sorgen. senderen Debatte als in dieser vorgetragen werden kön- Herzlichen Dank, alles Gute, schönes Wochenende! nen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Ich vermute, dass nur deswegen darauf verzichtet wurde, Präsident Dr. Norbert Lammert: das auch in den Gesetzentwurf einzufügen, weil wir von Ein zweites Mal hat sich der Kollege Kalb leider nicht der Sicherheit der Rechtsansprüche der Beamtenpension stoppen lassen, und nach Überschreiten der Redezeit ohnehin fest überzeugt sind. können keine weiteren Zusatzfragen angenommen wer- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der den. CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LIN- Bevor wir jetzt zu den Abstimmungen kommen, hat KEN) der Kollege Ströbele um eine Erklärung zur Abstim- mung gebeten. Dazu hat er jetzt Gelegenheit. Danach Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): stimmen wir über den Gesetzentwurf ab. Herr Präsident, es steht mir nicht zu, Ihre Worte zu kommentieren, aber wenn es notwendig gewesen wäre, Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann hätten wir es tatsächlich fertiggebracht, das in die- NEN): sem Gesetzentwurf auch noch festzuschreiben. Ich danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir ist dieses allgemeine Schulterklopfen in Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin jetzt dieser Debatte etwas unangenehm. Deshalb habe ich in meinem Redefluss natürlich etwas unterbrochen wor- mich hier zu Wort gemeldet. den. Bei der Verabschiedung des Stabilisierungsmechanis- (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abge- musgesetzes habe ich damals nicht zugestimmt, weil ich ordneten der FDP und der LINKEN – Otto die gleichen Bedenken hatte, die dann die Kollegen von Fricke [FDP]: Aber nur leicht!) der SPD beim Bundesverfassungsgericht vorgetragen Ich will nun auf das Thema zurückkommen. haben. Ich fand es vom Kollegen Schwanitz etwas wohl- feil, hier nun die Kollegen dafür zu loben, dass sie zum Wir befassen uns jetzt mit der Mitwirkung und Betei- Bundesverfassungsgericht gegangen sind. Ich fand das (B) ligung des Parlaments am temporären Rettungsschirm in richtig, hätte es auch gerne getan. Ich war aber nicht so (D) Europa. Wir sind im Moment parlamentarisch auch da- schnell und hatte keinen so guten Rechtsrat. Aber wir bei, den dauerhaften Rettungsschirm für Europa, den Eu- dürfen nicht vergessen: Die SPD hat damals diesem of- ropäischen Stabilitätsmechanismus, zu beraten. Hierbei fensichtlich in Teilen verfassungswidrigen Gesetz zuge- wollen wir – ich glaube, Kollege Fricke hat es schon stimmt. zum Ausdruck gebracht – die Parlamentsbeteiligung und die Parlamentsrechte ebenso stark berücksichtigt finden. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das hat Darüber beraten wir gerade. Ich bin davon überzeugt, doch der Kollege Schwanitz erklärt!) dass uns auch das gelingen wird. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es sich Herr Kollege Ströbele, Sie wollten aber eigentlich bei den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, nur um eine Erklärung zu Ihrem Abstimmungsverhalten abge- Maßnahmen handelt, um unsere parlamentarischen Mit- ben. wirkungsrechte zu stärken und die Rettungsschirme funktionsfähig zu machen. Das entbindet aber keinen Mitgliedstaat in der Europäischen Währungsunion, seine Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hausaufgaben zu machen, eine solide Haushaltspolitik NEN): zu betreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Ja, natürlich. Das ist eine Erklärung zur Abstimmung. Wir haben bereits gestern darüber debattiert. Das wird die Kernaufgabe schlechthin sein. Präsident Dr. Norbert Lammert: Es wird somit auf der einen Seite darauf ankommen, Das muss ich allerdings entscheiden, ob es das ist dass sich alle in Europa entsprechend anstrengen, damit oder nicht. diese Vorgaben, die wir im Fiskalpakt vereinbart haben, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der eingehalten werden. Auf der anderen Seite wollen wir si- CDU/CSU und der FDP) cherstellen, dass kein Mitgliedsland der Euro-Zone in existenzielle Probleme gerät; denn ganz gleich, welches Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Land in Schwierigkeiten käme und Finanzierungs- bzw. NEN): Refinanzierungsprobleme hätte: Es würde natürlich an- Herr Präsident, ich will erklären, warum ich heute wie dere mitziehen, und es würde Rückstoßeffekte für uns abstimme. alle geben. Es ist also – der Kollege Fricke und der Kol- lege Barthle haben schon darauf hingewiesen – in unse- (Otto Fricke [FDP]: Wegen der SPD!) 20934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Deshalb werde ich heute zustimmen – trotz Bauch- (C) Na gut. schmerzen. Ich appelliere aber an dieses Haus, die Ver- fassung in Zukunft ernster zu nehmen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Sönke Rix [SPD]: Schön, dass wir das noch NEN): einmal gehört haben! – Zuruf von der LIN- KEN: Da war der Präsident aber nett!) Ich fange damit an, dass ich sage: Beim letzten Mal, als es um das Gesetz ging, habe ich nicht zugestimmt. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Iris Gleicke [SPD]: Zwei Minuten sind um!) Vielen Dank. – Ich schließe damit die Aussprache. Jetzt geht es um die Änderung dieses Gesetzes. Ich kriti- Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den siere, dass fast alle Fraktionen dieses Hauses ein in Tei- Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ len verfassungswidriges Gesetz beschlossen haben, und Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur appelliere an dieses Haus, in Zukunft vielleicht auch die Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes. Der Bedenken einzelner Abgeordneter schon bei der Debatte Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- in den Ausschüssen, aber auch hier im Plenum ernst zu fehlung auf der Drucksache 17/9435, den Gesetzentwurf nehmen. auf der Drucksache 17/9145 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Ich habe damals auch in meiner persönlichen Erklä- wurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um rung zur Abstimmung genau die Punkte, um die es heute das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält geht und um die es beim Bundesverfassungsgericht ging, sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung genannt. Ich bin deshalb auch nach Karlsruhe gefahren mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der und habe mir dort die Verhandlung angeschaut. Ich habe Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, ange- auch versucht, bei der Verhandlung des Bundesverfas- nommen. sungsgerichts mitzureden. Wir rufen nun die (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich weiß dritte Beratung immer noch nicht, ob der Kollege zustimmt oder nicht!) und Schlussabstimmung auf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Den vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgeschla- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der genen Änderungen sehe ich als einen positiven Schritt Gesetzentwurf mit den gerade schon vorgetragenen (B) an. Das Bundesverfassungsgericht hat ja geklärt, was Mehrheitsverhältnissen angenommen. (D) verfassungswidrig war, nämlich dieses Neunergremium, Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 37 auf: das bei Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit ein sehr weitgehendes Recht hier im Deutschen Bundestag be- Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta kommen hatte. Dass das nun korrigiert werden soll, ist Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, richtig und in Ordnung. Mir geht das aber nicht weit ge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE nug. LINKE Kampfkraft der Gewerkschaften stärken – Ich habe mir natürlich genau überlegt: Wie soll ich Anti-Streik-Paragraphen abschaffen heute abstimmen? Ich kann nicht übersehen – das sage ich auch zur Linken –, dass in das geltende Gesetz, das – Drucksache 17/9062 (neu) – nicht in Gänze aufgehoben worden ist, deutliche Verbes- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die serungen aufgenommen werden sollen. Ich habe lange Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre geschwankt, um deutlich zu machen, dass ich immer keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. noch nicht zufrieden bin. Die Kollegin Hinz hat dazu ei- nige wichtige Aspekte genannt. Ich werde aber trotzdem Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst zustimmen, weil ich sage: Es ist besser, dass das vorhan- die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. dene schlechte Gesetz nun konkret verbessert wird und (Beifall bei der LINKEN) die verfassungsrechtlichen Bedenken, die wir hatten und die das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, jeden- falls in Teilen aufgenommen werden, als das alte Gesetz Jutta Krellmann (DIE LINKE): ohne diese Änderungen fortgelten zu lassen, wenn ich Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Sie davon hätte überzeugen können, nicht zuzustimmen. ren! Meine Gewerkschaft, die IG Metall, steht mitten in einer Tarifrunde in der Metallindustrie. Die IG Metall Ich frage vor diesem Hintergrund die Linke: Warum fordert 6,5 Prozent mehr Lohn, „Gleicher Lohn für glei- stimmen nicht auch Sie zu? Sie sehen doch deutlich che Arbeit!“ – auch für Leiharbeitnehmer –, – das haben Sie offenbar auch im Haushaltsausschuss (Beifall bei der LINKEN) klargemacht – die Verbesserungen, die dieses Gesetz bringt. Wenn aus einem schlechten Gesetz ein besseres den Ausbau der Mitbestimmung von Betriebsräten beim Gesetz wird, dann kann man eigentlich nicht dagegen Einsatz von Leiharbeit und die unbefristete Übernahme sein. aller Auszubildenden. Diese Forderungen sind richtig Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20935

Jutta Krellmann (A) und lösen Probleme, die von dieser Regierung nicht ge- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (C) löst wurden. Stefan Rebmann [SPD]) Die Tarifverträge sind zum 31. März ausgelaufen. Ei- Die Arbeitgeber hingegen können heiß und kalt aussper- gentlich sollte in der vierwöchigen Friedenspflicht ein ren. neuer Tarifvertrag gefunden werden. In den letzten Ver- Eine heiße Aussperrung betrifft Beschäftigte, die im handlungen kamen die Arbeitgeber mit einem Angebot bestreikten Tarifgebiet in Betrieben arbeiten, die gerade um die Ecke: Sie bieten 2,57 Prozent mehr Lohn für nicht zum Streik aufgerufen sind. Eine kalte Aussper- zwölf Monate und – man höre – eine Arbeitszeitverlän- rung bedeutet, dass auch Beschäftigte ausgesperrt wer- gerung. den, die im Zweifel gar nichts mit dem Streik zu tun ha- ( [DIE LINKE]: Das ist ja wohl ben. Sie dürfen als Streik- bzw. Aussperrungsfolge nicht das Letzte!) mehr arbeiten. Bis zu 30 Prozent der Beschäftigten sollen künftig nach Wenn Beschäftigte infolgedessen keine Arbeit haben, dem Vorschlag der Arbeitgeber 40 Stunden pro Woche war das früher ein klassischer Fall von Kurzarbeit. Das arbeiten. wurde 1986 mit dem Anti-Streik-Paragrafen abgeschafft. Bei kalter Aussperrung stehen die Beschäftigten im Re- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Um Got- gen und bekommen nichts. Das ist ungerecht und unso- tes willen!) zial. – Genau, um Gottes willen. – Das ist kein Angebot; das (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner ist eine Frechheit. [Berlin] [FDP]: Das glauben Sie alles im (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der Ernst!) SPD) Das treibt einen Keil zwischen Streikende und heiß Aus- – Wissen Sie, derzeit arbeiten sie 35 Stunden, und künf- gesperrte und kalt Ausgesperrte. tig sollen sie 40 Stunden arbeiten. Das ist der Unter- Die Arbeitgeber ihrerseits bekamen durch den Anti- schied. Streik-Paragrafen ein zweites Kampfmittel in die Hand. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Entsetz- Sie können Hunderttausende Beschäftigte und ihre Fa- lich!) milien ohne jegliche Unterstützung vor der Türe stehen lassen. Würden Sie die Tarifverträge ein bisschen kennen und sich daran erinnern, was die Forderungen und Bedingun- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wann war (B) gen der IG Metall an dieser Stelle sind, dann wüssten Sie denn das das letzte Mal?) (D) das. Damit muss Schluss sein. Wenn die IG Metall im Mai in Ab nächster Woche wird die IG Metall versuchen, mit einen Streik gehen sollte, dann darf es nicht sein, dass Warnstreiks Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Wenn die Arbeitgeber Beschäftigte willkürlich kalt aussperren das nicht klappt, sind Urabstimmung und Streik geboten. können. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da muss überraschend, was Sie sagen!) ja selbst der Ernst lachen!) Streik ist unsere schärfste Waffe. Dem Streik der Be- Meine Damen und Herren, es ist und bleibt höchste schäftigten dürfen die Arbeitgeber Aussperrung entge- Zeit, dieses ungerechte und undemokratische Gesetz zu gensetzen. So will es die Rechtsprechung. kippen. Aussperrung gehört verboten. (Zuruf von der FDP: Das ist auch gut so!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) Streikrecht ist aber ein demokratisches Grundrecht. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aussper- Präsident Dr. Norbert Lammert: rung auch!) Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSU- Fraktion. Aussperrung ist Richterrecht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Mit einer Aussperrung verweigern die Arbeitgeber ihren Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Beschäftigten Arbeit, Lohn und Zutritt zum Betrieb. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nächste Woche ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit. Die Gewerkschaft ist klipp und klar gegen jede Form von Aussperrung. Im Tariflexikon der IG Metall heißt es (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau! Ge- – ich zitiere –: hen Sie auch hin?) Aussperrung ist ein willkürliches Kampfmittel der Er ist Anlass für eine Bestandsaufnahme darüber, wie Arbeitgeber. Sie stellt das Streikrecht in Frage und sich die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- muss solidarisch bekämpft werden. Sie ist Unrecht mer bei uns in Deutschland entwickelt. An diesem und gehört verboten. 1. Mai kann man seit langem wieder einmal feststellen: 20936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Die Bilanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Seit 26 Jahren gelten die derzeitigen Regelungen zum (C) in unserem Land entwickelt sich bislang gut, und das Streikrecht. Ich gebe ehrlich zu, dass auch ich damals die wird in diesem Jahr voraussichtlich auch so bleiben. entsprechenden Änderungen für problematisch gehalten habe. Aber nach 26 Jahren, in denen weder den Sozial- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) demokraten noch den Grünen – diese haben ja in letzter Nach Zeiten der Massenarbeitslosigkeit mit über Zeit auch regiert – noch der FDP noch uns eine Initiative 5 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 2005 ist die Ar- in den Sinn gekommen ist, die darauf abzielt, die beste- beitslosenzahl Ende März dieses Jahres auf 3,028 Mil- henden Regelungen zu ändern, lionen zurückgegangen. Das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang von 182 000; das stellt den (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bei euch hätte niedrigsten Märzwert seit 20 Jahren dar. Die Konjunk- mich das auch gewundert!) turdaten mit einem prognostizierten Wachstum um 0,7 muss man sagen: Das Problem, das die Linken auftun, bis 0,9 Prozent in diesem Jahr machen Hoffnung, ist eigentlich keines; denn wir können feststellen, dass (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Herr Weiß, es geht die Gewerkschaften unter den Bedingungen des gültigen um Streikrecht! Das ist ein vollkommen fal- Streikrechts sehr wohl erfolgreiche Tarifpolitik in sches Thema! Haben Sie eine falsche Rede da- Deutschland betreiben konnten, notfalls auch durch bei?) Wahrnehmung dieses Rechts. dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Die Tarifverhand- Ich empfinde das, was die Linke vorträgt, eigentlich lungen im öffentlichen Dienst sind vor diesem Hinter- als einen Angriff auf die IG Metall. grund zu einem, wie ich finde, guten und befriedigenden (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Ergebnis gekommen. Es ist davon auszugehen, dass auch die Tarifverhandlungen im Bereich der Metall- und Wenn eine Gewerkschaft erfolgreich gezeigt hat, dass sie Elektroindustrie zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die Interessen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- werden, übrigens ohne Mithilfe einer Bundestagsde- mer durchsetzen kann, dann ist es die IG Metall, die üb- batte, allein durch das engagierte Verhandeln auf Ge- rigens die weltgrößte Einzelgewerkschaft ist. Deswegen werkschafts- und Arbeitgeberseite. betrachte ich Ihre Aussage, Frau Krellmann, die IG Me- tall brauche die Hilfestellung der Linken in Form eines (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Antrags zur Änderung von bestehenden Gesetzen, um ruf von der LINKEN: Ha! Ha! Ha!) Tarifrunden erfolgreich zu bestehen, als einen Anschlag Im Vorfeld des Maifeiertages steht nicht mehr so sehr auf das erfolgreiche Verhandeln der IG Metall. Die Ge- die Sorge um den Arbeitsplatz im Vordergrund wie zu werkschafter bekommen das auch ohne Änderungsan- (B) (D) Zeiten von Rot-Grün. trag der Linken sehr gut hin. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ist das Ihre Rede (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zum 1. Mai, Herr Weiß? – Weiterer Zuruf des Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir ver- Abg. Stefan Rebmann [SPD]) trauen unseren Gewerkschaften!) Vielmehr diskutieren wir lebhaft über gute Arbeit, bes- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist sere Bezahlung und die Notwendigkeit, mehr Fachkräfte doch nicht, wie viele Tage für ein Tarifergebnis gestreikt zu gewinnen. Ich finde, das ist ein Fortschritt, der sich worden ist, sondern entscheidend ist, welche Qualität der auch im 1.-Mai-Motto, das die Gewerkschaften ausgege- Tarifvertrag hat, der unter dem geltenden rechtlichen ben haben, widerspiegelt: „Gute Arbeit für Europa – Ge- Rahmen erzielt wurde. Wenn die Ergebnisse stimmen rechte Löhne, Soziale Sicherheit“. und wir zugleich in Europa zu den Ländern gehören, die (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Gehen Sie die wenigsten Ausfalltage durch Streiks haben, spricht einmal hin und hören Sie genau zu! – Weiterer das doch letztlich für ein gutes Streikrecht und nicht für Zuruf von der LINKEN: Keine Armutslöhne! ein schlechtes Streikrecht. Die daraus resultierenden Gerechte Löhne!) Standortvorteile der deutschen Wirtschaft sind nicht zu unterschätzen, und sie wirken sich direkt positiv auf den Ich finde, dieses Motto können wir auch über unser Re- Arbeitsmarkt und zugunsten der Arbeitnehmerinnen und gierungshandeln schreiben. Das ist ein gutes 1.-Mai- Arbeitnehmer aus. Motto, das unsere Unterstützung hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Dr. Norbert Lammert: neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Herr Kollege Weiß, darf der Kollege Ernst eine Zwi- Gehen Sie einmal hin! Sie werden ausgepfif- schenfrage stellen? fen!) Ich finde es sehr verwunderlich, dass der Linken in ei- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): ner solchen Situation nichts anderes zum 1. Mai einfällt, Bitte schön. als eine alte Klamotte aus der Kiste herauszuholen, die kaum noch jemandem in Erinnerung ist. Klaus Ernst (DIE LINKE): (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Schlimm ge- Herr Weiß, danke für die Möglichkeit, Ihnen eine nug!) Frage stellen zu dürfen. Es wird wirklich eine Frage. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20937

Klaus Ernst (A) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist nicht wegen wäre es eigentlich notwendig, Initiativen für (C) selbstverständlich!) mehr Tarifbindung zu starten, statt eine Initiative zur Änderung des Streikrechts. Erstens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsa- che, dass wir in der Bundesrepublik mit die wenigsten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Streiktage haben – nur der Vatikanstaat und die Schweiz neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: haben noch weniger –, etwas damit zu tun hat, dass die Zu den anderen Fragen sagen Sie nichts! Dann Löhne in der Bundesrepublik Deutschland, gemessen an kann ich mich setzen! Es waren drei Fragen! – unseren europäischen Partnern, prozentual in den letzten Weitere Zurufe der Abg. Jutta Krellmann [DIE Jahren deutlich gesunken sind? LINKE] und Beate Müller-Gemmeke [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das müsste doch den gegenteiligen Effekt haben!) – Herr Ernst, Sie wissen, dass letztendlich die entspre- chenden Klagen, die bis vor die obersten Gerichte gin- Zweitens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsa- gen, abgewiesen wurden und die Regelung von 1986 für che, dass während des Streiks 1984 in der Metallindus- nicht rechtswidrig oder gar verfassungswidrig erklärt trie in Hessen und in Baden-Württemberg die Regelung wurde. Deshalb finde ich es müßig, dass Sie solche Fra- zum Kurzarbeitergeld verändert wurde, was zur Folge gen stellen. hatte, dass von kalter Aussperrung betroffene Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer plötzlich kein Kurzarbeiter- Ich will zum Schluss zusammenfassen. Wenn man geld mehr erhalten haben, maßgeblich die Stärke der sich die Geschichte unseres Landes und die Geschichte IG Metall geschwächt und damit das Ergebnis der Ver- der Tarifauseinandersetzungen anschaut, dann sieht man, handlungen negativ beeinflusst hat? Können Sie sich das dass die Fakten für sich sprechen. Wir haben ein gutes vorstellen? und funktionierendes Streikrecht. Das Streikrecht ist in der Tat ein Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und Ar- Die dritte Frage, die ich anschließen möchte, lautet: beitnehmer, mit dem sie ihre Interessen kraftvoll durch- Glauben Sie wirklich, dass die Tatsache, dass das Streik- setzen können. recht unter Ihrer Regierung – Herr Blüm war damals Minister – verändert wurde und für rechtens erklärt (Zuruf der Abg. Jutta Krellmann [DIE wurde, was das Bundessozialgericht vorher moniert LINKE]) hatte – das Vorgehen des damaligen Präsidenten der Unionsgeführte Bundesregierungen sind und bleiben Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, ist ja vom Bun- der beste Garant dafür, dass wir in Deutschland ein faires dessozialgericht für rechtswidrig erklärt worden –, ohne Streikrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie ha- (B) Einfluss auf die Kampfkraft der Gewerkschaften geblie- ben. (D) ben ist? Ob Sie das glauben, möchte ich gerne von Ihnen hören. Wir wünschen denen, die verhandeln, viel Erfolg. Wir sind uns als Politik, als Bundestag und – das darf ich (Beifall bei der LINKEN) auch sagen – als die die Regierung tragende Koalition ei- nig: Wir wollen an dem bewährten Streikrecht festhal- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): ten. Wir halten an der Tarifautonomie fest. Wir glauben, Verehrter Herr Kollege Ernst, ich finde, dass Sie das ist der beste Weg zu guten Löhnen. Dazu braucht es Rückschlüsse ziehen, die nicht zutreffen. Umgekehrt ist keine politische Einmischung. es richtig. Vielen Dank. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, eben!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Problem niedriger Entlohnung haben wir in all den neten der FDP) Bereichen, in denen wir leider keine Tarifbindung haben oder nicht mehr haben, wo also gar nicht gestreikt wird, Präsident Dr. Norbert Lammert: weil keine Tarifverhandlungen stattfinden. Da liegt das Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für Problem. die SPD-Fraktion. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: In anderen Berei- (Beifall bei der SPD) chen haben wir das doch auch!) In den Bereichen, wo wir starke Gewerkschaften ha- Ottmar Schreiner (SPD): ben, gerade im Metall- und Elektrobereich oder im Be- Herr Präsident! Die Debatte erinnert sehr stark an reich der Chemie, haben wir in Deutschland beste ähnliche Vorgänge in Studentenparlamenten, wie ich sie Löhne, die sich auch im internationalen Vergleich sehen früher gewohnt war. Dort lernt man, entweder am Thema lassen können. Das zeigt: Meine Behauptung stimmt. strikt vorbeizureden oder ein Thema taktisch zu miss- Dort, wo Tarifverhandlungen stattfinden und eine Tarif- brauchen. bindung vorhanden ist, wo die Bereitschaft von Arbeit- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, genau!) gebern und Arbeitnehmern besteht, Tarifverträge zu un- terschreiben, haben wir in Deutschland eine gute Beides kann man dort von der Pike auf lernen. Im Bun- Entlohnung. Unser Problem ist vielmehr, dass wir in vie- destag sollte man vielleicht nicht so umfänglich davon len Bereichen eine zu geringe Tarifbindung haben. Des- Gebrauch machen. 20938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Ottmar Schreiner (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was werden Sie beitslosenstatistik, die sehr stark beschönigt, und die (C) uns denn heute bieten, Herr Schreiner?) Statistik der Unterbeschäftigung, die näher an den Reali- täten ist als die erste. – Herr Kolb, was Sie bieten werden, kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Sie werden gleich bieten, dass das ganze Dann, Herr Kollege Weiß – das kann ich Ihnen auch Elend der Republik, soweit es noch welches geben nicht so ganz ersparen –, wünschten Sie den Verhandeln- sollte, auf Rot-Grün zurückzuführen ist. den – ich nehme an: im Metallbereich – viel Erfolg. Wir wünschen ausdrücklich der IG Metall viel Erfolg. Das ist (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit dieser Ver- der Unterschied. mutung liege ich meistens auch richtig!) Das ist Ihre Meisterarie, die Sie von morgens bis abends (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie singen. Sie stehen sogar nachts um drei auf, um sie zu bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE singen. GRÜNEN) (Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem Es gibt einen handfesten Nachholbedarf der Arbeitneh- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) merschaft in Sachen Lohn. Wenn Sie sich die europäi- schen und die internationalen Statistiken anschauen, Insofern können Sie eigentlich sitzen bleiben und mir stellen Sie fest: In keinem anderen Land hat es eine ver- Ihre Redezeit zur Verfügung stellen. Ich würde sie ver- gleichbar zurückhaltende – um es freundlich zu formu- mutlich etwas sinnvoller gebrauchen. lieren – Lohnentwicklung gegeben wie in Deutschland. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Wir haben über die letzten 10 oder 15 Jahre im Durch- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schnitt stagnierende Löhne. GRÜNEN) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sinkende!) Herr Kollege Weiß, Sie haben im ersten Abschnitt Ih- Vielleicht sollten Sie mal wieder die Grundprinzipien rer Rede die Grundregel jedes Studentenparlaments der sozialen Marktwirtschaft studieren. Dass ich auf meisterhaft befolgt, nämlich am Thema vorbeizureden. meine älteren Tage mal zum Fan von Ludwig Erhard Sie haben den Arbeitsmarkt über den grünen, roten und werden würde, hätte ich nie geglaubt. In dem Buch Wohl- gelben Klee gelobt. Sie haben gesagt, nicht mehr die stand für Alle – der Titel heißt übrigens ausdrücklich Sorge um den Arbeitsplatz stehe an diesem 1. Mai bei nicht „Wohlstand für wenige Reiche“, Herr Kollege den Menschen im Mittelpunkt, sondern möglicherweise Kolb, sondern Wohlstand für Alle – steht bereits auf den andere Sorgen. ersten Seiten, dass die jährliche Steigerung der Arbeits- (B) Ich kann Ihnen sagen: Nicht nur in den Betrieben und löhne entsprechend der steigenden Arbeitsproduktivität (D) in vielen Unternehmungen, sondern auch an den Hoch- ein unabdingbarer Bestandteil der sozialen Marktwirt- schulen ist die Sorge um den Arbeitsplatz die Hauptsorge. schaft ist. Lieber Kollege Weiß, ich würde Ihnen drin- Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Ich war am Montag gendst empfehlen, neben Ihrer üblichen Lektüre gele- voriger Woche auf Einladung eines Kollegen an der Uni- gentlich mal wieder Ludwig Erhard zur Hand zu nehmen. versität Mannheim und habe dort mit Studenten disku- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem tiert. Das, was den Kern dieser Debatte ausmachte, war BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Sorge der Studentinnen und Studenten, dass sie nach einem erfolgreichen Abschluss, wenn es gut geht, nur ei- Was den Antrag der Linkspartei anbelangt, kommt nen zeitlich befristeten Job bekommen, vielleicht für ein auch nicht so richtig Freude auf; denn mein Eindruck ist, oder zwei Jahre, dann vielleicht eine Verlängerung oder dass der Antrag nicht wirklich ernst gemeint ist. Das hat auch nicht, und, wenn es schlecht geht, einen miserabel jetzt nichts mit Ihrem Namen zu tun, Herr Kollege Ernst, bezahlten Praktikantenjob bekommen. sondern das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Sie Das heißt, die Prekarisierung von Arbeit, instabile, mit diesem Antrag umgehen. unsichere und ungeschützte Arbeit treibt die Menschen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt!) wirklich um. Wie soll denn ein 30-jähriger junger Mann oder eine 28-jährige junge Frau sich verantwortungsvoll Der Antrag wurde ja nicht ins normale parlamentarische für Kinder entscheiden können, wenn sie nicht wissen, Verfahren gebracht. Da hätte man darüber reden können, ob sie in zwei Jahren das Kind noch angemessen kleiden ob sich seit 1986 Dinge so geändert haben, dass mögli- und ernähren können? cherweise die Bewertung der Vorgänge etwas anders ausfallen müsste, oder ob sie sich nicht geändert haben. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Diesen Weg wählen Sie ja nicht. Sie wollen keine gründ- Sie können hier nicht sagen: Die Sorge um den Arbeits- liche Beratung im Ausschuss. Sie verzichten auf eine platz ist gewissermaßen aus dieser Republik vertrieben. – Anhörung von Sachverständigen. Hier wird ein Schnell- Dem ist nicht so. schuss abgefeuert, der den Eindruck nahelegt: Es handelt sich um ein taktisches Manöver. Es geht in erster Linie Richtig ist der Hinweis, dass wir einen Rückgang der nicht um die Sache, sondern darum, irgendwo im Vor- Arbeitslosigkeit haben. Das begrüßen wir; das ist auch feld des 1. Mai Punkte zu gewinnen. anzuerkennen. Im Übrigen sollte man sich die Statisti- ken aber einmal etwas näher angucken. Nicht ganz zu- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: 1.-Mai- fällig werden ja zwei Statistiken geführt, nämlich die Ar- Klaumauk, sonst nichts!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20939

Ottmar Schreiner (A) – Ja, dieser Eindruck drängt sich auf. – Deshalb wird es Vizepräsident Dr. h. c. : (C) Sie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag nicht zu- Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage stimmen. Für diese taktischen Vorgänge habe ich wenig des Kollegen Ernst? Verständnis. In der Sache haben wir keinen Grund, unsere Position Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): zu verändern. Es wäre hilfreich gewesen, wenn man das Ja. normale parlamentarische Verfahren angewandt hätte und wir in Ruhe hätten beraten können, um dann eine Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: angemessene Bewertung der Vorgänge abgeben zu kön- nen. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten. Bitte schön. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Klaus Ernst (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD) Herr Dr. Kolb, das ist doch jetzt wirklich nicht Ihr Ernst. Sie bemängeln, wenn ich es richtig verstehe, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: wir seit der Änderung des Streikrechts weniger Aussper- Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die rungstage haben. FDP-Fraktion. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein, er (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stellt es fest!) – Okay; er stellt fest, dass wir weniger Aussperrungstage Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): haben. – Wollen Sie tatsächlich behaupten, dass die Ar- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der beitgeber doch bitte schön auch hätten aussperren kön- Volksmund sagt: Alles neu macht der Mai. nen, obwohl gar nicht gestreikt wurde? Dann stellen Sie (Ottmar Schreiner [SPD]: Das trifft bei Ihnen jetzt doch etwas auf den Kopf. Darauf möchte ich aus- nicht zu!) drücklich hinweisen. Sie äußern sich dahin gehend, dass Aussperrung als Angriffsaussperrung nicht mehr statt- Das mag im Großen und Ganzen gelten. Für die Anträge findet. Das wäre aber nun wirklich das Letzte, was diese der Linken gilt es jedenfalls nicht. Sie bleiben bei ihrer Republik vernünftigerweise vertragen könnte. Deshalb Linie und bei ihrem alten Paradigma: Die Welt ist finde ich dieses Argument in der Debatte absolut abwe- schlecht, die Unternehmen und die Arbeitgeber sind gig. schlecht, und alles wird nur zulasten der Arbeitnehmer (B) gemacht. Sie müssten darauf hinweisen, dass insbesondere in (D) der Metallindustrie – die IG Metall hat diese Änderung (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber die FDP ist des Streikrechts ganz besonders getroffen, weniger Verdi gut!) oder andere Gewerkschaften, weil die Fernwirkung in Aber dieses Paradigma ist von der Realität unendlich der Metallindustrie logischerweise höher ist als in ande- weit entfernt, Herr Kollege Ernst. ren Bereichen – Folgendes gilt: Man darf zwar noch streiken, tut es aber nicht, weil es für die Mitglieder pro- Ich habe mich wie der Kollege Schreiner gefragt – es blematisch wird. Ich will das mit einem Vergleich ver- ist das Überraschende bei der heutigen Debatte, dass wir deutlichen: Wenn Sie den Menschen sagen, dass sie nach da durchaus zum gleichen Ergebnis gekommen sind –: wie vor von einem Zehnmeterbrett ins Schwimmbecken Was soll dieser Antrag eigentlich? Ich habe mir einmal springen dürfen, dann können sie von dieser Möglichkeit die Mühe gemacht, die Zahlen zu den Streiks und Aus- Gebrauch machen. Wenn Sie aber vorher das Wasser aus sperrungen der letzten 60 Jahre heranzuziehen. Wenn dem Schwimmbecken herausgelassen haben, empfiehlt Sie in die Statistik schauen, werden Sie feststellen, dass es sich nicht, hinunterzuspringen. Genau diese Situation wir vor 1986 eine große Zahl aufgrund von Aussperrun- besteht im Zusammenhang mit dem Streikrecht in der gen ausgefallener Arbeitstage hatten. Zur Zeit der Gel- Bundesrepublik Deutschland. tung des alten Rechts, das Sie wieder einführen wollen, gab es also viele aufgrund von Aussperrungen ausgefal- (Beifall bei der LINKEN) lene Arbeitstage. Seitdem wurde nur noch marginal von dem Mittel der Aussperrung Gebrauch gemacht. Deswe- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): gen ist auch die Frage des Kollegen Lindner berechtigt, wann überhaupt das letzte Mal ausgesperrt worden ist. Herr Kollege Ernst, da Sie umfassend gefragt haben, darf ich umfassend antworten. Wenn Sie sich die Zahlen (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) noch einmal anschauen, werden Sie feststellen, dass die – Das ist die Statistik; Statistisches Taschenbuch des Veränderungen im Streikgeschehen nicht so gravierend BMAS auf der Basis der Zahlen des Statistischen Bun- sind. desamtes. Suchen Sie sich diese Statistik bitte heraus. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: In der Metall- Dann werden Sie feststellen: Das Phänomen Aussper- industrie!) rung ist in Deutschland real praktisch nicht existent. – Das sind die gesamtwirtschaftlichen Zahlen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Im Hand- buch des Kleinmarxisten existiert es!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben!) 20940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Sie werden vielmehr feststellen, dass das Streikgesche- beitnehmer leisten. Im Kern geht es um die Neutralitäts- (C) hen im Verlauf der Jahre doch ziemlich gleich geblieben pflicht des Staates in Auseinandersetzungen zwischen ist – wenngleich wir feststellen können, dass wir in den Tarifpartnern. letzten Jahren doch relativ wenige Streiks in Deutsch- Hier muss ich mich wiederholen: Im aktuell gelten- land hatten, was vielleicht auch mit der Wirtschafts- und den Recht ist es in vorbildlicher Weise gelungen, diese Finanzkrise zu tun hat. Über lange Zeiträume gesehen ist Neutralität zu gewährleisten. Praktisch geschieht dies meine Aussage aber richtig. Vor 1986 hatten wir viele auf der Basis von Richterrecht; auch das hat die Kollegin Streiks und viele Aussperrungen. Nach 1986 hatten wir Krellmann kritisiert. Das ist einfach Ausfluss der Tat- weiterhin viele Streiks, aber keine Aussperrungen. sache, dass wir im Bereich des Tarifvertragsrechts auf Ich versuche ja nur, Ihren Ansatz zu verstehen. Wenn eine Normierung im Gesetz – unabhängig davon, wer in das, was Sie offensichtlich umtreibt, richtig wäre, diesem Land regiert hat – weitgehend verzichtet haben. müsste man doch sagen: Nachdem 1986 das Recht ge- In Einzelfallentscheidungen zeigte sich, was geht und ändert worden war – aus Ihrer Sicht zulasten der Ge- was nicht geht. werkschaften –, haben die Gewerkschaften irgendwann Wir sind insgesamt auf einem guten Weg. Ich glaube, einmal versucht, zu streiken, und sind dann von flächen- dass die Arbeitnehmer in Deutschland – in der Debatte hafter Aussperrung der Arbeitgeber getroffen worden. ist der wichtige Aspekt Arbeitsplatzsicherheit genannt Weil sie sich das nicht leisten konnten, sind sie zurück- worden – gerade in dieser schwierigen Zeit, gerade auch geschreckt und haben es fortan nicht mehr probiert. im internationalen Vergleich sagen können: Wir haben Dies spiegelt sich aber nicht in den Statistiken wider. eine stabile Wirtschaftsordnung und stabile Unterneh- Mit der Ersetzung des § 116 AFG durch den jetzigen men in Deutschland. – Das kommt gerade den Arbeit- § 160 SGB III ist erreicht worden, dass die Spieße wie- nehmerinnen und Arbeitnehmern zugute. der gleich lang sind. Ich finde, dass wir eine ausgewo- (Stefan Rebmann [SPD]: Bei guter Bezah- gene Verteilung der Kampfkraft zwischen Gewerkschaf- lung!) ten und Arbeitgebern in Deutschland vorfinden. Diese ausgewogene Verteilung hat zu entsprechenden Ergeb- – Bei guter Bezahlung. Danke für den Zwischenruf. Ich nissen geführt. will gerne noch ausführen: Es gibt eine gute Bezahlung, weil wir gute Gewerkschaften haben. Ich möchte Ihnen noch ein Zweites sagen. Vorhin gab es einen Zwischenruf, dass wir so niedrige Löhne haben, Einen anderen Aspekt will ich noch nennen: Gott sei weil die Gewerkschaften so selten streiken. Es müsste Dank ist es so, dass entgegen vielen Unkenrufen die pre- doch eigentlich umgekehrt sein: Wenn wir niedrige käre Beschäftigung in Deutschland nicht der Normalfall (B) Löhne haben, dann müssten die Gewerkschaften doch ist. Der Normalfall ist immer noch ein Vollzeitarbeits- (D) oft streiken. Aber offensichtlich gibt es bei uns Gewerk- verhältnis mit einer guten Absicherung und einer guten schaften, die Gott sei Dank wissen, was gesamtwirt- Entlohnung durch Tarifverträge. 60 Prozent der Arbeit- schaftlich geboten ist, und die sich in den letzten Jahren nehmer sind direkt tarifgebunden, 20 Prozent sind durch mit ihren Forderungen am Bereich des Möglichen orien- Bezugnahme auf Tarifverträge tarifgebunden; das sind tiert haben. insgesamt 80 Prozent, also vier Fünftel der Arbeitneh- mer. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Das zeigt: Unser System ist gut. Den Handlungsbe- – Herr Ernst, versprochen, ich schicke Ihnen die Zahlen darf, den Sie in Ihrem Antrag mühsam zu konstruieren ins Büro. Schauen Sie sich diese in Ruhe an. Wenn der versuchen, gibt es nicht. Die schon lange zurückliegende 1. Mai vorbei ist und Sie in sich gehen, werden Sie fest- Änderung des § 116 AFG hat nicht annähernd die Fol- stellen, dass das, was ich gesagt habe, gar nicht so ver- gen gezeigt, die Sie hier beschreiben. Aussperrungen kehrt ist. Ihre Ansätze kann man nur schwer nachvollzie- sind aus anderen Gründen aus dem Rahmen des Arbeits- hen. kampfes herausgefallen. Die Gewerkschaften und die Ich will darauf hinweisen, dass im alten wie im neuen Arbeitgeber führen ihre Verhandlungen anders, aber im- Recht, also sowohl in § 116 AFG als auch in § 160 mer zum Wohle unserer Volkswirtschaft. Ich hoffe, das SGB III, der Kernsatz stand: bleibt auch so. Durch die Leistung von Arbeitslosengeld darf nicht Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. in Arbeitskämpfe eingegriffen werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dazu gehört auch die Leistung von Kurzarbeitergeld. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Auch der Entzug Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die von Kurzarbeitergeld!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das ist ein wichtiger Punkt. Der Staat darf die Unterneh- men nicht subventionieren, wenn sie zum Beispiel in- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- folge wirtschaftlicher Probleme Umsatzeinbußen erlei- NEN): den oder wenn sie bestreikt werden. Aber der Staat darf Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- auch nicht mit Mitteln der Beitragszahler – das war da- nen und Kollegen! Es waren die Streiks um die 35-Stun- mals die Diskussion – Unterstützung für streikende Ar- den-Woche, die zum Antistreikparagrafen geführt haben, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20941

Beate Müller-Gemmeke (A) und es war Norbert Blüm, der das gegen den erbitterten ständlich eine große Herausforderung. Insbesondere die (C) Widerstand der Gewerkschaften durchgedrückt hat. Der IG Metall musste ihre Streikstrategie verändern und zu- damalige schwarz-gelbe Angriff auf die Streikfähigkeit nehmend die immer stärkeren Verflechtungen, die lan- war heftig und hat insbesondere die IG Metall und die gen Lieferketten und eventuelle Fernwirkungen beim IG BCE getroffen. Aber das Vorhaben ist missglückt. Arbeitskampf beachten. Und doch haben gerade die Die Gewerkschaften haben sich auf die neue Situation IG Metall und die IG BCE stets gute Lohnabschlüsse er- eingestellt, und sie sind heute noch immer hervorragend zielt, organisiert. Dieser Leistung gebührt unsere Anerken- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) nung und unser Respekt. aber, Herr Kolb, sie haben in den letzten zehn Jahren den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verteilungsneutralen Spielraum oft nicht ausschöpfen sowie bei Abgeordneten der SPD) können. Heute aber kommt die Linke und zaubert diese Ver- Jetzt stellt sich die Frage: Liegt das ausschließlich am gangenheit aus dem Hut. Ich bin wahrlich viel mit den Antistreikparagrafen, oder gibt es auch andere Gründe? Gewerkschaften im Gespräch. Ich kann jedoch keinen Die Antworten auf diese Fragen sind notwendig, wenn aktuellen Anlass ausmachen, dieses Thema auf die Ta- man die Gewerkschaften stärken will. Auch diese inhalt- gesordnung zu setzen, es sei denn, man möchte während liche Diskussion können wir wegen der anstehenden So- der laufenden Tarifrunde und vor dem 1. Mai einen sym- fortabstimmung nicht führen. Wieder muss ich sagen: bolischen Antrag stellen. Eine ernsthafte Debatte sieht anders aus. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist die Mein Fazit lautet: Für dieses Thema wäre ein norma- Triebfeder!) les parlamentarisches Verfahren mit Anhörung angemes- Das wird aber – das möchte ich mit aller Deutlichkeit sa- sen gewesen. Das Thema ist komplex und übrigens auch gen – diesem ernsten Thema nicht gerecht. hochspannend, zumal der Antistreikparagraf damals ge- sellschaftlich extrem umstritten war und die Gemüter be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wegt hat. Sie, die Linke, machen aus all dem leider nur bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) ein Spektakel. Deshalb werden auch wir Grünen uns ent- Für uns Grüne ist die Tarifautonomie ein hohes Gut. halten. Wir wollen bei diesem Spiel nämlich nicht mit- Die Tarifautonomie funktioniert natürlich nur dann, machen. wenn ein Gleichgewicht der Kampfmittel gegeben ist. In Vielen Dank. diesem Sinne ist die damalige Änderung natürlich unzu- (B) reichend; denn mit der kalten Aussperrung – eben ohne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Kurzarbeitergeld – wurde die Arbeitgeberseite zulasten sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Gewerkschaften gestärkt. Herr Kolb, es stimmt ein- der SPD) fach nicht, dass – so wie Sie es ausgedrückt haben – die Spieße gleich lang sind. Deshalb hat das Bundesverfas- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sungsgericht den § 146 SGB III als „gerade noch verfas- Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU- sungsgemäß“ bezeichnet. Es hat zwar nicht die Rote, Fraktion. aber doch die Gelbe Karte gezogen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Heute fordert die Linke einfach nur die Wiedereinfüh- der FDP) rung der alten Regelung. Wenn wir aber Chancengleich- heit, Kampfparität und auch Neutralitätspflicht der Bun- Paul Lehrieder (CDU/CSU): desagentur für Arbeit herstellen wollen, dann müssen wir angesichts unserer verflochtenen Wirtschaft die mit- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! telbare Streikbetroffenheit sowie die kalte Aussperrung Liebe Kollegen! Liebe Frau Krellmann, ich habe mit beurteilen und definieren. Es müssen also Kriterien ent- dem Weltbild der Linken immer wieder meine Schwie- wickelt werden, die auch zeitgemäß sind. rigkeiten. Sie haben in Ihrer Eingangsrede ausgeführt: Streikrecht ja, Aussperrungsrecht nein. Das heißt, bei Ih- Eine solche Auseinandersetzung ist in der Tat nicht nen geht Arbeitskampf so: Der eine kämpft mit Waffen, einfach. Sie müsste im parlamentarischen Verfahren aus- der andere ist unbewaffnet. Wenn das ernsthaft Ihr Welt- führlich mit den Sozialpartnern, das heißt mit den Ge- bild sein soll, liebe Frau Krellmann, dann zeigt das, wie werkschaften und mit der Wirtschaft, geführt werden. weit Sie von einem fairen Arbeitskampf entfernt sind. Diese spannende Diskussion soll jedoch nach dem Wil- len der Linken nicht stattfinden, da wir heute sofort ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmen werden. Ich sagte es schon einmal: Das wird Frau Krellmann und Herr Birkwald, Sie können es diesem komplexen Thema nicht gerecht. nicht wissen, aber von Herrn Ernst hätte ich erwartet, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass er es weiß: Am 8. März 2006, also in der letzten sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wahlperiode, hatte die Linke, ebenfalls im Vorfeld des der SPD) 1. Mai, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/856, Der Antistreikparagraf und die veränderten Kräfte- eingebracht, wobei der Inhalt absolut gleich mit dem des verhältnisse waren für die Gewerkschaften selbstver- heute diskutierten Antrags ist. 20942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Paul Lehrieder (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, da hätten sie sich Kräfte nicht gestört und die Chancengleichheit der Tarif- (C) mal was Neues einfallen lassen müssen!) vertragsparteien in dieser Auseinandersetzung gewahrt werden. Die Regelung des § 160 SGB III, liebe Kolle- Und täglich grüßt das Murmeltier, sage ich da nur, Herr ginnen und Kollegen der Linken, ist kein weiteres Ernst. Letztendlich kommt nichts dabei herum, wenn Sie Kampfmittel der Arbeitgeber zur Beschneidung der spätestens alle sechs Jahre die alte Soße aufwärmen, nur Streikmöglichkeiten der Gewerkschaften, wie Sie es um als Gewerkschafter ein Thema für eine Auseinander- gerne darstellen, sondern sie sichert vielmehr die Neu- setzung vor dem 1. Mai zu haben. tralität des Staates und der Bundesagentur für Arbeit bei Aus fachlicher Sicht, lieber Herr Ernst, besteht eben- Arbeitskämpfen und folgt somit dem Gebot aus Art. 9 falls keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutrali- Abs. 3 Grundgesetz. tätspflicht der Bundesagentur im Arbeitskampf zu verän- Lieber Kollege Ottmar Schreiner, in diesem Fall teile dern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1995 die ich Ihre Auffassung – sonst sind wir nicht immer einer geltende Regelung für verfassungsgemäß erklärt; Ent- Meinung –, dass der heute zur Abstimmung stehende scheidung vom 4. Juli 1995, Aktenzeichen 1 BvF 2/86; Antrag, der inhaltlich gar nicht beraten werden soll, vielleicht möchten Sie das nachlesen. Das Gericht hat letztendlich nur dazu dient, ein Buhei um den 1. Mai zu dabei gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur machen. Lieber Klaus Ernst, es wird Sie nicht überra- Wahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sich schen, dass wir diesen Antrag ablehnen. zeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung struktu- relle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten, Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün- die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und sche Ihnen einen guten Nachhauseweg. Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dafür gibt es keinerlei Hinweise. Die immer wiederkehrende Diskussion um den soge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nannten Streikparagrafen – ich verweise auf Ihren heuti- Ich schließe die Aussprache. gen Antrag – hat Züge einer ideologischen Debatte; Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der nichts anderes ist das, was Sie heute hier aufführen. Die Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9062 (neu) mit tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986 dem Titel „Kampfkraft der Gewerkschaften stärken – hingegen zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaf- Anti-Streik-Paragraphen abschaffen“. Wer stimmt für ten von der gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält wird. In der in erster Linie betroffenen Metall- und Elek- sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko- (B) troindustrie – Frau Krellmann, jetzt müssen Sie tapfer alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei (D) sein – beklagen regelmäßig die Arbeitgeber, dass die Ta- Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. rifergebnisse tendenziell zu ihren Lasten gehen. Herr Schreiner, Sie sind der Auffassung, es sei zu wenig Lohn Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf: ausgehandelt worden. Auch in der Metallindustrie be- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ steht durchaus die Tendenz, die in den letzten Jahren ge- CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- mäßigte Lohnzurückhaltung zumindest zum größten Teil setzes zur Erweiterung der jugendgerichtli- aufzugeben. chen Handlungsmöglichkeiten Pünktlich zum 1. Mai – ich habe es bereits ausgeführt – präsentieren Sie uns einen Antrag, mit dem Sie von der – Drucksache 17/9389 – Bundesregierung fordern, lieber Herr Ernst, einen Ge- Überweisungsvorschlag: setzentwurf vorzulegen, mit dem § 146 SGB III den Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Wortlaut des früheren § 116 Arbeitsförderungsgesetz in Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Fassung von 1969 erhält. Die 1986 von der unions- geführten Bundesregierung beschlossene Änderung des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die § 116 AFG ordnet das Ruhen des Anspruchs auf Kurz- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre arbeitergeld dann an, wenn streik- und aussperrungsbe- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dingte Produktionsausfälle dazu beitragen, dass in einem Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jörg nicht umkämpften Betrieb die Arbeit ebenfalls ruhen van Essen für die FDP-Fraktion das Wort. muss. Die Ansprüche der Versicherten ruhen also, wenn und soweit durch die Gewährung von Leistungen der Ar- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beitsförderung in den Arbeitskampf eingegriffen würde. der CDU/CSU) Das ist unser Verständnis von Parität, von Ausgewogen- heit, von Waffengleichheit im Arbeitskampf. Jörg van Essen (FDP): Der Leistungsanspruch ist im Grundsatz ausgeschlos- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sen, wenn die Arbeitnehmer erwarten dürfen, am Ergeb- haben heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs zur nis des Arbeitskampfes zu partizipieren. All dies hätte Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmög- Ihnen bei Durchsicht der gesetzlichen Bestimmungen lichkeiten. Die Überschrift ist schon Programm: Es soll durchaus auffallen können. Hierdurch sollen gerade das eine Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungs- Gleichgewicht der in einem Arbeitskampf wirkenden möglichkeiten sein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20943

Jörg van Essen (A) Wenn ich mir die drei Elemente des Gesetzentwurfs hängen. Bisher sehen wir, dass die Strafaussprüche in (C) anschaue, habe ich das Gefühl, dass das Element der ganz vielen Fällen erheblich unter der aktuellen Höchst- Vorbewährung in der juristischen Diskussion weitge- grenze von 10 Jahren Freiheitsstrafe bleiben. Insofern hend unkritisch betrachtet wird. Wir haben da sehr unter- sind wir hinter den Forderungen zurückgeblieben, die schiedliche Handhabungen durch Jugendgerichte. Bei zum Teil in der Öffentlichkeit und auch von Länderseite diesem Instrument, zu dem es bisher keine rechtliche erhoben worden sind. Ich glaube, dass das, wie gesagt, Regelung im Jugendgerichtsgesetz gibt – es wird manch- ein sehr vernünftiger Vorschlag ist. mal zur Abschreckung angewandt, manchmal anders –, Was insbesondere in der interessierten Öffentlichkeit ist es, wie wir wissen, wichtig, klare Leitlinien und Be- den meisten Widerspruch hervorgerufen hat, ist der stimmungen zu haben. Ich denke, dass das mit diesem Warnschussarrest. Das wundert mich wirklich sehr; denn Vorschlag erreicht wird: Es wird klargemacht, wo die wir verlassen nicht die pädagogische Ausrichtung des Vorbewährung, von der die Jugendgerichte jetzt schon Jugendrechts. Es bleibt bei der bisherigen und, wie ich Gebrauch machen, angewandt werden kann und wo das finde, bewährten pädagogischen Ausrichtung des Ju- nicht zulässig ist. gendrechts. Der zweite Punkt ist dann schon strittiger: die Frage Dass sie richtig, gut und vernünftig ist, sehen wir an der Anhebung der Höchststrafe bei Straftaten von Ju- folgendem Umstand: Ein ganz großer Teil der Jugendli- gendlichen und Heranwachsenden. Eine Anhebung ist chen, die vor Gericht stehen, stehen nur ein einziges Mal immer wieder gefordert worden, auch – das muss man vor Gericht, danach nie wieder. Das zeigt: Was von den sagen – von Gerichten. Insbesondere wenn bestialische Jugendrichtern als Maßnahme ausgesprochen wird, ver- Mordtaten begangen worden sind, haben die Gerichte fehlt seine Wirkung offensichtlich nicht. Das spricht im gesagt, dass die bisherige Höchststrafe im Jugendrecht, Übrigen auch für unsere Jugend; das zeigt nämlich, dass nämlich eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren, der Schuld sie lernfähig ist. Wenn jemand einmal einen Fehler ge- nicht angemessen ist. macht hat, dann nimmt er es sich zu Herzen und begeht Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier vorschla- den Fehler nicht ein zweites Mal. gen, einen sehr vernünftigen Mittelweg gehen: Ein Problem sind die Intensivtäter; mit ihnen müssen (Beifall der Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] wir uns befassen. Es hilft nicht, zu betonen, dass die [FDP] und Andrea Astrid Voßhoff [CDU/ Zahl der jugendlichen Straftäter zurückgegangen ist; CSU] – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE denn es wäre auch ein Wunder, wenn es nicht so wäre. GRÜNEN]: „Mittelweg“ schon, aber nicht Wir haben nämlich immer weniger junge Menschen, und „vernünftig“!) wenn wir weniger junge Menschen haben – wir wissen (B) das –, dann geschehen natürlich auch weniger Straftaten. (D) Wir heben die Freiheitsstrafe für die Jugendlichen nicht an; entsprechende Forderungen hat es auch gegeben. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ent- Das heißt, bei Jugendlichen bleibt es bei der bisherigen behrt nicht einer gewissen Logik!) Höchststrafe von zehn Jahren. Dass das richtig ist, kön- Dieses Argument kann man also wirklich nicht anfüh- nen Sie folgender Überlegung entnehmen: Unser jetzt ren. Ich bin immer wieder überrascht, dass es Juraprofes- geltendes Jugendrecht stammt aus den 20er-Jahren. Da- soren gibt, die das an den Beginn ihrer Ausführungen mals galt in Deutschland noch die Todesstrafe, und trotz- zum Warnschussarrest stellen. Natürlich ist es so, dass dem hat sich der Gesetzgeber damals für eine Höchst- wir weniger Jugendliche haben und damit – Gott sei strafe bei Jugendlichen von 10 Jahren ausgesprochen; er Dank – weniger Straftaten. Aber die Zahl der Intensiv- hat sie für angemessen gehalten. Wenn das schon unter straftäter bleibt weiterhin hoch. Deshalb müssen wir uns den damaligen Umständen richtig und vernünftig war, Gedanken darüber machen, wie wir mit ihnen umgehen. dann gilt das heute sicherlich auch. Ich bin in meiner Anfangszeit als Staatsanwalt in ei- Was die Heranwachsenden anbelangt, wenden die ner Gruppe gewesen, in der wir schwierige Entscheidun- Gerichte, wie wir wissen, in vielen Fällen, in denen sie gen mit den Jugendlichen selbst besprochen haben. Ich sich nicht sicher sind, wie ein junger Mensch einzustu- habe bei dieser Gelegenheit immer wieder den Vorwurf fen ist – bei Heranwachsenden kann man je nach der gehört, sie hätten es lieber gehabt, wenn man ihnen frü- Entwicklung entweder Jugendrecht oder Erwachsenen- her einen Warnschuss verpasst hätte; so wurde das zum recht anwenden –, das Jugendrecht an. Ich halte auch das Teil ausgedrückt. Das macht die Verantwortung deutlich, für richtig. Aber wenn das Jugendrecht angewendet die wir haben. Unser Vorschlag zum Warnschussarrest wird, dann – darauf haben Kammern hingewiesen – beinhaltet nicht den Zwang, irgendetwas zu tun. Viel- reicht der mögliche Strafausspruch von 10 Jahren Frei- mehr ist es so: Zu der Klaviatur, auf der der Jugendrich- heitsentzug bei besonders schweren Taten oft nicht aus. ter spielen kann, um eine pädagogisch angemessene Hier räumen wir jetzt die Möglichkeit ein, bis zu 15 Jah- Maßnahme zu ergreifen, fügen wir eine Taste hinzu. ren Freiheitsstrafe zu verhängen. Nichts anderes tun wir. Das wird im Übrigen nach meiner Auffassung nicht Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist, daher dazu führen, dass wir jetzt ganz viele Urteilssprüche mit komme ich zu meiner letzten Bemerkung. Auch die Län- einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren haben werden, der tragen Verantwortung. Das ganze Vorhaben macht sondern es wird dazu führen, dass die Gerichte die bishe- nur Sinn, wenn der Arrest pädagogisch vernünftig voll- rige Höchststrafe von 10 Jahren tatsächlich einmal ver- zogen werden kann und wenn es nicht zu lange dauert, 20944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Jörg van Essen (A) bis jemand den Arrest antreten kann. In diesem Bereich Was wir heute debattieren, ist ein dummer Gesetzent- (C) gibt es erhebliche Fehlentwicklungen. Ich hoffe, dass die wurf. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass die Bundes- Jugendrichter von dieser zusätzlichen Taste nur dann justizministerin und die FDP wieder einmal eingeknickt Gebrauch machen, wenn die Länder die Voraussetzun- sind, sonst könnten wir uns nämlich die heutige Debatte gen für den Arrest erheblich verbessern. Die tatsächli- ersparen. chen Voraussetzungen können nur von den Ländern ge- schaffen werden – sie haben den Warnschussarrest (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten immer wieder gefordert –, wir können nur die rechtli- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE chen Voraussetzungen schaffen. GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Meine Position habe ich immer vertreten, lieber Herr Vielen Dank. Lischka!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Diese Debatte und insbesondere der vorliegende Ge- setzentwurf sind vollkommen unnötig; denn sie weisen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: in die falsche Richtung. Die Heraufsetzung der Höchst- Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD- strafe von 10 auf 15 Jahre ist reine Augenwischerei. Sie Fraktion. zielt in der Praxis nur auf Tötungsdelikte ab. Die sind aber in den vergangenen Jahren um 30 Prozent zurück- (Beifall bei der SPD – Dr. Edgar Franke gegangen. [SPD]: Guter Mann!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Burkhard Lischka (SPD): NEN]: So viel weniger Jugendliche haben wir Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Jugend- auch nicht!) kriminalität lässt sich nicht mit dem Warnschuss be- Im Übrigen werden jedes Jahr nur 90 Jugendliche und kämpfen.“ Heranwachsende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die (Jörg van Essen [FDP]: Behaupten wir auch zwischen 5 und 10 Jahren liegt. 0,09 Prozent der Jugend- nicht!) lichen und Heranwachsenden werden also verurteilt. Nur eine Handvoll hiervon – nämlich circa 6 bis 7 pro Jahr – Ein kluger Satz, aber er stammt leider nicht von mir, erhalten die Höchststrafe von 10 Jahren. Darauf zielt sondern von unserer derzeitigen Bundesjustizministerin. aber Ihr Gesetzentwurf. Sie machen in diesem Fall ein Gesagt hat sie ihn im Jahr 2008. Damals war sie noch Gesetz für sechs bis sieben Heranwachsende. Das ist nicht Bundesjustizministerin, sie saß noch in der Oppo- doch keine effektive Bekämpfung der Jugendkriminali- (B) sition und wusste anscheinend noch, was in der Rechts- tät, sondern nur der blanke Aktionismus. (D) politik richtig und falsch ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Noch ein paar Sätze gefällig? Am 24. September DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 2009, also drei Tage vor der letzten Bundestagswahl, LINKEN) wurde die damalige Oppositionsabgeordnete Frau Leutheusser-Schnarrenberger von einem Bürger über Auch der Warnschussarrest, Herr van Essen, ist nun abgeordnetenwatch.de gefragt, was sie von einer Herauf- wirklich nichts Neues. Die Idee gibt es schon seit über setzung der Höchststrafe für Jugendliche und Heran- zehn Jahren. Übrigens wurde diese Idee in der Fachwelt wachsende hält. schon damals einhellig abgelehnt: vom Richterbund, von den Jugendrichtern, von der Polizeigewerkschaft, von (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Strafverteidigern, von den Bewährungshelfern und NEN]: Nichts!) eben auch von Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Die Die Antwort: gehört heute aber nicht mehr zu den Kritikern, was die- sen Gesetzentwurf aber nicht wirklich besser macht. All Die FDP lehnt eine Verschärfung des Strafmaßes die Argumente, die seit Jahren gegen den Warnschussar- entschieden ab. Ein Strafrahmen im Gesetzbuch hat rest angeführt werden, gelten unvermindert fort. Der Ju- keine abschreckende Wirkung. gendarrest, den wir schon heute haben und der bis zu (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem vier Wochen dauern kann, ist das wohl wirkungsloseste BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Instrument, das wir überhaupt im Jugendstrafrecht ken- nen. Einige Tage zuvor, nämlich am 16. September, führte Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Deutschlandfunk (Jörg van Essen [FDP]: Dann müssen Sie da- zur gleichen Thematik aus – ich darf noch einmal zitie- für sorgen, dass er abgeschafft wird!) ren –: Fast 70 Prozent der Jugendlichen – damit muss man sich Wir halten auch nicht wirklich viel davon, … jetzt einmal beschäftigen, Herr van Essen – werden nämlich wieder über eine schon lange im Raum stehende nach der Verbüßung eines Arrests wieder straffällig. Verschärfung von Strafrahmen nachzudenken, denn Denn hier gilt eine alte Binsenweisheit: Wer Jugendliche das ist nicht das eigentliche Problem. Es können für ein paar Wochen mit Kriminellen zusammensperrt, heute schon hohe Strafen verhängt werden und die produziert keine rechtschaffenen Bürger, sondern fördert schrecken dumme Menschen nicht ab. nur kriminelle Karrieren. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20945

Burkhard Lischka (A) ( [DIE LINKE]: Sehr rich- Burkhard Lischka (SPD): (C) tig!) Nein, aber da sitzen Jugendliche, die meist schon ei- Viele Jugendliche kommen da doch erst so richtig mit ei- niges an Kriminalitätserfahrung haben. nem Milieu in Kontakt, das ihre Läuterung überhaupt (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] nicht fördert. Sehen Sie sich die Zahlen an: Viele Ju- [CDU/CSU]: Genau nicht!) gendliche werden im Knast nicht abgeschreckt, sondern erst richtig angesteckt. Es ist so, dass jemand, der zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wird, schon einiges hinter sich hat. Dass man hier nach außen hin auf Härte setzt, mag Der hatte übrigens auch schon seinen Warnschuss; er hat auf den ersten Blick populär erscheinen; aber Herr van ihn nur überhört. Deshalb frage ich mich, was da ein Essen, Sie müssten es eigentlich wissen: Beim Jugend- zweiter Warnschuss soll, Herr Kauder. strafrecht geht es nicht um Milde oder Härte, sondern um Wirksamkeit. Und da hat der Warnschussarrest über- (Beifall bei der SPD) haupt nichts zu bieten. Das, was Sie hier wollen, ist kein Warnschuss, sondern ein Rohrkrepierer. So bekämpft Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: man kriminelle Karrieren nicht. Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU-Fraktion. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stattdessen ist es wichtig, dass wir das Risiko des Er- wischtwerdens hochhalten. Wichtig ist, dass die Strafe Ansgar Heveling (CDU/CSU): der Tat auf dem Fuße folgt. Was nutzt es eigentlich, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wenn jemand ein Jahr nach seiner Tat in irgendeinen Lieber Herr Kollege Lischka, die Bundesjustizministerin Warnschussarrest einrückt? Wir müssen durch ganz mag es möglicherweise bedauern, dass die FDP nicht klare und konsequente Interventionsmaßnahmen an das nur aus ihr besteht, sondern eben auch aus vielen ande- verfestigte Problemverhalten einiger krimineller Jugend- ren Kolleginnen und Kollegen licher heran. Das ist vielleicht weniger cool und auch an- strengender als ein paar Tage Stubenarrest, aber es lohnt (Burkhard Lischka [SPD]: In dem Fall: Lei- sich. Über solche Modelle sollten Sie nachdenken; aber der!) Sie zeigen in der Rechtspolitik nicht klare Kante, son- dern nur dicke Lippe. und dass bei uns in der Regierungskoalition die Welt bunter ist als in der SPD. Jedenfalls haben wir innerhalb (B) der Koalition in den letzten Wochen sehr fruchtbare Dis- (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: kussionen geführt. Insbesondere haben wir uns darüber Herr Kollege – – auf Berichterstatterebene mehrfach mit dem Herrn Kol- legen van Essen, der gerade gesprochen hat, unterhalten. Burkhard Lischka (SPD): Ich kann nur sagen: Über das Ziel waren wir uns recht Auf unsere Unterstützung werden Sie dabei verzich- einig. ten müssen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Danke. NEN]: Da waren die beiden Richtigen zusam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men!) DIE GRÜNEN) Ich finde, es ist ein sehr einfacher Weg, hier einzelne Personen herauszugreifen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Burkhard Lischka [SPD]: Es ist ja nicht ir- Herr Kollege, bleiben Sie noch einen Moment stehen. gendwer, über den ich geredet habe! Das ist ja Sie können Ihre Redezeit verlängern, wenn Sie eine immerhin die Bundesjustizministerin!) Zwischenfrage des Kollegen Kauder erlauben – eine Nachfrage in diesem Fall. Ich glaube, auch die SPD besteht aus mehr Personen und nicht nur aus Ihnen. Aber vielleicht sehen Sie ja auch das Burkhard Lischka (SPD): anders. Ja, das mache ich. Interessant ist, dass Sie die Wirkung eines Instru- ments, das es noch gar nicht gibt, schon kennen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Also, bitte schön. (Burkhard Lischka [SPD]: Reden Sie einmal mit Experten, mit Praktikern!) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Sie haben sehr deutlich gesagt, was das Ergebnis der CSU): Einführung des Warnschussarrests sein wird. Ich bin da Herr Kollege, können Sie mir bitte erklären, wie ein interessierter und offener. Wenn wir das Instrument ha- Warnschussarrest eine kriminelle Karriere fördern kann? ben, werden wir es irgendwann bewerten können und si- Sitzen in der Arrestanstalt die Schwerkriminellen oder cherlich auch bewerten müssen. Die dafür notwendige die, die auch einen Warnschussarrest verbüßen? Zeit sollten wir uns aber nehmen. 20946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Ansgar Heveling (A) Es wirkt geradezu wie ein unglaublicher Zufall, dass Spürbare Konsequenzen sind mit einer Verurteilung (C) vor einigen Tagen im Fernsehen des Westdeutschen nicht verbunden. Ja, mancher Täter sieht sich sogar be- Rundfunks eine Talkshow zum Thema „Berufe und Be- stätigt und erlangt Anerkennung bei seinen Freunden, rufung“ ausgestrahlt wurde. Darin kam ein pensionierter die vor dem Gerichtssaal warten. Damit sendet der Polizeibeamter zu Wort, der zu seiner Berufung zum Rechtsstaat aber völlig falsche Signale an die Jugendli- Polizeibeamten sinngemäß erklärte, er sei zur Polizei ge- chen und ihr Umfeld. Es kann nicht sein, dass kriminelle kommen, weil er selbst als Jugendlicher einmal im Ar- oder gar gewalttätige Jugendliche mit ihren Straftaten rest gesessen habe. auch noch prahlen können. Die Geschichte, die er dazu erzählte, war diese: Er sei Dem wollen wir durch die ergänzende Möglichkeit wegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gericht des sogenannten Warnschussarrests begegnen. Wir ge- verurteilt worden. ben damit den Jugendgerichten eine weitere Sanktions- möglichkeit bei kriminellen Jugendlichen an die Hand. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit schaffen wir eine weitere erzieherisch wirkende Deswegen machen Sie das! Jetzt verstehen wir Maßnahme im Jugendstrafrecht. das überhaupt erst!) Ich bin mir sicher, dass die Jugendgerichte mit dieser – Herr Kollege Montag, es ist ja schön, dass Sie versu- neuen Möglichkeit sehr verantwortungsvoll und zielge- chen wollen, mich zu verstehen. Hören Sie aber am bes- nau umgehen werden. In der Regel kennt der Jugend- ten zu. Dann mag das auch gelingen. richter seine – ich sage es einmal salopp – Pappenheimer (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und deren Umfeld sehr genau. Sie können gut einschät- Tue ich ja die ganze Zeit und lerne!) zen, ob vorherige Verwarnungen einen jungen Menschen nicht erreicht haben. Bevor ein jugendlicher Straftäter Er sagte, er sei wegen einer Rauferei unter Jugendli- für mehrere Monate in die Haft geht – auch das sieht das chen vom Gericht verurteilt worden, eine Geldstrafe zu Jugendstrafrecht vor –, sind maximal vier Wochen Ar- zahlen. Damit sei seine Mutter nicht einverstanden ge- rest sicherlich ein effektives Mittel, um dem jungen wesen. Sie habe beim Richter vorgesprochen und ihn ge- Menschen die Konsequenzen seines Handelns vor Au- fragt, ob das nicht in einem Arrest münden könne. Die- gen zu führen. Die Geschichte des Polizisten ist dafür ser habe der Bitte entsprochen, und nach ein paar Tagen ein Beispiel. habe er sich gesagt: Da will ich nie mehr hin. – Statt ei- ner Karriere als Krimineller wurde er also Kriminaler. Klar ist, dass dieses Mittel allerdings nur Sinn macht, wenn der Warnschuss tatsächlich rasch zum Tragen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kommt. Nur dann kann das Instrument seine Wirkung (B) ist das Niveau der CDU-Rechtspolitik!) entfalten. Deshalb ist im Gesetzentwurf eine klare zeitli- (D) Das ist eine beinahe unglaubliche Geschichte, die ei- che Begrenzung vorgesehen, in welcher Zeit der Warn- nen schmunzeln lässt, selbst den Kollegen Montag. Vor schussarrest angetreten sein muss. Klar ist auch, dass mehr als 50 Jahren war es offensichtlich einfacher mög- sich die Jugendstrafvollzugseinrichtungen auf den Warn- lich, mit mütterlichen Bitten vor Gericht durchzudrin- schussarrest erst noch einstellen müssen. Das wird eine gen. ganze Reihe von Veränderungen mit sich bringen; das steht außer Frage. Aufgrund der Länderzuständigkeit (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sind die Bundesländer für den Vollzug zuständig; auch Eine Strafverschärfung zu kriegen, ja!) sie müssen sich sicherlich noch darauf einrichten. Aber Nun hat sich das Jugendstrafrecht in den letzten Jahr- ich bin sicher, dass dies den Landesjustizbehörden gelin- zehnten richtigerweise weiterentwickelt. Es ist gut, dass gen wird und sie einen guten und sinnvollen Weg finden der Erziehungsgedanke ganz deutlich im Vordergrund werden, den Warnschussarrest praktisch und erfolgreich steht. – Warum sind Sie jetzt so still, Herr Montag? mit Leben zu füllen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Natürlich wird es uns mit dem Instrument des Warn- NEN]: Wir können nicht alles mit Zurufen schussarrests nicht gelingen, alle jugendlichen Straftäter kommentieren!) passgenau zu erreichen. Aber mit jedem Einzelnen, den wir vor einer weiteren kriminellen Karriere bewahren Es ist gut, dass mit Freiheitsentziehung im Jugend- und dem wir eine Perspektive für die Zukunft geben, ge- strafrecht eher restriktiv umgegangen wird. Aber wir hen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Das lohnt müssen auch sehen, dass wir es mit unterschiedlichsten sich; das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf errei- Täterpersönlichkeiten zu tun haben und sich die Persön- chen. lichkeitsstrukturen der jugendlichen Täter mit der Zeit ebenfalls gewandelt haben. Zunehmende Aggressivität Vielen Dank. und Brutalität sind ein Ausdruck davon, und das ist kein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) quantitatives Merkmal.

Wir wollen deshalb die bestehenden jugendstrafrecht- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lichen Sanktionsmöglichkeiten ergänzen. Damit reagie- Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die Fraktion ren wir auf eine Entwicklung, die sich bei immer mehr Die Linke. jugendlichen Tätern beobachten lässt. Eine Bewährung wird oftmals als Freispruch zweiter Klasse empfunden. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20947

(A) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): (Jörg van Essen [FDP]: Ja, das war ich! Des- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wegen kenne ich mich damit aus!) ist mal wieder so weit: Die Debatte über die Verschär- – Das wollen wir nicht vertiefen. – Die Idee, zwei fung des Jugendstrafrechts ist nicht neu, zuletzt haben schlechte Maßnahmen zu kombinieren, damit etwas Gu- wir hier 2008 darüber debattiert. Geändert hat sich an tes dabei herauskommt, kann – ich versuche, höflich zu den Grundlagen allerdings nichts. bleiben – nur einem schlichten Gemüt entspringen. Zum sogenannten Warnschussarrest – leider hat mir (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Herr Lischka schon all die entsprechenden Zitate von Burkhard Lischka [SPD]) Frau Leutheusser-Schnarrenberger geklaut –: Für erfolgreiche Maßnahmen wie Täter-Opfer-Aus- (Heiterkeit des Abg. Burkhard Lischka [SPD] gleich, Trainingskurse und Antiaggressionskurse fehlen – Jörg van Essen [FDP]: Aber es gibt dafür die Mittel und das Personal. Auch das ist schon ange- keinen Warnschussarrest!) sprochen worden: Es bringt doch nichts, wenn man ei- nen Arrest verhängt, und diese Strafe erst nach einem Selbst in der Problemschilderung zum vorliegenden Ge- Jahr angetreten wird. Es muss in Personal investiert wer- setzentwurf wird beschrieben – ich zitiere einmal –: „… den. Mittel müssen investiert werden, damit Maßnahmen wird seit längerem immer wieder die … Möglichkeit zur überhaupt umgesetzt werden können. Man muss hier Verhängung eines Jugendarrests … gefordert.“ Ja, es präventiv tätig werden und nicht mit Strafen drohen. wird immer wieder gefordert, aber dort steht nicht, wer das fordert. Die am Jugendstrafverfahren Beteiligten, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) also Verteidiger, Rechtspfleger, Jugendgerichtshilfe, Be- währungshelfer, Jugendstaatsanwälte und -richter, for- Die Anhebung der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre dern das jedenfalls nicht. ist auch nicht sinnstiftend. Aber na gut, wann kommt hier schon einmal etwas Sinnstiftendes? Die Verhängung (Burkhard Lischka [SPD]: Genau!) der Höchststrafe von 10 Jahren ist bei weniger als 0,1 Prozent der zu Jugendstrafe Verurteilten erfolgt. Die Lösung des Problems besteht auch nicht in höheren Dazu hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Spiegel Strafen oder im Warnschussarrest. Darüber besteht doch 2008 gesagt – dies wurde noch nicht zitiert –: Das be- unter allen Fachleuten Einigkeit. dingt überhaupt keinen Änderungsbedarf. – Da hat sie Zum Warnschussarrest in Verbindung mit der Jugend- recht; diese Äußerung gilt nach wie vor. strafe – ich habe es schon einmal gesagt –: Es gibt Er- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel, zum Beispiel (B) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (D) Rasenmähen, Einkaufshilfe, gemeinnützige Arbeit, Geld- ten der SPD) auflagen, das Verbot des Zutritts zu bestimmten Gast- stätten oder des Kontakts zu bestimmten Personen. Das Insoweit freue ich mich – wie auch schon zuvor – auf Spektrum ist groß. All diese Maßnahmen sind kombi- die Beratungen im Rechtsausschuss. Dort sitzen ver- nierbar, auch mit Zuchtmitteln, auch mit dem Arrest. nünftige Kollegen. Ich bin gespannt, wann dieser Ge- Wenn das alles nicht mehr wirkt, wenn das alles nicht setzentwurf auf den berühmt-berüchtigten guten Weg mehr ausreicht, um auf den Jugendlichen einzuwirken, der Regierung gebracht wird, auf dem er dann im Nir- dann kommt die Jugendstrafe. Jetzt soll also die Jugend- wana verschwindet, wie schon so viele Male zuvor. Und strafe mit einer Maßnahme kombiniert werden, die ei- mit was? Mit Recht. gentlich nicht mehr ausreicht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Burkhard Lischka [SPD]: Ja!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Das kann kein Mensch nachvollziehen. Jedenfalls ist es nicht logisch, juristisch auch nicht; dies ist ja meist iden- tisch. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion Im Übrigen sind Arrest und Jugendstrafen nach wie Bündnis 90/Die Grünen. vor die Maßnahmen, bei denen es die höchsten Rückfall- quoten gibt. Diese liegen bei 60 bis 70 Prozent. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg van Essen [FDP]: Ja, weil es nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir greift!) diskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Verschlechterung des Jugendstrafrechts. – Genau, Herr van Essen. Jetzt sollen aber zwei Maßnah- men, die schlecht sind, kombiniert werden, damit etwas (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Besseres dabei herauskommt. Großartig! bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ich kann nur wiederholen, was die Kollegen vor mir neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schon gesagt haben: Praktisch alle namhaften Krimi- GRÜNEN) nologen in Deutschland lehnen den Warnschussarrest ab. Praktisch alle Jugendstrafrechtler lehnen ihn ab, von Ich dachte, Sie waren Oberstaatsanwalt. Professor Ostendorf über Professor Kreuzer bis hin zu 20948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Jerzy Montag (A) Professor Pfeiffer. Praktisch alle Bewährungshelfer leh- Das ist absolut unlogisch, was Sie da sagen. Auch Verrel (C) nen ihn ab. lehnt das ab. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Der Deut- Was schreibt Verrel zum Warnschussarrest? Ein prä- sche Richterbund, die größte Organisation der Richter ventiver Effekt des Arrests ist nicht nachweisbar, ob- und Staatsanwälte, lehnt Ihre Vorschläge ab. Der Deut- wohl sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten um eine sche Anwaltverein lehnt sie ab. Die Deutsche Vereini- Evaluation bemüht. Die Rückfallzahlen sprechen eher gung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen lehnt dagegen. sie ab. Der Warnschussarrest ist keine rasche Reaktion. Ein (Jörg van Essen [FDP]: Ist mir alles bekannt! – Gericht braucht zur Absetzung eines Urteils mindestens Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Und die einen Monat, wenn keine Rechtsmittel eingelegt werden, Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapier- also im besten Fall. Meine Fraktion hat gestern ein Fach- besitz?) gespräch zu diesem Problem durchgeführt. Wir haben Praktiker, Staatsanwälte und Richter, die auf dem Gebiet Die Gewerkschaft der Polizei lehnt sie ab. Lieber Kol- des Jugendstrafrechts tätig sind, eingeladen und sie ge- lege Geis, auch die Katholische Bundes-Arbeitsgemein- beten, uns zu informieren. Sie haben uns gesagt: Egal ob schaft Straffälligenhilfe, Ihre Herz-Jesu-Sozialisten, in Süd- oder Norddeutschland, man braucht mindestens lehnt sie ab. drei, vier Monate, bis man überhaupt einen Platz in einer Arrestanstalt bekommt. – Bremen hat seit neuestem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, überhaupt keine Arrestanstalten mehr. bei der SPD und der LINKEN) (Jörg van Essen [FDP]: Wer regiert denn da?) Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Unter denen, die sich mit den Problemen ernsthaft beschäftigen, gibt es nieman- Aber Sie schicken einen Gesetzentwurf in den Gesetzge- den, der für Ihren Gesetzentwurf streitet. bungsprozess, in dem Sie sagen: Wenn der Arrest nicht spätestens drei Monate nach der Verurteilung angetreten (Jörg van Essen [FDP]: Ach was!) wird, Mein größter Vorwurf im Zusammenhang mit diesem (Jörg van Essen [FDP]: Das ist ja auch ver- Gesetzentwurf richtet sich an das Bundesjustizministe- nünftig!) rium. Seit 10, 15 Jahren führen wir eine Debatte über diese Vorschläge, und es findet eine angeregte und um- dann kann er nicht mehr angetreten werden. – Das, was fangreiche wissenschaftliche Diskussion darüber statt. Sie uns hier vorgelegt haben, ist der organisierte Unsinn. (B) Aber nichts davon wird in dem Gesetzentwurf referiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D) Nichts, absolut nichts, nicht eine einzige Fundstelle! bei der SPD und der LINKEN – [FDP]: Das ist doch Quatsch! – Jörg van Essen (Jörg van Essen [FDP]: Aus guten Gründen!) [FDP]: Dann muss man das verbessern!) Dafür gibt es gute Gründe: Sie wollen die Kritik nicht Verell, Ihr Kronzeuge, sagt unterm Strich: Die Ziel- hören. gruppe, die überhaupt infrage kommt, ist so klein und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – die Gefahr der Ausdehnung der Maßnahme über diese Jörg van Essen [FDP]: Oh doch!) Zielgruppe hinaus so groß, dass er davon abrät, den Warnschussarrest einzuführen. Er plädiert dafür, die an- Neben einigen wenigen Fundstellen – eine gewisse Frau deren Möglichkeiten des Jugendgerichtsgesetzes zu för- Werwigk-Hertneck und eine Frau Müller-Piepenkötter, dern. die sich bisher nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern als Exlandesjustizministerinnen hervorgetan haben – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gibt es nur eine Fundstelle von Belang: Herrn Professor Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Verrel. Seine Stellungnahme habe ich mir genau durch- gelesen. Sie ist für Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, verheerend. Sie interpretieren sie zwar zu Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihren Gunsten. Aber als Erstes schreibt Verrel: Die An- Deswegen werde ich jetzt meinen letzten Satz zitie- hebung der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Mord für He- ren. Es ist ein Zitat der Gewerkschaft der Polizei. Die ranwachsende ist ein riesiger Fehler. – Er lehnt das voll- Gewerkschaft der Polizei hat zu diesem Gesetzentwurf ständig ab. gesagt: Das ist im Übrigen auch denklogisch falsch. Wenn Der Warnschussarrest für jugendliche Straftäter ist Sie Heranwachsende wie Jugendliche behandeln – Stich- nicht mehr als ein bisschen politische Spachtel- wort „Reifeverzögerungen“ – und einem 18-jährigen masse. Damit kann der … zunehmend breiter wer- Mörder 15 Jahre geben können wollen, warum dann dende Riss zwischen Union und FDP jedenfalls nicht auch einem 17-jährigen Mörder, der ja auch ein Ju- nicht repariert werden. gendlicher ist? Hier hat die Gewerkschaft der Polizei recht. (Jörg van Essen [FDP]: Das habe ich doch vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, hin gesagt! Sie haben es doch gehört!) bei der SPD und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20949

(A) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): – Sie sind, so wie ich, noch im Geschäft; wir gehen auch (C) Das Wort hat Norbert Geis für die CDU/CSU-Frak- noch vor Gericht –, dass er hinausgeht und sagt: Das ist tion. ein Freispruch zweiter Klasse. Sein Verteidiger freut sich darüber, und seine Eltern und seine Freundin, die dabei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind, freuen sich natürlich auch darüber. Der Mann kommt nicht hinter Schloss und Riegel. Einen solchen Norbert Geis (CDU/CSU): „Freispruch“ zweiter Klasse steuern die Jugendlichen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und an, und sie lachen dann. Herren! Ich beschränke mich auf die beiden Themen, die hier sehr strittig sind, nämlich auf die Vorrats – – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Burkhard Lischka [SPD]: Sie haben viele Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Baustellen, Herr Geis! – Jerzy Montag Kollegen Wunderlich? [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind bei einem anderen Thema!) Norbert Geis (CDU/CSU): Ja, bitte, wenn es schnell geht. – Nein, nein, das war eine Freud’sche Fehlleistung. – Es geht um den Warnschussarrest und die Erhöhung des (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Höchstmaßes der Jugendstrafe. und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie haben wohl alle kein zu Hause!) Die Diskussion über diese Dinge existiert schon sehr lange. Wir haben diese Diskussion schon in der ersten Hälfte der 90er-Jahre geführt. Wir, die Unionsfraktion, Jörn Wunderlich (DIE LINKE): haben dies schon damals gefordert. Als wir damals das Vielen Dank, Herr Kollege. Ich gebe mir Mühe. Verbrechensbekämpfungsgesetz verabschiedet haben, Sie sprachen gerade im Zusammenhang mit der Ju- haben wir auch darüber verhandelt. Das durchzusetzen, gendstrafe von der Notwendigkeit eines solchen Arrests. war aber nicht möglich. Wir haben diese Forderung dann Stimmen Sie mir zu, dass die Vollstreckung der Jugend- weiterhin erhoben. Die Länder, die ja die Praxis zu ver- strafe nur unter der Voraussetzung zur Bewährung aus- antworten haben, haben uns entsprechende Vorschläge gesetzt wird, dass der Richter bzw. das Gericht davon gemacht und entsprechende Gesetzesanträge gestellt, die überzeugt ist, dass dem Jugendlichen die Verurteilung alle bislang nicht zum Erfolg geführt haben. als solche schon zur Warnung ausreicht Nun haben wir diesen Erfolg. Wir sind uns einig, und (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) wir wollen den Warnschussarrest und die Erhöhung der NEN]: Ohne Vollzug!) (D) Jugendstrafe einführen. und er künftig auch ohne den Vollzug oder die Vollstre- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ckung der Strafe einen rechtschaffenen Lebenswandel Nein, nein, wir sind uns nicht einig!) führen wird? – Sie natürlich nicht, aber die Koalition ist sich einig. Darauf hat Herr Lischka ja angespielt. Norbert Geis (CDU/CSU): Natürlich. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Welche Mehrheit wollen Sie dafür im Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Bundesrat finden?) Das ist die Voraussetzung zur Aussetzung der Voll- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, streckung der Jugendstrafe. Jetzt sagt man aber: Ich gehe dass der Warnschussarrest eine wichtige Erweiterung zwar davon aus, dass er keinen Vollzug braucht, aber ein des Instrumentariums ist, das einem Richter zur Verfü- bisschen Vollzug ist vielleicht doch nötig. – Ist das nicht gung stehen sollte. Reden Sie mit Jugendrichtern! in sich widersprüchlich? (Burkhard Lischka [SPD]: Warum wollen die Richter das denn nicht, Herr Geis?) Norbert Geis (CDU/CSU): Nein. Noch heute Morgen habe ich mit einem Jugendrichter te- lefoniert und die Sache mit ihm besprochen. Es war ein Jörn Wunderlich (DIE LINKE): junger Jugendrichter. Er sagte: Ich brauche die Möglich- Wird da § 16 a JGG bzw. der ergänzende Absatz nicht keit einer solchen Reaktion auf jugendliche Straftäter. nur eingeführt, um das ein bisschen zu kaschieren? (Burkhard Lischka [SPD]: Da haben Sie einen hier in Deutschland gefunden!) Norbert Geis (CDU/CSU): Warum? Es ist doch eigentlich ganz greifbar, warum. Herr Kollege, ich kann Ihnen diese Frage beantwor- ten. Die Jugendstrafe ist eine ganz andere Maßnahme als Das ist unsere Überlegung: der Jugendarrest. Erstens. Wenn Sie einen Jugendlichen verteidigen, (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das weiß der zu einer Jugendstrafe, aber nicht zu einem Arrest ich! – Burkhard Lischka [SPD]: Sie vermi- verurteilt wird, dann können Sie als Verteidiger erleben schen das doch jetzt!) 20950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Norbert Geis (A) Das wissen Sie und ich. Deswegen können Sie nicht bei- rates. Nun sind wir uns in dieser Frage einig geworden, (C) des in den gleichen Topf werfen. hier den entscheidenden Schritt zu tun. (Burkhard Lischka [SPD]: Das machen Sie Warum? Weil ich glaube, dass der Richter die Mög- doch!) lichkeit haben muss, entsprechend zu reagieren, wenn es sich um eine Straftat wie Mord handelt. Genau das neh- Das ist der Unterschied. Das ist meine Antwort. men wir in den Fokus. Es geht hier nicht um andere Zweitens. Ein weiterer Grund für den Jugendarrest ist Straftaten, obwohl man darüber streiten kann, ob man folgender: Wenn zum Beispiel ein Täter wegen schäd- das nicht auch hier tun sollte. Andere Straftaten, die licher Neigungen zu einer Jugendstrafe verurteilt wird beim Erwachsenenstrafrecht ebenfalls mit „lebensläng- – aber auf Bewährung –, dann geht er als freier Mann lich“ bestraft werden können, nehmen wir heraus. Wir aus dem Gerichtssaal. Gegenüber einem anderen wird nehmen nur die schwerste Straftat, die jemand begehen ein Zuchtmittel ausgesprochen, weil keine schädlichen kann, nämlich einen anderen Menschen zu ermorden. Neigungen festgestellt werden, weil er sich also im Ihm sagen wir: Du musst unter Umständen, wenn du He- Sinne des Strafrechts nicht so schwer schuldig gemacht ranwachsender bist, mit einer Strafe von 15 Jahren rech- hat. Der bekommt Jugendarrest und damit Freiheitsent- nen. zug. Der andere aber geht letztlich ohne Strafe aus dem Ich nenne ein Beispiel: In einer Jugendbande ist der Gerichtssaal. Diesen Widerspruch verstehen die Jugend- Haupttäter ein Heranwachsender, der Mitläufer, der sich lichen nicht. genauso strafbar gemacht hat, ist über 21 Jahre alt. Letz- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- terer bekommt wegen eines Mordes „lebenslänglich“, NEN]: Das ist doch nach Ihrem Gesetzentwurf der andere 10 Jahre. auch so!) Ich meine, das ist nicht gerecht. Hier muss ein Gleich- klang hergestellt werden. Das ist unser Anliegen. Des- Drittens. Ich möchte noch Folgendes anführen: Es ist halb glaube ich, dass wir mit unserem Gesetzentwurf vielleicht gar nicht schlecht, wenn ein solcher Jugend- richtigliegen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. licher auch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, aus seiner gewohnten Umgebung genommen wird, Herr Danke schön. Wunderlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ist das noch die Antwort?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion. (B) – Nein, (D) (Beifall bei der SPD) (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich war schon erschüttert!) Dr. Edgar Franke (SPD): ich bin wieder bei meiner eigentlichen Rede. – Oft ist es Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich so: Ein Jugendlicher kommt vor Gericht, weil er in sei- kann meinen geschätzten Kollegen Vorrednern Lischka, ner Umgebung mit anderen Jugendlichen zusammen ist, Montag und vor allen Dingen Wunderlich nur recht ge- die das Gesetzbuch und das Strafrecht nicht so ernst neh- ben: Der Warnschussarrest als Zugabe, Herr van Essen, men und deswegen straffällig werden. Es ist nicht zur Bewährungsstrafe für Jugendliche ist aus meiner schlecht, wenn ein Jugendlicher einmal aus einer sol- Sicht wirklich der falsche Weg. Man hat so ein bisschen chen Umgebung für kurze Zeit von seinen Kameraden den Verdacht, dass das Symbolpolitik ist, dass man hier abgesondert wird und vielleicht mithilfe seines Bewäh- symbolisch etwas aussagen will. rungshelfers dazu kommt, darüber nachzudenken, wohin dies weiter führen würde. Deswegen, so meinen wir, ist Wenn man jugendlichen Straftätern oder Intensivtä- der Warnschussarrest die richtige Maßnahme. tern einen Warnschuss geben will, dann muss man – das sagen nach meinen Erkenntnissen alle Praktiker – Fol- Ein anderer Punkt ist die Erhöhung des Höchstmaßes gendes machen: eine schnelle Verurteilung. Das ist das der Jugendstrafe; Herr van Essen hat darauf schon hinge- eigentliche Problem. wiesen. Wir unterscheiden hier zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden. Für die Heranwachsenden sehen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir die Erhöhung des Höchstmaßes vor. Das geltende der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Das Höchstmaß für Jugendliche sind eigentlich 5 Jahre, schließt sich doch gegenseitig nicht aus!) wenn es sich nicht um Verbrechen handelt. Wenn es sich Herr Wunderlich ist – das wurde eben angesprochen – um Verbrechen handelt, sind es 10 Jahre. Für Heran- 12 Jahre Jugendrichter gewesen und hat langjährige Er- wachsende gibt es dieses Höchstmaß von 5 Jahren nicht, fahrung. Er hat gerade das Instrumentarium, das einem sondern da ist von vornherein ein Höchstmaß von Jugendrichter zur Verfügung steht, anhand von Beispie- 10 Jahren angesetzt. Hier gibt es keine Unterscheidung. len dargestellt. Das Jugendstrafrecht ist nämlich sehr breit angelegt. Nun wollen wir Folgendes: Wir wollen das Höchst- maß der Strafbarkeit von 10 auf 15 Jahre anheben. Das In meinen Gesprächen mit Jugendstaatsanwaltschaf- ist eine alte Forderung – so darf ich sagen – meiner Frak- ten wurde mir gesagt: Es gilt das alte Sprichwort: „Die tion und auch einiger Bundesländer bzw. des Bundes- Strafe muss auf dem Fuße folgen“. Wenn man den Warn- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20951

Dr. Edgar Franke (A) schussarrest einführen würde, würde auch dieser – da nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (C) müssen Sie mir recht geben, Herr van Essen – erst nach dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. dem Urteil erfolgen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Jörg van Essen [FDP]: Bei dem normalen Ar- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf: rest ist das nicht anders!) Beratung des Berichts des Ausschusses für Ver- Das heißt, der Warnschuss käme erst dann, wenn das Ur- kehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) teil ergangen ist. Insofern würde der Warnschuss wegen gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des dieses zeitlichen Ablaufs aus meiner Sicht nichts brin- Deutschen Bundestages gen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Praktiker sehen ein großes Problem darin, dass die Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weite- Justiz lange braucht, um Urteile zu fällen und dass die rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Arrestzellen voll sind, sodass die betroffenen Jugendli- chen gar nicht einziehen können und man keine Mög- Für einen neuen Infrastrukturkonsens – lichkeiten hat, Strafen zu vollziehen. Das ist ein rein Schutz der Menschen vor Straßen- und praktisches Problem. Aus meiner Sicht muss man vor al- Schienenlärm nachdrücklich verbessern len Dingen bei diesem Punkt ansetzen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Ein weiterer Punkt ist die Heraufsetzung der Höchst- Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weite- strafe für Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre. Herr rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Geis hat dazu Ausführungen gemacht. Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom Heraufsetzung der Höchststrafe würde nichts bringen. Bahnlärm entlasten – Alternative Güterver- Das muss man ganz klar sagen. kehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen Ich habe meine Mitarbeiter gebeten, herauszufinden, – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton welche Studien es in diesem Bereich gibt. Sie haben Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, nichts gefunden. Herr Montag hat das auch gesagt. Es weiterer Abgeordneter und der Fraktion gibt in der Fachöffentlichkeit niemanden, der sagt: Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bringt etwas. Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veralte- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaf- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE fen (B) GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Es gibt (D) aber Gerichte, die das gesagt haben!) – Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652, 17/9257 – Herr Lischka hat von sieben Fällen pro Jahr gesprochen. Ich habe in dem Bereich auch nichts gefunden: Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es auch nicht!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt In den Entscheidungsgründen hat kein Gericht ausge- dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. führt, dass die Strafe zu gering sei. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Insofern ist der Gesetzentwurf vielleicht mehr als Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Symbolpolitik: Es ist vielleicht sogar ein Wahlkampf- das Wort. thema, und es ist ein Thema für den Boulevard und die Öffentlichkeit. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So wie bei Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Roland Koch damals!) Kollegen! Ich bin in der interessanten Rolle, als Aus- Der Gesetzentwurf ist aber, glaube ich, nicht zur Verbes- schussvorsitzender berichten zu dürfen, warum der Ver- serung der Sicherheit der Bevölkerung geeignet. Im Ge- kehrsausschuss die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen genteil, der Volksmund sagt: Wer in den Knast kommt, und SPD nicht fristgerecht behandelt hat. Es geht bei kommt krimineller heraus, als er hineingegangen ist. diesen Anträgen um das wichtige Thema Bahnlärm. In diesem Sinne sollte man, glaube ich, diesen Ge- Wir haben diese Anträge mehrmals auf die Tagesord- setzentwurf ablehnen. nung gesetzt, so unter anderem in der 49. Sitzung am 21. September 2011 – das ist also schon relativ lange (Beifall bei der SPD und der LINKEN) her –, dann wieder am 26. Oktober und zuletzt am 9. No- vember. Die Beratung der Anträge ist auf Wunsch der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: geschäftsführenden Mehrheit immer wieder vertagt wor- Ich schließe die Aussprache. den. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE wurfs auf Drucksache 17/9389 an die in der Tagesord- GRÜNEN]: Unerhört!) 20952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Dr. Anton Hofreiter (A) So weit sozusagen der Bericht. Wir haben die Anträge Ich bitte Sie, sich zu einigen. Das ist positiv für die (C) immer wieder aufgesetzt. Aber die Beratungen darüber betroffenen Menschen. Wenn Sie sich aber nicht einigen wurden immer wieder vertagt. können, dann lassen Sie uns die Sache zum Abschluss bringen. Dann wissen die Menschen wenigstens, woran Worum geht es in den Anträgen? Sowohl in den SPD- sie sind. Anträgen als auch im Antrag der Grünen geht es um ei- nen besseren Schutz der Menschen vor Bahnlärm. Es Danke. geht insbesondere darum, das Lärmprivileg „Schienen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bonus“ abzuschaffen. Worum handelt es sich beim bei der SPD und der LINKEN) Lärmprivileg „Schienenbonus“? Es handelt sich letzt- endlich um einen Malus für die Betroffenen. Dieses Pri- vileg bedeutet, dass Züge um 5 dB(A) – das macht einen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: erheblichen Unterschied aus; denn es handelt sich um Das Wort hat nun Steffen Bilger für die CDU/CSU- eine logarithmische Skala – lauter sein dürfen als andere Fraktion. Verkehrsträger. Das hat zur Folge, dass die Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stark belastet sind. Das ist allerdings auch für uns von großer verkehrspolitischer Bedeutung; denn die Belas- Steffen Bilger (CDU/CSU): tung hat an manchen Strecken solche Ausmaße ange- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das nommen, dass die Menschen massiv protestieren, in Thema Lärm ist derzeit in der politischen Debatte in der manchen Regionen überparteilich. Es gibt zum Beispiel Tat nicht zu überhören. Ob an Flughäfen, bei der Straße an der Rheinschiene Regionen, in denen sich Vertreter oder der Schiene, landauf, landab wird bei vielen Infra- aller Parteien massiv gegen die Lärmbelästigung vor Ort strukturprojekten gestritten und diskutiert. Auf der einen wenden. Wir müssen daher dringend etwas tun. Seite stehen die Bedürfnisse der Anwohner, für die wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, alle großes Verständnis haben. Auf der anderen Seite bei der SPD und der LINKEN) steht unser Interesse, Mobilität zu ermöglichen, eine funktionsfähige Infrastruktur zu haben und nicht zuletzt Warum kommt es nicht zur abschließenden Beratung unseren Beitrag zum Erfolg unserer Wirtschaft und zum über die Anträge? Der Grund ist ganz einfach – diese Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten. Bewertung nehme ich nicht als Ausschussvorsitzender, Hier müssen wir zu einem ausgewogenen Ausgleich sondern als Abgeordneter der Grünen vor –: Die Koali- kommen. tionsfraktionen wollen die Anträge von SPD und Grünen (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht ablehnen, weil sie den Protest vor Ort fürchten. Sie (B) NEN]: Dann stimmen Sie doch zu! – Gustav (D) können aber auch keine eigenen Vorlagen einbringen, Herzog [SPD]: Dann legen Sie doch etwas weil sie sich untereinander nicht einigen können, wie mit vor!) diesem schwierigen Problem umgegangen werden soll. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Bei den Ko- – Dazu komme ich noch. alitionsfraktionen gibt es einen ganzen Strauß an The- Heute diskutieren wir gleich über drei Anträge, die men, über die sie sich nicht einigen können. Manche sich alle in erster Linie mit dem Thema Schienenlärm Themen sind prominenter, andere Themen weniger pro- befassen. Ich habe für viele Forderungen in diesen An- minent in den Medien vertreten. Bahnlärm ist in den Me- trägen durchaus Sympathie. dien lediglich regional prominent vertreten. Ich sage als Grüner: Einigen Sie sich – das wäre positiv – im Sinne (Gustav Herzog [SPD]: Es ist mehr als Sympa- der Menschen auf eine vernünftige Reduktion des Bahn- thie gefragt! – Dr. Valerie Wilms [BÜND- lärms! Dann könnten wir die Beratungen über dieses NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie Thema im Ausschuss endlich zum Abschluss bringen. doch zu!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Lärm ist wahrlich eine Plage. Sicherlich steigt heutzu- bei der SPD und der LINKEN) tage auch die Sensibilität der Bevölkerung für solche Be- lastungen und dadurch begründete Gesundheitsgefahren Wenn Sie sich aber schon nicht einigen können, dann an. Daher ist das richtig, was in den Oppositionsanträgen sollten Sie wenigstens die Traute haben, die Anträge ab- zum Lärm an sich steht. Es ist vollkommen unstrittig, zulehnen. dass wir Anwohner vor Lärm schützen müssen und es unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Lärm mög- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nein, zustim- lichst erst gar nicht entsteht, sondern schon an der Quelle men!) bekämpft wird. Dann können wir die Beratungen über diesen Tagesord- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wie denn?) nungspunkt abschließen. Dann muss dieses Thema nicht immer wieder aufscheinen. Dann hätten wir alle Klar- In den Debatten über den SPD-Antrag zum Mittel- heit, und dann wüssten auch die Betroffenen vor Ort, rheintal und den Koalitionsantrag zur Rheintalbahn ha- woran sie sind. ben wir deutlich gemacht, wie sehr wir als Unionsfrak- tion die Bedürfnisse der lärmgeplagten Bevölkerung zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unserem Anliegen gemacht haben. Wir stehen zu unse- sowie bei Abgeordneten der SPD) rem Bekenntnis im Koalitionsvertrag: Mehr Schutz vor Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20953

Steffen Bilger (A) Lärm! – Besonders das gerade von Toni Hofreiter ange- nächsten Verkehrsausschusssitzungen ins Detail gehen (C) sprochene Lärmprivileg der Schiene, das dazu führt, und über einen eigenen Antrag unserer Fraktion beraten. dass an Schienenstrecken mehr Lärm geduldet wird als an anderen Stellen, ist nicht mehr vertretbar und muss (Gustav Herzog [SPD]: Wir hatten eine Anhö- daher abgeschafft werden. rung zu dem Thema!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie – Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Ressortab- bei Abgeordneten der LINKEN und des stimmung bereits eingeleitet ist. Hätten Sie es hinbe- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kommen, als Sie noch an der Regierung waren, dann brauchten Sie jetzt nicht so große Reden zu schwingen. Die Abschaffung des sogenannten Schienenbonus ist erklärte Sache der christlich-liberalen Koalition. Dazu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bekennen wir uns mit Nachdruck, so auch heute und in Gustav Herzog [SPD]: Wir hätten gerne eine der Zukunft bei den weiteren Beratungen im Verkehrs- Jahreszahl!) ausschuss. Wir sind die erste Regierungskoalition, die sich darauf verständigt hat, den Schienenbonus abzu- Wenn aber der Schienenbonus abgeschafft ist, dann schaffen, heißt das nicht, dass alle Schienenlärmprobleme besei- tigt wären; denn die Abschaffung des Schienenbonus be- (Sören Bartol [SPD]: Dann macht es!) trifft die Zukunft. Für bestehende oder bereits im Bau befindliche sowie planfestgestellte Schienenstrecken und damit nun ernst macht. brauchen wir andere Lösungen. Wichtig ist dabei, dass (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir im gesamten Schienennetz durch unterschiedliche NEN]: Wann?) Maßnahmen die Lärmemissionen nachhaltig reduzieren. Innovative Maßnahmen am Fahrweg, andere Bremssys- Wie sich alle Abgeordneten, die schon unter früheren teme, verbesserter Lärmschutz durch bauliche Maßnah- Regierungskonstellationen hier mitgearbeitet haben und men und auch Vereinbarungen über ein – das wird auch die es nicht so weit gebracht haben, dieses Thema anzu- im Antrag der Grünen gefordert – lärmabhängiges Tras- packen – manche haben sich das noch nicht einmal vor- senpreissystem – das alles sind Beispiele für weitere genommen –, denken können, war es nicht ganz einfach, Möglichkeiten der Lärmreduktion, die ein Lärmprivileg bei der Abstimmung zwischen den verschiedenen betei- der Schiene endgültig unnötig machen. ligten Politikern voranzukommen. Aber am Ende zählt das Ergebnis. Diese Woche, meine Damen und Herren Das große und bedeutende Projekt Rheintalbahn, über von der Opposition, wurde die Ressortabstimmung zur das wir schon mehrfach im Deutschen Bundestag disku- (B) Abschaffung des Schienenbonus förmlich eingeleitet. tiert haben, ist zudem ein gutes Beispiel für andere Mög- (D) lichkeiten der Politik. Da haben sich alle Beteiligten – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommunen, Land, Bund, Bürgerinitiativen und Deutsche – Jetzt hätte ich von der Opposition mehr Anerkennung Bahn – zusammengesetzt und sind zu Lösungen gekom- und Applaus erwartet. men. In diesem konkreten Fall gab es Zugeständnisse so- wohl des Landes als auch des Bundes, vertreten durch den Zugegeben, auch wir hätten nichts dagegen gehabt, Staatssekretär Scheuerle, die es unnötig machen, auf die wenn es etwas schneller zu Ergebnissen gekommen Abschaffung des Schienenbonus zu warten. Es wird viel- wäre. mehr durch Vereinbarungen erreicht, dass Lärmschutz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und durch andere Maßnahmen umgesetzt wird, ohne dass wir der FDP) die Abschaffung des Schienenbonus hier im Bundestag beschließen müssten. Dabei muss uns Politikern klar sein, Nicht zuletzt hatten wir mit den Stimmen der Union und dass es nicht ausreicht, immer nur nach dem Bund zu ru- der FDP bereits vor einem Jahr, im März, in Zusammen- fen; vielmehr müssen sich alle Beteiligten in die Pflicht hang mit dem Thema Rheintalbahn im Deutschen Bun- nehmen lassen. destag die Forderung nach Abschaffung des Schienenbo- nus bekräftigt und die Bundesregierung aufgefordert, die Sie haben in Ihren Anträgen aber auch andere The- dafür notwendigen Schritte zu unternehmen. Wir stehen men angesprochen. Im SPD-Antrag zum Infrastruktur- zu unserem Wort und nehmen die Bundesregierung in konsens werden aus unserer Sicht in erster Linie Maß- die Pflicht, den Entwurf zur Änderung des betreffenden nahmen aus dem nationalen Verkehrslärmschutzpaket II Gesetzes und der dazugehörigen Verordnung vorzule- aufgegriffen, die ohnehin realisiert werden oder in ande- gen. rem Zusammenhang bereits geprüft werden. Auch hier hätte sicher manches schneller und weiter gehen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Allerdings dürfen wir bei dieser ganzen Diskussion nicht der FDP – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/ vergessen, dass es immer um Geld geht. DIE GRÜNEN]: Wann? Noch in dieser Wahl- periode? – Gustav Herzog [SPD]: Wann? Sa- (Gustav Herzog [SPD]: Es geht um die Men- gen Sie doch Ja!) schen im Rheintal!) Der Schienenbonus wird abgeschafft. Das ist erst ein- Das fehlt an allen Ecken und Enden für die Infrastruktur. mal eine gute Nachricht für die Menschen in Deutsch- Dieses Geld müssen wir erst einmal zur Verfügung stel- land. Wir halten Wort. Gerne können wir in einer der len können. 20954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Steffen Bilger (A) Nichtsdestotrotz können wir festhalten: Es tut sich et- dass eine ganze Reihe von wirksamen Baumaßnahmen, (C) was. die wir mit dem Projekt „Leiser Rhein“ oder dem Kon- junkturprogramm eingeleitet haben, umgesetzt werden (Sören Bartol [SPD]: Was denn? Ressortab- müssen. Wir sind uns weiter darüber einig, dass wir die stimmung! Das ist alles, was ihr macht!) Güterverkehrswagen umrüsten wollen. Diese gemein- Wir machen viel für mehr Schutz vor dem Schienenlärm. same Position vertreten wir auch vor Ort. Ich sehe hier Ergänzend zu dem, was wir in Deutschland beschließen den Kollegen Michael Hartmann, der das Mittelrheintal können, wäre es bei einem mittlerweile kontinenteüber- aus eigenem Erleben und eigenem Hören sehr gut kennt. greifenden Schienenverkehr sicherlich sinnvoll, wenn Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch mehr wir auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Lösungen Gemeinsamkeiten. Im rheinland-pfälzischen Landtag kommen könnten und die EU mittelfristig nur noch leise der letzten Wahlperiode und auch der neuen Wahlpe- Güterzüge in Europa zulassen würde. Auch hier sollten riode wurden einstimmige Beschlüsse gefasst, also mit wir und die Bundesregierung aktiv bleiben. Ich freue der Union, mit der FDP, in denen all das vom Bund ge- mich auf weitere Fortschritte, die wir gemeinsam errei- fordert wird. chen können. (Patrick Döring [FDP]: Und wir machen es!) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Jetzt ist die spannende Frage: Warum geht es nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) voran, lieber Kollege Bilger? Weil wir hier die Koalition der Verweigerung und der Vertagung haben! Sie kriegen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: es nicht auf die Reihe. Jetzt ist Schluss mit lustig! Der Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Frak- Kollege Hofreiter hat ja schon erwähnt: Es gibt sehr tion. viele Themen – von der Vorratsdatenspeicherung bis hin zum Betreuungsgeld –, bei denen Sie keine Problem- (Beifall bei der SPD) lösung finden. (Patrick Döring [FDP]: Was haben Sie denn ei- Gustav Herzog (SPD): gentlich dazu beigetragen? – Torsten Staffeldt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! [FDP]: Sie haben jahrelang nichts gemacht!) Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere im Mit- telrheintal! Herr Kollege Bilger, ich weiß nicht, ob ich Für die Frage, um die es hier geht, die die Menschen be- mich über Ihre Rede aufregen soll trifft, hätten wir eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. (B) Ich sage Ihnen, wo das Problem sitzt: hier auf der Regie- (D) (Steffen Bilger [CDU/CSU]: Freuen!) rungsbank, vielleicht noch etwas um die Ecke. Herr Kol- oder einfach nur Mitleid haben soll mit Ihnen, die Sie lege Bilger, ich darf zitieren, was Kanzleramtsminister auf dieser Seite des Hauses sitzen. Pofalla gesagt hat. Ich zitiere die Rheinische Post vom 21. April dieses Jahres: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Die Bundesregierung wird nicht am Schienenbonus Patrick Döring [FDP]: Freuen! Sie sollten sich rütteln. freuen! – Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wir (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: brauchen kein Mitleid!) Unerhört!) Ich werde versuchen, im Laufe meiner Rede eine Ant- Ein weiteres Zitat: wort zu geben. In dieser Legislaturperiode werden wir den Schie- Um das Groteske an der Situation deutlich zu ma- nenbonus nicht anpacken. chen, will ich noch einmal die Gemeinsamkeiten fest- stellen, die hier im ganzen Hause – vielleicht bis auf den (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Teil der Bundesregierung – bestehen. Wir stellen fest, Was gilt denn jetzt?) dass Millionen von Menschen durch Lärm von Straße, Schiene und Luftverkehr beeinträchtigt sind. Hundert- Das sagt Ihr Kanzleramtsminister. Und was sagt die tausende sind schwersten Belastungen ausgesetzt. Sie er- Koalition? leben in der Nacht Güterzüge, die mit über 100 Dezibel (Patrick Döring [FDP]: Wir machen es trotz- an ihren Häusern vorbeifahren. Das ist wie ein Pressluft- dem!) hammer hier vor dem Rednerpult, vor den Reihen der Koalition. Hunderttausende von Menschen erwarten von Haben Sie in diesen Reihen hier überhaupt noch etwas uns eine Lösung. Auch die Volkswirtschaft wird im Um- zu sagen? Ich denke, bei Ihnen muss etwas passieren. fang von über 10 Milliarden Euro im Jahr geschädigt. (Patrick Döring [FDP]: Wir machen es doch!) Wir sind uns hier im Hause darüber einig, dass wir den Schienenbonus abschaffen wollen, dass wir lärm- Sie können nicht weiterhin versuchen, das Problem aus- abhängige Trassenpreise brauchen, zusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Ich weiß, dass wir ab September 2013 das Problem anpacken wer- (Patrick Döring [FDP]: Führen wir doch ein!) den. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20955

Gustav Herzog (A) (Beifall bei der SPD – Lachen bei der FDP – Es gibt eine zweite Geldquelle, die man anzapfen (C) Patrick Döring [FDP]: Mit genauso viel Elan könnte. Sie hätten auch unsere Zustimmung, Herr Bun- wie zwischen 1998 und 2009!) desminister, wenn Sie die Zwangsdividende der DB AG vielleicht auch dafür verwenden würden, dem Unterneh- Aber schöner wäre es natürlich für die Menschen, wenn men beim Umrüsten zu helfen. wir die gemeinsame Position hier vorher beschließen könnten und Sie sich nicht hinter der Entscheidung Ihrer (Patrick Döring [FDP]: Das Aktienrecht kennt Regierung und Ihrer Haushälter verstecken würden. keine Zwangsdividende!) Wenn ich Ihre Reihen hier sehe, frage ich mich, wo die Kolleginnen und Kollegen von der Union sind, die im Es gibt klare Forderungen der SPD. Wir würden Sie Mittelrheintal immer so tun, als wären sie die großen auch jederzeit hier im Deutschen Bundestag dabei unter- Macher in Sachen Schienenlärm. stützen, das Umrüsten der Güterwagen jetzt und nicht erst dann vorzunehmen, (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Hier!) (Patrick Döring [FDP]: Welcher? Der polni- Wo sind die Kollegen Granold, Bleser und der General schen oder rumänischen?) Schnieder, der Generalsekretär Schnieder? – Aber jeder hat so seine Prioritäten. wenn die LL-Sohle in zwei oder drei Jahren zugelassen ist. Das würde 10 Dezibel bringen – eine Verminderung (Steffen Bilger [CDU/CSU]: Wie viele sind des Lärms um die Hälfte. denn von der SPD da? – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das Mittelrheintal ist auch auf (Patrick Döring [FDP]: Sie wollen mit deut- der anderen Rheinseite!) schem Steuergeld polnische Güterwagen um- rüsten?) Herr Kollege Bilger, Sie haben die Kosten angespro- chen. Vielleicht werden Sie sich in Ihren Reihen auch Sie haben von uns eine klare Zustimmung zur Ab- einmal darüber einig, um welche Kosten es geht. Der schaffung des Schienenbonus. Bundesminister sagt: Jedes Dezibel beim Schienenbonus Als letzten Punkt will ich noch die Alternativtrasse kostet mich 1 Milliarde Euro. Ihr Kanzleramtsminister Mittelrheintal ansprechen. spricht in der Rheinischen Post von 15 Milliarden Euro. Vielleicht können Sie innerhalb der Bundesregierung (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die einmal eine Abstimmung herbeiführen. Mehrwertsteuer!) Ich sage Ihnen etwas zum Thema Geld. Es war für Sie Herr Bundesminister, Sie haben auf der Verkehrsminis- in den ersten Tagen der Koalition doch kein Problem, terkonferenz Äußerungen gegenüber dem rheinland- (B) (D) den Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungen pfälzischen Verkehrsminister gemacht, herabzusetzen (Patrick Döring [FDP]: Waren Sie dabei?) (Lachen bei der FDP – Sören Bartol [SPD]: die über die Presse unterschiedlich weitergegeben sind. Sehr gut! Nehmt doch das Geld!) Aber vielleicht kann der Kollege Holmeier, der gleich und 1 Milliarde Euro jedes Jahr zum Hotelfenster hi- für die CSU sprechen wird, noch erklären: nauszuwerfen, wo wir doch die Hotelfenster im Mittel- rheintal schließen müssen, weil es zu laut ist. (Patrick Döring [FDP]: Der war aber auch nicht dabei! Sie doch auch nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Sind Sie nun dafür, dass eine solche alternative Trasse GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Das ist in- im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans geprüft wird, tellektuell unwürdig, was Sie hier bieten! Was oder nicht? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht den haben Sie denn geboten?) Lärm bei den Menschen reduzieren? Geben Sie darauf eine Antwort. Herr Kollege Döring, es ist intellektuell unwürdig, dass Sie zwar in Ihren Reihen anerkannt haben, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Patrick Döring [FDP]: Was haben Sie denn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geboten?) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass es eine falsche Entscheidung war, aber nicht genug Mumm in den Knochen haben, um diesen Fehler zu kor- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rigieren. Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDP- (Patrick Döring [FDP]: Richtige Entschei- Fraktion. dung!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich sage Ihnen: Die Sache mit der Mehrwertsteuer kriegen Sie bei jeder Rede von mir auf den Tisch gelegt – Werner Simmling (FDP): bis zum Ende der Wahlperiode. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Verehrte Zuschauer! Liebe Kollegen Dr. Hofreiter und Dadurch wird es nicht anspruchsvoller!) Herzog! Sie kennen alle die Sprichwörter „Gut Ding will 20956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Werner Simmling (A) Weile haben“ und „Rom wurde auch nicht an einem Tag (Gustav Herzog [SPD]: Dann werden vor 2016 (C) erbaut“. noch ganz viele begonnen!) (Lachen der Abg. Gustav Herzog [SPD] und Deshalb wollen wir die gesetzgeberisch deutliche Linie Sören Bartol [SPD] – Gustav Herzog [SPD]: 2016. Nur so gibt es Klarheit und Planungssicherheit für Da muss er selbst lachen! – Gegenruf des alle Seiten. Abg. Patrick Döring [FDP]: Erst grübeln, dann Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ge- dübeln! Sie kennen doch das Motto unseres nerell Folgendes anmerken: Wir müssen den Lärmschutz Fraktionsvorsitzenden!) an der Schiene verbessern; denn nur so erhalten wir die Wie vorhin schon festgestellt wurde, hat dieses für den dringend benötigten Infrastrukturausbau notwen- schwierige Thema ja weder ein SPD-Verkehrsminister dige Akzeptanz in der Bevölkerung. – das waren immerhin elf Jahre – noch ein grüner Um- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weltminister – sieben Jahre – in Angriff genommen. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wir brauchen die Schiene als modernen, leistungsfä- Gustav Herzog [SPD]: Sie kennen die Lärm- higen und umweltschonenden Verkehrsträger. Ich kann schutzpakete I und II!) die Menschen gut verstehen, die das Mehraufkommen Insofern sollten Sie, meine ich, auch 2013 keine Chance von Verkehr auf der Schiene und den damit in Zusam- mehr haben, dieses Thema noch einmal aufzugreifen; menhang stehenden Lärm in ihren Wohnungen und Häu- denn dann ist es schon erledigt. sern nicht mehr hinnehmen wollen. Um diese Balance und Akzeptanz zu erhalten, ist die Abschaffung des Die christlich-liberale Koalition ist sich längst einig Schienenbonus unerlässlich. – das wissen Sie auch –, den Schienenbonus von 5 dB(A) schrittweise zu reduzieren – mit dem Ziel, ihn (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- in dieser Legislaturperiode ganz abzuschaffen. Das ha- SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sören ben wir so in unserem Koalitionsvertrag festgelegt. Bartol [SPD]) (Gustav Herzog [SPD]: Weiß das auch der Der Schienenbonus ist angesichts der hohen Zu- Kanzleramtsminister?) wächse beim Schienengüterverkehr und neuerer Er- kenntnisse heute nicht mehr gerechtfertigt. Wir haben inzwischen Schritte unternommen. Das wis- (Sören Bartol [SPD]: Dann kommen Sie doch sen Sie auch. Wir haben im Deutschen Bundestag den endlich mit einem Gesetzentwurf!) (B) Auftrag an die Bundesregierung gegeben, einen entspre- (D) chenden Gesetzentwurf vorzubereiten. Von mancher Stelle hört man, dass die Abschaffung des Schienenbonus zu teuer sei und Schienenprojekte Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir schon durch Umplanungen verzögert würden. Das ist nicht weiter wären – das Thema ist aber, wie gesagt, sehr richtig; denn laufende Planfeststellungsverfahren, wie schwierig – und heute einen entsprechenden Entwurf bereits gesagt, sind nicht betroffen. Umplanungen sind hier vorliegen hätten. Manchmal sind die Dinge aber so, daher auch nicht erforderlich. Richtig ist aber, dass alle wie sie sind. Und auch in einer schwarz-gelben Bundes- ab dem Jahr 2016 neu geplanten Projekte durch mehr regierung kann es vorkommen, dass die Mühlen einer und bessere Lärmschutzmaßnahmen teurer werden. Ministerialbürokratie langsam – vielleicht etwas sehr langsam – mahlen. (Gustav Herzog [SPD]: Das ist doch der Sankt-Nimmerleins-Tag!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gustav Dies bedeutet im Gegenzug aber nicht, dass wir wegen Herzog [SPD]: Für diese Erkenntnis bekom- der Abschaffung des Schienenbonus eine höhere Haus- men Sie Applaus! – Britta Haßelmann haltslinie benötigen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt bei Wir müssen uns immer vor Augen halten: Wenn der Herrn Ramsauer ja! – Sabine Leidig [DIE Schienenbonus bestehen bleibt und wir Anwohnern von LINKE]: Vielleicht sollte er weniger Aus- zukünftigen Bahnstrecken keinen angemessenen Lärm- landsreisen machen!) schutz bieten können, dann werden wir bald gar nicht Aber noch einmal, damit hier keine Zweifel aufkom- mehr bauen können. men: Für die Koalition bleibt die Abschaffung des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Schienenbonus in dieser Legislaturperiode eines ihrer der CDU/CSU) zentralen verkehrspolitischen Anliegen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Unser Ziel ist, dass alle Planfeststellungsverfahren ab Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der 2016 ohne die einseitige und nicht mehr tragfähige Be- Kollegin Wilms? vorteilung der Schiene geplant werden. Was wir aber nicht wollen, ist, in bestehende Planfeststellungsverfah- Werner Simmling (FDP): ren einzugreifen. Bitte. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20957

(A) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sabine Leidig (DIE LINKE): (C) Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie reden hier so voll- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor mundig, als ob das Gesetz bis zum Ende der Wahlpe- 25 Jahren hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen riode schon in Kraft treten könnte. Sehen Sie sich einmal die damalige CDU-FDP-Bundesregierung umfassend an, wie viel Zeit wir noch bis 2013 haben. Dann reden über die schädliche Wirkung von Lärm unterrichtet. In- Sie davon, dass der Schienenbonus stufenweise abge- zwischen ist die Kernbotschaft vielfach bestätigt wor- schafft werden soll. den: Lärm macht krank – vor allem, wenn er den Nacht- schlaf stört. Werner Simmling (FDP): Schallpegel von mehr als 60 Dezibel am Tag und Vollständig, sagte ich. 50 Dezibel in der Nacht müssen als gesundheitliche Be- drohung angesehen werden. Das heißt für unsere Bevöl- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kerung: Fast ein Drittel ist Tag und Nacht von Straßen- Sie haben aber vorher „stufenweise“ gesagt. Sie wi- lärm bedroht. Beim Schienenlärm sind es tagsüber rund dersprechen sich. 9 Prozent und nachts über 20 Prozent. Wenn Sie im Rheintal unterwegs sind, dann können Werner Simmling (FDP): Sie es körperlich spüren, wie der höllische Krach alles Nein, nein, stufenweise und vollständig in dieser Le- kaputt machen kann. Die Güterzüge, die mitten durch gislatur. die Ortschaften fahren, werden immer mehr. Sie fahren vor allem in der Nacht. Sie werden immer schneller und Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): immer schwerer beladen. Oft sind die Waggons alt und Das passt nicht zusammen. Liefern Sie endlich! die Gleise ungepflegt. 110 Dezibel – der Kollege Herzog hat es gerade geschildert – sind keine Seltenheit. Das Werner Simmling (FDP): entspricht dem Lärm von Kettensägen und Pressluftham- Sie werden sich wundern, was wir in der verbleiben- mern. Dass der Gesetzgeber, also die Mehrheit in diesem den Zeit noch alles leisten können. Parlament, dieser Art von fahrlässiger Körperverletzung nicht Einhalt gebietet, ist ein Skandal. (Beifall bei der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Die FDP hat noch nie geliefert!) (Beifall bei der LINKEN) Beim Lärmschutz an Bahnlinien handelt es sich nicht Es ist doch verrückt, dass die Straßenbahnen und Per- nur um eine Einzelmaßnahme. Die Abschaffung des sonenzüge inzwischen ziemlich leise fahren, weil die öf- (B) Schienenbonus ergänzt die Gesamtkonzeption des Bun- fentlichen Auftraggeber darauf Wert legen. Aber dort, (D) des zur Lärmbekämpfung im Schienenverkehr. Wesentli- wo private Unternehmen, vor allem große Konzerne, cher Inhalt ist die Lärmreduzierung an der Schallquelle. ihre Produkte zwischen den Standorten in ganz Europa Dies wird insbesondere durch die von der Bundesregie- transportieren, um mehr Gewinn zu machen, bleibt es rung bereits angestoßenen Einführung eines lärmabhän- laut, gigen Trassenpreissystems und durch die Umrüstung (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Weil die von Güterwagen auf die lärmarme K-Sohle, genannt die Verbraucher das wollen!) Flüsterbremse, erreicht. Allein diese Maßnahme – ich glaube, Herr Herzog sagte es – führt zu einer Reduzie- ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist nicht akzeptabel. rung des Lärms um 10 dB(A) und damit zu einer Halbie- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- rung des subjektiven Lärmempfindens. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Gustav Herzog [SPD]: Da sind wir uns ja einig! Dann machen Sie auch etwas!) Es fehlt nicht an konkreten Möglichkeiten, wie man die Anwohnerinnen und Anwohner entlasten kann, wie man – Sehen Sie. eine moderne Güterbahn mit Ausbauperspektive schaf- Mit einem Zitat von Goethe – Sie sehen, ich will auch fen und dabei noch die Volkswirtschaft von unnötigen, kritisch sein –, gerichtet an die Regierungsbank, will ich auf Lärm zurückzuführende Krankheitskosten entlasten enden: Der Worte sind nun genug gewechselt, lasst uns kann. endlich Taten sehen! Wir haben bereits vor einem Jahr einen 14 Punkte Vielen herzlichen Dank. umfassenden Antrag eingebracht. SPD und Bündnis 90/ Die Grünen reichen schon seit längerem Anträge mit (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD sehr guten Vorschlägen ein, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gustav Herzog [SPD]: Das waren gute Worte (Gustav Herzog [SPD]: Seit über einem Jahr!) zum Abschluss!) und es gibt sehr kompetente Forderungen seitens der Bürgerinitiativen. Nur von der Regierungskoalition Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: kommt fast gar nichts. Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die Sie stellen jetzt die lärmabhängigen Trassenpreise in Linke. den Mittelpunkt und wollen die Sache damit im Grunde (Beifall bei der LINKEN) dem Markt überlassen. Aber der Markt wird es nicht 20958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

Sabine Leidig (A) richten, jedenfalls nicht vor dem Sankt-Nimmerleins- (Gustav Herzog [SPD]: Die habe ich ge- (C) Tag. äußert!) (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der Stattdessen greifen Sie vielfach nur Maßnahmen aus Markt gibt dann die Gebühren an den Verbrau- dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II auf, die be- cher weiter! So ist das!) reits realisiert sind oder die sich noch in der Prüfung be- finden, und satteln noch einmal drauf. Es geht hier um die Gesundheit und Lebensqualität von rund 16 Millionen Menschen in Deutschland. Für die Zunächst möchte ich an dieser Stelle einmal Folgen- muss der soziale Staat, muss eine gute Regierung und des klarstellen: Wenn wir über Lärmbelastung der Men- muss dieses Parlament Verantwortung übernehmen, und schen sprechen, dann ist es aus meiner Sicht und aus der zwar jetzt. Sicht der christlich-liberalen Koalition vollkommen egal, von welchem Verkehrsträger der Lärm ausgeht. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ihre Oppositionsanträge widmen sich ausschließlich NIS 90/DIE GRÜNEN) dem Straßen- und dem Schienenverkehrslärm. Ich sage Sorgen Sie dafür, dass die Graugussbremsen als aber ganz klar, und dazu stehen wir als Koalition: Unsere schlimmste Lärmquelle verboten werden, so wie es die Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, Belastungen durch Schweiz vormacht. Verkehrslärm jeglicher Art so gering wie möglich zu hal- ten. Genau das tun wir. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Geht in der EU doch nicht! – Gegenruf der Abg. Das bereits erwähnte Nationale Verkehrslärmschutz- Dr. Valerie Wilms: Auch das kann man in der paket II enthält erstmals klare Vorgaben, in welchem EU regeln, Herr Kollege!) konkreten Maß die Belastungen durch Verkehrslärm ge- mindert werden sollen. Investieren Sie in besseren Bahnverkehr. Nicht nur an (Gustav Herzog [SPD]: Das hat doch der neuen, sondern auch an den bestehenden Strecken braucht es Lärmschutz. Schaffen Sie schließlich den un- Tiefensee gemacht!) sinnigen Schienenbonus ab; lasten Sie alle gesellschaftli- – Was hat denn der Tiefensee gemacht? Nichts hat er chen Kosten den Verursachern an, beim Straßen- und gemacht. Flugverkehr genauso wie bei den Güterzügen. (Sören Bartol [SPD]: Wir hatten einen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schlechten Koalitionspartner!) NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner In diesem Konzept ist vorgesehen, bis zum Jahr 2020 (B) [Berlin] [FDP]: An wen belastet der das wei- (D) ter?) den Flugverkehrslärm um 20 Prozent zu verringern.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU- Kollegen Willsch? Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Karl Holmeier (CDU/CSU): Gerne, ja. Karl Holmeier (CDU/CSU): (Gustav Herzog [SPD]: Könnt ihr auch in der Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Fraktion miteinander reden?) und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Leidig, wenn es nach Ihnen gehen würde, dann würden wir alle in Deutschland wieder zu Fuß gehen, Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): und niemand hätte mehr ein Fahrzeug. Lieber Herr Kollege Holmeier, durch den Zwischen- ruf des Kollegen Herzog bin ich angeregt, Ihnen eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Frage zu stellen. Da geht einem wirklich die Hutschnur Sabine Leidig [DIE LINKE]: Es wäre gar hoch. Mein Wahlkreis ist der Rheingau, wo jeden Tag nicht so schlecht, mehr zu Fuß zu gehen!) 250 schwere Güterzüge durchdonnern. Seit 1998, seit- dem ich in diesem Parlament bin, beschäftige ich mich – Das wäre Ihnen recht. – Zunächst möchte ich allen ein mit diesem Thema. Jedes Jahr gab es bei euch einen an- herzliches Dankeschön dafür sagen, dass wir im Grunde deren Verkehrsminister. Ich habe selten eine Antwort alle der gleichen Meinung sind: Verkehrslärm ist für die von dem Verkehrsminister bekommen, an den ich ge- Menschen ein großes Problem und eine Belastung. Darin schrieben habe. sind wir uns einig. Damit bin ich mit meiner Freude aber leider schon am Ende. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Sehr verehrte Oppositionskollegen, Sie machen mit Weil hier die Haushälter beschimpft werden, möchte den hier zur Debatte stehenden Anträge zwar viel Lärm, ich sagen: Wir haben in 2008 für den Haushalt 2009 nennenswerte Lösungsansätze oder gar Vorschläge zur durchgesetzt, dass eine Umrüstung des rollenden Ge- Finanzierung einzelner Forderungen kann ich in den An- rätes aus den Haushaltsmitteln möglich ist. Dann hat trägen bedauerlicherweise aber nicht finden. Tiefensee geschlafen und das Notifizierungsverfahren Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20959

Klaus-Peter Willsch (A) nicht vorangetrieben. In 2010 ist der Bescheid endlich In dem eben erwähnten Antrag vom vergangenen Jahr (C) übergeben worden. Damit kann die Bahn umrüsten. Das haben wir im Übrigen auch die Bundesregierung dazu muss auch endlich geschehen. Dabei muss die Bahn ein aufgefordert, den Schienenbonus abzuschaffen. Trotz bisschen schneller werden. Meine Frage ist, ob Sie dem vieler Probleme bei diesem Thema – das wurde bereits zustimmen. Das, was wir politisch ermöglicht haben, einige Male angesprochen –, gerade was den Transitver- muss die Bahn nun endlich umsetzen. kehr auf der Schiene betrifft, ist unter CSU-Verkehrsmi- nister Ramsauer Bewegung in diese Sache gekommen. Es ist nicht akzeptabel, dass in Assmannshausen in Die Bundesregierung hat jetzt die Ressortabstimmung meinem Wahlkreis jeden Tag Güterwaggons mit einer zur Änderung der erforderlichen gesetzlichen Grundla- Lautstärke von bis zu 103 Dezibel vorbeifahren und die gen eingeleitet, um den Schienenbonus tatsächlich abzu- Schranke in Rüdesheim am Tag acht bis zehn Stunden schaffen. Hier zeigt sich also wieder: Wir handeln. Die heruntergelassen ist. So kann es nicht gehen. Vorgängerregierungen mit SPD-Verkehrsministern ha- (Gustav Herzog [SPD]: Da gebe ich Ihnen so- ben zehn Jahre lang nichts zustande gebracht. gar recht, Herr Kollege! – Gegenruf der Abg. Wir kümmern uns natürlich auch um die Menschen [CDU/CSU]: Wunderbar!) im Mittelrheintal, zu dem Sie extra einen Antrag einge- bracht haben. Auch hier finde ich erstaunlich, dass Sie Karl Holmeier (CDU/CSU): bis Herbst 2009 über zehn Jahre lang Zeit hatten, sich Wir wissen, die Koalition kümmert sich um dieses unter sozialdemokratischer Regentschaft im Bundesver- Thema. Wir wollen den Fluglärm um 20 Prozent redu- kehrsministerium um das Mittelrheintal zu kümmern. zieren und den Schienenlärm um 50 Prozent. Damit ist Nichts ist passiert. natürlich die Umrüstung der Wägen verbunden. Wir können heute nur deutsche Wägen umrüsten. Angesichts Da musste erst ein CSU-Minister in das Haus ein- dessen wäre es vielleicht sinnvoll, ein europäisches För- ziehen, um festzustellen, dass für den gesamten Eisen- bahnkorridor Mittelrheinachse/Rhein/Main–Rhein/Ne- derprogramm zu schaffen, damit die Wägen in den Län- ckar–Karlsruhe geeignete verkehrliche Konzeptionen dern der Europäischen Union umgerüstet werden kön- fehlen. Kaum ist dies geschehen, springen Sie auf den nen. – Vielen Dank, Herr Kollege. Zug auf und machen Lärm. Auf Initiative von Verkehrs- minister Dr. Ramsauer wurde nun eine entsprechende Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Studie für den Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse aus- Herr Kollege, die Kollegin Wilms möchte eine Zwi- geschrieben. schenfrage stellen. (Gustav Herzog [SPD]: Das geschah auf Ini- tiative der Länder Rheinland-Pfalz und Hes- (B) Karl Holmeier (CDU/CSU): (D) sen!) Leider kann ich sie nicht beantworten. Wenn Sie mei- nen Flieger stoppen können, dann lasse ich auch diese Die dabei zu ermittelnden Optimierungsmaßnahmen sol- Frage zu. len nach den Plänen des Ministers noch im Vorfeld des Bundesverkehrswegeplans 2015 angegangen werden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Gustav Herzog [SPD]: Das machen wir Das erklärt Ihre Antwort. dann!)

Karl Holmeier (CDU/CSU): Hierbei werden sicher auch alternative Streckenführun- Hinzu kommen im Koalitionsvertrag beschriebene gen für den Güterverkehr geprüft werden. Maßnahmen wie die Einführung einer lärmabhängigen Was die Forderung nach kurz- und mittelfristigen Trassenpreisgestaltung bei der Bahn und die Änderung Maßnahmen angeht, so weise ich nur auf das Pilotpro- des Fluglärmschutzgesetzes, damit Anwohner an Mili- jekt „Leiser Rhein“ hin, mit dem das Verkehrsministe- tärflughäfen gleiche Ansprüche auf Erstattung von rium die Umrüstung von bis zu 5 000 Güterwägen auf Lärmschutzkosten haben wie die Anwohner von Ver- lärmarme Bremssohlen fördert. Zudem hat auch die kehrsflughäfen. Sie sehen: Uns geht es um die Men- Bahn angekündigt – hören Sie gut zu! –, mithilfe eines schen, die von Verkehrslärm betroffen sind, ungeachtet sogenannten Lärmbeauftragten einen Ansprechpartner der Lärmquelle. Denn den Menschen ist es egal, woher für alle Fragen zu Lärmbelästigungen, Lärmbelastungen der Lärm kommt. und Lärmschutz an Schienenwegen zu schaffen. Damit Mit Blick auf die lärmabhängigen Trassenpreise will können Aufgaben und Kompetenzen besser gebündelt ich noch einmal betonen, dass wir es waren, die dieses und Probleme einfacher angegangen werden. Thema aktiv angegangen sind. Bereits in unserem An- Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und Her- trag zur Rheintalbahn vom Frühjahr letzten Jahres haben ren, die christlich-liberale Koalition packt an. Sie tut wir die Bundesregierung aufgefordert, hierzu eine ent- tatsächlich etwas für den Schutz der Menschen vor sprechende Regelung zu treffen. Unser Verkehrsminister Verkehrslärm. Die vorliegenden Oppositionsanträge ma- hat angekündigt, das Trassenpreis- chen hingegen viel Lärm um nichts. system noch heuer zum Fahrplanwechsel 2012/2013 ein- zuführen. Wir halten keine Sonntagsreden, wir handeln, Danke. Schönes Wochenende! meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo- sition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 20960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- Gustav Herzog [SPD]: Wir sprechen uns im gin Valerie Wilms. Herbst darüber!)

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Holmeier, jetzt Ich schließe die Aussprache. werden Sie vielleicht doch noch Ihren Flieger verpassen. Aber kommen wir schnell zur Sache: Ich sehe beim bes- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 38: ten Willen nicht, dass Sie da auf irgendeine Art und Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Weise in Gang gekommen sind. Schauen Sie sich doch Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weite- einmal an, was dort bislang läuft. Die Trassenpreiskon- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU struktion – das lärmabhängige Trassenpreissystem, das sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Sie jetzt einführen wollen – funktioniert doch gar nicht. Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer Sie setzen bei der LL-Sohle auf ein System, das nicht zu- Abgeordneter und der Fraktion der FDP gelassen ist. Niemand weiß, ob es überhaupt jemals zu- gelassen wird. Das, was funktioniert, was in der Schweiz Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen vorhanden ist, können Sie mit dem lärmabhängigen für junge Menschen in Deutschland Trassenpreissystem als Anreiz gar nicht finanzieren. – Drucksache 17/9397 – Sie machen hier also wirklich viel Lärm um nichts. Überweisungsvorschlag: (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) nicht nur einseitig der Fall!) Innenausschuss Rechtsausschuss Sie haben uns eben etwas über Fluglärm erzählt. Der Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Also tun Sie jetzt Ausschuss für Bildung, Forschung und wirklich einmal Butter bei die Fische und schaffen Sie Technikfolgenabschätzung endlich den Schienenbonus ab. Denn das wäre etwas, Ausschuss für Kultur und Medien das bei jedem neuen Projekt sofort wirksam würde, weil Haushaltsausschuss dann der Vorteil der Bahn – Stichwort 5 dB – endlich Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Reden zu wegfällt. Protokoll gegeben werden. Das haben folgende Kolle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ginnen und Kollegen getan: Ingrid Fischbach, Stefan (B) Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihr wollt Schwartze, Florian Bernschneider, Diana Golze, Ekin (D) keinen Fluglärm, ihr wollt keine Schienen, ihr Deligöz, Peter Tauber, Sönke Rix. wollt keine Straßen!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9397 an die in der Tagesordnung aufge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Kollege, wollen Sie reagieren? – Bitte schön. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Karl Holmeier (CDU/CSU): Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Wir sind jetzt dabei, den Schienenbonus abzuschaf- ordnung. fen, und bringen es auf den Weg. Die Vorgängerregie- rungen hatten Zeit: Die SPD hat zehn Jahre lang einen Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Verkehrsminister gestellt; passiert ist nichts. Die rot- destages auf Mittwoch, den 9. Mai 2012, 13 Uhr, ein. grüne Regierung hatte Zeit; passiert ist nichts. Wir wer- den es auf den Weg bringen; wir werden ab Herbst die Ich wünsche Ihnen ein heiteres Wochenende. lärmabhängigen Trassenpreise haben. Ich glaube, das ist Die Sitzung ist geschlossen. ein guter und richtiger Weg; das wird ein erfolgreicher Weg sein. (Schluss: 15.42 Uhr) Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20961

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 27.04.2012 Kurth (Quedlinburg), BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 Undine DIE GRÜNEN Bär, Dorothee CDU/CSU 27.04.2012 Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 27.04.2012 Bareiß, Thomas CDU/CSU 27.04.2012 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 27.04.2012 Becker, Dirk SPD 27.04.2012 Dr. de Maizière, CDU/CSU 27.04.2012 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 Thomas DIE GRÜNEN Möller, Kornelia DIE LINKE 27.04.2012 Brandner, Klaus SPD 27.04.2012 Müller (Aachen), Petra FDP 27.04.2012 Dr. Braun, Helge CDU/CSU 27.04.2012 Dr. Neumann (Lausitz), FDP 27.04.2012 Brinkmann (Hildes- SPD 27.04.2012 Martin heim), Bernhard Nord, Thomas DIE LINKE 27.04.2012 Burkert, Martin SPD 27.04.2012 Pflug, Johannes SPD 27.04.2012 Crone, Petra SPD 27.04.2012 Röspel, René SPD 27.04.2012 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 (B) DIE GRÜNEN Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 27.04.2012 (D) Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 27.04.2012* Roth, Michael SPD 27.04.2012 Land), Axel E. Rupprecht (Tuchen- SPD 27.04.2012* Freitag, Dagmar SPD 27.04.2012 bach), Marlene Friedhoff, Paul K. FDP 27.04.2012 Schäffler, Frank FDP 27.04.2012 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 27.04.2012 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 27.04.2012 Gabriel, Sigmar SPD 27.04.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 27.04.2012 Gerdes, Michael SPD 27.04.2012 Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 DIE GRÜNEN Groschek, Michael SPD 27.04.2012 Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 27.04.2012 Grund, Manfred CDU/CSU 27.04.2012 Andreas Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 Dr. Schwanholz, SPD 27.04.2012 DIE GRÜNEN Martin Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 27.04.2012 DIE GRÜNEN Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 27.04.2012 Jelpke, Ulla DIE LINKE 27.04.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 27.04.2012 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 27.04.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 27.04.2012 Kolbe, Manfred CDU/CSU 27.04.2012 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 27.04.2012 Korte, Jan DIE LINKE 27.04.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 27.04.2012 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- DIE GRÜNEN sammlung des Europarates 20962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Anlage 2 werberandrang enorm – und Beleg für die erstklassige (C) Arbeit der christlich-liberalen Koalition. Zu Protokoll gegebene Reden Um die eigenständige Jugendpolitik auch gesell- zur Beratung des Antrags: Eigenständige Ju- schaftlich zu verankern, wollen wir unter Federführung gendpolitik – Mehr Chancen für junge Men- des BMFSFJ eine „Allianz für die Jugend“ gründen. Ein schen in Deutschland (Tagesordnungspunkt 38) solches breites Bündnis mit Vertretern der Kinder- und Jugendhilfe und Akteuren, die in der Lebensphase Ju- gend relevant sind, ist Voraussetzung für die Entwick- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Als letzten Tages- lung weiterer konkreter Beiträge. ordnungspunkt debattieren wir heute den Antrag von CDU, CSU und FDP zur eigenständigen Jugendpolitik. All diese Maßnahmen zeugen von einer modernen Ju- Der christlich-liberalen Koalition geht es dabei um mehr gendpolitik. Dafür steht die Union, dafür steht die christ- Chancen für junge Menschen in Deutschland. lich-liberale Koalition. Wir werden gemäß dem Koalitionsvertrag zwischen Alles andere als eine moderne Jugendpolitik haben CDU/CSU und FDP eine eigenständige Jugendpolitik, wir unter Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen erlebt – eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit eta- nämlich gar keine! Zwar hat die Minderheitsregierung, blieren, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre wie es ihre Masche war, munter nach Übernahme der Potenziale fördert und ausbaut. Eine eigenständige Ju- Regierungsgeschäfte Geld verteilt – für den Jugendför- gendpolitik, für die wir uns mit diesem Antrag einsetzen, derplan gab es da mal eben 20 Millionen Euro mehr –, ist gesellschaftlich relevante Zukunftspolitik. Sie ver- aber das Geld wurde, wie üblich, ohne Sinn und Ver- langt eine unverzweckte Betrachtung der Jugendphase. stand verteilt. Kein Konzept! Keine Idee! Keine Innova- tion! Nichts! Nur verantwortungsloses Schuldenmachen. Wichtig war uns in diesem Zusammenhang, mit Ju- Das ist die Politik, die Nordrhein-Westfalen seit 2010 gendlichen ins Gespräch zu kommen. Wie wollen Ju- beglückt. gendliche heute partizipieren? Bewusst haben wir uns mit dieser Frage an die Jugendlichen selbst gewandt – Kein Konzept in der Jugendpolitik! Nichts passiert in und weniger an die „Berufsjugendlichen“, auch wenn fast zwei Jahren. Jugendpolitik in Nordrhein-Westfalen diese in den Jugendverbänden sehr wertvolle Arbeit leis- unter Rot-Grün findet unterhalb der Wahrnehmungs- ten. grenze statt. Jugendministerin Ute Schäfer ist gleichzeitig auch zu- Unser Ziel ist es, dass sich Jugendliche entsprechend ständig für die Bereiche Kunst und Kultur. Die FAZ (B) ihren eigenen Interessen und Stärken weiterentwickeln schreibt am 16. März 2012: „Es war die Regierung mit (D) können, dass sie bei aller Frühförderung, den stetig an- der kürzesten Amtszeit in der Geschichte Nordrhein- steigenden Anforderungen an Wissen und Kompetenz, Westfalens, sie hat den Haushalt mit der höchsten Neu- der Beschleunigung und Verdichtung von Bildungsbio- verschuldung belastet und wie keine vor ihr die Kultur- grafien Raum für sich selber haben, dass sie Kompeten- politik vernachlässigt.“ Immerhin hat Schäfer sich be- zen für eine soziale, kulturelle und politische Teilhabe müht, gegen diese Wahrnehmung anzukämpfen. Sie hat erlernen können, dass sie selbstbestimmt und demokra- in ihrer Amtszeit über 150 Pressemitteilungen zu Kunst tisch handeln können, dass sie in Freiheit und Verant- und Kultur veröffentlicht. Trotzdem kommt die Presse wortung nachhaltige Entscheidungen für die Zukunft zu dem fatalen Ergebnis, dass nichts passiert ist. treffen können. Aber in der Jugendpolitik hat sie noch nicht einmal Diese Fähigkeiten werden vor allem in nichtformalen das versucht. Die gerade 45 Pressemitteilungen des Ju- und informellen Zusammenhängen, jenseits formaler gendministeriums – ganze 70 Prozent weniger als im Leistungsanforderungen, gelernt: in der Gruppe mit nicht wahrnehmbaren Kulturbereich – in 21 Monaten Gleichaltrigen und in der Auseinandersetzung mit den dokumentieren diese Taten- und Hilflosigkeit in der Ju- eigenen Interessen und Bedürfnissen. Daher kommt gendpolitik in Nordrhein-Westfalen: Kein neues Kon- neben der formalen Bildung der nonformalen und kultu- zept. Keine zündende Idee. Keine Innovation. Nichts! rellen Bildung eine immens wichtige Bedeutung zu. Ins- Weder in der Jugendpolitik noch in der politischen Bil- besondere die Jugend(verbands)arbeit ist ein Ort nonfor- dung oder im Medienschutz. Der angekündigte Jugend- malen Lernens, den CDU, CSU und FDP stärken wollen. medienschutz-Staatsvertrag ist gescheitert. Nichts ist passiert. Unser Ziel ist es auch, dass sich Jugendliche gesell- schaftlich engagieren können. Dies ist uns mit dem Er- Und dort, wo die rot-grüne Minderheitsregierung ver- folgsmodell des Bundesfreiwilligendienstes und der sucht, Prioritäten zu setzen, bleibt sie hinter ihren An- Stärkung der Jugendfreiwilligendienste gelungen. Im kündigungen zurück. Man versucht den Eltern in NRW neuen Bundesfreiwilligendienst engagieren sich auch ein ums andere Mal zu erklären, warum man immer nach der Aussetzung des Zivildienstes sehr viele Jugend- noch Schlusslicht beim Ausbau von U-3-Plätzen ist, und liche; hier sind seit dem Start im Juli 2011 inklusive Ab- freut sich über den angeblich so großen Zuwachs von brechern – die Quote liegt bei zwölf Prozent – über 16 000 neuen Plätzen im laufenden Jahr. Gleichzeitig 40 000 Verträge zustande gekommen. Aktuell leisten sagt man, dass bis zum 1. August 2013 – also bis zur über 33 000 Frauen und Männer einen Bundesfreiwilli- Umsetzung des Rechtsanspruchs – noch 27 000 Plätze gendienst. Bei 35 000 verfügbaren Plätzen ist dieser Be- fehlen. Wenn 16 000 Plätze schon Anlass zur Freude Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20963

(A) sind, wie will Rot-Grün 27 000 Plätze in einem Jahr wichtiger ist es, dass auch der Rahmen, den der Bund (C) schaffen? Zumal jetzt schon klar ist, dass auch diese dafür schaffen kann, eindeutig ist. Der vorliegende An- nicht reichen werden, um den tatsächlichen Bedarf zu trag leistet dazu einen wichtigen Beitrag. decken. Das ist nichts, und das wird auch nichts mehr. Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Einbeziehung von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen macht keine Ju- Jugendlichen ist der Kinder- und Jugendplan des Bundes gendpolitik, zu wenig für unsere Kleinsten und hinter- als das zentrale Förderinstrument für Kinder und Ju- lässt der Jugend stattdessen einen immer größeren gendliche. Wir wollen, dass junge Menschen zukünftig Schuldenberg. Das ist die Jugendpolitik in Nordrhein- besser in die entsprechenden Planungen eingebunden Westfalen, das ist die verantwortungslose Regierungs- sind. Dazu ist es notwendig, den Kinder- und Jugendplan bilanz, die wir nach den Wahlen ändern werden. gerade für seine Adressaten transparenter zu gestalten, um eine Grundlage für Partizipation zu schaffen. Manch Einen erfreulichen Vorgeschmack hierauf gibt eine bestehende Struktur im KJP muss dabei sicherlich Norbert Röttgen: Er hat als Bundesumweltminister er- auch hinterfragt werden. Ich bin dem Familienministe- reicht, dass Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage sein rium in diesem Zusammenhang sehr dankbar, dass die kann. Wir gehen als sehr gutes Beispiel im Bund voran – zuständigen Mitarbeiter sehr behutsam und vertrauens- für die Kinder und Jugendlichen in Deutschland. voll mit den Trägern zusammenarbeiten und ein sehr sachbezogener Dialog gerade im Zusammenhang mit der Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Mit dem vorliegen- Evaluation des bestehenden Plans auf den Weg gebracht den Antrag der christlich-liberalen Koalition betreten werden konnte. Ich bin mir sicher, dass die daraus resul- wir ein gutes Stück jugendpolitisches Neuland. Über tierenden Ergebnisse sehr positive Auswirkungen auf viele Jahre haben wir Politik für Jugendliche hauptsäch- unseren Ansatz haben werden. lich aus einer Perspektive heraus betrachtet, bei der ein problemzentrierter Ansatz vorherrschte. Jugendpolitik Aus meiner Sicht gibt es keinerlei Zweifel daran, dass wurde hauptsächlich als Instrument genutzt, um im Um- junge Menschen heute die Bereitschaft mitbringen, ihr gang mit „problematischen“ Jugendlichen Antworten zu Umfeld mit Engagement und viel individuellem Einsatz liefern. Dies hat vielfach sicherlich seine Berechtigung. zu gestalten. Einen Hinweis darauf gibt bereits der fan- Aber dieser Ansatz zeichnet ein sehr unvollständiges tastische Erfolg, den wir mit dem Bundesfreiwilligen- Bild von Jugendlichen mit ihren individuellen Interessen dienst auf den Weg bringen konnten. In großer Zahl be- und Problemlagen. Was antworten wir der großen An- teiligen sich junge Menschen an der Gestaltung der zahl von Jugendlichen, die nicht durch Gewalt, Extre- sozialen Wirklichkeit und übernehmen ganz individuell mismus, Suchterfahrungen oder Armut in unseren Fokus Verantwortung für ihr Umfeld. Dass die vom Bund ge- (B) rücken, sondern sich ganz unauffällig auf den Weg bege- förderten Plätze nicht ausreichen, um die komplette (D) ben, ihr zukünftiges Leben zu gestalten? Welche Per- Engagementbereitschaft der jungen Generation aufgrei- spektiven geben wir, um sie auf ihrem Weg zu unterstüt- fen zu können, zeigt nicht nur, dass die Opposition mit zen? ihrer Schwarzmalerei völlig danebenlag. Es zeigt vor al- len Dingen, dass junge Menschen ihr Umfeld gestalten Es ist der christlich-liberalen Koalition ein großes wollen, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten. Anliegen, genau diese Gruppe in den Blick zu nehmen und ihnen Angebote machen zu können. Wir sind der Ein wichtiger Aspekt, mit dem wir uns auseinander- Meinung: Auch die „ganz normalen“ Jugendlichen ha- gesetzt haben, ist die Frage, welche Antworten Jugend- ben Anspruch auf einen Politikansatz, der auch sie ein- politik auf die Frage der Digitalisierung unserer Gesell- bezieht. schaft geben muss. Ein nicht zu unterschätzender Teil der Lebenswelt junger Menschen spielt sich heute in Wir sind dem Ministerium in diesem Zusammenhang sozialen Netzwerken ab. Längst ist das Internet keine sehr dankbar, dass viele Punkte unseres Antrags auf sehr Spielerei von einer kleinen Gruppe mehr, sondern kon- fruchtbaren Boden gefallen sind. Eine Reihe bereits lau- stituierender Bestandteil des Aufwachsens einer ganzen fender Initiativen wie die Allianz für die Jugend zeigen Generation. Dies darf nicht spurlos an unseren jugend- ja bereits, dass dieser Ansatz geteilt wird. politischen Vorstellungen vorbeigehen. Uns ist aufgetra- gen, die Digitalisierung in unseren Sätzen mit zu beden- Ein ganz zentraler Punkt ist dabei aus meiner Sicht ken. Mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen tun wir die Beteiligung der jungen Menschen an der Gestaltung dies in diesem Antrag. des für sie relevanten Umfelds. Wir sind der Meinung, dass Partizipation, das heißt die Beteiligung, der Jugend- Ein Vorschlag, der mir in diesem Zusammenhang be- lichen an für sie wichtigen Entscheidungen größer ge- sonders wichtig ist, ist die Forderung, zukünftig für jede schrieben werden muss als bislang. Klar ist, dass kon- Schülerin und jeden Schüler ein Laptop bereitzustellen, krete Partizipation häufig vor Ort gestaltet wird. Zentral damit die jungen Menschen gleichberechtigt und auf Au- sind dabei immer auch die örtlich handelnden Personen. genhöhe Erfahrungen mit der multimedialen Welt sam- Wir müssen darauf achten, dass Partizipation keine Flos- meln und Medienkompetenz in der Schule erlangen kel in Sonntagsreden ist, sondern durch gelebtes Han- können. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, Schule als deln unterlegt wird. Wir müssen den Jugendlichen zei- eine analoge Welt zu betrachten und uns mit ein paar gen: Wir nehmen euch ernst, es ist uns wichtig, was ihr Stunden Informatikunterricht zufriedenzugeben. Denn denkt, wir entscheiden nicht über eure Köpfe hinweg. Medienkompetenz darf nicht zu einer zufälligen Frage Dies ist ein Querschnittsprozess auf allen Ebenen. Umso oder gar zu einer Frage der Generationen werden. 20964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Wichtig ist mir an dieser Stelle, darauf hinzuweisen, politik sich als Interessenvertretung für junge Menschen (C) dass erfolgreiche Jugendpolitik individuell gestaltet sein versteht. Sie muss ressortübergreifend gedacht werden. muss. Wer dem Glauben unterliegt, man könne mit stan- dardisierten Strategien und Angeboten die Lebenswirk- Die SPD will weder eine defizitorientierte noch eine lichkeit von jungen Menschen treffen, wird scheitern. elitefixierte Politik. Unsere Leitbilder sind Chancen- Dies gilt sowohl auf das Alter als auch auf die einzelnen gleichheit und Inklusion. Wir wollen alle befähigen, ihre Interessenslagen innerhalb einer Altersgruppe bezogen. Talente zu entdecken und ihre Persönlichkeit zu entwi- Hier liegt im Kinder- und Jugendplan, der die Flexibili- ckeln. Wir wollen allen jungen Menschen Aufstieg tät bietet, auf die heterogenen Lebenswirklichkeiten jun- durch gleiche Chancen und echte Teilhabe ermöglichen. ger Menschen Antworten zu geben, eine erhebliche Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auch Strahlkraft. Wichtig ist aber auch: Wir brauchen Men- zweite und dritte Chancen. Es muss möglich sein, sich schen, die in den Strukturen Verantwortung haben und auszuprobieren und auch mal Fehler zu machen. Jugend Beteiligung leben. Die Beteiligung von Jugendlichen braucht Freiräume. Junge Menschen brauchen Unterstüt- kann man nicht staatlich verordnen; da braucht es auf zung beim Übergang von Schule in den Beruf. Sie brau- den einzelnen Ebenen eine Sensibilität, nach dem Motto: chen einen Rechtsanspruch auf einen Schulabschluss Lasst die jungen Leute machen. Wir müssen also Ju- und eine Berufsausbildung. gendlichen die Chance geben, Verantwortung zu über- Wir dürfen keinen jungen Menschen zurücklassen. nehmen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass diese junge Generation es schafft, sich selbst etwas aufzu- Zur Jugendbildung gehören neben der kulturellen Bil- bauen und etwas zu erreichen. Wir müssen ihnen dafür dung auch die politische Bildung, die sportliche Bildung nur die Gelegenheit geben. Auch das will eigenständige und die informelle und nonformale Bildung. Hier darf Jugendpolitik erreichen. nicht gekürzt werden, wie Sie es zum Beispiel bei der politischen Bildung tun. Diese Bereiche müssen vom Das ist aus meiner Sicht die große Herausforderung. Bund gefördert und weiterentwickelt werden. Und das ist ein langer Prozess. Wir haben noch ein paar Schritte vor uns, doch wir sind zum Glück auch schon Dazu in Ihrem Antrag kein Wort! Eine eigenständige einige gegangen. Der vorliegende Antrag, für den ich Sie Jugendpolitik ist mehr als das, was hier auf dem Tisch um Ihre Zustimmung bitte, ist dabei ein wichtiger An- liegt. Sie braucht das notwendige Geld, das in Ihren An- satz. trägen bislang gar keine Rolle spielt. Nehmen Sie unsere Vorschläge ernst, und lassen Sie Stefan Schwartze (SPD): Die SPD begrüßt aus- uns diskutieren. drücklich die Absicht, eine eigenständige Jugendpolitik (B) zu entwickeln. (D) Sönke Rix (SPD): Die Koalitionsfraktionen haben Im Sommer 2011 hatte die Bundesregierung Eck- die Kritik von Organisationen, Verbänden, Wissenschaft punkte dafür vorgelegt. Seither war nicht mehr viel zu und nicht zuletzt der Opposition ernst genommen. Unter hören. Wir haben daher in dieser Woche eine Kleine An- dem Titel „Eigenständige Jugendpolitik – Mehr Chancen frage auf den Weg gebracht, um zu erfahren, wie es um für junge Menschen in Deutschland“ soll die Phase der die Umsetzung steht. Jugend in den Fokus gerückt werden und eine eigenstän- dige Jugendpolitik formuliert werden. In dem Antrag Schwarz-Gelb legt nun einen Antrag zur eigenständi- wird angekündigt, politisch nicht nur auf sogenannte gen Jugendpolitik vor. Er greift Punkte auf, die die SPD Problemgruppen eingehen zu wollen, sondern alle Ju- begrüßt. Gegen einen Preis „Jugendfreundlichste Ge- gendlichen zu berücksichtigen. Diese Herangehensweise meinde Deutschlands“ ist nichts einzuwenden. Auch das begrüßen wir. Es ist heute wichtiger denn je, junge Men- Ziel, das Projekt „U18-Wahl“ im Haushalt 2013 finan- schen zwischen 14 und 25 im Blick zu haben, ihnen gute ziell abzusichern, ist gut. Das hatte die SPD schließlich Rahmenbedingungen zu bieten, ihnen ein sicheres und schon für den Haushalt 2012 gefordert. gerechtes Aufwachsen zu ermöglichen; denn der Druck Bei unseren Anträgen ist Kopieren ausdrücklich er- auf diese Gruppe wächst, wie wir alle wissen, stetig. laubt. Allerdings habe ich noch Zweifel daran, dass Union Das Wichtigste ist aber, das wir endlich gemeinsam und FDP tatsächlich ihr Bild von der Jugend gerade- über eine eigenständige Jugendpolitik diskutieren. rücken wollen. Ich erinnere an dieser Stelle an den soge- nannten Warnschussarrest, den der Koalitionsausschuss Leider nimmt Ihr Antrag nur einen Teil der Jugend- Anfang März beschlossen hat. Wieder einmal ging es da politik in den Blick. Er beschränkt sich auf Partizipation, um kriminelle Jugendliche. Für eine populistische For- Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen, kul- derung sind Jugendliche und ihr Fehlverhalten anschei- turelle Bildung und Medien. Auch die Forderungen zu nend nach wie vor immer mal wieder gut. den einzelnen Teilbereichen sind nicht der große Wurf. So soll zum Beispiel die kulturelle Bildung verbessert Ihr Antrag ist meiner Ansicht nach kein großer Wurf. werden, in dem als einzige Maßnahme ein „Praxishand- Zwar werden wichtige Elemente einer guten, eigenstän- buch Kulturelle Bildung“ erstellt wird. digen Jugendpolitik genannt, wie beispielsweise Partizi- pation, Medienkompetenz und kulturelle Bildung. Aber: Die SPD will eine eigenständige Jugendpolitik the- Wichtige Bereiche fehlen oder tauchen nur in schwam- matisch breiter aufstellen. Entscheidend ist, dass Jugend- migen oder nebulösen Ankündigungen auf. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20965

(A) Als zuständiger Berichterstatter kann ich nicht umhin, Programm „Soziale Stadt“, sind da ganz und gar nicht (C) Ihren Beitrag zum Bundesfreiwilligendienst zu kom- hilfreich gewesen. Dort, wo soziale Infrastruktur weg- mentieren. Sie schreiben: bricht, werden antidemokratische Strukturen gestärkt. Der von CDU/CSU und FDP beschlossene qualita- Wir meinen: Kommunen müssen als Lebensorte wei- tive wie quantitative Ausbau der Jugendfreiwilli- ter gestärkt werden. Die öffentliche Daseinsvorsorge gendienste und der Aufbau des neuen Bundes- muss mit Leben erfüllt werden. Städte und Gemeinden freiwilligendienstes haben in diesem Sinne die müssen mit soliden finanziellen Mitteln ausgestattet Bildungsfähigkeit junger Menschen gestärkt und werden. Dazu verlieren Sie in Ihrem Antrag kein Wort. zusätzliche Angebote zur persönlichen Entwick- lung geschaffen. Florian Bernschneider (FDP): Dass wir heute die Wenn man sich aber nun genauer mit der Schaffung des Gelegenheit haben, mit dem vorliegenden Antrag über Bundesfreiwilligendienstes befasst – und das ist ja alles Jugendpolitik zu diskutieren, ist – im Rückblick auf die noch nicht allzu lange her –, ging es Ihnen doch im Kern letzten Legislaturperioden – leider keine Selbstverständ- nicht darum, eine neue Engagementmöglichkeit für Ju- lichkeit. Dass das so ist, hat zweifelsohne auch gesell- gendliche zu schaffen. Vielmehr sollte ein Ersatz für den schaftliche Gründe: Wir alle wissen, dass in den letzten Zivildienst geschaffen werden, der Ihnen relativ überra- Jahren in der Familienpolitik vor allem Kinder im Fokus schend abhandengekommen ist. Dabei ging es Ihnen in standen. Zum Beispiel bei Diskussionen um den Ausbau erster Linie um die Arbeit, die die Zivildienstleistenden von Kita- und Krippenplätzen, schrecklichen Fällen von übernommen haben, und nicht um die Jugendlichen Kindesvernachlässigungen oder der frühkindlichen Bil- selbst. Deshalb: Verdrehen Sie hier bitte nicht die Tatsa- dung. chen! All diese Diskussionen, sie waren und sind richtig Wäre es Ihnen um die Jugendlichen und ihre hohe und wichtig. Und trotzdem darf das nicht dazu führen, Engagementbereitschaft gegangen, hätten Sie unseren dass wir die Belange Jugendlicher aus dem Blick verlie- Vorschlag zu einer massiven Ausweitung der Jugendfrei- ren. Und wenn in den letzten Legislaturperioden mal willigendienste aufnehmen können. Klar: Diese haben über Jugendliche diskutiert wurde, dann ging es in der Sie auch gestärkt, weil die Träger ansonsten den BFD Regel um Verbote: Beispielsweise um Flatratepartyver- nicht akzeptiert hätten. Aber tun Sie doch bitte nicht so, bote, weil Jugendliche angeblich zu viel trinken, oder als ob die Einführung des BFD eine jugendpolitische um Killerspielverbote, weil sie angeblich zu viele und Maßnahme gewesen wäre! die falschen Computerspiele spielen. (B) Sie widmen in Ihrem Antrag ein Kapitel auch der Ju- Und so muss man selbstkritisch festhalten, dass auch (D) gendpolitik im nationalen und europäischen Kontext. solche Diskussionen leider zu dem in den Medien häufig Das ist ein wichtiges Thema. Ich gebe Ihnen recht, wenn gezeichneten Zerrbild Jugendlicher beigetragen haben, Sie schreiben: „Eine moderne Jugendpolitik kann an na- einem Zerrbild, wonach die Jugendlichen nicht in der tionalen Grenzen keinen Halt machen. Der Erhalt eines Lage wären, die nötige Verantwortung für sich und un- eigenständigen Jugendprogramms der Europäischen sere Gesellschaft zu tragen. Union ist deswegen von zentraler Bedeutung.“ Beim Le- Den Gegenbeweis haben wir bereits mit der Reform sen des Antrags habe ich mir aber immer wieder die der Freiwilligendienste angetreten: Denn hier beweisen Frage gestellt, welchen Stellenwert eine andere wichtige Jugendliche tagtäglich, von Flensburg bis Konstanz, politische Ebene von Ihnen erfährt: Die Kommune. Im dass sie ohne jeden staatlichen Zwang bereit sind, Ver- Forderungsteil wird zwar kurz erwähnt, dass die Kom- antwortung für sich und andere zu übernehmen, und das munen darin bestärkt werden müssten, die Verantwor- in einem Ausmaß, das selbst die optimistischste Progno- tung für die Koordinierung und Vernetzung zwischen al- sen von uns allen übertrifft. len Beteiligten und Angeboten vor Ort wahrzunehmen. Aber was bedeutet das konkret? Dass CDU, CSU und FDP auch hier die klassische Verantwortung der Jugendpolitik, nämlich die Unterstüt- Wir haben in den letzten Jahren erlebt, mit welchen zung und Förderung Schwächerer, nicht aus dem Blick Schwierigkeiten die Kommunen zu kämpfen haben. Da- verloren haben, beweist die zusätzliche Förderung bei bei sind sie für eine gute, eigenständige Jugendpolitik besonderem pädagogischen Bedarf. Trotzdem muss es essenziell: Die Kommune spielt bei der Gestaltung von unser Anspruch sein, mit einer eigenständigen Jugend- Jugendpolitik eine entscheidende Rolle: Hier wachsen politik alle junge Menschen in den Blick zu nehmen und die Jugendlichen auf, hier werden Entscheidungen ge- diese mehr als früher als Querschnittaufgabe zu verste- troffen, die Jugendliche sofort und unmittelbar spüren hen. und die sie – sofern es ausreichend Partizipationsmög- lichkeiten gibt – beeinflussen können. Dass wir diesen Weg verfolgen, sehen Sie zum Bei- spiel daran, dass wir die Mobilitätsherausforderungen, Insofern ist die Auszeichnung einer in diesem Feld vor denen Jugendliche stehen, nicht nur mit dem Pro- vorbildlichen Kommune, wie Sie es vorschlagen, ein gramm „Auswärts zuhause“ ernst nehmen, sondern auch sinnvoller Baustein. Jedoch muss dafür gesorgt sein, in der Verkehrspolitik mit dem Führerschein ab 17. dass die Kommunen ihren Aufgaben auch gerecht wer- den können. Kürzungen, wie sie Schwarz-Gelb in den Mit dem vorliegenden Antrag nehmen wir uns aber letzten Jahren vorgenommen hat, zum Beispiel beim weiterer Herausforderungen an. Zum Beispiel im Be- 20966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) reich der Partizipation. Das Lieblingswort eines jeden 25 Jahren im SGB II zurückzunehmen. Dort steht: Ein (C) Jugendpolitikers, das in keiner Sonntagsrede fehlen darf. Erwachsener muss ein Amt um Erlaubnis bitten, wenn er Überall wird mehr Partizipation gefordert. Aber wenn es bei seinen Eltern ausziehen und eigenständig leben dann konkret wird, ziehen wir uns als Bundespolitiker möchte. Der Regelsatz für Jugendliche in Bedarfsge- gerne aus der Verantwortung und erklären, dass die poli- meinschaften beträgt nur 80 Prozent von dem eines al- tische Beteiligung Jugendlicher ja primär in den Kom- leinstehenden Erwachsenen. Sind Jugendliche keine munen gelebt und umgesetzt werden müsse. Das ist un- ganzen Menschen? Ist das etwa Ihre eigenständige Ju- befriedigend, und hier wollen wir ansetzen. Deshalb gendpolitik? streben wir in diesem Antrag ein ganzes Bündel an Maß- nahmen an, wie der Bund in Kooperation mit Ländern Auch in anderen Politikbereichen setzt sich die Gän- und Kommunen mehr Partizipation und Beteiligung jun- gelung der Jugendlichen fort. So müssen zum Beispiel ger Menschen gewährleisten kann. Diese Vorschläge er- Jugendvereine ausgerechnet beim Bundesprogramm für strecken sich über die Erarbeitung von Beteiligungs- Toleranz und Vielfalt eine sogenannte Extremismusklau- instrumenten in Zusammenarbeit mit den kommunalen sel unterzeichnen, wenn sie Fördermittel bekommen Spitzenverbänden bis hin zur Reform des zentralen mo- wollen. Sie werden damit unter einen Generalverdacht netären Instruments des Bundes in der Kinder- und Ju- gestellt, und eigenständige Entscheidungen werden ih- gendpolitik, des Kinder- und Jugendplans. nen abgesprochen. Wer die Jugendpolitik voranbringen will, muss sich Immer wieder sind Gerichtsentscheidungen notwen- aber auch an der Lebensrealität junger Menschen in un- dig, um die Bundesregierung an die Rechtsstaatlichkeit serem Land orientieren. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Politik zu erinnern. Gerade in dieser Woche über- dieser Lebensrealität sind die neuen Medien, deren gab das Sozialgericht Berlin die Frage der Höhe der Re- Chancen, zum Beispiel zur Partizipation, wir mit einer gelsätze im SGB II an das Bundesverfassungsgericht. stärkeren Förderung der Medienkompetenz nutzen wol- Das Verwaltungsgericht Dresden beanstandete die Extre- len. mismusklausel. Ist das Ihre Art der Demokratiebildung, die Sie in Ihrem Antrag fordern? Zugleich dürfen wir die Augen vor den Herausforde- rungen, die die neuen Medien mit sich bringen, aber Heute Nachmittag haben hier im Plenum die Regie- nicht verschließen. Deswegen unterbreiten wir mit dem rungsfraktionen dem Bundestag begründet, warum sie vorliegenden Antrag Vorschläge, wie auf eben diese He- das Jugendstrafrecht verschärfen wollen, indem Sie den rausforderungen vonseiten des Bundes und in Koopera- Warnschussarrest für jugendliche Straftäter ermöglichen. tion mit den Ländern – Stichwort Lehreraus- und -fort- Von Förderung und Prävention war dabei keine Rede. Ist bildung – adäquat reagiert werden kann. das der ganzheitliche Ansatz für diesen Lebensabschnitt, (B) von dem im Antrag die Rede ist? (D) In diesem Sinne freue mich auf Ihre Anregungen und auf eine hoffentlich konstruktive Antragsberatung. Das Wort „Jugendarmut“ fehlt in Ihrem Antrag kom- plett. Wenn man dieses zunehmende Problem junger Diana Golze (DIE LINKE): Nun endlich liegt er vor, Menschen jedoch ausblendet, hilft auch eine „Allianz für der lange angekündigte Antrag der Regierungsfraktionen Jugend“ nicht, denn wer das Problem nicht zur Kenntnis zur eigenständigen Jugendpolitik. Im Koalitionsvertrag nehmen will, wird auch keine Lösungsansätze dafür ent- von 2009 hatte man sich auf Aktivitäten dazu verstän- wickeln. digt, inzwischen schreiben wir das Jahr 2012. Bislang Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Nach der widmete sich die Bundesregierung, wenn überhaupt, nur langen Phase der Ankündigung dieses Antrags hätte ich den Problemen, die Jugendliche machen, und nicht den mir wahrlich mehr Interesse für die Lebenswirklichkeit Problemen, die Jugendliche haben. junger Menschen in unserem Land gewünscht und, da- Schauen wir uns also Ihre Vorhaben mal genauer an. raus abgeleitet, mehr und qualifiziertere Initiativen der Bundesregierung. Ich zitiere aus dem Antrag: „Eigenständige Jugend- politik bedeutet auch, gleiche Chancen am Start zu schaffen, ohne Ergebnisgleichheit am Ziel zu verordnen. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist Sie unterstützt Jugendliche, wo es nötig ist, und befähigt gut, die Jugendpolitik als eigenständigen Politikbereich sie, ohne zu bevormunden.“ Und weiter: „Junge Men- hier im Deutschen Bundestag zu debattieren. Das ge- schen mit sozialen Benachteiligungen oder individuellen schieht viel zu selten. Es ist aber auch kein Wunder: Beeinträchtigungen haben oftmals einen besonderen Un- denn die Impulse und Maßnahmen der Bundesregierung terstützungsbedarf, dem durch passgenaue Maßnahmen und der Koalition waren und sind wirklich bescheiden. Rechnung getragen werden muss, um gerechtere Start- Im vorgelegten Antrag geht es um einen eigenen Quer- chancen für diese jungen Menschen zu schaffen.“ Zitat schnittbereich Jugend. Das ist ein richtiger, notwendiger Ende. Ansatz. Das ist auch deshalb wichtig, weil jugendpoliti- sche Anliegen zu oft eben nur im Kontext eines anderen, Doch was tun Sie stattdessen? Sie kürzen beim Pro- dann übergeordneten Sachverhalts, wie etwa Bildungs- gramm „Jugend stärken“. Sie kürzen im Bereich der oder Arbeitsmarktpolitik, behandelt werden. Allerdings Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Gerade ges- wird nach Lektüre des Antrags klar, dass es nach wie vor tern haben Sie unseren Antrag abgelehnt, die diskrimi- keine schwarz-gelbe Konzeption gibt, das Ziel einer ei- nierenden Regelungen bei jungen Erwachsenen unter genständigen Jugendpolitik praktisch zu erreichen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20967

(A) Im Antrag werden einige Facetten der Jugendpolitik endlich umgesetzt werden. Dazu muss ein glaubhaftes (C) zunächst völlig unsystematisch nebeneinandergestellt. Konzept her. Und es fehlen wichtige Punkte, die ich hier Dann folgen eine Reihe von Absichtserklärungen. Die nur kurz anreißen kann. lesen sich zunächst ganz nett. Aber sie bleiben inhaltlich Ganz wichtig ist dabei die Stärkung der Rechte von weitgehend unbestimmt. Sie fügen sich nicht in eine Ge- Kindern und Jugendlichen im Grundgesetz. samtkonzeption, sondern sind eher wahllos aneinander- gereiht. In der Sache selber sind sie außerordentlich un- Wir brauchen klar geregelte, verbindliche Beteili- ambitioniert. gungsrechte in Jugendinstitutionen. Und bei fast allen dieser Punkte muss man fragen: Wir brauchen die verbriefte Berücksichtigung von Ju- Wieso schafft die Koalition diesen Aufschlag erst nach gendbelangen in den Gemeindeordnungen. zweieinhalb Jahren Amtszeit? Und warum kommt dann nur so etwas Zaghaftes und Unfertiges dabei heraus? Ein Wir müssen die Diskussion über Ombudschaften in schönes Beispiel, wie lange der jugendpolitische Schlaf der Jugendhilfe führen. der Koalition schon andauert: Im Antrag wird als erstes: Und die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahren „Die Festlegung im Koalitionsvertrag…eine eigenstän- wäre zeitgemäß und überfällig. Das wäre die wirksame dige Jugendpolitik…zu etablieren…“ begrüßt. Klartext: Alternative zu Ihrem Alibi-Projekt „U18-Wahl“, Forde- Wir nehmen jetzt in 2012 der Vertrag von 2009 zur rung 20. Kenntnis. Na wunderbar! Aber all diese Bereiche bleiben eine Leerstelle der Wenn es im Antrag mal konkret wird, werden die Koalition. Deswegen muss man abschließend festhalten: Dinge beschönigt: Entgegen der Feststellung im Antrag Mit diesem Antrag und der Debatte hakt Schwarz-Gelb hat die Bundesregierung eben noch nicht dafür gesorgt, mut- und kraftlos ein Thema ab, mit dem es sich noch „dass Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage sein nie richtig anfreunden konnte. Das ist mehr als bedauer- kann“. Da ist zwar ein Verfahren im Gange. Aber das ist lich. eben noch nicht abgeschlossen. Und es ist derzeit wohl leider auf einem schlechten Weg, wenn man sich den Re- ferentenentwurf zum Baugesetz anschaut! Oder um ein Anlage 3 anderes Beispiel zu nennen: Das Deutschlandstipendium – 10. – ist ein totaler Flop und keine jugendpolitische Er- Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede rungenschaft. zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- Auch der Forderungsteil stimmt unzufrieden. Irgend- setzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher (B) wann soll wohl eine „Allianz für Jugend“ initiiert wer- und anderer Vorschriften (175. Sitzung, Tages- (D) den. „Wenn’s nützt“ möchte man sagen. Natürlich kann ordnungspunkt 15) so eine Maßnahme nicht schaden; der üblicherweise le- diglich anregende, appellative Charakter solcher Allian- Michael Hennrich (CDU/CSU): Wir haben uns zen ist aber bei Weitem nicht ausreichend. Diesem Punkt heute zur ersten Lesung des Entwurfs eines Zweiten Ge- schließt sich die Forderung an, es sollten dazu bisherige setzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Erfahrungen aus der EU-Jugendstrategie genutzt wer- Vorschriften versammelt. Es ist ein Gesetz, das nach den. Die Koalition hat offenbar so wenig auf der Pfanne, dem AMNOG das zweite große gesetzgeberische Vorha- dass sie absolute Selbstverständlichkeiten zu eigenen ben auf dem Arzneimittelsektor ist. Alles in allem lässt Forderungspunkten aufbauscht. Natürlich wird man jed- sich feststellen, dass es im Arzneimittelbereich gut und wede fundierte Erfahrung sinnvoll zu nutzen versuchen. ruhig verläuft. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren sind bisher auch keine Entschließungsanträge der Oppo- Ähnlich substanzarm wird es an der Stelle, an der die sition eingegangen. Ich verstehe das so, dass Sie, werte Koalition empfiehlt, eine „querschnittliche Jugendpoli- Damen und Herren von der SPD, den Grünen und der tik“ zu entwickeln. Das ist doch klar, dass das nur als Linken, mit unserer Arzneimittelpolitik durchaus zufrie- Querschnittsaufgabe funktionieren kann. Gespannt darf den sind. man auf die Umsetzung einer solchen Querschnittpolitik durch die Bundesregierung sein. Wir haben ja jüngst Anders, ich erinnere mich lebhaft, war das noch beim beim dringlichen Kinderschutz gesehen, dass BMFSFJ AMNOG vor gut eineinhalb Jahren. Bei der Verabschie- und BMG schlichtweg nicht kooperationsfähig waren. dung des AMNOG waren Sie noch nicht ganz so weit, Da möchte ich mal sehen, wie Frau Schröder demnächst und Sie haben damals bei der namentlichen Abstimmung mit Herrn Bahr und Frau von der Leyen einvernehmlich – die übrigens bezeichnenderweise am 11.11. stattfand – Jugendpolitik macht. geschlossen mit Nein gestimmt. Heute haben sich die Zeichen gewendet, wie ich erst neulich auf einer Veran- Es geht im Antrag dann weiter mit Forderungen nach staltung des BPI feststellen konnte. Frau Bender von den Impulsen, Erprobungen und vielem mehr, was Zeit Grünen ist im Hinblick auf das AMNOG so etwas wie braucht und unverbindlich ist. Hinsichtlich der Partizipa- der Lordsiegelbewahrer, der bereit ist, in die Bresche zu tion wird man jedoch ein wenig „konkreter“: Es soll eine springen, wenn es Überlegungen gibt, das Gesetz zu ver- Studie her. Und mit den Kommunen sollen mal Beteili- ändern. gungsinstrumente überlegt werden. Das, was die Koali- tion hier auftischt, ist doch reine Augenwischerei. Die Aber in der Tat, wir können mit der Arzneimittelpoli- Instrumente gibt es, sie funktionieren, sie müssen nur tik der Koalition zufrieden sein. Die mit dem GKV- 20968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Finanzierungsgesetz verabschiedete Erhöhung des Her- Ich möchte nicht verschweigen, dass diese Neurege- (C) stellerabschlags zeigt Wirkung. In der Folge konnten die lungen teilweise zu erheblichen finanziellen Belastungen Arzneimittelausgaben – übrigens als einziger Teilbereich für die Industrie führen. Allerdings halte ich – unabhän- des öffentlichen Gesundheitssystems – deutlich reduziert gig davon, dass uns sowieso nur ein geringfügiger Um- werden. Auch mit dem AMNOG haben wir Maßnahmen setzungsspielraum verbleibt – die Vorgaben mit Blick auf den Weg gebracht, die zu einer Stabilisierung der auf Schutz und Sicherheit der Patientinnen und Patienten Arzneimittelausgaben führen. Einen wesentlichen Bei- für notwendig. trag hierzu leisten zweifelsohne der Apothekenabschlag und die Großhandelsvergütung. Die frühe Nutzenbewer- Natürlich werden wir uns im Zuge der AMG-Novelle tung stellt in Bezug auf die Effektivität der Arzneimittel- noch einmal mit dem AMNOG beschäftigen. Allerdings versorgung einen wahren Quantensprung dar, und zwar muss nicht immer der Gesetzgeber Probleme lösen, ohne dass den Menschen in Deutschland der Zugang zu manchmal obliegt diese Aufgabe allein der Selbstver- Innovationen verkürzt wurde. waltung. Teilkomplexe hat die Selbstverwaltung bereits guten Lösungen zugeführt; ich denke an dieser Stelle Heute wird das AMNOG im Ausland selbst von denje- zum Beispiel an die Orphan Drugs. Trotzdem müssen nigen gepriesen, die es vor eineinhalb Jahren noch vehe- die Beteiligten zukünftig weiter miteinander arbeiten ment bekämpft haben. Auch den Vertretern des GKV- und sich auf praxisgerechte Lösungen einigen. Spitzenverbands, die das Gesetz ursprünglich als „Pharma- beglückungsgesetz“ bezeichneten, konnte – wenn auch Aufmerksam beobachten wir in diesem Zusammen- mühsam – die Wirkungsweise der Vorgaben verständlich hang etwa das Thema Vergleichstherapie. Hier muss bei gemacht werden. Selbst die Industrie hat das neue Sys- der Auswahl der Vergleichstherapie die Frage im Mittel- tem zwischenzeitlich anerkannt, sodass wir uns in erster punkt stehen, ob ein tatsächlicher Zusatznutzen für das Linie auf die Umsetzung der AMG-Novelle konzentrie- neue Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Thera- ren können. piestandard besteht. Erst bei den Preisverhandlungen steht dann die Kostenfrage im Mittelpunkt. Es ist zudem Mit dem Gesetz sollen zwei Richtlinien der Europäi- sicherzustellen, dass keine Studien mit einer Vergleichs- schen Union umgesetzt werden, zum einen die Richtlinie therapie verlangt werden dürfen, die aus ethischen Grün- zur Pharmakovigilanz, zum anderen die Richtlinie zum den nicht genehmigt würden. Schutz vor Arzneimittelfälschungen. Beide Richtlinien verbindet das Ziel, den Schutz der Patienten und Versi- Beim Thema Beratungsgespräche hat sich vieles posi- cherten im Bereich der Arzneimittelversorgung verbes- tiv gewendet. Aber in Bezug auf die Verbindlichkeit des sern zu wollen. Vor diesem Hintergrund greifen sie in Beratungsgesprächs beim GBA findet sich durchaus viele Bereiche des Arzneimittelgesetzes ein. Wir haben noch etwas Sand im Getriebe. Möglich wäre es etwa, (B) dadurch die Chance, einige Vorschriften ganz grundsätz- dass die Vergleichstherapien vor Studien der Phase III (D) lich zu überdenken und auf den Prüfstand zu stellen. gemeinsam verbindlich vereinbart werden. Hier wäre dann zum Beispiel die Frage zu klären, welche Ver- Einen großen Teil der Neuerungen halte ich für gleichstherapie für ein Solitärmedikament zu wählen ist. durchaus begrüßenswert. So werden etwa die Risiko- Der vom GBA durchgeführte Workshop am 22. März managementsysteme der Zulassungsinhaber optimiert. zeigt aber, dass man hier auf einem guten Weg ist. Und auch die Zusammenarbeit der Gesundheitsbehörden wird verbessert, indem die europäische Vernetzung end- Die Preisfindung ist sicherlich ein Komplex, bei dem lich forciert wird. Dem Schutz der Versicherten dient, wir erst einmal abwarten sollen, wie verhandelt wird. dass etwa der Begriff der Nebenwirkung erweitert wird. § 4 Nr. 13 AMG erfasst dann auch Überdosierungen, Entspannt sehe ich übrigens der Forderung der Indus- Medikationsfehler und Missbrauch. Zugute kommt ihm trie nach der Vertraulichkeit des Erstattungsbetrags entge- auch, dass die Meldewege bei Verdachtsfällen verkürzt gen. Hier sollten wir uns überlegen, ob uns das nicht sogar werden. Hier werden bereits in den Patienteninformatio- entgegenkommt, weil in vertraulichen Verhandlungen nen Hinweise zu finden sein, wohin man sich bei Ver- mehr Spielraum für eine Rabattgewährung verbleibt. dachtsfällen wenden soll. Für die Fachinformation wird Überprüft werden muss aber die Möglichkeit zur Aus- eine gleichlautende Regel erlassen werden. Gleichzeitig schreibung von Zytostatika; denn es droht zu einem Oli- werden die Informationsmöglichkeiten der Verbraucher gopol in der Versorgung der Krebspatienten zu kommen. verbessert. Ein nationales Internetportal wird aufgebaut Zudem drohen Qualitätseinbußen und Probleme in der und mit europäischen Datenbanken vernetzt werden, um Flächendeckung, wenn die Krankenkassen mit einzelnen Transparenz für den Versicherten zu schaffen und ihm Apothekern Selektivverträge über die Zytostatikaversor- eine umfassende Aufklärung zu ermöglichen. gung abschließen. Dabei will ich die Wirkweise der Ra- Für begrüßenswert halte ich auch den Schritt, zum battverträge nicht infrage stellen. Sie tragen maßgeblich Schutz der legalen Vertriebswege die Anforderungen an zu Einspareffekten bei Arzneimittelversorgung bei. Hersteller und Vertreiber zu konkretisieren und auf diese Allerdings ist auch Teil unserer Aufgabe, die Versor- Weise transparenter zu gestalten. Besonders fälschungs- gungssicherheit zu gewährleisten; Lieferengpässe müs- gefährdete Arzneimittel etwa erhalten in diesem Rahmen sen vermieden werden. Gleiches gilt übrigens für die zusätzliche Sicherheitsmerkmale zur Identifizierung ein- Oligopolbildung. zelner Arzneimittelpackungen. Die Richtlinien bringen überdies Veränderungen im Bereich Betäubungsmittel- Was passiert mit den sogenannten Portfolioverträgen? recht sowie die Anpassung des Heilmittelwerbegesetzes Seit dem Jahr 2009 wird hier vergeblich nach einer ein- an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. vernehmlichen Lösung gesucht. Dabei behindern die Er- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20969

(A) weiterungs- und Aufnahmeklauseln unstreitig den Wett- verbesserte Ausstattung der Banken mit Eigenkapital (C) bewerb. Ohne gesetzgeberische Maßgaben scheint sich dringend erforderlich ist, um die Stabilität des Finanz- hier aber nichts zu tun. Dieses Fazit gilt leider auch für systems zu verbessern. Im Vordergrund steht das Eigen- den Umgang mit der personalisierten Medizin. Die be- kapital, aber es gibt natürlich eine Vielzahl von Regelun- sondere Diagnostik, die hier notwendig wird, wird letzt- gen, die in Zukunft implementiert werden sollen. Ich lich wegen einer fehlenden Abrechnungsziffer im EBM nenne die Stichworte Leverage Ratio, Kapitalerhaltungs- nicht ausreichend erbracht. Das kann und darf nicht sein. puffer, antizyklischer Kapitalpuffer, Vergütungsregeln usw. Abschließend möchte ich noch auf die Rahmenbedin- gungen für Apotheker eingehen. Am Pick-up-Verbot Die vorliegenden Regelungen gehen in die richtige halten wir fest. Nachdem auch der Bundesrat ein Verbot Richtung. Sie reichen aber nicht. Sie müssen weiterent- des Versandhandels anstrebt, liegt es in den Händen der wickelt werden. Deshalb haben wir einen Antrag einge- Bundesregierung hier die richtigen Entscheidungen zu bracht, der fordert, einen Teil der Basel-III-Regeln nicht treffen. Nach Auslaufen der Sparmaßnahmen Ende die- als Verordnung, sondern als Richtlinie umzusetzen. Da- ses Jahres ist der Apothekenabschlag erneut zu vereinba- mit wollen wir der Situation Rechnung tragen, dass na- ren. Um hier eine faire Verhandlungsbasis zu schaffen, tionale Besonderheiten auch bei der Umsetzung von Ba- soll der für 2009 und 2010 geltende Abschlag als Grund- sel III berücksichtigt werden. Deutschland verfügt über lage dienen. ein differenziertes dreigliedriges Bankensystem. Beson- ders die Sparkassen und Genossenschaftsbanken haben Wie ich eingangs ankündigte, nutzen wir die AMG- sich als systemstabilisierend in der Krise gezeigt. Die Novelle auch, um die bestehende Regelung kritisch zu Vorschläge, die in Basel erarbeitet wurden, sind ein Re- hinterfragen. Unsere Pläne in diese Richtung habe ich gelungswerk für international agierende Großbanken. Ihnen gerade vorgelegt. Ich möchte die Gelegenheit aber Deshalb sehen wir die Notwendigkeit einer Anpassung auch nutzen, an alle Beteiligten zu appellieren: Lassen der Vorschriften an nationale Besonderheiten. Diesen Sie uns konstruktiv miteinander tätig werden und nicht Überlegungen wollen sich die Koalitionsfraktionen lei- in allgemeines Wehgeschrei ausbrechen, wie es beim der nicht anschließen. Damit wird eine Chance vertan, AMNOG der Fall war. Diese Worte richte ich auch noch deutsche Interessen besser zu berücksichtigen. einmal explizit an die Industrie, die immer wieder ge- droht hat, bestimmte Produkte nicht auf den deutschen Wir unterstützen nachdrücklich den Grundsatz „same Markt zu bringen. Damit schneidet man sich ins eigene risks, same rules“. Wir wollen keine Aufweichung der Fleisch. Ich gebe zu bedenken, dass unsere europäischen Regulierung, im Gegenteil, wir wollen einen angemesse- Nachbarländer über keine rosige Finanzlage verfügen. nen regulatorischen Umgang auch mit kleinen Instituten, Das gilt auch für Frankreich, wo Sarkozy gerade ange- eine vernünftige Regulierung mit Biss. (B) (D) kündigt hat, 4,5 Milliarden Euro Einsparungen allein bei Mit unserem Antrag „Umsetzung von Basel III: der Arzneimittelversorgung erzielen zu wollen. Spanien Finanzmärkte stabilisieren – Realwirtschaft stärken – geht in eine ähnliche Richtung, und Griechenland will Kommunalfinanzierung sichern“ wollen wir diese Ziel- ich hier gar nicht erwähnen. setzung konkretisieren. Wir bedauern sehr, dass die Ko- Zu denken, dies wäre ein europäisches Problem, ist alitionsfraktionen nicht bereit waren, in dieser Situation naiv. Indien ist ja nicht einmal mehr bereit, Patente und einen gemeinsamen Antrag mit der Opposition auf den Eigentumsrechte anzuerkennen. Insofern wünsche ich Weg zu bringen. Damit hätte man die Bundesregierung keine weitere Drohungen, sondern den konstruktiven bei den Verhandlungen in Brüssel unterstützen können. Dialog aller Beteiligten, auf den ich mich freue. Offenkundig sind die Koalitionsfraktionen nicht in der Lage, einheitliche Positionen bei den anstehenden Fra- gen zu finden. Anlage 4 Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, bei den Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede Verhandlungen über Basel III folgende Punkte umzuset- zen: die Eigenkapital- und Liquiditätsregeln nach Ge- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des schäftsmodell und Größe der Institute differenzieren, die Berichts zu den Anträgen: Risikogwichte von Mittelstandskrediten an ihr tatsächli- – Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte sta- ches Risiko anpassen, die besonderen Bedingungen der bilisieren – Realwirtschaft stärken – Kom- Finanzverbünde bei Sparkassen und Genossenschafts- munalfinanzierung sichern banken berücksichtigen, bei der Bankenaufsicht zu einer Arbeitsteilung zwischen europäischer und nationaler – Besonderheiten der nationalen Finanz- Bankenaufsicht kommen, die die Unterschiede zwischen märkte bei Umsetzung von Basel III berück- systemrelevanten internationalen Großbanken und den sichtigen Sparkassen und Genossenschaftsbanken berücksichtigt, (175. Sitzung, Tagesordnungspunkt 27) bei der risikounabhängigen Verschuldungsobergrenze – der sogenannten Leverage-Ratio – differenzieren. Manfred Zöllmer (SPD): Basel III ist ein notwendi- Wir begrüßen, dass diese Punkte bei den laufenden ges, aber nicht hinreichendes Regelwerk zur Stabilisie- Verhandlungen in Brüssel eine große Rolle spielen. Die rung des Finanzsystems. Es ist notwendig, weil der Bundesregierung hat unsere Initiative dankenswerter- Verlauf der Finanzmarktkrise gezeigt hat, dass eine weise weitgehend aufgegriffen. 20970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) Es wird zurzeit intensiv über einen Kompromiss auf Klärung der Besteuerung hybrider Rechtsformen. Sie (C) der Basis von Vorschlägen der dänischen Präsidentschaft bedeutet insbesondere keine Vorabfestlegung eines verhandelt. Bei diesen Verhandlungen dürfen bereits ge- intransparenten oder teiltransparenten Besteuerungs- fundene Kompromisse, etwa bei der Definition des har- systems bezüglich der KGaA. ten Kernkapitals, nicht infrage gestellt werden. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Die neuen Regeln sollten Probleme minimieren, nicht Problemanalyse bei der Besteuerung hybrider Ge- neue schaffen. Deshalb bleibt es wichtig, zum Beispiel sellschaften zügig abzuschließen und notwendige ge- dafür zu sorgen, dass für unsere Kommunen auch in Zu- setzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. kunft eine ausreichende Kreditversorgung sichergestellt ist. – Gesetz über die geodätischen Referenzsysteme, -netze und geotopographischen Referenzdaten Wir erwarten, dass diese Verhandlungen bald abge- des Bundes (Bundesgeoreferenzdatengesetz – schlossen werden, damit die neuen Regeln baldmög- BgeoRG) lichst in Kraft treten können. – Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetz- Die neuen Regeln sind notwendig, aber nicht hinrei- buchs zum besseren Schutz der Verbraucherin- chend. Banken müssen wieder dahin gebracht werden, nen und Verbraucher vor Kostenfallen im elek- ihre volkswirtschaftliche Funktion als Kreditgeber bes- tronischen Geschäftsverkehr und zur Änderung ser zu erfüllen, und sie sollten weniger Anreize haben, des Wohnungseigentumsgesetzes übermäßige Risiken einzugehen. Die neuen Regeln kön- nen ein Schritt in diese Richtung sein, sie müssen aber – Gesetz über die Vereinfachung des Austauschs kontinuierlich weiterentwickelt werden. Ein Update auf von Informationen und Erkenntnissen zwischen Basel III bleibt notwendig. Darüber hinaus muss sicher- den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaa- gestellt werden, dass die vereinbarten Regeln auch inter- ten der Europäischen Union national umgesetzt und eingehalten werden. Dies muss – Siebtes Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtli- überwacht und kontrolliert werden. Da die Risiken glo- cher Vorschriften bal sind, müssen auch die Regeln global sein. Wenn die Bundesregierung in diesem Sinne aktiv – Gesetz zur Neuordnung des Energieverbrauchs- wird, hat sie unsere volle Unterstützung. kennzeichnungsrechts – Gesetz zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Anlage 5 Deutschland und der Regierung des Staates (B) (D) Amtliche Mitteilungen Kuwait über die Zusammenarbeit im Sicherheits- bereich Der Bundesrat hat in seiner 895. Sitzung am 30. März 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- – Gesetz zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 zwischen der Regierung der Bundesrepublik des Grundgesetzes nicht zu stellen: Deutschland und der Regierung des Staates Katar über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreform- gesetzes und von steuerlichen Vorschriften – Gesetz zu dem Abkommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über die Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Orga- ßung gefasst: nisierten und der schweren Kriminalität Zu Artikel 3 Nummer 2 (§ 50d Absatz 11 EStG) – Gesetz zu dem Abkommen vom 27. Mai 2009 Durch das verabschiedete Gesetz soll die Inan- zwischen der Regierung der Bundesrepublik spruchnahme abkommensrechtlicher Schachtelprivi- Deutschland und der Regierung des Königreichs legien, die inländischen Kapitalgesellschaften beim Saudi-Arabien über die Zusammenarbeit im Bezug von Dividenden ausländischer Kapitalgesell- Sicherheitsbereich schaften zustehen, verhindert werden, soweit durch – Gesetz zu dem Abkommen vom 14. April 2010 eine hybride Rechtsform der inländischen Gesell- zwischen der Regierung der Bundesrepublik schaft eine Inanspruchnahme durch natürliche Perso- Deutschland und der Regierung der Republik nen möglich ist. Dies betrifft insbesondere die Kom- Kosovo über die Zusammenarbeit im Sicherheits- manditgesellschaft auf Aktien (KGaA) und atypisch bereich stille Gesellschaften. Das Gesetz ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen, und – Gesetz zu dem Abkommen vom 30. August 2010 angesichts bekannt gewordener Steuermindereinnah- zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der men und entsprechender Gestaltungsmodelle auch Ukraine über die Zusammenarbeit im Bereich erforderlich. der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, Die Einführung des § 50d Absatz 11 EStG ist lediglich des Terrorismus und anderer Straftaten von er- eine Zwischenlösung auf dem Weg zur grundlegenden heblicher Bedeutung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20971

(A) Zudem hat der Bundesrat in seiner 895. Sitzung am derholt eingebrachten Bundesratsinitiativen Fortgang (C) 30. März 2012 nachfolgende Entschließung zum Refe- zu geben oder unverzüglich einen Gesetzentwurf auf rentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein der Grundlage des Eckpunktepapiers des Bundes- Zweites Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts ministeriums der Justiz zur Kostenbegrenzung im Pro- (2. KostRMoG) gefasst: zesskostenhilfe- und Beratungshilferecht vorzulegen. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Bundesregie- auch auf den Beschluss der Regierungschefinnen und rung, noch in der laufenden Legislaturperiode die Regierungschefs der Länder zur Entwicklung der bereits 2001 begonnene Modernisierung des Justiz- Auslagen in Rechtssachen, der auf dem Jahrestreffen kostenrechts weiter zu führen. Der Bundesrat nimmt vom 26. bis 28. Oktober 2011 in Lübeck gefasst jedoch den Referentenentwurf des Bundesministe- wurde. riums der Justiz für ein Zweites Gesetz zur Moderni- sierung des Kostenrechts wegen der zu erwartenden Der Bundesrat mahnt des Weiteren dringend eine Be- Auswirkungen auf die Länderhaushalte mit großer grenzung und einen Ausgleich der Mehrbelastungen Sorge zur Kenntnis. beiden Ausgaben für Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer an. Insbesondere in Betreuungs- Der Bundesrat fordert die Bundesregierung dringend sachen, Strafsachen und in der Sozialgerichtsbarkeit auf, bei ihrem Gesetzesvorhaben mit Blick auf die ist bei niedrigen Rückflussquoten mit einem steilen auch für die Länder geltende Schuldenbremse den Ausgabenanstieg zu rechnen. berechtigten Anliegen der Länder nach einer deutli- chen Verbesserung des Kostendeckungsgrades in der Begründung: Justiz gerecht zu werden. Das Bundesministerium der Justiz hat im November Seit dem Inkrafttreten des ersten Kostenrechtsmoder- 2011 den schon seit Längerem angekündigten Refe- nisierungsgesetzes im Jahr 2004 hat sich der Kosten- rentenentwurf für das Zweite Gesetz zur Modernisie- deckungsgrad der Justiz in den Ländern weiter rung des Kostenrechts vorgelegt. Der Bundesrat un- verschlechtert. Dieser Entwicklung muss Einhalt ge- terstützt die Bestrebungen der Bundesregierung nach boten werden. einer grundlegenden Überarbeitung der Kostenord- nung und der Justizverwaltungskostenordnung Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb ebenso wie die mit dem Entwurf verfolgte Anpas- auf, die finanziellen Auswirkungen des vorgesehe- sung der zuletzt im Jahr 2004 novellierten Gesetze (B) nen Gesetzes auf die Länderhaushalte nochmals ein- und der darin enthaltenen Gebühren. Viele der in (D) gehend zu überprüfen, auf der Ausgabenseite die dem Referentenentwurf vorgeschlagenen strukturel- Mehrbelastungen in vollem Umfang zu berücksichti- len Änderungen gehen in die richtige Richtung. gen und deutlich höhere Einnahmen für die Länder zu ermöglichen. Nur dadurch können die Länder ge- Nach den Ergebnissen eines Treffens der Amtsche- währleisten, dass die Justiz ihre Aufgabe, Rechts- finnen und Amtschefs der Justizministerien der Län- schutz auf hohem Niveau innerhalb angemessener der im Januar 2012 besteht indes Einigkeit, dass der Zeit zu gewähren, auf Dauer erfüllen kann. Referentenentwurf vor dem Hintergrund der zu er- wartenden Auswirkungen auf die Landesjustizhaus- Der Bundesrat spricht sich nachdrücklich dafür aus, halte ohne wesentliche Korrekturen nicht akzeptiert im weiteren Gesetzgebungsverfahren die Vorschläge werden kann. der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kostendeckungs- grad in der Justiz“, wie sie Eingang in den Beschluss Die vom Bundesministerium der Justiz vorgeschla- der Konferenz der Justizministerinnen und Justiz- genen Anpassungen bei den Gerichtsgebühren, und minister am18. und 19. Mai 2011 in Halle gefunden hier insbesondere die lineare Erhöhung der Wertge- haben, umfassend zu berücksichtigen. Dies gilt bühren nach dem Gerichtskostengesetz und dem Ge- besonders für die Kernforderungen nach einer Anhe- setz über Gerichtskosten in Familiensachen um bung der Wertgebühren nach § 34 des Gerichtskosten- lediglich 3,8 Prozent, sind nicht geeignet, den Kos- gesetzes entsprechend der Preis- und Einkommensent- tendeckungsgrad in der Justiz nachhaltig zu verbes- wicklung seit ihrer letzten linearen Anpassung im Jahr sern. Es steht vielmehr zu besorgen, dass die ge- 1994 sowie für eine Anhebung der Gebührensätze in plante Novelle den Kostendeckungsgrad in der Justiz der Berufungs- und Beschwerdeinstanz. weiter verschlechtern wird.

Der Bundesrat hält es außerdem für unabdingbar Die in dem Referentenentwurf vorgesehenen Anpas- notwendig, das Gesetzgebungsverfahren zur Kos- sungen der Rechtsanwaltsgebühren, der Vergütungen tenbegrenzung im Prozesskostenhilfe- und Bera- für Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer tungshilferecht im zeitlichen Gleichlauf mit dem und der Entschädigungen für Zeugen, ehrenamtliche Gesetzgebungsverfahren für das Zweite Gesetz zur Richterinnen und Richter und ehrenamtlich tätige Modernisierung des Kostenrechts durchzuführen. Vormünder und Betreuer führen zu erheblichen Der Bundesrat fordert die Bundesregierung und den Mehrbelastungen für die Länder bei den Auslagen in Deutschen Bundestag auf, entweder den bereits wie- Rechtssachen, die ohne einen gleichzeitigen spürba- 20972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012

(A) ren Ausgleich auf der Einnahmeseite nicht zu schul- Finanzausschuss (C) tern sein werden. – Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Exis- „Kostendeckungsgrad in der Justiz“, deren Ab- tenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das schlussbericht Grundlage des Beschlusses der Kon- Jahr 2012 (Achter Existenzminimumbericht) ferenz der Justizministerinnen und Justizminister im – Drucksache 17/5550 – Mai 2011 war, haben zwar in einigen wenigen Punk- ten Eingang in den Referentenentwurf gefunden. Die Kernforderung der Länder nach einer Gebührenerhö- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hung um gut 20 Prozent bei den Wertgebühren nach dem Gerichtskostengesetz und dem Gesetz über Ge- – Unterrichtung durch die Bundesregierung richtskosten in Familiensachen wird allerdings nicht Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundes- aufgegriffen. Auch die vorgeschlagene Anhebung regierung der Gebühren für die zweite Instanz bleibt unberück- – Drucksache 17/4243 – sichtigt. – Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Referentenentwurf lässt darüber hinaus einen finanziellen Ausgleich für bereits heute absehbare Berufsbildungsbericht 2011 kostenintensive Bundesgesetze vermissen. Der Zu- – Drucksache 17/5400 – schussbedarf der Länder kann nur dann spürbar und nachhaltig zurückgeführt werden, wenn die weitere – Bericht gemäß § 56a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Entwicklung bis zum vorgeschlagenen Inkrafttreten Forschung und Technikfolgenabschätzung des Gesetzes und für die Folgejahre hochgerechnet Technikfolgenabschätzung (TA) wird. Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung Mit dieser Entschließung soll vor dem seitens des – Drucksache 17/6026 – Bundesministeriums der Justiz anberaumten Arbeits- treffen im April 2012 und vor einer Beschlussfas- – Unterrichtung durch die Bundesregierung sung der Bundesregierung über einen Gesetzentwurf Forschungsagenda der Bundesregierung für den demo- der Bundesregierung die Position der Länder ver- grafischen Wandel – Das Alter hat Zukunft deutlicht werden. – Drucksache 17/8103 – (B) (D) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben dass sie die folgenden Anträge zurückzieht: mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden – Haushalt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanie- Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ren – Ökologisch und sozial investieren auf Druck- ner Beratung abgesehen hat. sache 17/2327 – Den Deutschen Bundestag bei der Reform der Auswärtiger Ausschuss Umsatzsteuer beteiligen auf Drucksache 17/2333 Drucksache 17/6985 Nr. A.7 Ratsdokument 10170/11 – Den Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglich Drucksache 17/8967 Nr. A.1 vorlegen und künftig ausführlicher gestalten auf EuB-BReg 12/2012 Drucksache 17/7355 Drucksache 17/9130 Nr. A.1 EuB-BReg 13/2012 Drucksache 17/9130 Nr. A.2 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben EP P7_TA-PROV(2012)0057 Drucksache 17/9130 Nr. A.3 mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Ratsdokument 6696/12 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Innenausschuss Drucksache 17/8227 Nr. A.11 Auswärtiger Ausschuss Ratsdokument 17254/11 Drucksache 17/8426 Nr. A.2 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 17284/11 Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Lage in Drucksache 17/8515 Nr. A.17 Afghanistan 2010 Ratsdokument 18523/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.19 – Drucksachen 17/4250, 17/4499 Nr. 1.7 – Ratsdokument 18666/11 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- Haushaltsausschuss und Bildungspolitik 2010/2011 Drucksache 17/8856 Nr. A.8 – Drucksachen 17/8326, 17/8641 Nr. 1.5 – Ratsdokument 5826/12 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2012 20973

(A) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (C) Entwicklung Drucksache 17/8426 Nr. A.41 Ratsdokument 17072/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.49 Drucksache 17/8856 Nr. A.15 Ratsdokument 18429/11 Ratsdokument 5922/12 Drucksache 17/8515 Nr. A.50 Drucksache 17/8856 Nr. A.16 Ratsdokument 18431/11 Ratsdokument 5935/12 Drucksache 17/8515 Nr. A.51 Ratsdokument 18480/11 Drucksache 17/8856 Nr. A.20 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ratsdokument 5887/12 Drucksache 17/6985 Nr. A.68 Ratsdokument 11947/11 Drucksache 17/8515 Nr. A.44 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen EP P7_TA-PROV(2011)0585 Union Drucksache 17/8515 Nr. A.45 EP P7_TA-PROV(2011)0591 Drucksache 17/2994 Nr. A.61 Ratsdokument 10912/10 Drucksache 17/4598 Nr. A.22 Ratsdokument 18055/10 Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 17/6407 Nr. A.33 Technikfolgenabschätzung Ratsdokument 11772/11 Drucksache 17/6985 Nr. A.69 Ratsdokument 12959/11

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980