4 / 2014

Das evangelische Magazin im Oldenburger Land

Die Menschen nicht zappeln lassen Ein Gespräch über die Aufnahme von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft

Auf der Flucht

Wenn die Worte fehlen Eine Herausforderung für Die Sprachbarriere ist schon im ­Kindergarten eine der größten ­Kirche und Gesellschaft ­Integrationshürden „Flücht-Links“ Anschriftenliste zum Thema Migration und Asyl – Beratungsangebote in den Kirchenkreisen

Beratungsangebote in den Diakonisches Werk -Stadt Ansprechpartner in Kirche und Flüchtlingssozialarbeit ­Kirchenkreisen Frau Christiane Börgel Diakonie im Oldenburger Land Güterstraße 3, 26121 Oldenburg Diakonisches Werk Oldenburg-Stadt Tel.: 0441/9994483, Fax: 0441/97093-24 Ev.-Luth. Oberkirchenrat Integrationsberatung Mobil: 0160/6248840 Herr Pfr. Olaf Grobleben Herr Ulrich Schleppegrell [email protected] Beauftragter für Ethik und Weltanschauungsfragen Güterstraße 3, 26121 Oldenburg Stellv. Mitglied der Nds. Härtefallkommission Tel.: 0441/97093-16, Fax: 0441/97093-24 Diakonisches Werk /Oldenburg-Land Haareneschstraße 60, 26121 Oldenburg [email protected] Flüchtlingssozialarbeit Tel.: 0441/7701-180, Fax: 0441/7701-419 Frau Zohreh Roushanpour Mobil: 0170/6393425 Diakonisches Werk Delmenhorst/Oldenburg-Land Louisenstraße 34, 27749 Delmenhorst [email protected] Integrationsberatung Tel.: 04221/56774508, Fax: 04221/2873001 www.kirche-oldenburg.de Frau Wiebke Geerkens Mobil: 0152/56774508 Louisenstraße 34, 27749 Delmenhorst [email protected] Beauftragte im Kirchenkreis : Tel.: 04221/5878663, Fax: 04221/2873001 Frau Pastorin Dr. Daniela Koeppler Mobil: 0152/56468040 Diakonie-Beratungszentrum Ihauser Damm 3, 26655 [email protected] Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer Tel.: 04488-4915 Herr Erwin Dierks [email protected] Diakonisches Werk Delmenhorst/Oldenburg-Land Heemstraße 28, 27793 Integrationsberatung Tel.: 04435/5008, Fax: 04435/6428 Diakonisches Werk Oldenburg e.V. Frau Wiebke Geerkens Mobil: 0152/56317102 Herr Theo Lampe Ring 14, 27777 dierks@diakonie-.de Referent für Migrationssozialarbeit Tel.: 04222/806212, Fax: 04222/806214 Kastanienallee 9 – 11, 26121 Oldenburg Mobil: 0152/56468040 Diakonisches Werk - e.V. Tel.: 0441/21001-83, Fax: 0441/21001-99 [email protected] Flüchtlingssozialarbeit [email protected] Frau Alexandra Sander www.diakonie-ol.de Diakonisches Werk Friesland-Wilhelmshaven e.V. Marienstraße 13 - 15, 26382 Wilhelmshaven Integrationsberatung Tel.: 04421/43148, Fax: 04421/994960 Frau Roswitha Ihben [email protected] Marienstraße 13 - 15, 26382 Wilhelmshaven Überregionale Organisationen zum Tel.: 04421/43148, Fax: 04421/994960 Diakonisches Werk Friesland-Wilhelmshaven e.V. [email protected] Integrationsberatung Thema Flucht und Asyl Frau Roswitha Ihben Niedersächsischer Flüchtlingsrat Diakonisches Werk Friesland-Wilhelmshaven e.V. Kirchenstraße 1, 26316 Langer Garten 23 b, 31137 Hildesheim Integrationsberatung Tel.: 04451/860629, Fax: 04451/860491 Tel.: 05121/15605, Fax: 05121/31609 Frau Claudia Schacht [email protected] Lindenallee 16, 26441 [email protected], www.nds.fluerat.org Tel.: 04461/4051, Fax: 04461/73534 Refugium e.V. Pro Asyl e.V. [email protected] Integrationsberatung/Flüchtlingsberatung Postfach 160624, 60069 Frankfurt Herr Sivalingam Sireetharan Tel.: 069/24231420, Fax: 069/24231472 Diakonisches Werk Oldenburger Münsterland Grüne Straße 5, 26919 Brake [email protected], www.proasyl.de Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer Tel.: 04401/6617, Fax: 04401/6608 Herr Erwin Dierks [email protected] Niedersächsische Härtefallkommission Friesoyther Straße 9, 49661 Cloppenburg www.refugium-wesermarsch.de Tel.: 04471/18417-17, Fax: 04471/18417-18 Geschäftsstelle im Nds. Ministerium für Inneres und Sport Mobil: 0152/56317102 Als Ansprechpartner stehen auch die Mitarbeiten- Postfach 221, 30169 Hannover [email protected] den der Allgemeinen Sozialberatung der Diakoni- Tel.: 0511/120-6219, Fax: 0511/120-4848 schen Werke der Kirchenkreise zur Verfügung. [email protected] Deutsch-Ausländischer Freundschaftverein Ammer- Anschriften siehe: www.diakonie-ol.de land e.V. – Integrationsberatung www.hfk.niedersachsen.de Frau Ute Fründt Gaststraße. 4, 26655 Westerstede Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Tel.: 04488/862212, Fax: 04488/862209 Asyl in der Kirche e.V. [email protected] Heilig-Kreuz-Kirche www.daf-ammerland.com Zossener Straße 65, 10961 Berlin Tel.: 030/25898891, Fax: 030/69041018 [email protected], www.kirchenasyl.de | Editorial

Über die Aufnahme von Flücht- Editorial lingen in unserer Gesellschaft diskutierten Theo Lampe, Referent für Migrationssozialarbeit des Dia- Liebe Leserinnen, konischen Werkes Oldenburg, liebe Leser, Dr. Ayca Polat, Integrationsbeauf- tragte der Stadt Oldenburg und das Thema ­Volker Bohlen, Leiter des Fachbe- „Flucht“ ist nicht reiches Ordnung des Landkreises nur durch die Kri- Friesland (Ausländerbehörde). sen und Kriege in der Welt ein aktuelles Mehr auf den Folgeseiten Thema. Es hat Menschen geprägt, die am Ende des Zweiten Weltkrieges am eigenen Leib Flucht und Vertreibung erlebt haben, genauso wie Menschen, Jesus war ein Flüchtlingskind. die durch andere Ereignisse Verfolgung Daran erinnert Oberkirchenrat erlebt, Heimat oder Lebensperspektive Thorsten Leißer, Theologischer verloren haben. Darum greifen wir in Referent für Menschenrechte und dieser Ausgabe von „horizont E“ ganz Migration im Kirchenamt der verschiedene Aspekte des Themas Evangelischen Kirche in Deutsch- „Flucht“ auf, die über die aktuelle Nach- land (EKD), bei seinen biblischen richtenlage hinausgehen. Wir berichten Einblicken zum Thema „Flucht“ über Menschen, die in unterschiedlichen und schlägt zugleich einen Bogen Bezügen Menschen mit Fluchterfahrun- zu den aktuellen Diskussionen gen begegnen. und Ereignissen. Wir geben praktische Tipps und Hin- Mehr auf den Seiten 8 bis 9 weise auf Ansprechpartner. In der Heftmitte informieren wir über das sehr komplizierte Verfahren eines Asylverfah- Wer im Pfarramt mit der Bitte rens und beschäftigen uns mit den bibli- eines Flüchtlings oder eines Asyl- schen Bezügen des Themenfeldes. bewerbers um Hilfe konfrontiert Im Namen des Redaktionskreises wün- wird, ist oft verunsichert und fühlt sche ich Ihnen eine anregende Lektüre. sich von der Dringlichkeit unter Druck gesetzt. Einige Hinweise, wie geholfen werden kann, hat eine Arbeitsgruppe der Synode Ihr Hans-Werner Kögel formuliert. Mehr auf Seite 16

Aus dem Inhalt Impressum Im Gespräch Seite 04 „horizont E” ist das ­Magazin der Evangelisch-­Lutherischen Grafik (S. 12/13): Kirche in Oldenburg. Es erscheint viermal pro Jahr im „Die Zeit“, Nora Coenenberg/Bearbeitung: Ute Packmohr Gremium für die letzte Hoffnung Seite 07 ­Einzugsgebiet der oldenburgischen Kirche. Gestaltung/Produktion: Herausgeber: Andrea Horn, Hannover, Jesus – ein Flüchtlingskind Seite 08 Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Evangelisch-­Lutherischen Lutherisches Verlagshaus GmbH, Hannover Kirche in Oldenburg Anschrift: Frauenwürde auf der Flucht Seite 11 Mitarbeit: „horizont E” Anke Brockmeyer, Silvia Duch, Freddy Dutz, Michael Eber- Philosophenweg 1, 26121 Oldenburg, Asyl oder Abschiebung Seite 12 stein, Olaf Grobleben, Dirk-Michael Grötzsch, Uwe Haring, [email protected] Jan Janssen, Annette Kellin, Hans-Werner Kögel, Theo Lam- www. kirche-oldenburg.de Ein Plädoyer für mehr Eigenliebe Seite 14 pe, Thorsten Leißer, Holger Rauer, Zohreh Roushanpour, Druck: Thomas Schirrmacher und Angelika Wallenhorst Sachsendruck Plauen GmbH Flucht und Vermeidung Seite 15 Bildnachweise: Diese Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen ­ Anke Brockmeyer, Uwe Haring, S. Hofschlaeger (pixelio), einzelnen ­Beiträge und Abbildungen sind ­urheberrechtlich ­Annette Kellin, Hans-Werner Kögel, koszivu (Fotolia), ­geschützt. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann Aus den Regionen Seite 17 Jens Schulze, sowie Privatfotos und public domains keine Gewähr übernommen werden. Segenswort Seite 23

3 | Im Gespräch Die Menschen nicht zappeln lassen Ein Gespräch über die Aufnahme von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft

Für den einen ist es ein Problem, für ist Oldenburg durch die Neubürger zur den anderen eine Herausforderung, für Großstadt geworden. „Die Arbeit der den Dritten eine Freude: die wachsende Ausländerbehörde hat sich in den vergan- Zahl von Menschen, die in Deutschland genen Jahren grundlegend gewandelt“, Zuflucht suchen. Eine Aufgabe für jeder- erklärt Volker Bohlen, der als Leiter der mann ist die Aufnahme der Flüchtlinge Ordnungsbehörde im Landkreis Friesland auf jeden Fall. Wenn die Beteiligten – wie auch für die Verteilung der Flüchtlinge offenbar im Oldenburger Land – am sel- auf die Städte und Gemeinden zuständig ben Strang ziehen, kann dies nur von Vor- ist. Geblieben sei der „Spagat zwischen teil für die Menschen sein, die ihre Heimat Ordnungs- und Willkommensbehörde“, verlassen mussten. der mit wachsenden Flüchtlingszahlen eher schwieriger werde. „Wir müssen sie nehmen, wie sie kom- men“, erklärt Theo Lampe vom Diako- Theo Lampe wirft noch einmal einen nischen Werk der Ev.-Luth. Kirche in Blick zurück. Die Bundesrepublik sei lange Oldenburg. Ein Problem sehe er jedenfalls kein Einwanderungsland gewesen. Erst nicht in der wachsenden Flüchtlingszahl. mit dem Bürgerkrieg in der Türkei Anfang Sicher gebe es Probleme im Einzelfall, da der 1980er Jahre, als erstmals mehr als sei fachliche Betreuung nötig. „Aber wir 100.000 Flüchtlinge eintrafen, mussten erleben auch eine große Bereicherung sich die Verantwortlichen an die neue durch die Flüchtlinge “, erklärt er im Ge- Aufgabe herantasten. „Alle gingen davon spräch mit Vertretern der Kommunen. aus, dass die Zahlen wieder zurückgehen Dazu gehört Ayca Polat, Integrationsbe- würden“, so Lampe. „Doch dann folgten auftragte der Stadt Oldenburg. Die wach- schon die Flüchtlinge aus dem Bosnien- sende Flüchtlingszahl sei unbestritten eine krieg.“ Dazu kamen die Spätaussiedler aus Herausforderung, „beileibe kein Selbstläu- der ehemaligen Sowjetunion. „Trotzdem fer“. Aber auch sie erkennt, dass die Stadt war offizielle Politik, dass Flüchtlinge hier Oldenburg bisher immer vom Zuzug der nicht willkommen sind.“ Erst als in den Flüchtlinge profitiert habe. Nach den 2000er Jahren die Zahlen wieder sanken, Theo Lampe, Diakonisches Werk der Weltkriegen etwa, gibt sie zu bedenken, wuchs der Willkommensgedanke und Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg. mit ihm der Versuch, die ankommenden Menschen zu integrieren. „Inzwischen er- kenne ich eine positive Grundstimmung“, lobt der Diakonie-Fachmann. „Im Land und in den Kommunen ist die Einsicht gewachsen, dass die Abschreckungspolitik falsch war.“

Ayca Polat betont, dass Kommunen nur reagieren: „Wir können ja die Gesetze nicht ändern.“ Die Kommunen würden von Bund und Land „an der langen Lei- ne“ gehalten. Auch mit dem Begriff „Will- kommenskultur“ ist sie nicht zufrieden, sie spricht lieber von einer Anerkennungskul- tur. Deshalb dürften auch nicht die Finan- Kurz nach dem Gespräch für „horizont E“ ist die Integrationsbeauftragte der Stadt Oldenburg, zen im Zentrum der Debatte um die Un- Ayça Polat (Mitte), als Professorin an die Fachhochschule Kiel berufen worden. Ab März wird terbringung der zugewiesenen Flüchtlinge sie dort das Fach Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Interkulturalität lehren. Die Oldenburger stehen. Entscheidend sei ein humaner Stabsstelle Integration wurde 2008 eingerichtet. Umgang mit ihnen. „Wir würden auch lieber alle dezentral unterbringen und auf

4 | Im Gespräch

die Unterbringungen in Heimen verzich- fen keine weiteren Anreize schaffen, die ten.“ Doch das lasse sich aufgrund der Heimat zu verlassen“, ist er überzeugt. Wohnungsmarktlage in Oldenburg nicht Flüchtlinge, die hier sind, brauchen so leicht umsetzen. Hilfe zur Selbsthilfe, „keine dauerhafte Alimentation.“ Sonst schwinde langfris- Im Landkreis Friesland gelingt es immer tig die Akzeptanz in der Bevölkerung. noch, alle Flüchtlinge dezentral unterzu- „Wir haben viele, die auf Dauer bleiben bringen, sagt Volker Bohlen nicht ohne werden“, sagt Bohlen. Für sie müsse die Stolz. Dabei sei das gar nicht so einfach Residenzpflicht gelockert werden und in einer Region, die jährlich eine Million sie müssen arbeiten dürfen. Auch Inte- Übernachtungen von Touristen ver- grationskurse sind Hilfe zur Selbsthilfe. zeichne und entsprechend Kapazitäten Deswegen sollte es mindestens einen vorhalten müsse. „Wir überlassen es den Rechtsanspruch darauf geben. Auch für einzelnen Kommunen“, erklärt Bohlen, diejenigen, die noch ohne Aufenthaltsge- „die kennen die örtlichen Möglichkeiten nehmigung sind. besser.“ Entscheidend sei aber, dass der Landkreis nicht solange warte, bis ihm Offenbar stecke bei Asylsuchenden aus Flüchtlinge zugewiesen würden, sondern Balkanstaaten auch Armut hinter den dem Land offensiv jede freigewordene Fluchtgründen, erinnert Theo Lampe. Aufnahmemöglichkeit anbiete. Bohlens „Aber das europäische Armutsproblem Kritik an Bund und Land entzündet sich können wir nicht über Asylfragen lösen.“ an der Erstattungspraxis: „Die Kosten Asyl-Aufnahmekapazitäten müssten für für Gesundheitsvorsorge und Kranken- Menschen zur Verfügung stehen, die versorgung explodieren, erstattet werden politisch, religiös oder ethnisch verfolgt die Kosten aber erst mit zwei Jahren Ver­ würden. Bedauerlich sei auch, dass zögerung. Zudem mit viel zu geringen Deutschland derzeitig Menschen zurück- Pauschalen.“ Die Abschaffung des Gut- schicke, die über europäische Drittstaa- scheinsystems habe die Lage der Flücht- ten einreisen. „Schade eigentlich, wir Ayca Polat, Integrationsbeauftragte linge entscheidend verbessert. Darin sind hätten sie hier gut gebrauchen können“, der Stadt Oldenburg sich die Gesprächspartner einig. „Das war findet Lampe. Die aktuellen EU-Gesetze vorher diskriminierend“, sagt Ayca Polat. sorgen allerdings für ein Katz-und-Maus- Oft seien die Gutscheine nicht akzeptiert Spiel, in dem auch die Behörden mitspie- worden. Ebenso wie Deutschland in die- len: Einreise, Ausweisung, Wiederein- ser Frage auf bessere Beispiele aus ande- reise … Mit vernünftigen europäischen ren Ländern reagiert habe, gebe es auch Regelungen könne man dies unwürdige bei den Gesundheitskosten optimalere Schauspiel allen ersparen. Deutschland Lösungen, die man übernehmen sollte. müsste dabei nicht mal mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher, ist er überzeugt. Jetzt greift Theo Lampe noch einmal den Begriff der „Anerkennungskultur“ auf. Auch Ayca Polat betont, dass Deutschland Die hänge nicht von der sicher unglück- von den Flüchtlingen profitieren könne. lichen Lastenverteilung zwischen Kom- „Wer es bis hierher geschafft hat, bringt munen, Bund und Land ab. Anerken- eine gewisse Widerstandsfähigkeit und be- nungskultur müsse von Menschen gelebt wundernswerten Biss mit.“ Das seien jun- werden. „Gerade da können Kirchen ge Männer und auch Frauen, die Entbeh- und Wohlfahrtsverbände mitgestalten“, rungen auf sich nehmen, um für sich und erklärt der Diakonievertreter. Er lobt: ihre Familien die Zukunft gestalten zu „So viel ehrenamtliches Engagement ha- können. „Der Weg bis hierher war nicht ben wir noch nie erlebt.“ Auch dass sich einfach, aber sie haben sich nicht beirren die Atmosphäre grundlegend verbessert lassen.“ Das sind viele Akademiker oder habe, sei nicht zuletzt „dem langen Atem anderweitig hoch qualifizierte Arbeitskräf- der Ehrenamtlichen zu verdanken, die te, die zudem über Fremdsprachenkennt- sich seit Jahren für Migranten eingesetzt nisse verfügten. Auch ihre Kinder seien haben“. Dennoch warnt der Ordnungs- bewundernswert motiviert und lernten beamte Volker Bohlen davor, die Bun- rasch dazu. „Solche Menschen dürfen wir desrepublik zu attraktiv zu machen. Die nicht zu lange zappeln lassen“, kritisiert Abschaffung der Gutscheine habe ver- sie die manchmal schleppende Anerken- Volker Bohlen, Leiter der Ordnungs- mutlich in den westlichen Balkanstaaten nung der Anträge. Sonst sei irgendwann behörde im Landkreis Friesland eine „Sogwirkung“ ausgelöst. „Wir dür- ihre Motivation verloren.

5 | Im Gespräch

„Wir brauchen Zuwanderung, nicht nur Als „Brückenbauer“ sieht Theo Lampe aus humanitären Gründen, sondern auch Kirche und Diakonie. Für beide sei aber aus ökonomischen“, stimmt Theo Lampe wichtig, dass sie sich nicht auf die eine oder zu. Er appelliert allerdings auch dafür, „die die andere Seite schlügen. „Wir müssen die ‚Eine Welt-Brille‘ aufzusetzen“. Wenn zu Einzelentscheidung über Asyl – und damit viele Menschen mit hoher Qualifikation womöglich über Leben und Tod – ebenso ihre Heimatländer verließen, gehe dort respektieren wie die Gemeinden, die Flücht- Kompetenz verloren. „Wir müssen durch lingen Kirchenasyl gewähren.“ Die Seelen- Entwicklungshilfe dafür sorgen, dass die not der einen und die christliche Grundhal- Menschen in ihren Ländern sicherer und tung der anderen verdienten Anerkennung. besser leben können. Das ist sinnvoller, als Das Verständnis für die eine oder andere Flucht zu fördern.“ „Dabei leisten Migran- Seite dürfe aber nicht den Blickwinkel ver- ten Beachtliches für ihre Herkunftsländer“, engen. erklärt Lampe weiter. Die Summe, die sie hier erarbeiteten und quasi als private Ent- Auch Kirchenasyl könne nur „ultima ratio“ wicklungsförderung in ihre Heimat über- sein, mahnt der Migrationsfachmann. Eine wiesen, übersteige die Summe staatlicher letzte Möglichkeit in Einzelfällen. Sonst Entwicklungshilfe um ein Vielfaches. Dass würden Recht und Gesetz ausgehebelt. Migranten gleichzeitig einen wichtigen Bei- Gleichzeitig sei es eine Stärke des Rechts- trag für die deutsche Wirtschaft erbringen, staates, dass er das Instrument Kirchenasyl sorge vermutlich auch für die derzeitige An- anerkenne. Damit akzeptiere der Staat, dass erkennung. „Doch was ist, wenn die Arbeits- Rechtsmittel gelegentlich nicht jeder Situa- losenzahl wieder steigt?“, stellt der Vertreter tion gerecht werden könnten. „Wir haben der Diakonie als Frage in den Raum. das bisher immer verhindern können“, berichtet Volker Bohlen. „Wenn es sich „Noch immer herrscht die latente Angst zuspitzte, haben wir alle noch einmal tief vor Überfremdung“, setzt Ayca Polat hinzu. Luft geholt und uns zusammengesetzt, um Dabei brauchen gerade moderne Stadt- gemeinsam eine Lösung zu finden.“ Nur in gesellschaften Zuwanderung. Das zeigten wenigen Notfällen habe die Härtefallkom- Beispiele aus den USA oder England. Auch mission entscheiden müssen. Bohlen räumte Deutschland entwickle sich zur Einwan- allerdings ein, dass das Kirchenasyl manche derungsgesellschaft. Das wirft die Frage Situation entschärfen könne, weil es Zeit auf, was das neue Wir in der Gesellschaft zum Luftholen schaffe. Als Fachmann kenne sei. „Diese Frage müssen wir positiv beant- er auch die rechtlichen Grauzonen. „Aber worten“, fordert Ayca Polat. Gerade dabei wenn wir diesen Spielraum genutzt haben, erwarte sie die Hilfe der Kirche. Das könne hängen wir das nicht an die große Glocke.“ schon in den Kindergärten beginnen, betont Sein Ziel sei, die Ordnungsbehörde auch als Theo Lampe. Deshalb sei es wichtig, dass Gestaltungsbehörde zu führen. Ayca Polat Flüchtlingskinder umgehend in Kindergär- nickt und berichtet von zwei Personen, die ten und Schulen kommen. bei harter Auslegung hätten abgeschoben werden müssen, heute aber in Oldenburg Schließlich wendet sich die Gesprächsrunde leben und arbeiten. Sie hoffe, dass Behör- wieder den lokalen Realitäten zu. In Ol- den häufiger ihre Spielräume nutzen. In denburg sei es nicht ohne Gemeinschafts- diesem Zusammenhang erinnert Theo unterkünfte gegangen. Anfangs habe es Lampe an die positiven Erfahrungen mit erhebliche Widerstände gegen Flüchtlings- den Yeziden, die vor zwei Jahrzehnten in heime in ehemaligen Kasernen gegeben, großer Zahl nach Oldenburg kamen. „Wir räumen Lampe wie Polat ein. Aber man haben uns damals für sie eingesetzt“, erklärt habe gelernt. Seit Nachbarschaften positive er die damalige Position von Kirche und Erfahrungen mit Migranten gewonnen Diakonie. Es seien teilweise Analphabeten haben und frühzeitig einbezogen werden, gekommen, „deren Kinder mittlerweile Jura lasse auch der Widerstand nach. „Wer gut und Medizin studiert haben und in unseren und umfassend informiert ist, lässt sich nicht Betrieben und Verwaltungen verantwortlich mehr von Rechtsradikalen instrumentalisie- mitarbeiten. Migration ist also eine Erfolgs- ren“, ist Theo Lampe überzeugt. Deswegen geschichte für die Menschen und für unsere stand der Diakoniereferent der Stadt bei sol- Gesellschaft.“ chen Informationsveranstaltungen auch als Moderator zur Verfügung, wofür Ayca Polat Das Gespräch hat Michael Eberstein moderiert und lebhaft dankte. aufgezeichnet.

6 | Katalysator Gremium für die letzte Hoffnung Olaf Grobleben engagiert sich in der Härtefallkommission für Asylbewerber

Weltweit sind fast 50 Millionen Men- sönliche Situation, da genügt eine juris- schen auf der Flucht. Beinahe täglich tisch geprägte Stellungnahme nicht.“ melden die Medien, dass die Zahl der Asylbewerber in Deutschland steigen Viele der Asylsuchenden, die sich an die werde. Allein Niedersachsen rechnet im Härtefallkommission wenden, haben eine kommenden Jahr mit 18.800 Asylerstan- Odyssee der Ungewissheit hinter sich. Sie trägen. Hinter diesen Statistiken stehen werden geduldet, hangeln sich von Job zu Menschen mit einer ganz persönlichen Job, sind oft bereits in Deutschland zur Geschichte und der bangen Frage: Wer- Schule gegangen – manche sogar hier de ich Asyl bekommen? Einer, der viele geboren und nie in ihrem „Heimatland“ Schicksale hinter den nackten Zahlen gewesen. „Die Härtefallkommission be- kennt, ist Olaf Grobleben. Der Pastor für urteilt die Lage insbesondere unter dem Ethik und Weltanschauungsfragen der Aspekt der gelungenen Integration“, Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ol- erklärt Grobleben. „Was zählt ist, wie gut denburg ist stellvertretendes Mitglied der jemand in Deutschland Fuß gefasst hat. Härtefallkommission in Niedersachsen. Dazu gehören Sprachkenntnisse, Engage- Er habe sich gefreut, in die Kommission ment, ein Freundeskreis. Wer sich zudem berufen zu werden, sagt er, denn: „Ich bemüht, selbst zu seinem Lebensunterhalt finde es sinnvoll und wichtig, mich hier beizutragen, hat eine echte Chance.“ im Namen der Kirche zu engagieren. In diesem Gremium können wir uns wirk- Oft gelinge es, gute Lösungen zu finden, lich für Benachteiligte einsetzen und uns betont Olaf Grobleben. Dennoch werde kümmern.“ es dringend Zeit, dass sich die Politik den veränderten Bedingungen stelle. „Es gibt Einmal im Monat treffen sich die Mit- Problemfälle, die wir in der Härtefallkom- glieder der Härtefallkommission, zehn mission nicht lösen können. Wir brau- bis 15 Fälle werden dann beraten. chen eine gesteuerte Migration, da muss „Darunter sind ganz eindeutige, aber die Politik endlich ran“, fordert er. Und auch andere, bei denen die Entschei- denkt dabei unter anderem an die Schul- dung schwerfällt.“ Wenn der Vater etwa abgänger mit hervorragenden Noten, die mehrfach schwere Straftaten begangen nicht mit offenen Armen in Deutschland hat und deshalb die ganze Familie ausge- aufgenommen werden, „obwohl wir – ge- wiesen wird, obwohl die Kinder perfekt rade angesichts des demografischen Wan- Deutsch sprechen und die Heimat ihrer dels – auf sie nicht verzichten können.“ Eltern nie kennengelernt haben. Oder wenn eine Familie auseinandergerissen Anke Brockmeyer wird, weil die Eltern und zwei Geschwis- ter sich im Laufe der Jahre hervorragend in Deutschland eingelebt haben, drei Die Härtefallkommission weitere erwachsene Kinder es aber nicht Die niedersächsische Härtefallkommission ist dem Innenministerium zugeordnet. geschafft haben, hier wirklich einen Neu- Ihre Mitglieder kommen aus verschiedenen Gremien – darunter der niedersächsische anfang zu machen, und abgeschoben Städtetag, der Rat der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen sowie werden sollen. „Das lässt einen nicht Mediziner. Mit der Härtefallregelung wird die Möglichkeit geschaffen, Asylbewerbern, kalt“, gibt Grobleben zu. Die Mitglieder die eigentlich kein Aufenthaltsrecht erhalten können, aus dringenden humanitären der Härtefallkommission versuchen, oder persönlichen Gründen zu einem legalen Aufenthalt zu verhelfen. Eingaben an die möglichst alle Antragsteller persönlich Härtefallkommission können über ein Kommissionsmitglied oder unmittelbar bei der kennenzulernen, um sich ein umfas- Geschäftsstelle der Härtefallkommission eingereicht werden. Ein besonderes Gewicht sendes Bild machen zu können. „Man bei der Prüfung von Härtefallgründen haben die soziale, schulische und berufliche In- wird den Menschen nur gerecht, wenn tegration und ihre Verwurzelung in Deutschland. man sie kennt“, findet Olaf Grobleben. www.mi.niedersachsen.de (Suchbegriff „Härtefallkommission“) „Denn es geht immer um eine ganz per-

7 | Katalysator Jesus – ein Flüchtlingskind Biblische Einblicke zum Thema „Flucht“

Josef hatte ein seltsames Gefühl, als er am ohne dabei internationale Landesgrenzen Morgen danach erwachte. Ein Engel war zu überschreiten. Ob Irak oder Syrien, ihm im Traum erschienen und hatte ihn Somalia oder Sudan – die Binnenver- gewarnt: „Geht nach Ägypten, dort seid triebenen machen über die Hälfte aller ihr in Sicherheit. Herodes wird den Klei- Flüchtlinge aus. Auch um sie kümmern nen suchen und nicht ruhen, bis er ihn sich kirchliche Hilfswerke vor Ort, um getötet hat.“ Der Traum war so echt, dass das Überleben in Flüchtlingslagern zu Josef erst gar nicht wusste, ob er wachte sichern. oder schlief. Doch dann kam die Angst, ganz schnell. Angst vor Verfolgung, vor Dass für christliche Kirchen der Flücht- der Gefahr für seinen Sohn und die ganze lingsschutz schon immer eine große Rolle Familie. Ein hasserfüllter Herrscher, der gespielt hat, ist kein Zufall. Unter den keine Opposition im Lande duldete, und biblischen Geboten sind diejenigen zum wenn sie auch nur von einem wehrlosen Umgang mit Fremden und Flüchtlingen Kind auszugehen schien. Also weckte am deutlichsten. Schließlich hat das Got- er Maria, mit großer Eile griffen sie ein tesvölkchen Israel selbst die Erfahrung paar Sachen und flohen ins benachbarte gemacht, wie es ist, in einem fremden Ägypten. Nur knapp entkamen sie der Land brutal unterdrückt zu leben. Bis den systematischen Tötung aller Säuglinge in Israeliten irgendwann die Kraft fehlte, Bethlehem – der frisch geborene Heiland das Leid länger zu erdulden und sie sich wurde ein Flüchtlingskind (Mt 3). dem dahergelaufenen Schafhirten Mose anvertrauten. Der war selbst aus Ägypten Dass Menschen gezwungenermaßen ihre geflohen, weil er einen politischen Mord Heimat verlassen, ist nichts Neues. Sie begangen hatte, und versprach bei seiner fliehen vor Krieg und Gewalt, Hunger Rückkehr nun den Israeliten, dass Gott und Diskriminierung, vor Bedrohungen sie „aus dem Sklavenhaus“ herausführen für Leib und Leben. Heute befinden sich werde. weltweit 51 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie. 16,7 Millio- Und genau diese gelungene Flucht wird nen von ihnen gelten nach völkerrechtli- zur Grundlage der Zehn Gebote und cher Definition als Flüchtlinge. aller anderen Gesetzestexte im Alten Tes- tament. Dadurch rücken alle Menschen, In diesen Tagen, wenn Medien über die unterdrückt, verfolgt, missachtet oder die vermeintlichen „Flüchtlingsströme“ bedroht werden, ins Zentrum des göttli- berichten und Kommunen lamentieren, chen Willens. Wie anders sollte man das weil nicht genug Wohnraum für Schutz- Liebesgebot für „den Fremden, der in eu- suchende vorhanden ist, könnte man rem Land lebt“ verstehen? Genauer heißt den Eindruck bekommen, Deutschland es in 3. Mose 19,33-34: „Du sollst ihn sei mit dem „Ansturm“ von Menschen lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst überfordert. Fremde in Ägypten gewesen.“

Zur Person: Tatsächlich aber kommen bei uns ver- Viele Heldinnen und Helden der Bibel Oberkirchenrat Thorsten Leißer (Jahr- gleichsweise wenige Flüchtlinge an. Neun müssen fliehen oder mit den Folgen von gang 1974) ist evangelischer Pfarrer, von zehn Flüchtlingen (86 Prozent) leben Flucht umgehen. Isaak beispielsweise seit 2009 Theologischer Referent für dauerhaft in Entwicklungsländern, denn ist das, was heute gern verharmlosend Menschenrechte und Migration im Kir- viele finden – wie die heilige Familie in „Wirtschaftsflüchtling“ genannt wird (1. chenamt der Evangelischen Kirche in der biblischen Überlieferung – Zuflucht Mose 26). Rut flieht vor einer Hungers- Deutschland (EKD) und stellvertreten- in den Nachbarländern. Den weitaus grö- not und wird als Armutsmigrantin später des Mitglied in der Niedersächsischen ßeren Teil (33,3 Millionen) bilden jedoch eine der Stammmütter des Königs David Härtefallkommission. sogenannte „Binnenvertriebene“. Sie (Rut 4). Derselbe David flieht aus Angst fliehen innerhalb ihres eigenen Landes, vor dem eifersüchtigen König Saul, der

8 | Katalysator

ihm nach dem Leben trachtet (1. Samuel 19-20).

Aber auch im Neuen Testament gibt es Flucht und Verfolgung: Die ersten Christinnen und Christen werden ver- folgt, wobei sich ironischerweise ein gewisser Saulus als Verfolger besonders hervortut (Apostelgeschichte 8,3). Unter dem Künstlernamen Paulus wird er dem Christentum später zum internationalen Durchbruch verhelfen und dabei auch so manches Mal die Flucht ergreifen müssen. Denn der neue Glaube an Jesus Christus als den gekommenen Messias wird nicht überall dankbar und mit offe- nen Armen aufgenommen. Schließlich ist auch im Neuen Testament der Umgang mit den Fremden und Flüchtlingen so zentral, dass er zum Maßstab für den freien Eintritt in das Reich Gottes wird: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen!“ Da klingt die Geschichte von der Flucht nach Ägypten wieder an. Der Heiland hat sich dabei gut getarnt, denn: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brü- dern (und Schwestern), das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,31-46)

Was diese „Geringsten“ auf ihrer le- bensgefährlichen Flucht zum Teil erlebt und gesehen haben, können wir uns in Deutschland kaum vorstellen. Viele sind durch ihre Erlebnisse traumatisiert, depressiv, und nicht wenige zerbrechen daran, dass im vermeintlich sicheren Eu- ropa Asyl nicht leichtfertig gewährt wird. Flüchtlinge in Deutschland kommen meist aus Afghanistan, Somalia, Irak, Syrien und dem Sudan. Auch wenn die Schutzquote im Asylverfahren im Jahr 2013 insgesamt bei fast 40 Prozent lag, müssen Flüchtlinge jedoch zum Teil sehr lange auf eine erste Entscheidung über Flucht nach Ägypten ihre Asylanträge warten (derzeit über sie- ben Monate).

Während des Verfahrens dürfen sie („Sachleistungsprinzip“). Das Asylbewer- Ankunft vieler Bürgerkriegsflüchtlinge sich in einigen Bundesländern nur ein- berleistungsgesetz regelt die Höhe der aus Syrien kommt es immer häufiger vor, geschränkt bewegen. Wenn sie ihren Zuwendungen, die immer noch deutlich dass Kirchengemeinden und einzelne Landkreis oder das Bundesland für einen unter IV liegt. Deshalb hatte das Christenmenschen sich besonders enga- Besuch bei Freunden oder Verwandten Bundesverfassungsgericht die Höhe der gieren, wenn es darum geht, Menschen vorübergehend verlassen wollen, zwingt Leistungen für Asylsuchende zuletzt 2012 aufzunehmen, die ihre Heimat verlassen sie die sogenannte„Residenzpflicht“ dazu, als verfassungswidrig eingestuft und eine mussten. Denn ihnen zur Seite zu stehen die Reise bei der Ausländerbehörde zu Anpassung gefordert. Auch hier helfen bedeutet eben auch, Christus bei sich beantragen. In manchen Bundesländern kirchliche und diakonische Stellen bei aufzunehmen. erhalten Schutzsuchende statt Geld zum der Beratung und konkreten Versorgung Lebensunterhalt nur Lebensmittelpakete der Menschen. Nicht zuletzt durch die Oberkirchenrat Thorsten Leißer

9 | Thema Verfolgung von Christen weltweit Hier ist wahre Ökumene gefragt

Ein Drittel der Weltbevölkerung sind Der überwiegende Teil von ihnen wird Christen, damit ist das Christentum die zumindest stark diskriminiert, wenn nicht größte Religionsgemeinschaft. Gleichzei- unmittelbar verfolgt. tig machen die Fälle von Gewalt gegen Christen wegen ihrer Religionszugehö- Inwiefern berechtigt uns nun aber die rigkeit weit über die Hälfte der bekannt Häufigkeit und Massivität der Christen- werdenden Fälle von schwerer Verlet- verfolgung weltweit, sie speziell in den zung von Religionsfreiheit weltweit aus. Blick zu nehmen? Es ist der Umstand, Hauptgrund sind zwei Faktoren: 1. Der dass die schwerste Gewalt gegen Men- wachsende religiöse Fundamentalismus schen, aber auch gegen ihre Gebets- (Zwang und Gewalt gegen Andersden- stätten, gegenüber Christen massiver kende, die mit einer „absoluten Wahr- vorkommt als bei jeder anderen Religion. heit” begründet werden), der sich oft als Die Gewalt gegen Christen reicht vom religiöser Nationalismus zeigt. 2. Prak- Mord an Nonnen in Indien über das tisch überall dort, wo das Christentum Abfackeln von Kirchen in Indonesien, am schnellsten wächst, ist Religionsfrei- vom Verprügeln von Priestern in Ägyp- heit stark eingeschränkt oder nicht vor- ten über die Folter eines widerspenstigen handen, etwa in China oder dem Iran. Pfarrers in Vietnam bis hin zur Versto- ßung von Kindern aus ihrer Familie in In weltweit 70 Ländern gibt es keine der Türkei oder Sri Lanka, wenn sie oder nur eine eingeschränkte Religions- christliche Gottesdienste besuchen. Zur Person: freiheit. Die rund 700 Mio. Muslime, die Täglich erreichen uns Meldungen von Prof. Dr. phil. Dr. theol. Thomas Schirr- in Ländern mit eingeschränkter oder oh- Kirchen, die angesteckt oder zerbombt macher, PhD, DD (geb. 1960) ist ne Religionsfreiheit leben, leben in isla- werden, wobei Christen sterben. Selten Direktor des Internationalen Instituts mischen Ländern. Die Muslime aber, die kommen diese Nachrichten aus Ländern für Religionsfreiheit (Bonn, Kapstadt, in Religionsfreiheit leben, leben fast aus- wie Nepal, Sri Lanka oder Indien, schon Colombo) und Professor für Religionsso- schließlich in westlichen Ländern. Dage- häufiger aus Pakistan und Indonesien, ziologie an der staatlichen Universität gen leben die rund 200 Mio. Christen, ständig aber aus Ägypten, Irak, Syrien des Westens in Timisoara, Rumänien. die in Ländern mit eingeschränkter oder oder Nigeria. Und ganz häufig liegt die Er ist außerdem ehrenamtlich Präsident ohne Religionsfreiheit leben (Russland Zahl der Todesopfer über 20, bisweilen des Internationalen Rates der Internati- mit einer recht hohen Zahl an Christen über 50. Etwas Vergleichbares ist mir für onalen Gesellschaft für Menschenrechte wird hier außer Acht gelassen), als Min- andere Religionen nicht bekannt. und Botschafter für Menschenrechte derheiten in nichtchristlichen Ländern. der Weltweiten Evangelischen Allianz, Ihre Zahl verteilt sich überwiegend auf Religionsfreiheit ist unteilbar. Für Chris- die 600 Mio. Protestanten vertritt. Sei- kommunistische oder postkommunisti- ten ergibt sich der Einsatz für Religions- ne Forschungsschwerpunkte sind das sche und auf islamische Länder. freiheit aus ihrem Glauben und ihrer Gegensatzpaar Religionsfreiheit und Ethik direkt. Wahren Glauben kann man religiöser Fundamentalismus weltweit Das heißt, dass eigentlich Muslime viel nicht erzwingen. Und die Menschen- in Geschichte und Gegenwart, sowie weniger Religionsfreiheit genießen als würde, zu der auch die Freiheit gehört, die globale Lage verschiedener Men- Christen. Da sie aber in muslimischen die grundlegendsten Überzeugungen des schenrechtsverletzungen wie Menschen- Ländern leben, merken sie dies nur in Lebens selbst zu wählen, ist unantastbar. handel. Zu seinen neuesten Veröffent- den seltenen Fällen, wenn sie aus ihrer Das sollte aber nicht dazu führen, dass lichungen gehören Korruption (2014), Religion ausbrechen wollen – etwa, um man sich nicht mehr für die Opfer der Unterdrückte Frauen (2013), Menschen- Atheist oder Christ zu werden – oder eigenen Religion einsetzt, zumal es sich rechte (2012), Menschenhandel (2011), wenn sie staatlicherseits nicht geduldeten ja zumeist um Opfer von völlig anderen Fundamentalismus (2010), Rassismus Richtungen oder Abspaltungen ange- Kirchen handelt. Hier ist wahre Ökume- (2009), Hitlers Kriegsreligion (2007) hören. Umgekehrt: Die zehn Prozent ne gefragt, die sich nicht nur für „recht- und Multikulturelle Gesellschaft (2007). der Weltchristenheit, die in Ländern mit gläubige” Christen einsetzt, sondern Seine Bücher wurden in 18 Sprachen stark eingeschränkter oder fehlender Re- ohne Wenn und Aber für alle. übersetzt. ligionsfreiheit leben, werden aufgrund ih- rer Religionszugehörigkeit benachteiligt. Thomas Schirrmacher

10 | Thema Frauenwürde auf der Flucht Eine Flüchtlingsberaterin beschreibt die Sicht der Frauen

Die Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisen- vertrauen und in geschütztem Rahmen regionen sind ein Zeugnis dafür, dass in auch über die eigenen Erlebnisse spre- unserer Einen Welt vieles nicht in Ord- chen zu können, ist für sie von größter nung ist. Oft haben sie Lebensgefahr und Bedeutung. unmenschlichen Terror überstanden. Viele sind traumatisiert von der monate- In Erinnerung sind noch die dramati- langen Flucht ins Ungewisse. Besonders schen Bilder von den Yeziden und Chris- Frauen ohne männliche Begleitung sind ten im Nord-Irak, die vor den brutalen unterwegs vielen Gefahren ausgesetzt. Übergriffen der IS-Milizen flüchteten. Auch deswegen ist Angst ihr ständiger Für die Flüchtlingsfrauen hält das Grau- Begleiter. Doch der Überlebenswille ist en an. Sie werden von ihren Familien ge- größer. trennt, vergewaltigt, verschleppt, zwang- sislamisiert und auf den Sklavenmärkten Frauen und Kinder stellen 80 Prozent der Region verkauft, um zwangsverheira- der 51 Millionen Flüchtlinge weltweit. tet zu werden. Zugleich müssen sie erfahren, dass sie die Schwächsten unter den Schwachen Die Entwürdigung hat System: Weibliche sind. Häufig treten sie die Flucht alleine Flüchtlinge werden von ihren Verfolgern mit ihren Kindern an. Denn Ehemänner, so unmenschlich behandelt und von ih- Väter oder große Brüder können sie ren Peinigern gezielt verletzt, weil damit nicht begleiten, weil sie vorher fliehen Ehemänner, Väter und Brüder beschämt mussten, gefangen genommen, als Solda- und das Ehrgefühl ganzer Familien zer- ten eingezogen oder getötet wurden. stört werden kann. Denn wer seine Frau, seine Töchter oder Schwestern nicht Seit Mai 2014 bin ich als Flüchtlingsso- schützen kann, ist wehrlos, machtlos und zialarbeiterin bei der Diakonie tätig. In ehrlos. Deshalb gehört die systematische der Beratung helfen mir meine eigenen Vergewaltigung von Frauen in vielen Fluchterfahrungen. Ich kann Verlust- kriegerischen Konflikten zur erklärten schmerzen, Sorgen und Nöte, Bedürf- Kriegsstrategie. nisse und Zukunftshoffnungen sehr gut nachvollziehen. Andererseits befähigt Ohne deutsche Sprachkenntnisse und mich meine Erfahrung zu einer gewissen ohne Kontakt zu den Einheimischen Distanz, die verhindert, jedes Mal von sind die geflüchteten Frauen extrem der Wucht anderer Erlebnisse erfasst zu schutzbedürftig. Sie brauchen besondere Zur Person: werden. Aufmerksamkeit und Solidarität. Viele Zohreh Roushanpour wurde in Ker- leiden unter Isolation, Ängsten, Schlaf- manschah/Iran geboren. Sie studierte Rund 150 Menschen haben in Delmen- störungen und Kopfschmerzen. Frauen, Mathematik im Iran (Lehramt an Schu- horst bisher Kontakt zu mir aufgenom- die Opfer von Gewalt wurden, haben len). 1990 floh sie nach Deutschland, men, gut 60 Prozent davon sind Frauen. Depressionen, die teilweise in Suizidge- studierte an der Universität Bremen Fast täglich höre ich von Krieg, Folter, danken münden. Bei Müttern kommt die Anglistik und Kulturwissenschaft und Vertreibung, Vergewaltigung, Unterdrü- Sorge um die Zukunft ihrer Kinder hin- bildete sich zur Kursleiterin „Familien­ ckung und Verfolgung, von Genitalver- zu. Dabei ersehnen sie nur eins: endlich orientiertes Integrationstraining” fort stümmelung, Verbrechen im Namen der existenzielle Sicherheit. mit der Qualifizierung als „Interkultu- „Ehre“ oder vom Verlust naher Angehö- relle Trainerin”. Zohreh Roushanpour ist riger. Ich spüre Schmerz und abgrund- Zohreh Roushanpour als Honorarmitarbeiterin in der Erwach- tiefe Trauer und zugleich unbeugsamen Flüchtlingsberaterin senenbildung und ehrenamtlich in der Lebenswillen. Immer wieder staune ich Diakonisches Werk Delmenhorst/­ Flüchtlingsarbeit tätig. über die besondere Lebenskraft der Frau- Oldenburg-Land Seit Mai dieses Jahres ist sie Diakonie- en und ihren so hoffnungsvollen Lebens- Louisenstraße 34, 27749 Delmenhorst Flüchtlingsberaterin in der Stadt mut, in diesem Land eine neue Zukunft Tel.: 04221/56774508 ­Delmenhorst. zu finden. Das Gefühl, auf die Beratung E-Mail: [email protected]

11 12 13 | Zwischenruf Ein Plädoyer für mehr Eigenliebe … … denn das Gebot der Nächstenliebe reicht anscheinend nicht

Die Heilige Familie sei nach Ägypten der Heimat finden. Oder sie wählen geflohen. Sagt die Bibel. Darüber, wann, doch Norddeutschland als Lebensmit- auf welchem Wege und in welcher Ver- telpunkt. Die freie Wahl wünsche ich fassung sie zurückkamen, sagt sie nichts. allen ­Töchtern und Söhnen. Auch aus Schade, eigentlich. Es hätte sich vielleicht ­Nächstenliebe. eine Handlungsanweisung ableiten las- sen, wie Flüchtlinge zu behandeln sind. Der Name der oben genannten marok- kanischen Ausbildungsstätte, die evan- Doch das Gebot der Nächstenliebe sollte gelische und katholische Theologinnen ausreichend sein. Eigentlich. und Theologen ausbildet, bedeutet: „ei- nander besser verstehen, indem man ei- Während die „Festung Europa“ lieber nander dient“. Es ist ein guter Name für Grenzen schützt als Menschen und im- ein Institut, das so in einer christlichen mer neue Möglichkeiten ersinnt, sich Minderheiten-Situation einen Wesenszug noch effektiver abzuschotten, sitzen des Christentums bezeugt. Das unendlich Flüchtlinge in Ländern wie Marokko viel reichere „christliche Abendland“ und versuchen, es irgendwie doch in den tut sich schwer, dies im Umgang mit Norden zu schaffen. Sie sind jung, stark Menschen, denen wir den Stempel und mutig, denn sonst hätten sie den „Flüchtling“ aufgedrückt haben, auf- Weg nicht überlebt. Alle sind hoch moti- scheinen zu lassen. viert, einen Neustart zu wagen. Zugegeben: Der Umgang mit Flüchtlin- Auch Marokko ist anzumerken, dass gen, Verfolgten, Bedrohten, Geschun- es überfordert ist mit den ungebetenen denen ist kein reines Vergnügen. Dafür Gästen, und handelt nicht immer men- braucht es keine Sozialromantiker, schenrechtskonform. Die kleinen christ- sondern Männer und Frauen, die bereit lichen Gemeinden haben sich bisher vor sind, Schweiß, Blut und Tränen abzuwa- allem um sich selbst gekümmert. Doch schen. Auch wenn man sie nicht sieht. jetzt reagieren sie auf die Fremden, von Und Mutmacherinnen und Mutmacher. denen viele Christen und alle mittellos Die Dublin-Regelung muss abgeschafft sind. Und heißen sie willkommen in werden, denn sie verschwendet unsere Gottesdiensten, in den Gemeinden und Steuergelder und verhindert, dass junge in der einzigen theologischen Ausbil- Menschen, die Geld durch Arbeit ver- dungsstätte, im „Al Mowafaqa Institut dienen wollen, dies tun können. Und das für Ökumenische Theologie“. Nach ihrer in einer Situation, in der wir dringend Abschlussprüfung haben die Afrikanerin- Menschen brauchen, die wir zu Fach- nen und Afrikaner dann die Möglichkeit, kräften ausbilden können. sich auf eine Stelle als Pfarrer oder Pries- ter zu bewerben. Überall auf der Welt. Wenn uns also nicht die Nächstenliebe Marokko, ein muslimisches Land ohne antreibt, freundlich zu Fremden zu sein Religionsfreiheit, das in der Vergangen- und sie aufzunehmen, so als wären sie heit Christinnen und Christen das Leben die Heilige Familie persönlich, dann nie leicht gemacht hat, gibt Flüchtlingen darf uns auch die Eigenliebe dazu Zur Person: eine Chance. motivieren. Obwohl Christinnen und Freddy Dutz ist Pressereferentin im Christen, egal ob sie hauptamtlich bei Evangelischen Missionswerk in Deutsch- Meine Kinder und die meiner Freun- Kirche, Diakonie oder Mission arbeiten, land in Hamburg. dinnen studieren „selbstverständlich“ im die Nächstenliebe besser ansteht. Nicht Ihre Themenschwerpunkte sind Mission Ausland. Wenn sie Lust haben, es ihre nur missionarisch gesehen: Um Gottes und Ökumene, Entwicklungspolitik, Karriere voran bringt, oder sie die Liebe willen – der Welt zuliebe. Menschenrechte und Kommunikation. dazu bewegt, werden sie – wahrschein- lich – einen Arbeitsplatz außerhalb Freddy Dutz

14 | Aus der Praxis Flucht und Vermeidung Eine Themenbeschreibung aus psychologischer Sicht

Wenn Menschen flüchten, so ist dies zung oder gar einer Traumatisierung aus psychologischer Sicht im weitesten zu schützen. Wer flüchtet, verhindert Sinne eine Angstreaktion. Nicht jede dadurch oft Schlimmeres für sich selbst Sorge, Befürchtung oder Angst führt oder aber auch für andere. zu einer Flucht. Aber jede Flucht ist ei- ne Reaktion auf eine Bedrohung, Es kann sehr sinnvoll sein, einem Be- die wir nicht anders als durch ein Weg- ziehungsstreit aus dem Weg zu gehen, gehen, Vermeiden, Ausweichen – eben denn der fruchtlose Streit unterhöhlt eine Flucht – bewältigen zu können möglicherweise allzu sehr die Bezie- meinen. hungsbasis. Es kann sinnvoll sein, eine Aufgabe, die mir übertragen wurde, Bei dieser Art der Angstreaktion geht wieder abzugeben, weil mich das vor es also nicht nur darum, was mich be- einer Überforderung und den Auftrag- droht, sondern ganz besonders auch geber vor einer Enttäuschung schützt. darum, wie ich meine eigenen Bewäl- Es kann aber auch sehr sinnvoll sein, tigungskräfte, meine Fähigkeiten und zunächst einmal nicht mehr in Flugzeu- Kompetenzen im Umgang mit der Be- ge zu steigen, wenn Stress damit bisher drohung erlebe. immer dazu führte, dass nach jedem Flug die Flugangst größer wurde. Jemand, der sich im Umgang mit Hunden sehr sicher, erfahren und Aber: Wenn ich immer nur der Angst kompetent fühlt, wird vermutlich nur folge, wenn ich immer häufiger flüchte, schwerlich eine Hundephobie erleiden. wenn ich immer wieder die Erfahrung Jemand, der sich seinen beruflichen mache, dass ich auf eine Situation, eine Herausforderungen gut und sicher Herausforderung oder eine Aufgabe nur gewachsen fühlt und möglicherweise so reagiere, indem ich ihr aus dem Weg sogar überwiegend Freude bei sei- gehe – dann wird meine Welt unweiger- ner Arbeit­ empfindet, wird kaum ein lich immer enger, das Zutrauen in mei- „Burn-out“ entwickeln. Jemand, der ne Kräfte schwindet und entsprechend die Erfahrung gemacht hat, sich in wächst meine Angst. Die empfundene Streitigkeiten und Konflikten gut be- Angst wird immer intensiver und die haupten zu können und wenig Sorge Felder, auf die sich die Angst ausbreitet, hat, dass eine Beziehung dadurch werden immer zahlreicher. dauerhaft Schaden nimmt, wird einer ­Auseinandersetzung nicht oder nur Deshalb ist es gut, Flucht und Vermei- ­selten ausweichen müssen. dung zwar als eine mögliche Reaktions- weise auf eine Bedrohung zur Verfü- Was aus psychologischer Sicht zur gung zu haben – wir würden uns sonst Flucht, Vermeidung, zum „Abhauen“ zu häufig Erfahrungen aussetzen, die führt, ist also höchst subjektiv. In jedem uns nicht guttun. Zur Person: Fall gehört die Flucht aber – neben dem Angelika Wallenhorst, geb. 1954 in „Kampf“ und dem „Totstellen“ – zu Aber es ist auch gut, immer wieder nach Oldenburg, Studium der Germanistik, den sinnvollen Überlebensreflexen, die Wegen zu suchen, nicht flüchten zu Politik und ev. Theologie in Marburg uns unser Gehirn schon seit Jahrtausen- müssen, sondern der Bedrohung stand- und Berlin, Ehe-, Familien- und Lebens- den zur Verfügung stellt. zuhalten und die Erfahrung zu machen, beraterin (EkfuL) und Pädagogin. Seit ihr gewachsen zu sein. Das stärkt das 2002 Mitarbeiterin der Ökumenischen Flüchten hat zunächst nichts mit Feig- Selbstvertrauen und wirkt präventiv Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und heit, Bequemlichkeit oder Unverbind- gegen die schleichende Ausweitung der Lebensfragen in Oldenburg. Sie ist lichkeit zu tun, sondern ist zu allererst Fluchtimpulse. verheiratet und hat zwei erwachsene ein sinnvoller Versuch, sich selbst vor Töchter. einer Überforderung, vor einer Verlet- Angelika Wallenhorst

15 | Aus der Praxis Asyl: Wie kann ein Pfarramt helfen? Vorschläge aus der synodalen Arbeitsgruppe „Flüchtlingsfragen“

„Bitte, wir brauchen sofort Hilfe!“ Wer im bereits einen Rechtsbeistand, ist es sinnvoll, über Schulen oder kirchliche Kindergärten Pfarramt mit dieser Bitte eines Flüchtlings sich die Kontaktdaten des Rechtsanwalts ergeben. Jede Gemeinde sollte zunächst oder eines Asylbewerbers konfrontiert wird, geben zu lassen. Ansonsten ist ein Kontakt prüfen, welche Unterstützung sie leisten ist oft verunsichert und fühlt sich von der zum Diakonischen Werk ratsam. kann. Begleitung bei Behördengängen, Kin- Dringlichkeit unter Druck gesetzt. Gut ist es derbetreuung während eines Deutschkurses in diesem Fall, zunächst einmal zuzuhören, Einem Taufbegehren von Flüchtlingen soll- oder das Nacharbeiten des Unterrichtsstoffs auch wenn die Verständigung nicht optimal te nicht ohne vorherige Beratung nachgege- sind nur einige Möglichkeiten, Beistand ist. Dann gilt es, das genaue Anliegen zu ben werden. Gerade bei Konvertiten vom anzubieten. Oft sind es alltägliche Dinge, erfragen. Islam zum Christentum können Taufvorbe- bei denen ehrenamtliche Hilfe geleistet reitung und die Taufe Einfluss auf das Asyl- werden kann: das Lesen eines Busfahrplans, Um selbst Klarheit über den Fall zu bekom- verfahren und das Bleiberecht haben. Diese die Teilnahme am Sportprogramm eines men, ist es wichtig, sich Notizen zu machen Konvertiten trennen sich mit der Taufe oft Vereins, der Weg zum Arzt oder zum Ar- und sich zeitlich nicht unter Druck setzen zu von ihren kulturellen und familiären Bezü- beitsamt. Vielfach lassen sich auch eigene lassen. In einer Handreichung für Pfarrerin- gen und setzen sich damit einer konkreten persönliche Kontakte nutzen, um einem nen und Pfarrer wird ausdrücklich geraten, Bedrohung aus. Informationen zu diesem Asylbewerber etwa einen Arbeitsplatz oder einen Termin mit zeitlichem Abstand – et- Thema kann Pfarrer Holger Rauer aus der eine kleine Wohnung zu beschaffen. wa ein paar Stunden später oder am nächs- Kirchengemeinde Osternburg zur Verfü- ten Tag – zu vereinbaren. Diese Zeit kann gung stellen. Um hier Kräfte zu bündeln und Netzwerke genutzt werden, um einen Dolmetscher zu zu schaffen, ist es oft sinnvoll, eine Gemein- organisieren und sich kompetente Hilfe zu Auch ohne einen dringenden Fall ist es we- degruppe ins Leben zu rufen, die bereit holen. Das gilt ganz besonders bei der Bitte sentlich, Gastfreundschaft zu signalisieren ist, Flüchtlinge zu begrüßen und praktisch um Kirchenasyl. Das Asylrecht und auch und Begegnungen zu ermöglichen. Jede zu unterstützen. Mit dieser Arbeit und der das Ausländeraufenthaltsrecht sind sehr Kirchengemeinde kann sich informieren, Präsentation nach außen können gleichzei- komplex und kompliziert. Unterstützung ob es in der näheren Umgebung Flücht- tig Vorurteile abgebaut werden. Wichtig ist bieten in der Regel die Kreis- oder Lan- linge gibt, woher sie kommen und welchen auch bei dem größten Engagement, realis- desgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes Aufenthalts-Status sie haben. Gerade in tisch zu bleiben und nicht mit vorschnellen sowie der Beauftragte für Ethik und Welt- kleineren Gemeinden auf dem Land sind Versprechungen falsche Hoffnungen zu anschauungsfragen der oldenburgischen Flüchtlinge oft ganz auf sich gestellt und wecken. In einzelnen Punkten kann den Kirche, Pastor Olaf Grobleben.Der Aufent- wissen nicht, wer ihnen helfen kann. Hier Flüchtlingen geholfen werden. Aber eine haltsstatus eines Flüchtlings ist entscheidend Kontakt herzustellen, kann bereits eine gro- Gemeinde hat keinen Einfluss darauf, wie für die nächsten Schritte. Hat ein Flüchtling ße Hilfe sein. Ein Kontakt kann sich auch ein Asylverfahren ausgeht.

In der synodalen Arbeitsgruppe „Flüchtlingsfragen“ haben die Synodalen Pfarrerin Wiebke Perzul und Julianna Grätz sowie Pfarrer Olaf Grobleben, Pfarrer Holger Rauer und Theo Lampe die Handreichung für die Kirchengemeinden erarbeitet.

16 Aus den Regionen „Die Diakonie ist meine Familie.“ Über die Arbeit von Migrationsberatern

„Manchmal ist es hier wie in einer Fami- sprechen nicht darüber“, so Roswitha lie“, sagt Claudia Schacht und erzählt von Ihben. Umso wichtiger ist die Auswahl bei dem kleinen dunkelhäutigen Mädchen, der Belegung der Zimmer: „Wir achten das sie kurz vor der Einschulung fragte, sehr auf ein harmonisches Miteinander“, ob sie nicht zur Feier mitkommen wolle. sagt sie. Früher waren die Menschen oft Schließlich hätten alle anderen Erstklässler über viele Monate in den Häusern, das ist neben den Eltern auch noch Verwandte heute anders. Wegen der aktuell zahlrei- und Freunde dabei. „Das war für mich chen Unruhen in verschiedenen Nationen eine große Ehre, ein Vertrauensbeweis“, kommen mehr und mehr Flüchtlinge und betont sie und berichtet von der großen Asylsuchende. Das Land Niedersachsen Freude des Mädchens bei der Einschulung. regelt die Zuweisungen für die Stadt, die Stadt weist der Diakonie die Menschen zu, Claudia Schacht ist Diplom-Pädagogin und aber „wenn wir gerade neue Zahlen ha- Integrationsberaterin. Seit 2010 ist sie bei ben, sind die meist schon überholt“, sagt der Diakonie im Kirchenkreis Friesland / Roswitha Ihben. Nach drei oder vier Mo- Wilhelmshaven tätig, sie gehört zum Team naten können sich die Menschen eine ei- Claudia Schacht, Diplom-Pädagogin der Integrationsberatung im Landkreis gene Wohnung suchen. „Wer dieses Haus und Integrationsberaterin Friesland und der Stadt Wilhelmshaven. verlässt, hat in Deutschland eine Orientie- rung. Er weiß, worauf es ankommt, aber Roswitha Ihben leitet die Beratungsstelle, bis zur Integration ist es noch ein weiter seit 23 Jahren ist die Diplom-Pädagogin Weg“, weiß die Leiterin. hier beschäftigt. Wenn sie erzählt, dann spürt man schnell: Routine kommt hier sel- In der Integrationsberatung werden ten auf, jeder Tag ist anders, jeder, der hier Gesprächsrunden angeboten, außerdem Rat sucht, hat eine ganz eigene Geschich- Unterstützung bei vielen praktischen te, benötigt individuelle Unterstützung. Fragen bis hin zur Unterstützung bei der Arbeitssuche. „Wir sind offen für alle Fra- Die Integrationsberatung ist im nördlichen gen, aber wir können keine Begleitung zu und im südlichen Landkreis mit einer Behörden oder zu Ärzten anbieten. Leider Geschäftsstelle vertreten, darüber hinaus haben wir auch keine Dolmetscher vor unterhält sie ein Wohnheim mit 28 Zim- Ort“, sagt Roswitha Ihben und erzählt von mern, die zum Teil einzeln, zum anderen Gesprächen mit Händen und Füßen, von Roswitha Ihben, Diplom-Pädagogin Teil auch mehrfach belegt sind. Weiterhin den vielen Kontakten, bei denen oft der und Leiterin der Beratungsstelle gibt es ein zweites Haus mit 40 Plätzen in eine dem anderen hilft. „Wir vor „Übergangswohnungen“. Beide Häuser Kurzem einen Syrer im Haus, der sprach liegen in Wilhelmshaven und sind zurzeit auch Deutsch und Englisch, das war uns voll belegt. Das ist schon seit Monaten so. eine große Hilfe. Er kommt immer noch Viele Menschen stammen aus Syrien und oft ins Haus und unterstützt uns, wo er aus Serbien, aber auch aus Eritrea und aus kann“, berichtet die Leiterin über den All- Marokko. Zum Zeitpunkt des Gesprächs tag in der Beratungsstelle. waren in den beiden Häusern insgesamt 74 Personen aus 13 Nationen unterge- Viele der Menschen aus aller Welt halten bracht, davon 39 Männer und 20 Frauen lange Kontakt zur Integrationsberatung. sowie 15 Kinder, drei davon waren schul- Die meisten haben einen großen Teil ihrer pflichtig. Viele von ihnen warten auf ein Familie zurücklassen müssen. Neulich Asylverfahren, einige sind „geduldet“, das sagte eine Frau: „Die Diakonie ist meine heißt, die Abschiebung wurde ausgesetzt, Familie.“ So ein Satz macht Roswitha kann aber jederzeit wieder aufleben. Das Ihben und Claudia Schacht betroffen und zerrt an den Nerven der Betroffenen. Und froh zugleich. Wohnheim mit Zimmern nicht nur das. „Wir haben viele Menschen in Wilhelmshaven hier, die traumatisiert sind. Die meisten Annette Kellin

17 Aus den Regionen Die Flucht aus dem Alltag Wenn das Leben ohne Drogen unmöglich scheint, muss professionelle Hilfe her

Ein Bierchen nach Feierabend, ein klei- weiß Schwiertz. Doch jeder der Bewohner mag allerdings sein, dass Frauen ihre Al- ner Prosecco für den Kreislauf – was kommt freiwillig und kann die Maßnahme koholsucht oft besser verstecken als Män- harmlos klingt, kann schnell zur regelmä- jederzeit abbrechen. „Die meisten bleiben ner.“ Viele Alkoholabhängige versuchten, ßigen Flucht aus dem Alltag werden. Wie etwa ein Jahr. Danach unterstützen wir allein gegen ihre Sucht anzukämpfen, ist zu viel Alkohol die Menschen verändert, sie auf ihrem Weg zurück ins normale die Erfahrung der Sozialpädagogin. „Sie ihnen die Lebensgrundlage raubt und sie Leben“, erklärt die Sozialpädagogin. haben das Gefühl, zu Hause gebraucht zu letztendlich in eine Lethargie treibt, die Einige leben übergangsweise in einer werden und nicht aus dem Alltag ausstei- ihnen oft jeden Willen zur Veränderung Wohngemeinschaft, die eng an das Wohn- gen zu können.“ Dabei haben sich gerade nimmt, erleben die Mitarbeitenden im heim angebunden ist, und nutzen das zu Hause oftmals die Rollen längst ver- Wohnheim der Diakonie in Brake jeden Tagesangebot weiterhin. Andere möchten schoben, übernehmen die Kinder oder der Tag. Hierher kommen diejenigen, die gern sofort auf eigenen Beinen stehen. Die Ehepartner die Verantwortung, um den nach vielen Jahren der Alkoholabhängig- Mitarbeitenden im Wohnheim helfen bei Abhängigen zu schützen und einen Hauch keit, nach unzähligen Entzügen endlich der Wohnungssuche, bei Verträgen zur von Normalität zu bewahren. trocken leben wollen. Strom- und Wasserversorgung, begleiten ihre ehemaligen Bewohner auf dem Weg Nicht selten kann eine Alkoholabhängig- „Für viele ist das Wohnheim die letzte zum Arbeitsamt. keit über Jahre vertuscht werden, führen Chance“, sagt die stellvertretende Einrich- die Süchtigen ein scheinbar normales tungsleiterin Anja Schwiertz. „Und oft Die Geschichten der Bewohner sind unter- Leben, gehen ihrem Beruf nach, fallen schaffen sie es hier tatsächlich – weil sie schiedlich. Sie haben angefangen zu trin- nicht auf – auch, weil die Familie mitspielt eine Tagesstruktur haben und der Alltag ken, um ihre Schüchternheit zu überwin- oder die Sucht nicht wahrhaben will. Viele nicht mehr ungebremst auf sie einstürzt.“ den, um den Druck im Beruf auszuhalten, Angehörige versuchen bis zum letzten 26,5 Stunden pro Woche arbeiten die die Einsamkeit oder die Arbeitslosigkeit Moment, dem Süchtigen zu helfen und Heimbewohner in Arbeitstrainingsberei- zu vergessen. So verschieden die Gründe nach außen die Fassade zu wahren. Doch chen wie der Fahrrad- oder der Holzwerk- sind, zur Flasche zu greifen, so erkennbar gerade das sei oft der falsche Weg, betont statt. Die Arbeit ist ebenso verpflichtend bleibt der rote Faden, der alle verbindet: Anja Schwiertz. „Angehörige sollten einen wie die Teilnahme an den Mahlzeiten. So die Flucht vor einer Situation, die als un- Süchtigen ermutigen, professionelle Hilfe wird ein geregelter Tagesablauf geschaf- überwindlich erlebt wird. in Anspruch zu nehmen. Denn in dieser fen. Meistens sind es gesetzliche Betreuer, Situation braucht ein Alkoholabhängiger Kliniken oder Verwandte, die sich an das Drei Viertel der Bewohner in Brake sind Unterstützung von Experten, das kann die Wohnheim wenden – nur selten suchen Männer. Doch das, betont Anja Schwiertz, Familie nicht leisten.“ die Betroffenen selbst den Kontakt. bedeute keineswegs, dass Männer häufiger „Viele haben Angst vor Veränderungen“, Alkoholprobleme haben als Frauen. „Es Anke Brockmeyer

Anja Schwiertz und ihre Kollegen im Wohnheim Friedensplatz helfen Alkoholabhängigen, den Schritt zurück ins Leben zu wagen.

18 Aus den Regionen Wenn die Worte fehlen Die Sprachbarriere ist schon im Kindergarten eine der größten Integrationshürden

Früher hat Finn beim Frühstück im Formulare ausfüllen, Elterngespräche füh- Kindergarten immer seine Brötchentüte ren – all das geht kaum ohne Dolmetscher. platzen lassen. Heute macht er das nicht „Ein Pool von ehrenamtlichen Überset- mehr. Wegen Halil, dem neuen Jungen zern, auf die wir bei Bedarf zurückgreifen aus dem Irak. Seit er weinend zusammen- könnten, wäre eine große Hilfe“, sagt Jutta gezuckt ist und sich den ganzen Tag in Strecke. einer Ecke versteckt hat, findet auch Finn das Knallen nicht mehr lustig. Halil ist ei- Gerade die Sprachlosigkeit macht den nes von vielen Kindern, die mit ihren Fa- Umgang so schwierig. „Wir haben das Be- milien aus den Krisengebieten des Nahen dürfnis, den Kindern etwas Gutes zu tun. Ostens geflohen sind und in Deutschland Aber das bedeutet, den richtigen Tonfall, versuchen, eine neue Heimat zu finden. die passenden Gesten zu finden, um zu signalisieren, dass wir ihnen helfen möch- Die Flüchtlingszahlen steigen, und mit ten“, beschreibt Gabriele Gütebier die ihnen wächst auch die Zahl der Kinder, Gratwanderung. „Ohne diese Sprachbar- die hier aufgenommen werden und einen riere könnten wir die Kinder viel besser Kindergarten besuchen. „Sie kommen auffangen, weil wir wüssten, was sie erlebt in ein Land, das ihnen völlig fremd ist, haben und wo wir ansetzen können.“ Oft sprechen die Sprache nicht, haben häufig kommen zu den Sprachproblemen noch traumatische Erlebnisse hinter sich“, weiß Verlustängste. Die ersten Tage im Kin- die Erzieherin Jutta Strecke. Sie arbeitet dergarten sind schon für jene Kinder eine in der evangelischen Kindertagesstätte Herausforderung, die in ihrer vertrauten Sonnenstrahl in - Umgebung leben. Wie aber macht man Rostrup. Rund ein Viertel der Kinder einem Kind, das gerade seine Heimat ver- hier haben einen Migrationshintergrund. loren hat, ohne Worte klar, dass die Mut- Einige sind erst vor Kurzem aus einem ter in wenigen Stunden wiederkommt? Auffanglager ins Ammerland gekommen. „Da wird ein Vormittag ganz schön lang“, Und so sehr sich Jutta Strecke und ihre weiß Gabriele Gütebier. Wenn ein anderes Kolleginnen auch bemühen, die Kinder Kind in der Gruppe die gleiche Sprache liebevoll aufzunehmen – „Wir werden spricht wie der kleine Neuankömmling, ihnen nicht wirklich gerecht“, ist das er- ist die Möglichkeit, eine Brücke zu bauen, nüchternde Fazit. ungleich einfacher. „Es ist eine unglaublich intensive Arbeit, Alltag in deutschen Kitas: Zwei Erziehe- die bei ganz alltäglichen Dingen anfängt“, rinnen in einer altersgemischten Gruppe schildert Jutta Strecke. Dennoch schaffen betreuen bis zu 25 Kinder. Mit den Klei- es die Erzieherinnen mit viel persönlichem nen kuscheln, den Größeren den Umgang Engagement, Flexibilität und Fantasie, mit Schere und Klebstoff beibringen, die den Start im Kindergarten trotz aller Sechsjährigen auf die Schule vorbereiten Schwierigkeiten meistens zu einer Erfolgs- – und sich ganz nebenbei noch um jene geschichte zu machen. „Die Kinder lernen Kinder kümmern, die kein Wort jener die Sprache nirgends so gut wie hier, unter Sprache verstehen, die in ihrer neuen Gleichaltrigen. Gerade in diesem Alter Heimat gesprochen wird. „Wir möchten sind sie unglaublich aufnahmefähig“, sagt natürlich allen Kindern die optimale För- die Pädagogin. Und wenn Halil zur Schu- derung bieten. Dabei fühlt man sich oft le kommt, wird ihn der Knall der Bröt- zerrissen“, bringt Gabriele Gütebier auf chentüte vielleicht nicht mehr erschrecken. den Punkt, was wohl nicht nur ihre Kolle- Auf jeden Fall wird er die deutschen Wor- ginnen in Rostrup empfinden, sondern in te kennen, um erklären zu können, warum vielen Kitas deutschlandweit. Und auch er dieses Geräusch so hasst. „Wir möchten alle Kinder optimal fördern“, der Umgang mit den Eltern wird durch sagt Erzieherin Gabriele Gütebier. die unterschiedliche Sprache erschwert. Anke Brockmeyer

19 Aus den Regionen Hingehen Ökumenischer Arbeitskreis besucht regelmäßig Flüchtlinge in der kommunalen Gemeinschaftsunterkunft

„Moin“, kommt es auf den Gruß von 1970er Jahren nach Deutschland. „Ich die Motivation, sich in einem fremden Pastorin Susanne Duwe freundlich zu- habe schätzen gelernt, wie gut es tut, Land zurechtzufinden, mit jedem Tag rück. Eigentlich nichts Ungewöhnliches freundlich aufgenommen zu werden“, der Ungewissheit sinkt. – allerdings ist die junge Frau, die sich sagt er. Ähnlich geht es auch Bärbel jetzt lächelnd an den Tisch setzt, erst vor Klüwer. Sie ist gebürtige Ostpreußin und „Für die Kinder besteht zwar Schul- wenigen Wochen aus Syrien nach Olden- weiß, wie wichtig es ist, sich willkommen pflicht, die Erwachsenen aber sind zum burg gekommen. Mittlerweile spricht sie zu fühlen in einer fremden Umgebung. Nichtstun verpflichtet. Das ist schwer schon etwas Deutsch, und auch die erste In der Kirchengemeinde ist das Enga- zu ertragen“, sagt Birgit Benker, die sich Scheu vor dem fremden Land und seinen gement immer wieder Thema. Es gibt ebenfalls im Arbeitskreis engagiert. Ei- Menschen weicht langsam. Zum Teil ist Kollekten für Projekte des Arbeitskreises, nige der Flüchtlinge bezahlen Deutsch- dies auch das Verdienst des ökumeni- zurzeit werden Weihnachtspakete für die kurse von dem wenigen Geld, das sie schen Arbeitskreises Kreyenbrück, der Flüchtlinge gepackt. Jüngere und ältere in Deutschland bekommen, andere versucht, Flüchtlingen in der kommu- Gemeindemitglieder kümmern sich glei- versuchen sogar, die Berufsschule selbst nalen Gemeinschaftsunterkunft an der chermaßen um die Flüchtlinge. Einmal zu finanzieren, wenn die Schulpflicht en- Cloppenburger Straße das Einleben ein im Monat organisieren sie eine Kaffeeta- det. „Hier ist fast keiner untätig“, betont wenig zu erleichtern. fel, suchen das Gespräch mit den Flücht- Dieter Porschien, Leiter der kommuna- lingen und helfen bei ganz alltäglichen len Gemeinschaftsunterkunft. Rund 50 Zehn Mitglieder des evangelischen Pfarr- Dingen. Sie kochen gemeinsam, unter- Menschen, zurzeit überwiegend aus dem bezirks St. Johannes in Kreyenbrück und nehmen Spaziergänge durch die Stadt, Irak und aus Syrien, wohnen in der Un- der katholischen Pfarrei St. Josef in Büm- organisieren Grillabende. terkunft an der Cloppenburger Straße. merstede gehören zum harten Kern des Unter dramatischen Umständen haben Arbeitskreises. Als im ehemaligen Park- Jeden Donnerstag wird ein Deutsch- sie ihre Heimat verlassen und versuchen Hotel in Oldenburg – Luftlinie keine kursus angeboten, den Hildegard Sie- nun, eine neue zu finden. „Zu erleben, hundert Meter von der St. Johannes-Kir- mer leitet. „Ich wollte dazu beitragen, wie sich nach und nach eine neue Per- che entfernt – eine kommunale Gemein- den Flüchtlingen einen guten Start spektive in ihrem Leben entwickelt, ist schaftsunterkunft entstand, war für die in Deutschland zu ermöglichen“, so sehr berührend“, sagt Hildegard Siemer. engagierten Gemeindemitglieder schnell die pensionierte Grundschullehrerin. Und nicht nur für die Flüchtlinge sei die klar: Wenn wir helfen können, werden Sie bietet Kurse für Anfänger oder Kooperation mit den Kirchengemein- wir das tun. „Nachdem die ersten Be- Fortgeschrittene an, auch Alphabeti- den eine Bereicherung, findet Pfarrerin wohner dort eingezogen waren, haben sierungskurse sind nach Bedarf dabei Susanne Duwe. „Uns hat dieses Projekt wir uns vorgestellt und signalisiert, dass – kostenlos. Denn erst wenn der Flücht- als Gemeinschaft sehr zusammenge- wir als Ansprechpartner zur Verfügung lingsstatus anerkannt ist, wird auch ein schweißt.“ stehen“, erzählt Manfred Nagorny. Er Deutschkursus finanziert – bis dahin ist selbst Spätaussiedler und kam in den können Jahre vergehen. Jahre, in denen Anke Brockmeyer

Durch Besuche in der kommunalen Gemeinschaftsunterkunft an der Cloppenburger Straße versuchen Mitglieder aus dem ökumenischen Arbeitskreis Kreyenbrück Flüchtlingen das Einleben ein wenig zu erleichtern.

20 Aus den Regionen Verständnis statt Vorurteile Jürgen Stein kennt das Anderssein

Die Integration fremder Menschen ist Scheuer von der Evangelisch-lutheri- seit Generationen immer wieder eine schen Kirchengemeinde -Langför- Aufgabe unserer Gesellschaft. Heute den lud er Einheimische und Übersiedler sind es Syrer, vor 20 Jahren waren es zu einem Begegnungsabend ein. Russlanddeutsche, vor einem halben Jahrhundert Spanier, nach dem Zweiten Der Pastor hatte eine Landkarte aufge- Weltkrieg Schlesier. Verschieden die Hin- hängt, die Russlanddeutschen erzählten tergründe, vergleichbar die Probleme. ihren neuen Nachbarn von der alten Heimat. Die Filme zeigten deutsche „Wir sollten längst gelernt haben, dass Häuser in Russland, es wurde ein etwas wir auf Fremde zugehen müssen“, sagt seltsam klingendes altes Deutsch ge- Jürgen Stein. Der 54-Jährige bezeichnet sprochen. Verständnis wuchs, Vorurteile sich als „Kind der Flüchtlingskinder“ wichen. „Danach normalisierte sich das und kennt das Anderssein. „Es kann Verhältnis.“ nicht sein, dass mehrere Gesellschaften parallel nebeneinander leben.“ Das be- Ob Jürgen Stein von seinen Begegnun- zieht er auf die Herkunft wie auf den gen mit Russlanddeutschen spricht oder Glauben. von der Flucht seiner Vorfahren nach dem Krieg: Es ist ihm wichtig, aus jedem Jürgen Stein kam mit sieben Jahren als Schicksal etwas zu lernen. Diese Erfah- Protestant in den katholischen Land- rungen möchte er weitergeben, so wie er kreis . Der Vater stammte aus es von seinen Eltern gelernt hat. „Mein Pommern, die Mutter aus Ostpreußen. Vater hat damals schnell erkannt, was Verstanden hat er die Vorurteile damals man hier so macht und was nicht.“ Aber nicht, aber gespürt: „Mal hieß es, die er habe „sich nicht verbogen, sondern Evangelischen lügen und klauen – mal Respekt gehabt und Rücksicht genom- wurde so über die Katholiken geredet.“ men“. Seine katholische Freundin Marita aus dem Nachbarort Hagstedt hat er später Früher war Jürgen Stein seinen Eltern nur standesamtlich geheiratet und „tierisch böse, dass sie hierher gezogen nicht kirchlich, „um Konflikten aus sind, wo wir als Evangelische unter dem Weg zu gehen“. Ihre drei Kinder Katholiken so fremd waren“. Aber mitt- haben die Steins in Langförden evange- lerweile „bin ich sehr dankbar dafür, lisch erzogen. denn ich habe viel über den Umgang der Menschen miteinander gelernt“. All das An all das musste Jürgen Stein denken, geht ihm durch den Kopf, wenn er Be- Jürgen Stein als in den 1990er Jahren die Übersiedler richte über Flüchtlinge aus Syrien sieht kamen. „Da gab es über die Russland- oder vom Konflikt in der Ukraine liest. deutschen die gleichen Vorurteile wie seinerzeit über uns.“ So entwickelte sich Mehr noch: Seit gut 20 Jahren notiert sein „bestes Verständnis für Fremde“. Stein immer wieder Erinnerungen und Deren Orientierungslosigkeit kam ihm Gefühle. Darüber hat er nun mit einfa- bekannt vor. Und daraus wurde prakti- chen Worten ein Büchlein geschrieben, sche Hilfe. das er veröffentlichen möchte. „Gerade Kinder und Jugendliche verstehen die Vor allem über seine Tätigkeit für eine große Geschichte am besten, wenn sie Versicherungsgesellschaft hatte Stein festgemacht wird an persönlichen Er- Kontakt mit Russlanddeutschen. Als ein lebnissen eines einzelnen und einfachen Nachbar ihm Videofilme aus seiner Hei- Menschen.“ mat zeigte, kam ihm eine Idee – simpel Jürgen Stein als Kind und doch genial. Mit Pfarrer Wilfried Uwe Haring

21 Aus den Regionen Die verlorene Heimat Menschen in Altenpflegeheim erzählen von Flucht und Vertreibung

Millionen von Menschen verloren in den Erwachsene Flucht und Vertreibung erlebt Jahren 1944 und 1945 ihre Heimat. Sie haben, sind Flucht und Vertreibung prä- flüchteten vor dem näher kommenden gender Teil ihres Lebens geblieben. Krieg, dem Mord an der Zivilbevölkerung, vor Gefangennahme und Plünderungen, Der Winter 1944/45 war ein besonders vor Gewalt, von welcher Seite sie auch im- harter Winter. Millionen von Menschen aus mer kam. Die Menschen haben Geschichte den Ostgebieten flohen. Oft blieb nur Zeit, geschrieben und es sind Geschichten dabei, um das Nötigste zu packen. Zu Fuß, mit die nur schwer zu ertragen sind, aber nicht Handwagen oder mit dem Pferdefuhrwerk verschwiegen werden dürfen: „Es war am kämpfte der Flüchtlingsstrom ums Überle- 21. Januar 1945, an einem Sonntag um ben. Sie wurden eingeschüchtert durch die halb sieben Uhr abends, da mussten wir Kreis- und Gauleiter, die mit unsinnigen aufbrechen. Neun Wochen waren wir mit Durchhalteparolen den zur Flucht bereiten Pferd und Wagen unterwegs. Wir haben Menschen das Verlassen der Heimat un- die von der Wehrmacht zusammengescho- tersagten. Die Menschen hatten Angst vor benen Eisschollen der Weichsel überquert. Gewalt: Auf Flüchtende wurde geschossen, Wir fanden gute Aufnahme.“ Bomben fielen und russische Soldaten wurden für die weibliche Zivilbevölkerung So oder ähnlich erzählen Menschen im Al- zum Schrecken. In Gesprächen höre ich tenheim. Stereotyp muten die Erzählungen dann, dass man den Großvater, die Groß- an: der Tag, die Stunde, die Rahmendaten mutter oder die jüngeren Geschwister auf sind auch nach Jahrzehnten noch gegen- der Flucht „verloren“ hat. Was die Augen wärtig. Vieles wird umschrieben, konkretes gesehen haben, kann oft nur „flüchtig“ Reden über einzelne Begebenheiten aber umschrieben werden. Mütter berichten, fällt schwer. Manchmal werden die Schre- dass sie ihren Kindern die Hände über cken benannt: „Ich habe gesehen, wie die Augen gehalten haben, um ihnen den meine beiden Cousinen vergewaltigt und Anblick der Leichen und Pferdekadaver am erschlagen wurden. Ich habe mich unterm Wegesrand zu ersparen. Wagen versteckt. Und ich weiß auch noch ganz genau, wer damals Brot für uns gehabt Die Bilder der Heimat bleiben in der Erin- hat und bin diesen Menschen und Gott da- nerung oder sind sichtbar als Wandbilder. für dankbar.“ Diese Frau bewahrte immer Sie erzählen stellvertretend von der verlore- Sauerteig im Haus auf, damit sie Brot an- nen alten Heimat. Heimat war und bleibt bieten konnte: Brot geben zu können, war bis zum Tod Thema. Manche alten Men- ihr ein Herzensanliegen. Es war also nicht schen haben die Orte ihrer Kindheit und immer die freundliche und gute Aufnahme, Jugend wiedergesehen und sich ein wenig die im Rückblick angegeben wird. Erde für die Bestattung mitgebracht. Eine Flucht und der Verlust der Heimat durch Nach einem Gottesdienst, zu dem ich Kriege nehmen Menschen den vertrauten Zur Person: bernsteinfarbene Rosen mitgebracht hatte, Boden ihres Daseins, nehmen ihnen all Pfarrerin Silvia Duch ist mit einer hal- sprach mich eine Frau an: „Bernstein – das das, was ihr bisheriges Leben ausgemacht ben Pfarrstelle seit 2008 Seelsorgerin ist das Gold meiner Heimat Westpreu- hat. Es sind schmerzhafte Geschichten, die in sieben Altenpflegeheimen in Wil- ßen.“ Sie schnupperte an der duftenden nicht verloren gehen dürfen. Sie müssen deshausen und Ahlhorn. Sie studiert Rose und erzählte von der Schönheit ihrer gehört werden, um die Komplexität von seit 2012 Kulturwissenschaften an der Heimat. Dann kam sie auf die Ereignisse Geschichte erahnen zu können. Sie müssen Fernuniversität Hagen. Die gebürtige der Flucht zu sprechen. Ihre Worte wa- gehört werden, damit all die Menschen, die Hessin war zuvor Gemeindepfarrerin in ren: „Nachts kamen die Russen. Das war auf der Flucht sind, die ihre Heimat ver- Ilbeshausen, Büdingen und Offenbach schlimm.“ Sie sog den Duft der Rose, der lassen müssen, Gehör und Stimme finden, und Gefängnisseelsorgerin in Frankfurt/ für sie Duft ihrer Heimat war, ein und ich damit sie Aufnahme finden. Main und Friedberg. hielt ihre Hand. Für Menschen, die in ih- rer Kindheit, ihrer Jugend oder als junge Silvia Duch

22 Flucht und Segen

Es scheint immer wieder die gleiche Geschichte zu sein: Hagar flieht nach Schur (1. Mose 16,7), Lot flieht nach Zoar (19,20), Jakob flieht nach Haran (27,43). Mose flieht nach Midian (2. Mose 2,15), David flieht nach Rama (1. Sam 19,18) und Jesus schon als Kind nach Ägypten (Mt 2,13).

Und immer geht es geographisch konkret zu. Hier wird der eine Ort zur Quelle neuen Lebens oder zur Rettung, dort entsteht bleibende Heimat oder neue Gemeinschaft. So wird diesen Menschenkindern der Zufluchts- ort zum Segen. Und doch gilt es an all diesen Orten, sich untereinander neu zurecht zu finden zwischen dort schon Wohnenden und dort nun An- kommenden: Wie gehen wir aufeinander zu? Wie lernen wir uns kennen? Wie werden aus Fremden Gäste und aus Nachbarn Freunde?

Von diesem Miteinander hängt nicht nur das Gelingen gesellschaftlichen Umgangs ab. Bloß nebeneinander her zu leben, wird nicht genügen. Der Apostel Paulus mahnt mehr an: Respekt, Akzeptanz und Gemeinschaft der Einen mit den Anderen, weil dazu die Haltung Jesu der Maßstab unseres Handelns ist und das Lob Gottes das Ziel unseres Lebens:

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob (Röm 15,7).

Das ist eine segensreiche Jahreslosung für 2015 und für jede Annäherung zwischen den Einen und den Anderen. Weil Zuflucht bei dem alten Gott ist (5. Mose 33,27), ja, Zuflucht geradezu ein Name Gottes (Ps 90,1), darum sollen wir uns aufeinander zubewegen. Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Miteinander in 2015!

Bischof Jan Janssen Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob Gute Nachrichten für den Norden

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