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SWR 2 Musikstunde:

Standards – Zeitlose Jazzgeschichten:

I: Dreams of Africa

5.Februar 2011

Autor: Thomas Loewner

Redakteur: Martin Roth

Moderation 1: Zur Musikstunde begrüßt Sie Thomas Loewner. Nach den

„Instrumentalen Jazzgeschichten“ im vergangenen Jahr gibt’s ab

heute jeden ersten Samstag im Monat eine Fortsetzung unserer

Jazzreihe. Allerdings stehen nicht mehr die Instrumente des im

Mittelpunkt, sondern Standards. Das sind Melodien, die zum

Grundrepertoire eines jeden Jazzmusikers gehören. Bis heute gilt: wer

sich für ein Jazzstudium an einer Musikhochschule einschreibt, ist gut

beraten spätestens bis zum Ende der Ausbildung das Real Book zu

beherrschen. Das Real Book, eine Sammlung von Transkriptionen der

wichtigsten Standards, ist erstmals in den 1970er Jahren erschienen

und bildet noch immer eine wichtige Basis, um bei Sessions nicht alt

auszusehen. In der Regel verständigen sich die Musiker dort kurz auf

einen Song, und dann geht man davon aus, dass alle die Melodie und

Harmonien parat haben, um loszuspielen.

Meine Kollegin Julia Neupert und ich werden Ihnen im Laufe des

Jahres Jazz-Standards in all ihren Facetten vorstellen: bekannte

Broadway-Melodien, Bossa Novas, die großen Standard-Komponisten

wie etwa George Gershwin und Cole Porter oder Pop-Songs der

letzten zwanzig Jahre, die das Standard-Repertoire Stück für Stück

erweitert haben. Denn auch hier zeigt sich wieder: Jazz lebt und ist

ständig in Bewegung.

Das versuchen wir auch zu verdeutlichen, indem wir in den

Sendungen immer wieder alte und neue Aufnahmen

gegenüberstellen. Denn die Interpretationen ein und desselben Songs

haben im Lauf der Zeit bisweilen ziemlich stark variiert.

Der heutige Auftakt steht unter dem Motto „Dreams of Africa“.

Einend er ersten Standards, der

Assoziationen an Afrika geweckt hat, komponierte der New Yorker

Trompeter : „A Night In Tunisia“:

Musik 1: CD Dizzy Gillespie - „The Complete RCA Victor Recordings“:

„A Night in Tunisia“

(CD 1 / Take 2, Länge 3’10)

Moderation 2: Dizzy Gillespie und Band mit „A Night In Tunisia“, aufgenommen im

Februar 1946. Nach Gillespies eigenen Aussagen komponierte er das

Stück bereits 1942 während einer Proben-Pause des -

Orchesters, bei dem er damals spielte. Zu dieser Zeit beschäftige sich

der Trompeter und Wegbereiter des intensiv mit kubanischer

Musik. Insofern irritiert der Titel des Stücks zunächst, zumal Gillespie

auch hier wieder einen lateinamerikanischen Rhythmus verwendet

hat. Auf die Idee es „A Night in Tunisia“ zu nennen kam schließlich

Earl Hines: den Bigband-Leader, dessen Orchester Gillespie damals

ebenfalls angehörte, erinnerten die Intervallfolgen der Melodie viel

mehr an Nordafrika oder den Orient als an karibische Nächte.

Jedenfalls gilt die Komposition bis heute als das bekannteste Thema

des Bebop und sie hat immer wieder Jazzmusiker zu eigenen

Interpretationen inspiriert. Darunter auch viele Jazzsängerinnen und –

sänger. Kein anderer Song wurde so häufig nachträglich vertextet wie

„A Night in Tunisia“. Unter den vielen Vokalversionen zählt die von

Bobby McFerrin zu den originellsten: der Sänger aus New York hatte

seinen großen internationalen Durchbruch 1988 mit dem Song „Don’t

worry be happy“. Doch schon in den Jahren zuvor verblüffte er immer

wieder mit seinem enormen Stimmumfang und musikalischen

Einfallsreichtum. Auch „Another Night in Tunisia“, veröffentlicht 1985 auf dem Album „Spontaneous Inventions“ und gemeinsam gesungen

mit dem Vokal-Ensemble The Manhattan Transfer macht da keine

Ausnahme:

Musik 2: CD Bobby McFerrin - „Spontaneous Inventions“: „A Night In Tunisia“

(Take 6, Länge 4’14)

Moderation 3: Bobby McFerrin und das Vokal-Ensemble The Manhattan Transfer bei

der Musikstunde auf SWR 2.

„Dreams of Africa“ träumte wohl auch Duke Ellington, als er 1936

gemeinsam mit Juan Tizol, dem Posaunisten seines Orchesters, die

Komposition „Caravan“ schrieb. Assoziationen an Afrika kursierten

sogar schon viel früher in der Musik des Duke Ellington Orchesters.

Als die Band Ende der 1920er Jahre ihre ersten großen Erfolge im

New Yorker Cotton Club feierte, bezeichnete Ellington den Stil seiner

Band als „jungle music“. Gemeint waren damit die typischen „growl-

Sounds“, die vor allem von den Trompeten und Posaunen des

Orchesters gespielt wurden und die tatsächlich so klangen, als sei

eine ganze Kolonie Urwaldtiere nach New York verschifft worden.

Die folgende Aufnahme von Caravan ist ein Livemitschnitt aus dem

Jahr 1952. Hier geht die Band zwar ziemlich sparsam mit den growl-

sounds um, für genügend Exotik sorgen aber allein schon das Thema,

die Rhythmik und die orientalisch klingenden Improvisationen des

Klarinettisten. Und das man auch damals schon sehr multikulturell

dachte, zeigt das spanische Kolorit, für das die Trompete ganz zu

Beginn sorgt, noch bevor Juan Tizol das Thema auf der Posaune

anstimmt:

Musik 3: CD Duke Ellington - „Centennial Edition“: „Caravan“ (CD 17 / Take 9, Start bei 0’08, Länge 4’14)

Moderation 4: Das Duke Ellington Orchester mit „Caravan“, live aufgenommen 1952

in Seattle.

Wie bereits „A Night in Tunisia“ gehört auch „Caravan“ zu den

Standards, die nachträglich vertextet wurden. Zu den Klassikern zählt hier die Version von , die sie 1957 gemeinsam mit dem

Ellington Orchestra aufgenommen hat.

Eine aktuelle Variante, die zeigt welche Gestaltungsmöglichkeiten in

dem Stück stecken, stammt von der New Yorker Sängerin Cassandra

Wilson: auf ihrem Album „Loverly“ aus dem 2008, hat sich Caravan zu

einem Hybriden aus brodelnden Latin-Rhythmen, jazzigen Gitarren-

und Pianovamps und Wilsons sinnlich-lasziver Stimme gewandelt,

wodurch eine reizvolle Spannung entsteht:

Musik 4: CD Cassandra Wilson - „Loverly“: „Caravan“ (Take 5, Länge 4’23)

Moderation 5: Cassandra Wilson und Band mit ihrer Version von „Caravan“.

Auch der aus dem Libanon stammende, aber seit vielen Jahren in

München lebende Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil hat sich vor einigen

Jahren mit Duke Ellingtons Klassiker beschäftigt. 1990 nahm er seine

CD „Roots and sprouts“ gemeinsam mit einem traditionell besetzten

Ensemble bestehend aus seinem eigenen Instrument, der arabischen

Knickhalslaute Oud; Nay-Flöte; Violine; Rahmentrommel, Darabukka

und Kontrabass auf. Wie der Titel des Albums bereits andeutet, ist

„Roots and sprouts“ eine Hommage Abou-Khalils an die Musik seiner Heimat. „Caravan“ ist die einzige Komposition auf der CD, die er nicht

selbst komponiert hat und doch fügt sie sich nahtlos in das Konzept

ein. Fast scheint es so, als hätten Duke Ellington und Juan Tizol nur

auf einen Musiker wie Rabih Abou-Khalil gewartet. Wie

selbstverständlich bewegt er sich zwischen der Musik des Orients und

des Okzidents und auch bei seiner Version von „Caravan“ gelingt es

ihm, musikalische Grenzen aufzuheben:

Musik 5: CD Rabih Abou-Khalil - „Roots and sprouts“: „Caravan“

(Take 8, Länge 5’36)

Moderation 6: Sie hören die Musikstunde auf SWR 2. Das gerade waren Rabih

Abou-Khalil und Band mit ihrer Version des Standards „Caravan“, eine

Komposition von Duke Ellington und Juan Tizol aus dem Jahr 1936.

Während zu jener Zeit Kompositionen mit eindeutigen Bezügen zur

afrikanischen bzw. orientalischen Musik noch Einzelfälle waren,

entwickelten sie sich spätestens ab Mitte der 1950er Jahre zu einem

wahren Trend. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung in den USA

besannen sich immer mehr Afroamerikaner auf ihre Wurzeln. Auch unter Musikern wuchs das Interesse an afrikanischer Kultur und nicht

wenige konvertierten damals zum Islam, darunter etwa die beiden

Saxophonisten Yusef Lateef und Sahib Shihab, die zuvor William

Emanuel Huddleston bzw. Edmund Gregory geheißen hatten. Die

Beschäftigung mit Afrika hinterließ deutliche Spuren: Kompositionen

trugen jetzt Titel wie „All Afrika“, „Black Nile“ oder waren Frauen mit

muslimischen Namen gewidmet wie etwa John Coltranes Klassiker

„Naima“.

In die gleiche Kerbe schlug der Saxophonist mit seiner

Komposition „Nefertiti“. Der Name ist die englische Umschrift für den

altägyptischen Namen der Pharaonengattin Nofretete. Shorter nahm

„Nefertiti“ erstmals 1967 mit dem Quintett auf. Nüchtern

betrachtet ist das Stück simpel gestrickt: die 16-taktige Melodie wird

am laufenden Band wiederholt. Seine fast schon hypnotische Wirkung

erzielt „Nefertiti“ durch die Schlichtheit seines Themas und die

Eindringlichkeit, mit der die Band es spielt. Hier ist das Miles Davis

Quintett:

Musik 6: CD Miles Davis - „Miles Davis Quintet 1965-1968“: „Nefertiti“ (CD 3 / Take 1, Länge 7’55)

Moderation 7: Das Miles Davis Quintett mit „Nefertiti“ von der gleichnamigen Platte

der Band aus dem Jahr 1967.

Diese Komposition von Wayne Shorter zeigt exemplarisch was einen

Jazz-Standard ausmacht: Shorter und viele andere Komponisten von

Standards haben sich nicht mit dem Vorsatz hingesetzt, ein Stück für

die Ewigkeit zu schreiben, das ins allgemeine Jazz-Repertoire eingeht.

Vielmehr haben immer die nachfolgenden Generationen von

Jazzmusikern entschieden, ob eine Komposition zum Standard wird

oder nicht – einfach dadurch, daß sie es immer wieder neu

interpretiert haben. So geschehen auch mit „Nefertiti“, das mit seiner

scheinbar so einfachen Struktur bis heute Musiker fasziniert und

herausfordert. So auch den Pianisten Michel Camilo aus der

Dominikanischen Republik: für seine Version von „Nefertiti“ aus dem

Jahr 2007 nahm er sich die Freiheit, das Thema lediglich einmal am

Anfang zu spielen und danach über die harmonische Struktur zu

improvisieren:

Musik 7: CD Michel Camilo – „Spirit of the moment“: „Nefertiti“

(Take 5, Länge 2’55)

Moderation 8: „Nefertiti“ – Wayne Shorters Komposition aus dem Jahr 1967, neu

interpretiert von Michel Camilo.

Ein weiterer Standard, mit dem Jazzmusiker seit Jahrzehnten immer

wieder den Geist Afrikas heraufbeschwören, ist „Afro Blue“.

Komponiert hat es der lateinamerikanische Perkussionist Mongo

Santamaria gemeinsam mit dem Vibraphonisten und

Marimbaphonspieler . Auch hier setzte bereits die

Ersteinspielung eine Marke, die später selten übertroffen wurde: über

dem federnden Latin-Rhythmus Santamarias und seiner Kollegen an

Congas und Timbales spielt Paul Horn auf der Flöte wunderbar luftig-

leicht eines der für mich schönsten Themen, die der World-Jazz je

hervorgebracht hat:

Musik 8: CD Mongo Santamaria – „Afro Roots“: „Afro Blue“

(Take 1, Länge 3’55)

Moderation 9: Mongo Santamaria und Band mit „Afro Blue“, aufgenommen 1959.

Im gleichen Jahr entstand eine weitere Einspielung des Songs, die

ebenfalls einen Standard setzte: Abbey Lincolns vokale Version,

basierend auf einem Text von Oscar Brown jr. Gleich die erste

Textzeile hätte schon gut als Untertitel für die heutige Musikstunde

getaugt: „Dream of a land my soul is from“. Doch weil wir vom Radio

es immer schön kurz und knackig mögen, hat letztendlich „Dreams of

Africa“ das Rennen gemacht... Hier sind Abbey Lincoln und Band:

Musik 9: CD Abbey Lincoln - „Abbey is Blue“: „Afro Blue“

(Take 1, Länge 3’19)

Moderation 10: Abbey Lincoln und Band mit „Afro Blue“.

Damit ist die heutige Musikstunde mit der ersten Ausgabe der

„Zeitlosen Jazzgeschichten“ auch schon beinahe zu Ende.

Abschließend jetzt noch eine Version von Mongo Santamarias

Standard „Afro Blue“, die zeigt, dass auch weiße, europäische Jazzer von Afrika träumen und nicht nur afroamerikanische oder - wie im

Falle von Rabih Abou-Khalil, der aus dem Libanon stammt – Musiker

aus Ländern des Nahen Ostens: die britische Posaunistin Annie

Whitehead nahm für ihr Album „The Gathering“ aus dem Jahr 2000

eine wuchtige, vom Jazz-Rock inspirierte Variante von „Afro Blue“ auf.

Damit verabschiede mich für heute, wünsche Ihnen viel Spaß mit dem

nachfolgenden Programm hier auf SWR 2 und noch ein schönes

Wochenende! Tschüß bis demnächst sagt Thomas Loewner.

Musik 10: CD Annie Whitehead – „The Gathering“: „Afro Blue“

(Take 8, Länge 4‘20)

SWR 2 9.05 - 10.00 Uhr

SWR 2 Musikstunde:

Standards – Zeitlose Jazzgeschichten

I: Dreams of Africa

5.Februar 2011

Autor: Thomas Loewner

Redakteur: Martin Roth

1.: Titel: A Night in Tunisia

3’10 Komponist: Dizzy Gillespie Interpret: Dizzy Gillespie Band Label: Bluebird / RCA / BMG 07863 66528 2; LC:00316

Aus der CD-Box: „The Complete RCA Victor Recordings“

2.: Titel: Another Night in Tunisia

4’14 Komponist: Dizzy Gillespie & Interpret: Bobby McFerrin Label: Blue Note / EMI CDP-7 46298 2; LC: 00133

Aus der CD: „Spontaneous Inventions“

3.: Titel: Caravan

4’06 Komponist: Duke Ellington / Juan Tizol Interpret: Duke Ellington Orchestra Label: RCA Victor / BMG 09026-63386-2; LC: 00316

Aus der CD-Box: „Centennial Edition – The complete RCA Victor Recordings 1927-1973“

4.: Titel: Caravan

4’23 Komponist: Ellington / Tizol / Irving Mills Interpret: Cassndra Wilson Label: Blue Note / EMI 50999 5 21788 2 5; LC: 00010

Aus der CD: „Loverly“

5.: Titel: Caravan

5’36 Komponist: Ellington / Tizol Interpret: Rabih Abou-Khalil Label: MMP 170890-CD; LC:07417

Aus der CD: „Roots and sprouts“

6.: Titel: Nefertiti

7’55 Komponist: Wayne Shorter Interpret: Miles Davis Quintet Label: Columbia / Sony 67398; LC: 00162

Aus der CD-Box: „Miles davis Quintet 1965-1968“

7.: Titel: Nefertiti

2’55 Komponist: Wayne Shorter Interpret: Michel Camilo Label: Telarc / In-Akustik CD-83653; LC: ?

Aus der CD: „Spirit of the moment“

8.: Titel: Afro Blue

3’55 Komponist: Mongo Santamaria / Cal Tjader Interpret: Mongo Santamaria Group Label: Prestige / ZYX PCD 24018-2; LC: 00313

Aus der CD: „Afro Roots“

9.: Titel: Afro Blue

3’19 Komponist: Mongo Santamaria / Cal Tjader / Oscar Brown jr. Interpret: Abbey Lincoln Label: Riverside / ZYX OJC20 069-2; LC: 00325

Aus der CD: „Abbey is blue“

10.: Titel: Afro Blue 4‘20 Komponist: Mongo Santamaria / Cal Tjader

Interpret: Annie Whitehead

Label: Provocateur / Alive PVC 1022; LC: 13331

Aus der CD: „The Gathering“