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Filmkritik 45

Ein Drama der leisen Töne

Der Film Still Alice thematisiert Alzheimer auf eigene Weise

Gabriele Kreutzner und por- des komplexen Verhältnisses zwischen Fiktion trätieren in ihrem Film Still Alice eine Linguistik- und Wirklichkeit nicht beantworten und setzt Professorin, die im Alter von 50 Jahren an Alz- voraus, dass die Besonderheiten ästhetischer Pro- heimer erkrankt. „Mein Leben ohne gestern“ dukte in angemessener Weise in Rechnung ge- lautet der Untertitel des Films, doch insgesamt stellt werden. geht es um mehr als den Einschnitt durch die medizinische Diagnose, meint unsere Rezen- Eine erfolgreiche Familie sentin Gabriele Kreutzner. Still Alice handelt von der erfolgreichen, intelli- genten und attraktiven Sprachwissenschaftlerin ür das breite Kinopublikum ist Still Alice in Alice Howland, die an einer der renommiertesten Ferster Linie ein Film, in dem die hierfür mit Universitäten des Landes einen Linguistik-Lehr- einem Oscar ausgezeichnete in der stuhl innehat. John, ihr Ehemann, ist ein ebenso Rolle einer Frau glänzt, die mit einer Alzheimer- erfolgreicher Krebsforscher. Ein für ein Wissen- Diagnose konfrontiert wird. Mit dieser verdienten schaftlerpaar besonders glücklicher Lebensum- Würdigung ist große öffentliche Aufmerksamkeit stand ist der, dass beide eine Anstellung an der für eine kleine Independent-Produktion verbun- Columbia Universität gefunden haben. Altersmä- den (mit einem für Hollywood-Verhältnisse fast ßig sind beide in ihren beginnenden 50ern. lächerlich anmutenden Budget von 5 Millionen Die Geschichte setzt am Abend des 50. Ge- US-Dollar), was die Frage nach dem Film als Bei- burtstags von Alice ein, der im Kreis der kleinen trag zur öffentlichen Auseinandersetzung mit Familie in einem New Yorker Restaurant gefeiert dem Thema Demenz beziehungsweise Alzheimer wird. Eingefunden haben sich Sohn Tom, der eine aufwirft. Diese lässt sich ohne Berücksichtigung Medizinerkarriere ansteuert, und Tochter Anna,

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ihres Zeichens Juristin, mitsamt Ehemann zwar nicht unplausibel, aber keineswegs gewissermaßen im Modus einer auf Klein- Charlie, der als Rechtsanwalt tätig ist. regelhaft erwartbar einen extrem aggres- buchstaben reduzierten Dramatik, unter Tochter Lydia, die Schauspielerin werden siven Verlauf nimmt. anderem von einer menschlichen Tragö- möchte, lebt in Los Angeles, wo Alice sie Der so hergestellte dramatische Rah- die, in deren Rahmen der exakte medizi- kurz darauf im Zuge einer Einladung zu men erweist sich mithin als sorgfältige nische Befund von eher sekundärer einer Gastvorlesung besuchen wird. Wäh- Komposition, die vom gleichnamigen Ro- Bedeutung ist. rend dieses Vortrags widerfährt es Alice – man der Autorin Lisa Genovese geliefert offenbar erstmals bewusst – dass ihr mit- wird. Das relativ junge Alter und die Le- Im Zentrum: Kommunikation ten im Satz ein Wort nicht einfällt. Noch bensumstände von Alice sind auch ent- und Kontakt dazu eines, das ihr als Sprachforscherin scheidend dafür, dass die ZuschauerInnen Relevant scheint vielmehr die Parallele so geläufig sein dürfte wie einem prakti- die filmischen Identifikationsangebote zwischen der filmischen Geschichte und zierenden Christen das Amen („Lexikon“). annehmen und sich in die Figur hinein- dem wirklichen Leben derer zu sein, die Ab diesem Moment schwenkt Alices ko- versetzen können – etwa, wenn im Laufe für den Film maßgeblich verantwortlich gnitiver Zustand in eine steile Abwärts- der demenziellen Veränderungen andere sind. Als Still Alice 2014 gedreht wurde, bewegung ein. Familienmitglieder in Alices Anwesenheit hatte Drehbuchautor und Ko-Regisseur über sie sprechen, als sei sie nicht anwe- Richard Glatzer die zurückliegenden drei Eine seltene Form der Erkrankung send. Dem Film gelingt es ohne Zweifel Jahre seines Lebens mit ALS verbracht Die äußeren Lebensumstände verleihen immer wieder, uns als ZuschauerInnen (einer unheilbaren, zum Tode führenden der Geschichte von Alice und ihrer Fami- zu packen und emotional für Alice ein- neurodegenerativen Muskelerkrankung; lie die erforderliche „Fallhöhe“, ohne die zunehmen. statistische Überlebensdauer: drei bis fünf auch dieser in seinen dramatischen Ein- Jahre). Berichten zufolge konnte er zum färbungen eher zurückgenommene Film Ein ästhetisches Werk – Zeitpunkt der Dreharbeiten sein iPad nur nicht auskommt. Mit Blick auf die Ge- kein Aufklärungspamphlet noch mit einem Finger bedienen; Anwei- sundheitsthematik zeichnet der Film sei - Darauf, wie genau wir Demenz verstehen sungen an die Schauspieler erteilte er mit- ne Protagonistin als eine der derzeit rund und sehen, nimmt dies jedoch keinen hilfe einer speziellen Software. Im März 5,2 Millionen US-Amerikaner beiderlei Einfluss. Wer sich beispielweise vor dem dieses Jahres, wenige Wochen nach der Geschlechts, die mit einer Demenz (hier: Film kaum mit dem Thema Demenz be- Oscar-Verleihung am 22. Februar, starb vom Typ Alzheimer) leben. schäftigt hat, den kann schon die filmi- Glatzer im Alter von 63 Jahren. Das dramatische Potenzial des Films sche Exposition durchaus in Angst und So gegensätzlich die Krankheitsbilder hat bei genauerem Hinsehen jedoch nur Schrecken versetzen: Der Figur fällt ein Alzheimer und ALS erscheinen mögen sehr bedingt mit der (generellen) Diagnose einziges Mal das passende Wort nicht ein; (das eine betrifft den Körper, das andere Alzheimer zu tun. Als medizinischer „Fall“ kurz danach wird sie an einem ihr ver- den Geist), beeinträchtigen doch beide in zählt Alice zu den (keineswegs zu ver- trauten Ort von ihrem Orientierungsver- den fortgeschrittenen Stadien die Fähig- nachlässigenden) etwa 200.000 Personen mögen komplett im Stich gelassen. Dies keit der Person, mit ihrer Umwelt in Kon- in den USA, bei denen eine früh einset- zieht medizinische Tests nach sich, die takt zu treten. Kommunikation in Form zende Form der Erkrankung vorliegt. Und auf jeden als kognitiv fit geltenden Men- von Sprache hat Alice Howland in ihrem innerhalb dieser vergleichsweise kleinen schen beschämend wirken, und führt unbeeinträchtigten Leben fasziniert und Gruppe ist eine Geschichte wie die von schließlich zur Diagnose Alzheimer. beschäftigt. Sie bezeichnet ihre Erkran- Alice Howland wiederum bei jenen 50 Der Film verfolgt nicht die Absicht, kung als etwas, das ihr alles raubt, wofür Prozent einzusortieren, die eine familiale, ge gen bestehende Vorurteile oder Ängste sie gearbeitet und gekämpft hat. also erblich bedingte und weitervererb- ge genüber Menschen mit schwer beein - bare Form der Erkrankung aufweisen. An- trächtigten Gesundheitszuständen anzu- Alzheimer – Angstgegner der ders gesagt: Bei Alice Howland liegt eine gehen. Sein Anliegen ist nicht das des Wissenselite äußerst seltene Spielart einer demenziel- Predigens, sondern jenes eines subtilen, Wie die Mehrheit ihrer Familie glaubt len Erkrankung vor. Noch dazu eine, die mehrschichtigen Erzählens. So erzählt er, Alice vor allem anderen an (insbesondere

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Vertreter der Wissensgesellschaft im Film nutzt, um der täglichen Konfrontation darstellt. Selbst in ihren größten Nöten – mit dem Zustand von Alice zu entfliehen. so etwa, als sie im eigenen Haus die Orien- tierung verliert und auf der Suche nach Mehrdeutigkeit auch am Ende der Toilette einnässt – zeichnet der Film Der Film urteilt nicht über seine Figuren. Alice in keiner Weise als jene menschli- Aber er deutet an, dass seine Perspektive che Peinlichkeit, zu der sie in ihren eige- auf Schicksalsschläge wie Alzheimer, AIDS nen Augen, in ihrem noch weitgehend oder ALS und auch auf das menschliche funktionstüchtigen Denken, mutiert. Leben insgesamt eine andere ist. An sei- nem Ende liest Lydia Alice eine Passage Kognition ist nicht alles aus dem preisgekrönten Theaterstück An- Bezeichnend für die filmische Perspek- gels in America von Tony Kushner (Unter- tive ist auch die Annäherung, die sich mit titel: A Gay Fantasia on National Themes) Alices demenziellen Veränderungen zwi- vor. Dies ist das grandiose Epos eines öf- kognitive) Leistung und den naturwis- schen Lydia und ihr einstellt. In der dem fentlichen Intellektuellen, der gesellschafts- senschaftlich-technischen Fortschritt. Das kognitiven Leistungsvermögen verschrie- kritisch Stellung bezieht gegenüber dem unbedingte Vertrauen der Figuren in die benen Howland-Familie nimmt Lydia die Amerika der 1980er Jahre mit seinem (strikt positivistisch ausgerichtete) Natur- Rolle eines schwarzen Schafes ein. Sie florierenden Neo-Konservatismus unter wissenschaft und Technik äußert sich auch strebt keine Existenz als Kopfarbeiterin Präsident Ronald Reagan und den zeit- darin, dass Anna und Charlie eine künst- an. Indem sie sich gegen eine College-Aus- gleichen Erschütterungen insbesondere liche Befruchtung anstreben und nach bildung entscheidet, schlägt Lydia auch der gay community durch HIV/AIDS. Alices Diagnose und der Feststellung von den deutlich einfacheren Weg aus, einen Im Film probt Lydia für eine Neuauf- Annas Alzheimer-Disposition mittels wei- akademischen Abschluss als aussichtsrei- führung des Stückes. Sie liest ihrer Mutter terer medizinischer Tests sicherstellen, ches Sprungbrett in die Schauspielerei zu eine Passage vor, die eine Art von philoso- dass ihr Nachwuchs keine erbliche Alz- nutzen. phischer Version der Gesetze der Thermo- heimer-Belastung aufweist. Im Kontext Lydia ist aber auch die Einzige in der dynamik darstellt – zugespitzt formuliert: eines solchen Weltbildes stellt sich eine Familie, die während des Jahres vor der „Nichts geht verloren“. Ihre Frage an Alice, Alzheimer-Demenz als eine alles infrage Diagnosestellung kleine Auffälligkeiten wovon der Text handle, beantwortet diese stellende Kränkung dar. Folgerichtig meint und Veränderungen an ihrer Mutter be- mit einem Wort: „Liebe“. Alice in einer Szene, sie wäre mit einer merkt hat – etwa bei ihren Gespräche via Ein offener Schluss. Mich ließ er an Krebsdiagnose weit besser zurechtgekom- Skype und ihren wenigen Besuche in New Alices vorgreifende Ablehnung ihres de- men; als Krebspatient könne man auf York. Von den drei Howland-Kindern ist menziell veränderten Selbst denken und die Solidarität der Mitmenschen zählen, sie diejenige, die sich nicht auf eine mög- ihre (vergeblichen) Vorkehrungen, die- statt eine menschliche Peinlichkeit dar- liche ererbte Alzheimer-Disposition tes- sem die weitere Existenz zu verwehren. zustellen. ten lässt. Und schließlich ist Lydia in den Nein, nichts geht verloren. Und Anneh- Die Darstellungspolitik des Films lässt Worten ihres Vaters John „der bessere men, Liebe, ist die wohl einzige Antwort, darauf schließen, dass Glatzer und Wash - Mann“ („a better man than I am“): Ange- die Sinn macht. ■ moreland die Werte und Denkweisen der sichts der rapide verlaufenden Verschlech- Figuren nicht ohne Weiteres teilen. Der terung des Zustands ihrer Mutter kehrt Gabriele Kreutzner Film zeichnet die Alzheimer-Erkrankung sie schließlich an die Ostküste zurück, um ist promovierte Kultur- und Medienwissen- seiner Protagonistin als einen schweren in der Nähe ihrer Mutter zu sein, während schaftlerin und seit vielen Jahren im Feld Schicksalsschlag, aber eben nicht als jene Vater John ein Stellenangebot im Mittle- Demenz unterwegs. große Zunichtemachung, die sie für die ren Westen als willkommene Möglichkeit [email protected]

Peter Wißmann Nebelwelten Abwege und Selbstbetrug in der Demenz-Szene

16,90 EUR, 150 Seiten ISBN 978-3-86321-235-3 Dass das Thema Demenz ein Selbstläufer geworden ist, hat zu krassen Fehlentwick- lungen geführt: Ziele werden nur vage defi niert, Interventionen erfolgen wirr und

wenig durchdacht. So kann es nicht weitergehen, sagt Peter Wißmann. In seiner mabuse-verlag.de Streitschrift hält er der „Demenz-Szene“ den Spiegel vor.

Peter Wißmann ist Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Demenz Support Stuttgart gGmbH, Buchautor und gemeinsam mit dem Gerontologen

Demenz-Szene auf Abwegen? Demenz-Szene Michael Ganß Herausgeber von „demenz.DAS MAGAZIN”.

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