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DOI 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/07

Andreas J. Haller 63

„That dirty little coward“ Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination of by the Coward [1983]

Der Bandit Jesse James ist bis heute einer der 1. Jesse James: berühmtesten Helden des ‚Wilden Westens‘. Zur Heroisierung des Gesetzlosen 1882 wurde er von Robert Ford, einem Mitglied seiner Bande, erschossen. In meinem Beitrag Vom Partisanen zum Banditen werde ich zeigen, wie in Ron Hansens Roma­n The Assassination of Jesse James by the Die Heroisierung des Banditen Jesse James kann Coward Robert Ford von 1983 die Widersprüche nicht verstanden werden, ohne die besondere­ des Heroischen zum Ausdruck kommen. Der politische und soziale Situation in den Vereinig- lite­rarische Text erkundet diese Widersprüche ten Staaten von Amerika in der zweiten Hälfte des bis in die psychischen Abgründe seiner Figuren. 19. Jahrhunderts zu berücksichtigen, durch die 2007 wurde er von unter dem der Bank- und Eisenbahnräuber Bewunderung gleichen Titel mit und in erringen konnte. Die Heroisierung Jesse James’ den Hauptrollen verfilmt. Durch diese Adaption ist ein Symptom der Spaltung der USA vor, wäh- wurde Hansens Erzählung für die Aktualisierung rend und nach dem Bürgerkrieg [1861–1865]. des Mythos von Jesse James äußerst wirk- Jesse James wuchs im ländlichen , mächtig. Ausgangspunkt meiner Überlegungen an der ‚Frontier‘, an der Grenze zu den unbesie- ist, dass nicht die bloße Gegnerschaft zwischen delten Territorien im Westen, in einer aus dem Robert Ford und dem Helden Jesse James Ford Süden stammenden, protestantischen, sklaven- zum Antihelden macht. In dieser Hinsicht hätten haltenden Farmerfamilie auf. Seine Sympathie auch andere Gegenspieler, wie der Gouverneur und Loyalität waren von Anfang an klar verteilt. Thomas Crittenden, die Pinkerton-Detektive Der Staat Missouri blieb nach einer Intervention oder Sheriff zu Antihelden der unionstreuer Kräfte und nachdem die Truppen Jesse-James-Geschichte werden können. Doch des gewählten Gouverneurs Claiborne Jackson diese Figuren bleiben unheroisch, ihnen fehlt unter General Sterling Price am 7./8. März 1862 das Außergewöhnliche.1 bei Pea Ridge von Unions-General Samuel Dass die Handlungen des Antihelden stets in Curtis geschlagen worden waren, Teil der Ver- Beziehung zum Heroischen stehen, darauf hat einigten Staaten. Jackson formte im südlichen Dietmar Voss hingewiesen (Voss 24). Mein­e Nachbarstaat Arkansas eine Exilregierung, die These ist, dass der Antiheld Anteil am Heroi- Missouri als Bundesstaat der Konföderation schen hat, das sich in ihm spiegelt – und ver- betrachtete. Die Sympathisanten des Südens kehrt. Der Antiheld ist also etwas anderes als konnten sich in der Folge nicht mehr zum Dienst eine Figur, die kein Held ist, er ist nicht die Nega­ in den regulären konföderierten Einheiten mel- tion des Helden, auch nicht reiner Antagonist, den und die Kampfhandlungen in Missouri ver- sondern ein Phänomen, das sich aus einer spe- lagerten sich verstärkt auf Guerilla-Operationen zifischen Konstellation von Subjekt, Gesellschaft (Dyer 21, Fellman 11, Parrish 46). und Heldentum entwickelt. Ich werde ausführen, Nachdem sich sein Bruder den wie in Hansens Roman die Momente der Spie- Partisanen der südlichen Konföderation ange- gelung und Verkehrung im Verhältnis von Jesse schlossen hatte und seine Familie daraufhin von James und Robert Ford das Heroische und das unionstreuen Milizen schikaniert wurde, schloss Antiheroische in Beziehung setzen. sich auch der erst sechzehnjährige Jesse einer Guerilla-Bande unter ‚Bloody‘ Bill Anderson an (Brant 27). Schon bald tat sich der Jugendliche durch sein außerordentliches Geschick mit dem Revolver und seinen furchtlosen Kampfeinsatz helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

64 hervor (Brant 35, Settle 28, Stiles 126). Diese noch deren Gesetze an. Sie setzten auch ‚Bushwhackers‘ genannten Partisanen ihre Aktivitäten in Missouri nach 1865 fort (Stiles operierten in kleinen Gruppen, die Bahn- und 164). Insofern gab es in Missouri keinen klaren Telegrafenlinien sabotierten, politische Gegner Bruch und der Krieg hörte nicht einfach auf. Der überfielen und Einheiten der Union aus dem Hin- Übergang vom Partisanen- zum Banditentum terhalt angriffen. Sie konnten dabei auf ein weit war ein kontinuierlicher, fließender. Weder ihr verzweigtes Netz von Unterstützern zurückgrei- Status als Gesetzlose noch ihr Selbstbild als fen, die den irregulären Kämpfern Unterkünfte Rebellen hatte sich durch die Kapitulation Lees zur Verfügung stellten und sie mit Proviant und verändert. Dieses Selbstbild der Partisanen als Informationen versorgten (Settle 17). ehrenhafte Rebellen und noble Freiheitskämpfer Durch den Krieg wurde auch an der westli- setzte sich in ihrer Karriere als Banditen nach chen Frontier eine Generation junger Männer in dem Krieg fort. Michael Fellman schreibt: „many der Ausübung von Gewalt trainiert und in mili- ex-Confederates reasserted their code of per- tärischer Taktik geschult. Für die überlebenden sonal and southern honor, justifying the many Partisanen war es jedoch schwierig, sich nach deeds which might in a less romantic light have dem Krieg in das gesellschaftliche Leben ein- looked like the products of malice and brutality“ zugliedern. Im Zuge der ‚Reconstruction‘-Poli- (Fellman 248). In der mythischen Rekonstruk­ tik2 wurde Veteranen und Sympathisanten des tion des sezessionistischen Partisanen, dessen Südens der Zugang zu politischen Ämtern und Bild sich mit dem des Banditen der Nachkriegs- gewissen Berufen verwehrt. Da die Partisanen zeit vermischte, erschien die Gestalt des ‚guten‘ zudem als irreguläre Kämpfer ohne Uniform Gesetzlosen – eine Figur, die sich im - keinem staatlich kommissionierten Kommando Genre bis heute hartnäckig behauptet (vgl. unterstanden,3 waren ihre Taten nicht von der Fellman 247–248). Generalamnestie für Soldaten abgedeckt und Mit dem Ende des Krieges und der Expansio­n wurden als Verbrechen betrachtet. Da sie au- des Industriekapitals nach Westen entstanden ßerdem einen bedeutenden Teil ihres jungen neue soziale Konflikte (Zinn 212–295). Die Er- Lebens im Busch, auf dem Sattel und mit der schließung der Weiten der Prärie durch die Ei- Waffe in der Hand verbracht hatten, waren sie senbahn ist das offensichtlichste Symbol der so an diesen Lebensstil gewöhnt, dass es eini- Industrialisierung Nordamerikas. Durch diesen gen ehemaligen Partisanen einfacher schien, radikalen Modernisierungsschub wurden auch damit weiterzumachen anstatt sich eine bürger- die Grundlagen der kleinzelligen Landwirtschaft liche Existenz aufzubauen, auch wenn die meis- zerstört. Die Eisenbahngesellschaften und kre- ten von ihnen diesen Weg einschlugen (Settle ditgebenden Banken wurden von den kleinen 30–32). Dass sich diejenigen unter ihnen, de- Farmern, die nur wenig Land besaßen, zuneh- nen der Weg zurück in die Gesellschaft ver- mend als Bedrohung angesehen. In diesem sperrt schien, in die Gesetzlosigkeit gedrängt Kontext ist es nicht überraschend, dass Raub- sahen, wie die James- und Younger-Brüder, überfälle auf Eisenbahnen und Banken, wie sie ist von einigen Zeitgenossen als Ungerechtig- die James-Younger-Bande durchführte, von ei- keit wahrgenommen worden. Auf der anderen nem Teil der Bevölkerung nicht als schwerwie- Seite nämlich wurden ehemalige unionstreue gende Verbrechen angesehen wurden, sondern ‚Jayhawkers‘, Mitglieder von Freiwilligenver- als legitime Appropriation durch die deklassierte bänden aus Kansa­s, die sich durch Mord und Landbevölkerung. Im Nachkriegs-Missouri kam Brandschatzung ebenfalls einen traurigen Na- es also zu einer Situation, in der Ressentiments men machten, zu berühmten und gefeierten gegen die Siegerjustiz und das ‚Yankee‘-Kapital Westernhelden, unter ihnen ‚Buffal­o‘ Bill Cody aus dem Norden dafür sorgten, dass der Kampf und der spätere Marshal ‚Wild‘ Bill Hicko­k der Banditen als Fortsetzung des Bürgerkriegs (Brant 20, Hollon 115). Hinzu kam, dass sich wahrgenommen wurde (Stiles 388). nicht alle Partisanen in Missouri ergeben hat- Mit Eric Hobsbawm lässt sich der Mythos des ten und die Kapitulation General Rober­t E. Sozialbanditen als Ausdruck des Widerstands Lees bei Appomattox ihnen als Verrat der einer agrarischen Gemeinschaft verstehen, die Sache des Südens erschien. Virginia war weit sich gegen gesellschaftliche Umwälzungen und weg und die militärische Situation im Westen Modernisierung wehrt. Das Ziel des Sozialbandi- war keineswegs so eindeutig wie im Osten, auch ten ist „die Bewahrung einer traditionellen Welt, wenn die Hoffnung, Missouri zurückzuerobern, in der die Menschen gerecht behandelt werden“ nach einem gescheiterten Versuch von General (Hobsbawm, Sozialrebellen 16, vgl. Hobsbawm, Price im Herbst 1864 endgültige zunichte war Banditen 43–44, 199–200). Die Vorstellung ei- (Parrish 113–114). Dennoch betrachteten einige ner Welt der traditionellen Gerechtigkeit war Partisanen den Krieg nicht als beendet und er- jedoch unter den Sympathisanten der Konfö- kannten weder die Legitimität der Regierung in deration stark von religiösen und rassistischen

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Vorstellungen geprägt und zehrte von der Erin- legendären Heldenfiguren verglich. Er schrieb, 65 nerung an die Vorkriegsordnung und den alten dass sie in vergangenen Zeiten mit König Arthur Süden. Während Richard White meint, dass sich an der Tafelrunde gesessen und mit Lancelot Jesse James als Sozialbandit im Sinne Hobsba- und Ivanhoe Turniere ausgefochten hätten, dass wms beschreiben lässt (White 406), argumen- aber die Zivilisation des 19. Jahrhunderts kein tiert T. J. Stiles dafür, ihn als Last Rebel of the fruchtbarer gesellschaftlicher Boden für solche Civil War zu verstehen, der zum Symbol der revi- Helden sei (Edwards, KC Times, 29.9.1872, sionistischen Kampagne zur politischen und kul- zit. n. Settle 45). Die Vorstellung eines heroi- turellen Rückeroberung Missouris wurde. Statt schen Zeitalters offenbarte sich als erinnerte einer agrarischen Revolte repräsentiere Jesse Fiktion, wenn er am Ende nostalgisch folgerte: „It James eine „Southern-separatist, white-supre- was as though three bandits had come to us from macist revolt of the former Confederacy“ (Stiles the storied Odenwald, with the halo of medieval 389). In diesem politischen Spektrum wurde chivalry upon their garments and shown us how Jesse James als Held gefeiert und in seiner Ver- the things were done that poets sing of.“ (ebd.) ehrung kam, und kommt teilweise immer noch, Diese Zeitungsausschnitte werden auch in der Heroi­s­mus4 eines Teils der Bevölkerung, vor Ron Hansens Roman zitiert – in einer Szene, allem in den Südstaaten, zum Ausdruck.5 in der Jesse James seiner Verlobten Zee am Küchen­tisch daraus vorliest (Hansen 63–64) und darin sein Selbstbild bestätigt findet. Diese Die Rolle von Verehrer­gemeinschaft Art der Berichterstattung entfaltete über Missouri und Medien und den Kreis der Südstaaten-Sympathisanten Dass gut bewaffnete und militärisch geschulte hinaus Wirkung. Michael Fellman hat den Ein- Männer den Anschein erweckten, sie würden fluss Edwards’ auf nachfolgende Autoren und weiterhin für die verlorene Sache des Südens die öffentliche Wahrnehmung der Banditen prä- kämpfen, brachte ihnen somit Sympathien ein, zise beschrieben. Edwards „created a cast of die auch von der revisionistischen Presse be- heroic men who became intrinsic parts of the fördert wurden. Der Publizist und ehemalige late nineteenth-century creation of the western Major der Konföderation, John N. Edwards, tat hero in the popular press. Edwards presented sich besonders damit hervor, die Partisanen zu his guerrilla types, consciously and luridly, as glorifizieren. Während des Krieges hatte er sie mythic figures.“ (Fellman 249) persönlich kennengelernt, als sie seiner Einheit Edwards wurde zum herausragenden Agen- hilfreich zur Seite standen. Edwards war nach ten der Heroisierung von Jesse James. Dieser dem Krieg nicht nur der Autor des einflussrei- Prozess der Heroisierung Jesse James’ lässt sich chen Werkes Noted Gurerillas, or The Warfare dadurch erklären, dass „in einer spezifischen so- of the Border, sondern setzte sich auch mit Zei- zialen Figuration […] einer menschlichen Figur tungsartikeln beständig für die Sache der Bandi- eine heroische Rolle zugeschrieben“ wird (vgl. ten ein. Anlässlich des Überfalls auf die Kansas von den Hoff u. a. 9). In Edwards’ Erzählungen City Fair am 26. September 1872 schrieb er Arti- werden traditionelle Vorstellungen von Helden- kel, die in der Tageszeitung Kansas City Times6 tum auf den Gesetzlosen übertragen: „he drew erschienen und in denen die Taten der Räuber on and amplified the tradition of folk legends of heroisiert wurden. In seinem Bericht beschrieb the hero“ (Fellmann 251). Stiles geht davon aus, er die Tat folgendermaßen: dass Jesse James ohne Edwards’ ständige Pro- paganda keine solche mythische Aura entfaltet a deed so high-handed, so diabolically hätte (Stiles 389). daring and so utterly in contempt of fear Da sich Heroisierung nur in „sozialen und that we are bound to admire it and revere kommunikativen Prozessen“ vollziehen kann, its perpetrators. [...] who can so coolly and hatte Edwards durch seinen publizistischen Ein- calmly plan and so quietly and daringly fluss die besten Voraussetzungen, um in diese execute a scheme ... in the light of day, Prozesse zu intervenieren und die Figur Jesse in the face of the authorities, and in the very teeth of the most immense multitude James zum „gestalthaften Fokus“ der Gemein- of people that was ever in our city deserve schaft der besiegten Konföderierten zu machen at least admiration for their bravery and (vgl. von den Hoff u. a. 8). Durch den appellati- nerve. (Edwards, KC Times, 27.9.1872, ven Charakter und die Affekthaftigkeit der hero- zit. n. Settle 45) ischen Figur (vgl. von den Hoff u. a. 11) sollten im Namen der entrechteten weißen Ex-Konföde- Auch wenn er die Tat verurteilte, blieb die Bewun­ rierten politische Kräfte im Kampf gegen die ‚Re- derung für die Täter bestehen. Zwei Tage später construction‘ mobilisiert werden. Aus politischen veröffentlichte Edwards in derselben Zeitung ei- Gründen und mit Hilfe der modernen Druckpres- nen Leitartikel mit der Überschrift „The Chivalry se wurde Edwards zum ‚Helden­macher‘. of Crime“, in dem er die Banditen Missouris mit helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

66 In der Logik von Edwards’ Heldenerzählung be- „Robert Ford came along like a thief in the night“ kommt Gewalt etwas Heroisches und der Mord (zit. n. Settle 173). Die Ballade stellt so die Ge- erscheint als Heldentat: „killings were marks of schicklichkeit und den Großmut des einen der the hero’s prowess against a foe emptied of all Niedertracht und Heimtücke des anderen gegen­ humanity“ (Fellman 250). Fellman kommt zur über. Hinzu kommt, dass Bob Jesse verraten hat der Einschätzung, Edwards würde Gewalt in und dass dieser Bruch der Loyalität schwerer der Tradition der ‚Dime Novels‘, der zeitgenössi- wiegt als die Tat selbst, denn: schen Groschenromane, darstellen und die tat- sächlichen historischen Gestalten und Gescheh- A traitor is never admired, and in this case the picture in the mind of the typical Amer­ nisse trivialisieren: „By relating the guerrillas to i­can of Jesse James as a dashing Robin the stock romantic dragon-slaying hero of popu- Hood, even if untrue, was so in contrast to lar literature, Edwards bled both the hero and the his end – shot in the back while unarmed foe of their human, emotional qualities, thereby – that expressions of condemnation were whitewashing guerrilla war.“ (Fellman 250) spontaneous. (Settle 121) Da Edwards narrative Muster der Dime No- vels nutzte, überrascht es nicht, dass die James- Die Zeile „for he ate of Jesse’s bread and he Brüder selbst Eingang in diese Hefte fanden, in slept in Jesse’s bed“ (zit. n. Settle 173) ver- denen sie zu fiktiven Heldencharakteren fan- deutlicht die besondere Infamie der Tat. Bob tastischer Geschichten wurden. Durch die Ver- und sein Bruder Charles ‚Charley‘ Ford, der ihn breitung der Hefte und die extensive Berichter­ unterstützte, haben mit dem Mord nicht nur das stattung der Presse konnten regionale Banditen Gesetz des Staates gebrochen, sondern auch zu Westernhelden werden und schließlich inter- das Gastrecht. Dass Bob als Gast den unbe- nationale Berühmtheit erlangen. waffneten Gastgeber tötete, in Anwesenheit von Die Fiktionalisierung von Jesse James macht dessen Frau und Kindern, macht die Tat noch die historische Person zunehmend irreal7 und verachtenswerter. rückt die Erzählungen über ihn in die Nähe der Gouverneur Thomas Crittenden wollte die Abenteuerliteratur von James F. Cooper bis Gesetzlosigkeit in Missouri mit allen Mitteln be- Jack London. Diese Vermischung von Fakt und enden. Als Bob, Charley und Dick Liddil, ein wei- Fiktion machte es der historischen Forschung teres Bandenmitglied, mit dem Polizeichef von lange schwer, überhaupt gesicherte Aussagen Kansas City, Henry Craig, Kontakt aufnahmen über den Banditen zu treffen. William A. Settle und ihre Zusammenarbeit anboten, ergab sich war 1966 der Erste, der mit seiner umfangrei- die ersehnte Gelegenheit, Jesse James aus chen Studie, die den Untertitel Fact and Fiction dem Weg zu räumen. Auch wenn es Crittenden Concerning the Careers of the Notorious James legitim erschienen sein mochte, die Ford-Brüder Brothers of Missouri trägt, diese Verknüpfungen zum Mord an Jesse James zu ermuntern – was aufzulösen versuchte. er offiziell nie zugab (Settle 119) –, war dies keines­wegs rechtmäßig. Die Forderung ‚dead or alive‘ gehört zwar zum Mythos des Wilden Wes- Robert Ford als Mörder, Feigling tens, aber nicht zum zivilisierten Rechtsstaat, und Verräter weswegen die Belohnung von Crittenden ledig- lich für die Verhaftung und Verurteilung der Ban- Als Robert ‚Bob‘ Ford am 3. April 1882 in diten ausgesetzt worden war (Settle 110, Stiles St. Joseph, Missouri, Jesse James in dessen 367). Letztlich war es auch nur der gute Wille Wohnzimmer hinterrücks in den Kopf schoss, des Gouverneurs, der die Fords durch eine Be- ahnte er wohl nicht, dass er damit nicht als Held gnadigung vor dem Todesurteil bewahrte. in die Geschichte und Mythologie des Wilden In Frank Tripletts Darstellung The Life, Times Westens eingehen sollte, sondern als Feigling, and Treacherous Death of Jesse James, die Mörder und Verräter. In der bekanntesten Balla- kurz nach Jesses Tod 1882 erschien und sich de, die Jesse James als Helden und Wohltäter vor allem auf Aussagen der Ehefrau und der feiert, kommt Bob Ford denkbar schlecht weg: „It Mutter des Ermordeten stützt, fällt das Urteil klar was Robert Ford, that dirty little coward, / I won- zu Gunsten des Banditen aus. Triplett richtet sei- der how he does feel, / for he ate of Jesse’s bread ne Anschuldigungen gegen die Beteiligten des and he slept in Jesse’s bed, / Then he laid Jesse­ Komplotts: James in his grave“ (zit. n. Settle 173). Über Jesse James hingegen wird erzählt: „He stole That society is in a terrible state of inse- from the rich and he gave to the poor, / He’d a curity when men are elevated to high of- hand and a heart and a brain / Chorus: / Jesse fices, who have so little knowledge of the had a wife to mourn for his life, / Three children, letter and so little comprehension of the they were brave“ (zit. n. Settle 173). Im Gegen­ spirit of our laws, that they will bargain satz zum Sozialbanditen Jesse James wird with thieves and murderers for the assas- Bob Ford als gemeiner Verbrecher gezeichnet: sination of their comrades. (Triplett 212)

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Robert und werden wiederholt als Verortung einer Figur in diesem Feld resultie- 67 Diebe und Mörder diskreditiert (Triplett 212, 220) ren. Aber da diese Verortungen sprachlich re- und der Täter und seine Komplizen werden als produziert werden müssen, sind sie nicht stabil. moralisch minderwertige Menschen dargestellt Heldentum ist prekär, da durch Bedeutungsver- (Triplett 222–223). Hinzu fügt Triplett juristische schiebungen innerhalb eines spezifischen Hel- Erklärungen, warum es der Verfassung der Ver- den-Diskurses dieselbe Figur einmal als trium- einigten Staaten widerspreche, dass ein Gou- phierender Held und ein andermal als tragischer verneur die gezielte Tötung eines Verdächtigen Held, als Täter oder als Opfer erscheinen kann. in Auftrag gebe oder auch nur billige (Triplett Da die heroische Figur immer von einer Ver- 250–261). So bezieht er sich auf die Anmerkung ehrergemeinschaft als Fiktion hervorgebracht des Juristen John Randolph Dos Passos: „there wird, um imaginäre Bedeutung zum Ausdruck zu is no such thing as outlawry in American juris- bringen,8 soll nun der Blick darauf gerichtet wer- prudence“ (Dos Passos, zit. n. Triplett 255). Also den, wie ein Text des späten 20. Jahrhunderts selbst Kommentatoren wie Dos Passos, die kei- die vorgeblich historisch-faktuale Erzählung ne Sympathie für den Banditen hegten, nahmen der gesetzlosen Frontier als Fiktion erkennbar die Verschwörung, die hinter der Ermordung macht, indem die mythische Rekonstruktion der Jesse James’ steckte, als weitere Bestätigung Geschichte im Akt des Fingierens nachvollzieh- für den barbarischen Zustand Missouris (Settle bar wird. Wenn Jesse James’ Heldentum durch 125). Dass sich gewählte Repräsentanten des mediale Vermittlung entstand, die es erlaubte, Staates wie Crittenden, Craig und Sheriff James spezifische Vorstellungen des Heroischen auf Timberlake über das Gesetz erhoben, schien eine Figur zu projizieren, ist auch die Möglichkeit zudem die Einschätzung vieler Sympathisanten, gegeben, diese Vorstellungen zu verändern, in- dass vom Staat keine Gerechtigkeit zu erwar- dem die Heldenerzählung umgeschrieben wird. ten sei, zu bestätigen und das Verhalten Jesse Gut hundert Jahre nach dem Tod des be- James’ nachträglich zu rechtfertigen. Da Jesse rühmten Gesetzlosen unternimmt James bereits eine Verehrergemeinde hatte, ist in seinem Roman The Assassination of Jesse es wenig überraschend, dass diese mit Empö- James by the Coward Robert Ford den Versuch, rung auf den Mord reagierte. Jesse James’ Heldentum aufzulösen. Dafür beutet der Roman die Differenz zwischen der Personal friendship, sympathy growing Exzeptionalität der Heldenerzählung und der from their activities during the Civil War, alltäglichen Profanität der Gesetzlosigkeit aus. and an element of hero worship, then, ac- count for part of the admiration of Jesse Der Text zeigt Jesse James als höflichen, aber James and criticism of those who brought brutalen, als brillanten, aber psychisch zerrüt- him to his end. (Settle 121–122) teten Mann in seiner profanen Menschlichkeit mit allen Schwächen und Ticks. Während Jesse Die Art und Weise seines Todes hat den Status James im Diskurs seiner Verehrer als tragischer von Jesse James als heroische Figur endgül- Held erscheint, macht der Roman aus ihm einen tig zementiert: „Assassination at the hand of a Täter. Dazu kommt, dass Hansen im Verlauf der traitor did much to raise him to heroic standing.“ Erzählung die Aufmerksamkeit immer stärker (Settle 123) Stiles beschreibt dies als Apotheo- auf den Mörder Robert Ford lenkt, der üblicher­ se des toten Banditen in der öffentlichen Wahr- weise im Mythos von Jesse James wenig Be- nehmung (Stiles 376–395). Heute ist er aus dem achtung findet und zumeist nur als Verräter und Pantheon der Westernhelden nicht mehr fortzu- finaler Antagonist in Erscheinung tritt. Durch denken. Sein Mörder Robert Ford hingegen blieb diesen Perspektivwechsel erweist sich Hansens als ‚dreckiger, kleiner Feigling‘ in Erinnerung. Roman als originelle Adaption des Mythos von Jesse James. Die Form des Romans erlaubt es, die Lücken Geschichte und Geschichten: Heroisierung zwischen den historisch gesicherten Tatsachen und Deheroisierung als narrative Effekte mit einer Erzählung aufzufüllen. In realistischen, Da sich Heroisierung in sozialen Kommunika- historischen Romanen kann Geschichte als Ge- tionsprozessen vollzieht, kann sie sich auf die schichten erzählt werden, die so gewesen sein gleiche Weise in ihr Gegenteil verkehren und könnten. Dieser Möglichkeitsspielraum erlaubt zwischen der heroischen Figur und ihren Vereh- es, Bedeutung zu verschieben. Indem The As­ rern neue Bedeutungsverknüpfungen herstellen. sassination die Verschiebungen im Feld des He- Diese Prozesse der Deheroisierung können mit roischen unter veränderten sozio-historischen Bernhard Giesen als Verschiebungen im ideal­ Bedingungen durch die Figur Robert Ford mar- typischen Feld des Heroischen (Giesen 6–7) kiert, wird der Mythos ‚Jesse James‘ als solcher verstanden werden. Heroisierung und Dehe- erkennbar. Die Betonung der Beziehung zwi- roisierung sind diskursive Effekte, die aus der schen Jesse James und Robert Ford macht es helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

68 notwendig, Ersteren als heroische Figur in Frage but there is an illogical class of persons zu stellen und zu überdenken, während Letzte- who cannot restrain a sort of admiration rer über seine konventionelle Wahrnehmung als for one who has murdered many and „dirty little coward“ hinausgehoben wird. Der He- shown no mercy. (Hansen 213) roismus Robert Fords wirft nicht nur die Frage An verschiedenen weiteren Stellen des Romans nach dem Heroischen in der amerikanisch-west- wird Bobs Heldenverehrung deutlich. Als Jesse lichen Moderne auf, sondern bietet auch einen James die Farm der Fords besucht, berichtet Ansatzpunkt, um den Begriff des Antihelden zu ihm Charley von der Kindheit seines Bruders schärfen. Bob: „He practically ate the newspaper stories up. You were by far his most admired person- age. It was Jesse this, Jesse that, from sunrise 2. Robert Fords Heroismus in to sunset.“ (Hansen 160) Bob kennt alle Ge- The Assassination schichten, die über Jesse James erzählt wer- den, und jedes nur denkbare Detail. Seine Hel- Verehrung des Helden denverehrung geht sogar so weit, dass er eine Liste mit Gemein­samkeiten zwischen sich und Im Roman ist Robert Ford zunächst Teil der Ver- Jesse anlegt (Hansen 161–162). ehrergemeinschaft. Er kommt aus demselben pro-sezessionistischen Milieu Missouris wie die James-Brüder. Nachdem Anfang der 1880er die Identifikation mit dem Helden meisten Mitglieder der James-Gang tot oder im Gefängnis waren, wurde eine Reihe junger Diese Auflistung der Gemeinsamkeiten von Bob Männer, die keine Bürgerkriegsveteranen wa- und Jesse zeigt, dass dieser jenen nicht nur ren, über die persönlichen Kontakte dieses re- verehrt, sondern seinem Idol auch nacheifern gionalen Netzwerks rekrutiert. Doch diese neue möchte. Bobs Heroismus erscheint so übertrie- Banditengeneration war weniger durch die po- ben, dass Jesse Bob einmal fragt: „I can’t fig- litischen Verwerfungen des Krieges als durch ure it out: do you want to be like me, or do you Abenteuerlust und Gier motiviert und wird wenig want to be me?“ (Hansen 186). Die Identifikation schmeichelhaft beschrieben: „They were hooli- mit dem Helden seiner Kindheit geht sogar so gans, mainly, boys with vulgar features and sul- weit, dass sich Bob am Vortag des Mordes, als len eyes and barn-red faces capped white above die James-Familie zur Palmsonntagsfeier in der the eyebrows“ (Hansen 10). Unter ihnen sind Kirche ist, in das Schlafzimmer schleicht, sich in auch Charley Ford und dessen jüngerer Bruder Jesses Mantel kleidet und darin im Spiegel be- Bob, ein glühender Jesse-James-Fan, der von trachtet. Er legt sich in Jesses Bett und stellt sich sich behauptet: „I’m an authority on the James vor, wie dieser mit seiner Frau schläft. Er knickt boys“ (Hansen 15). Bob Ford hat Memorabilien seinen Mittelfinger so ab, dass es aussieht, als der James-Gang in einem Schuhkarton gesam- würden die zwei oberen Glieder fehlen, wie dies melt (Hansen 40, 118, 122–123) und nicht nur bei Jesse der Fall war, und betrachtet seine Groschenromane und fiktive Berichte über die Hand (Hansen 255–256). Es ist also mehr als James-Gang wie R.W. Stevens’ Trainrobbers eine bloße Imitation des Helden, die er in die- aufgesogen (Hansen 40), sondern auch die Lo- ser Szene aufführt, es ist die Identifikation mit beshymnen aus Edwards’ Schriften in sein No- dem Helden – und retrospektiv die des desig- tizbuch übertragen (Hansen 42). Bob ist also nierten Mörders mit seinem Opfer. Diese Sze- Teil der Verehrergemeinschaft, deren Heroismus ne ist auch deswegen so markant, weil Bob im sich aus der medialen Darstellung des Banditen Tod des Helden seinen eigenen Tod imaginiert: nährt. Bereits in den 1870ern wurde öffentlich „He imagined himself at thirty-four [Jesse James’ beklagt, dass die Glorifizierung von Gesetzlosen Alter zum Zeitpunkt seines Todes]; he imagined in Groschenromanen Jugendliche dazu animie- himself in a coffin“ (Hansen 256). Hier kommt die re, fragwürdige heroische Modelle zu imitieren Verknüpfung der beiden Schicksale in der Vor- (Slotkin 128). Diese Heldenverehrung von Ban- ahnung des Mordes komprimiert zum Ausdruck diten wird im Roman von Gouverneur Thomas und die Szenerie hat etwas Gespenstisches, Crittenden mit der Bewunderung der Masse für das durch Hansens Vergleich der ‚bleichen‘ Vor- große Schurken erklärt: hänge mit Geistern noch hervorgehoben wird: „Morning light was coming in at the window and A petty thief is generally despised and eas- pale curtains moved on the spring breeze like ily convicted; but one who steals millions ghosts“ (Hansen 256). Der Tod hält Einzug in becomes a sort of hero in the estimation das James-Haus, obwohl der Mord noch gar of many. A man who commits a sneak- nicht stattgefunden hat. Aber in dieser Szene ing murder is regarded as the meanest of verwandelt sich Bob durch die Identifikation mit criminals and fit only for a speedy halter; Jesse selbst in einen Revolverhelden:

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Bob raised his revolver and straightened City, Henry Craig, lässt er verlauten: „Pretty 69 it on the door, the mirror, the window sash soon all of America will know who Bob Ford is.“ […] He considered possibilities and every- (Hansen 196) Als er gegenüber Timberlake die thing wonderful that could come true. […] Kränkungen seiner Kindheit rekapituliert, macht And he was at the dining room table, oiling er deutlich, dass er die sich bietende Gelegen- his gun, when the churchgoers returned to heit zur heroischen Tat ergreifen werde: the cottage. (Hansen 256) I’ve been a nobody all my life. I was the Während der gläubige Christ Jesse in die Kir- baby; I was the one people picked on, the che geht, um sich auf den Tod und die Aufer- one they made promises to that they never stehung Jesu vorzubereiten, bereitet Bob bereits kept. And ever since I can recall it, Jesse die Waffe für den Verrat und damit den Tod des James has been big as tree. I’m prepared Helden vor. for this, Jim. And I’m going to accomplish it, I know I won’t get but this one opportu- nity and you can bet your life I’m not going Der Wunsch, ein Held zu sein to spoil it. (Hansen 222)

Dass Bob Ford den Wunsch hegt, selbst ein Am Abend vor Jesses Ermordung gesteht Bob Held zu sein, wird bereits zu Beginn des Ro- Ford seinem Opfer: „I’m afraid of being forgotten mans deutlich. So lässt er gegenüber Frank [...] I’m afraid I’ll end up living a life like everyone James während der Vorbereitungen zum Über- else’s and me being Bob Ford won’t matter one fall auf die Eisenbahn am Blue Cut verlauten: way or the other.“ (Hansen 262) In einem Zeitungsartikel über die Ermordung I honestly believe I’m destined for great Billy the Kids durch , den Bob liest, things, Mr. James. I’ve got qualities that don’t come shining through right at the wird gefolgert: „a sheriff like Pat Garrett was just outset, but give me a chance and I’ll get what Missouri needs: a man who’ll ‚follow the the job done – I can guarantee you that. James boys and their companions in crime to (Hansen 12) their den, and shoot them down without mercy.‘“ (Hansen 191) Da es ihm nicht gelingt, wie Jesse­ Bob wartet auf den Moment, in dem er die Mög- James als Bandit Ruhm zu erwerben, entwirft lichkeit bekommt, seine Qualitäten unter Beweis er sich nach diesem Modell als Held, der den zu stellen, damit diese in Erscheinung treten Bösewicht bezwingen muss: „we wanted to rid können („shining through“). In Verbindung mit the country of a vicious and bloodthirsty outlaw“ dem „traditionellen Topos des Heldenglanzes“ (Hansen 278). Bobs Heroismus bekommt da- (Gelz und Willis 1) kann diese Stelle so gelesen durch eine moralische Legitimation, durch die werden, dass Bob Ford auf die Entfaltung sei- er seine Tat rechtfertigen und sein Selbstbild als nes heroischen­ Glanzes wartet. Frank antwortet Held bestätigen kann. allerdings:

You’re just like any other tyro who’s prinked Deheroisierung des Helden himself up for an escapade. You’re hoping to be a gunslinger like those nickel books Jesse James ist in Hansens Roman zwar darauf are about, but you may as well quench bedacht, alle Gerüchte und die Geschichten der your mind of it. You don’t have the ingredi- Groschenromane als Lügen abzutun (Hansen ents. (Hansen 12) 40, 259), und wenn er selbst Geschichten über Bob will vom Helden als ebenbürtig anerkannt seine Taten erzählt, dann nur solche, die sein werden. Doch nicht nur Frank, auch Jesse sieht Selbstbild als edler Räuber bestätigen (Hansen in ihm nichts anderes als ein „kid“ (Hansen 102). 106–108). Als Bob aber Jesse nach dem ersten Die ausbleibende Anerkennung und Bobs Angst gemeinsamen Eisenbahnraub die Lobeshym- vor Jesses Rache, nachdem er dessen Cousin nen Edwards vorliest, erwidert dieser nur: „I’m a in einem Schusswechsel getötet hat no good, Bob. I ain’t Jesus.“ (Hansen 43). Und in (Hansen 150), mögen der unmittelbare Anlass der Tat verliert die mythische Figur ihre sugges- für den Verrat und seine Absprache mit den Be- tive Kraft, je näher Bob seinem Helden kommt. hörden gewesen sein. Später behauptet er, es Die Erfahrung, dass der Bandenchef seine Leu- der Belohnung wegen getan zu haben (Hanse­n te eher durch Brutalität – etwa die Ermordung 360). In einer ganzen Reihe von Szenen wird Ed Millers (Hansen 138) oder die Misshandlung jedoch deutlich, dass der tiefere Grund sein von Bobs Cousin Albert (Hansen 142–143) – Wunsch nach Heldenruhm ist. Beim ersten Kon- und Einschüchterung – mit Schlangen (Hansen takt mit Sheriff Timberlake sagt Bob: „I’ve always 100–101) oder mit dem Messer (Hansen 242) wanted to be written about in a book.“ (Hansen – anstatt durch Charisma zusammenhält, wirkt 171) Gegenüber dem Polizeichef von Kansas ernüchternd. Sein durch die Groschenromane helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

70 vermitteltes Bild will er in der realen Person be- ery, and that I’d be the greatest man in stätigt finden und wird dabei bitter enttäuscht. America if I shot him. I thought they would Dass die persönliche Nähe zu einer Entzaube- congratulate me and I’d get my name in rung des Helden führt, darauf weist das franzö- books. I was only twenty years old then. I sische Sprichwort „ Il n’y a pas de héros pour couldn’t see how it would look to people. I’ve been surprised by what’s happened. le valet de chambre“ hin, das auch von Hegel (Hansen 360) in seiner Beschäftigung mit dem Helden aufge- griffen wird (Nagl-Docekal 68).9 Die Deheroisie- Wie es für die Leute aussah – „how it looked to rung Jesse James’ wird also nicht nur durch das people“ – , das ist der entscheidende Punkt. Es zentrale Narrativ des Romans betrieben, ihn in geht nicht um den Tatbestand: Mord bleibt Mord. seiner Menschlichkeit mit all seinen Schwächen Und den zwei Morden Bob Fords stehen Jesse und psychischen Abgründen zu zeigen, sondern James’ zahlreiche Todesopfer gegenüber. Auch vollzieht sich auch in der Wahrnehmungsver- ist in Bezug auf Ford nichts mehr davon zu hö- änderung Bob Fords. Dieser deheroisierende ren, dass „killings […] marks of a hero’s prow- Effekt macht den Helden schließlich antastbar. ess“ (Fellman 250) seien. Vielmehr erscheint Nach einem Schützenwettkampf mit einem Bob als jener „meanest of criminals“, der einen Waffenschmied in St. Joseph, den Jesse auf „sneaking murder“ (Hansen 213) begeht. Sogar grandiose Weise gewinnt, meint Charley Ford der Gauner Soapy Smiths weiß, dass man einen zu seinem Bruder: „You thought it was all made Mord so inszenieren muss, dass es zumindest up, didn’t you. You thought everything was yarns den Anschein eines fairen Duells hat: and newspaper stories.“ (Hansen 240). Doch Bob, schon fest entschlossen, den Banditen zur One night you oughta gone out and sor- Strecke zu bringen, antwortet nur: „He’s just a ta lagged behind old Jess on your horse. human being.“ (Hansen 240). Dass Bob sein You get your gun out and yell his name and once he spins around, bang! You Bild von Jesse James als unbesiegbarem Hel- coulda said you two had an argument and den revidiert, ist die Voraussetzung dafür, ihn shot it out and you come out the victor. I zu besiegen. Um auf Giesens Begrifflichkeit guess you never thought of it though. [...] zurückzukommen, kann gesagt werden, dass You sure done the wrong thing, killing the Jesse James in der Wahrnehmung Bob Fords man with his wife and kids close by, and vom übermenschlichen, triumphierenden Hel- his guns off. (Hansen 372) den zum menschlichen, bösartigen Täter wird, der gestellt und getötet werden muss. Dass es ein hinterlistig ausgehecktes Mordkom- plott war, wurde Robert Ford als persönliche Feigheit angekreidet, zumal er sich dem Geg­ ner nicht im Zweikampf gestellt, sondern ihn von 3. Der Antiheld als Verkehrung hinten erschossen hatte. Im Roman wird deut- des Heroischen lich, dass sich Bob in vollem Bewusstsein, dass ein fehlschlagender Versuch sein Leben kosten Der hinterhältige Mord als ein würde, zur Tat entschließt. Wieviel Mut er dafür Konstitu­tionsmoment des Antihelden aufbringen muss, darüber lässt sich nur speku- in The Assassination lieren. Ihm können aber durchaus die Qualitäten eines Helden zugeschrieben werden:10 Er be- Hansens The Assassination erzählt davon, wie weist Handlungsfähigkeit und Durchsetzungs- Bob Ford an seinem Wunsch, ein Held zu sein, vermögen, er handelt entschlossen und voll- scheitert, wie sich in seiner Figur das Heroische bringt etwas Außergewöhnliches. Bob Ford ist verkehrt und er dadurch zum Antihelden wird. Es im Umgang mit dem Revolver sehr geschickt. ist nicht so, dass Fords Tat schlicht unheroisch Doch während Jesse James dies als heroische war, also dass sie sich der Möglichkeit heroi- Qualität angerechnet wird, erscheint dasselbe scher Zuschreibungen komplett entzöge. Doch bei Bob Ford als Anmaßung einer Fähigkeit, auch wenn Bob unmittelbar nach der Tat in der die er eigentlich nicht verdient hat: „a scary gift Zeitung beschrieben wird als „the man who had in handling guns“ (Hansen 356). Während die the courage to draw a revolver on the notorious Rücksichtslosigkeit Jesse James’ als Wagemut outlaw“ (Hansen 294), sind nicht Lob und Aner- interpretiert wird, erscheint sie bei Bob Ford als kennung, sondern Hass und Verachtung sein Feigheit. Wird Jesse James Klugheit und Vo­ Lohn. Einige Jahre nach der Tat erklärt Bob Ford raussicht attestiert, so erscheint die Schläue im Gespräch mit seiner Geliebten: Bob Fords durchtrieben und hinterlistig. Obwohl Do you know what I expected? Applause. er die Fähigkeiten hat, die zu einem Helden ge- I thought Jesse James was a satan and hören, werden diese im Diskurs als das Gegen- a tyrant who was causing all this mis- teil bewertet.

helden. heroes. héros. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination

Ebenso wie die Fähigkeiten sind es weniger er sich auch begibt, um von vorne anzufangen, 71 die Taten, die Jesse James zum Helden und der Ruf als Feigling und Verräter holt ihn ein. Bob Ford zum Antihelden machen, sondern die Nicht zuletzt in Form der sich rasant verbreiten- Bedeutung, die diesen in einem gesellschaft- den Ballade, mit der ihn ein Barsänger in New lichen Diskurs zugeschrieben wird. Wie sich York zufällig konfrontiert. Zu betrunken, um sich bereits im Verhältnis von unionstreuen Milizen gegen die Beleidigung, er sei ein „dirty little cow- zu konföderierten Partisanen gezeigt hat, wird ard“ wirksam zu wehren, wacht Bob gedemütigt auch bei der öffentlichen Bewertung von Jesse am nächsten Morgen auf der Straße auf, als James und Bob Ford deutlich, dass hier dem ei- ihm ein Hund über das Gesicht leckt (Hansen nen zugestanden wird, was dem anderen ver- 332–333). Als das Stück auf Tournee geht, gibt wehrt wird. Dabei geht die Ähnlichkeit zwischen es bereits westlich der Appalachen, in Louisville Jesse und Bob, die im Tischgespräch auf der in , Anfeindungen und Wurfgeschosse Ford-Farm diskutiert wird (Hansen 161–162), aus dem Publikum. Zudem werden Bob Droh- über die bloßen äußerlichen Merkmale von Kör- briefe ins Hotel geschickt, die ihn mit Judas ver- pergröße, Haar- und Augenfarbe etc. hinaus. gleichen (Hansen 335–336). So zeigt sich, dass Beide sind Männer ihrer Zeit, die mit dem Re- nicht nur der Held vom Publikum gemacht wird, volver in der Hand ihr Glück suchen. Das heißt, sondern auch der Antiheld, dem Hass, Spott und dass Bob Fords Fähigkeiten und seine Tat nicht Verachtung entgegen gebracht werden. aus dem Heroischen ausgeschlossen werden, Der Roman erzählt jedoch nicht nur von Jesse­ sondern diese in Relation zu seinem Antagonis- James und Robert Ford, sondern auch von dem ten, obwohl sie einander so ähnlich sind, durch Mythos, der sich um diese Geschichte gewebt ein moralisches Urteil ins Gegenteil verkehrt hat. Im Folgenden soll die Verkehrung des Hero- werden. Held und Antiheld sind nicht ontologisch ischen im Roman durch einen Blick auf die Be- festgelegt, sondern werden durch soziale Prak- deutung des Western-Mythos erläutert werden. tiken des Erzählens und des Bewertens hervor- gebracht. Seine Qualitäten, die Bob zu Recht hervorhebt, mögen zwar notwendig sein für ei- Der Heroismus der Pioniergemeinschaft. nen Helden, hinreichend sind sie nicht. Denn Mythos und Ethik der Frontier der Held braucht die Verehrung und im Fall Bob Die enorme Popularität und die vielen emotional Fords „anything congratulatory was judged to be aufgeladenen Erzählungen, die sich um Jesse bogus by those who thought they knew him and James ranken, sind Hinweise darauf, dass sich the accounts were forgotten in favor of dispar- in der Heroisierung seiner Person der Mythos aging tales that seemed more fitting.“ (Hansen des Wilden Westens symbolisch verdichtet. Die 356) Verehrung, die in Groschenromanen und im Hansens Roman zeigt, wie der Hass, der Hollywood-Kino zum Ausdruck kommt, hat ihn sich gegen Bob richtet, diesem die Erfüllung des immer mehr von seiner politischen Rolle gelöst, Wunschs, zum Helden zu werden, endgültig ver- die er als unbeugsamer Rebell und unbeirr­barer wehrt. Wie er voraussagt, kennt ihn bald ganz Kämpfer für die verlorene Sache des Südens Amerika und „he was reported to be renowned spielte. Die Figur wurde nach und nach zum at twenty as Jesse was after fourteen years of Prototyp eines amerikanischen Sozialbanditen grand larceny“ (Hansen 327). Aber damit ist er umgestaltet, zum Robin Hood der Prärie. Als auch auf die Rolle festgelegt. Sein Ruhm hängt heroische Figur verkörpert er damit Werte und an dem verräterischen Mord. Qualitäten, die, über den Kontext des Bürger- Der Einladung des Impresarios George H. kriegs hinaus, für die Gemeinschaft der Pioniere Bunnell folgen die Ford-Brüder nach New York, und ihre Ethik der Frontier wirksam sind. wo das Stück How I Killed Jesse James einigen Jane Tompkins leitet diese Ethik direkt aus Erfolg hat (Hansen 317–326). Bob spielt sich der Konfrontation mit der Wildnis ab, der sich die darin selbst, während Charley die Rolle Jesses Siedler gegenübersahen: übernimmt. In New York und im Nordosten wird das Stück mit Sympathie aufgenommen, weil Be brave, be strong enough to endure Jesse James dort eher den Ruf eines sezessio- this, it says, and you will become like this nistischen Partisanen und Verbrechers hat: „The – hard, austere, sublime. The landscape crowds there were without Southern loyalties or challenges the body to endure hardship strong emotions about the Yankee railroads and – that is its fundamental message at the physical level. (Tompkins 71) banks“ (Hansen 325). Als Heldendarsteller sei- ner selbst kann sich Bob nicht nur ein kleines Tompkins erläutert, dass die Qualitäten der Na- Vermögen, sondern auch den Respekt verdie- tur – Kraft, Ausdauer, majestätische Wildheit, nen, den er so lange gesucht hat. Doch die Hoff- Gefühl- und Gnadenlosigkeit – diejenigen sind, nungen, die er hegt, erfüllen sich nicht. Wohin die von den Menschen angestrebt und nicht nur helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

72 als überlebensnotwendig, sondern auch als Gip- grenzüberschreitende Held wird als heroischer fel menschlicher Perfektion angesehen wurden Transgressor verehrt, weil er ein handlungslei- (Tompkins 72–73). Die Landschaft präfiguriert tendes Modell für die Pioniergemeinschaft be- also ein moralisches System, das Ethos geht reitstellt, die mit der Besiedlung ebenfalls vor aus dem Topos hervor: „this code […] seem[s] to der Herausforderung steht, die Grenze zwischen have been dictated primordially by nature itself.“ Zivilisa­tion und Wildnis zu bewältigen. Durch (Tompkins 73) Diese Ethik passt zu den Partisa- die Figur des Westernhelden gelingt es, den nen an der Frontier11 und den späteren Banditen, „leuchtenden Wertehimmel“ mit der Erfahrung aber sie teilten diese Werte mit der Gemeinschaft der „existentiellen Einsamkeit“ (Früchtl 179) zu der Pioniere, aus der sie hervorgingen. Ohne synthetisieren. diese geteilten Werte hätte Jesse James nicht Rita Parks beschreibt in The Western Hero, zum heroischen Sozialbanditen werden können. wie der ‚Man with a Gun‘ die Widersprüche der Dass diese Werte im Krieg besonders brauchbar Kolonisation des nordamerikanischen Konti- sind, überrascht nicht, doch gibt dies auch eine nents ausdrückt und diese in einem mythischen Ahnung davon, wie die Expansion der USA von Narrativ auflöst (Parks 50). Der Mythos des einer Logik der Militarisierung beherrscht war, in Westens als Gründungsmythos der USA, dem der die Frontier immer auch als Front erschien. „land of the free, home of the brave“ (Key), er- Der Westernheld ist Repräsentant einer anarchi- zählt davon, wie der moralische Revolverheld schen Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt den verbrecherischen besiegt12 und damit zum und Freiheit bedeutet, eine Waffe zu tragen. Gründungshelden der Pioniergemeinschaft wird, An der Frontier treten Freiheit und Recht in deren Ethos er verkörpert, das tief in die ame- einen Widerspruch, denn „grenzenlos erscheint rikanische Gesellschaft eingeprägt ist. Dieses das Land auch als sozialer Raum. Die Zwänge Ethos ist heute noch im amerikanischen Diskurs der Zivilisation, die einengenden Vorschriften um den Schusswaffengebrauch präsent, wenn von Sitte, Recht und Gesetz haben hier (noch) Wayne LaPierre, der Vizepräsident der National keine Geltung“ (Früchtl 38). Der Grat zwischen Rifle Association, sagt: „The only thing that stops legitimer Gewalt und barbarischer Brutalität ist a bad guy with a gun is a good guy with a gun“ schmal und muss vom Individuum alleine be- (LaPierre, zit. n. Lichtblau/Rich). Jesse James schritten werden. Josef Früchtl beschreibt die und Robert Ford sind beide solche Männer mit widersprüchliche Subjektivität des klassischen einer Waffe in der Hand. Doch zu sagen, wer Westernhelden, der einerseits ein Handelnder der Gute und wer der Böse ist – das macht The ist, der in sich ruht, andererseits ein unsiche- Assassination klar – ist nicht ohne weiteres mög- rer Suchender. Dieser Widerspruch, von klaren lich. Die moralische Klarheit ihrer handlungs­ ethischen Grundsätzen auf der einen und der leitenden Grundsätze verschwimmt und die Ungewissheit beim Vordringen in die unbekann- Unmöglichkeit eines klaren moralischen Urteils te Einsamkeit auf der anderen Seite, kommt stellt die Ethik der Frontier vor ein Problem. Der im Western im Gegensatz von Zivilisation und Roman zeigt dies in der Gegenüberstellung Wildnis zum Ausdruck (Früchtl 179). Dieser Ge- von psychologischer Schilderung und öffentli- gensatz wird in der Erzählung vom Westernhel- cher Wahrnehmung der Figuren. Jesse James, den aufgehoben, da er sich auf beiden Seiten der als autarker, abgehärteter, weißer, christ- der Frontier, der Grenze von Zivilisation und licher Mann in der mythischen Erzählung das Wildnis, behauptet. Der Mythos vermag es, ‚po- Idea­l eines Westerners verkörpert, offenbart als lysynthetisch‘ eine Einheit der Erscheinungen Romanfigur die Brutalität und die Deformierun- herzustellen, in der alle Widersprüche aufgeho- gen eines Menschen, dessen Leben von Gewalt ben werden (Cassirer 79). Ernst Cassirer zeigt und Kampf bestimmt wird – wo doch gerade der in Vom Mythus des Staates, dass der politische Westernheld die rohe Wildheit mit der Ordnung Mythos als personifizierter kollektiver Wunsch der Zivilisation versöhnen und als triumphie- mit der Heldenverehrung einhergeht (Cassirer rendes Subjekt aus dem Konflikt hervorgehen 365). Der Mythos der Frontier und des gesetzlo- sollte. sen, aber moralischen Helden gibt der Ethik der In Andrew Dominiks Romanverfilmung von Frontier, die sich nicht durch praktische Vernunft The Assassination wird der von Brad Pitt darge- vermitteln lässt, eine symbolische Form. In der stellte Jesse vor der klassischen Westernland- Form des Mythos kann eine soziale Ordnung, schaft – weiter Horizont der Prärie, erhabene basierend auf den vom Helden verkörperten Berge – in Szene gesetzt. Stärker als im Ro- Qualitäten, imaginiert werden. Der spezifische man erscheint hier die für den Western typische Inhalt des Heroismus der Pioniergemeinschaft Verbindung von Mensch und Wildnis in ihrer ist die Ethik der Frontier. Der Westernheld ist ganzen Widersprüchlichkeit, die den Einzelnen die Figur, welche den Kampf, den die Frontier letztlich von der Gemeinschaft isoliert und ihn als Grenze markiert, repräsentativ bewältigt. Der zum einsamen Kämpfer werden lässt. Dominiks

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Film und Hansens Roman führen die Stärke des had seen through his reasons for coming along“ 73 Handelnden vor, aber auch die Ratlosigkeit des (Hansen 244). Der ‚Smith & Wesson‘-Revolver, umherirrenden Desperados. Die Darstellung von mit dem Bob die Tat ausführt, ist ein Geschenk Jesse James wird zum Abgesang auf den klas- von Jesse (Hansen 253–254). Vor dem Mord sischen Westernhelden, wenn Pitt in schneidend legt Jesse seine eigenen Revolver demonstrativ kalter Winterlandschaft auf einem zugefroren ab und dreht Bob den Rücken zu (Hansen 269). See kniet und, umrahmt von schneebedeck- Es scheint fast so, als würde der zunehmend ten Gipfeln und melancholisch in sein eigenes von Depressionen und gesundheitlichen Proble- frostiges Spiegelbild auf dem Eis starrend, über men gebeutelte Outlaw seinen Vertrauten zum Selbstmord räsoniert. Plötzlich zückt er den Re- Verrat ermutigen. volver und schießt auf die Reflektion. Hier ist zu Durch den verräterischen Mord jedenfalls er- beobachten, was Früchtl zu den Westernhelden fährt der Mensch Jesse James seine finale Er- anmerkt: „Die Verzweiflung gräbt sich in ihr Ge- hebung zum Helden (Settle 123). Eines von Eric sicht, die Charaktere nehmen verbrecherische Hobsbawms Kriterien für den Typus des edlen und wahnhafte Züge an.“ (Früchtl 179) Auch im Räubers ist, dass „sein Tod stets und ausschließ- Roman wird deutlich, dass Jesse eine Linie über- lich die Folge eines Verrates“ ist (Hobsbaw­m, schritten hat, hinter die es kein Zurück mehr gibt: Banditen 61). Wie in der Geschichte von Robin Hood und der Äbtissin von Kirkley (Dobson und I can’t hardly recognize myself sometimes Taylor 133–139) vollendet sich bei Jesse James when I’m greased. I go on journeys out of das Heldentum des Sozialbanditen durch den my body and look at my red hands and my mean face and I get really quizzical. Who verräterischen Mord. In dieser Schicksalhaf- is that man who’s gone so wrong? Why all tigkeit des Heldentods verdichtet sich eine ge- that killing and evil behavior? I’ve been be- schichtsphilosophische Pointe, die ich zum Ab- coming a problem to myself. (Hansen 254) schluss erläutern möchte, um das Verhältnis von Held und Antiheld auf den Punkt zu bringen. Jesses Problem ist, dass die Zivilisation und die Durchsetzung des Rechts voranschreitet, dass das Ende des gesetzlosen Westens nahe ist Der Tod des gesetzlosen Helden. Ende der und dass sich die Schlinge enger um ihn zieht: Frontier und Triumph der Zivilisation „The government’s sort of run me ragged, you Die Überraschung, die Bob Ford angesichts des see.“ (Hansen 254) Er weiß, dass er sich auch ausbleibenden Applauses artikuliert, schlägt am unter falschem Namen nicht in der bürgerlichen Ende um in Bedauern und das Gefühl des Ver- Gesellschaft einrichten kann. In der Szene am lustes: „he truly regretted killing Jesse, […] he Vorabend seines Todes sagt Jesse, dass er ger- missed the man as much as anybody and wished ne mit Bob tauschen würde, weil dieser eine Zu- his murder hadn’t been necessary.“ (Hansen kunft habe und ihm der Weg in eine bürgerliche 360) Notwendig wird der Mord für Bob, weil die Existenz noch nicht versperrt sei: Frist, die von den Behörden gesetzt ist, abläuft, If I could change lives with you right now, und weil Jesses Misstrauen geweckt wird, nach- I would. […] You can go away right now if dem er aus der Zeitung von Dick Liddils Verhaf- you want. You can say, ‚Jesse, I’m sorry to tung und Geständnis erfährt (Hansen 267–268). disappoint you, but the Good Lord didn’t Die Assassination ist eine Handlung, deren Not- put me here to rob the Platte City Bank.‘ wendigkeit sich für Bob durch die unmittelbare You can go inside and get your gatherings Situation aufdrängt. Wie gesehen, ist der Tod and begin a lifetime of grocery work. I’m durch Verrat aber auch eine typologische Not- roped in already; I don’t have my pick of wendigkeit für den Mythos des Sozialbanditen. things; but you can act one way or anoth- er. You’ve still got the vote. That’s a gift I’d Dass der Heldentod auch als historische Not- give plenty for. (Hansen 262–263) wendigkeit erscheint, ist durch den Mythos ver- mittelt. Geschichte [Historie] kristallisiert sich in einer Geschichte [Erzählung], durch die das Ge- Jesse wird überholt von der gesellschaftlichen schehene gesellschaftlich bedeutsam wird. Aus Entwicklung. In seiner Getriebenheit und sei- dem mythischen Narrativ ‚Jesse James’ Ermor- nem Zweifel scheint sich sein heroischer Glanz dung als Heldentod‘ kann ein dialektisches Bild in Düsternis zu verkehren. Doch der schein­ entfaltet werden, das seine Sinnhaftigkeit darin bare Verlust seiner Handlungsfähigkeit wird in findet, dass es die mythische Bedeutsamkeit in der Erzählung wieder zurückgenommen, indem historische Bedeutung zurückübersetzt. er zum Agenten seiner Selbstabschaffung wird Mit dem Verschwinden des Gesetzlosen (vgl. Früchtl 77). Ob er sein Ende insgeheim kommt die zivilisatorische Umformung der Wild- herbeisehnt, oder ob es ein unbewusstes Han- nis in staatliches Territorium zum Abschluss. deln ist, lässt interpretativen Spielraum, doch Das Foto des aufgebahrten Leichnams von „Bob was certain the man had unriddled him, helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

74 Jesse James, das um die Welt geht (Hansen Prozesses wird im Tod des Gesetzlosen als 297) [Abb. 1], macht dem Publikum klar, dass ‚‘ rationalisiert. Als notwendiges die Zeit der Gesetzlosigkeit vorbei ist, dass das Opfer überführt der Mythos die Tragik des Hel- Recht triumphiert und Moderne und Zivilisation dentods in einen gesellschaftlichen Sinn. Einzug halten. Trauer, Wut und Faszination, die Der Mythos des gesetzlosen Helden kann der Tod von Jesse James auslöst, resultieren gelesen werden als nostalgische Erzählung, die nicht einfach daraus, dass er als Person ein ver- zurückblickt auf das vormals freie Land und des- ehrter Held ist, sondern dass der Tod des gesetz- sen unbegrenzte Möglichkeiten, die mit der ab- losen Helden eine historische und soziale Ver- schließenden Aufteilung des Grundbesitzes un- änderung markiert.13 Bürgerliche Gesellschaft wiederbringlich an ein Ende gelangt sind. Jesse­ und Rechtsstaat ersetzen die Gemeinschaft der James ist jedoch kein triumphierender Grün- Pioniere. Dass mit der Entstehung der bürger- dungsheld der Pioniergemeinschaft wie Danie­l lichen Gesellschaft das heroische Zeitalter zu Boone, Tom Dunson [John Wayne] in Red Rive­r Ende geht, ist eine Hegel’sche Vorstellung, die oder die Hauptfiguren in Larry McMurtys Roman sich auch bei Früchtl (Früchtl 68), Voss (Voss Lonesome Dove.14 Als tragischer Held ist der 24) und Giesen findet: „the places for heroes Bandit bereits das Zerfallsprodukt der Pionierge- are fading away with the expansion of money, meinschaft, die mit der Verschiebung der Fron- law and science.“ (Giesen 42) Der Westernheld tier weiter nach Westen von der Zivilisation­ auf- handelt in einem vorgesetzlichen Raum zwi- gesogen wurde. Jesse James kann kein Recht schen Zivilisation und Wildnis, der verschwindet. begründen, sondern sich nur als Gesetzloser Der Gesetzlose als heroischer Transgressor der dem oktroyierten Recht des Staates agonal Frontier wird erst überflüssig und dann störend. entgegenstellen.15 Seinen Heroismus schöpft Weil er nicht in die bürgerliche Gesellschaft ein- Jesse James aus dem Krieg, der auch in der gegliedert werden kann, wird die Transformation Moderne „dem Heldentum wieder eine Chance“ mit derselben Gewalttätigkeit vorgenommen, die gibt (Früchtl 80). Alle Aktivitäten danach erschei- der Gesetzlose zuvor selbst an den Tag gelegt nen der Verehrergemeinschaft, die das hero­ hat. Georg Seeßlen schreibt: „Nun wird das Ge- ische Muster aufgreift, als Verlängerung dieses setz mit dem Revolver und dem Strick durchge- Kriegszustandes, der als natürlicher Zustand setzt; es ist wie die Überwindung eines mensch- der Frontier imaginiert wird. Hier kann ein Mann lichen Naturzustands der Gewalttätigkeit. […] durch Stärke und Geschick sein Schicksal selbst der outlaw muss aus der Welt.“ (Seeßlen 53) in die Hand nehmen, wenn es sein muss, indem Die entstehende Zivilisation ist mit dem Blut der er zur Waffe greift – oder auch indem er sich da- ihr vorangehenden Gesetzlosigkeit getränkt. für entscheidet diese abzulegen.16 Die verräterische Ermordung des Gesetzlosen ist das Gründungsverbrechen der bürgerlichen Gesellschaft, die das Prinzip des Rechts durch- Der Antiheld als bürgerliches Subjekt setzt, indem sie es bricht. Die Vorstellung, dass Wenn Jesse James und Robert Ford die Waf- gesellschaftliche Erneuerung durch Gewalt fe in die Hand nehmen, wird dies, wie gezeigt, hervorgebracht werden kann, wird von Richard von der Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet. Slotkin als zentrales Element des Frontier-My- Jesse James wird als starker, autarker, von der thos beschrieben (Slotkin 10–16). Josef Früchtl Wildnis und dem Prinzip des Kampfes gehärte- versteht diese Vorstellung der „Erlösung von ter Mann der Frontier wahrgenommen. Rober­t der Gewalt durch Gewalt“ (Früchtl 266) als Fort- Ford kann sich nicht mit den Meriten eines schrittsnarrativ der Moderne überhaupt. Bürgerkriegsveteranen schmücken und durch Der Einzug der Eisenbahn, der Banken und seine Zusammenarbeit mit den staatlichen Au- der Industrie, der Polizei, der Gerichte und Ge- toritäten, aber auch durch seinen Habitus, sei- fängnisse sowie die rasante Entstehung der ne Mode und seine effeminierte Erscheinung Städte wird jedoch als Verlust einer genuinen verkörpert er das Gegenprinzip: die Zivilisation, Freiheit wahrgenommen, „weil die Menschen im das korrumpierte Recht und die kaufmännische Westen das Gesetz eigentlich nicht mögen, es Geschäftigkeit. Hansen beschreibt ein bekann- vielleicht noch mehr fürchten als den Schrecken tes Foto von Ford, das kurz nach der Tat auf- der Gesetzlosigkeit, weil ‚Gesetz und Ordnung‘ genommen wird: „He looked like a grocery clerk einen Endpunkt ihrer Entwicklung darstellen.“ accidentally caught with a long gun in his hand“ (Seeßle­n 53) Die Durchsetzung des Rechts ist (Hansen 306) [Abb. 2]. Seine Haltung und sein für die Menschen nicht nur Befreiung von der Handeln leiten sich nicht aus der erhabenen Gesetzlosigkeit, sondern bedeutet auch die Natur ab. Er handelt aus Gier, Neid und Ruhm- Unterwerfung unter staatliche Herrschaft, unter sucht, angeleitet von Hinterzimmer-Politikern deren Gewaltmonopol und deren Institutionen. in Kansas City. Nachdem Bob und sein Bruder Die Unaufhaltsamkeit dieses geschichtlichen Charley im Roman von New York nach Missouri

helden. heroes. héros. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination zurückkehren, werden sie von der Öffentlichkeit Land der Wildnis abtrotzen, während die tragi- 75 als „corrupted representations of the evils of city schen Helden die Gesetzlosen der Frontier, des living“ (Hansen 326) wahrgenommen. Doch der Zwischenstadiums, wären. Der Antiheld, der mit Roman kehrt diese Bewegungsrichtung um: Es der modernen Zivilisation Einzug hält, fällt dann ist Jesse, der von einem bürgerlichen Leben aus dem Schema des Heroischen heraus, weil phantasiert und mit seiner Familie sonntags in die heroische Zeit abgelaufen ist. Ohne Berück- die Kirche geht, während Bob seinen bürger­ sichtigung der konkreten historischen Gestalt lichen Job im Lebensmittelladen hasst und, an- des mythischen Narrativs offenbart eine allge- gezogen vom Ruf der Wildnis und des Abenteu- meine Typologie des Heroischen ihre Lücken. ers, vom Heldentum träumt, das an der Frontier Als „auf ‚interessante‘ Weise“ Scheiternde zu erringen sei. (Voss 24) wären im Roman beide, Jesse und Doch die Epoche der amerikanischen Fron- Bob, Antihelden. Doch während der lebende tier als Zeit des modernen Heldentums kommt Jesse James deheroisiert wird, erhält er als To- Bob durch seine Tat als Erstem abhanden. Nach ter sein Heldentum zurück. Der Teil des Romans seiner Karriere als Schauspieler und Heldendar- nach der Ermordung heißt passenderweise steller seiner selbst, zieht er weiter nach Wes- „Americana“ (Hansen 273–389) und zeigt, wie ten, in die Wildnis von Colorado, dorthin, wo die sehr der Mythos von Jesse James Teil der ame- Frontier noch nicht geschlossen ist. Hier, in der rikanischen Folklore ist. Jesse James hat in der Bergarbeitersiedlung Creede, macht er sich als Mytho­logie des Wilden Westens als heroische Saloonbetreiber, als respektierte Persönlichkeit Figur seinen festen Platz, den er als Suchender und öffentliche Autorität einen Namen, auch und tragischer Charakter auch in The Assassina­ wenn diesem Namen die Bluttat unwiderruflich tion schlussendlich behält. Insofern vom Mythos anhaftet (Hansen 364–367). Bob Ford versucht erzählt werden muss, fällt die Erzählung wieder den heroischen Gründungsakt zu vollziehen, in ihn zurück.17 In Bezug auf das Heroische ist doch die Verwirklichung des amerikanischen Jess­e James auch im Roman ein erfolgreich Traums basiert auf seinem Ruhm als Mörder Scheiternder. An der Stabilität der Bedeutung, von Jesse James. Schließlich widerfährt ihm die den beiden Figuren durch das mythische Nar- in seinem eigenen Saloon dasselbe Schicksal rativ18 des verräterischen Hel­denmordes einge- wie Jesse James in dessen Haus: Er wird von schrieben ist, können weder die Romanfigur Bob Edwar­d O. Kelly hinterrücks mit einem Schrot­ noch die deheroisierende Erzählung viel ändern. gewehr erschossen. Und mit seinen letzten Auch wenn der Roman Robert Ford nicht als Sekunden endet der Roman: „Robert Ford den bösen Täter zeichnet, sondern dies als Zu- only looked at the ceiling, the light going out of schreibung seiner Feinde kenntlich macht, kann his eyes before he could say the right words.“ er doch kein ‚heroischer‘ Held werden. Und da er (Hanse­n 389) Der Kreis der Gewalt schließt die Rolle des Helden nicht ausfüllen kann, ist es sich. Nicht nur der Gesetzlose muss aus der der Geist des toten Jesse James, der schließlich Welt, sondern auch dessen Bezwinger, der an wieder diesen va­kanten Platz einnimmt. Bob ist die zweifelhafte Durchsetzung des Rechts erin- ein moderner Mensch, ein bürgerliches Subjekt, nert. Dies ist die nächste Stufe der „Regenera- das aus seiner gesellschaftlichen Rolle aus- tion through violence“ (Slotkin 10): Die Zivilisa- brechen und im Übergang zu einer „postheroi- tion wird durch noch mehr Blut reingewaschen schen Gesellschaft“ (Münkler) seinen „Hunger und die Spuren der gewaltsamen Errichtung des nach Heroischem“ (Voss 24) stillen möchte. Erst Staates und der bürgerlichen Gesellschaft wer- durch exzessive Heldenverehrung, dann durch den verwischt. Imitation des und Identifikation mit dem Helden und schließlich durch dessen Tötung versucht er sich selbst zum Helden zu erheben. Bob schei- tert an seiner Selbstheroisierung und taugt nur 4. Fazit noch zum Antihelden, in dem sich die Qualitäten des Heroischen in ihr Gegenteil verkehren, lä- Verkehrung des Heroischen in The Assassina­ cherlich und gemein wirken, und dessen Taten tion meint nicht nur, dass sich durch Bedeu- dem Prosaischen der modernen Zivilisation an- tungsverschiebungen in einem typologischen heimfallen. Feld (Giesen 6–7) die Wahrnehmung von Jesse als Held und Bob als Täter umkehrt. Das wä- Andreas J. Haller ist Doktorand am Graduier- ren Modi der De- bzw. Reheroisierung. Doch tenkolleg 1288 Freunde, Gönner, Getreue der der Antiheld findet in Giesens Schema keinen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und arbeitet Platz. Die triumphierenden Helden in der Mytho­ über Mythische Räume der Gesetzlosigkeit. Er logie des Wilden Westens mögen die Entde- war von September 2013 bis Februar 2014 Sti- cker, Eroberer und Gründerfiguren sein, die das pendiat des Sonderforschungsbereichs 948.

helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

76 sowie die ‚Ausstrahlung‘ von Helden­figuren“ (von den Hoff 1 Vgl. Settle 198 in Bezug auf James D. Horans Buch über u. a. 11). Die Setzung und Festlegung imaginärer Bedeutun- Jesse James: „He views the outlaws as did the Pinkertons; gen bleibt jedoch prekär: „es können neue imaginäre Bedeu- they are not his heroes. Despite this view, the Pinkertons tungen mit ihrem je andersartigen Verweishorizont an deren fail to emerge with any glory. Making the Jameses look bad Stelle treten“ (Iser 369). In jeder neuen Erzählung derselben does not make the detectives look good.“ Trotzdem gibt es Geschichte wird neu ausgehandelt, wie die Figur zum Hero- Versuche, auch die Pinkerton-Detektive zu heroisieren (vgl. ischen in Beziehung zu setzen ist. Die Prozesse der Heroi- z. B. Lawson). sierung und Deheroisierung laufen ab in der Tradierung und Variation narrativer Muster. 2 Reconstruction meint die Politik der Wiederherstellung der nationalen Einheit der USA nach dem Bürgerkrieg, die 9 In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschich­ politisch vom radikalen Flügel der Republikanischen Partei te: „Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden […] nicht dominiert wurde. Die Radikalen misstrauten den ehemaligen aber darum, weil dieser kein Held, sondern weil jener der Sezessionisten im Süden, die aus dem politischen Leben Kammerdiener ist. Dieser zieht dem Helden die Stiefel aus, ausgeschlossen werden sollten, wohingegen die ehema- hilft ihm zu Bette, weiß, dass er lieber Champagner trinkt ligen Sklaven des Südens das Wahlrecht erhalten sollten. usf.“ (Hegel 62). Früchtl ergänzt: „je mehr man im einzelnen Sie traten damit in Konflikt mit Abraham Lincolns Nachfolger über sie Bescheid weiß, desto weniger taugen sie zum Fas- Präsident Andrew Johnson und gemäßigten Republikanern, zinosum“ (Früchtl 75). die auf Ausgleich mit dem Süden setzten. Jedoch war die 10 „Die Qualitäten, die einer heroischen Figur zugeschrie- radikale Politik bestimmend und in Missouri insbesondere ben werden, sind variabel“ (von den Hoff u. a. 8). Heroische auch auf Staatsebene. Mit dem First Reconstruction Act vom Qualitäten sind Zuschreibungen und dürfen keinesfalls es- 2. März 1867 wurde eine Gesetzgebung in Gang gesetzt, sentialistisch verstanden werden; weder hinsichtlich der die unter anderem zur Ratifizierung des wichtigen vierzehn- Fähigkeiten einer konkreten Heldenfigur, noch als Set von ten Verfassungszusatzes führte. Diese Verfassungsände- allgemeinen heroischen Eigenschaften. Im sozialen Prozess rung garantierte allen Männern in Absehung von Rasse und der Zuschreibung von heroischen Qualitäten lässt sich das Hautfarbe die gleichen Rechte. Für einen Überblick sei auf Phänomen der Heroisierung fassen. Der diskursive und tex- die Bücher von Eric Foner, Reconstruction. America’s Unfin­ tuelle Charakter von Zu-‚Schreibungen‘ deutet an, dass es ished Revolution, und William Gillette, Retreat from Recon­ sich hier nicht um Reales, sondern um Imaginäres handelt. struction, verwiesen. 11 Der Zusammenhang von Topos und Ethos zeigt sich Zur Begriffsgeschichte des irregulären Kämpfers vgl. 3 auch in der Partisanentheorie Carl Schmitts, der die Legi- Freudenberg. Grundsätzlich gelten alle Kombattanten, die timation der Partisanen in Zusammenhang mit ihrem telluri- nicht dem Kommando der Streitkräfte eines anerkannten schen Charakter sieht, in ihrer „Verbindung mit dem Boden, Staates unterstellt sind, als irreguläre Kämpfer. mit der autochthonen Bevölkerung und der geographischen 4 Heroismus wird hier in Anschluss an die Begriffsverwen- Lage des Landes – Gebirge, Wald, Dschungel oder Wüste“ dung des Sonderforschungsbereichs 948 verstanden als (Schmitt 26). „gemeinschaftliche Orientierung an heroischen Modellen“ 12 Wenn es sich beim Feindbild nicht gerade um maro- (von den Hoff u. a. 8), also als „individuelle wie kollektive dierende Indianer, mexikanische Desperados oder gierige Selbstvergewisserung in der Nachahmung und Aneignung Großgrundbesitzer handelt. heroischen Handelns und Verhaltens“ (von den Hoff u. a. 9). 13 Da sich dies nur rückblickend feststellen lässt, blieb dies In Northfield, Minnesota, wird jedes Jahr in einem gro- 5 Robert Ford und seinen Zeitgenossen verborgen. ßen Westernspektakel der Sieg der Bewohner Northfields über die James-Younger-Gang beim versuchten Bankraub 14 McMurtys Figuren Gus McCrae und Woodrow Call wa- vom 7.9.1876 gefeiert. Im Gegensatz zum Narrativ von ren zwar Texas Ranger, also ehemalige Vertreter des Geset- Jess­e James als amerikanischem Robin Hood und Freiheits­ zes, doch haben sie keinerlei moralische Bedenken, sich als kämpfer des Südens präsentieren The Defeat of Jesse Viehdiebe zu betätigen. Die Ambivalenz des Westernhelden, James Days eine andere Geschichte, was daran liegt, dass schwankend zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit, wird in im nördlichen Minnesota wenig Sympathien für den konfö- diesen Figuren deutlich, die das von ihnen zivilisierte Land derierten Rebellen vorhanden waren und sind. Die Younger- verlassen, um in der Wildnis eine neue Frontier zu eröffnen. Brüder wurden gefangen genommen und weitere Mitglieder 15 Im Sinne Früchtls, der die Selbstbegründung von Recht der Bande getötet. Hier ist das heroische Subjekt die Ge- und Subjekt im Western als Vorstellung der klassischen meinschaft der Siedler, die die Outlaw-Gang aus der Welt Moderne beschreibt, ließe sich Jesse James der agonalen schafft. Frank und Jesse James konnten allerdings entkom- Moderne zurechnen, deren repräsentativer Subjekttypus der men und eine neue Bande formieren. Verbrecher ist. 6 Die Kansas City Times wurde 1868 von John N. Edward­s 16 Was nahezu zwangsläufig den Tod bedeutet. Der Zusam- und John C. Moore gegründet (Stiles 209). menhang von freier Entscheidung und Schicksal­haftigkeit 7 Dieses Verständnis von Fiktionalisierung kommt von verdichtet sich in der mythischen Kausalität der Formulie- Wolfgang Iser. Der Akt des Fingierens bewirkt „Irrealisierung“ rung „wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert um- des Realen durch Wiederholung im Text und „Realwerden“ kommen“ (Matthäus 26,52), die im Fall des Revolverhelden des Imaginären durch Bestimmtheit im Text (Iser 22–23). als Devise ‚live by the gun, die by the gun‘ ausgegeben wer- den kann. Der Widerspruch von Schicksal und Agency, also ‚Imaginäre Bedeutung‘ meint in Anschluss an Iser solche 8 von Freiheit und Notwendigkeit, der sich hier zeigt, ist für das Bedeutungen, „denen kein bestimmtes Signifikat entspricht, Problem des Helden auch in anderen Kontexten bedeutsam so dass der Signifikant zum Anstoß seines Überstiegenwer- und konstituiert das Spannungsfeld des Heldendramas. dens wird, damit ein Nicht-Seiendes als Signifikat gesetzt werden kann“ (Iser 366) und die „gegenstandunfähig sind und 17 Was Hans Blumenberg als die Schwierigkeit bezeichnet, daher unabhängig von Sprache keine Existenz als Objekte den Mythos zu Ende zu bringen: „Grenzbegriff der Arbeit haben“ (Iser 369). Der Held hat keine Existenz außerhalb am Mythos wäre, diesen ans Ende zu bringen, die äußerste des Erzählens und des Sprechens über ihn. Das Heroische Verformung zu wagen, die die genuine Figur gerade noch haftet sich im Modus der mythischen Narration an eine Figur, oder fast nicht mehr erkennen lässt.“ (Blumenberg 295) Trotz in der seine imaginäre Bedeutung zum Ausdruck kommt. Der der akkuraten Daten und Fakten, die in den Text eingear- Held verkörpert im wörtlichen Sinne das Heroische. Auf dem beitet sind, bleibt Hansens Narrativ ebenso unwiderlegbar semantischen Überschuss der imaginären Bedeutung des (vgl. Blumenberg 298) wie andere Erzählungen über Jesse Heroischen beruht „der appellative und affektive Charakter, James. Er fügt dem Mythos also nur einen weiteren Mosaik- stein hinzu.

helden. heroes. héros. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination

18 Nach Blumenberg kann dies als Teil des festen narra- Lawson, W. B. Jesse James, Rube Burrows & Co. A thrilling 77 tiven Kerns des Mythos beschrieben werden (vgl. Blumen- story of Missouri. The Jesse James Stories. Original Nar­ berg 40). ratives of the James Boys, No. 7. New York, NY: Street & Smith, 22.6.1901. Lichtblau, Eric und Motoko Rich. „N. R. A. Envisions ‚a Good Guy With a Gun‘ in Every School.“ The New York Times, 21.12.2012. 18. September 2014. . Blumenberg, Hans. Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Münkler, Herfried. „Heroische und postheroische Gesell- Suhrkamp, 2006. schaften.“ Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Brant, Marley. Jesse James. The Man and the Myth. New Denken. 61.8–9, 2007: 742–752. York, NY: Berkley Trade, 1998. McMurtry, Larry. Lonesome Dove. New York, NY: Pocket Cassirer, Ernst: Vom Mythus des Staates. Übs. Franz Books, 1986. Stoessl. Hamburg: Meiner, 2002. 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helden. heroes. héros. Andreas J. Haller

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Abb. 1: Death Photo of Jesse James (Postkarte). Jesse James Home, St. Joseph, MO.

helden. heroes. héros. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination

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Abb. 2: Bob Ford (Postkarte). The Historical Association, St. Joseph, MO.

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