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NOSTALGISCHE SCHNITTMUSTER IM JAZZ VON CASSANDRA WILSON, DIANA KRALL UND NORAH JONES Jürgen Arndt I. 1992 kommentierte Kontrabassist Charlie Haden die CD Haunted Heart sei- nes Quartet West: »I have conceived this recording as if it were a film telling a story. A story evoking feelings of nostalgia, remembering beautiful moments and how pre- cious they are; a story that evokes the importance of every human being on this earth, and that the history of the universe from the beginning of time is in each of us« (Haden 1992). Bemerkenswert ist nicht allein die Ausrichtung der Albumkonzeption am Medium Film, sondern auch die damit einhergehende nostalgische Rück- besinnung. Haden präsentierte musikalische Erinnerungen an die 1940er und 1950er Jahre, insbesondere den Hollywoodfilmen dieser Zeit folgend. Zu diesem Zweck wählte er vor allem entsprechende Stücke der genannten Jahrzehnte aus, die er dann mit seinem Quartett interpretierte. Darüber hinaus griff er auch auf Aufnahmen dieser Zeit zurück, deren vollständige Fassungen er in den Ablauf integrierte: von Max Steiners Fanfare für die Filme der Warner Brothers bis zu Interpretationen von Jo Stafford und Billie Holiday. Das auf Haunted Heart vorgestellte Konzept verfolgte Haden mit seinen nachfolgenden Alben weiter. Besonders erfolgreich war dabei die 1994 erschienene CD Always Say Goodbye. Mit Charlie Haden ist beispielhaft ein Musiker mit einem deutlichen Hang zur musikalischen Nostalgie genannt, einem herausragenden jüngeren Trend im Jazz. Weitere prominente Namen und Projekte lassen sich an- fügen. Cassandra Wilson, Diana Krall und Norah Jones, die zu den erfolg- reichsten Jazzstars der letzten Jahre gehören, zählen ebenfalls dazu. 31 JÜRGEN ARNDT Nostalgische Sujets wie das Heimweh oder die Sehnsucht nach vergan- genen Zeiten lassen sich weit zurückliegend in den verschiedensten Genres finden. Zumeist wurden diese Sujets jedoch in musikalischer Hinsicht durch jeweils aktuelle oder gar modische Stile mit einem sentimentalen Unterton unterstützt, ohne dass deshalb schon der verlassene Ort oder die zurücklie- gende Zeit erklungen wären. Dagegen lässt sich von musikalischer Nostalgie sprechen, wenn die klanglichen Ausprägungen selbst zusätzlich sehnsuchts- voll auf vergangene Musikstile und damit einhergehende Assoziationen hin ausgerichtet sind. II. Cassandra Wilson Zwar wurde Cassandra Wilson in den 1980er Jahren als Mitglied des avant- gardistisch ausgerichteten M-Base-Zirkels um Steve Coleman bekannt und zielte mit ihren eigenen Projekten eher auf klangliche Modernisierungen traditioneller Elemente. Mit ihrem Wechsel zu dem renommierten Label Blue Note schlug sie seit 1993 jedoch eine andere Richtung ein und begab sich auf ihren ganz eigenen nostalgischen Pfad. Hilfreich erwies sich dabei die Unterstützung ihres Produzenten Craig Street. Wilson hatte Street — zuvor im Plattengeschäft ein unbeschriebenes Blatt — bei einem von ihm organisierten Tribute-Projekt zur Musik von Jimi Hendrix kennen und schät- zen gelernt und ihrer neuen Plattenfirma vorgeschlagen. Ganz ähnlich wie Haden, wenn auch nicht von vornherein nostalgisch ausgerichtet, assoziiert Street seine Arbeit mit dem Film: »Ich nähere mich den Produktionen an, als wären es Filme oder ein großarti- ges Essen, das es vorzubereiten gilt. Wenn es beim Mix um die Kolorierung und die richtige Balance geht, frage ich mich, wie bestimmte Fotografen oder Architekten dieses Problem lösen würden. Wie würde die Produktion bei [Robert] Rauschenberg funktionieren? Bei [Wim] Wenders oder [Federico] Fellini?« (Craig Street, zit. n. Kampmann 2000: 56). Die Zusammenarbeit zwischen Cassandra Wilson und Craig Street brachte entsprechend Montagen verschiedener differenziert gewählter und arran- gierter Klangbilder hervor. Das gilt sowohl für das 1993 veröffentlichte Album Blue Light 'Til Dawn wie auch für das zwei Jahre später erschienene Nachfolgealbum New Moon Daughter. Mit dem klanglich abwechslungs- reichen Ansatz korrespondiert das vielfältige Songrepertoire von Country- Blues-Klassikern, Evergreens des Great American Songbook, jüngeren Pop- songs und Eigenkompositionen Wilsons. 32 NOSTALGISCHE SCHNITTMUSTER IM JAZZ Für den Zusammenhalt sorgt dabei die durchgehend musikalisch-nostal- gische, ländliche Atmosphäre heraufbeschwörende Ausrichtung. Sie zeigt sich zunächst in der pointierten Herausstellung fast ausschließlich akusti- scher Instrumente von verschiedenen, gerade im Süden der USA gebräuch- lichen Dobros (Resonatorgitarren mit metallenem Korpus), diversen Perkus- sionsinstrumenten bis hin zu Violine und Kontrabass. Es entstehen jeweils eher zurückhaltende, sparsame Klangbilder, in deren Mix die eingesetzten Instrumente eine je dezidiert eigene Betonung erhalten. Nicht minder un- mittelbar wird die Stimme von Cassandra Wilson herausgestellt. Ihre ver- schiedenen Facetten und die daraus resultierenden Nuancen sind jederzeit besonders präsent. Auf höchstem aufnahmetechnischen Niveau entsteht hier ein scheinbar unverstellt intimer, ländlich anmutender Sound. Dieser Klang wandelt sich im Verlauf des Albums von Stück zu Stück. Das Kontinuum wird aufgebrochen; der Sound wird als stilisierter und nicht etwa als vermeintlich authentischer vorgeführt. Die suggerierte ländliche Idylle wird als vergangene nostalgisch erfahrbar. Mit ihrer Interpretation des Songs »You Don't Know What Love Is« von Gene DePaul und Don Raye aus dem Jahr 1941 gibt Wilson — begleitet von Gitarrist Brandon Ross und Geiger Charles Burnham — einleitend das Motto des Albums vor: »You don't know what love is, until you know the meaning of the blues«. Die Rückbesinnung auf den Blues, insbesondere auf den tra- ditionellen Mississippi Delta Blues stellt einen wesentlichen Bezugspunkt von Wilsons Album Blue Light 'Til Dawn dar. Sogar auf zwei Titel von Robert Johnson greift Wilson zurück. Sie erinnert damit an den herausragenden musikalischen Beitrag Johnsons einerseits wie auch an den Kultstatus, den Johnson als berühmtester Vertreter des Mississippi Delta Blues mit seinen Aufnahmen aus den 1930er Jahren posthum erlangte. Die klangliche Distanz zwischen der Einspielung Johnsons von 1936 und derjenigen von Wilson aus dem Jahr 1993 könnte nicht größer sein. Und dennoch beschwört Wilson gerade durch die klanglichen Eigenheiten ihrer Version die vergangene Musik eher herauf, als wenn sie diese klanglich möglichst getreu nachgeahmt hätte. Dadurch wäre allenfalls eine über- flüssige Kopie entstanden. Das schon angesprochene, aufgebrochene Klangbild des gesamten Albums kristallisiert sich in Wilsons Interpretation von Robert Johnsons »Come On In My Kitchen« besonders heraus. Das Arrangement von Brandon Ross führt die eingesetzten Instrumente nicht homogen zueinander, sondern setzt diese einzeln akzentuiert ein. Das zeigt sich in dem kurzen, fragil into- nierten Gitarrenrhythmus, im ostinat eingesetzten Kontrabass-Glissando in betont tiefer Lage und besonders auch im gesplitteten Einsatz des Schlag- 33 JÜRGEN ARNDT zeugs, dessen Elemente nicht simultan, sondern sukzessiv erklingen. Bass- Drum, Rimshot auf der Snare und das Hi-Hat bilden — nacheinander einge- setzt — das grundlegende Begleitpattern. Auf dieser klanglich offenen Grundlage bringt Wilson ihr tiefes, samtiges Timbre in den verschiedensten intimen Schattierungen zur Geltung. Durch ihren eher zurückhaltenden Ge- sang bekommt das aufgebrochene Klangbild des Songs den Charakter des Nachhalls. Eine Einschätzung, die durch das letzte Drittel der Version von »Come On In My Kitchen« noch zusätzlich an Plausibilität gewinnt. Durch die Ausdehnung auf etwa zwei Minuten lässt sich diese Passage nicht mehr nur als Schluss auffassen, sondern bekommt einen eigenen, wichtigen Stellen- wert. Der Echo-Effekt wird hier zugespitzt. Wilson beginnt im Anschluss an die dritte Strophe mit dem Text klanglich-spielerisch zu improvisieren, stellt sich dadurch aber nicht noch mehr in den Vordergrund, sondern zieht sich bald zurück, um nur noch gelegentlich einsetzend vereinzelte Fragmen- te anzudeuten. Wenn sie dann die Titelzeile des Blues aufgreift, singt sie diese gleich mehrfach unmittelbar hintereinander und wiederholt sie immer leiser werdend. Über die Anlehnung an den Country Blues hinaus ist eine zweite musika- lische Bezugnahme für das Album Blue Light 'Til Dawn wichtig und wird nicht minder stilisiert präsentiert. Bei mehreren afrikanisch anmutenden Stücken wird der Gesang ausschließlich durch übereinander geschichtete Perkussionspattern begleitet. Dem eher melodiös-schwebenden Gesang steht hier ein belebtes Rhythmusgeflecht gegenüber. Ein Klangkonzept, das Wilson auf ihrem 1992 veröffentlichten Album After The Beginning Again, das Blue Light 'Til Dawn unmittelbar voranging, bereits bei einem Titel erprobt hatte und nun auf mehrere Stücke ausweitete. Sie griff sogar den- selben Titel, ihre Eigenkomposition »Redbone«, wieder auf. Mit dem Nachhall auf den Country Blues und afrikanisch stilisierte Perkussionsgeflechte inszeniert Cassandra Wilson eine bodenständige, ur- sprüngliche Sinnlichkeit, wie sie auch in ihren beiden jüngeren CDs in je eigenen Ausprägungen erneut zum Tragen kommt. Nach dem Album Rendez- vous (1997) mit Pianist Jacky Terrasson und Traveling Miles (1999), einer Hommage an Miles Davis, setzte Wilson 2002 mit Belly Of The Sun den auf Blue Light 'Til Dawn eingeschlagenen Weg fort. Die Konzeption von Belly Of The Sun ist folglich ähnlich. Wilson agiert nun auch selbst als Produzentin. Bemerkenswert ist die Entstehungsweise des Albums, mit der Wilson den mit Craig Street entwickelten Ansatz weiter zuspitzt: Sie