Debattenbeiträge zu ein Blick von innen heraus 3 – Politik, Wirtschaft, ISRAEL Gesellschaft & Kultur Debattenbeiträge zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft & Kultur ein Blick von innen

ISBN 978-3-948250-18-8 heraus 3 ISRAEL ein Blick von innen heraus 3

Debattenbeiträge zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft & Kultur

Inhalt

Zur Einführung 5

I Hegemonie IV Ökonomie

Hin zur linken Hegemonie in Israel 9 Gewerkschaften in Israel: 73 Dani Filc die Geschichte der Chemicals Ziv Adaki In der Mitte angekommen: Israels radikale Rechte 15 Ran Yosef Cohen Die doppelte Instrumentalisierung 81 ausländischer Pfeger*innen in Israel Idit Lebovitch-Shaked II Land V Perspektiven Wem gehört das Land? 31 Landbesitz und Ungleichheit in Israel Gadi Algazi Süd- – Hinterhof einer Hightechstadt 91 Tsafrir Cohen & Einat Podjarny Westbank: das System der Landnahme 39 Dror Etkes „Es kann sein, dass wir verlieren, aber es lohnt 99 sich zu kämpfen.“ Dov Khenin im Gespräch Aufnahmekomitees als Mittel zur 49 Netta Ahituv Aufrechterhaltung der Segregation Fadi Shbita Die Bühne als ethische Anstalt: 105 Interview mit Theaterregisseurin Ofra Henig Tali Konas

III Waffen Die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel: 110 eine dreifache Funktion

Waffenexporte: das Geschäft mit dem Krieg 57 Unsere Partner vor Ort: eine Auswahl 112 Sahar Vardi Glossar 116 Schusswaffen in Israel: Realität, Politik 65 und feministische Kritik Impressum 120 Rela Mazali & Meisa Irshaid

Zur Einführung

Mit einem dritten Reader dieser Art, einer Auswahl von Texten von unserer Webseite, möchten wir einer interes- sierten deutschsprachigen Öffentlichkeit erneut einen Ein- blick in die Verfasstheit der israelischen Gesellschaft und in innerisraelische Diskurse ermöglichen: in ungerechte Verhältnisse und in erfolgreiche und weniger erfolgreiche Kämpfe um eine bessere Welt. Natürlich sind wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung bewusst parteiisch, doch es ist uns ein Anliegen, unterschiedli- che Perspektiven aufzuzeigen. Folglich fnden sich in al- len unseren Veröffentlichungen linksliberale und linksradi- kale, zionistische, postzionistische und nicht zionistische Standpunkte sowie gewerkschaftsnahe und akademische Stimmen nebeneinander. Die zur Sprache kommenden Positionen entsprechen deshalb nicht unbedingt denen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dafür können Sie auf die- sen Seiten eine wachsende Zahl israelischer Autor*innen kennenlernen, die die Pluralität des progressiven Israels widerspiegeln. Die letzten eineinhalb Jahre waren geprägt von drei auf- einanderfolgenden Wahlgängen, über die wir auf unserer Webseite www.rosalux.org.il eingehend berichtet haben, sowie von der Corona-Krise. Diese nutzte Premierminister Benjamin Netanjahu im Frühjahr 2020, um eine neue Koa- lition mit seinem Rivalen Benny Gantz zu schmieden. Zwar ist diese Allianz durch die Beteiligung von Gantz‘ Bündnis Blau-Weiß und die Arbeiterpartei stärker in Israels Mitte verankert als die Vorgängerregierung. Doch nicht nur die vorerst auf Eis gelegten Bestrebungen, Teile des Westjord- anlands völkerrechtswidrig zu annektieren, zeigen, dass sie einem rechtsnationalistischen Diskurs verhaftet bleibt. Wie es Israels radikaler Rechter in den vergangenen Jahren erfolgreich gelang, ihre Weltsicht in der Mitte der Gesellschaft zu verankern, beschreibt der ehemalige Ge- schäftsführer der israelischen Ärzte für Menschenrech- te, Ran Cohen. In seinem Beitrag zeichnet er den Prozess nach, durch den Israels Rechtsextreme den Mainstream erobern konnten. Er identifziert die Akteure und fragt nach ihren Zielen und Strategien ebenso wie nach der Verstri- ckung staatlicher Institutionen in ihren Aufstieg. In einem weiteren Beitrag fragt der Politikwissenschaftler Dani Filc, wie die israelische Linke – dem Beispiel der israelischen Rechten folgend, die Gramscis Strategie des Kampfs um Hegemonie verinnerlicht hat – ein hegemoniales Projekt vorantreiben kann, in dessen Zentrum Demokratie, sozio- ökonomische und politische Gleichheit und ein Ende der Besatzung der Palästinensergebiete stehen. Nicht nur in Israel kann von einer rechten Hegemo- nie gesprochen werden, sondern in unterschiedlichen Staaten weltweit. Eine Folge hiervon ist der Aufstieg Do- nald Trumps zum Präsidenten der USA, dessen Allianz mit Israels Premier Netanjahu den „Deal des Jahrhun- derts“ gebar. Dieser hat zum Ziel, die gegenwärtigen

5 Mechanismen zur Entrechtung der unter Besatzung le- einen Mikrokosmos der Kämpfe, die für Israel richtungs- benden Palästinenser*innen zum international beglaubig- weisend sind, über die Teilung einer Stadt und Spaltung ten Dauerzustand machen. Zwar erscheint eine Umset- einer Gesellschaft, über einen Ankunftsort für Gefüch- zung des Deals zur Zeit unwahrscheinlich, doch knüpft er tete und Migrant*innen, Abschottungspolitik, systemati- an die bisherige Praxis der israelischen Regierungen an, sche Diskriminierung und das progressive Potenzial des mithilfe von Landplanung Palästinenser*innen in dicht be- Hinterhofs Tel Avivs. völkerte Enklaven zu drängen. Der Forscher und Aktivist Eine der wenigen Personen des öffentlichen Lebens in Dror Etkes zeichnet in seinem Beitrag den andauernden Israel, die sich mit all den angeschnittenen Themen be- Prozess der Enteignung palästinensischen Lands zuguns- fasst, ist der ehemalige -Angeordnete Dov Khe- ten israelischer Siedler*innen nach. Solche Prozesse wir- nin. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die Erstellung einer ken nicht nur auf besetztem Gebiet, sondern auch in Isra- Dokumentation über diesen sehr besonderen Menschen el selbst. Während der Historiker Gadi Algazi sich mit der unterstützt. Zwölf Jahre lang begleitete Dokumentarflmer historischen Genese der Verteilung der Landressourcen Barak Heymann diese linke Symbolfgur von der sozialis- zugunsten der jüdischen Mehrheit beschäftigt, zeigt der tischen Chadasch/al-Dschabha. Das Ergebnis ist der Film Aktivist Fadi Shbita anhand der israelischen Institution der „Genosse Dov“, dessen Premiere in Israel mit Khenins Ab- (Siedlungs-)Aufnahmekomitees, wie auch heute noch die schied von der Knesset zusammenfel. palästinensische Minderheit im Land eine strukturelle Un- Schließlich führten wir ein Gespräch mit der Theater- gleichbehandlung erfährt. regisseurin Ofra Henig über politische Kunst, Feminis- Es gibt keinen anderen Weg, eine Besatzung durch- und mus und Machtverhältnisse. Henig ist eine selten inte- umzusetzen, als mit Macht und Gewalt. Die zentrale Rol- gre Künstlerin, die mit jüdischen und palästinensischen le des Militärs in Israel spiegelt sich vielleicht am besten Schauspieler*innen zu hoch politischen Themen zusam- im Erfolg des Landes beim Export von Waffen und Militär- menarbeitet und dabei echte jüdisch-arabische Partner- technologien wider. Dieser, so Aktivistin Sahar Vardi, er- schaft auf Augenhöhe vorlebt – und diese nie missbraucht, folgt ohne Regulierung und Transparenz und führt zu gra- um hieraus politisches Kapital zu schlagen, sondern die vierenden Folgen für Menschenrechte im Ausland, aber Kooperation als natürliches Ergebnis des Lebens in einem auch im Inland. Was Waffen im Inland tatsächlich anrich- Land wie Israel versteht. ten, beschreiben die Aktivistinnen und Forscherinnen Rela Wer auf den Geschmack gekommen ist, ist herzlich ein- Mazali und Meisa Irshaid: Die wachsende Verfügbarkeit le- geladen, unsere Webseite www.rosalux.org.il zu besuchen. galer und illegaler Waffen und die fehlende Durchsetzung Dort behandeln wir viele Themen, die hier zu kurz kommen, von Recht und Ordnung führen zu einer enormen Zunah- seien es soziale Kämpfe oder Israels Platz im und als Teil me von organisierter Kriminalität, Schießereien und inner- des Nahen Ostens. Dazu bieten wir weitere Formate wie familiärer Gewalt. Gesellschaftsreportagen oder feuilletonistische Beiträge. Der vierte Teil dieses Readers befasst sich mit dem Wan- Die Webseite wird fortwährend aktualisiert und ist spezi- del, den der Begriff der Arbeit in den vergangenen Jahr- ell für Leser*innen konzipiert, die keine Expert*innen sind. zehnten durchlaufen hat. Darin formuliert die Publizistin Dort fnden Sie ebenfalls ein ausführliches Glossar, Quel- Ziv Adaki eine linke Kritik an dem Versuch, die israelische lenangaben und weiterführende Lektüreempfehlungen, Arbeiterschaft in einer Institution zu vereinen. Anhand der die diese Publikation ergänzen. Wir freuen uns übrigens Geschichte des Werks von Haifa Chemicals wird so der auf Ihr Feedback, etwa über Facebook oder per E-Mail. Niedergang des legendären israelischen Gewerkschafts- Schließlich möchten wir uns bei folgenden Personen dachverbands der Histadrut und der vielversprechende bedanken: Bei Ursula Wokoeck Wollin, die nicht nur aus Aufstieg einer alternativen Gewerkschaft beschrieben. dem Hebräischen übersetzte, sondern die Texte mit An- Jene neoliberalen Globalisierungs- und Privatisierungs- merkungen und Erklärungen für die deutschsprachigen prozesse, die den Niedergang der Histadrut beschleunig- Leser*innen ergänzt hat; bei Daniel Ziethen, der eine vi- ten, zogen in Israel und weltweit tiefgreifende Veränderun- suelle Sprache für unsere Webseite entwickelt hat, unse- gen der Arbeitswelt nach sich – die durch die weltweite re Arbeit engagiert begleitet und zusammen mit Schro- Corona-Pandemie weiter beschleunigt werden. Dass nicht- eter & Berger für die sehr besondere Gestaltung dieser jüdische Migrant*innen seit den 1990er Jahren ihren Weg Veröffentlichungsreihe verantwortlich zeichnet; bei un- auf den israelischen Arbeitsmarkt fnden, ist eine Folge serem Berliner Berater Yossi Bartal; beim großartigen hiervon. Im letzten Jahr standen sie im Licht der Öffent- Fotograf*innenkollektiv Activestills und für ihre tatkräfti- lichkeit, als Hunderte von Migrant*innen samt ihrer in Is- ge Unterstützung bei unseren Kolleg*innen Tamar Almog, rael geborenen Kindern des Landes verwiesen werden Hana Amoury und Yifat Mehl sowie bei Natascha Holstein sollten. Die Migrationsexpertin Idit Lebovitch-Shaked be- und Stephan Wolf-Schönburg. schreibt, wie damit ein Prekariat entstanden ist, das so- wohl rechtlich als auch bei den Arbeitsbedingungen deut- Mit solidarischem Gruß, lich benachteiligt ist. Tsafrir Cohen, Einat Podjarny und Tali Konas vom Migrant*innen aus Asien oder Gefüchtete aus Subsaha- Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung ra-Afrika fnden häufg ihren Weg nach Süd-Tel Aviv, dem wir eine Liebeserklärung widmen. Es ist ein Essay über August 2020, Tel Aviv

6 I HEGEMONIE

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Hin zur linken Hegemonie in Israel

Dani Filc Israels Rechte hat Gramscis Strategie des Kampfs um Hegemonie verinnerlicht. Es ist an der Zeit, dass die israelische Linke ein hegemoniales Projekt vorantreibt – in dessen Zentrum Demokratie, sozioökonomische und politische Gleichheit und ein Ende der Besatzung stehen.

Antonio Gramsci Gestaltung: Daniel Ziethen

9 Die israelische Politik war in den letzten Jahren von ei- zurückschreckt. Dies macht unter anderem die gegenwärti- nem Rollentausch geprägt. Die Organisationen der Neuen ge Krise der Linken in Israel aus – es ist folglich sehr wich- Rechten haben die Schlüsselkonzepte der kritischen The- tig, dass diese sich hiermit auseinanderzusetzt. orie verinnerlicht und versucht zu „enthüllen“, dass wis- senschaftliche und kulturelle Institutionen in Israel im Ge- heimen politische Ziele verfolgen. Dabei beziehen sie sich Das Konzept der Hegemonie wurde von Antonio Grams- auch auf die von Gramsci entworfene politische Strategie ci entwickelt. Kulturelle und ideologische Hegemonie ist des Kampfes um Hegemonie. Im Gegensatz dazu vertre- dann erreicht, wenn ein bestimmtes Modell der gesell- ten die linken und kritischen liberalen Kräfte in Israel eine schaftlichen Organisation als selbstverständlich erachtet konservative Sichtweise, die eine solche Politisierung ab- wird. Die damit verbundenen Ansichten werden als „na- lehnt. Infolgedessen konzentrieren sich viele gemeinnützi- türlich“ wahrgenommen und fnden Ausdruck in allen Tei- ge Organisationen auf moralische Verurteilung, die Aufde- len der Gesellschaft, in den Institutionen, im Privatleben, ckung von Unrecht und die Anrufung von Gerichten, um in der Moral und der Kultur. Zum Beispiel wurde dadurch, gegen die Organisationen der Neuen Rechten vorzugehen. dass der neoliberale Kapitalismus eine hegemoniale Stel- Damit vermeiden sie eine Diskussion über Machtstruktu- lung erlangte, eine Situation geschaffen, in der die Markt- ren. Es sind diese Handlungsmuster, die der gegenwärti- wirtschaft in ihrer heutigen Form den meisten Menschen gen Krise der Linken in Israel zugrunde liegen. als die einzig logische Organisationsweise des Wirtschafts- 2019 erhielt die Dokumentation „Lea Tsemel, Anwältin“ lebens erscheint und Marktgesetze quasi als Naturgeset- auf dem internationalen Filmfestival Docaviv, das seit 2015 ze behandelt werden. in Tel Aviv stattfndet, den Preis für den besten Film. Der Die Tatsache, dass ein Gesellschaftsmodell als „natürlich“ Film porträtiert die jüdisch-israelische Menschenrechtsan- oder selbstverständlich erscheint, bedeutet nicht, dass He- wältin Lea Tsemel, die vor allem dadurch bekannt wurde, gemonie das Ergebnis von Manipulation ist, bei der eine dass sie palästinensische politische Gefangene vertritt. Als böse Elite die törichten Massen verführt. Hegemonie ent- die Bewegung und andere radikal rechte Organi- steht dann, wenn es zu Allianzen kommt und das gesell- sationen eine Kampagne gegen die Preisverleihung star- schaftliche Modell nicht nur den zentralen Interessen der teten, entschied sich die staatliche Lotteriegesellschaft, gesellschaftlichen Gruppe oder der Gruppen entspricht, künftig die Finanzierung der Festivalpreise einzustellen. die das hegemoniale Projekt und die Allianzen anführen, Dies wurde zu Recht als Kapitulation gesehen und in lin- sondern zumindest auch ansatzweise den Interessen an- ken und liberalen intellektuellen Kreisen erwartungsge- derer Gruppen, die das Modell als Teil eines sogenannten mäß scharf kritisiert. Während jedoch Im Tirtzu den Film historischen Blocks stützen. In dieser Hinsicht basiert je- wegen seiner politischen Aussage angriff, bestritten Lin- des hegemoniale Projekt auf einer Art Bündnis zwischen ke und Liberale, dass die Preisverleihung auch eine politi- verschiedenen sozialen Gruppen und damit auch auf der sche Entscheidung war. Sie beriefen sich stattdessen auf Bereitschaft der herrschenden Gruppe, einen Konsens zu die allgemeinen liberalen Prinzipien der Meinungs- und suchen und die notwendigen Kompromisse einzugehen, künstlerischen Freiheit sowie auf meritokratische Vorstel- um schwächere Gruppen für ihre Zwecke mobilisieren zu lungen von künstlerischer Exzellenz. So schrieben die Ver- können. einigungen der Künstler*innen und der Kulturschaffen- Jedes hegemoniale Modell der gesellschaftlichen Orga- den sowie das Forum der Kulturinstitutionen: „Der von nisierung ist durch alternative Modelle bedroht. Die Gesell- der staatlichen israelischen Lotterie vergebene Preis prä- schaft ist eine Arena, in der das hegemoniale Gesellschafts- miert hervorragende Leistungen im Bereich Dokumentar- modell und alternative Projekte, die andere Interessen und flm und nicht die juristische oder politische Arbeit, die in Ansichten vertreten, aufeinanderstoßen. Jedes Modell ver- dem Film dokumentiert wird.“ sucht, eine bestimmte Lebens- und Denkweise zur domi- Die Leitung der Lotterie hat zwar ihre Entscheidung, nanten zu machen und als die bestmögliche für alle dar- Docaviv die Preisgelder zu streichen, vor Kurzem zurück- zustellen. Daher ist Hegemonie nicht nur ein vollendeter genommen, aber die Angelegenheit zeigt eine beunruhi- Zustand, sondern ein Prozess, ein ständiges Ringen um gende politische Entwicklung an: Die Organisationen der die Durchsetzung eines bestimmten Gesellschaftsmodells Neuen Rechten haben Schlüsselkonzepte der neo- und zulasten anderer Modelle bzw. darum, den Status quo zu postmarxistischen kritischen Theorie, die das „Natürliche“ erhalten. Der Begriff Konsens verweist zum einen auf den und das gesellschaftlich Selbstverständliche politisieren, Umstand, dass das hegemoniale Projekt zumindest teil- insbesondere Antonio Gramscis Begriff der Hegemonie weise mit den Interessen vieler gesellschaftlicher Gruppen und Pierre Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals, auf- verbunden ist, zum andern auf das Vorhandensein einer gegriffen und nutzen sie für ihre politischen Aktivitäten. Reihe von Mechanismen, welche die wesentlichen Merk- Die Liberalen und die kritische Linke in Israel dagegen ig- male des hegemonialen Projekts in „natürliche“ verwan- norieren diese völlig in ihrer Analyse und bei der Ausarbei- deln: das Bildungssystem, die Medien, religiöse und kul- tung ihrer Positionen. Die Neue Rechte hat nicht nur diesen turelle Institutionen, Kunstschaffende und laut Gramsci kritischen Diskurs übernommen. In den letzten 15 Jahren sogar die städtische Architektur. In Fällen, in denen kein haben rechte Organisationen auch ganz praktisch ein he- Konsens erlangt werden kann, greifen gesellschaftliche gemoniales Projekt im Sinne Gramscis verfolgt, während Gruppen, deren Interessen in dem hegemonialen Modell sowohl die liberale als auch die radikale Linke vor jedem überhaupt nicht berücksichtigt werden, häufg auf das Versuch, ihre politische Macht auf diese Weise aufzubauen, Mittel Gewalt zurück.

10 Kulturelles Kapital, eine der drei Kapitalsorten, die der andere ihrer Angriffe auf Institutionen und Organisation in Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt (die beiden ande- den letzten zehn Jahren zu. Im Fall der staatlichen Lotte- ren sind ökonomisches und soziales Kapital), ist zentraler rie war die von Im Tirtzu in den Medien ausgelöste Diskus- Bestandteil jedes hegemonialen Projekts. Laut Bourdieu sion wichtiger als die Frage der Finanzierung des Docaviv- dient kulturelles Kapital den höheren gesellschaftlichen Preises. Solche Angriffe verschieben die Grenzen dessen, Schichten als quasi-religiöse Rechtfertigung ihrer Privile- was als legitime öffentliche Diskurse und allgemein akzep- gien. Dadurch, dass bestimmte kulturelle Phänomene in tierte Werte gilt, das heißt die Grenzen des politisch und „Kapital“ verwandelt werden (können), bilden sie eine so- gesellschaftlich Selbstverständlichen. Das ist das grund- ziale Kraft. Dies verwandelt die Privilegien der dominanten legende Ziel eines jeden hegemonialen Projekts. Gruppen im hegemonialen „historischen Block“ in „natür- Der Angriff von Im Tirtzu auf den Dokumentarflm „Lea liche“ Gegebenheiten. Die Akkumulation von kulturellem Tsemel, Anwältin“ ist in der Tat nur eine von zahlreichen Kapital und seine Weitergabe von Generation zu Genera- Aktionen, die als Teil einer umfassenden Strategie der Neu- tion werden als Meritokratie verkauft, da ihre Mystifzie- en Rechten verstanden werden können. Dahinter steht rung bzw. Verschleierung von entscheidender Bedeutung nicht nur die Im-Tirtzu-Bewegung und es betrifft nicht nur für ihre Wirksamkeit sind. So werden in kapitalistischen die Frage, was im Bereich der Film- und Kulturproduk- Gesellschaften bevorzugt meritokratische Argumente ver- tion erlaubt sein soll und was nicht. Wie von dem Sozio- wendet, um die ungleiche Verteilung von Ressourcen und logen Shlomo Swirski beschrieben, dient das neoliberale Macht zu rechtfertigen: Bestimmten Gruppen „steht es zu“, nationalistische Projekt den Interessen zweier Eliten: de- mehr zu verdienen oder einen größeren Teil des gesamt- nen des Kapitals und denen der Besatzer. Die Neue Rech- gesellschaftlichen Vermögens zu besitzen, weil sie angeb- te ist bestrebt, ihre politische Dominanz durch kulturel- lich feißiger, unternehmerischer, talentierter oder kreativer le und ideologische Hegemonie zu festigen, und sie geht sind. Die Vorteile, die sie aus asymmetrischen Machtver- dabei geordnet and systematisch vor. Sie hat im Gegen- hältnissen und Ungleichheiten ziehen, werden durch die satz zur Linken die volle Bedeutung des Hegemoniekon- Behauptung gerechtfertigt, dass diejenigen, die diese ge- zepts verstanden und es sich angeeignet. Es handelt sich nießen, außergewöhnlich qualifziert sind, und dass die dabei nicht um ein allmächtiges Monster, das die Men- Kultur, die sie schaffen und konsumieren, „qualitativ be- schen einfängt und zu seinen Marionetten macht, wie das sonders hochwertig“ ist. Aus diesem Grund „gebühren ih- von kritischen Autor*innen oft dargestellt wird. Bei dem nen“ bestimmte Privilegien. Projekt der Rechten handelt es sich vielmehr um einen langwierigen Kampf, der darauf aus ist, für ein bestimm- tes Gesellschaftmodell einen Konsens herbeizuführen und Der strategische Angriff von Im Tirtzu und anderen radi- es damit auf Dauer zu stellen. Zu dieser Strategie gehört, kal rechten Gruppen auf Kulturinstitutionen, Hochschulen alle Alternativen zu diskreditieren und die Argumente der und zivilgesellschaftliche Organisationen zielt darauf ab, Kritiker*innen als „Wahnvorstellungen“ zu präsentieren. das neoliberale nationalistische Projekt in Israel zu stär- In den letzten zehn Jahren hat sich die nationalistische ken und durch Angriffe auf die Machtzentren des libera- Rechte intensiv mit der systematischen Entwicklung ver- len Modells als hegemonial zu etablieren. Gleichzeitig ver- schiedener Mechanismen und Instrumente befasst, die suchen diese rechten Gruppierungen, den Status und die maßgeblich für die Erlangung von kultureller und ideo- Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften sowie logischer Hegemonie sind. Hierzu gehört die Arbeit von die kulturellen Hierarchien und die politischen Grundlagen, Thinktanks wie die des konservativen Forschungsinstituts auf denen sie beruhen, infrage zu stellen, um das ihnen Kohelet Policy Forum und des Institute for Zionist Stra- inhärente hegemoniale Potenzial zu schwächen und um tegies, die erfolgreich nationalistische Argumentations- sie zu delegitimieren. Dies geschieht zum Beispiel mithilfe muster mit neoliberalen Politikansätzen verbinden sowie von Aktionen, die sich gegen die Zuordnungen bestimm- Kader von Intellektuellen und Redner*innen aufgebaut ha- ter kulturelle Werke als besonders oder weniger wertvoll ben, die entsprechende Thesen und Forderungen vertre- wenden und die diesen zugrunde liegenden Annahmen ten. Hierzu zählen ideologische Verstärker wie die für eine über Qualität und Ästhetik bezweifeln. Damit wollen die breite Öffentlichkeit bestimmte Tageszeitung Israel HaYom Organisationen der Neuen Rechten herausstellen, dass und die Zeitschrift Schilo’ach; darüber hinaus Workshops sich aus akademischem Wissen und aus diesen Hierar- und Bildungsprogramme, aus denen junge Menschen her- chien kulturelles Kapital schlagen lässt und dieses auch vorgehen, die die Botschaften der Neuen Rechten beredt für politische Zwecke eingesetzt wird. und selbstbewusst in die Welt hinaustragen. Viele von ih- Attacken gegen kritische kulturelle Institutionen, Univer- nen können nach Abschluss ihres geisteswissenschaftli- sitäten und linke Organisationen nützen dem nationalisti- chen Studiums an der Universität von Tel Aviv geschliffen schen Projekt und fördern dessen hegemonialen Bestre- über kulturelles Kapital und Gramscis Hegemoniekonzept bungen, ungeachtet ihrer Auswirkungen im konkreten Fall. parlieren. Ein Großteil dieser Aktivitäten wird von der in Sie sind Medienereignisse, die den öffentlichen Diskurs den USA ansässigen Stiftung Tikvah Fund fnanziert, die verändern. Obwohl zum Beispiel die Leitung der staatli- die militante und kompromisslos nationalistische Agenda chen Lotterie ihre Entscheidung, den Docaviv-Preis nicht von „gesellschaftlich konservativen“ Kreisen in Israel un- weiter zu fnanzieren, zurückgenommen hat, waren die terstützt. Aber es gibt auch andere Förderer. Rechten mit ihrer öffentlichen Skandalisierung der Preis- Neben der ideologischen Infrastruktur und den intellek- verleihung politisch erfolgreich. Dies trifft auch auf viele tuellen Kadern fnden sich aktivistisch ausgerichtete rechte

11 Organisationen wie Im Tirtzu, die es als ihre Aufgabe be- Warum tendiert das untergehende liberale Projekt dazu, trachten, mit Kampagnen wie der gegen die staatliche seinen politischen Charakter zu leugnen? In erster Linie Lotterie „Skandale“ zu produzieren und damit öffentliche deshalb, weil der Liberalismus generell dazu neigt, sich als Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Diese Organisationen vorpolitisch zu betrachten, und als solcher tendiert er dazu, werden von Politiker*innen und anderen Persönlichkeiten die Grundlagen und Grenzen jedes politischen Raums zu des öffentlichen Lebens unterstützt, die diesen Botschaf- bestimmen. Deshalb neigt er dazu, den politischen Cha- ten der Neuen Rechten noch eine größere Resonanz ver- rakter seiner eigenen Grundlagen zu leugnen. Die Über- schaffen (können). zeugung, dass verschiedene gesellschaftliche Bereiche Wie jedes hegemoniale Projekt ist auch das neue natio- – Wirtschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft, Sport etc. – ge- nalistische Projekt in Israel intensiv darum bemüht, dass trennt voneinander und autonom sind und gemäß jeweils Neue Rechte in die Mainstream-Medien gelangen. Ihr eigenen spezifschen Kriterien operieren, ist ein zentraler Kampf enthält auch einen „Stellungskrieg“ (den Gramsci Punkt der liberalen Weltanschauung. als wichtigen Teil des Kampfs um Hegemonie beschrieben Es lässt sich mit Recht behaupten, dass jedes Gesell- hat), der darauf abzielt, jene Institutionen zu erobern, in schaftsprojekt davon ausgeht, dass es Grundwerte gibt, denen sich die Überreste eines alternativen liberalen Pro- deren Gültigkeit eine Voraussetzung für den politischen jekts verschanzt haben – der Oberste Gerichtshof, einige Kampf ist und nicht dessen Ergebnis. Aber die Frage ist, Medien und Hochschulabteilungen. welche Werte das sind. Die Grundannahmen des Liberalis- mus – die Annahme, dass die Gesellschaft auf einem Ver- trag zwischen Individuen beruht; die Überzeugung, dass Im Gegensatz zu der eindrucksvollen Entschlossenheit der es voneinander getrennte und unabhängige Bereiche so- Neuen Rechten, sich einen immer größeren gesellschaftli- zialen Handelns gibt; die Vorstellung, dass sich Kunst und chen Einfuss zu sichern, ignorieren die Linksliberalen in Is- Politik, Sport und Politik, Wirtschaft und Politik nicht ver- rael – sowohl die, die Teil des Mainstreams sind, als auch die mischen sollen; die Annahme, dass der Staat neutral ist radikaleren – in ihrer Arbeit die Machtstrukturen. Ein Teil der und seine Beamten in erster Linie nach professionellen Linken ist in der liberalen Illusion gefangen, dass der Staat Standards handeln – befördern eine Entpolitisierung. Im neutral ist oder neutral sein kann und dass Institutionen wie Gegensatz dazu steht die demokratische, republikanische Gerichte, Hochschulen und kulturelle Einrichtungen nur von Tradition, die davon ausgeht, dass alle das Recht haben rein „professionellen“ Kriterien bestimmt werden, die sie als sollten, an den sozialen Arrangements und Institutionen, Ausdruck der „Wahrheit“ sehen – der juristischen Wahrheit, die das gemeinsame Leben der politischen Gemeinschaft, der künstlerischen Wahrheit und dergleichen. In der gro- der wir angehören, gestalten, gleichberechtigt mitzuwir- ßen Entrüstung vieler Liberale über die Entscheidung der ken. Diese Annahme politisiert das gesellschaftliche Le- staatlichen Lotterie, sich dem Druck rechter Organisationen ben, weil damit die zentrale Rolle der politischen Partizi- zu beugen, spiegelt sich im Grunde ihre Weigerung wider, pation betont wird. die Machtverhältnisse anzuerkennen, die hinter rein „pro- fessionellen“ Entscheidungen stehen, insbesondere, wenn sie sich im Einklang mit liberalen Werten befnden. Darin Die Angriffe der rechten Organisationen als Angriff auf die zeigt sich, dass sie die Rolle von Kultur bei der Durchset- „Wahrheit“ oder als Angriff auf die Freiheit bzw. Unabhän- zung eines hegemonialen Projekts unterschätzen und die gigkeit der Kunst und Wissenschaft zu interpretieren ist Tatsache ignorieren, dass kulturelle Institutionen auf kultu- nicht nur ein analytischer Fehler, sondern auch ein „Re- rellem Kapital basieren und kulturelles Kapital schaffen. Die zept“ für strategisches Scheitern. Die Tatsache, dass sich Vorstellung, dass verschiedene gesellschaftliche Bereiche die rechten Organisationen der politischen Grundlagen zu trennen sind, dass Kunst und Politik oder Sport und Po- ihres Kampfs bewusst sind, während dies bei den libera- litik nicht vermischt werden sollten, ignoriert die institutio- len und linken Kräften nicht der Fall ist, ist für die rechten nellen Rahmenbedingungen, die es Kulturschaffenden er- Organisationen von großem Vorteil. Es erleichtert ihnen, möglichen, aus ihrem Tun kulturelles Kapital zu schöpfen. die letzten Überreste des alternativen hegemonialen Pro- Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Wahrneh- jekts hinwegzufegen und ihr neues hegemoniales Projekt mung der politischen Rahmenbedingungen von Wissen- umzusetzen. schaft und Kultur nicht bedeutet, alle menschlichen Hand- Während sich die nationalistische Rechte ganz darauf lungsbereiche auf Politik zu reduzieren. Trotz der wichtigen konzentriert, auf der Grundlage von Gramscis Konzept Rolle, die der Kultur in hegemonialen Kämpfen und beim Macht aufzubauen, bleiben die Liberalen und Linken in Isra- Erwerb von kulturellem Kapital zukommt, sind mitnichten el einer Agenda verhaftet, die auf moralische Verurteilung, alle Beurteilungskriterien auf die politischen Machtverhält- „Aufdeckung der Wahrheit“ und Klagen vor dem Obersten nisse reduzierbar: So gibt es erkenntnistheoretische Krite- Gerichtshof setzt. In einer Situation, in der es kaum mehr rien, die es ermöglichen, die Richtigkeit oder Plausibilität eine politische Opposition gegen die Besatzung gibt und von Behauptungen in den Sozial- und Geisteswissenschaf- diese für die jüdische Gesellschaft in Israel zur Normali- ten zu beurteilen, so wie es ästhetische Kriterien gibt, die tät geworden ist, leisten zivilgesellschaftliche Organisatio- es ermöglichen, Kunst zu bewerten. Diese Kriterien sind nen wie Breaking the Silence, Yesh Din, B’Tselem, Physi- jedoch nicht „naturgegeben“, sondern beruhen auf einem cians for Human Rights Israel und das Public Committee komplexen institutionellen Gefüge im Spannungsfeld von Against Torture in Israel wichtige Arbeit, weil sie weiter- Machtverhältnissen. hin auf die Missstände der Besatzung hinweisen. Diese

12 Aktivitäten können jedoch nicht als Grundlage für den Auf- ethnisch-nationalistischen Fassung – wie sie von „gemä- bau von Macht und die Formierung eines „historischen ßigteren“ Kräften vertreten wird wie etwa Benjamin Ne- Blocks“ dienen, der ein alternatives gegenhegemoniales tanjahu und Miri Regev (Likud), Avigdor Lieberman (Unser Projekt zu dem neoliberalen nationalistischen verfolgen Zuhause Israel), oder Verteidigungsminister könnte. Statt Macht aufzubauen und zu kämpfen, geben (Neue Rechte) – ist es antidemokratisch, die Liberalen und Linken Machtpositionen auf, treten zum weil es auf der totalen Negierung des Gleichheitsgrund- Beispiel aus Protest von Ämtern zurück, was moralisch lo- satzes und der Schaffung von ethnonationalen und Klas- benswert sein mag, aber Raum und Einfuss neoliberalen senhierarchien basiert. Es gibt keine Demokratie ohne die nationalistischen Kräften überlässt. Solche Aktionen und Akzeptanz des Grundsatzes der vollen rechtlichen Gleich- Aktivitäten, so wichtig sie auch sein mögen, sind kein Er- heit und des Rechtes aller Bürger*innen, an der Festle- satz für eine politische Strategie, die gezielt eine Alterna- gung der Gesetze, die das gemeinsame Leben bestimmen, tive zum neoliberalen nationalistischen Projekt vorantreibt. mitzuwirken. Beiden Varianten des neoliberalen nationa- Der einzige Weg, um die Dominanz des neoliberalen na- listischen Projekts ist nicht mit einem Diskurs über „die tionalistischen Projekts zu brechen, besteht darin, (Gegen-) Wahrheit“ oder mit rein rationalen Argumenten beizukom- Macht aufzubauen, neue Institutionen und Organisationen men. Es ist stattdessen notwendig, (Gegen-)Macht aufzu- herauszubilden und auf jedem denkbaren Feld der gesell- bauen und Instrumente und Mechanismen zu entwickeln, schaftlichen Auseinandersetzung einen „Stellungskrieg“ um ein alternatives linkes hegemoniales Projekt voranzu- zu führen. Nur so kann systematisch ein hegemoniales treiben, dem die Prinzipien Demokratie sowie wirtschaftli- Gegenprojekt zum neoliberalen nationalistischen Projekt che, soziale und politische Gleichheit zugrunde liegen, was geschaffen werden – eine demokratische und auf Gleich- ein Ende der Besatzung notwendigerweise miteinschließt. berechtigung ausgerichtete Alternative, die nicht auf ei- nem engen liberalen Verständnis beruht. Bei Vorfällen wie Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin der Streichung der Gelder für den Docaviv-Preis sollten wir darauf verzichten, empört über die Politisierung der Ent- Der Artikel wurde auf Hebräisch scheidung zu sein und damit zu einer weiteren Verschlei- im Dezember 2019 in der Zeitschrift erung der Machtverhältnisse beizutragen. Vielmehr käme HaZman HaZeh veröffentlicht. es darauf an, in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass es sich nicht um einen Konfikt zwischen „reiner Entschei- Dani Filc ist Professor für Politikwissen- dung“ und „politischer Einmischung“ handelt, sondern schaften an der Ben-Gurion-Universität des um einen offenen politischen Machtkampf zwischen zwei Negev und forscht über Populismus in Israel und in anderen Teilen der Welt. Er grundlegend verschiedenen Weltanschauungen. gehört dem nationalen Koordinationsteam Die Organisationen der Neuen Rechten propagieren eine und dem Sekretariat der Bewegung antidemokratische Vision der jüdischen Vorherrschaft, eine „Standing Together“ an. antipluralistische Vision, die allen Andersdenkenden die Meinungsfreiheit abspricht, eine Vision der Heiligung des sozialen Egoismus, der Rücknahme sozialstaatlicher Errun- genschaften und der politisch-ökonomischen Herrschaft durch eine Allianz, die sich aus Eliten des Kapitals und der Besatzung zusammensetzt. Ihre Angriffe auf kulturel- le Werke oder akademische Arbeiten sind ein Werkzeug, um ihre Vision zu verwirklichen. Dieser Schreckensvision muss wegen ihres Inhalts entgegengetreten werden und nicht, weil sie „professionelle Standards“ oder die „Auto- nomie“ des Kulturbetriebs verletzt. Ein solcher Kampf, der sich des politischen Charakters von akademischem und kulturellem Wissen bewusst ist, sollte die spezifschen Werte eines Kunstwerks oder eines wissenschaftlichen Seminars hervorheben und verteidigen und sich nicht nur zum Fürsprecher einer abstrakten „akademischen Freiheit“ oder der Forderung nach „Nichteinmischung in professi- onelle Entscheidungen“ machen. Das neoliberale nationalistische Projekt ist durch und durch ein antidemokratisches. In seiner theokratischen Ausprägung – wie sie zum Beispiel von nationalreligiö- sen Eiferern wie Verkehrsminister Bezalel Smotrich, Bil- dungsminister Rafael Peretz und dem Rechtsaußenpo- litiker Mosche Feiglin vertreten wird – ist das Projekt antidemokratisch, weil die Quelle der Autorität bzw. Sou- veränität nicht das Volk ist, sondern die Stimme Gottes, wie sie von den Rabbinern interpretiert wird. In seiner

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In der Mitte angekommen: Israels radikale Rechte

Ran Yosef Cohen Dieser auf umfangreicher Recherche basierende Beitrag geht der Frage nach, wie Israels radikale Rechte den Mainstream erobert und erfolgreich nach Hegemonie strebt. Wer sind die Akteure? Was sind ihre Ziele und welche ihre Strategien? Und wie eng sind sie mit staatlichen Strukturen verwachsen?

Demonstration von rechten Israelis in der Nähe von Bethlehem in Reaktion auf die Entführung von israelischen Jugendlichen, 2014. Foto: Activestills

15 Die extreme Rechte hat es mit ihrem kruden Weltbild in Arena in Israel und polarisiert die israelische Gesellschaft den letzten 20 Jahren geschafft, ins Zentrum des politi- wie nie zuvor. schen Diskurses in Israel vorzudringen. Die zentristischen Im Folgenden werde ich versuchen, einen kurzen, nicht und rechten Parteien, insbesondere der führende Likud, unbedingt vollständigen Überblick zu den dominanten haben entscheidende Elemente davon aufgegriffen und rechten Kräften sowie zum Vorgehen der rechtsextremen übernommen. Die zunehmende Dominanz von Ideen, die Siedlerbewegung zu geben, mit dem sie sich ihren Weg in Israel früher als inakzeptabel und eher als bedauerliche in den israelischen Mainstream geebnet haben. Randerscheinungen galten, kann auf verschiedene exter- ne und interne Faktoren zurückgeführt werden. Zum ei- nen wären da auf globaler Ebene der Aufstieg des Popu- Machtaufbau lismus, die Wirtschaftskrise 2008 und die als Bedrohung wahrgenommenen Auswirkungen der weltweiten Migrati- Das Eindringen der extremen Rechten ins Zentrum des onsbewegungen zu nennen, zum anderen auf lokaler Ebe- Mainstreams in Israel geht einher mit dem umfangreichen ne die gewalttätige Zweite Intifada und der Abzug israe- Aufbau von Forschungseinrichtungen und Aktionsgruppen, lischer Truppen und Siedler*innen aus dem Gazastreifen die in der Regel auf eine massive Finanzierung aus den USA im Jahr 2005. Dass Ideen der extremen Rechten ins po- angewiesen sind. Es existieren inzwischen enge Beziehun- litische Zentrum gelangen, hängt jedoch auch damit zu- gen zwischen diesen Institutionen bzw. Initiativen und dem sammen, dass diese sich gezielt dem Kampf um ideologi- politischen Establishment. Nach Angaben des Forschungs- sche und kulturelle Hegemonie sowie dem Machtaufbau instituts Molad konnten sich diese Gruppen „als die stärks- verschrieben haben: einerseits mit einer Fülle von Akti- te Lobby in Israel in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil vitäten, die eine politische Lösung des israelisch-palästi- etablieren, bedenkt man, dass die Siedler*innen [in der nensischen Konfikts durch den Aufbau eines Palästinen- Westbank, ohne Ost- – R.C.] nur 4,6 Prozent serstaats neben Israel erschweren, wenn nicht gänzlich der israelischen Gesellschaft ausmachen“. verhindern; andrerseits durch Bestrebungen, einen tief Dieser Prozess hin zu einer hegemonialen Stellung folgt greifenden Wertewandel im Land zu forcieren – hin zu ei- einem bekannten Schema: Auf den Ausbau eines umfas- ner Gesellschaft, in der das Individuum der Nation unter- senden Netzwerks von Forschungsinstituten, die Strategi- geordnet ist und erst durch die Anbindung an die Nation en vorgeben sowie Positionspapiere und Gesetzesentwürfe seinen eigentlichen Lebenssinn erlangt, in der Landbesitz ausarbeiten, folgen „aktivistische“ Organisationen, von de- heilig ist und jedes Opfer dafür als gerechtfertigt erscheint nen sich jede auf bestimmte Themen spezialisiert hat. Sie und in der ihre Interpretation religiöser jüdischer Werte ei- schaffen damit eine effektive Infrastruktur für die Medien- nen höherer Stellenwert einnimmt als jede zivilgesellschaft- und Lobbyarbeit, mit der sie bestimmte Inhalte und For- liche bzw. demokratische Einordnung. derungen in den öffentlichen Diskurs einspeisen können. Die rechtsextreme Siedlungsbewegung verfolgt ihre Zie- Hinzu kommt die gezielte Ansiedlung von kleinen religiö- le mit verschiedenen Mitteln: Das erste ist der weitere Aus- sen Gruppen1 mitten in säkular geprägten Wohnvierteln, bau des Siedlungsprojekts, mit oder ohne offzielle Billi- die dort eine religiös-nationalistische Agenda lancieren. Zu- gung der israelischen Regierung. Zusätzlich agieren im dem bauen die Rechten neue Medien zur Beeinfussung öffentlichen Raum verschiedene Gruppen, die ununterbro- der öffentlichen Meinung auf. All diese Elemente verfol- chen demokratische Institutionen angreifen, eine scharfe gen ein gemeinsames Ziel und bestärken sich gegenseitig. politische und soziale Polarisierung fördern, Oppositionel- In den letzten 20 Jahren kam es zur Gründung von Dut- le als fünfte Kolonne brandmarken und eine breit ange- zenden Institutionen und Organisationen, die die politische legte Kampagne zur Diskreditierung der arabisch-paläs- und zivilgesellschaftliche Landschaft in Israel grundlegend tinensischen Staatsbürger*innen Israels und der Linken verändert haben. Diese „bildeten neue Führungskräfte aus, (in Israel werden auch Liberale häufg als Linke bezeich- formulierten politische Strategien, lancierten Gesetzesin- net) anführen. Diese Gruppen schaffen nach und nach ein itiativen, drängten rechte Politiker*innen in die von ihnen spezifsches öffentliches Bewusstsein, in dem alle, die es gewollte Richtung und bestimmen die Tagesordnung in wagen, das Regime zu kritisieren oder abzulehnen, sei Israel“, schreibt Molad. Zu den bekanntesten gehören die es eine Person oder eine Organisation, als Verräter abge- folgenden: die studentische Bewegung Im Tirtzu, NGO- stempelt werden. Monitor, Israel Academia Monitor, Ad Kan (widmet sich Als weitere Strategien vonseiten der Rechten sind zu nen- der Bespitzelung von Menschenrechtsaktivist*innen und nen: die Etablierung eines Narrativs, das das linke Lager Dozent*innen und skandalisiert die Geldquellen von lin- beschuldigt, jüdische Israelis zu benachteiligen und den ken Gruppierungen und Menschenrechtsorganisationen), „palästinensischen Feind“ zu bevorzugen, offene Angriffe Regavim, Women in Green, My Israel (engagiert sich vor auf das Justizsystem, die Medien und zivilgesellschaftliche allem online für die Annexion der besetzten Gebiete), Is- Organisationen, die Brandmarkung der Linken als auslän- rael Land Fund, Fund for Nurturing the Zionist Idea, Ho- dische Agenten, unermüdliche Bemühungen, das Vertrau- rizon for Settlement (erwirbt Land in der Westbank und en der Öffentlichkeit in demokratische Institutionen und unterstützt den Ausbau von Siedlungen), Shomron Re- Werte zu untergraben, und eine massive, gut organisier- sidents’ Committee und Benjamin Residents’ Commit- te Hetzkampagne gegen alle Akteure, die die rechte Re- tee (beide verstehen sich als Interessenvertretung der gierung und insbesondere das Siedlungsprojekt infrage Siedler*innen), The Jewish Statesmanship Center, Insti- stellen. All dies ist inzwischen Bestandteil der politischen tute for Zionist Strategies, das Jerusalem Center for Public

16 Affairs, das Kohelet Policy Forum (Training von Führungs- Die Wiederauferstehung des Kahanismus kräften und Ausarbeitung von Strategien), Meshilut: The Movement for Governability and Democracy, Legal Forum Bei den letzten Wahlen konnte beobachtet werden, wie for the Land of Israel (führt Gerichtsverfahren und vertritt die rassistische Ideologie des Kahanismus wie nie zuvor an eine extreme neoliberale Agenda) und My Truth (Organi- politischer Legitimität gewinnt. Die kahanistische Bewe- sation von Reservist*innen, die sich eigens gegen die be- gung hat ihren Ursprung in der vom US-amerikanischen satzungskritische Reservisten-Organisation Breaking the Rabbiner Meir Kahane gegründeten und angeführten Jü- Silence gebildet hat). dischen Verteidigungsliga und in der -Partei. Die Be- Die umfangreiche Konsolidierung dieses Netzwerks aus wegung vertritt folgende Positionen: Sie befürwortet die rechten Organisationen wird begleitet von einer engen Zu- Zwangsumsiedlung aller Palästinenser*innen außerhalb sammenarbeit mit politischen Entscheidungsträger*innen, des Heiligen Landes, sie glaubt an die jüdische Suprema- die Aktivist*innen dieser Organisationen bereits in politi- tie, fordert Kollektivstrafen für Palästinenser*innen und un- sche Schlüsselpositionen und Regierungsämter gehievt terstützt terroristische Racheaktionen. Aufgrund dieser Po- haben. Auch umgekehrt funktioniert der Austausch. Erez sitionen wurde die Bewegung zu den Knesset-Wahlen im Tadmor, der Gründer von Im Tirtzu, wurde zum Wahl- Jahr 1988 nicht zugelassen und 1994 sogar zu einer ter- kampfeiter der Regierungspartei Likud, während Sagi roristischen Vereinigung erklärt, nachdem einer ihrer Ak- Kaizler, der vorher als Geschäftsführer des Shomron Re- tivisten, Baruch Goldstein, ein Massaker verübt hatte, bei sidents’ Committees fungierte, für den Likud eine Kam- dem er 29 muslimische Gläubige beim Gebet am Grab der pagne zur Senkung der Wahlbeteiligung der arabischen Be- Patriarchen in Hebron erschoss. völkerung durchgeführt hat. Ayelet Shaked, die von 2006 In der Vergangenheit achteten sowohl linke als auch bis 2008 das Büro von Premierminister Benjamin Netan- rechte Politiker*innen darauf, sich von der kahanistischen jahu leitete, und Naftali Bennett, der in diesen Jahren Ne- Bewegung fernzuhalten und ihre Ablehnung von - tanjahus Stabsleiter war, gründeten 2010 die Organisa- ner Kahanes Ideen und Reden zum Ausdruck zu bringen. tion My Israel. Danach sind sie in die Politik gegangen Während seiner Zeit als Knesset-Abgeordneter hielt Ka- und haben Ministerposten bekleidet.2 Bezalel Smotrich, hane seine Reden häufg vor leerem Plenarsaal, weil Ab- einer der Gründer der Organisationen Regavim, Komemi- geordnete des gesamten politischen Spektrums aus Pro- yut und Horizon for Settlement, ist heute Verkehrsminister. test den Raum verließen, um ihre Abscheu gegenüber den Nach einem Bericht der Policy Working Group war Profes- von ihm vertretenen Positionen zu zeigen. Aber wie be- sor Gerald Steinberg, Gründer und Präsident von NGO- reits erwähnt, kehrte die kahanistische Ideologie im Zuge Monitor, vorher Mitglied des Führungsstabs im Büro des der Wahlen 2019 in Israel auf die politische Bühne zurück, Premierministers und Berater des Außenministeriums so- als Premierminister Netanjahu seine Haltung gegenüber wie des dem Premierminister unterstellten Nationalen Si- den Vertreter*innen der Bewegung drastisch änderte und cherheitsrats. Laut Bericht ist das erklärte Ziel von NGO- öffentlich für einen Zusammenschluss der kahanistischen Monitor, „Transparenz und Rechenschaftspficht in Bezug Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) mit anderen extre- auf die Tätigkeiten von Nichtregierungsorganisationen“ zu men rechten Parteien wie der Nationalen Union und Ha- stärken, aber jahrelange Erfahrungen zeigen, dass es das Bajit HaJehudi (Jüdisches Heim) eintrat. ultimative Ziel von NGO-Monitor ist, die Regierungspo- Was hat dazu geführt, dass der Kahanismus wieder po- litik zu verteidigen, die dazu beiträgt, die israelische Be- litische Legitimität in Israel erlangt hat, 25 Jahre nachdem satzung und Kontrolle über die palästinensischen Gebie- die Bewegung zu einer terroristischen Vereinigung erklärt te aufrechtzuerhalten.3 Ran Baratz, Gründer der rechten worden war? Nach dem Verbot der Bewegung begannen Webseite Mida, und Yoaz Hendel, Vorsitzender des Insti- ihre Aktivist*innen, eine neue organisatorische und struk- tute for Zionist Strategies, waren zu verschiedenen Zeiten turelle Infrastruktur aufzubauen – diesmal als ein loses PR-Berater von Premierminister Netanjahu. Assaf Malach, Netzwerk von verschiedenen Verbänden und Gruppierun- Gründer des Jewish Statesmanship Center, wurde zum gen. Die neuen Arbeitsstrukturen ergaben sich erzwunge- Vorsitzenden des Ausschusses für das Fach Staatsbür- nermaßen aus dem politischen Verbot, führten aber dazu, gerkunde im Bildungsministerium ernannt. Praktisch be- dass die Vermittlung von kahanistischen Ansichten nun un- deutet diese Entwicklung eine graduelle Übernahme von ter dem Deckmantel von gemeinnützigen Organisationen, Machtzentren im Justizsystem, in anderen staatlichen Ins- religiöser Bildung und der Bekämpfung von Assimilation titutionen und Regierungsämtern durch die Rechte sowie (sprich Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdi- die Einbeziehung rechtsextremer Siedler*innen in zentra- schen Partner*innen) geschieht. Die geografsche Verteilung, le politische Entscheidungsprozesse. die Vielzahl der Organisationen und Körperschaften, die un- Im Laufe der Jahre und durch kontinuierliche Aufbauar- zureichenden staatlichen Kontrollmechanismen sowie die beit hat diese Infrastruktur es demokratiefeindlichen Grup- Möglichkeiten, relativ problemlos Spenden im In- und Aus- pierungen ermöglicht, Dominanz zu erlangen, viele politi- land zu sammeln – all dies hat es der Bewegung ermöglicht, sche Machtzentren effektiv unter ihre Kontrolle zu bringen nicht nur trotz des offziellen Verbots zu gedeihen, sondern und in bislang beispielloser Weise die mediale und politische auch weitere gesellschaftliche Kreise zu erreichen und ihre Tagesordnung zu beeinfussen. Neben dieser öffentlichen Lehre zu verbreiten, mitunter sogar mit direkter oder indi- Infrastruktur arbeitet das extreme rechte Lager daran, ein rekter fnanzieller Unterstützung staatlicher Institutionen. Netzwerk von verschiedenen Schattenorganisationen aufzu- So wurde etwa im Jahr 1999 die Organisation Hemla bauen, die hinter den Kulissen rechte Kampagnen begleiten. (Barmherzigkeit) gegründet. Gemäß der bei der Registratur

17 für gemeinnützige Organisationen eingereichten Erklärung So half der Ansatz der Auffächerung in offzielle ge- verfolgt Hemla Ziele wie Hilfe für Bedürftige (Verteilung von meinnützige und andere Organisationen den ehemaligen Kleidung, Unterstützung bei der Gewährung von Krediten Mitgliedern der kahanistischen Bewegung, wieder in die etc.). Hinter der Gründung der Organisation standen be- Öffentlichkeit zurückzukehren, ihre Stellung zu festigen, kannte kahanistische Aktivist*innen der verbotenen Kach- Unterstützer*innen zu rekrutieren und in einem langsamen, Partei. Der Deckmantel der Gemeinnützigkeit erlaubte es aber systematischen Prozess ihre Botschaften unter ver- den Mitgliedern der Organisation, sich vom Etikett des Ka- schiedenen Namen an diverse Zielgruppen zu vermitteln. hanismus zu befreien, während sie gleichzeitig Aktivitä- Wie bereits erwähnt, erfolgte die endgültige Legitimierung ten kahanistischen Charakters nachgehen. So unterstütz- der Rückkehr des Kahanismus in den rechten Mainstream te Hemla etwa im Jahr 2002 den Kach-Aktivisten Baruch durch Premierminister Netanjahu bei den Wahlen im Ap- Ben-Yosef fnanziell, der just zu dieser Zeit einen Verein ril 2019, als dieser sich erfolgreich um ein Zusammenge- mit dem Ziel gründete, das Verbot von Kach aufzuheben. hen der kahanistischen Partei Otzma Jehudit mit anderen Ben-Yosef wird übrigens bis heute vom FBI als Hauptver- rechten Parteien wie der Nationalen Union und Jüdisches dächtigter eines Mordanschlags gegen einen palästinen- Heim bemühte. Obwohl kein Mitglied der kahanistischen sischen Friedensaktivisten in Kalifornien gesucht. Der Vor- Partei in die Knesset gewählt wurde, war schon die Kandi- sitzende von Hemla fungierte gleichzeitig auch als Direktor datur der Partei, die vom Premierminister umworben und der von Rabbiner Meir Kahane zur Verbreitung seiner Lehre unterstützt wurde, ein großer Erfolg und hat ihr einen res- gegründeten religiösen Hochschule ( of the Jewish pektablen Platz in der israelischen politischen Arena ver- Idea). Außerdem scheint Ben-Zion (Bentzi) Gopstein, eine schafft. Vor den Parlamentswahlen im März 2020 scheiter- zentrale Figur in Hemla, eine führende Rolle in einer ande- ten die Verhandlungen über eine gemeinsame Wahlliste ren prominenten kahanistischen Organisation zur Bekämp- mit den anderen rechtsextremen Parteien. Otzma Jehudit fung von Assimilation, nämlich Lehava, zu spielen. Leha- tritt nun separat an. vas Aktivist*innen sind dafür bekannt, dass sie arabische Männer bedrohen, die verdächtigt werden, partnerschaft- liche Beziehungen zu jüdischen Frauen zu haben. Ihre Ak- Die „Price-Tag-Strategie“ tionen waren so gewalttätig, rassistisch und extrem, dass der damalige Verteidigungsminister Mosche Jaalon (da- „Price Tag“ ist ein Oberbegriff für Gewalttaten und Terror- mals Likud) im Jahr 2015 die Rechtsabteilung seines Mi- angriffe, die in der Regel von Siedler*innen als Reaktion nisteriums prüfen ließ, ob Lehava zu einer terroristischen auf palästinensische Angriffe oder auf den Abriss von Sied- Vereinigung erklärt werden kann. Trotz ihrer offensichtli- lerinfrastruktur durch die israelische Polizei oder Armee chen kahanistischen Grundlagen erhielt die Organisation verübt werden. Diese Aktionen richten sich hauptsächlich jahrelang Hunderttausende Schekel vom Ministerium für gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in der West- soziale Angelegenheiten,4 um sich um junge Frauen in Not- bank. Autos, Gebäude und Felder werden in Brand gesetzt, lagen zu kümmern – wobei es sich um Frauen handelt, die Menschen tätlich angegriffen. Nach mehr als einem Jahr- die Lehava-Aktivist*innen angeblich aus ihren Beziehun- zehnt solcher immer wiederkehrenden Aktionen lässt sich gen mit arabischen Männern „gerettet“ haben. sagen, dass die bedeutendste Errungenschaft dieser Prak- Neben Hemla und Lehava entstand ein weit verzweig- tiken darin besteht, dass sie ein „Gleichgewicht des Terrors“ tes, kaum überschaubares Netzwerk von sowohl offziel- gegenüber den staatlichen Institutionen geschaffen haben. len als auch inoffziellen gemeinnützigen Organisationen, Die Botschaft dieser Aktionen ist klar: Die Siedler*innen die unter dem Deckmantel von Hilfs-, Wohltätigkeits- und (oder zumindest ein Teil von ihnen) werden die Entschei- Bildungsaktivitäten Kahanismus und rechtsextreme Posi- dungen der Regierung und der Justiz nicht akzeptieren, tionen verbreiten und fördern. In der jüdischen Siedlung sondern diesen mit Gewalt, einschließlich Terroranschlä- in Hebron zum Beispiel betreibt ein bekannter Kach-Akti- gen, begegnen. Indem die „Price-Tag-Aktivist*innen“ so vist mehrere gemeinnützige Vereine, die unter anderem bedrohlich auftreten, beeinfussen sie den öffentlichen Dis- Kontakte mit Soldaten, die in der Siedlung dienen, pfegen kurs: Jeder künftige Versuch, Siedlungen im Rahmen ei- und sie bewirten. Diese Aktivitäten machten Schlagzeilen ner Lösung des israelisch-palästinensischen Konfikts zu im Zuge der Hebron-Affäre im März 2016, in der sich he- räumen, scheint nicht realisierbar, da er unkontrollierbare rausstellte, dass der Soldat Elor Azaria, der einen schwer- Gewalt, ja einen Bürgerkrieg auslösen würde. verwundeten am Boden liegenden palästinensischen An- Während viele es vorziehen, „Price Tag“ als spontane Ak- greifer erschoss, von diesem Kach-Aktivisten indoktriniert tionen von Aktivist*innen zu bewerten, die als „Wildwuchs“ worden war. bezeichnet werden, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, Eine andere gemeinnützige Organisation namens Fund dass dahinter ein präziser strategischer Plan steckt, der in- to Save the People of Israel wurde beim Registrar einge- direkt mit Geldern der israelischen Steuerzahler*innen f- tragen und begann, Gelder für Lehava zu sammeln; und nanziert wird. Diese gewalttätigen Praktiken tauchten 2008 eine nicht eingetragene Basisorganisation namens Chas- zum ersten Mal unter diesem Namen auf, drei Jahre nach dei Meir [Kahane] unterstützt mit ihrer Arbeit die „Hilltop der Umsetzung des sogenannten Entfechtungsplans. Im Youth“, 5 indem sie etwa ganze Ziegenherden für sie er- Rahmen dieser groß angelegten Maßnahme zog Israel sei- wirbt und die Pfanzung von Bäumen um illegale Außen- ne Truppen aus dem Gazastreifen und aus einigen Orten posten herum fördert, um die jüdische Inbesitznahme des im Norden der Westbank ab und räumte 25 Siedlungen, Landes voranzutreiben. in denen 9.300 Siedler*innen lebten. Das Unvermögen der

18 Rechten, die Räumung zu verhindern, war ein traumati- Lod ein außergewöhnliches Urteil gegen einen Minderjäh- sches Ereignis für die Siedler*innen und veränderte ihre rigen, dem eine Reihe von gegen Araber*innen verübte Weltanschauung. Eine Studie über die Auswirkungen der Straftaten vorgeworfen wurden, darunter die Beteiligung „Entfechtung“ auf den religiösen Zionismus zeigt, dass an einer Verschwörung zum Mord beim Brandanschlag sie unter anderem das Vertrauen in die politische Führung in Duma – ein im Jahr 2015 verübter Terroranschlag, bei unterminierte, die Einstellung gegenüber staatlichen Insti- dem Molotowcocktails in ein Wohnhaus in dem palästi- tutionen änderte und den Anteil derer erhöhte, die bereit nensischen Ort Duma geworfen wurden. Durch das ent- sind, „gewaltsame Methoden im Kampf gegen den Staat standene Feuer starben das dort wohnende Ehepaar Da- zu verwenden“.6 wabsheh und ihr 18 Monate alter Sohn. Das Urteil ist eines Die Frustration nach der „Entfechtung“ sowie die stei- der seltenen zugänglichen Dokumente, die beschreiben, gende Bereitschaft zum gewaltsamen Kampf veranlass- wie sich eine Gruppe rechter Aktivist*innen zusammen- ten einige führende Persönlichkeiten der Bewegung, einen gefunden und – in der Terminologie des Gerichts – als ter- aktiven Ansatz zu verfolgen, um künftig Räumungen von roristische Vereinigung gehandelt hat. Die Aktivitäten der Siedlungen zu verhindern – nämlich die Androhung von Gruppe basierten auf ideologischen Texten, in denen fest- Gewalt gegen die israelischen Sicherheitskräfte. 2008 un- gehalten ist, dass der Staat „Schwachstellen“ habe, die terstützte der damalige Vorsitzende des staatlichen Kom- es auszunutzen gilt, etwa durch das Anzetteln von Unru- munalrats der Siedlungen von Samaria die Gründung des hen am Tempelberg, durch Aktionen, die sich gegen die Shomron [Samaria] Residents‘ Committee mit fnanziellen jüdisch-arabische Koexistenz richten, oder Forderungen, Zuwendungen vonseiten des Rats. 2010 wurde ein weite- dass religiöse Regeln auch im öffentlichen Raum Anwen- rer Verein, die gemeinnützige Organisation der Siedlungen dung fnden sollen. Ziel sei es, „all diese Pulverfässer an- von Benjamin (die in der Öffentlichkeit als Benjamin Resi- zuzünden […] durch die Untergrabung staatlicher Institu- dents’ Committee bekannt ist), mit Unterstützung des Vor- tionen bis zu einem Punkt, an dem die Juden entscheiden sitzenden des staatlichen Benjamin-Regionalrats gegrün- müssen, ob sie eine Revolution oder die Revolte unterdrü- det. Der Vorsitzende des Benjamin Residents’ Committee cken wollen“. Diese Terrororganisation hat jedoch keinen war einer der Ersten, die den Begriff „Price Tag“ verwen- offziellen oder öffentlich bekannten Namen, und die von deten. Bereits 2008 sagte er: „Die Erfahrung zeigt, dass ihr begangenen Gewalttaten werden von der israelischen man Erfolg hat, wenn man gewalttätig und rücksichts- Öffentlichkeit lediglich als Teil einer Serie von Gewalttaten los ist und nicht versucht, [durch Worte] zu überzeugen, im Rahmen der sogenannten Price-Tag-Aktionen gesehen. sondern einfach die Regierung auf die Knie zwingt, dann An solchen Aktivitäten Beteiligte wurden bislang nur sel- hat man Erfolg […] alles hat seinen Preis, und der israeli- ten öffentlich verurteilt, vielmehr konnten einige von ihnen sche Staat muss sich überlegen, ob er bereit ist, die Kon- bedeutende Stellen im Regierungsapparat besetzen. 2019 sequenzen zu tragen.“ wurde besagter Vorsitzender des Benjamin Regional Coun- Die Siedlerkomitees (Residents’ Committees), die hinter cil zum Berater des Verteidigungsministers in Siedlungs- der Entwicklung und Förderung der „Price-Tag-Strategie“ angelegenheiten ernannt. Der Mann, unter dessen Adres- stehen, wurden über Jahre weitgehend aus öffentlichen se das Shomron Residents’ Committee registriert ist, ist Mitteln fnanziert. Laut in der Zeitung Ye d i o t h A h r o n o t h jetzt Vorsitzender des Samaria Regional Council, und der veröffentlichten Rechercheergebnissen sowie einer Stu- ehemalige Geschäftsführer des Shomron Residents’ Com- die des Forschungsinstituts Molad7 erhielt das Shomron mittee leitete 2019 die Wahlkämpfe des Likud und ließ un- Residents' Committee in den Jahren 2008 bis 2013 mehr ter anderem in Wahllokalen in arabischen Ortschaften ver- als 6,5 Millionen Schekel [ca. 1,5 Millionen Euro] vom Sa- steckte Kameras installieren. maria Regional Council. Das Benjamin Residents’ Com- mittee wiederum erhielt in den Jahren 2010/11 mehr als zwei Millionen Schekel [ca. 500.000 Euro] vom Benjamin Der Kampf für eine Änderung des Status Regional Council. Die Vorsitzenden des Shomron Resi- quo am Tempelberg/al-Haram al-Scharif dents‘ Committee ziehen es zwar vor, dieses als „unab- hängig und nicht an das Establishment gebunden“ zu prä- Die heiligen Stätten auf dem Tempelberg und die Frage sentieren, aber das ist Augenwischerei. Ähnlich wie die der israelischen Souveränität dort gehören zu den komple- Entwicklung des Netzwerks der kahanistischen Organisa- xesten und sensibelsten Themen im Staat Israel. Sie füh- tionen, die als gemeinnützige Hilfs- und Wohltätigkeitsor- ren zu ständigen Spannungen mit der palästinensischen ganisationen auftreten, scheint hier die Undurchsichtig- Bevölkerung sowie mit der arabischen und muslimischen keit Image- und PR-Zwecken zu dienen, um zu verhindern, Welt. Aktionen, um es Jüdinnen und Juden zu ermögli- dass die gewalttätigen und illegalen Aktivitäten mit den chen, auf den Tempelberg bzw. in den Haram al-Scharif Regional Councils in Verbindung gebracht werden – ob- zu kommen, und um den Bau des dritten jüdischen Tem- wohl die Regional Councils die Siedlerkomitees unterstüt- pels zu fördern, begannen in sehr kleinem Ausmaß be- zen und mitunter deren einziger Geldgeber sind. reits in den 1980er Jahren. Sie wurden aber lange Zeit als Im Laufe der Jahre hat die Zahl der „Price-Tag-Aktionen“ Randproblem, als das Anliegen einer Handvoll Verrückter zugenommen, und was als Versuch, die Räumung von angesehen. Im letzten Jahrzehnt haben wir diesbezüg- Außenposten zu verhindern, begann, ist zu einer gegen lich einen dramatischen Wandel erlebt. Die Tempelberg- Palästinenser*innen gerichteten Praxis geworden. Ende Ok- Bewegung hat stark an Dynamik gewonnen, und es hat tober 2019 fällte das Amtsgericht in der israelischen Stadt sich mit der Zeit ein gefestigtes Narrativ herausgebildet,

19 wonach die Kontrolle über den Tempelberg ein Symbol is- Rechts auf Religionsausübung für Juden auf dem Tem- raelischer Souveränität darstellt. Die zunehmende Fokus- pelberg (Human Rights on Temple Mount), Bestrebungen, sierung auf dieses Thema ermöglicht es der religiösen ext- „den Tempelberg aus Feindeshand zu erobern“ und „zu ju- remen Rechten, die Option auf einen auf jüdischem Recht daisieren“ (Temple Mount is Ours: The Headquarters for beruhenden Staat (statt eines „jüdischen und demokrati- the Rescue of the Nation and the Temple), Studium der re- schen Staats“) im öffentlichen Diskurs offenzuhalten. Da- ligiösen Gesetze des Tempels und der Opferdienste (The mit fießt auch das Vorhaben der extremen Rechten, Israel Temple Studies at Mitzpeh Yericho, Yeshivat Torat Habayit, zu einem nach jüdischem Recht regierten Staat zu machen, the Temple Mount Yeshiva), Herstellung der heiligen Ge- sowohl auf der praktischen als auch auf der symbolischen fäße für die Tempelriten (The Temple Institute – Home for Ebene in den öffentlichen Diskurs ein. Die Bestrebungen, the Hebrew Artisan, Machon Maasei Habayit) sowie Schu- dieser ursprünglich marginalen Idee in der politischen lungen und Verbreitung von Informationen über den Tem- Mitte Israels Akzeptanz zu verschaffen, waren so erfolg- pel (Mikdasha Education Center).8 Während viele der hier reich, dass Premierminister Netanjahu sich mehrmals ge- erwähnten Tempel-Organisationen nach einer gemeinsa- zwungen sah, Minister*innen und Knesset-Abgeordneten men Direktive arbeiten und ihre Kräfte vereinen, um das den Besuch auf dem Tempelberg aufgrund der Gefahr ge- Endziel, nämlich den Bau des dritten Tempels, zu errei- walttätiger Zusammenstöße zu verbieten. In der Zeitung chen, was die Zerstörung der heiligen Stätten des Islams Makor Rishon veröffentlichten Daten zufolge stieg die Zahl voraussetzt, ist die Politik der staatlichen Stellen ihnen ge- der jüdisch-israelischen Besucher*innen auf dem Tempel- genüber von inneren Widersprüchen gekennzeichnet. Ei- berg von 5.658 im Jahr 2009 auf 35.695 im Jahr 2018, also nerseits erlauben und unterstützen die Behörden mitunter um mehr als das Sechsfache. sogar die Aktivitäten der Tempelberg-Bewegung. Anderer- Gemäß des akzeptierten Status quo ist das Gelände des seits versuchen sie, vor allem aus Sicherheitsgründen ihre Tempelbergs (al-Haram al-Scharif) ein Bereich für musli- Aktivitäten einzudämmen und zu lenken. mische Gläubige, während die angrenzende Klagemau- Staatliche Institutionen tragen zum Beispiel zur Intensi- er Jüdinnen und Juden vorbehalten ist. Nun berufen sich vierung der Aktivitäten der Tempelberg-Bewegung dadurch viele der Tempelberg-Aktivist*innen auf die Religionsfrei- bei, dass sie mit einzelnen Organisationen zusammenarbei- heit, wenn sie fordern, den Status quo zu ändern und Jü- ten und es ihnen ermöglichen, sich als gemeinnützig re- dinnen und Juden den Zugang zum Tempelberg zu ge- gistrieren zu lassen und Spenden zu sammeln. Nach dem währen. Allerdings ist unverkennbar, dass hinter diesen Bericht von Ir Amim sind 19 solcher gemeinnützigen Orga- Bemühungen, den Status quo am Tempelberg zu verän- nisationen eingetragen, außerdem gibt es noch Dutzende, dern, außer religiös-messianischen Aspirationen auch kla- die nicht offziell gemeldet sind. Dass der Staat es Orga- re politische Interessen stehen. Diese zielen darauf ab, die nisationen, die öffentlich erklären, sich für die Errichtung Symbolik und Heiligkeit des Orts zu nutzen, um interreli- des dritten Tempels einzusetzen, erlaubt, sich als gemein- giöse Konfikte auszulösen sowie den Status der Muslime nützige Organisationen zu registrieren, ist nicht selbstver- auf dem Tempelberg zu untergraben. Manche wollen so- ständlich. Im Jahr 1971 hatte der Generalstaatsanwalt es gar die heiligen Stätten des Islams zerstören, damit dort der damaligen Regierung noch untersagt, die Gründung der dritte jüdische Tempel errichtet werden kann, in der einer „Association for the Construction of the Temple in Erwartung, dass dies den Charakter Israels grundlegend Jerusalem“ (Verein zur Errichtung des Tempels in Jerusa- verändern und dieser zu einem auf jüdischem religiösen lem) zu erlauben. Er begründete seine Entscheidung unter Recht beruhenden Staat werden würde. anderem damit, es bestehe die Gefahr, dass „die Naivität Auf ähnliche Art und Weise, wie die rechtsextreme Sied- von Menschen in Israel und im Ausland ausgenutzt wird, lungsbewegung ihre Macht gezielt aufgebaut hat und wie um Geld für etwas zu sammeln, zu dem Menschen weder ehemalige Kach-Mitglieder daran arbeiten, den Kahanis- berechtigt sind, noch in der Lage, es zu tun“. mus zu popularisieren, schaffte es die extreme Rechte Zudem fnanzieren staatliche Institutionen die Tempel- auch bei der Tempelberg-Frage, diese mithilfe des kumu- berg-Bewegung direkt. So erhielt etwa das Temple Insti- lativen Effekts der Aktionen Dutzender von Organisatio- tute9 zwischen 2008 und 2017 vom Kulturministerium ins- nen, Bewegungen und Vereinen, die sich hierfür einsetzen, gesamt mehr als 1,6 Millionen Schekel [ca. 400.000 Euro] zu einem Thema des politischen Mainstreams zu machen. und das Mikdash Education Center vom Bildungsministe- Jede dieser Organisationen arbeitet daran, einen bestimm- rium zwischen 2008 und 2018 insgesamt um die 2,8 Milli- ten Teilaspekt herauszustellen und bestimmte Forderun- onen Schekel [ca. 700.000 Euro].10 2010 veranstaltete die gen zu propagieren. Zusammengenommen haben ihre Ak- Abteilung für Tora-Kultur der Jerusalemer Stadtverwaltung tionen den Effekt, dass sie damit zunehmend den Diskurs eine riesige Konferenz in Jerusalem, deren Programm eine des Mainstreams bestimmen. Präsentation enthielt, in der an der Stelle des Felsendoms Ein Bericht der Organisation Ir Amim zur Tempelberg- der dritte Tempel auftauchte. Bewegung gibt eine Übersicht zu den wichtigsten in die- Auch das Ministerium für Bildung arbeitet mit der Tem- sem Feld aktiven Organisationen, geordnet nach ihren zen- pelberg-Bewegung zusammen. Es ermöglicht diesen Or- tralen Forderungen: Errichtung des dritten Tempels (The ganisationen, ein breiteres Publikum zu erreichen und ihre Temple Institute, The Movement for Temple Renewal, The extremistisch-messianische Agenda in die Lehrpläne der Temple Treasury Trust, Women for the Temple), Förderung Schulen einzubringen. Das Mikdash Education Center, das des Tempels oder des Tempelbergs als Kulturzentrum Isra- der Union der Seminare für jüdische Studien im Ministe- els (Mount Faithful, El Har Hamor), die Realisierung eines rium für Bildung untersteht, führt Bildungsprogramme in

20 Schulen durch. Zusätzlich zum jährlichen Budget fnan- einen anderen Teilaspekt zu bearbeiten scheint, viele von ziert das Ministerium ihm acht Planstellen für Frauen, die ihnen unter einem unverdächtigen Label wie Bildung, Auf- Zivildienst leisten. Das Temple Institute, das das Mikdash klärung oder Religionsfreiheit. Dieser Deckmantel ist von Education Center gegründet und die Unterrichtseinheit großem Nutzen, um das Thema im Mainstream zu plat- entwickelt hat, veröffentlicht regelmäßig Bildmaterial, in zieren und mit staatlichen Institutionen zusammenzuar- dem die heiligen Stätten des Islam auf dem Tempelberg beiten. Im Ergebnis stärkt dies das politische und öffentli- wegretuschiert wurden. Der Leiter des Instituts ist Rab- che Engagement für das Thema und die Aufmerksamkeit, biner Yisrael Ariel, ein bekannter Kahanist, der in der Ver- die rechtsextreme Positionen im gesellschaftlichen Main- gangenheit bei Knesset-Wahlen auf Listenplatz zwei der stream erhalten. Kach-Partei kandidierte. In einem Interview mit der Zeitung Makor Rishon machte Rabbiner Ariel seine Ansichten über die heiligen Stätten des Islam deutlich, als er sagte: „So- Die Demokratie schwächen und den bald wir eine Milliarde Schekel [ca. 250 Millionen Euro] demokratischen Raum einengen zusammenhaben, werden wir einen glorreichen Tempel bauen und den Felsendom verschwinden lassen. Es gibt Eine weitere bedeutende Kampagne, die von rechtsextre- sogar einige Rabbiner, die sagen, dass man diese Gebäu- men Siedler*innen initiiert und dann von Regierungsstel- de stehen lassen und als Teile des Tempels verwenden len übernommen worden ist, verfolgt die Schwächung kann. Ich persönlich bin nicht dieser Ansicht […] innerhalb rechtsstaatlicher Strukturen. Dies ist ein gewaltiger Kampf, eines Monats ist das Gebäude zerlegt.“ der von Dutzenden verschiedenen rechtsextremen Akteu- Aktivitäten in Bezug auf den Tempel gibt es ebenfalls ren und Organisationen geführt wird. Das Ziel ist es, Isra- in der religiösen Jugendbewegung Ariel. Auch diese Be- els Charakter und seine demokratisch-liberalen Werte zu wegung, deren Ziel es unter anderem ist, „das Bewusst- verändern. Dafür erscheint es ihnen notwendig, Institutio- sein in Bezug auf den Tempel sowie geistige und prakti- nen, die dem Regierungshandeln und den Rechtsextremen sche Aktivitäten, die den Bau des Tempels näherbringen, Schranken setzen können, zu schwächen. Insbesondere zu stärken“,11 erhält staatliche fnanzielle Unterstützung. geht es um den Obersten Gerichtshof, den viele Rechte Im Zeitraum von 2015 bis 2018 waren das insgesamt fast als Haupthindernis für die Verwirklichung ihrer Ziele se- 14 Millionen Schekel [ca. 3,5 Millionen Euro].12 Eine wei- hen. Daneben lassen sie keine Gelegenheit aus, um linke tere rechtsextreme Organisation namens Students for the oder liberale Kritik an der Regierungspolitik zum Schwei- Temple Mount erhielt eine Genehmigung vom Ministerium gen zu bringen und unliebsame Journalist*innen, Medien, für Bildung, in Schulen im Rahmen eines Programms „zur zivilgesellschaftliche Organisationen und Minderheiten als Förderung des Bewusstseins bezüglich des Tempelbergs“ Staatsfeinde zu brandmarken. zu unterrichten. Viele der in dieser Organisation aktiven Die Liste antidemokratischer Gesetzesvorlagen und In- Student*innen identifzieren sich mit einer anderen rech- itiativen, die in den vergangenen zehn Jahren die Politik ten Bewegung, nämlich Im Tirtzu. Dessen Sprecherin tritt und das Parlament in Israel beschäftigt haben, ist lang: ein als Unterstützerin von Rabbiner Meir Kahane in den sozi- Gesetzesentwurf, der es der Knesset ermöglichen wür- alen Medien auf und ein Teil der Aktivist*innen bezeich- de, Urteile des Obersten Gerichtshofs „außer Kraft zu set- net die heiligen Stätten des Islam auf dem Tempelberg als zen“, wenn diese etwa verabschiedete Gesetze als un- „temporäre Gebäude“. Ein Aktivist der Organisation verteil- vereinbar mit Grundrechten erklären; die Verabschiedung te sogar retuschierte Fotos von einem Schwein auf dem des Nationalstaatsgesetzes, das Israel als Staat des jü- Platz rund um den Felsendom und die al-Aqsa-Moschee, dischen Volks defniert und damit die Ungleichheit und die offenbar Anstoß erregen sollten. Diskriminierung von nicht-jüdischen Staatsbürger*innen Der letzte Schritt, um das Thema im Mainstream zu veran- verfassungsrechtlich festschreibt, das die Wichtigkeit des kern, bestand aus der Zusammenarbeit mit Politiker*innen, Ausbaus der jüdischen Siedlungen in den besetzten pa- die den eigenen Ansichten und Forderungen Legitimität lästinensischen Gebieten betont und den Status der ara- verleihen. Hierfür gibt es viele Beispiele: So besuchte Land- bischen Sprache in Israel herabsetzt; die Initiative, den wirtschaftsminister Uri Arie den Tempelberg, die Kultur- Ausschuss, der Richter*innen ernennt, zu politisieren; ein ministerin bezeichnete diejenigen, die sich für den Tem- Gesetzesentwurf zur Beschränkung der Befugnisse des pel engagieren, als Pioniere, als „die Vorhut des [rechten] staatlichen Rechnungshofes; die Verabschiedung eines Lagers“ und rief die jüdische Bevölkerung dazu auf, in Gesetzes, das gemeinnützige Organisationen dazu ver- Massen auf den Tempelberg zu gehen. Viele Knesset-Ab- pfichtet, Spenden von staatlich fnanzierten Körperschaf- geordnete, vor allem von Likud und Jüdisches Heim, wa- ten aus dem Ausland in jeder Publikation offenzulegen (was ren in den letzten Jahren auf dem Tempelberg. Im Jahr hauptsächlich gegenüber linken Organisationen zur An- 2017 nahm die Tempelberg-Lobby offziell ihre Arbeit in der wendung kommt); eine Verringerung der Zivildienststellen Knesset auf und der stellvertretende Verteidigungsminis- in Menschenrechtsorganisationen; der Vorschlag, einen ter Eli Ben-Dahan spendete dem Temple Institute 50.000 Untersuchungsausschuss einzusetzen, um gegen Men- Schekel [ca. 12.500 Euro]. schenrechtsorganisationen zu ermitteln; die Verabschie- Wie in den anderen Fällen begegnen wir auch hier der dung eines Gesetzes, das denjenigen, die zum Boykott Strategie vom „Wolf im Schafspelz“. Dutzende Organisa- aufrufen, die Einreise nach Israel verwehrt; eine Gesetzes- tionen und Einrichtungen organisieren Aktivitäten zu ei- vorlage zur Begrenzung der öffentlich-staatlichen Förde- nem bestimmten Themenbereich, wobei jede von ihnen rung des Kulturbereichs (richtet sich gegen Projekte, die

21 nicht der eigenen politischen Agenda folgen); Aufagen für Weitere rechte Organisationen wie Regavim, The Legal die Betätigung von (linken und linksliberalen) Organisatio- Forum for the Land of Israel und das Kohelet Policy Fo- nen in Schulen; ein Gesetzentwurf zur Streichung von Mit- rum leisten auch einen bedeutenden Beitrag, wenn es um teln für die Hochschulen, an denen kritische Dozent*innen den Kampf gegen den Rechtsstaat und die „Gatekeeper“ unterrichten, und vieles mehr. der Demokratie geht. Wie vom Forschungsinstitut Molad Auch in diesem Kampf ist die führende Rolle von ex- beschrieben, gelang es zum Beispiel dem Kohelet Policy tremistischen Gruppen deutlich erkennbar. Ein prominen- Forum (ein rechtes Forschungsinstitut, das ein Programm tes Beispiel ist die gemeinnützige Organisation Meshilut: des ökonomischen Libertarismus vertritt), „eine Reihe von Movement for Governability and Democracy. Laut einer in seinem Büro konzipierten Gesetzesinitiativen voranzu- Studie, die in der Zeitung veröffentlicht treiben: die Vorlage zu einem Gesetz, dass es Ministern wurde, gehörten die Gründer*innen dieser Organisation erlaubt, ihnen politisch Nahestehende in Führungsposi- zuvor einer anderen gemeinnützigen Organisation, näm- tionen in ihren Ministerien zu bringen, die ‚Außerkraft- lich Komemiyut – Spirit and Heroism for a Jewish Israel, setzungsklausel‘ sowie andere Gesetzesentwürfe, die auf an, die ungefähr ein Jahr nach der „Entfechtung“ im Ga- eine grundlegende Veränderung des politischen Systems zastreifen gegründet worden war. Einer der Gründer*innen abzielen: mehr Macht für die Exekutive und weniger Kon- ist Bezalel Smotrich, der 2019 zum Verkehrsminister und trollmöglichkeiten für die Judikative“. zum Mitglied des Sicherheitskabinetts13 ernannt worden Der Erfolg der Bestrebungen, das Justizsystem zu schwä- ist. In seiner Vergangenheit gibt es eine dunkle Affäre. chen und zu untergraben, lässt sich nicht zuletzt an seinem Während des Kampfs der Rechten gegen die „Entfech- anhaltenden Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit able- tung“ im Gazastreifen wurde er mit 700 Litern Treibstoff sen. In einer im November 2019 veröffentlichten Umfrage gefasst. Der damalige stellvertretende Leiter des Inlands- gaben 31 Prozent der Befragten an, dass sie nur geringes geheimdiensts Schin Bet, Itzhak Ilan, nahm zu dieser Af- Vertrauen in das System haben, und weitere 32 Prozent färe Stellung und sagte, dass Smotrich „zwar jüdisch ist, sprachen von mäßigem Vertrauen. Das gestörte Verhält- aber dennoch ein Terrorist“. Laut Ilan „wollte er zur Zeit nis zum Rechtssystem wird von abschätzigen Äußerungen der Entfechtung auf dem Ayalon Highway fahrende Fahr- rechter Politiker weiter forciert. So äußerte sich der ehe- zeuge in die Luft sprengen“. malige Knesset-Abgeordnete Moti Yogev (Jüdisches Heim) Die Organisation Komemiyut setzt sich unter anderem über den Obersten Gerichtshof, es sei notwendig, ihn mit dafür ein, die Halacha (religiöses jüdisches Recht) über einem Bulldozer abzureißen. Minister Yariv Levin ließ auf das staatliche Recht zu stellen. Einer ihrer führenden Den- seiner offziellen Facebook-Seite anlässlich der Ernennung ker, Dov Lior, dessen ideologische Nähe zum Rabbiner von Esther Hayut zur Präsidentin des Obersten Gerichts- Meir Kahane bekannt ist und der sogar den Massenmör- hofs verlauten: „Heute wird wieder eine Präsidentin für der Baruch Goldstein als „heiliger als die Holocaust-Mär- den Obersten Gerichtshof in einem fktiven Auswahlver- tyrer“ preist, erklärte öffentlich, dass „alle weltlichen Ver- fahren bestimmt, das allen Regeln für die Ernennung zum urteilungen aufgehoben werden müssen und das ganze öffentlichen Dienst zuwiderläuft.“ Im Zusammenhang mit weltliche Justizsystem abzuschaffen ist“. Laut der in Ye - den Ermittlungen gegen Netanjahu wegen des Verdachts dioth Ahronoth veröffentlichen Studie war Komemiyut auf Bestechung und Korruption erreichte diese gegen die auch „eine der wenigen Organisationen, die öffentlich die Justiz gerichtete Verleumdungskampagne ihren vorläuf- „Price-Tag-Aktivist*innen“ unterstützt haben. Rabbiner Yair gen Höhepunkt. Der Premierminister begann, öffentlich Kartman, der ein Mitglied des Exekutivkomitees von Ko- ein Narrativ zu fördern, das die Justiz- und Strafverfol- memiyut und einer der Gründer von Meshilut ist, sagte gungsbehörden eines Staatsstreichs beschuldigt. Derarti- in der Vergangenheit, dass „der Vertrauensverlust [in Be- ge Entwicklungen sind sehr hilfreich für die extrem Rechte zug auf das staatliche Justizsystem] eine große Chance in Israel und stützen ihre Überzeugung, man solle konse- für ein auf der Tora basierendes Rechtssystem ist“. Von quent alle rechtliche Hindernisse aus dem Weg räumen, daher verwundert es nicht, dass die organisierten Rechts- die der Annexion der besetzten palästinensischen Gebie- extremen eine sehr aggressive Kampagne gegen das Jus- te und dem Aufbau eines auf religiösem jüdischen Recht tizsystem in Israel führen und alles daransetzen, um die beruhenden Systems im Wege stehen. Macht des Obersten Gerichtshofs zu brechen. Sie waren auch die treibende Kraft hinter der Verabschiedung eines Gesetzes, das vorsieht, dass die Rechtsberater*innen von Diffamierung der Linken und Ministerien nicht länger über neutrale Ausschreibungen der palästinensischen bestimmt werden, sondern nach politischen Präferenzen Staatsbürger*innen Israels ausgesucht werden können. Neben Meshilut beteiligt sich auch die Studentenorga- Seit jeher gehören ausgeprägte ideologische Rivalitäten auf nisation Im Tirtzu an der Kampagne für die Verabschie- die eine oder andere Weise zur politischen Auseinander- dung der „Außerkraftsetzungsklausel“. Dem Geschäfts- setzung in Israel dazu. Aber seit den frühen 2000er Jahren führer von Im Tirtzu zufolge richtet sich diese „nicht mehr und insbesondere seit 2010 hat ein erheblicher Radikali- nur gegen den Obersten Gerichtshof, sondern auch gegen sierungsprozess stattgefunden. Treibender Faktor ist zwei- jene [linken] Organisationen, denen der Oberste Gerichts- felsohne eine gezielte Kampagne der Rechten zur Diffa- hof Tür und Tor geöffnet hat. Sie beherrschen den Staat mierung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels und rufen die Gerichte an, um das Militär zu beherrschen.“ sowie von Friedens- und Menschenrechtsorganisationen,

22 Intellektuellen, Künstler*innen, Akademiker*innen und Auf Grundlage der Aussagen dieses Berichts startete die überhaupt von allen, die die israelische Regierungspoli- rechte Im-Tirtzu-Bewegung 2010 eine umfangreiche Diffa- tik von links kritisieren. mierungskampagne gegen den New Israel Fund. Seitdem Die seit Jahren laufenden Delegitimierungsversuche sind solche Argumentationsmuster im gesamten rechten durchzieht ein bestimmtes Muster: Die palästinensischen politischen Spektrum gang und gäbe und werden häufg Staatsbürger*innen werden allesamt als Staatsfeinde und verwendet, um von der Linken vorgebrachte Forderungen besatzungskritische Organisationen und Aktivist*innen als zurückzuweisen. Beispielsweise haben im Februar 2015 ausländische Agenten verleumdet. Es wird zu allen denk- einige prominente Knesset-Abgeordnet von Likud, Jüdi- baren legislativen und bürokratischen Maßnahmen ge- sches Heim und Schas ihre Teilnahme an einer von der Ta- griffen, um ihre Arbeit zu erschweren und ihnen öffent- geszeitung veranstalteten Konferenz über Demo- liche Unterstützung und Ressourcen zu entziehen. Frei kratie in Israel abgesagt, weil diese vom New Israel Fund nach dem Motto Teile und Herrsche wird zwischen „gu- gesponsert wurde. Im April 2018, nachdem sich Ruanda ten“ und „bösen“ Organisationen unterschieden. Als gut von einem geplanten Abkommen zurückgezogen hatte, gelten solche, die sich mit Wohltätigkeit und humanitä- das es Israel ermöglicht hätte, in Israel befndliche Asylsu- ren Aktivitäten befassen und die die staatlichen Institutio- chende nach Ruanda abzuschieben, machte Premierminis- nen nicht herausfordern, als böse alle, die grundlegende ter Netanjahu den New Israel Fund für das Scheitern der Veränderungen in Israel anstreben, insbesondere solche, Verhandlungen mit Ruanda verantwortlich. Er sagte, „das die gegen die Besatzung kämpfen und sich für Gleichheit ultimative Ziel des [New Israel] Fund besteht darin, den jü- und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Auch hier hat sich dischen Charakter Israels zu beseitigen und es zu einem das, was als Randerscheinung begann und von rechtsex- Staat aller seiner Bürger zu machen“. Netanjahu forderte tremen Organisationen und der Siedler-Lobby vertreten den Koalitionsvorsitzenden auf, einen parlamentarischen wurde, mithilfe der Vermittlung von Politiker*innen und Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die Aktivitäten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu einer Main- des New Israel Fund zu untersuchen. stream-Haltung im Land entwickelt. 2015 startete Im Tirtzu eine Kampagne, um breite Un- Die ersten Anzeichen einer Verschärfung des gegenwär- terstützung für die von dem Knesset-Abgeordneten Yoav tigen Trends gab es bereits 2002, als provokative Banner Kish (Likud) eingebrachte Vorlage für ein Foreign-Agent- mit der Aufschrift „Demokratische Regenbogenkoalition für Gesetz zu organisieren. Das Gesetz soll es staatlichen Be- das Recht auf Rückkehr [der Palästinenser*innen]“ in sehr hörden und der Armee verbieten, mit gemeinnützigen Or- großer Zahl an den Hauptverkehrsadern zu sehen waren. Zu ganisationen zusammenzuarbeiten, die „antiisraelische dieser Zeit war die Zweite Intifada in vollem Gang und die Propaganda“ betreiben. Zudem sieht es vor, dass Organi- damit einhergehende Gewalt forderte Tausende von israe- sationen, die direkte fnanzielle Unterstützung von auslän- lischen und palästinensischen Opfern. Politische Unterstüt- dischen politischen Körperschaften erhalten, als „verlän- zung für das Rückkehrrecht der Palästinenser*innen wur- gerter Arm“ dieser Körperschaften gekennzeichnet werden de zu der Zeit als tatsächliche Kollaboration mit dem Feind und gerichtlich aufgelöst werden können. Im Rahmen der wahrgenommen. Der Text auf dem Banner, der falsche In- Kampagne wurden Aktivist*innen von Organisationen als formationen verbreitete und sich gegen die Demokratische Erfüllungsgehilfen fremder Staaten bezeichnet und be- Regenbogenkoalition richtete, die zu dieser Zeit eine Kla- schuldigt, Terroristen zu unterstützen und zu verteidigen. ge vor Gericht wegen sozialer Diskriminierung eingereicht Außerdem veröffentlichte Im Tirtzu eine lange Liste mit hatte, ließ keine Zweifel aufkommen: Die Demokratische Hunderten von Kulturschaffenden, von denen sie behaup- Regenbogenkoalition, eine zivilgesellschaftliche Organisa- teten, sie agierten als „verlängerter Arm“ fremder Interes- tion, die von Nachfahren von jüdischen Einwander*innen sen, weil sie in der einen oder anderen Form linke Orga- aus arabischen Ländern gegründet worden war, wurde da- nisationen unterstützen. mit als „innerer Feind“ gebrandmarkt. Einige Wochen nach dieser Kampagne tauchte in der is- Bereits 2003 war ein „vorläufger Bericht“ über den New raelischen Öffentlichkeit eine bis dahin unbekannte rechte Israel Fund (eine US-amerikanische Stiftung, die israelische Organisation namens Ad Kan („Bis hierher und nicht wei- Organisationen unterstützt, die für fortschrittliche Werte ter“) auf, die, wie sich dann herausstellte, tatsächlich mit wie Menschenrechte, Frieden, Pluralismus und derglei- Täuschungsmanövern gegen den politischen Gegner vor- chen einstehen) erschienen. Dies kann im Nachhinein als geht. Sie schleuste Mitglieder ihrer Gruppe, ausgestattet Vorbereitung und Auftakt eines breit angelegten, intensi- mit versteckten Kameras und Aufnahmegeräten, in Organi- ven und mitunter sehr aggressiven Angriffs auf den New sationen ein, die sich für ein Ende der Besatzung einsetzen. Israel Fund und die von ihm unterstützten Gruppierungen Auf der Grundlage des von Ad Kan veröffentlichten Ma- gedeutet werden, der einige Jahre später erfolgte. Die Au- terials begann eine breit angelegte Dämonisierungskam- toren des Berichts, von denen einer später als Berater für pagne gegen Breaking the Silence, eine Organisation, die Öffentlichkeitsarbeit für Premierminister Netanjahu arbei- Zeugenaussagen von Soldat*innen, die in den besetzten tete, beschrieben den New Israel Fund als eine Krake, die palästinensischen Gebieten gedient haben, sammelt und im Verborgenen agiert und „fast alle Schritte, die die Lin- veröffentlicht. Der Verteidigungsminister bezeichnete die ke in Israel unternimmt, bestimmt“. Sie behaupteten zu- Arbeit von Breaking the Silence als „Landesverrat“. Es wur- dem, dass die Ziele des Funds „völlig im Widerspruch zu de ein Gesetzesentwurf eingebracht, auf dessen Grundlage allen Zielen stehen, für die die zionistischen Bewegung das Bildungsministerium verhindern könnte, dass Breaking und der Staat Israel gegründet wurden“.14 the Silence weiterhin zu Vorträgen in Schulen eingeladen

23 wird. Außerdem verlangte die Justizministerin, dass der Association for Civil Rights in Israel hat folgende Liste erstellt: Generalstaatsanwalt Ermittlungen gegen Breaking the Si- Beschränkung ihrer Finanzierungsmöglichkeiten, höhere lence einleitet. Besteuerung ihrer Einnahmen, eingeschränktes Recht, Kla- 2014, während des Kriegs im Gazastreifen, erreich- ge vor dem Obersten Gerichtshof zu erheben, Ausweitung te die Diffamierung des linken politischen Lagers einen der Möglichkeiten des Staates, missliebige Organisationen neuen Höhepunkt. Der Künstlerin Orna Banai etwa wur- für illegal zu erklären, spezielle Regeln für Menschenrechts- de von einer Werbefrma gekündigt, nachdem sie Kritik organisationen in Bezug auf „Transparenz“, Streichung von am israelischen Vorgehen in Gaza geäußert hatte. Bilder Steuer- oder Gebührenvergünstigungen oder -befreiungen von Menschenrechtsaktivist*innen wurden veröffentlicht, oder von staatlich subventioniertem Personal für missliebi- die den Eindruck erweckten, als ob diese mit Hamas zu- ge Organisationen sowie Wegfall der Möglichkeit für Zivil- sammenarbeiteten. Diese Verleumdung schlug sich auch dienstleistende, in Organisation zu dienen, die sich mit Men- auf der Straße nieder. So griffen rechte Aktivist*innen schenrechten in den besetzten palästinensischen Gebieten mehrmals gewaltsam Demonstrationen von linken beschäftigen. Auch wenn mitunter von Anfang an fest- Kriegsgegner*innen an. In einem Bericht des staatsnahen stand, dass manche dieser Gesetzesvorlagen keine wirkliche Thinktank Institute for National Security Studies heißt es, Chance hatten, im Parlament angenommen zu werden, hat „dass die von rechtsextremen Organisationen gegen linke doch die hitzige öffentliche Debatte darüber Organisationen Demonstrationen verübte Gewalt gar nicht oder sehr un- und Aktivist*innen erheblich geschadet. zureichend strafrechtlich verfolgt wurde. Auch im öffentli- Manifestationen von Rassismus und Hetze gegen paläs- chen Dienst Beschäftige mussten für Facebook-Kommen- tinensische Staatsbürger*innen und führende Persönlich- tare, wie ‚Ich bin dafür, dass sie alle Araber und auch die keiten der arabischen Gemeinschaft haben ebenfalls stark Linken umbringen‘, keinerlei Sanktionen befürchten.“15 Da- zugenommen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist Premier- neben häuften sich Forderungen, Filmvorführungen und minister Netanjahus Aufruf aus dem Jahr 2015 an israe- künstlerische Veranstaltungen mit linken politischen In- lisch-jüdische Staatsbürger*innen, wählen zu gehen, weil halten (insbesondere solche, die sich gegen die Besat- die rechte Regierung in Gefahr sei. Er warnte: „Die Ara- zung wenden) abzusagen bzw. zu verbieten. Zudem gibt ber strömen zu den Wahlurnen […], linke gemeinnützige es immer mehr Fälle von israelischen und ausländischen Organisationen bringen sie in Bussen dorthin.“ Ein weite- Menschenrechtsaktivist*innen, die an Grenzübergängen res Beispiel ist die Erklärung des Ministers für Innere Si- aufgehalten werden und sich dort Befragungen eindeutig cherheit, Gilad Erdan, in der er „die Araber“ der „terroris- politischen Charakters unterziehen müssen. tischen Brandstiftung“ während einer Welle von Bränden Eine weitere Strategie der Diskreditierung richtet sich im Jahr 2016 beschuldigte, ohne irgendwelche Beweise gegen die aus Sicht der Rechtsextremen zu liberalen Uni- dafür zu haben. Im Jahr 2017 verließ Kulturministerin Miri versitäten und Hochschullehrer*innen, die einer Art Mo- Regev die Preisverleihungszeremonie der israelischen Mu- nitoring unterzogen werden. Im Jahr 2017 hat Im Tirtzu sikakademie, nachdem beschlossen worden war, der arabi- eine Hotline eingerichtet, über die sich Student*innen ano- schen Sängerin Mira Awad zu gestatten, bei der Feier ein nym über linke Äußerungen ihrer Dozent*innen beschwe- vertontes Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmud ren können. Eine weitere Organisation namens Israel Aca- Darwisch vorzutragen. Nach der Verabschiedung des Na- demia Monitor, die der US-amerikanischen Organisation tionalstaatsgesetzes und dem Aufruf der arabischen Knes- Campus Watch von Professor Daniel Pipes ähnelt und sich set-Abgeordneten an die Vereinten Nationen, Israel dafür Anfang 2010 als gemeinnützig in Israel eintragen ließ, be- zu verurteilen, sagte der damalige Tourismusminister Yariv obachtet Dozent*innen, die nach ihrer Defnition „antizi- Levin, dass es sich bei dem Aufruf um „Verrat“ handele. Er onistisch“ sind. Sie veröffentlicht deren Namen auf ihrer äußerte die Hoffnung, dass die arabischen Knesset-Abge- Webseite in einer nach Hochschulen geordneten Blacklist, ordneten dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen des Weiteren sucht sie nach Dozent*innen, die „antiisrae- würden. Bei einer anderen Gelegenheit rief Avigdor Lieber- lische“ Petitionen unterschrieben haben und prangert die- man dazu auf, die Knesset-Abgeordneten der Gemeinsa- se an. Dies hat schon zur entsprechenden Zurückhaltung me Liste zu Kriminellen zu erklären, weil sie eine Protestde- und sogar Selbstzensur unter Hochschullehrer*innen ge- monstration gegen die Erschießung von palästinensischen führt. Ein Beispiel für die handfesten Auswirkungen dieser Demonstrant*innen im Gazastreifen unterstützt hatten. Praktiken ist die Entscheidung von Wissenschaftsminister Ofr Akunis (Likud) im Jahr 2018, die Ernennung von Pro- fessor Yael Amitai zum Board of Governors der German-Is- Schlussbemerkung raeli Foundation for Scientifc Research and Development abzulehnen. Akunis begründete seine Entscheidung da- Im Oktober 2019 bewarf eine 30-köpfge Gruppe in der Sied- mit, dass die Gehirnforscherin im Jahr 2005 eine Petition lung Jitzhar israelische Soldat*innen mit Steinen, schlitzte unterschrieben hat, die Soldat*innen unterstützt, die sich Reifen von Militärfahrzeugen auf und verwundete sogar weigern, ihren Armeedienst in den besetzten palästinen- einen der Soldaten leicht. Die israelische Öffentlichkeit ist sischen Gebieten zu leisten. es gewohnt, solche Nachrichten über Palästinenser*innen Darüber hinaus ist es wichtig, die Vielzahl der Gesetze zu zu hören, aber dieses Mal waren die Angreifer jüdische erwähnen, die in den letzten Jahren in der Knesset verab- Siedler*innen. Premierminister Netanjahu beeilte sich, die schiedet worden sind oder eingebracht wurden, um Frie- Tat zu verurteilen. Er sagte: „Es wird keine Toleranz für Ge- dens- und Menschenrechtsorganisationen zu schaden. Die setzesbrecher geben, die unsere Soldaten angreifen.“ Man

24 hätte von seiner Äußerung beeindruckt sein können, wenn Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin sie nicht ganz im Gegensatz zur Realität stünde. Dass die Siedler*innen sich getraut haben, Soldat*innen mit Stei- Ran Yosef Cohen arbeitet als Medien- und nen zu bewerfen (und das nicht zum ersten Mal), steht Strategieberater und war zuvor Geschäfts- in einem direkten Zusammenhang damit, dass und wie führer der NGO Ärzte für Menschenrechte – Israel. Zudem gründete er mit anderen den sich Netanjahu um die Führungselite der rechtsextremen israelischen Democratic Bloc, der als Siedler*innen bemüht, wie er die Kahanist*innen legitimiert, Plattform für strategische Partnerschaften wie er eine nachsichtige Politik gegenüber von Jüdinnen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Juden in den besetzten palästinensischen Gebieten sowie als alternatives Forschungszentrum dient. begangene Straftaten verfolgt und ein doppeltes Spiel in Bezug auf alles spielt, was den Umgang der Behörden mit Aufwieglung, Rassismus und Gewalt betrifft. Anmerkungen So sieht also in Kürze die Erfolgsgeschichte der extre- 1 Diese werden Tora-Nukleus genannt. men Rechten in Israel aus, der es gelungen ist, in das Zen- Dabei handelt es sich um eine Gruppe trum des politischen Mainstreams vorzudringen. Die Ag- von Familien oder Personen, meist zur gressivität, mit der das Netzwerk der extremen Rechten religiösen zionistischen Bewegung gehörend, die sich zusammentun, um in ihre Macht und ihren Einfuss geltend macht, hätte für die- einer Gegend zu leben, in der es wenig sen Erfolg allein nicht ausgereicht. Sie wären nicht so weit jüdische oder wenig religiöse jüdische gekommen, wenn nicht viele gewählte Amtsinhaber – von Bevölkerung gibt. Ihr erklärtes Ziel ist es, Hinterbänkler*innen in der Knesset bis hin zum Premier- die Verbindung zwischen dem Judentum minister – ihre Methoden, Inhalte und Sprache übernom- und diesem Ort zu stärken. men und es rechtsextremen Ideen erlaubt hätten, schritt- 2 Naftali Bennett war 2015 bis 2019 Bildungs- weise ins Zentrum des Mainstreams zu gelangen. minister, danach ein halbes Jahr lang Ein türkisches Sprichwort besagt, dass, als die Axt in Verteidigungsminister. Ayelet Shaked war den Wald kam, ihr die Bäume mit den Worten vergaben: Justizministerin in den Jahren 2015 bis 2019 „Ihr Stiel ist einer von uns.“ In der Tat, wie in diesem Arti- 3 Policy Working Group: NGO MONITOR: kel beschrieben, verwenden Organisationen und Institutio- SHRINKING SPACE. Diffamierung von nen, die vorgeben, zum Wohl der israelischen Gesellschaft Menschenrechtsorganisationen, die die israelische Besatzung kritisieren. Ein Bericht zu handeln, verschiedene Tarnungen. Sie sprechen im Na- der Policy Working Group, September 2018, men einer imaginierten Mehrheit, arbeiten indes jedoch unter: http://policyworkinggroup.org.il/ ohne Unterlass daran, „den Wald zu fällen“, auf den die is- report_de.pdf. raelische Gesellschaft angewiesen ist und der sie ernährt. 4 Gemäß den Unterlagen von Hemla erhielt Die absichtliche Täuschung, die Verwischung der Diffe- der Verein im Jahr 2016 1.119.682 NIS renz zwischen ihren offziell erklärten Zielen und ihren tat- (ca. 275.000 Euro) und im Jahr 2015 769.524 sächlichen Absichten, dient den extremen Rechten dazu, NIS (ca. 169.000 Euro) vom Ministerium die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie in ihrem für soziale Angelegenheiten. Sinne und zu ihrem Vorteil handeln, während sie sich in 5 Dies ist die weitverbreitete Bezeichnung Wirklichkeit um die Verwirklichung einer separatistischen für junge Siedler*innen, die in israelischen nationalistisch-messianischen Zukunftsvision bemühen. Außenposten oder isolierten Gebäuden Nach zwei Jahrzehnten großer Geländegewinne aufsei- in der Westbank leben und durch ihre ten der Rechten tobt in Israel heute ein brutaler Entschei- Opposition zum israelischen Establishment geprägt sind. dungskampf um den Charakter und die Zukunft der israeli- schen Gesellschaft und des israelischen Staats. Um diesen 6 Sheleg, Yair: The Loss of Naïveté: The Kampf zu führen und zu gewinnen, bedarf es eines klaren Impact of the Withdrawal from Gaza on Religious , Israel Democracy politischen Projekts und der Bereitschaft, dieses mit aller Institute, 12.6.2015, unter: https://en.idi. Energie zu verfechten. Es bedarf aber auch eines gut koor- org.il/articles/5173. dinierten Kampfs, um die in diesem Artikel beschriebenen rechtsextremen Netzwerke – deren politischer Einfuss in 7 Schlesinger, Liat: At Any Price: Israeli Taxpayers Funding „Price Tag“ Settler keinem angemessenen Verhältnis zu dem Bevölkerungs- Violence. Molad, Juli 2015, unter: anteil steht, den sie repräsentieren – in ihre Schranken www.molad.org/en/articles/originsofpricetag. zu weisen und die Politiker*innen, die sie tatkräftig unter- stützen, dafür zur Verantwortung zu ziehen. Nur wenn es 8 Be’er, Yizhar: Dangerous Liaison. The Dynamics of the Rise of the Temple dem linken politischen Lager gelingt, seinen Gegner rich- Movements and Their Implications, tig einzuschätzen, kann es von der Verteidigung zum An- März 2013, S. 33, unter: www.ir-amim.org. griff übergehen. Dafür muss es sich auf breiter Basis neu il/en/report/dangerous-liaison. aufstellen und organisieren, neue Kräfte sammeln und eine 9 Das Institut ist unter dem Namen „Institut Zukunftsvision entwerfen, die nicht polarisierend ist und für das Studium, die Forschung alle Menschen, die zwischen dem Mittelmeer und dem und den Bau des Tempels“ eingetragen. Jordan leben, einschließt. Nur dann wird die Linke in Is- rael eine Chance haben, eine führende Rolle zu spielen.

25 10 Gemäß den vom Institut beim Registrar eingereichten Angaben und Unterlagen.

11 Gemäß der Zielsetzung der Jugend- bewegung, wie sie auf der Webseite des Israel Council of Youth Movements nachzulesen ist. Vgl. www.tni.org.il/eng/ page.asp?id=7371&cat.

12 Nach Angaben der Webseite über gemeinnützige Organisationen in Israel, Guidestar. Vgl. www.guidestar.org.il/ organization/580004562.

13 Ein kleineres Forum von Kabinetts- mit gliedern, das über Verteidigung und Außenpolitik entscheidet.

14 Baratz, Ran/Ifergan, Moshe: Vorläufger Bericht: New Israel Fund, 2003 (auf Hebräisch), unter: https://library.osu. edu/projects/hebrew-lexicon/hbe/ hbe00270001.php.

15 Sher, Gilead/Sternberg, Naomi/Ben-Kalifa, Mor: Delegitimization of Peace Advocates in Israeli Society, Strategic Assessment, Nr. 2, Juli 2019, unter: www.bakerinstitute. org/research/delegitimization-peace- advocates-israeli-society/.

26 Israelische Soldaten schauen zu, wie bewaffnete Siedler internationale Aktivist*innen und Palästinenser*in- nen bedrohen und angreifen, Siedlung Ma‘on, Westbank, 2012. Foto: Activestills

Radikale Siedler zelebrieren die „Übernahme” eines Hauses in Sheikh Jarrah, Ost-Jerusalem, 2010. Foto: Activestills

27 Aktivist in Jerusalem mit Fahne der faschistischen Kach-Partei, 2015. Foto: Activestills

Zerstörtes Haus der Dawabsha-Familie. Bei dem Brandanschlag auf ihr Haus starb ein 18 Monate altes Baby, mehrere Menschen wurden verletzt. Duma, Westbank, 2015. Foto: Activestills

28 II LAND

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Wem gehört das Land? Landbesitz und Ungleichheit in Israel

Gadi Algazi Wie kam es dazu, dass der israelische Staat heute über etwa 93 Prozent des Grundbesitzes verfügt, während im Jahr 1948 nur circa sieben Prozent des Landes in jüdischem Besitz waren? Welche Rolle spielt dabei der Jüdische Nationalfonds? Wie werden die aus der Landnahme gewonnenen Ressourcen verteilt?

Israelische Soldaten pfanzen Bäume in al-Araqib, bei einem Einsatz für den Jüdischen Nationalfonds (JNF), Negev, Israel, 2010. Foto: Activestills

31 Vor der Staatsgründung im Jahr 1948 waren circa sieben ermöglichte, sich des Landes von palästinensischen Ge- Prozent des Territoriums, das zum israelischen Staatsgebiet füchteten zu ermächtigen; zum andern das „Gesetz über wurde, in jüdischem Besitz, während mehr als 80 Prozent den Erwerb von Land“ (1953), das die Übernahme von ei- davon Palästinenser*innen gehörte. Heute besitzen die pa- nem wesentlichen Teil des Landbesitzes der im israelischen lästinensischen Staatsbürger*innen innerhalb der internati- Staatsgebiet verbliebenen Palästinenser*innen legalisierte. onal anerkannten Grenzen Israels weniger als vier Prozent des Landes, während der israelische Staat über 93 Prozent des Landes verfügt. Das meiste davon ist Staatseigentum, Das „Gesetz über das Eigentum während der Rest dem Jüdischen Nationalfonds gehört. von Abwesenden“ (1950) Diese 93 Prozent werden von der israelischen Landbehör- de verwaltet. Ohne diese grundlegenden Fakten zu ken- Das Wort arabisch wird in dem „Gesetz über das Eigen- nen, ist es unmöglich, die strukturelle Ungleichheit in der tum von Abwesenden“ nicht erwähnt, aber es besteht kein Gesellschaft Israels, vor allem zwischen jüdischen und pa- Zweifel, was gemeint ist. Mit dem Gesetz brachte der Staat lästinensischen Staatsbürger*innen, zu verstehen. Dies hat sowohl das Land der „Abwesenden“ – das heißt, von pa- weitreichende Auswirkungen auf die Verteilung von Res- lästinensischen Flüchtlingen, die sich außerhalb Israels be- sourcen und Wohlstand, auf den Zugang zu Wohnraum fanden und nicht zurückkehren durften – an sich als auch und Entwicklungschancen und auch auf jede zukünftige die Ländereien und die Häuser von Palästinenser*innen, Lösung des israelisch-palästinensischen Konfikts. die während des Krieges aus ihren Ortschaften gefüch- Ausgangspunkt sind notwendigerweise der Krieg von tet oder vertrieben worden waren, aber innerhalb dessen, 1948 und seine Folgen und vor allem die Tatsache, dass was israelisches Staatsgebiet wurde, geblieben sind und ein Großteil der Palästinenser*innen zu Flüchtlingen wurde. allmählich auch die Staatsbürgerschaft erhalten haben. Allerdings kann die unverzichtbare Debatte über den Ver- Sie wurden als „anwesende Abwesende“ betrachtet. Im lauf des Krieges, über die begangenen Kriegsverbrechen Jahr 1950 gehörte fast ein Drittel der in Israel lebenden sowie die Vertreibung und die Verhinderung der Rückkehr Palästinenser*innen zu dieser Kategorie. der Vertriebenen und Gefüchteten dazu führen, dass eine Laut Gesetz ging das so konfszierte Land in die Verwal- andere grundlegende Tatsache übersehen wird: Der Krieg tung der staatlichen Treuhand über, aber die wichtigsten selbst verursachte keine Umverteilung des Grundbesit- Teile dieses Landes blieben nicht lange bei der Treuhand. zes. Weder die gefüchteten Palästinenser*innen noch die, Denn der Staat befürchtete, dass, solange sich dieses Land die im israelischen Staatsgebiet nach 1948 blieben und unmittelbar in seinen Händen befand, er legitimen interna- zu Staatsbürger*innen wurden, haben infolge des Krie- tionalen Forderungen ausgesetzt sein könnte, die Rechte ges ihr Grundeigentum verloren. Wenn der Krieg an sich der palästinensischen Eigentümer*innen zu wahren, sei es die Landressourcen nicht umverteilt hat, wie ist es dazu der im Ausland befndlichen Gefüchteten oder der Binnen- gekommen? vertriebenen. Und so verkaufte der Staat im Januar 1949 und im Oktober 1950 in zwei zwischen David Ben-Gurion und den Vorsitzenden des Jüdischen Nationalfonds aus- Die prägenden Jahre: 1947 bis 1953 gehandelten Transaktionen jeweils 1.000 Quadratkilometer palästinensischen Landes, das dem Staat bzw. der Treu- Die wichtigsten Schritte, die die Situation noch heute be- hand gar nicht gehörte, an den Jüdischen Nationalfonds. stimmen, wurden in den ersten fünf Jahren von israelischer Insgesamt waren das fast zehn Prozent des gesamten is- Seite vollzogen. Schon während des Krieges kam es zu raelischen Staatsgebietes, was ungefähr der Gesamtfä- einer Übernahme von Land, das Palästinenser*innen ge- che der Bundesländer Berlin, Hamburg und Bremen ent- hörte, durch jüdische landwirtschaftliche Siedlungen, zu- spricht. Es stellte sich allerdings heraus, dass die zweite meist Kibbuzim. Mitunter erhoben Kibbuzim nur wenige Transaktion die Kapazitäten des Jüdischen Nationalfonds Wochen nach der Flucht oder Vertreibung ihrer arabischen überstieg, und so musste er 1962 einen Teil dieses Landes Nachbar*innen bereits Anspruch auf deren Grund und Bo- an den Staat zurückgeben. Dennoch war sein Zugewinn den. Einige wandten sich direkt an die Behörden oder an beachtlich: Während der Fonds 1948 fast 1.000 Quadratki- ihnen nahestehende Politiker*innen, um das „frei gewor- lometer besaß, waren es im Jahr 1964 bereits 2.600 Qua- dene“ Land zu bekommen, andere haben einfach angefan- dratkilometer oft hochwertigen Lands oder anders ausge- gen, es zu bearbeiten, ohne auf eine offzielle Erlaubnis zu drückt: 12,5 Prozent des israelischen Staatsgebietes (eine warten. Die Folgen waren gravierend: Die Übernahme des Fläche, die etwas größer als das Gebiet des Saarlands ist). Lands schuf Fakten. Auf lokaler Ebene hatten nun diverse Die beiden großen Transaktionen von 1949 und 1950 Akteure ein unmittelbares materielles Interesse daran, die brachten zwei wesentliche Vorteile mit sich: Zum einen er- Rückkehr ihrer arabischen Nachbar*innen zu verhindern. laubten sie dem Staat, sich der unmittelbaren Verantwor- Diese nicht zentral organisierte Aneignung ging zunächst tung als Eigentümer zu entledigen. Zum andern durfte der mit Ad-hoc-Regelungen, danach mit systematischen staatli- Jüdische Nationalfonds, der gegründet worden war, um die chen Verordnungen einher, die hier nicht im Detail erläutert Ansiedlung von Juden zu unterstützen, gemäß seiner Sat- werden können. Wichtig ist, dass diese zur Verabschiedung zung Land an nicht-jüdische Menschen weder verkaufen von zwei zentralen Gesetzen führten, deren Auswirkungen noch verpachten. Die Arbeitsteilung mit dem Jüdischen Na- bis heute die Realität prägen: zum einen das „Gesetz über tionalfonds ermöglichte es, Diskriminierung langfristig zu in- das Eigentum von Abwesenden“ (1950), das es dem Staat stitutionalisieren, ohne den Staat direkt darin zu verwickeln.

32 Später wurde das „Gesetz über das Eigentum von Ab- palästinensischer Flüchtlinge als Teilkompensation angebo- wesenden“ noch ergänzt: Auch der Landbesitz des islami- ten, aber sie weigerten sich meist hartnäckig, dieses anzu- schen Waqfs – Stiftungen, die sowohl religiösen als auch nehmen, um der Enteignung keine Legitimität zu verleihen. allgemeinen sozialen Zwecken dienten – ging in die staat- liche Treuhand über. Nach dem Krieg von 1967 wurde das Gesetz sogar auf die neu besetzten Gebiete ausgeweitet. So Das Dorf Dschalama und der Kibbuz konnte der Staat etwa palästinensische Einwohner*innen Lehawot Hawiwa Ost-, die während des Krieges gefüchtet und am Tag der Annektierung Ost-Jerusalems nicht in der Stadt Der ganze Prozess lässt sich am Beispiel der Geschichte waren, ebenfalls zu „Abwesenden“ im Sinne des Gesetzes des kleinen arabischen Dorfs Dschalama gut veranschau- erklären und somit ihren Besitz konfszieren. lichen. Eine aktive Teilnahme der Dorfbewohner*innen an dem Krieg von 1948 ist nicht dokumentiert. Nach Kriegsen- de wurden sie israelische Staatsbürger*innen, gemäß dem Das „Gesetz über den Erwerb zwischen Israel und Jordanien unterzeichneten Waffenstill- von Land“ (1953) standsabkommen, in dessen Folge das Gebiet in der Mit- te des Landes, in dem sie wohnten, an Israel übergegan- Zurück zu den prägenden Jahren: Nach dem Krieg von 1948 gen war. Obwohl Israel sich verpfichtet hatte, die Rechte verlangten palästinensische Staatsbürger*innen vom Staat der arabischen Bevölkerung in dem annektierten Gebiet zu immer wieder die Rückgabe ihres Landes, das in der Zwi- wahren, beeilte es sich, viele von ihnen zu „Abwesenden“ schenzeit anderen, meist Kibbuzim und Moschawim, zuge- zu erklären, obwohl sie zum Zeitpunkt der Staatsgründung teilt worden war. Der Staat ergriff eine Reihe von Maßnah- gar nicht innerhalb des Staatsgebiets sein konnten. Als (an- men, um palästinensischen Bäuerinnen und Bauern den wesende) „Abwesende“ verloren sie ihr Eigentum, insbe- Zugang zu ihrem Land zu verwehren: Er schränkte ihre per- sondere ihr Land; das Oberste Gericht in Israel bestätigte sönliche Bewegungsfreiheit durch eine Militärregierung ein; die Rechtmäßigkeit der Enteignung. Zudem ließen die isra- er benutzte die Notstandsverordnungen, die er vom briti- elischen Behörden Dutzende kleiner palästinensischer Ort- schen Empire übernommen hatte, um landwirtschaftliche schaften in dem neu hinzugekommenen Gebiet abreißen Flächen zu „militärischen Sperrgebieten“ zu erklären; da- und deren Bewohner*innen vertreiben. Im März 1950 wur- rüber hinaus errichtete er eine „Sicherheitszone“ entlang den auch die Bewohner*innen des Dorfes von Dschalama der Staatsgrenzen, die arabische Staatsbürger*innen Isra- von der israelischen Armee vertrieben. Der Kibbuz Leha- els nicht betreten durften. Doch die faktische Verhinderung wot Hawiwa, der zur linken zionistischen Bewegung Ha- des Zugangs arabischer Bäuerinnen und Bauern zu ihrem Schomer HaTsa’ir gehört, erhielt ihr Land und ihre Häuser. eigenen Land reichte nicht aus: Angesichts ihrer Proteste Die Bewohner*innen von Dschalama reichten dagegen und Gesuche musste der Prozess der Enteignung geregelt Klage beim Obersten Gerichtshof ein. Es war einer der sel- und ihr Land unter staatliche Kontrolle gebracht werden. tenen Fälle, in denen das Gericht der Forderung arabischer Das „Gesetz über den Erwerb von Land“ (1953) löste die- Staatsbürger*innen nach Rückgabe ihres Landes stattgab. ses Problem, indem es die Übernahme arabischen Lands Aber der Kibbuz und die staatlichen Behörden bedienten durch jüdische Ansiedlungen rückwirkend legalisierte und sich verschiedener Taktiken, um den Vollzug des Gerichts- zugleich dem Staat erlaubte, den Prozess der Enteignung urteils zu verzögern. Während die Dorfbewohner*innen zumindest vorübergehend abzuschließen. Das Gesetz er- auf die Rückgabe warteten, nutzte der Finanzminister das mächtigte das Finanzministerium, Land, das am 1. April „Gesetz über den Erwerb von Land“, um ihr Land offziell 1952 nicht im Besitz seiner Eigentümer*innen war, für „Ent- zu enteignen. Die Mitglieder des Kibbuz unternahmen ih- wicklungs-, Siedlungs- oder Sicherheitszwecke“ zu enteig- rerseits Schritte, um sicherzustellen, dass die palästinen- nen. Die Defnition der legitimen Enteignungszwecke war sischen Bewohner*innen das ihnen zugesprochene Recht derart weit gefasst, dass es kaum möglich war, die Expro- nicht einlösen konnten: Am 11. August 1953 sprengten priationen vor Gericht anzufechten. Dem Gesetz zufolge sie deren Häuser und fällten deren Obstbäume. mussten die Eigentümer*innen über die Konfszierung ih- Der aus Dschalama vertriebene Haj Mahmud al-Nadaf res Lands noch nicht einmal informiert werden. So wur- schrieb damals an den Vorsitzenden der Knesset: „Leben de eine faktisch bestehende illegale Situation retroaktiv le- wir in einem Staat oder unter der Herrschaft einer Verbre- galisiert: Dass arabischen Menschen der Zugang zu ihrem cherbande? Unter eurer ungerechten Herrschaft sind wir Land – sei es durch Notstandsverordnungen, organisierte des Lebens müde geworden! Ich bin 80 Jahre alt und habe Vertreibung oder lokale Gewalttätigkeiten – verwehrt wurde, noch nie eine solche Ungerechtigkeit gesehen. Zahlt mir, ermöglichte es, sie nun rechtskräftig zu enteignen. Zudem was mir gebührt, und ich werde das Land verlassen, oder wurde auf diese Weise Landbesitz nicht nur rückwirkend, tötet mich und ich werde meine Ruhe fnden.“ sondern auch zwecks künftiger Ansiedlung „erworben“. Die Dorfbewohner*innen reichten erneut Klage beim Dieses extreme Gesetz galt nur für ein Jahr. Von daher be- Obersten Gericht ein. Sie verwiesen darauf, dass die staat- eilten sich die israelischen Behörden, kurz vor seinem Ab- lichen Behörden das „Gesetz über den Erwerb von Land“ lauf Hunderte Quadratkilometer Land zu enteignen, manch- missbraucht hatten, um die gerichtlich angeordnete Rück- mal innerhalb weniger Tage. In der Regel wurde arabische gabe ihres Lands zu vereiteln. Das Oberste Gericht räumte Eigentümer*innen etwas Geld als Kompensation angebo- ein, dass die Bestimmungen dieses Gesetzes zwar „harsch“ ten, aber kein Land. Manchen wurde das enteignete Land seien, hob aber die Enteignung nicht auf.

33 In den Jahren danach setzten die staatlichen Behörden b) Das meiste Agrarland ging an Kooperativen der zio- die Menschen unter Druck, den auf dem „Gesetz über nistischen Bewegung. Nach Schätzung des Forschers den Erwerb von Land“ beruhenden Enteignungen ihres Meron Benvenisti haben Kibbuzim und Moschawim Landes rückwirkend zuzustimmen und niedrige Entschä- 45 Prozent des von der palästinensischen Bevölkerung digungszahlungen zu akzeptieren. Denjenigen, die dazu konfszierten Landes erhalten. Die Privatisierung in den nicht bereit waren, wie zum Beispiel Abdallah Mahmud letzten Jahrzehnten ermöglichte es ihnen, ihre langfris- al-Nadaf aus Dschalama, erfuhren diverse Schikanen, die tigen Pachtverträge in Kapital zu verwandeln. Seit den die Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, 1980er Jahren ist es ihnen vom Staat erlaubt, Agrar- in einschränkten. So drohte der Militärgouverneur ihm noch Bauland umzuwandeln. So wurden auf dem Gelände im Jahr 1958 damit, dass ihm im Nachbardorf Dschat, wo vieler Kibbuzim ganz neue Viertel erbaut und die dort er inzwischen wohnte, keinerlei Land verpachten würde. entstandenen Einfamilienhäuser zum Verkauf ange- boten. Die Kibbuz-Mitglieder können inzwischen ihre Rechte am Land vererben und es seit einigen Jahren Ungleichheit bei der Verteilung auch zu einem reduzierten Preis kaufen und so zu pri- der Landressourcen vaten Grundeigentümern werden. Ein großer Teil der Kibbuzim, die ausschließlich jüdischen Menschen vor- Seitdem ist es wiederholt zu massiven Enteignungen von behalten sind, hat sich auf diese Weise in gated com- Grund und Boden gekommen: Zu Beginn der 1960er Jahre munities verwandelt. Auch der Kibbuz Lehawot Hawi- und Mitte der 1970er Jahre versuchte die israelische Regie- wa ist seit 2002 keine Kooperative mehr. Von diesem rung, das ganze Land im Negev an sich zu reißen. Aktuell neuen Reichtum – der Verwandlung der Früchte staat- gibt es erneut solche Bestrebungen. Die Grundzüge des Sys- lich organisierter Enteignung in privaten Wohlstand – tems, nach dem Land und Wasserressourcen in Israel auf- bleiben allerdings bestimmte Gruppen ausgeschlossen: geteilt werden, haben sich seit den ersten Jahren nach der hauptsächlich Mizrachim, die in Israel unter anhalten- Staatsgründung kaum verändert. Selbstverständlich wurde der Diskriminierung leiden. Viele von ihnen leben seit die Beute nicht gleichmäßig unter der jüdischen Bevölke- den 1950er Jahren in der Nähe von Kibbuzim und ar- rung verteilt. Wie in anderen Kolonialsystemen auch bedeu- beiteten früher in deren regionalen Industriezentren. tete die Anhäufung solch riesiger Ressourcen die Konzen- tration enormer Macht in den Händen derjenigen, die sie c) Die genossenschaftlich verfassten Gemeinschaften, Kib- verteilen können. Landnutzungsrechte wurden primär als buzim und Moschawim, hatten in den 1950er Jahren Gegenleistung für politische Loyalität und entsprechend der das der palästinensische Bevölkerung weggenomme- Nähe zu den Machtzentren gewährt. Die Klassenstrukturen ne Land vor allem aus zwei Gründen zugeteilt bekom- und die Verteilung des Reichtums in der israelischen Gesell- men: aufgrund ihrer starken ideologischen Bindung an schaft sind nicht allein das Ergebnis des Marktes. Die staatli- den Zionismus und aufgrund ihrer exklusiven sozialen che Politik spielte dabei eine außerordentlich wichtige Rolle. Zusammensetzung. In den 1970er Jahren entstand al- lerdings eine neue Besiedlungsform – die private „Ge- Wer verfügt heute über diesen Reichtum? Im Wesent- meindesiedlung“ –, vor allem für Menschen aus der lichen sind es vier privilegierte Organisationen bzw. Mittelschicht, die eine bessere Lebensqualität außer- Bevölkerungsgruppen. halb der Ballungszentren und soziale Segregation su- chen. Die „Gemeindesiedlung“ ermöglicht soziale und a) Die wertvollsten Grundstücke, die sich zum Teil in den ethnische Exklusivität, ohne den Preis einer Verpfich- dicht besiedelten städtischen Gebieten Israels befnden, tung zum Kollektivismus. „Aufnahmekomitees“ dienen sind immer noch in den Händen des Jüdischen Nati- als Filter und entscheiden darüber, wer dort hinziehen onalfonds. Die Institution schöpft daraus jährlich eine darf. Palästinensische Staatsbürger*innen Israels sind Grundrente, die ihre Spendeneinnahmen deutlich in formal ausgeschlossen, aber ausgesondert werden oft den Schatten stellt. Im Jahr 2014 betrugen diese steu- auch Arme, alleinstehende Mütter, sozial Schwache erfreien Pachteinnahmen 2,4 Milliarden NIS (mehr als und generell Menschen, die nicht zum Selbstbild der eine halbe Milliarde Euro), 2017 erreichten die Einnah- (nicht unbedingt ideologisch motivierten) wohlhaben- men aus Verpachtung und Verkauf von Land sogar 3,8 den Siedler*innen passen. Die „Gemeindesiedlung“ ist Milliarden NIS (etwas weniger als 900 Millionen Euro). seit den 1970er Jahren die typische Organisationsform Jeder Versuch, in Israel und Palästina Verteilungsge- sowohl der Siedlungen in den besetzten palästinensi- rechtigkeit herzustellen oder etwa das Wohnungspro- schen Gebieten als auch der „Lebensqualitätsansiedlun- blem zu lösen, muss sich mit der enormen Konzentra- gen“ in Galiläa und im Negev. Diese neuen Siedler*innen tion von Landressourcen in den Händen einer einzigen wohnen auf beiden Seiten der Grünen Linie. Institution auseinandersetzen. Hinzu kommt, dass der Fonds Land ausschließlich an jüdische Menschen ver- d) Anfang der 1950er Jahre riss der israelische Staat pachtet und über große Teile des Besitzes palästinensi- auch den Großteil des städtischen Besitzes von scher Flüchtlinge verfügt. In den Führungsgremien des Palästinenser*innen an sich. Zunächst verpachteten Jüdischen Nationalfonds sind alle zionistischen Partei- die Behörden die enteigneten Häuser und Wohnungen en vertreten. Die Gelder, die er verteilt, verleihen ihm an jüdische Migrant*innen. Sehr oft mussten in , darüber hinaus großen politischen Einfuss. Ramle, Lyd (Lod) oder Akko (Akka) Palästinenser*innen

34 – die häufg selbst Binnenvertriebene waren und nicht ursprüngliches Dorf nicht zurückkehren, und nun werden in ihre Dörfer zurückkehren durften – in solchen Häu- sie auch noch aus dem Ort, an dem der Staat selbst sie an- sern zu Miete wohnen, die nach den generellen Ent- gesiedelt hat, vertrieben. Das Oberste Gericht erklärte die eignungsmaßnahmen nun offziell als Staatsbesitz gal- bevorstehende Zwangsräumung trotzdem für rechtmäßig. ten. Der Staat ließ die arabischen Häuser und Viertel Im Januar 2017 schoss die Polizei auf den Dorfbewohner lange Zeit verkommen, denn bis in die 1980er Jahre Yacoub Abu al-Qiyan, der in einem Auto saß und wegfahren bestand die offzielle Politik darin, die „Überreste“ ver- wollte, um der bevorstehenden Räumung zu entgehen. Er fallen zu lassen und durch „moderne“ Wohn- und Ge- verlor daraufhin die Kontrolle über sein Auto und überfuhr schäftsviertel zu ersetzen. Mit der Neuentdeckung des einen Polizisten. Nach dem Vorfall, bei dem beide Männer Charmes alter Wohnviertel und „orientalischer“ Häuser starben, schien es für kurze Zeit, als ob der Druck auf die durch Yuppies und Investoren in den letzten 25 Jahren arabischen Dorfbewohner*innen nachlassen würde. Jedoch kommt es auch hier verstärkt zu einer privaten Aneig- blieb die staatliche „Behörde zur Entwicklung und Ansied- nung ehemals palästinensischen Eigentums. Hier ge- lung der Beduinen“ hart. Die meisten Dorfbewohner*innen sellen sich neoliberale Marktkräfte zur nationalistischen haben inzwischen „freiwillig“ unterschrieben, dass sie bereit Politik und zu den Spätfolgen des zionistischen Enteig- sind, ihr Dorf zu räumen und nach Hura umzusiedeln, wo nungsprojekts. In Akko etwa erleben wir derzeit eine ihnen Land zugesprochen wurde. Die Stadt wurde 1989 auf durch die bewusste Politik der „Judaisierung“ arabi- Initiative der israelischen Regierung errichtet und ist eine der scher Stadtteile beschleunigte Gentrifzierung, eine wei- ärmsten Ortschaften in ganz Israel. Bis Ende August 2018 tere Schwächung der politischen und privatrechtlichen sollten die Araber*innen Umm al-Hiran räumen. Viele be- Position arabischer Stadtbewohner*innen und nicht zu- gannen, in Hura provisorische Behausungen zu errichten, letzt die prekäre Lage armer jüdischer Menschen, de- die jedoch erneut von Abriss bedroht sind. nen in den 1950er Jahren arabische Häuser zugeteilt Gleich unmittelbar neben Hura befndet sich die jüdi- wurden – allerdings nur so lange, wie sie als Schutz sche Ortschaft Metar, 1980 errichtet und eine der reichs- gegen die Rückkehr der rechtmäßigen Besitzer*innen, ten Ortschaften im Land. Das Gemeindegebiet von Metar, der palästinensischen Flüchtlinge, gebraucht wurden. wo 6.600 Menschen leben, umfasst 1.667 Hektar, wäh- rend den 17.000 Einwohner*innen von Hura nur 664 Hek- tar zur Verfügung stehen (Angaben von 2013). Wie auf der Die Situation heute: Umm al-Hiran folgenden Karte zu sehen ist, reicht das Gemeindegebiet und Schowal, Chura und Metar von Hura gerade einmal bis zu den letzten Häusern des Ortes, während der jüdischen Ortschaft Metar mit seiner Alle Elemente dieser Geschichte kommen in einem Kon- wohlsituierten Bevölkerung ein riesiges Gebiet für zukünf- fiktfall zusammen, der in den letzten Jahren für viel Auf- tige Erweiterungen zugeteilt wurde. regung gesorgt hat. Eine ganze arabische Ortschaft, das Zum Schluss sollte noch angemerkt werden, dass die- kleine Dorf Umm al-Hiran im nördlichen Negev, soll vom ser kurze Überblick nur Fragen der Landverteilung und des Erdboden verschwinden, um Platz für die Errichtung einer Landeigentums behandelt. Es ist klar, dass die tatsächliche exklusiv jüdischen Ortschaft namens Hiran zu machen. Die Nutzung des Landes – sowie sein potenzieller Wert – weit- arabischen Bewohner*innen wurden in den 1950er Jah- gehend durch Planungsvorgaben bestimmt wird. Deshalb ren von der Militärregierung dorthin umgesiedelt, beglei- ist es auch notwendig, die zentrale staatliche Steuerung tet von Gewalttaten und Drohungen. Das meiste ihres ur- lokaler Planungsprozesse sowie die Dominanz jüdischer sprünglichen Landes befndet sich bis heute im Besitz des Ortschaften in den „Regionalräten“, die circa 80 Prozent Kibbuz Schowal. des staatlichen Landbesitzes unter ihrer Kontrolle haben, Eigentum an Ressourcen und Planungsbefugnisse sind mit in Betracht zu ziehen. Erst dann wird das ganze Aus- eng miteinander verbunden. Für viele Jahrzehnte taten maß der Diskriminierung richtig erfasst. die israelischen Behörden einfach so, als gäbe es das Dorf Umm al-Hiran gar nicht. Es war weder an das Wasser- noch Redaktion: Ursula Wokoeck Wollin an das Stromnetz angeschlossen, ohne Gesundheitsver- sorgung und ohne Schule. 2010 sollte es zu einer aner- Gadi Algazi, 1961 in Tel Aviv geboren, in kannten Ortschaft werden, doch das Büro des Premiermi- Göttingen promoviert, ist Professor am nisters Benjamin Netanjahu intervenierte. Umm al-Hiran Institut für Geschichte der Universität Tel Aviv. Algazi ist zudem eine zentrale Figur wurde nicht anerkannt, an seiner Stelle soll die jüdische der israelischen Linken: 1979 gehörte Ortschaft Hiran entstehen, die von der zionistischen Sied- er zu der ersten Gruppe von Gymnasiasten, lerbewegung Or (Licht) errichtet werden soll. Gemäß den die sich weigerten, in den besetzten Paläs- Statuten kann dort nur wohnen, wer jüdisch ist, sich an tinensergebieten den Militärdienst abzuleis- ten. Als Aktivist ist er heute vor allem als die religiösen Gebote hält, in der israelischen Armee ge- Gründungsmitglied von Tarabut engagiert, dient hat und „zu dem gesellschaftlichen Leben der Ge- einer jüdisch-arabischen Bewegung, die meinde mit ihrem besonderen Charakter passt“. verschiedene Kämpfe zu verbinden sucht Die Bewohner*innen von Umm al-Hiran führten einen – etwa gegen die Besatzung und für ein langen Rechtstreit vor Gericht. Sie klagten gegen Diskrimi- Ende der neoliberalen Privatisierungspolitik, gegen fortwährende Marginalisierung nierung aufgrund nationaler Zugehörigkeit: Ihr ursprüngli- von Mizrachim und die staatlich verordnete ches Land wurde ihnen weggenommen, sie dürfen in ihr Verdrängung der Beduinen im Negev.

35 Luftaufnahme von Metar, 2012. Foto: Wikipedia

Blick auf das Beduinendorf Chura, 2014. Foto: Activestills

Protest gegen staatliche Pläne (Prawer- Plan) zur Vertreibung von Beduin*innen im Negev, Chura, 2013. Foto: Activestills

36 Karte des Gebiets von Metar und Chura. Markiert ist das staatlich zugewiesene Gemeindegebiet für beide Ortschaften. Metar, die kleine Ortschaft, hat viel Land für zukünftige Entwicklung, während für Chura fast keine Möglichkeit zur Expansion besteht. Quelle: Israelisches Zentralbüro für Statistik, 2014.

37

Westbank: das System der Landnahme

Dror Etkes Seit Ende des Krieges von 1967 verfolgt die israelische Regierung das Ziel, sich Land in der besetzten Westbank anzueignen. Die wichtigste Methode hierfür ist der Siedlungsbau. Mit dieser Landnahme wird versucht, die demografsche Unterlegenheit der Juden in der Westbank durch eine geografsche Dominanz „wettzumachen“. Deshalb eignet sich Israel immer mehr Land in der Westbank an, um es exklusiv israelischen Siedler*innen zur Verfügung zu stellen. Das endlos wuchernde Gefecht aus Militärverordnungen und Bürokratie dient allein dem Zweck, der palästinensischen Bevölkerung ihr Land wegzunehmen.

Siedlung von Beitar Illit, errichtet auf enteignetem Land des palästinen- sischen Dorfs Wadi Fukin in der Nähe von Bethlehem, Westbank, 2014. Foto: Activestills

39 Historischer Hintergrund Siedler*innen (das heißt sieben Prozent der derzeitigen is- raelischen Bevölkerung). Der Krieg von 1948 endete mit der Unterzeichnung der Israel hat das Territorium der Westbank nicht offziell an- Waffenstillstandsabkommen von 1949 zwischen dem neu nektiert, mit Ausnahme von 70 Quadratkilometern in Je- entstandenen Staat Israel und seinen vier arabischen Nach- rusalem und Umgebung, die man wenige Wochen nach barstaaten (Ägypten, Jordanien, Libanon und Syrien). Wäh- Kriegsende dem Stadtgebiet zuschlug und mithin auch rend der Verhandlungen wurden die Waffenstillstandslini- dem Staatsterritorium. In allen anderen Teilen der West- en mit einem grünen Stift in der Karte eingetragen. Das ist bank übt Israel seine Kontrolle im Rahmen einer „militä- der Grund für die Bezeichnung Grüne Linie. rischen Besatzung“ (belligerent occupation) aus. Dies ist Die meisten Staaten erkennen die Grüne Linie als die auch die Grundlage für das berechtigte Argument, das Staatsgrenzen Israels an. Aber es darf nicht vergessen gesamte Siedlungsprojekt verstoße gegen internationales werden, dass diese Linie das Ergebnis einer kriegeri- Recht, demzufolge es einer Besatzungsmacht verboten ist, schen Auseinandersetzung ist, die die massive Entwurze- ihre eigene Bevölkerung in eroberten Gebieten anzusiedeln. lung von Hunderttausenden Zivilist*innen (die allermeis- ten Palästinenser*innen, aber nicht nur) zur Folge hatte. Es handelt sich dabei also um alles andere als eine natürliche „Militärische Sperrgebiete“ Grenze, die irgendeiner geografschen oder historischen in der Westbank „Logik“ folgt, sondern um eine Linie, die das Kräfteverhältnis zwischen den Armeen widerspiegelt, deren Befehlshaber Wenige Wochen nach der Eroberung der Westbank im Juni damals die Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten. 1967 begann Israel, dort große Flächen zu „militärischen Die Waffenstillstandsabkommen von 1949 teilten das Ter- Sperrzonen“ zu erklären. Dabei handelt es sich um Gebiete ritorium, das seit Ende 1917 bis Mai 1948 einem britischen entlang des Flusses Jordan an der Grenze zwischen West- Militärregime unterstand und zumeist Palästina genannt bank und Jordanien: erstens um das Gebiet um Latrun, wurde, zwischen drei Staaten auf: Etwa 78 Prozent gerieten westlich von Ramallah, das an die Grüne Linie angrenzt, unter Kontrolle des neu gegründeten Staates Israel, etwas und zweitens um einen sich durch die ganze Länge der mehr als 21 Prozent gingen an Jordanien (das Gebiet, das Westbank ziehenden Streifen zwischen der Jordan-Senke heute Westbank genannt wird, einschließlich Ost-Jerusa- und auf Hügeln gelegenen palästinensischen Dörfern (sie- lem) und ein relativ kleines Gebiet entlang des Mittelmeers he Karte 1). Fast 1.765 Quadratkilometer, das heißt fast ein im Süden, das von Ägypten erobert worden war – der so- Drittel des gesamten Territoriums der Westbank, und mehr genannte Gazastreifen – blieb unter ägyptischer Kontrolle. als die Hälfte des Gebiets, das als Zone C defniert ist, sind Die Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und heute „militärische Sperrgebiete“, die offziell verschiede- seinen Nachbarstaaten hielten 18 Jahre lang (trotz wie- nen Zwecken (militärische Übungsplätze, Grenzsicherung derholter gewaltsamer Vorfälle). Am 5. Juni 1967 brach etc.) dienen. Im Laufe der Jahre hat Israel fast ein Fünftel ein Krieg zwischen Israel auf der einen und Ägypten, Jor- des Territoriums der Westbank (18 Prozent) zum Truppen- danien und Syrien auf der anderen Seite aus. Als Israel übungsgebiet erklärt. Nach Angaben des Amts der Ver- nach nur sechs Tagen aus diesem als Sieger hervorging, einten Nationen für die Koordination humanitärer Angele- waren damit drastische territoriale Zugewinne verbunden: genheiten (UNOCHA) lebten im Jahr 2014 mehr als 6.000 Im Norden hatte Israel von Syrien den westlichen Teil der Palästinenser*innen in solchen Gebieten, mehr als 12.000 in Golanhöhen erobert, im Süden die gesamte Sinai-Halb- ihrer unmittelbaren Nähe. Palästinenser*innen, deren Land insel und den Gazastreifen und im östlichen Zentrum die in einem solchen Gebiet liegt, dürfen es offziell nicht ohne bislang von Jordanien beherrschte Westbank. In allen im Genehmigung der israelischen Armee betreten. Weil ein Juni 1967 eroberten Gebieten errichtete Israel Siedlungen Großteil dieser Gebiete (circa 80 Prozent) praktisch aber gar für jüdische Staatsbürger*innen, wobei der Schwerpunkt nicht militärisch genutzt wird, haben Palästinenser*innen des Siedlungsbaus eindeutig auf der Westbank (einschließ- relativ ungehinderten Zugang zu ihrem Land. Eine langfris- lich Ost-Jerusalem) lag.1 tige Nutzung, eine Bebauung oder Investitionen in dessen Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dieser Land- Entwicklung sind dagegen nicht möglich, weil sie immer nahme Israels, insbesondere mit dem Siedlungsbau in der damit rechnen müssen, dass die israelischen Behörden Westbank. Der größte Teil der palästinensischen Bevöl- neue Gebäude oder andere Infrastruktur abreißen lassen. kerung in der Westbank (zu der auch die im Zuge des Entgegen der offziellen Behauptung, kein einziges paläs- Kriegs von 1948 hierher Gefüchteten gehören) wurde wäh- tinensisches Wohngebiet sei in eine Sperrzone umgewid- rend der sechstägigen Kriegshandlungen nicht von dort met worden und kein einziger Palästinenser müsse unter vertrieben. Nach Schätzungen füchteten während des Truppenübungsgebieten leiden, beweisen historische Luft- Krieges oder in den ersten Wochen danach circa 250.000 aufnahmen, dass früher einmal in diesen Militärzonen zahl- Palästinenser*innen nach Jordanien, von denen ein Teil reiche Palästinenser*innen von Viehzucht und Ackerbau nach dem Krieg zurückkehrte. Nach den Ergebnissen der lebten. Mit der Abriegelung dieser Gebiete wurde die Le- ersten Volkszählung, die Israel in der Westbank wenige bensgrundlage dieser Menschen bewusst zerstört. Monate nach der Eroberung durchführen ließ, lebten da- Interessant ist, dass die Karte, auf der die Ende 1972 mals dort ungefähr 600.000 Menschen. Heute leben 2,9 zu Truppenübungsplätzen erklärten Territorien verzeichnet Millionen Palästinenser*innen in der Westbank (einschließ- sind, mit der Karte des „Allon-Plans“ (siehe Karte 2) na- lich Ost-Jerusalem) sowie mehr als 600.000 israelische hezu identisch ist. Jigal Allon war ein Offzier und Politiker

40 Karte 1: „Geschlossene Militärzonen” Karte 2: Allon-Plan

der Arbeitspartei, der 1967 einen Ministerposten in der Die erste Siedlung heißt Kfar Etsion. Sie entstand im Sep- israelischen Regierung innehatte. Der Allon-Plan sah vor, tember 1967 im Gebiet von Gusch Etsion, nur wenige Ki- dass Israel aus Sicherheitsgründen die Kontrolle über das lometer südwestlich von Bethlehem. Dort gab es seit den gesamte Gebiet zwischen dem Gebirge und dem Jordan- 1920er Jahren – mit Unterbrechungen – eine zionistische Fluss behalten sollte. Der palästinensischen Bevölkerung, Ortschaft, die im Laufe der Kämpfe mit der jordanischen die in den westlich davon gelegenen Teilen der Westbank Armee im Mai 1948 erobert und zerstört worden war. Der lebte, gestand er eine beschränkte Autonomie zu. Darü- Bau von Kfar Etsion galt als Symbol des „Rechts auf Rück- ber hinaus schlug der Allon-Plan vor, in dem meist wüs- kehr“ der Israelis, der großen Sieger des Krieges, der nur tenartigen östlichen Teil der Westbank Siedlungen zu bau- wenige Monate zuvor geendet hatte. en, um die palästinensische Bevölkerung in der Westbank Das Land, auf dem die allermeisten Siedlungen in den von der arabischen Bevölkerung jenseits des Jordan, die ersten zehn Jahren nach Kriegsende entstanden, war nicht meist palästinensischen Ursprungs ist, zu trennen. Natür- ehemaligen jüdischen Besitzer*innen abgekauft worden. lich ist die Übereinstimmung der Karten kein Zufall. Die Vielmehr hatte es die israelische Armee für „militärische Entscheidung, in jenen Jahren militärische Sperrzonen in Zwecke“ vorübergehend einfach beschlagnahmt. Die off- der Westbank einzurichten, deckte sich mit dem Vorha- zielle Begründung, mit der die israelischen Behörden die- ben des Siedlungsbaus und den Sicherheitsüberlegungen se Landnahme rechtfertigten, lautete: Zivile Ortschaften der damaligen israelischen Regierung. Die Umwidmung seien ein wesentlicher Bestandteil der militärischen Infra- großer Teile der Westbank in militärisches Sperrgebiet war struktur, die Israel benötige, um für Sicherheit und Ord- ein praktisches Instrument, mit dem der israelische Staat nung in der Westbank zu sorgen. Im Laufe der Zeit wur- das Territorium neugestalten und der palästinensischen de dieser Standpunkt auch vom Obersten Gerichtshof in Bevölkerung vorschreiben konnte, wo diese zu leben hat. Israel akzeptiert. So wies er Klagen von palästinensischen Grundbesitzer*innen ab, die sich nicht mit der Beschlag- nahmung ihres Landes abfnden wollten. In der Urteilsbe- „Vorübergehende Beschlagnahmung für gründung des Obersten Gerichts vom 15. März 1979 an- Sicherheitszwecke“ – der Anfang der lässlich einer Klage von Palästinenser*innen aus der Stadt Siedlerbewegung und die Institutiona- al-Bireh (sie waren 1977 enteignet worden, um die Siedlung Bet El zu errichten) schrieb die Richterin Miriam Ben-Porat: lisierung eines Mechanismus für die „Israel als ein kleines Land ist […] bedauerlicher- Landnahme in der Westbank weise von Staaten umgeben, die ihre Feind- In den ersten zehn Jahren nach Ende des Krieges von 1967 schaft ihm gegenüber nicht verbergen. Diese Si- wurden mehr als 30 Siedlungen in der Westbank errichtet. tuation, auf die ich nicht weiter eingehen werde,

41 ist wahrscheinlich einzigartig in der Geschichte Das Urteil im Fall Elon Moreh stellte das Ende der ersten der Menschheit. […] Mithin ist es verständlich, Phase in der Evolution des Systems der Landnahme dar, dass in dieser besonderen Situation höchste das Israel in der Westbank errichtete und bis heute auf- Wachsamkeit geboten ist, um allem drohenden rechterhält. Es sollte jedoch hervorgehoben werden, dass Unheil vorzubeugen. Wo und wann immer sich mit diesem Urteil nicht etwa die Anordnung erging, Land, ein solches abzeichnet, ist es auch notwendig, das zuvor unter dem gleichen Vorwand und auf die glei- außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. che Art und Weise beschlagnahmt worden war, an seine Vor diesem Hintergrund entspricht das Argu- palästinensischen Eigentümer*innen zurückzugeben. Des- ment, wonach der Zeitfaktor bei der Verhinde- halb gibt es bis heute Dutzende israelischer „temporärer“ rung von Terroranschlägen von äußerster Wich- Siedlungen auf palästinensischem Land, das angeblich tigkeit ist, dem gesunden Menschenverstand. dringend „für militärische Zwecke benötigt wird“. Eine dieser Maßnahmen – und diese ist Gegen- Und die Siedlung Elon Moreh? Manch Leser*in mag stand dieser Verhandlung gewesen – ist die Ge- sich fragen, was aus ihr geworden ist. Es besteht kein währleistung der Präsenz von jüdischer Zivilbe- Grund zur Sorge. Die jüdische Siedlung wurde einige Ki- völkerung an Orten, die als besonders gefährdet lometer nach Norden verlegt, an eine Stelle, wo das Land gelten. […] Da wir, wie gesagt, aus der Vergan- als staatliches Eigentum registriert war (eine Eintragung, genheit wissen, dass Kampfhandlungen völlig die bereits unter jordanischer Herrschaft erfolgt war und unerwartet ausbrechen können, lässt sich nach- die Israel „als Erbe“ übernommen hat). Dort besteht die vollziehen, warum die Präsenz jüdischer Bevöl- Siedlung bis heute. kerung an solchen Orten als so entscheidend eingeschätzt wird.“ Die Erklärung zu „Staatsland“ Wenige Monate später sah sich dasselbe Gericht veran- lasst, eine fast vollständige Kehrtwende bei der Beurteilung Die Parlamentswahlen, die in Israel im Mai 1977 statt- von Beschlagnahmungen privaten Grundbesitzes als Vor- fanden, beendete die 29-jährige Herrschaft von Parteien, aussetzung für die Errichtung von neuen jüdischen Siedlun- die zur sozialistischen Strömung gehört hatten. Zum ers- gen zu vollziehen: Im Juni 1979 hatte die israelische Armee ten Mal seit der Staatsgründung gewann eine rechte Par- aus „Sicherheitsgründen“ die Beschlagnahmung von Land tei, nämlich der von Menachem Begin geführte Likud, die angeordnet, das Palästinenser*innen gehörte, die im Dorf Wahlen. Die Geschichte der israelischen Landnahme in der al-Rudscheib, östlich von Nablus, lebten. Die Beschlag- Westbank sollte nun eine bedeutende Richtungsänderung nahmung sollte der Errichtung einer neuen Siedlung na- erfahren, da der Likud sich eine aggressivere und invasi- mens Elon Moreh dienen. Um es den Grundbesitzer*innen vere Siedlungspolitik auf seine Fahne geschrieben hatte. schwerer zu machen, sich zu organisieren und sich dage- Das Urteil des Obersten Gerichts bezüglich der Klage gen zu wehren, begannen die Arbeiten zum Bau der Sied- gegen die Errichtung der Siedlung Elon Moreh vom Okto- lung noch an demselben Tag, an dem der Armeekomman- ber 1979 schränkte die Möglichkeiten israelischer Regie- dant der Region die Anordnung für die Beschlagnahmung rungen ein, weiterhin Sicherheitsvorwände zu nutzen, um unterschrieben hatte. Zwei Wochen später reichten einige sich noch mehr Land anzueignen und es Siedler*innen zu der betroffenen Grundbesitzer*innen Klage beim Obers- übergeben. Mit dem Wegfall der Möglichkeit, mit Sicher- ten Gericht in Israel ein und stützten sich dabei auf das heitsbelangen zu argumentieren, war es mithin notwen- gleiche Argument, das wenige Monate zuvor von den zu- dig geworden, einen alternativen Weg zu fnden – oder zu ständigen Richter*innen nicht anerkannt worden war: Das „erfnden“, der eine weitere Landnahme in der Westbank Motiv für die Enteignung seien nicht Sicherheitsgründe, erlaubte. In den frühen 1980er Jahren kamen israelische sondern sie folge illegitimen politischen Zwecken. An der Jurist*innen auf folgende Lösung: Sie interpretierten ein- Gerichtsverhandlung über die Klage der palästinensischen fach das Osmanische Landgesetz (von 1858) neu.2 Sie fan- Grundbesitzer*innen, die im Oktober 1979 stattfand, nah- den einen juristischen Trick, der es ermöglichte, Flächen, men auch Siedler*innen aus Elon Moreh teil. Im Gegen- die nicht oder „nicht genügend bearbeitet“ wurden,3 zu satz zur Stellungnahme der staatlichen Stellen, die die Be- „Staatseigentum“ zu erklären. Auf diese Art und Weise eig- schlagnahmung mit Sicherheitserwägungen rechtfertigten, nete sich der israelische Staat die Kontrolle über Hunder- sagten die Siedler*innen aus, das Ziel sei keine „vorüberge- te von Quadratkilometern Land an, das mehrheitlich jüdi- hende Beschlagnahmung“ aus Sicherheitsgründen gewe- schen Siedler*innen zugewiesen wurde. sen, sondern die Errichtung einer permanenten Siedlung, Dies hatte die Errichtung Dutzender von Siedlungen zur mit der „das göttliche Versprechen an das Volk Israel, ihm Folge. Gab es im Jahr 1977 noch 31 Siedlungen in der das Land Israel zu übereignen“, eingelöst worden wäre. Westbank, sind es heute schätzungsweise 125. Dazu kom- Da die Siedler*innen die Behauptung der „vorübergehen- men noch etwa 100 Outposts (siehe dazu weiter unten). den Beschlagnahmung für Sicherheitszwecke“ als Lüge Von Anfang baute man die Siedlungen hauptsächlich in enttarnt hatten, blieb dem Obersten Gericht keine andere solchen Gebieten der Westbank, in denen die Mehrheit Wahl, als die Räumung der Siedlung und die Rückgabe der palästinensischen Bevölkerung lebte und heute noch des Lands an seine palästinensischen Eigentümer*innen lebt. Dies geschah mit dem erklärten Ziel, jede Aussicht anzuordnen. auf einen unabhängigen und lebensfähigen palästinensi- schen Staat in der Westbank zu zerstören.4

42 Karte 3: Als Staatsland deklariertes Gebiet Die informellen piratenhaften Aktionen sind gewisser- maßen komplementäre Maßnahmen, zu denen gegriffen wird, wenn keine „legale“ Lösung zur Verfügung steht, um sich bestimmter Gebiete zu bemächtigen. Es handelt sich dabei nicht um eine Miss- oder Fehlinterpretation von Gesetzen durch die israelischen Behörden, sondern um eine systematische Suspendierung der Rechtstaatlichkeit zugunsten der „Judaisierung“ immer größerer Teile der Westbank. Nach fast 50 Jahren Siedlungsbau kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dass es nur ganz wenige Siedlungen in der Westbank gibt, bei denen keine illega- len Methoden zum Einsatz gekommen sind. Siedler*innen, die zu radikalen religiösen oder fundamentalistischen poli- tischen Strömungen gehören, gehen in der Regel beson- ders gewalttätig vor.

Die Geschichte von Ofra und Amona – Katalysatoren für das Regulierungsgesetz Die Geschichte der Siedlung Ofra und des Outposts Amo- na, der daraus hervorgegangen ist, veranschaulicht das pi- ratenhafte Vorgehen vieler Siedler*innen, wobei sich zwi- schen formalen und informellen Methoden nicht immer eine klare Trennlinie ziehen lässt. Im Jahr 1975 erlaub- te Israel einer kleinen Gruppe von Siedler*innen, die zur fundamentalistisch-religiösen Strömung Gusch Emunim gehörten, „ein temporäres Arbeitslager“ in einem verlas- Outposts – informelle Landnahme senen ehemaligen jordanischen Militärlager einzurichten. in der Westbank Dieses lag an der Verbindungsstraße zwischen Ramallah und Jericho. Die Siedler*innen bezogen das „Lager“, das Neben formalen Mechanismen der Landnahme, die oben sie Ofra nannten (laut einer biblischen Ortschaft, die an- beschrieben wurden, gab es während der gesamten Zeit scheinend in dieser Gegend lag), und beschlossen, dort zu des Siedlungsbaus auch informelle „piratenhafte“ Aktionen bleiben. Und nicht nur das. Luftaufnahmen zeigen, dass mit dem Ziel, das Gebiet, auf dem jüdische Siedler*innen die Siedler*innen bereits in den frühen 1980er Jahren leben, auf Kosten der Palästinenser*innen auszuweiten. damit begannen, sich das Land ihrer palästinensischen Dazu gehört der Einsatz von Drohungen und Gewalt ge- Nachbar*innen – Bewohner*innen der nahegelegenen Dör- gen palästinensische Grundbesitzer*innen und deren Ei- fer Silwad und Ain Jabrud – anzueignen. Dieses geschah gentum. Damit sollen diese vom Betreten und von der nicht heimlich. Es war praktisch der israelische Staat, der weiteren Bewirtschaftung ihres Landes abgehalten wer- die Häuser und die Straßen in der Siedlung baute. Die den, bis dieses ökonomisch irgendwann nicht mehr ren- Häuser wurden von israelischen staatlichen Körperschaf- tabel ist und „freiwillig“ aufgegeben wird. ten an die Wasser-, Strom- und Telefonnetze angeschlos- Die Verwendung des Begriffs „piratenhaft“ in diesem sen, und nach und nach ließen sich Hunderte von Famili- Zusammenhang ist vielleicht etwas irreführend und be- en in der Siedlung Ofra nieder. darf einer Erklärung: Es waren in der Regel nicht indivi- An dieser Stelle werden sich manche Leser*innen duelle Siedler*innen, die aus eigenen Mitteln Land in den wohl fragen, was denn mit den palästinensischen besetzten Gebieten erwarben. Vielmehr stellten verschie- Eigentümer*innen des in Beschlag genommenen Landes dene öffentliche Körperschaften und staatliche Stellen ih- geworden ist, was sie gegen die Enteignung unternom- nen Gelder und Unterstützung für ihre illegalen Vorhaben men haben. Dazu später mehr. Es sollte dabei nicht ver- zur Verfügung. Dazu gehörten der Anschluss an die Trink- gessen werden, dass die Westbank einem Militärregime wasser-, Strom- und Telefonnetze, der Bau von Straßen untersteht, in dem Protest nicht gern gesehen ist. Im Lau- und die Umzäunung großer Flächen. Dies erfolgte unter fe der Jahre hat Israel Palästinenser*innen, die sich dem der Schirmherrschaft der israelischen Armee, die es in Siedlungsbau widersetzen, eingesperrt und abgeschoben, der Regel nicht nur unterlässt, geltendes Recht durchzu- manche gar verletzt und getötet, selbst wenn sie nur ge- setzen, sondern in den allermeisten Fällen solche illega- waltfreien Widerstand geleistet hatten. len Aktivitäten sogar absichert und systematisch unter- In den Jahren nach der Unterzeichnung der Oslo-Abkom- stützt. Und das, obwohl es ihre explizite Pficht wäre, das men hat Israel den Siedlungsbau stark beschleunigt und Eigentum der palästinensischen Bevölkerung in der West- dafür Dutzende neuer Outposts errichtet. Outposts oder bank zu schützen. Außenposten sind eine Art Minisiedlungen oder Vorläufer

43 von Siedlungen, die die israelische Regierung in Zusam- kam für den Außenposten Amona allerdings zu spät. An- menarbeit mit den Siedler*innen ab Mitte der 1990er Jahre fang Februar 2017 fand auf Anweisung des Obersten Ge- nutzt, um sich weitere Gebiete in der C-Zone anzueignen. richts dessen Räumung statt. Die Überlegung dahinter war, schnell Fakten zu schaffen, um die offziellen Vorschriften und Antragspfichten für die Errichtung neuer Siedlungen zu umgehen. Diese set- Das Regulierungsgesetz – die offzielle zen nicht nur einen Regierungsbeschluss voraus, sondern Anerkennung „piratenhaften“ Landraubs auch diverse Planungs- und Verwaltungsprozesse, die re- lativ viel Zeit in Anspruch nehmen. Outposts hatten dage- Sechs Tage nach der Räumung von Amona verabschiede- gen den Vorteil, dass sich die israelische Regierung einer te die Knesset das sogenannte Regulierungsgesetz, das Kritik aus dem In- und Ausland mit der Behauptung ent- offziell das Ziel verfolgt, „die Besiedlung von Judäa und ziehen konnte, hierbei handele es sich um eigenmächtige Samaria [d. h. in der Westbank] zu regulieren und die wei- „Initiativen vor Ort“, für die sie keine Verantwortung trage. tere Gründung und Entwicklung [von Siedlungen] zu er- Heute gibt es circa 100 Outposts in der Westbank. Davon möglichen“. Die Vagheit dieser Formulierung löste ein ver- wurde ungefähr die Hälfte zwischen 1995 und 1999 errich- fassungsrechtliches Drama aus, das noch lange andauern tet und die andere Hälfte in den ersten Jahren nach Aus- wird. Wie beschrieben, hat Israel Tausende von Siedlungs- bruch der Zweiten Intifada (gegen Ende 2000). Angesichts häusern auf Land errichtet, das palästinensisches Privatei- einer Reihe von Klagen beim Obersten Gericht ist die isra- gentum ist, oder hat deren Bau ermöglicht. Dies war nicht elische Regierung sehr bemüht, die Errichtung eines Groß- nur ein Verstoß gegen das in der Westbank geltende is- teils dieser Außenposten nun rückwirkend zu genehmigen. raelische Militärrecht, sondern auch gegen internationa- Amona war einer der Outposts, die Mitte der 1990er Jah- les Recht, das von Staaten verlangt, in von ihnen besetz- ren entstanden. Der Außenposten liegt auf einem Hügel ten Gebieten besonders sorgfältig mit dem Eigentum der etwa einen Kilometer östlich von der Siedlung Ofra ent- unter Besatzung lebenden Bevölkerung umzugehen und fernt und wird von Siedler*innen der zweiten Generation, deren Rechte zu schützen. das heißt Menschen, die in Ofra aufgewachsen sind, be- Die (nicht unbegründete) Sorge der Vertreter*innen der wohnt. Die Stelle für den Outpost ist nicht zufällig gewählt. rechten Siedler-Lobby in der Knesset, die sich besonders Sie ist einerseits weit genug von der „Muttersiedlung“ weg, für die Verabschiedung dieses Gesetzes eingesetzt hatten, um deutlich zu machen, dass es sich um eine neue An- war, dass palästinensische Grundbesitzer*innen weiter mit siedlung und nicht nur um einen „Ortsteil“ von Ofra han- Klagen beim israelischen Obersten Gericht versuchen wür- delt, andererseits weit genug entfernt, um die Grenzen den, ihr Land zurückzuerhalten. Andere fürchteten, dass des Kommunalgebiets von Ofra erheblich „auszudehnen“. weitere Räumungen von jüdischen Siedlungen noch hef- Sämtliches Land auf dem Hügel, auf dem der Außenpos- tigere politische Krisen auslösen könnten. Was auf den ten Amona errichtet wurde (sowie auch das meiste Land, ersten Blick nur wie eine der vielen Gesetzesinitiativen der auf dem die Siedlung Ofra gebaut wurde), ist im Grund- radikalen rechten Parteien in Israel erscheinen mag, stellt buch als Eigentum von in umliegenden Dörfern lebenden einen gewaltigen Bruch mit allen bis dahin in Israel gel- Palästinenser*innen eingetragen. Weder die Siedler*innen, tenden rechtlichen Regeln dar (zumindest was die offziel- die vor Ort die Initiative zur Landnahme ergriffen, noch die len Äußerungen und die Außendarstellung gegenüber der israelischen Behörden sahen dies als ein Hindernis. Weltgemeinschaft betrifft) – und zwar in zweierlei Hinsicht: Das Schicksal des Outposts Amona, der im Laufe der Zeit zu einem Symbol der jüdischen Siedlerbewegung ge- • Es handelt sich hierbei um ein vom israe- worden ist, hätte sich wohl kaum von Dutzenden ähn- lischen Parlament verabschiedetes Gesetz, lich entstandener und bis heute existierender Vorpos- das in einem Gebiet gelten soll, das gar nicht ten unterschieden, hätten sich die palästinensischen zum israelischen Staatsgebiet gehört. Dies Eigentümer*innen des Landes, auf dem Amona errichtet steht im Widerspruch zu dem in der West- wurde, nicht doch irgendwann einmal zusammengetan. bank geltenden Rechtssystem, das auf Im Jahr 2008 reichten sie beim israelischen Obersten Ge- Militärverordnungen beruht. Man stelle sich richt eine Klage gegen den Staat Israel ein und forderten vor, der US-amerikanische Kongress würde entsprechend geltenden Rechts die Räumung des Out- Gesetze verabschieden, um diese nach posts und den Abzug von dessen Bewohner*innen von ih- der militärischen Eroberung von Afghanis- rem Land. Was in einem Rechtsstaat eine Sache von viel- tan oder Irak dort zur Anwendung zu bringen. leicht nur wenigen Tagen gewesen wäre, entwickelte sich Dies würde zu internationalen Protesten zu einem sich mehr als acht Jahre hinziehenden Rechts- führen und wäre – genauso wie im Fall des streit, der eine Reihe von politischen Krisen auslöste und israelischen Regulierungsgesetzes – ein fast zum Zusammenbruch der vierten Netanjahu-Regie- klarer Verstoß gegen Souveränitätsprinzipien rung geführt hätte. Die Siedler*innen forderten von ihren des Internationalen Völkerrechts. Repräsentant*innen in der Knesset (ohne die Netanjahus Regierungskoalition keine Mehrheit hat), „kreative Wege“ • Das Regulierungsgesetz soll rückwirkend zu fnden, um „das Problem“ zu lösen und Amona zu retten. Handlungen und Maßnahmen legalisieren, Die „kreative Lösung“, die die Regierung daraufhin prä- mit denen sich die Besatzungsmacht Privat- sentierte und die sich als sehr folgenreich erweisen sollte, eigentum der unter Besatzung lebenden

44 und eigentlich zu schützenden Bevölkerung Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin unrechtmäßig (das heißt, ohne dass zwingen- de Sicherheitsgründe vorlagen) angeeignet Dror Etkes beschäftigt sich seit 2002 und dieses zum Teil erheblich beschädigt hat. kritisch mit der israelischen Land- und Sied- Ein solches Vorgehen kann als Kriegsver- lungspolitik in der Westbank. Im Laufe der Jahre arbeitete er bei verschiedenen israe- brechen angesehen werden, für das der Inter- lischen zivilgesellschaftlichen Organisationen nationale Gerichtshof in Den Haag Israels und gründete 2014 die Organisation Kerem Regierung zur Verantwortung ziehen könnte. Navot, eine Forschungs- und Monitoring- Einrichtung, die unter anderem Internetplatt- formen zur Aufklärung über Israels Boden- Es ist also kein Wunder, dass der Rechtsberater der isra- politik betreibt. elischen Regierung die Initiator*innen des Gesetzes und die Regierung davor gewarnt hat, dass das Regulierungs- gesetz nicht verfassungsmäßig ist und es einer Prüfung Anmerkungen des Obersten Gerichts nicht standhalten wird. Die Verant- 1 Im Rahmen der Umsetzung der Friedensver- wortlichen haben dennoch darauf bestanden, es zu ver- träge mit Ägypten räumte Israel 1982 die auf abschieden. Derzeit sind mehrere Klagen, die seine Auf- der Sinai-Halbinsel errichteten israelischen hebung fordern, anhängig. Die Regierung hat inzwischen Siedlungen. Und im Rahmen der sogenann- ten Entfechtung räumte Israel 2005 seine einen privaten Rechtsanwalt engagiert, um das Regulie- Siedlungen im Gazastreifen. In beiden Fällen rungsgesetz in der anstehenden Verhandlung des Obers- waren nur einige Tausend israelische Staats- ten Gerichts zu verteidigen. bürger*innen von der Räumung betroffen.

2 Von 1517 bis 1917 war Palästina Teil des Osmanischen Reichs. Die osmanischen Vorläufges Fazit Gesetze wurden weder von der britischen Mandatsregierung noch von Jordanien Das Regulierungsgesetz in Israel markiert einen weiteren aufgehoben, unter dessen Kontrolle die großen Schritt in Richtung völlige Rechtlosigkeit der un- Westbank bis zur Eroberung durch Israel stand. So erbte Israel diese osmanischen ter Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung. Gesetze, zumal es nach internationalem Es legt das Augenmerk auf die massiven inneren Wider- Recht einer Besatzungsmacht verboten ist, sprüche der 50-jährigen israelischen Besatzung der West- Gesetze in besetzten Gebieten zu ändern. bank und macht deutlich, dass die israelische Führung be- 3 Im Osmanischen Reich unterlag das meiste reit ist, die letzten Überreste von Rechtstaatlichkeit den Ackerland einer Agrarsteuer, die mit einem Interessen der extremen Rechten in der Siedlungsbewe- Teil der Ernte zu bezahlen war. Wenn das gung zu opfern. Heute steht das Siedlungsprojekt nicht Land brachlag, gab es keine Ernte und mit- nur für Gewalt und Fanatismus in Theorie und Praxis, son- hin wurde auch die Steuer nicht bezahlt. Geschah dies drei Jahre hintereinander, dern droht die gesamte israelische Verfassungsordnung konnte der osmanische Staat den Bauern ins Wanken zu bringen. (nach osmanischem Recht meist Männer) ihr Der Begriff Besatzung greift zu kurz, um das Leben un- Land wegnehmen und es anderen zur Bewirt- ter einem immer gewalttätiger werdenden Regime der schaftung zur Verfügung stellen, um an seine Agrarsteuer zu kommen. Auch wenn Abriegelung, Spaltung und Ungleichbehandlung an- diese Steuer seit Langem abgeschafft ist, gemessen zu beschreiben, das für fast drei Millionen stellt das Brachliegen von Feldern weiterhin Palästinenser*innen und mehr als 600.000 Israelis in der offziell einen Enteignungsgrund dar. Das Westbank (einschließlich Ost-Jerusalem) seit nunmehr 50 nutzen die israelischen Behörden und Sied- Jahren Wirklichkeit ist. Es handelt sich dabei vielmehr um ler*innen aus. Wenn die israelische Armee beispielsweise Palästinenser*innen „aus einen dauerhaften Zustand von zwei völlig getrennten Wel- Sicherheitsgründen“ verbietet, ihr Land zu ten, in politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und physi- betreten und zu bewirtschaften, dann liegt scher Hinsicht. In der einen Welt leben die Siedler*innen, das Land irgendwann brach und kann die israelische Staatsbürger*innen sind, in der anderen die nach einigen Jahren zu staatlichem Eigen- tum erklärt werden (Anm. d. Übers.). Palästinenser*innen, die sich nur sehr begrenzt gegen die Willkür und Gewalt des ihnen aufgezwungenen Militärre- 4 In diesem Sinne sprach Menachem Begin, gimes zur Wehr setzen können. Likud-Chef und israelischer Premierminister Eine solche Situation kann nicht endlos fortdauern. Frü- von 1977 bis 1983, bei der Eröffnung der 13. Konferenz der Cherut-Bewegung im Ja- her oder später werden die Konfikte eskalieren und wird nuar 1977 (wenige Monate vor seinem die Lage explodieren. Die Frage ist nur, wie hoch der da- Wahlsieg im Mai 1977). Er sagte: „Judäa für zu zahlende humanitäre Preis sein wird. und Samaria [= Westbank] sind untrennbarer Bestandteil des israelischen Hoheitsgebiets. Bekanntlich legt jeder, der bereit ist, Judäa und Samaria einer fremden [= nicht israe- lischen] Regierung zu unterstellen, unweiger- lich den Grundstein für einen palästinensi- schen Staat.“ Begin, Menachem: Was wird die Likud-Regierung machen, in: Ma‘ariv, 7.1.1977.

45 Blick auf die Siedlung Beitar Illit, die auf einem Hügel liegt; im Vordergrund das palästinensische Dorf Wadi Fukin, Westbank, 2019. Foto: Activestills

Werbetafel für Immobilienkauf in Sied- lungen in der Nähe der palästinensischen Stadt Salft, Westbank, 2019. Foto: Activestills

46 Straßen-Checkpoint der israelischen Armee auf dem Weg zu den israelischen Sied- lungen in Gush Etzion, Westbank, 2015. Foto: Activestills

Ein Outpost von israelischen Siedler*innen in der Nähe von Tulkarem, Westbank, 2019. Foto: Activestills

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Aufnahmekomitees als Mittel zur Aufrechterhaltung der Segregation

Fadi Shbita Strukturelle Benachteiligung: Aufnahmekomitees verhindern den Zuzug palästinensischer Staatsbürger*innen Israels in die meisten ländlichen Gemeinden des Landes.

Die Mehrzahl der jüdischen Gemeinden ist umzäunt, und das gelbe elektronische Tor wird nachts geschlossen. Kibbuz Maayan Baruch im Norden Israels (Galiläa). Foto: Wikipedia

49 Der Kauf einer Wohnung oder eines Hauses bzw. die Wahl existenziellen Problem geworden. Diesem Mangel liegen des Wohnorts wird in der Regel als eine Frage persönlicher zwei Ursachen zugrunde: zum einen Enteignungen nach Präferenzen und der fnanziellen Möglichkeiten angesehen. der Staatsgründung, zum anderen dass die Verwaltung Is- Für palästinensische Staatsbürger*innen Israels gilt das je- raels sich in vielerlei Hinsicht diskriminierender Maßnah- doch eher nicht. Wieso? Nach den Forschungsergebnissen men bedient. Beide Faktoren bestimmen bis heute die Le- von Professor Yosef Jabareen von der Technischen Univer- bensrealität der Palästinenser*innen in Israel. sität Haifa gibt es unter den insgesamt 1.215 Ortschaften in Israel 940 kleinere, eher landwirtschaftliche geprägte, in denen Aufnahmekomitees eine sehr zentrale Rolle spielen. Land, Eigentum und Benachteiligung Diese Komitees setzen sich aus Einwohner*innen des Orts zusammen und sind rechtlich befugt, alle Personen, die In Israel sind 93 Prozent des Territoriums als „Staatsland“ in den Ort ziehen möchten, zu prüfen und darüber zu ent- (Land in staatlichem Eigentum) defniert. Etwa 5.000 Qua- scheiden, ob sie sich dort tatsächlich niederlassen dürfen. dratkilometer hiervon und damit ein Viertel des Lands wa- Das Recht, ein Haus zu kaufen und den eigenen Wohn- ren ursprünglich Privateigentum von Palästinenser*innen, ort auszusuchen, wird daher unter Umständen von diesen die zur Zeit der Staatsgründung zu Flüchtlingen wurden Aufnahmekomitees eingeschränkt. Eine Folge hiervon: In und deren Eigentum sich Israel angeeignet hat. Circa solchen ländlichen Gemeinden wohnen so gut wie keine 12.000 Quadratkilometer und damit mehr als die Hälfte palästinensischen Staatsbürger*innen Israels. des Lands bestehen aus nicht landwirtschaftlich genutz- ten Flächen, die vor 1948 zum Territorium palästinensischer Kommunen gehörten. Ein relativ kleiner Teil (ca. 1.000 Qua- Historischer Hintergrund dratkilometer) ist Land, das die zionistische Bewegung vor 1948 von seinen Eigentümer*innen kaufte. Es wird vom Die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 ging mit ei- Jüdischen Nationalfonds verwaltet. ner massiven Flucht und Vertreibung eines Großteils der Nach der Staatsgründung wurden Gesetze zur Rege- im Land lebenden palästinensischen Bevölkerung wäh- lung der Landnahme verabschiedet, wie zum Beispiel das rend des Krieges und danach einher. Dies sollte erklärter- Absentees’ Property Law. Dieses Gesetz erlaubte es dem maßen eine klare jüdische Mehrheit im neuen Staat ge- israelischen Staat, sich das Land der mehr als 700.000 währleisten. Jene Palästinenser*innen, die innerhalb des Palästinenser*innen, die aus dem Land gefüchtet waren Staatsgebiets bleiben konnten, erhielten die israelische bzw. vertrieben wurden, anzueignen. Darüber hinaus wur- Staatsbürgerschaft. Sie machen heute circa 20 Prozent aller de das Land von Zehntausenden palästinensischer Bin- Staatbürger*innen Israels aus. Trotz des mit der Staatsbür- nenfüchtlinge mithilfe eines Gesetzes konfsziert, das sie gerschaft verbundenen Versprechens der Gleichheit gibt als „anwesende Abwesende“ defniert. Für die Verwaltung es in Israel eine Politik und Gesetzgebung, die manchmal des neu gewonnenen Staatslands wurde die Israel Land direkt und manchmal verschleiert Staatsbürger*innen auf- Administration gegründet. Teil dieser Körperschaft ist der grund ihrer ethnisch-nationalen Identität diskriminieren. Jüdische Nationalfonds, der sechs der vierzehn Mitglie- Die Defnition Israels als ein jüdischer und demokrati- der des Exekutivrats der Land Administration stellt. Expli- scher Staat erweckt in diesem Zusammenhang einen ir- zites Ziel des Jüdischen Nationalfonds ist es, die jüdische reführenden Eindruck. Der Begriff jüdisch wird oft als rein Besiedlung von Israel zu fördern. Seit der Staatsgründung symbolisch begriffen oder als Ausdruck für einen Natio- war der Jüdische Nationalfonds neben der Jewish Agen- nalstaat, in dem de facto die meisten Menschen jüdisch cy und anderen Organisationen für die exklusive Ansied- sind. In der Praxis hatte diese Defnition jedoch eine Reihe lung von Jüdinnen und Juden auf sogenanntem Staats- von politischen Mechanismen und Maßnahmen zur Fol- land zuständig. ge, die darauf ausgerichtet sind, die Vorherrschaft der jü- Seit der Staatsgründung wurden mehr als 700 neue Ort- dischen Staatsbürger*innen zu bewahren. Wichtige Instru- schaften in Israel errichtet. Alle von ihnen sind jüdisch, mit mente zur Herrschaftssicherung sind die Regulierung von Ausnahme von sechs Kleinstädten im Negev.1 Das lässt tief Grundbesitz, das Bevölkerungsregister und die Zuteilung blicken und verdeutlicht, dass die staatliche Kontrolle der von staatlichen Ressourcen für die wirtschaftliche Entwick- Landressourcen nicht allen Staatsbürger*innen gleicher- lung. Auch die Arbeit der sogenannten Aufnahmekomitees maßen zugutekommt, sondern dazu dient, die Vorherr- gehört dazu. Und wie bei anderen Mechanismen gibt es schaft der jüdischen Staatsbürger*innen zu sichern. Eines keinen schriftlichen oder anderen öffentlich zugänglichen der zentralen Ziele der zionistischen Bewegung auch nach Nachweis, der ihren Zweck verrät: Hinter scheinbar neutra- der Gründung des Staats Israel war die „Besiedlung des len Formulierungen wie, die Bewohner*innen eines Ortes Landes“. Hinter diesem Ausdruck verbirgt sich die Über- hätten das Recht auf Gemeinschaftsleben auf der Grund- legung, dass Land, das vor Kurzem noch von einer indige- lage gemeinsamer Kultur und Tradition, verbirgt sich die nen Bevölkerung bewohnt wurde, von der jüdischen Be- Absicht, gezielt Palästinenser*innen und andere unliebsa- völkerung übernommen und besiedelt werden muss. Über me Bevölkerungsgruppen fernzuhalten. Jahrzehnte hinweg haben der israelische Staat und reprä- Die überwiegende Mehrheit der palästinensischen sentative Institutionen wie die World Zionist Organization Staatsbürger*innen Israels lebt in Ortschaften und Ge- die Formulierung „Judaisierung von Galiläa und des Ne- meinden, die lediglich etwa 3,6 Prozent des Staatsgebiets gev“ verwendet, wenn sie über die „Besiedlung des Lan- einnehmen. Wohnungsmangel ist daher für sie zu einem des“ sprachen.

50 Den arabischen Ortschaften wird Wie arbeiten die Aufnahmekomitees die Luft zum Atmen genommen in der Praxis?

Wie bereits erwähnt, gibt es in Israel eine ungewöhnliche Sogenannte Gemeinschaftssiedlungen und andere länd- Situation: 93 Prozent des Lands gehören dem Staat. Zu- liche Ortschaften können sich viel effzienter gegen ei- gleich fndet sich in Israel eine fast vollständige geograf- nen Zuzug von Araber*innen schützen – nämlich mithilfe sche Trennung zwischen Jüdinnen und Juden einerseits von Aufnahmekomitees. Eine von Professor Yosef Jaba- und Araber*innen andererseits. Die überwiegende Mehr- reen von der Abteilung für Architektur und Städtebau des heit der jüdischen Bevölkerung lebt in Ortschaften, in de- Technion durchgeführte Studie zeigt, dass es heute be- nen keine Araber*innen wohnen, und umgekehrt. reits 940 Gemeinschaftssiedlungen gibt, die unter Ver- In jedem Staat regulieren und lenken Planungsvorschrif- weis auf ihre „soziokulturelle Einzigartigkeit“ den Zuzug ten und -institutionen die Entwicklung von Städten und von Araber*innen ablehnen können. Zu diesen Ortschaften Kommunen, die wirtschaftliche Entwicklung, den Erhalt gehören alle Kibbuzim, die allermeisten genossenschaft- von Freiräumen und Grünfächen und vieles mehr. Diese lich geführten, ländlichen Moschawim und viele der länd- Institutionen sind von zentraler Bedeutung für eine lang- lichen Ortschaften in Israel. Dem „Aufnahmekomitee-Ge- fristige Planung, die im Sinne des Gemeinwohls ein Gleich- setz“ nach setzen sich diese Gremien aus Vertreter*innen gewicht zwischen den verschiedenen Entwicklungs- und der Kommune und der Bewegung bzw. des Verbands, der Wirtschaftsinteressen aufrechterhält. die Ortschaft angehört,4 der Jewish Agency und des zu- Eine Untersuchung der geografschen Aufteilung der ständigen Regionalverbands zusammen. Das Gesetz er- Zuständigkeitsbereiche der Planungsinstitutionen in Isra- laubt kleinen Gemeinschaftssiedlungen, in denen nicht el zeigt, dass arabische Ortschaften im Vergleich zu jüdi- mehr als 400 Familien wohnen, die Aufnahme von Zuzugs- schen von Anfang an bei der Festlegung ihres Kommu- willigen zu verweigern, die das „soziale und kulturelle Ge- nalgebiets extrem benachteiligt wurden: Das gesamte füge der Ortschaft“ beeinträchtigen könnten. Die Verord- Territorium der arabischen Ortschaften macht zusammen- nung schreibt gleichzeitig vor, dass Kandidat*innen nicht genommen nur 3,6 Prozent der Gesamtfäche Israels aus aufgrund ihrer Rasse und Religion, ihres Geschlechts, ih- (siehe die grünmarkierten Flächen Karte 4). Ein Großteil rer Nationalität, einer Behinderung, ihres Personenstands dieses Territoriums ist Privateigentum von palästinensi- oder Alters, aufgrund ihrer Elternschaft, ihrer sexuellen Ori- schen Staatsbürger*innen Israels. Mit anderen Worten: entierung, ihres Herkunftsland oder ihrer parteipolitischen Der Staat sprach der arabischen Minderheit nur jene Ge- Einstellung abgelehnt werden dürfen. Trotz dieses eindeu- biete zu, die sich in privatem Besitz befanden. Das übrige tigen Diskriminierungsverbots fnden die Aufnahmekomi- Land wurde durch Enteignung und Eingliederung in die tees, denen nur jüdische Mitglieder angehören, stets ei- Zuständigkeit von jüdischen Ortschaften und Regionalver- nen Weg, um arabischen Bewerber*innen den Zuzug zu bänden überführt,2 die gegründet worden waren, um „das verwehren, wobei sie sich solcher Argumente bedienen Land der [jüdischen] Nation“ zu erhalten.3 wie „fehlende kulturelle Übereinstimmung“. Seit 1948 hat sich die arabische Bevölkerung mehr als Von den Hunderten von Gemeinschaftssiedlungen, die verzehnfacht, aber der Umfang des Grunds und Bodens der auf israelischem Staatsland errichtet wurden, sind viele Ortschaften, in denen sie leben, ist nicht größer geworden. zweckbestimmt. So gibt es Gemeinschaftssiedlungen für Infolgedessen sind sie völlig überbevölkert und jeder Ent- religiöse, säkulare oder auch vegetarische und anthropo- wicklungsplan erweist sich als unzureichend. Manche ih- sophische Gruppen. Trotz der großen Vielfalt gibt es jedoch rer Bewohner*innen versuchen folglich, in jüdische Städte keine einzige für palästinensische Staatsbürger*innen. Im zu ziehen, doch diese wehren sich dagegen. Es wird ver- Laufe der letzten Jahrzehnte kam es vor, dass palästinensi- mieden, ihnen Wohnungen zu vermieten oder zu verkau- sche Staatsbürger*innen die Aufnahme in Gemeinschafts- fen, und es kommt zu Protesten der dortigen jüdischen siedlungen beantragten. Sie wollten zum Beispiel in eine Einwohner*innen, die mitunter sogar von der Stadtverwal- weitläufge Ortschaft mit guter Infrastruktur ziehen und da- tung angespornt und angeführt werden. Dennoch ist es mit ihre Lebensqualität verbessern. Ein Beispiel ist der Fall einem gewissen Prozentsatz gelungen, in jüdische Städte des Ehepaares Zubeidat, Architekt*innen von Beruf, die im zu ziehen. In manchen Kleinstädten im Norden des Lan- Sommer 2006 heirateten und sich in einer kleinen Gemein- des machen arabische Einwohner*innen bereits 20 Pro- schaftssiedlung namens Rakefet niederlassen wollten. Als zent und mehr der Bevölkerung aus. das Ehepaar dort ein Grundstück kaufen wollte, wurde es Dennoch sind die betreffenden Stadtverwaltungen nicht gebeten, sich einem Aufnahmeverfahren zu unterziehen. bereit, den arabischen Einwohner*innen eine Grundversor- Im Rahmen dieses Verfahrens wurde das Aufnahmekrite- gung zur Verfügung zu stellen, wie zum Beispiel arabisch- rium „soziale Übereinstimmung“ überprüft, das heißt, ob sprachige Schulen (in Israel gibt es zwei offzielle Schulsys- das Ehepaar in sozialer Hinsicht in die Gemeinschaft passt. teme, ein hebräisch- und ein arabischsprachiges), soziale Während eines Treffens mit den Mitgliedern des regionalen Dienste und Kulturveranstaltungen in arabischer Sprache Aufnahmekomitees wurde ihnen mitgeteilt, dass ihr An- sowie alles, was mit Religion verbunden ist, sei es musli- trag wegen fehlender Übereinstimmung abgelehnt wor- misch oder christlich. den war. Das Ehepaar entschloss sich, gegen diese Ent- scheidung zu klagen. Ihr Weg durch die Instanzen führte sie bis zum Obersten Gerichtshof, der entschied, dass die Gemeinschaftssiedlung sie aufnehmen muss.

51 Ein anderes Beispiel ist das Urteil des Obersten Gerichts- Nationalfonds, einer Körperschaft, die einen offziellen hofs zugunsten der Familie Ka'adan – einer Familie, die ein Status in der Israel Land Administration hat. Der Bericht Haus in der Gemeinschaftssiedlung Katzir kaufen wollte, erschien nach dem oben erwähnten Urteil des Obersten aber vom deren Aufnahmekomitee im Jahr 1995 abge- Gerichtshofs in Sachen Ka'adan und wurde von Shimon lehnt wurde. Mit Hilfe der Association for Civil Rights–Is- Shetreet, Jura-Professor an der Hebräischen Universität rael (ACRI) klagte sie sich erfolgreich durch alle Instanzen. in Jerusalem und ehemaliger Minister, verfasst. Shetreet Die Siedlung Katzir war von der Jewish Agency errichtet beginnt den Bericht mit der Erklärung: „Das Urteil des worden, nachdem diese das Land vom Staat für die Be- Obersten Gerichtshofs in Sachen Ka'adan versus die Isra- siedlung zugewiesen bekommen hatte. Der Antrag der el Land Administration hinsichtlich des Rechts einer ara- Familie Ka'adan, ein Haus in Katzir zu kaufen, war mit der bischen Familie, in der Gemeinschaftssiedlung Katzir zu Begründung abgelehnt worden, dass die Ortschaft nur für wohnen […] ignorierte völlig die legitimen Interessen, die jüdische Menschen bestimmt sei. Selbst nach dem lan- eine räumliche Segregation rechtfertigen können: erstens, gen Weg durch alle Instanzen, an dessen Ende der Obers- Angst vor Spannungen und Gewalt; zweitens, die Befürch- te Gerichtshof schließlich entschied, das Aufnahmekomi- tung, dass Lebensqualität und der Wert der Immobilien tee dürfe die Tatsache, dass es sich bei den Bewerbern beeinträchtigt werden; drittens, der begründete Wunsch, um eine arabische Familie handelt, weder direkt noch in- in einer Wohngegend mit Menschen derselben nationa- direkt als Kriterium verwenden, musste die Familie wieder- len, kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit zu leben, um um Rechtsbeistand ersuchen, um das Urteil zu vollstre- der nichts mit Rassismus zu tun hat.“ cken. Das Aufnahmekomitee der Ortschaft Katzir weigerte sich weiterhin, sie aufzunehmen, diesmal mit der Begrün- dung fehlender sozialer Übereinstimmung. ACRI reichte Fazit wieder Klage beim Obersten Gerichtshof ein, und im Jahr 2004 teilte die Land Administration mit, dass die Anzahl Seit seiner Gründung hat der Staat Israel große Anstren- der Haushalte in dem Ort so sehr zugenommen habe, dass gungen unternommen, um zu vertuschen, dass er zu zahl- Katzir keine Gemeinschaftssiedlung mehr sei und mithin reichen Maßnahmen greift, die die Vormachtstellung der kein Aufnahmekomitee mehr habe. Deswegen könne der jüdischen Bevölkerung sicherstellen sollen. Ein offener Familie Ka'adan ein Baugrundstück zugewiesen werden. Umgang damit, so die Annahme, hätte seinem Image als Im August 2007, mehr als zehn Jahre nach Beginn ihres „einziger Demokratie im Nahen Osten“, einer Demokratie, Kampfs, erhielt das Ehepaar Ka'adan eine Baugenehmi- die die Gleichheit aller seiner Staatsbürger*innen fördert gung für ihr Haus in Katzir. und garantiert, geschadet. 2018 jedoch wurde das Nati- Die beiden beschriebenen Fälle gingen im Sinne der Fa- onalstaatsgesetz in Israel verabschiedet. Dieses Gesetz milien gut aus, aber es handelt sich hierbei um individu- schreibt zum ersten Mal fest, dass der israelische Staat elle Siege, die das System insgesamt nicht zu verändern daran interessiert, ja, sogar dazu verpfichtet ist, die Vor- vermochten. Aus der Sicht der Gerichte betrafen die Ver- machtstellung seiner jüdischen gegenüber seinen paläs- fahren Einzelfälle von Diskriminierung. Weder hoben sie tinensischen Staatsbürger*innen zu wahren. Das gilt be- den strukturellen Aspekt des auf Diskriminierung abzie- sonders für die künftige Raumplanung: „Der Staat misst lenden Systems hervor, noch forderten sie eine diesbe- der Entwicklung der jüdischen Besiedlung nationalen Wert zügliche Veränderung. Das Gericht prüfte die Fälle un- bei und unternimmt alles, um diese zu unterstützen und ter dem Gesichtspunkt individueller und nicht kollektiver zu fördern.“ Obwohl das Gesetz sowohl in Israel als auch Rechte bzw. einer Diskriminierung der palästinensischen auf internationaler Ebene viel Aufmerksamkeit erhielt, kom- Staatsbürger*innen Israels als Gruppe. Die Urteile gingen men in ihm nur die grundlegenden Auffassungen und Kon- in keiner Weise auf den Kontext und die gesellschaftlichen zepte zum Ausdruck, die allen oben beschriebenen Prak- Rahmenbedingungen ein, unter denen die Kläger*innen tiken und Mechanismen bereits seit der Staatsgründung Aufnahme in bestimmte Ortschaften beantragen müssen. zugrunde liegen. Das Gericht nahm keinen Anstoß daran, dass die Jewish Israels Staatsapparat setzt also bis heute auf verschie- Agency „grundsätzlich darauf abzielt, Juden im ganzen dene Mechanismen und Instrumente, um seine palästi- Land anzusiedeln, insbesondere im Grenzland und in Ge- nensischen Staatsbürger*innen geografsch sowie auch bieten mit geringer jüdischer Präsenz“. Der Vorsitzende politisch und sozial auszugrenzen und zu segregieren. des Obersten Gerichtshofs, Aharon Barak, machte sich Dieser anhaltende Prozess begann bereits mit dem Krieg sogar die Mühe, ausdrücklich zu erklären, dass es sich bei von 1948 und setzte sich fort mit der juristischen Ent- den Urteilen um Einzelfallentscheidungen handelte, die eignung des Eigentums von Gefüchteten, Vertriebe- die generelle Politik der jüdischen Besiedlung des Lands nen und sogar von Binnenvertriebenen, die israelische nicht infrage stellen. Staatsbürger*innen sind. Die weitreichenden Auswirkun- Die genannten Beispiele zeigen, wie Bürokratie zur Auf- gen der Landnahme veranschaulichen, warum die Frage rechterhaltung einer Vormachtstellung eingesetzt wird und des Lands und des Eigentums ein zentrales Element ei- zugleich, wie sich Diskriminierung hinter der Maske des Li- ner jeden politischen Alternative sein muss, die sowohl beralismus und den Euphemismen der Gleichheitsgaranti- gleiche Rechte für alle Staatsbürger*innen des Landes en versteckt. Eine faszinierende Illustration des Versuchs, garantiert als auch die Gruppenrechte der palästinensi- den Anschein von Gleichheit zu bewahren, fndet sich in schen und der jüdischen Staatsbürger*innen des Lan- einem Bericht des Forschungszentrums des Jüdischen des anerkennt.

52 Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Fadi Shbita ist palästinensischer Staats- bürger Israels und politischer Aktivist. Er war Direktor von Sadaka-Reut, einer jüdisch- palästinensischen Organisation, die sich um die Förderung einer egalitären, binationalen und multikulturellen Gesellschaft bemüht, und Ko-Direktor der Abteilung für Gleichstel- lungspolitik in Sikkuy, einer Organisation von jüdischen und arabischen Bürger*innen, die sich für eine Gleichberechtigung von arabisch-palästinensischen und jüdischen Staatsbürger*innen Israels auf allen Ebenen einsetzt.

Anmerkungen 1 Diese Kleinstädte sind , Lakiya, Hura, Shaqib al-Salam und Tel Scheva. Diese wurden allerdings explizit mit dem Ziel errichtet, die arabisch-beduinische Bevölke- rung dort auf einen bestimmten Raum zu konzentrieren und es somit dem Staat zu ermöglichen, das Land, auf dem sich die Beduinen-Dörfer befanden, in Besitz zu nehmen. Mehr hierzu im Dossier zu Beduinen der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter: www.rosalux.org.il/ schwerpunkt-beduininnen/.

2 Regionalverbände sind neben den Gemein- deverwaltungen (die Verwaltungseinheit für kleinere urbane Siedlungen und größere landwirtschaftlich geprägte Ortschaften) und den Stadtverwaltungen die dritte Form der Kommunalverwaltung in Israel. Jeder Regionalverband ist für bis zu etwa 50 länd- liche Gemeinden zuständig, die für gewöhn- lich über eine relativ große Fläche verteilt sind, aber in geografscher Nähe zueinander liegen. In der Regel hat ein Ort im Regional- verband nicht mehr als 2.000 Einwohner*innen.

3 Siehe etwa Yiftachel, Oren: From Sharon to Sharon: Spatial planning and separation regime in Israel/Palestine, in: HAGAR Studies in Culture, Polity and Identities, 10(1) 2010, S. 73–106.

4 In Israel gehört jede Ortschaft, die als Koope- rative organisiert ist, einer Dachorgani- sation an, etwa der Kibbuz-Bewegung oder der Bewegung der Moschawim (ländliche Genossenschaften).

53 Karte 4: Israels Kommunalverwaltungen nach Bevölkerungsgruppen

LIBANON

Akko

Haifa Nazareth

Tel Aviv-Yafo WESTBANK

Ramle /Lod Jerusalem

JORDANIEN GAZA

Be’er Scheva

ÄGYPTEN

90,4% jüdische Gemeinden

5,0% ohne Zuständigkeit

3,6% arabische Gemeinden 1,0% Städte mit gemischter Bevölkerung

Quelle: Arabisches Zentrum für alternative Planung

54 III WAFFEN

Quelle: Arabisches Zentrum für alternative Planung

55

Waffenexporte: das Geschäft mit dem Krieg

Sahar Vardi Ohne Regulierung und Transparenz werden aus Israel Waffen und Militärtechnologien in die ganze Welt exportiert, mit gravierenden Folgen für Menschenrechte im Ausland wie im Inland. Immer mehr Israelis nehmen dies nicht mehr hin und fordern restriktivere Aufagen für Waffenlieferungen.

Israelische Militär- und Polizeiausrüstung wird auf internationalen Waffenmessen mit Formulierungen wie „kampferprobt” und „benutzt von der IDF" angepriesen. Foto: Activestills

57 Anfang Oktober 2019 überquerten türkische Truppen Länder, gegen die der UN-Sicherheitsrat ein Waffenembar- die syrische Grenze und marschierten – gegen das Völ- go verhängt hat, existieren keinerlei Einschränkungen. So kerrecht verstoßend – in Rojava ein. Bei dieser gegen die können nach israelischem Recht Waffen und Rüstungsgü- Kurd*innen und andere Bewohner*innen der Region ge- ter auch in solche Staaten und Regionen exportiert werden, richteten Invasion kamen hauptsächlich zwei Arten von in denen schwere Menschrechtsverletzungen begangen Panzern zum Einsatz: der deutsche Leopard und der von werden, einschließlich Verbrechen gegen die Menschlich- Israel weiterentwickelte Sabra-Panzer. Die deutsche Regie- keit. Israel lieferte beispielsweise unter dem Apartheidre- rung reagierte darauf umgehend. Bundeskanzlerin Ange- gime Waffen nach Südafrika, in der Anfangsphase des la Merkel kündigte an, Deutschland werde „unter diesen Völkermords nach Ruanda sowie nach Südsudan und My- Umständen“ keine weiteren Waffen an die Türkei liefern. anmar, während die meisten anderen Rüstungsexportstaa- Der deutsche Wirtschaftsminister relativierte dies aller- ten nicht bereit waren, dorthin Waffen zu verkaufen. dings wieder, als er sagte, man werde keine neuen Geneh- Ein weiteres Problem neben fehlender Regulierung ist, migungen für den Export von Waffen gewähren, „die von dass die Verfahren zur Erteilung von Exportgenehmigun- der Türkei in Syrien eingesetzt werden können“. gen vollkommen intransparent sind. So weigert sich Isra- Ganz unabhängig davon, inwieweit Merkels Ankündi- el etwa, dem Register für konventionelle Waffen der Ver- gung eingelöst wurde oder nicht: Der Verkaufsstopp ist einten Nationen Berichte über seine Waffenexporte und ineffektiv und kommt viel zu spät. Er kann nicht verhin- -importe vorzulegen. Hinzu kommt, dass jedes Mal, wenn dern, dass Leopard-Panzer Nordsyrien plattwalzen. Aber Aktivist*innen versuchen, israelische Rüstungsexporte mit- immerhin kam es in Deutschland überhaupt zu einer of- hilfe gerichtlicher Anordnungen aufzudecken, ihre sich fziellen Reaktion im Gegensatz zu Israel, wo sich die is- auf Informationsfreiheit berufenden Anträge und Klagen raelische Regierung noch nicht einmal genötigt sah, sich abgewiesen werden – selbst dann, wenn es sich um ab- zum Einsatz israelischer Panzer gegen die kurdisch ge- geschlossene Transkationen handelt und die Lieferungen führten Demokratischen Kräfte Syriens zu äußern. Um in Gebiete gingen, in denen Beweise für massenhaft be- dieses Schweigen zu verstehen, müssen wir die kontinu- gangene Gräueltaten vorlagen. Selbst Klagen, die ledig- ierlich wachsende Rüstungsindustrie in Israel, die dahin- lich verlangen, eine Liste derjenigen Länder zu veröffent- terstehenden Interessen, den Mangel an Regulierung und lichen, in die der Staat oder israelische Rüstungsfrmen die Rolle, die diese Industrie auf dem internationalen Rüs- Waffen exportieren, lehnt der Oberste Gerichtshof größ- tungsmarkt spielt, verstehen. tenteils ab. Schließlich willigten die zuständigen Behör- Israel ist heute, was die absoluten Zahlen angeht, der den ein, etwa vier Prozent aller erteilten Exportgenehmi- achtgrößte Waffenexporteur der Welt und belegt den gungen bekanntzugeben sowie sechs Länder zu nennen, ersten Platz, wenn die Rüstungsexporte auf die Bevöl- in die Israel Waffen exportiert. kerungsgröße und das Bruttoinlandsprodukt bezogen Der Jahresbericht 2016 des staatlichen Rechnungsho- werden. Die israelische Rüstungsindustrie wächst ext- fes1 hatte kritisiert, dass die für die Genehmigung von Ex- rem schnell, von 2007 bis 2017 wuchs sie um 55 Pro- portlizenzen für die Rüstungsindustrie zuständige Defense zent. Das ist prozentual das größte Wachstum weltweit. Export Control Agency nicht genügend Personal hat, um Um zu verstehen, warum Israel so viele Waffen in so vie- die geschätzten 6.800 Exportfrmen, die etwa 1.000 im le Länder exportieren kann und welche Interessen es da- Verteidigungsexportregister eingetragenen Unternehmen mit verfolgt, müssen wir einige Aspekte untersuchen: den sowie die etwa 400.000 Marketing- und Exportlizenzen zu rechtlichen Rahmen für Rüstungsexporte in Israel, Isra- kontrollieren und die Einhaltung aller rechtlichen Vorschrif- els Vermarktungsstrategien sowie die Folgen dieser Ver- ten zu überwachen. Das Fehlen eines festen rechtlichen käufe für das Leben der Menschen. Rahmens, die Intransparenz und die Unfähigkeit, selbst die wenigen Aufagen durchzusetzen, hatten zum Ergeb- nis, dass die israelische Rüstungsindustrie in den letzten Der fehlende rechtliche Rahmen Jahrzehnten Geschäfte mit rund 130 Ländern betrieben hat, darunter solche, in denen massive Menschenrechts- „Meine Richtlinien für die Verantwortlichen der verletzungen begangen wurden. Armee besagen, dass es in Bezug auf militäri- sche Ausrüstung und Waffen nur ein Land gibt, von dem man kaufen kann, nämlich Israel. Die „Kampferprobt“ Vereinigten Staaten sind eine gute Adresse, aber wenn wir von ihnen kaufen, gibt es Aufagen; „Was kampferprobt ist, lässt sich besser verkau- und das gilt auch für China und Deutschland.“ – fen. Unmittelbar nach militärischen Operatio- Präsident der Philippinen Rodrigo Duterte, 2018 nen [den Angriffen auf den Gazastreifen im Jahr 2014] und manchmal sogar noch währenddes- Zwar benötigen israelische Unternehmen eine Genehmi- sen landen verschiedene Delegationen in Israel, gung des Verteidigungsministeriums, um Waffen und krie- die aus Ländern kommen, die Israels technolo- gerisch nutzbare Cybertechnologie zu exportieren sowie gische Fähigkeiten schätzen und daran interes- Personal für die Ausbildung an Waffen in andere Länder siert sind, die neuen Produkte kennenzulernen.“ zu entsenden, aber es gibt keinerlei Bestimmungen in Be- – Barbara Opall-Rome, Journalistin der Zeitschrift zug auf die Einhaltung von Menschenrechten. Bis auf die Defense News, 2014

58 Als das nordamerikanische Freihandelsabkommen am (iHLS), einer Firma, die Start-ups im Bereich innere Sicher- 1. Januar 1994 in Kraft trat, erklärte die Zapatistische Ar- heit unterstützt, dass nach den Terrorangriffen in Frank- mee der Nationalen Befreiung der mexikanischen Regie- reich im Jahr 2016 ihre Webseite aufgrund der zahlrei- rung den Krieg und rief die mexikanische Bevölkerung dazu chen Anfragen aus der ganzen Welt nach Informationen auf, sich ihr anzuschließen: „Wir erklären hiermit, dass wir und Kontakten zu israelischen Unternehmen fast abge- so lange kämpfen werden, bis die grundlegenden Forde- stürzt sei. rungen unseres Volkes durch die Bildung einer freien und demokratischen Regierung in unserem Land erfüllt sind.“ „Nach jeder militärischen Operation wie der ge- Zwölf Tage danach wurde eine Waffenruhe erklärt, die et- genwärtigen im Gazastreifen erleben wir einen was mehr als ein Jahr hielt, bis die mexikanische Armee Anstieg der Zahl unserer internationalen Kun- sie im Februar 1995 brach. den.“ – Eli Gold, CEO von Meprolight, 2014 Dennoch hat die mexikanische Armee das Jahr der Waf- fenruhe nicht ungenutzt verstreichen lassen. Während die- Lediglich einen Monat nach der israelischen Militäropera- ser Zeit beteiligte sich die israelische Armee zusammen tion im Gazastreifen im Jahr 2014, bei der 1.462 palästi- mit US-amerikanischen, spanischen, britischen und an- nensische Zivilist*innen getötet und 17.200 Wohnhäuser deren Streitkräften an der Ausbildung mexikanischer Sol- zerstört oder sehr stark beschädigt wurden, fand in der daten, die sie auf den Kampf gegen die Zapatistas vorbe- Nähe von Tel Aviv die damals größte internationale Mes- reiteten. Diese Unterstützung erfolgte nur ein paar Jahre se für unbemannte Luftfahrzeuge und damit zusammen- nach der Ersten Intifada, dem palästinensischen Volks- hängende Technologien statt, mit allgemein zugänglichen aufstand, den die israelische Armee unter anderem dafür Live-Vorführungen von Drohnen und von zum Einsatz in genutzt hat, neue Mechanismen und Techniken zur Un- Tunneln geeigneten Robotern. Auf der Messe gab es Vor- terdrückung von Demonstrationen, zur Bekämpfung von träge und Stimmen direkt vom „Schlachtfeld“, das heißt, Guerillastrategien, zum Kampf in urbanem Gelände und dass dort israelische Militärs über ihre Erfahrungen und zur allgemeinen Bevölkerungskontrolle auszutesten und zu „relevante und heiße Themen direkt nach Beendigung der optimieren. Außerdem führte Israel zu der Zeit gerade in Kampfhandlungen“ sprachen – wie es die Zeitschrift Isra- der Westbank und im Gazastreifen das Checkpoint-System el Defense ausdrückte. ein, ein zentrales Instrument zur Überwachung der dort Der deutschen Regierung haben es vor allem die im Gaza- lebenden palästinensischen Bevölkerung. Es sollte daher streifen „kampferprobten“ Heron-1-Drohnen angetan. Sie wenig überraschen, dass sich solche Ansätze und Maß- leiht sich diese vom israelischen Hersteller für Militärein- nahmen nach Ende der polizeilichen Ausbildungsprogram- sätze der Bundeswehr in Afghanistan und Mali aus. Im ver- me in Chiapas wie ein Lauffeuer ausbreiteten. gangenen Jahr hat Deutschland beschlossen, den Einsatz Der israelische Staat entwickelt also im Rahmen seiner israelischer Drohnen um die Heron-TP-Drohne zu erweitern, Herrschaft über die palästinensische Bevölkerung in den die auch bewaffnet und nicht nur für Aufklärung und Über- besetzten Gebieten neue Waffen und militärische Taktiken, wachung eingesetzt werden kann. Deutsche Pilot*innen die dann in anderen Situationen und Ländern zum Einsatz erhielten bereits eine entsprechende Einweisung von der kommen. Nachdem man sie an den Palästinenser*innen israelischen Luftwaffe. Die Drohnen werden von einem is- ausgetestet hat, werden diese Waffen und Taktiken in an- raelischen Luftwaffenstützpunkt aus betrieben – derselbe dere Konfiktregionen auf der ganzen Welt exportiert. Dies Stützpunkt, von dem aus viele israelische Flugzeuge und ist zu einer zentralen Vorgehensweise der israelischen Rüs- Drohen in den Gazastreifen abfiegen. Schon jetzt gehört tungsindustrie geworden. Die terroristischen Anschläge zur Ausbildung zur Bedienung der Heron-1-Drohne das am 11. September 2001 machten solche polizeilichen und Überfiegen der besetzten palästinensischen Gebiete. Das militärischen Terrorismusbekämpfungstaktiken zum Kern mag zwar der offziellen deutschen Außenpolitik widerspre- des globalen Sicherheitssektors und defnierten die mo- chen, steht aber im Einklang mit dem, was der deutsche derne Kriegsführung neu. Als die USA im Zuge von 9/11 Oberst der Luftwaffe, Kristof Conrath, über die Entschei- das Ministerium für Innere Sicherheit gründeten (2003), dung, israelische Drohnen zu verwenden, zu sagen hatte: den USA PATRIOT Act verabschiedeten und dem islamisti- „Unsere israelischen Partner verfügen über weitreichende schen Extremismus im In- und Ausland den Krieg erklärten, Fachkenntnisse in diesem Bereich und über den dafür er- wandte man sich verstärkt an Israel mit seiner langjähri- forderlichen Luftraum.“ Gemeint sind damit im Gazastrei- gen Erfahrung im Umgang mit Guerillakrieg und militan- fen gewonnene Fachkenntnisse und ein strategisch günstig tem Widerstand. Der israelische Staat und die israelische im Nahen Osten gelegener Luftraum mit Übungsgelände Sicherheits- und Rüstungsindustrie begannen, ihre Ex- in den besetzten palästinensischen Gebieten. pertise bei der Terrorismusbekämpfung und die damals Die Quintessenz: Die Rüstungsindustrie wird ein immer stattfndende Zweite Intifada gezielt als Geschäftschan- größerer und wichtiger Teil der israelischen Wirtschaft, die ce zu nutzen. gegenseitigen Abhängigkeiten nehmen zu. Während der Bis heute ist innere Sicherheit eines der wichtigsten Staat nicht zuletzt von den Steuereinnahmen proftiert, ist „Handels- und Exportgüter“ Israels. Mit Konferenzen, Ver- die Rüstungsindustrie darauf angewiesen, ihre Produkte anstaltungen und Ausstellungen setzte sich Israel an die weiterhin in der Praxis testen, weiterentwickeln und als Spitze des globalen Handels in diesem Bereich. In einem „kampferprobt“ vermarkten zu können, das heißt, sie ist Interview mit dem Nachrichtenportal Walla! News berich- davon abhängig, dass der israelisch-palästinensische Kon- tete Arie Egozy, Manager von Israel – Homeland Security fikt fortbesteht.

59 Eine Ideologie der „Versicherheitlichung” ist – S.V.]. Erschieß jeden Terroristen, den du triffst, und dann renn hin und schieß ihm in den Kopf; und dort ballern „Israel ist die Harvard [Universität] der Terroris- sie immer weiter beim ‚Tod Sicherstellen‘. […] Wir hatten musbekämpfung.“ – Terrance W. Gainer, Chef nie ein Briefng, wie wir mit Zivilisten umgehen sollen, oder des US-amerikanischen Capitol Police Depart- was es bedeutet, in einem Gebiet, in dem sich Zivilisten ment,2 2005 befnden, zu kämpfen. Man denkt immer noch in densel- ben Strukturen, dass hier eine Armee gegen eine andere Israel ist nicht das einzige Land mit einer beträchtlichen Armee kämpft, wir gegen die.“ Zu den anderen bekannt- Rüstungsindustrie und nicht das einzige, das keine rechtli- gewordenen Taktiken gehören das Sammeln von human chen Beschränkungen von Waffenlieferungen zum Schutz intelligence: Unschuldige Zivilist*innen werden erpresst, von Menschenrechten und des Völkerrechts kennt. Aber damit sie als Informant*innen arbeiten, sowie „Präsenz zei- es ist einzigartig in der Rolle, die der Staat und verschie- gen“, sprich nächtliche Durchsuchungen von palästinen- dene israelische Unternehmen bei der sogenannten Ter- sischen Wohnungen, permanente Militär- und Polizeipat- rorismusbekämpfung, der inneren Sicherheit und der Auf- rouillen, „fiegende“ Checkpoints und andere willkürliche standsbekämpfung in dicht besiedelten Orten einnehmen Schikanen gegen die Zivilbevölkerung. Wie wird sich das – alles zentrale Bereiche und Wachstumsbranchen der Si- auswirken, wenn immer mehr Militär- und Polizeikräfte auf cherheitsindustrie. Im Juli 2017, kurz nach dem terroris- der ganzen Welt dieses Trainings durchlaufen und die da- tischen Anschlag am Borough Market in London, kamen mit einhergehenden Mittel und Ansichten übernehmen? Londoner Polizist*innen nach Israel, um mit israelischen Sicherheitskräften zu trainieren. Der israelische Polizeispre- cher Micky Rosenfeld sagte der Presse: „Acht Minuten wä- Die guten Nachrichten ren zu lang, wir können uns keine acht Minuten leisten.“ Er bezog sich auf die Zeit, die die Londoner Beamten ge- In Mexiko, Portugal und den USA beginnen Menschen, braucht hatten, um den damaligen Attentäter zu „neutrali- die von diesem fragwürdigen Waffen- und Wissensex- sieren“, und unterstrich die Funktion des Trainings: sicher- port direkt betroffen sind, die Auswirkungen auf ihre ei- zustellen, dass es beim nächsten Mal keine acht Minuten genen Communities zu thematisieren, und fordern, die- dauert. Aber was heißt das in der Praxis? Die israelische se Form der Zusammenarbeit einzustellen.3 Recherchen Reaktion auf solche Angriffe zu jener Zeit war klar: eine über die Verwendung von israelischer Spyware – etwa höhere Präsenz von Waffen auf den Straßen, sei es durch das Pegasus-Programm, das in Mobiltelefone eindringt, bewaffnete Sicherheitskräfte oder durch die Bewaffnung deren Programme verwendet und Daten ausliest – ha- von Zivilist*innen, wofür sich der Bürgermeister von Je- ben einige der bislang geheim gehaltenen Aktivitäten der rusalem und später auch der Minister für öffentliche Si- israelischen Rüstungsindustrie aufgedeckt. Nachdem cherheit aussprach. Der Minister rief die Menschen dazu bekannt geworden war, dass dieses Programm gegen auf, Waffenscheine zu beantragen, und vereinfachte das Menschenrechtsanwält*innen, Journalist*innen und ge- Genehmigungsverfahren. gen die Inter-Amerikanische Menschenrechtskommissi- Ausbildungsunterstützung vonseiten israelischer Sicher- on in Mexiko eingesetzt wurde und sogar mit dem Mord heitskräfte und die Übernahme von israelischen Sicher- an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi in Ver- heitsparadigmen können schwerwiegende Konsequen- bindung gebracht wurde, hat die NSO-Group, die Betrei- zen für das Vereinigte Königreich haben. Bislang trugen berfrma, versprochen, in Zukunft auf eine völkerrechts- die meisten Polizeikräfte dort keine Schusswaffen, es gab konforme Nutzung zu achten. relativ wenige durch Schusswaffengebrauch verursach- Im Juni 2016 führte eine überraschende Zusammenar- te Gewalt- und Tötungsdelikte. Ein Jahr nach dem Terror- beit zwischen den Knesset-Abgeordneten Tamar Zandberg anschlag und dem Training in Israel war die Präsenz von von der linksliberalen Meretz und Yehuda Glick, einem bewaffneten Polizeikräften in der britischen Öffentlichkeit stramm rechten Mitglied des Likud, zu einem Gesetzent- bereits um 19 Prozent angestiegen. Eine ähnliche Ausbil- wurf, der es dem Staat verbieten würde, Waffen in Länder dung durch israelische Polizei-, Geheimdienst- und Streit- zu exportieren, die Menschenrechte verletzen. Nach einer kräfte hatte auch Tim Fitch, der Polizeichef von St. Louis vom American Friends Service Committee 2018 durchge- in den USA, absolviert, bevor er für die polizeiliche Unter- führten Umfrage lehnen die meisten Israelis den Verkauf drückung der Protestbewegung in Ferguson im Jahr 2014 von Waffen an Länder ab, in denen schwere Menschen- verantwortlich war. Es lassen sich noch viele andere ähn- rechtsverletzungen begangen werden. Die meisten Israe- liche Beispiele anführen. lis sind der Meinung, dass Israel keine Waffen an Länder, Wie erwähnt, hat sich Israel insbesondere durch das in denen ein innerer Konfikt oder Bürgerkrieg herrscht, ex- Angebot von speziellen Trainingsprogrammen im Bereich portieren sollte (43 Prozent waren gegen solche Exporte, „Terrorismusbekämpfung“ international einen Namen ge- während 32 Prozent sie befürworteten) und ebenfalls nicht macht. In der israelischen Armee schließt sie Praktiken und an Länder, die Menschenrechte und Völkerrecht verletzen Maßnahmen ein, die aus menschenrechtlicher Perspektive (53 Prozent waren gegen solche Exporte und 32 Prozent überaus problematisch sind. In den Worten eines israeli- befürworteten sie). 50 Prozent der Befragten waren gegen schen Soldaten: „Der Kurs zur Terrorismusbekämpfung ist Rüstungsexporte an Staaten, für die die Vereinten Natio- der mit dem allermeisten ‚Tod sicherstellen‘ [wiederholtes nen ein Waffenembargo verhängt haben (30 Prozent dafür). Schießen auf jemanden, um sicherzustellen, dass er/sie tot Außerdem sagten 62 Prozent der Befragten, dass sie die

60 Gesetzesinitiative der Knesset-Abgeordneten unterstütz- ten, während sich nur 19 Prozent dagegen aussprachen. Die israelische Zivilgesellschaft hat begonnen, sich mit dem Problem der Rüstungsexporte zu befassen, und trotz- dem reicht die kritische Auseinandersetzung immer noch nicht aus. Heute, da in Israel produzierte Panzer im Nor- den Syriens unterwegs sind, ist es für uns Israelis an der Zeit, uns die Rüstungsindustrie in unserem Land genauer anzusehen, eine sofortige Reform des Genehmigungssys- tems für Rüstungsexporte zu fordern und die Verbindung zwischen der Rüstungsindustrie und der fortbestehenden israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete nicht länger zu ignorieren. Es liegt aber auch in der Verantwortung ausländischer Regierungen, die regelmäßig mit der israelischen Rüs- tungsindustrie zusammenarbeiten, aktiv zu werden. Es ge- hört zu ihrer Verantwortung, dass beim Einsatz von nach Is- rael exportierten Rüstungsgütern und -technologien keine Menschenrechtsverletzungen begangen werden – weder durch Israel selbst noch durch Länder, an die Israel solche Technologien nach geringen Modifkationen weiterverkauft.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Sahar Vardi ist eine israelische Antimili - ta rismus-Aktivistin. Sie leitet das Israel- Programm des American Friends Service Committee und ist eine der Gründer*innen des Hamushim-Projekts, das Aufklärung s- arbeit zu den dubiosen Geschäften der israelischen Militärindustrie leistet.

Anmerkungen 1 Dessen Aufgaben sind in etwa vergleichbar mit denen des Bundesrechnungshofs in Deutschland.

2 Das für die gesetzgebende Institution der Vereinigten Staaten, den aus Senat und Repräsentantenhaus bestehenden Kongress und ihre Mitglieder, zuständige föderale Polizeikommissariat.

3 Naber, Nadine: The U.S. and Israel Make the Connections for Us: Anti-Imperialism and Black-Palestinian Solidarity, in: Critical Ethnic Studies 2/2017, S. 15–30.

61 Waffenmesse in Rischon LeZion, Israel, 2008. Foto: Activestills IDF-Militärshow in der Siedlung Efrat, Westbank, 2012. Foto: Activestills

Schusswaffen in Israel: Realität, Politik und feministische Kritik

Rela Mazali & Die wachsende Verfügbarkeit legaler und illegaler Meisa Irshaid Waffen und die fehlende Durchsetzung von Recht und Ordnung in den palästinensischen Gemeinden in Israel führen zu einer enormen Zunahme von organisierter Kriminalität, Schießereien und innerfamiliärer Gewalt.

Demonstration für die Opfer von Gewalt und gegen organisierte Kriminalität in der palästinensischen Gesellschaft in Israel, Nazareth, 2019. Foto: Activestills

65 Es gibt eine große Anzahl von Schusswaffen in allen zi- Bedrohungen für Frauen – vilen Bereichen in Israel und in den von ihm beherrsch- intersektionell betrachtet ten Gebieten. Sie befnden sich in den Händen von ver- schiedenen Organisationen und vielen Privatleuten, meist Die weite Verbreitung von Kleinwaffen wirkt sich auf unter- jüdischen Männern. Kleinwaffen – dazu gehören private schiedliche Weise auf Männer, Jungen, Frauen und Mäd- Schusswaffen, Schusswaffen der Polizei, des Militärs und chen aus. Frauen sind eine kleine Minderheit unter den anderen Organen – sind weit verbreitet. Es gibt mindes- Waffenbesitzer*innen weltweit. In Israel beispielsweise wa- tens 80.000 autorisierte Schusswaffen und Hunderttau- ren nur knapp 5 Prozent der Personen, die im Jahr 2012 sende von nicht zugelassenen oder „illegalen“ Schusswaf- eine Genehmigung zu privatem Schusswaffenbesitz hatten, fen, die eine zentrale Rolle bei Verbrechen spielen. Weil Frauen. Weltweit machen Frauen aller Altersgruppen etwa es fast keine juristischen Einschränkungen gibt, was das 10 Prozent der Opfer aus, die durch Kleinwaffen ums Le- Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit betrifft, be- ben kommen.2 Zudem gibt es noch ganz spezifsche Aus- gegnen sie Zivilist*innen überall: in Freizeiteinrichtungen, wirkungen von Schusswaffen auf Frauen, da die Hauptbe- Einkaufszentren, Universitäten, Kindergärten, Restaurants, drohung für sie von Familienangehörigen und Ehepartnern Kliniken, Zügen. ausgeht. Eine in der Familie befndliche Schusswaffe ist für Weltweit spielen Schusswaffen eine zentrale Rolle in der Frauen äußerst bedrohlich, da sie die Wahrscheinlichkeit, alltäglichen Unterdrückung von bestimmten Gruppen und dass eine Frau dadurch ermordet wird, um das Dreifache Bevölkerungsteilen sowie in der Beherrschung von Terri- erhöht, nicht zuletzt weil „Schusswaffen die Gefahr eines torien; mit ihrer Hilfe werden tagtäglich Knebelung, Ein- tödlichen Ausgangs von Gewalttätigkeiten erhöhen“.3 Auf schüchterung, Vertreibung, Enteignung, Tötung bis hin zu jede ermordete Frau kommen viele andere Frauen, die in ethnischer Säuberung und Massenmord durchgesetzt. In- Angst leben. Innerhalb eines Jahrzehnts wurden 4,5 Millio- zwischen gibt es nach Berichten der Organisation Small nen Frauen in den USA von ihren Ehepartnern mit Schuss- Arms Survey sogar mehr Todesopfer durch Waffengewalt, waffen bedroht, und auf fast eine Million Frauen wurde ge- die nicht im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzun- schossen, ohne sie zu töten. gen verübt wird. Nach einem Bericht von Small Arms Survey wurden 69 Militarisierung als ein gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, Prozent der Frauen, die sich in einer gewalttätigen Bezie- kultureller und politischer Prozess wird in Israel durch herr- hung befnden, schon einmal mit Schusswaffen bedroht, schende Institutionen der Mehrheitsgesellschaft vorange- was 73 Prozent von ihnen daran hinderte, auf Gewalt zu trieben und ermöglicht sowohl die kontinuierliche Kontrolle reagieren; 68 Prozent waren deshalb nicht in der Lage, der palästinensischen Bevölkerung in den seit 1967 besetz- die Beziehung zu beenden.4 Im Jahr 2015 lebten in Israel ten Gebieten als auch die systematische Diskriminierung 100.000 Frauen in einer Situation häuslicher Gewalt. Aber der Palästinenser*innen, die seit 1948 Staatsbürger*innen viele der gerichtlichen Verfügungen zum Schutz vor Ge- Israels sind. Dieser Prozess beinhaltet die Abwertung des walt werden der Waffenbehörde gar nicht gemeldet.5 Das „feindlichen Anderen“ ebenso wie die Herabsetzung von heißt, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von Männern, Frauen, einschließlich der Frauen der herrschenden – jü- gegen die Gerichte Annäherungs- und Aufenthaltsverbo- dischen – Mehrheitsgesellschaft. In Gesellschaften, die ei- te angeordnet hatten, anscheinend weiterhin Schusswaf- nen Militarisierungsprozess durchlaufen, gilt die Bewah- fen besitzen konnten. rung der männlichen Vorherrschaft als erforderlich. Sie Das Risiko für Frauen, die zu Minderheiten oder jüdi- wird begründet mit der Rolle der Männer als Beschützer schen Neueinwanderergruppen gehören, ist größer, nicht des Heims, samt den schutzbedürftigen und verwundba- weil diese sozialen Gruppen gewalttätiger wären, sondern ren Frauen und Kindern. weil diese Frauen keinen Zugang zu Aufklärungsinformati- In dieser Situation bemüht sich die Initiative „Die Pis- onen oder den entsprechenden sozialen Diensten haben.6 tole auf dem Küchentisch“1 seit acht Jahren darum, den Zwischen 2002 und 2010 waren 33 Prozent der in der Fa- gesellschaftlichen Raum zu einem zivilen zu machen, die milie ermordeten Frauen palästinensische Staatsbürgerin- Präsenz von Schusswaffen auf ein Minimum zu reduzieren nen Israels und 2017 waren es sogar 40 Prozent.7 Auch und den Besitz von Kleinwaffen einer strengen Kontrolle Frauen, die zu Neueinwanderergruppen gehören, sind ei- zu unterwerfen. Entgegen der vorherrschenden Wahrneh- nem größeren Risiko ausgesetzt: 25 Prozent der Frauen, mung der jüdischen Öffentlichkeit in Israel, Schusswaf- die im Rahmen häuslicher Gewalt ermordet wurden, wa- fen seien „nur für unsere Verteidigung da“, entwickeln ren Einwanderinnen aus den Ländern der ehemaligen Sow- und fördern sie eine zivilgesellschaftliche Akzeptanz des jetunion und 11 Prozent der ermordeten Frauen waren immensen Schadens, der mit der weiten Verbreitung von äthiopischer Herkunft. Obwohl das Establishment es für Schusswaffen einhergeht. Der Kampf gegen die Normali- notwendig erklärt hat, kulturelle und sprachliche Barrieren sierung der Präsenz „zugelassener“ Schusswaffen im zi- abzubauen, um damit den Zugang zu staatlichen Sozial- vilen Raum erfordert Aktionen auf verschiedenen Ebenen: diensten zu erleichtern, wird in der Praxis in den meisten Dazu zählen das Sammeln, Aufzeichnen und Verbreiten Beratungsstellen, auf Hotlines, in Frauenhäusern, in Poli- von Informationen über Schusswaffenopfer, die Sensibili- zeistationen und natürlich auch vor Gericht nur Hebräisch sierung für die Gefahren, die durch die weite Verbreitung gesprochen und die Dienste dieser Einrichtungen sind auf von Schusswaffen verursacht werden, sowie parlamen- die Mehrheitskultur zugeschnitten. tarische Lobbyarbeit für Gesetzänderungen, die ihre Zahl reduzieren könnten.

66 Ein zentraler Risikofaktor: Obwohl sie keine militärische Institution ist, erhebt und die selektive Strafverfolgung veröffentlicht die Polizei keine Informationen über die Rolle von Schusswaffen bei Straftaten, Körperverletzungen und Im Diskurs der israelischen Mehrheitsgesellschaft besteht Tötungsdelikten. Ohne diese Informationen ist kein klares die Tendenz, die Unterdrückung von Frauen, die einer Min- Bild der Verbreitung von Schusswaffen im zivilen Raum derheit angehören, insbesondere in der palästinensischen zu gewinnen und die Vielzahl der vorhandenen Schuss- Gesellschaft, auf ihre angebliche Rückständigkeit oder auf waffen erscheint weiterhin harmlos. religiösen Extremismus zurückzuführen. Dieser Diskurs wird von staatlichen Stellen – mitunter gezielt – gefördert, obwohl gerade sie diejenigen sind, die konservative und Männer und Schusswaffen repressive Elemente in der palästinensischen Gesellschaft unterstützen und stärken, etwa die Struktur der patriarcha- Weltweit sind es weit überwiegend Männer, die Klein- lischen Großfamilie. Sie ist zu einem Eckpfeiler der israeli- waffen verwenden oder missbrauchen. Um das Verlan- schen Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung gen nach Schusswaffen zu verstehen, muss man die Pro- in Israel geworden, indem beispielsweise unter Umgehung zesse begreifen, die die Konzeptionen der Männlichkeit der üblichen sozialen Institutionen Scheichs und Honorati- erzeugen und reproduzieren. Auch in Israel, und insbe- oren ermutigt werden, die Rolle von Vermittlern und Medi- sondere unter Soldaten, werden Waffen mit Männlichkeit atoren zu spielen, was ihre Autorität stärkt. Im Gegensatz identifziert. Nach israelischem Recht gilt ein „vernünfti- dazu werden palästinensische Frauen von der Exekutive ger Mensch“ als ein „gemäßigter, refektierter, intelligen- allein gelassen. So stellte sich etwa heraus, dass 80 Pro- ter und rationaler Mensch. Natürlich ist er auch derjeni- zent der in Israel ermordeten palästinensischen Frauen vor- ge, der am Ende seines Arbeitstags seine Waffe mit nach her Anzeige wegen Gewalt oder Drohungen bei der Poli- Hause nimmt.“ Dass Männer gewohnt sind, eine Schuss- zei erstattet hatten, die ihr Leben trotzdem nicht schützte. waffe stets bei sich zu haben, wird sowohl vor Gericht als Weil bestehende Gesetze jahrzehntelang nicht durch- auch in der Mehrheitsgesellschaft in Israel als selbstver- gesetzt wurden, gibt es in palästinensischen Ortschaften ständlich angesehen. in Israel eine Flut von Schusswaffen. Schätzungen zu- Insbesondere junge Männer bilden nicht nur die Mehr- folge befnden sich derzeit rund 80 Prozent der illegalen heit derjenigen, die schießen, sondern stellen auch die Schusswaffen in den Händen von Angehörigen der ara- meisten Opfer durch Kleinwaffengebrauch. Weltweit wer- bischen Gesellschaft, obwohl diese nur 20 Prozent der is- den jedes Jahr zwischen 70.000 und 100.000 Männer im raelischen Bevölkerung stellen. Zwischen 2002 und 2013 Alter von 15 bis 29 Jahren getötet, die Opfer in Kriegsge- wurden durchschnittlich pro Jahr drei Frauen, die Ange- bieten nicht mitgerechnet. Das sind viermal so viele Män- hörige von Wachleuten von Sicherheitsfrmen waren, er- ner wie in anderen Altersgruppen. Nach Angaben des Ge- mordet, da das Verbot außerhalb der Arbeitszeit und ih- sundheitsministeriums waren in Israel zwischen 2010 und res Arbeitsplatzes Schusswaffen mit sich zu führen, nicht 2015 mehr als 60 Prozent der in Krankenhäuser eingelie- durchgesetzt wird. Einwanderinnen aus Ländern der ehe- ferten Menschen, die durch Gewalttaten verletzt worden maligen Sowjetunion und Äthiopien waren auch hier deut- waren, junge Männer und Jugendliche im Alter von 15 bis lich überrepräsentiert. 35 Jahren. Das ist zwar bezogen auf alle Arten von Gewalt, aber die Daten für 2015 zeigen einen starken Anstieg des Anteils derjenigen, die durch Schusswaffen schwer oder Mangel an demokratischer Transparenz lebensgefährlich verletzt wurden. Bei Männern, die zu einer Minderheit gehören, ist das Ri- Zu der gegenwärtigen Politik des Umgangs mit Schuss- siko noch höher. Der Anteil der palästinensischen Staats- waffen gehört neben der selektiven Durchsetzung von bürger Israels etwa, die Opfer von Schusswaffengebrauch Waffengesetzen auch, dass Informationen und Daten über werden, ist deutlich höher als ihr Anteil in der Gesamtbevöl- die Verbreitung von Schusswaffen und über bewaffne- kerung, wobei die Mehrheit der Opfer junge Männer sind. te Kriminalität nicht gesammelt und offengelegt werden. In dem von Small Arms Survey für 2013 erstellten Trans- parenz-Index rangiert Israel auf einem unrühmlichen 32. Die Privatisierung der Platz (von 52). öffentlichen Sicherheit Umfassende, systematische und frei zugängliche Infor- mationen sind für ein sachgemäßes und demokratisches In den letzten drei Jahren, unter der rechtesten Regierung politisches Agieren unerlässlich. Verschiedene Behörden in der Geschichte Israels, hat das Ministerium für Innere nutzen „aus Sicherheitsgründen“ Strategien der Verschlei- Sicherheit, das für die Ausgestaltung der Waffenpolitik erung von Informationen, um eine kritische öffentliche De- verantwortlich ist, eine aggressive Politik der Verbreitung batte über die übermäßige Präsenz von Militärwaffen im von Kleinwaffen verfolgt. Nach dem Anschwellen des pa- zivilen Raum zu verhindern. Über Jahre hinweg wurde un- lästinensischen Widerstands Ende 2015, im Zuge dessen terschlagen, dass die Selbstmordrate bei Soldat*innen mit es zu gewalttätigen Angriffen auf israelische Zivilist*innen der Verfügbarkeit von Schusswaffen korreliert. Das ging kam, behauptete Minister Gilad Erdan wiederholt, es sei sogar noch weiter, nachdem die Vorschriften in der Armee notwendig, die Zahl der Zivilist*innen, die mit Schusswaf- selbst aufgrund dieser Zahlen geändert worden waren. fen umgehen können, zu vervielfachen, denn das sei „ein

67 Multiplikator im Kampf gegen den Terrorismus“. In die- In Israel sind die relevanten Regelungen in verschiedenen sem Sinne wurden mehrere Schritte unternommen, um Gesetzen festgehalten, was es schwierig macht, die Ver- Waffenbesitz zu erleichtern. Im Jahr 2016 wurden inner- breitung von und den Umgang mit Schusswaffen effektiv halb von nur sechs Monaten 105.000 neue Waffenschei- zu regulieren und zu überwachen. Dieses Problem ist dem ne ausgestellt. Im selben Jahr wurde auch die gesetzliche Parlament durchaus bewusst. In den letzten zehn Jahren Regelung, die Angehörigen von Sicherheitsdiensten das wurden mehrere Gesetzesvorschläge erarbeitet, um alle Be- Tragen von Schusswaffen außerhalb des Arbeitsbereichs stimmungen in Bezug auf Waffen in Israel, einschließlich der verboten hat, „geändert“, genauer gesagt: aufgehoben. In Waffen der Sicherheitskräfte, in einem Gesetz zusammenzu- der Folge sind mit solchen Waffen unseres Wissens nach fassen. Bislang ist keiner von ihnen verabschiedet worden. mindestens zwei weitere Menschen getötet worden, mög- Ende 2017 wurde ein neues Rechtsgutachten zur Dis- licherweise auch drei, was noch nicht geklärt ist. kussion gestellt, das sich auf alle Kleinwaffen bezieht – In der durch Messerangriffe einzelner Palästinenser*innen auf private Schusswaffen, Waffen von Sicherheitsfrmen aufgeheizten Stimmung wurde es schließlich implizit und von Sicherheitskräften, Waffen, die in der Landwirt- (wenn auch nicht explizit) erlaubt, erkannte oder mutmaß- schaft und im Sport eingesetzt werden. Als Reaktion auf liche Angreifer*innen zu erschießen. Mit anderen Wor- das Gutachten präsentierte die Initiative „Die Pistole auf ten: In diesen Jahren wurden extralegale Hinrichtungen dem Küchentisch“ eine detaillierte Stellungnahme. Darin legitim. Nach Medienberichten kamen von Oktober bis wies sie sowohl auf die im Gutachten als auch in den be- Dezember 2015 bei 166 Vorfällen, bei denen Schusswaf- stehenden Gesetzen vorhandenen Probleme und Lücken fen als Gegenwehr zum Einsatz kamen, 118 (mutmaßli- hin. Dazu gehört unter anderem Kritik an einer sehr freizü- che) Angreifer*innen ums Leben (was einer Häufgkeits- gigen Politik, die das Waffenarsenal anwachsen lässt und rate von 1,4 entspricht, das heißt fast bei jedem Vorfall). an dem Ausschluss potenzieller Opfer aus dem Genehmi- Im Vergleich dazu wurden neun Tote bei 31 Vorfällen mit gungs- und Gesetzgebungsverfahren. Schusswaffengebrauch in den letzten Monaten des Jah- In der Stellungnahme wurde weiterhin hervorgehoben, res 2013 gemeldet. In sehr wenigen Fällen wurden die dass das Recht auf körperliche und seelische Unversehrt- Schützen überhaupt angeklagt; kam es zu Verurteilungen, heit im zivilen Bereich nicht gewährleistet werden kann, felen die Strafen sehr gering aus. Diese Entwicklung war solange die Durchsetzungs- und Kontrollmechanismen eine Art anhaltende „Generalprobe“ für den massiven Ein- für Schusswaffen unzulänglich sind. Selbst nach Anga- satz von Schusswaffen gegen Palästinenser*innen, die ab ben hochrangiger Beamter im Ministerium für Innere Si- März 2018 an der Grenze des Gazastreifens für ein Recht cherheit ist die Zahl der Inspektor*innen viel zu gering im auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge aus dem Verhältnis zur Menge der Schusswaffen, die sie zu kont- Krieg von 1948 ins heutige Israel demonstrierten. Sie half, rollieren haben. Im Jahr 2014 waren die Inspektor*innen die israelische Öffentlichkeit und auch die Weltöffentlich- für jeweils rund 50.000 private Waffenscheine zuständig. keit darauf vorzubereiten bzw. daran zu gewöhnen, dass Praktisch gab es insgesamt nur sechs Inspektor*innen, de- Scharfschützen von der israelischen Seite aus auf paläs- nen die Kontrolle sämtlicher Schusswaffen oblag. tinensische Demonstrant*innen schießen, wodurch über In Israel gibt es keine Verordnungen oder Gesetze, um den 200 Menschen getötet und viele Tausend verletzt wurden. tatsächlichen Gebrauch und die Aufbewahrung von Schuss- An der Grenze zum Gazastreifen gingen die Todesschüs- waffen im privaten Bereich zu kontrollieren. Der Staat hat se und die Körperverletzungen auf das Konto der Armee. keine Mechanismen entwickelt, um die physische und psy- Im Unterschied dazu hat das Ministerium für Innere Sicher- chische Verfassung der Privatpersonen mit Waffenschein heit in Gebieten, in denen mehrheitlich jüdische israelische regelmäßig zu überprüfen. Das gilt ebenso für ihre Fähigkei- Staatsbürger*innen leben, in den letzten Jahren eine Politik ten im Umgang mit Waffen und für deren Aufbewahrungs- verfolgt, die die Regierung von ihrer grundlegenden Ver- möglichkeiten. Schlimmer noch, es gibt Anweisungen der antwortung für die Sicherheit ihrer Bürger*innen befreit: Staatsanwaltschaft, mit Inhaber*innen von Waffenscheinen, Den Einzelnen (und gemeint ist hier in erster Linie ein jü- die eine in ihrem Besitz befndliche Waffe fahrlässig verlo- discher Mann, der Wehrdienst geleistet hat) zu ermutigen, ren haben, nachsichtig zu sein und sie milder zu bestrafen, sich zu bewaffnen und sich selbst und sein Zuhause zu obwohl es sich bei dieser Fahrlässigkeit um eine Straftat verteidigen, kommt einem Eingeständnis der Regierung handelt. So kann unter bestimmten Umständen ein alter- gleich, dass sie keine Lösungen hat und „innere Sicher- natives Verfahren (die Verhängung eines Bußgelds, die Hin- heit“ nicht gewährleisten kann. Sie entledigt sich der Ver- terlegung der Waffe oder gemeinnützige Arbeit) ohne straf- antwortung für die öffentliche Sicherheit und privatisiert rechtliche Verurteilung als ausreichend erachtet werden. diese, indem sie sie die Verantwortung hierfür männlichen In den Gesetzesvorlagen, wie auch im bestehenden jüdischen Israelis überträgt. Recht, kommen die Opfer nicht vor. So ist die Öffentlich- keit, die alltäglich mit diesen Waffen in Berührung kommt, nicht geschützt. Schutz der Öffentlichkeit bedeutet in die- Waffen, Recht und Gesetz in Israel sem Zusammenhang nicht nur die Verhinderung von Tö- tungsdelikten, sondern auch die Gewährleistung eines Die israelischen Gesetze, die den Besitz und Gebrauch von Rechts auf Leben ohne Bedrohung oder Angst vor kör- Waffen regeln, haben seit ihrer Verabschiedung eine Rei- perlichen und seelischen Verletzungen. he bedeutender Änderungen erfahren. Die Schusswaffen- politik variierte je nach politischer Situation und Regierung.

68 Das Gesetz und illegale Waffen Kontrolle dieser Waffen zu verstärken – was zugleich auch die Situation von Frauen und anderen benachteiligten Be- Nach verschiedenen Schätzungen sind bis zu 400.000 ille- völkerungsgruppen verbessern würde. Zu unserem Bedau- gale Schusswaffen im Besitz von Zivilist*innen. Ein Teil die- ern geht die Politik der Regierung in den letzten Jahren in ser Waffen dient der organisierten Kriminalität. In Ermange- die entgegengesetzte Richtung. lung offzieller Statistiken wird die Anzahl der durch illegale Waffen jedes Jahr getöteten Menschen auf mindestens Per- Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin sonen geschätzt, darunter Frauen, Jugendliche, Kinder und unbeteiligte Passant*innen. 90 Prozent der illegalen Waffen Meisa Irshaid ist eine auf Zivil- und stammen aus dem Arsenal der legalen Waffen, die angeb- Verwaltungsrecht spezialisierte Rechtsan- lich unter Aufsicht der verantwortlichen staatlichen Behör- wältin und politisch aktive Feministin. Seit 2016 berät sie die Initiative „Die Pistole den, insbesondere der Armee, stehen, wie aus den Bemer- auf dem Küchentisch“. Dabei vertritt sie kungen des Ministers für Innere Sicherheit hervorgeht. Opfer von Schusswaffengewalt und deren Die meisten Fälle von tödlichem Schusswaffengebrauch Angehörige und bemüht sich um öffentliche in der palästinensischen Gesellschaft in Israel werden nicht Aufklärung zum Thema. von der Polizei geklärt und die Mörder werden nicht vor Gericht gestellt. In den wenigen Fällen, in denen Verdäch- Rela Mazali ist Publizistin, unabhängige tige angeklagt werden, kommt es oft vor, dass das Ge- Wissenschaftlerin und feministische richt auf Fehler in den polizeilichen Ermittlungen und man- Friedensaktivistin. Sie war eine der 1.000 Frauen, die im Jahr 2005 von Friedens gelndes Fachwissen bei der Erhebung von Beweismitteln Frauen Weltweit für den Friedensnobelpreis stößt. Mit anderen Worten, auch wenn der Mörder vor Ge- nominiert wurde. Sie war Jurymitglied im richt gestellt wird, wird er nicht notwendigerweise bestraft. „World Tribunal on Iraq“ (2005). Mazalis Manchmal wird er sogar wegen fehlerhafter Ermittlungen „Maps of Women’s Goings & Stayings” (2001) wurde in einer Rezension als beste freigesprochen. Das ist ein Teufelskreis: Der Mörder kehrt „Erzählung in Zeit und Raum über Frauen, als Sieger in die Gesellschaft zurück – eine einschüchtern- von Frauen, für Frauen” bezeichnet. Mazali de Botschaft an all die Menschen in seiner Umgebung, die ist Mitbegründerin der Initiative „Die Pistole illegale Waffen ablehnen. Mit der Zeit verinnerlichen sie auf dem Küchentisch“, deren Aktivitäten die Erfahrung, dass sie kein Gehör fnden und machtlos vornehmlich auf ihren Studienergebnissen zur Verbreitung von Schusswaffen bei sind, als Überlebensstrategie – aus Angst, dass sie von privaten Sicherheitsfrmen beruhen. außer Kontrolle geratenen kriminellen Organisationen an- gegriffen werden und zu Schaden kommen könnten, falls sie sich widersetzen. Anmerkung Infolgedessen steigt die Zahl der Morde mit illegalen Waf- 1 Diese Initiative wird durch das Israel-Büro fen in israelischen Städten, in denen Palästinenser*innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt. leben, wie zum Beispiel in Lod, Jaffa und Umm al-Fahm. Wie ernst die Lage ist, zeigt sich daran, dass die Morde 2 Bevan, J./Florquin, N.: Few Options but the Gun: Angry Young Men, Kap. 12, in: Small zumeist am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit begangen Arms Survey 2006, Cukier, W./Cairns, J.: werden, vor den Augen von Hunderten von Menschen, Gender, attitudes and the regulation of small die Zeugen des Mordes werden, und der Mörder ist in der arms: Implications for action, in: Farr, V./ Umgebung bekannt und trägt in der Regel keine Maske. Myrttinen, H./Schnabel, A. (Hrsg.): Sexed pistols: The gendered impacts of small arms Dennoch wird nicht ein Einziger der Anwesenden das Ri- and light weapons, Tokio 2009, S. 21. siko eingehen und gegen den Mörder vor Gericht als Zeu- ge aussagen, da dies sein Leben, sein Geschäft und sei- 3 Cukier/Cairns: Gender, S. 22. ne Familie in Gefahr bringen würde. Und es würde ihn der 4 Too Close to Home. Guns and Intimate Verfolgung durch die kriminelle Organisation aussetzen, Partner Violence, in: Small Arms Survey die den Mord unterstützt, da die Polizei – wieder einmal – 2013, S. 39, unter: www.smallarmssurvey. in ihrem Zeugenschutz nachlässig wäre. Diese langjähri- org/fleadmin/docs/A-Yearbook/2013/en/ ge fehlende Durchsetzung von bestehenden Gesetzen in Small-Arms-Survey-2013-Chapter-2-EN.pdf. der palästinensischen Gesellschaft in Israel hat kriminel- 5 Sachs, D./Saar, P./Aharoni, Q.: Mute le Organisationen, die für die meisten Schießereien und testimony: Women in the Israeli-Palestinian Morde mit illegalen Waffen verantwortlich sind, gestärkt confict, Isha l’Isha Feminist Center, 2005, und sie sogar zu neuer Blüte gebracht. S. 20. In Bezug auf illegale Waffen besteht die große Herausfor- 6 Mazali, R.: The Gun on the Kitchen Table: derung für die Zivilgesellschaft darin, die Strafverfolgungs- The Sexist Sub-Text of Private Policing in behörden – nicht zuletzt die Polizei – dazu zu bringen, krimi- Israel, in: Farr u.a. (Hrsg.): Sexed pistols, nelle Organisationen zu entwaffnen, deren Schusswaffen S. 273. zivile Räume beherrschen und vor allem palästinensischen 7 Report by Knesset Member Hanin Zoabi: Staatsbürger*innen Israels schaden. Ein solch geändertes Crime in Arab Society: Shortcomings in Vorgehen wird nicht möglich sein, ohne die Anzahl der le- Police Treatment, submitted to the State galen Waffen im öffentlichen Raum zu reduzieren und die Comptroller, 8.1.2017, S. 17.

69 Kundgebung gegen Femizide und sexualisierte Gewalt, Tel Aviv, 2018. Foto: Activestills

Protest gegen den Anstieg häuslicher Gewalt in Israel am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, Ramla, 2015. Foto: Activestills

70 IV ÖKONOMIE

71

Gewerkschaften in Israel: die Geschichte der Haifa Chemicals

Ziv Adaki In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die einst sozialistisch geprägte Wirtschaftsordnung in Israel in eine rein kapitalistische, in großen Teilen gar neoliberale verwandelt. Die Geschichte des Konzerns Haifa Chemicals verdeutlicht die Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozess.

Blick auf Haifas Industriegebiet, 2020. Foto: Activestills

73 Die Geschichte von Haifa Chemicals ist auf das Engste mit bedeutete) und engagierte sich in den Bereichen Bildung, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Lan- Kultur und Gesundheitsversorgung. Wer davon proftierte, des verfochten. Sie steht für wissenschaftliche Innovatio- waren insbesondere all jene, die ein „rotes [Partei-]Buch“ nen, die die industrielle Entwicklung vorantreiben, für den hatten, das heißt, Mitglieder von Mapai waren, der Partei, Übergang von einer sozialistischen hin zu einer kapitalis- die von 1948 bis 1977 die Regierung stellte und die in der tischen Wirtschaftsordnung, für die Privatisierung von er- Histadrut das Sagen hatte. Man könnte behaupten, dass folgreichen staatlichen Unternehmen, für den Kampf der sich die Histadrut um das wirtschaftliche Wohlergehen Arbeiter*innen für ihre Rechte, für Abwägungen zwischen derer kümmerte, die aus ihrer Sicht auf der richtigen po- Umweltbelangen, Verteilungsgerechtigkeit und sozialstaat- litischen Seite standen – das hieß vor allem aschkenasi- lichen Anliegen und für die Verfechtung von Kapital und sche Jüdinnen und Juden, die dem Sozialismus anhingen. politischer Macht. Anhand der Geschichte des Werks von Es ließe sich aber auch behaupten: Aufgrund ihrer wirt- Haifa Chemicals und dessen Beschäftigten werde ich die schaftlichen Macht konnte sich Mapai die Unterstützung israelische Wirtschaftsgeschichte nachzeichnen und ins- einer breiten Wählerschaft sichern, auch die Stimmen besondere die Entwicklung der gewerkschaftlich organi- derjenigen, die nicht unbedingt sozialistische Überzeu- sierten Arbeit in Israel: von ihren optimistischen Anfängen gungen hatten. Wie dem auch sei: Wichtig ist anzuer- über die Phasen ihres Niedergangs bis hin zur heutigen kennen, dass sich die Histradrut nicht nur durch die be- Situation, in der versucht wird, die Gewerkschaftsmacht sonders idealistischen sozialistischen Vorstellungen ihrer wieder zu stärken. Gründer*innen auszeichnete, sondern durch eine außer- gewöhnliche wirtschaftliche und politische Machtposition – was eine enge Verfechtung von Kapital und Regierung Ende der 1960er, Anfang der beförderte. Histadrut als der größte Arbeitgeber im Land 1970er Jahre: Wachstum und Mapai als langjährige Regierungspartei warben mas- siv Spenden von wohlhabenden Jüdinnen und Juden auf Der Abschluss des Baus der Anlagen von Haifa Chemicals der ganzen Welt ein, die Geld gaben, um den Staat Israel in der Bucht von Haifa im Norden Israels fel in das Jahr und den Aufbau der benötigten Infrastruktur zu unterstüt- 1966. Es war zunächst ein staatliches Unternehmen, ge- zen. Mapai und Histadrut entschieden sich angesichts der gründet auf der Grundlage von am Technion – Israel Insti- Herausforderung, eine produktive Volkswirtschaft zu ent- tute of Technology in Haifa entwickeltem Know-how, das wickeln, am Ende für das bürgerliche Kapital und gegen später zum weltweit größten Werk seiner Art zur Herstel- Klassengleichheit, wie Zeev Sternhell in seinem Buch „The lung von Düngemitteln für die Landwirtschaft und von Founding Myths of Israel“ gezeigt hat. Raf Kamhi, Direk- Chemikalien für die Lebensmittelindustrie und andere In- tor des Programms Leadership der Akademie für soziale dustriezweige werden sollte. Es verarbeitete vor allem Ka- Ökonomie (SEA), weist darauf hin, dass das „Modell des lisalz aus dem Toten Meer, Phosphate aus der Rotem-Ebe- sozialen Dialogs zwischen Regierung, Arbeitgebern und ne im Süden Israels sowie Ammoniak, das damals noch in Gewerkschaften, aus dem in Europa der Sozialstaat her- Israel produziert wurde. Auf dem Höhepunkt seiner Leis- vorging und das auf der politischen Macht aller Arbeiten- tungsfähigkeit, im Jahr 2017, beherrschte das Werk mit den beruhte, in Israel zwar von der Histradrut übernom- einem Anteil von zwei Dritteln an der Gesamtproduktion men wurde, aber mitnichten für alle in der Gesellschaft den globalen Düngemittelmarkt. gleichermaßen galt.“ Die meisten derjenigen, die in dem Werk arbeiteten, leb- ten selbst in der Bucht von Haifa. Im Jahr 1973 begann das Werk, Gewinne zu erzielen; im Jahr 1974 verdoppelte sich Ende der 1970er, Anfang der seine Produktionskapazität und bereits im Jahr 1978 wur- 1980er Jahre: Privatisierung den Aktien des Unternehmens an der Börse in Tel Aviv aus- gegeben. Da Haifa Chemicals ein Staatsbetrieb war, waren Ab April 1980 gingen wesentliche Teile von Haifa Chemi- die dort Arbeitenden alle in der Histadrut (Allgemeiner Ver- cals nach und nach in den Privatbesitz von israelischen und band der Arbeiter im Land Israel) organisiert. Die Histadrut US-amerikanischen Konzernen über. Der israelische Staat war damals (und ist bis heute) die größte Gewerkschaft in verkaufte nicht nur das Know-how und die Produktionsmit- Israel. Ihre Gründung geht auf die Initiative von jüdischen tel ins Ausland, sondern privatisierte auch die natürlichen Einwander*innen der zweiten Alija,1 Europäer*innen mit ei- Ressourcen, auf denen die Produktion des Werks beruht. nem meist ausgeprägten Klassenbewusstsein, zurück. Von Selbst in einer wirtschaftlichen Situation, die durch starke Beginn an übernahm die Histadrut verschiedene Funkti- Konkurrenz und neoliberale Prinzipien geprägt ist, ist der onen: Sie stellte einen wichtigen Teil der wirtschaftlichen Verkauf von seltenen einheimischen Rohstoffen und an- Infrastruktur, vertrat Arbeitnehmer*inneninteressen und deren Ressourcen an private Firmen ein schwerer Fehler sorgte für Beschäftigung. In den ersten Jahren nach der – es sei denn, er geht mit strengen Aufagen und Regulie- Staatsgründung war die Histadrut der größte Arbeitgeber rungen einher, was im Falle der neuen Eigentümer*innen in Israel. Sie war bestrebt, in Israel eine egalitäre Gesell- von Haifa Chemicals nicht der Fall war. Obwohl im Lau- schaft von Arbeiter*innen zu schaffen. Daneben kümmer- fe der Jahre der Börsenwert des Unternehmens beträcht- te sie sich um die Ansiedlung jüdischer Immigrant*innen lich gewachsen war und trotz öffentlicher Kritik, wurde die sowie die Förderung der „hebräischen Arbeit“ (was im Privatisierung fortgesetzt, das Werk schließlich weit un- Umkehrschluss den Ausschluss arabischer Arbeiter*innen ter Wert verkauft. Laut Gerüchten aus Regierungskreisen

74 zahlten die privaten Käufer*innen der Aktien für diese we- Jahre hinweg systematisch das Ökosystem des Flusses niger als das, was das Unternehmen zu dieser Zeit an liqui- Kischon zerstört. Bis zum Jahr 2001 wurde Haifa Chemi- den Mitteln besaß. Im Jahr 2008 wurde der Jahresumsatz cals zusammen mit anderen Unternehmen wie ORL darü- des Unternehmens auf 900 Millionen US-Dollar geschätzt; ber hinaus als Hauptverursacher der Schadstoffemissionen seitdem gehört es der US-amerikanischen Trump Group, in die Luft in der Region von Haifa eingestuft. Zudem wur- der Jules Trump vorsteht (der nicht mit dem gegenwärti- de 1989 in der Bucht von Haifa ein riesiger Tank für Am- gen US-amerikanischen Präsidenten verwandt ist). moniak errichtet, der ausländischen Eigentümer*innen ge- Das Schicksal von Haifa Chemicals ähnelt dem vieler hörte und in dem bis zu seiner Schließung das gesamte in anderer israelischer Unternehmen und Fabriken, die zu Israel produzierte und von der hiesigen Industrie und Wirt- einem ähnlichen Zeitpunkt gegründet wurden. Seit der schaft benötigte Ammoniak lagerte. Das heißt, die 12.000 Likud 1977 die Regierungsgeschäfte übernahm und die Tonnen Ammoniak aus dem Tank verschärften noch wei- Mapai nach 30 Jahren an der Macht ablöste, war der ge- ter die katastrophale ökologische Situation in dem Gebiet samte ökonomische Sektor Deregulierungs- und Flexibili- von Haifa. Obwohl der Ammoniak-Tank weder eine Bau- sierungsprozessen unterworfen, die darauf abzielten, ihn noch eine Betriebsgenehmigung hatte, ließen die Behör- in eine wettbewerbsorientierte kapitalistische Wirtschaft den über Jahrzehnte seine Nutzung zu. Das Umweltmi- zu verwandeln. Ähnliche Entwicklungen fanden auch an- nisterium hat bewusst in Kauf genommen, dass aus dem derswo auf der Welt statt, unter anderem in Großbritan- Tank in all dieser Zeit Giftstoffe austraten. Eine Funktions- nien oder den USA unter der Führung von Margaret That- störung, eine Naturkatastrophe oder ein Anschlag auf die cher bzw. Ronald Reagan. Im Zuge dieser Entwicklung Anlage hätten Schätzungen zufolge zum Tod von Tausen- erlebte die Histadrut ihren Bankrott – in ideologischer, or- den Menschen führen können. Diese Gefahr hat 30 Jahre ganisatorischer und ökonomischer Hinsicht. Sie machte lang über dem meist trüben Himmel von Haifa geschwebt. mit bei den Privatisierungswellen; viele ihrer Fabriken und Bereits in den 1980er Jahren erschienen erste Studien, Unternehmen wurden an private Firmen verkauft. Seitdem die einen Zusammenhang zwischen der von den Indust- nahm die Macht des Kapitals gegenüber den Betriebsrä- rieanalagen in der Haifa-Bucht verursachten Umweltver- ten zu und der gewerkschaftliche Organisationsgrad der schmutzung und der ungewöhnlich hohen Morbiditäts- und Beschäftigten erreichte in Israel einen Tiefpunkt: Er sank Sterblichkeitsrate in der lokalen Bevölkerung nachwiesen, von 80 auf 20 Prozent. Es folgten der Abbau von Stellen in aber jahrzehntelang konnten Kritiker gegen das auf der Ver- staatlichen Unternehmen und Behörden sowie die Entlas- fechtung von Kapital und Regierung beruhende Kartell des sung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer*innen, Schweigens nichts ausrichten. Die israelische Umweltbe- die nach und nach durch Beschäftigte ersetzt wurden, für wegung hat das Ausmaß der ökologischen Katastrophe in die keine Tarifverträge gelten – darunter im internationa- der Bucht von Haifa schon länger erkannt. Die Coalition for len Vergleich ungewöhnlich viele Leiharbeiter*innen, die Public Health, ein Zusammenschluss von 17 gemeinnützi- arbeitsrechtlich wesentlich schlechter geschützt sind. gen Organisationen und Vereinen, hat das Thema in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten gestellt. Es gab Demonstra- tionen, vereinzelte Zeitungsberichte und Vorwürfe der Ini- Ende der 1980er, Anfang der 1990er tiativen gegen die Behörden, diese würden Informationen Jahre: zunehmende Verfechtung zurückhalten und Vorfälle vertuschen, zum Beispiel durch von Kapital und Regierung in der Bucht ineffektive Überwachung, weniger strenge Richtlinien, die Ausübung von Druck auf Wissenschaftler*innen, die Ver- von Haifa hinderung der Veröffentlichung von relevanten medizini- Laut des Jahresberichts des staatlichen Rechnungshofes schen Studien sowie die Beeinfussung der Berichterstat- von 1989 „beanspruchen einige der Unternehmen, die tung in den Medien. In der Bucht ist die Zahl der Herz-, mit gefährlichen Stoffen in der Bucht von Haifa arbeiten, Leber-, Nieren-, Lungen-, Asthma- und Krebserkrankungen […] Oil Refneries Ltd. (ORL), Gadot Biochemical Indus- sowie von Fehlentwicklungen bei Föten und Kindern und tries, Haifa Chemicals und die petrochemischen Werke, damit verbundener Todesfälle höher als in anderen Teilen seit Jahren auf der Kommunalebene einen extraterritoria- Israels – aber all dies wurde völlig verdrängt. len Status. Ein solcher Status bedeutet, dass es praktisch Die Verfechtung von Kapital und Staat hat sich in diesem unmöglich ist, planungs- und baurechtliche Aufagen und Fall als äußerst stark und vielschichtig erwiesen. Es las- Vorschriften der Gewerbeaufsicht gegenüber diesen Un- sen sich enge Beziehungen zwischen den Minister*innen ternehmen durchzusetzen.“ Und obwohl Haifa Chemicals für Finanzen, Infrastruktur sowie Arbeit und Soziales, den mehr als zwei Millionen Kubikmeter an giftigen Abwäs- Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses sowie vielen sern (Phosphor, Stickstoff, organischer Kohlenstoff, Chrom, anderen Staatsbediensteten und den Eigentümern der Is- Cadmium und Kupfer) in den Fluss Kischon, an dem das rael Corporation aufzeigen, zu deren Holdings die großen Werk liegt, geleitet hat, erhielt das Unternehmen vom Mi- umweltverschmutzenden Industrieanlagen, einschließlich nisterium für Handel und Industrie eine Auszeichnung für der Oil Refneries Ltd., gehören. Alle in der Bucht von Hai- seine hervorragenden Exportleistungen. Haifa Chemicals fa angesiedelten Werke sind in den Genuss von Protek- hat unter Berufung auf seine Extraterritorialität und die tion seitens der Behörden gekommen. Viele hochrangige angeblich besondere Beschaffenheit des Geländes, auf Mitarbeiter*innen des Finanzministeriums, des Zolls und der dem sich das Werk befndet (dieses mache es schwierig, Steuerverwaltung fanden über den Drehtür-Effekt am Ende Umweltschutz- und Planungsaufagen umzusetzen), über ihrer Amtszeit Anstellung in den umweltverschmutzenden

75 Unternehmen. So wechselte die ehemalige Leiterin des Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter*innen/Gewerkschaften Umweltministeriums, Nehama Ronen, später auf einen Di- und Arbeitgeber*innen nicht nur in diesem Werk, sondern rektorenposten bei Oil Refneries Ltd., Rechtsanwalt Mo- in der gesamten israelischen Wirtschaft verändern würde. sche Schachal, der unter anderem die Israel Corporation, Dies drückte sich auch in der Entwicklung des Arbeits- Oil Refneries Ltd. (Bazan) und die Ofer Brothers Group kampfs aus. Das Management griff zu extremen Maß- vertreten hat, bekleidete zuvor verschiedene Regierungs- nahmen gegen die Streikenden. Dazu zählte die Aufwie- ämter, darunter Minister für Kommunikation, Minister für gelung der Öffentlichkeit gegen die Streikenden und das Energie und Infrastruktur und Polizeiminister. Darüber hi- Anheuern von Schlägertrupps, die die Streikenden angrif- naus erhielt die Israel Corporation im Jahr 2006 eine Aus- fen. Druck wurde auch über eine arbeitsgerichtliche Ver- zeichnung, weil sie mit einer Spende an krebskranke Men- fügung ausgeübt, die von den Streikenden die Entfernung schen Medikamente zur Verfügung gestellt hatte, die vom ihres Protestzelts vom Werksgelände verlangte. Die Strei- öffentlichen Gesundheitssystem nicht bezahlt werden. Die kenden gaben jedoch nicht nach. Sie arbeiteten mit an- Auszeichnung hatte ihr die Israel Cancer Association verlie- deren Betriebsräten zusammen, auch im Süden des Lan- hen, die jahrelang den Zusammenhang zwischen Luftver- des. Sie blockierten den Zugang zu Haifa Chemicals-Süd, schmutzung und erhöhten Krebsraten bestritten hatte und um die Produktion dort zu stoppen und somit zu verhin- deren damaliger Präsident, der Geschäftsmann Benjamin dern, dass das Werk im Süden die Verluste des Haupt- („Benny“) Gaon, CEO von Koor Industries war, einem der werks im Norden ausglich. Der Industriellenverband ließ größten umweltbelastenden Unternehmen in der Bucht dem Unternehmen fnanzielle Unterstützung zukommen, von Haifa. Eine Stellungnahme von Yona Yahav, dem Bür- damit dieses die durch den Streik verursachten Verluste germeister von Haifa, spiegelte die offzielle Sicht zu der tragen konnte. Zeit treffend wider. Am 6. Juni 2012 versicherte er auf einer Es gibt Einschätzungen, wonach Arie Genger, der dama- Stadtratssitzung zum Thema Luftverschmutzung in Haifa: lige Chef von Haifa Chemicals-Nord und enger Freund des „Die Luft, die die Bewohner von Haifa einatmen, ist sauber.“ damaligen Ministers für Industrie, Handel und Arbeit, Ari- Erst im April 2015 erkannte das Gesundheitsministeri- el Sharon, kurz davor war nachzugeben. Vermutlich wäre um den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und der Arbeitskampf auch anders ausgegangen, wenn sich erhöhter Morbidität in Haifa an. Das Umweltministerium, die Histadrut damals dazu hätte durchringen können, den das später in Ministerium für Umweltschutz umbenannt Streik auf andere Unternehmen auszuweiten, die im Indus- wurde, erklärte die Bucht von Haifa zu einem „kontami- triellenverband zusammengeschlossen waren. Aber die nierten Gebiet“. Fünf Monate später äußerte sich auch die Histadrut erwies sich als schwach und entschied sich dage- israelische Regierung dazu und sprach von einer außerge- gen. Weil in dem Histadrut-Gremium, das für die streiken- wöhnlich hohen Luftverschmutzung in der Region und be- den Arbeiter*innen von Haifa Chemicals die Verhandlun- sorgniserregend hohen Erkrankungsraten. Zu Beginn des gen führte, die Betriebsräte nicht vertreten waren, konnte Jahres 2019 schließlich erfuhr die diesen Gesundheitsge- die Histadrut eine schließlich vom Management des Werks fahren seit Jahrzehnten ausgesetzte Bevölkerung von Haifa, vorgeschlagene Vereinbarung als „alternativlos“ präsentie- etwa eine halbe Million Menschen, von dem Plan der Re- ren. Die Histadrut akzeptierte dieses Angebot im Namen gierung, die Industrieanlagen aus der Haifa-Bucht zu ent- der Streikenden und riet ihnen, es sofort zu unterschreiben, fernen und den Boden und das Grundwasser gründlich zu um Einfuss auf darin enthaltene Regelungen zu nehmen. reinigen. Das Vorhaben soll bis 2032 umgesetzt werden. Es hieß: jetzt oder nie. Und so zwang eine Geschäftslei- tung zum ersten Mal in der Geschichte Israels Beschäf- tigten ein Abkommen auf, das zwischen verschiedenen Die 1990er und frühen 2000er Jahre: Kategorien von Arbeiter*innen unterscheidet. Bei dieser ein historischer Streik Methode des Teile und Herrsche verschlechtern sich die Beschäftigungsbedingungen der alten Belegschaft (der Im Jahr 1994 wurde das Werk Haifa Chemicals-Süd in der „ersten Generation“) nicht, in der Annahme, dass sie mit Rotem-Ebene in der Nähe der Stadt Arad im Süden Israels der Zeit immer kleiner wird, bis sie irgendwann ganz ver- trotz Einwänden des damaligen obersten Rechnungsprü- schwindet. Im Gegensatz dazu werden neu Eingestellte fers mit staatlicher Unterstützung errichtet. Fehlende ge- (die „zweite Generation“) zu schlechteren Bedingungen werkschaftliche Organisierung und der Mangel an Arbeits- beschäftigt. Zudem wird deren Stellung durch die Aus- plätzen im Süden des Landes erlaubten den Betreibern, weitung der Leiharbeit, die im Jahr 1996 eine gesetzliche den Beschäftigten miserable Bedingungen aufzuzwingen. Grundlage erhielt, noch weiter untergraben. Dieses Ge- Das wollte sich auch die Geschäftsleitung des Mutterwerks nerationen-Modell wurde von vielen Betrieben übernom- Haifa Chemicals-Nord zunutze machen. Sie drängte dar- men und schuf in Israel eine Schicht von erwerbstätigen auf, den dort gültigen Tarifvertrag aufzukündigen. Darauf- Armen (working poor). hin bot die Belegschaft an, das Werk zu kaufen, ihr Ange- Massive Machtkämpfe und Streiks zeichneten die ge- bot wurde jedoch abgelehnt. Als die Beschäftigten sich zu samte israelische Wirtschaft in jenen Jahren aus. Die Os- Warnstreiks entschlossen, schickte die Werksleitung die lo-Abkommen führten zur wirtschaftlichen Eroberung der meisten von ihnen in Zwangsurlaub. Im November 1996 Westbank und versorgten die israelische Wirtschaft mit begannen die Arbeiter*innen einen Streik, der fast ein hal- billigen Arbeitskräften. Der Mord an Rabin schwächte bes Jahr anhielt. Es stand damals viel auf dem Spiel. Viele die israelische Linke beträchtlich. Nach der Privatisierung erwarteten, dass das Ergebnis dieses Arbeitskampfs das ihrer Unternehmen wurde die Histadrut zu einer neuen

76 Organisation umgebaut, die sich auf den Schutz von Arbeit- (dem „Parlament“ der Organisation) zum Beispiel darüber nehmerrechten konzentrieren sollte. In diesen kritischen entscheiden, wie mit Arbeitskonfikten umgegangen wird. Jahren, von 1995 bis 2006, war der aus dem peripheren Das reicht von der Erklärung eines Arbeitskonfikts über Städtchen Sderot stammende Mizrachi Amir Peretz Vorsit- die Entscheidung, zu streiken oder einen Streik zu been- zender der Histadrut. Die traditionell aschkenasische Füh- den, bis hin zur Annahme oder Ablehnung der Bedingun- rung der Histadrut bemühte sich damals, auch Menschen gen eines Tarifvertrags. Heute hat Koach La-Ovdim zirka aus gesellschaftlichen „Randgruppen“ (Bewohner*innen 22.000 Mitglieder und vertritt die Interessen von mehr als dünn besiedelter Gebiete, Ultraorthodoxe, Mitglieder der 30.000 Beschäftigten. palästinensischen Minderheit und Mizrachim) zu rekrutie- Die Gründung einer zweiten großen Gewerkschaftsor- ren. Allerdings war ihre Reichweite mittlerweile gering, und ganisation veranlasste die Histadrut, neue Initiativen zu er- sie bemühte sich auch nicht, den Kreis der gewerkschaft- greifen und sich um neue Mitglieder zu bemühen, wodurch lich Organisierten zu vergrößern. Vielmehr konzentrierte der Kreis der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen sie sich darauf, die guten Arbeitskonditionen der alten Mit- erweitert wurde. „Es ist bemerkenswert“, fügt Kamhi hin- glieder zu erhalten – wie im Fall von Haifa Chemicals-Nord. zu, „dass sich ab Mitte der 1980er Jahre, als in Israel ein Im Jahr 2003 wurde Benjamin Netanjahu zum Finanzmi- neoliberales Wirtschaftsmodell eingeführt wurde, in der nister ernannt und leitete eine umfassende Wirtschaftsre- israelischen Arbeiterklasse ein beschleunigter Flexibilisie- form ein, mit der eine Privatisierung der meisten staatlichen rungsprozess vollzog. Dieser hatte einen starken Rück- Unternehmen einherging sowie eine Verschlechterung der gang des Anteils der gewerkschaftlich organisierten Be- Arbeitsbedingungen der im öffentlichen Dienst Beschäf- schäftigten und der Beschäftigten, die von Tarifverträgen tigten (auf kommunaler und nationaler Ebene), erst eine abgedeckt sind, zur Folge. Die Transformation der israeli- Verstaatlichung und dann Privatisierung der Pensionsfonds schen Arbeiterklasse von einer sehr gut organisierten und der Histadrut sowie eine Kürzung sozialer Leistungen. Ne- geschützten (zu Beginn der 1980er Jahre waren um die tanjahu erklärte die Histadrut und die gewerkschaftlich or- 80 Prozent aller Arbeiter*innen Gewerkschaftsmitglied) hin ganisierte Arbeiterschaft zum „Feind“. Der Vorsitzende der zu einer unter Prekarisierung leidenden erreichte im Jahr Histadrut, Peretz, reagierte mit Streikandrohungen. Darauf- 2011 ihren Höhepunkt, als nur etwa ein Viertel aller Lohn- hin kam es in den israelischen Häfen tatsächlich zu einem abhängigen organisiert und nur etwa ein Drittel von ihnen zweimonatigen Streik, dem längsten seiner Art in der isra- von Tarifverträgen erfasst waren. Mit dem Auftauchen von elischen Geschichte, sowie zu einem Generalstreik. Aber Koach La-Ovdim zeichnete sich eine Trendwende ab: Ab nach zwei Jahren waren unter anderen die Discount Bank, 2008 begannen sich vor allem junge und gut ausgebilde- die 1983 infolge der Bankenkrise verstaatlicht worden war, te Menschen verschiedenster Berufszweige, vornehmlich das für die Telekomunikation in Israel zuständige staatli- aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, gewerkschaftlich zu che Unternehmen Bezeq, die Ölraffnerien, die Container- organisieren, um die fortschreitende Erosion ihrer Löhne schiffreederei Zim und die staatliche Fluggesellschaft El und Arbeitsbedingungen einzudämmen und für Arbeits- Al privatisiert. Nur eine relativ kleine Gruppe von älteren platzsicherheit und einen menschenwürdigen Lebensun- Arbeitnehmer*innen, die noch alte Verträge hatten, konn- terhalt zu kämpfen. Prekär Beschäftigte in privatisierten te von den Aktivitäten der Histadrut und ihrem Vorsitzen- Sozialdiensten, Versicherungs-, Finanz-, Telekommunika- den Peretz proftieren. Das Nachsehen hatten die große tions- und Hightech-Unternehmen sowie in der Industrie Mehrheit der Lohnabhängigen und die auf Sozialleistun- und der Energiewirtschaft organisierten zum ersten Mal gen Angewiesenen. Betriebsräte an ihrem Arbeitsplatz und lösten damit eine große Welle gewerkschaftlicher Organisierung aus. Nach Angaben des israelischen Statistikamts stieg die Zahl der Die 2000er Jahre: gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer*innen in Is- ein historischer Sommer rael um circa 200.000 Menschen an, sodass ihr Anteil im Jahr 2016 bei circa 27 Prozent lag. Koach La-Ovdim ver- „Als klar war, dass die Histadrut zu schwach war, um den tritt inzwischen ganz verschiedene Beschäftigtengruppen: gewerkschaftlichen Organisationsgrad in Israel zu erhöhen zum Beispiel in kommunalen Verkehrsbetrieben arbeiten- und um das bisher Erreichte zu verteidigen, wurde [im Jahr de Busfahrer*innen, an öffentlichen Hochschulen arbeiten- 2007] Koach La-Ovdim (‚Alle Macht den Arbeitern’) ge- de Akademiker*innen sowie in privatisierten Sozial- und gründet, eine Gewerkschaft, deren demokratische Struk- Bildungsdiensten Beschäftigte wie etwa Lehrer*innen im tur dem skandinavischen Gewerkschaftsmodell ähnelt (mit HILA-Programm [ein Bildungsprogramm für Jugendli- einigen Modifkationen, um dem israelischen Arbeitsrecht che, die aus dem regulären Schulbetrieb ausgeschlossen zu entsprechen)“, sagt Raf Kamhi, der dem Betriebsrat der wurden].“ streikenden Arbeiter*innen von Haifa Chemicals-Nord als Im Jahr 2011, als der Betriebsrat von Haifa Chemicals- Koordinator der Zentrale-Nord von Koach La-Ovdim zur Nord davon erfuhr, dass die Histadrut beabsichtigte, einen Seite stand. Koach La-Ovdim ist ein Gewerkschaftsbund, Tarifvertrag zu unterzeichnen, der erneut die Beschäfti- der die gewerkschaftliche Organisierung in Israel stärken gungsbedingungen verschlechtert hätte, entschloss er sich und ausbauen will. Er hat eine kollektive Führung, die alle zu einem drastischen Schritt. „An einem Abend kündigten zwei Jahre demokratisch gewählt wird. Die Mitglieder, das mehr als 90 Prozent der im Werk Arbeitenden ihre Mitglied- heißt Beschäftigte und Betriebsräte, bestimmen Delegier- schaft in der Histadrut und traten gemeinsam Koach La- te, die in der sogenannten Repräsentantenversammlung Ovdim bei. Trotz der Versuche, die Rechtmäßigkeit dieses

77 Wechsels infrage zu stellen, musste der damalige Vorsit- anschlossen, die an den Wochenenden durch die Stadt zende der Histadrut, Ofer Eini, akzeptieren, dass fortan zogen und soziale Gerechtigkeit forderten. „Gewerkschaf- Koach La-Ovdim den Betriebsrat des Werks vertreten wür- ten, wenn sie sehr stark sind und breite Unterstützung de. Unmittelbar nach dem Wechsel begannen die Verhand- auf der politischen Ebene haben“, sagt Kamhi, „können lungen, was zu einem weiteren historischen Streik führ- nicht nur für höhere Löhne sorgen, sondern auch die so- te“, erzählt Kamhi. Wie sein Vorgänger währte der Streik zialstaatlichen Leistungen und Dienste verbessern, zum ein halbes Jahr, symbolischer Weise begann er am 1. Mai. Beispiel für ein gebührenfreies Bildungswesen, ein aus- Auch in diesem Fall führte der Streik am Ende zur Unter- gebautes öffentliches Nahverkehrssystem, eine gute öf- zeichnung einer Vereinbarung, die zu einem Präzedenzfall fentliche medizinische Versorgung und verlängerten Mut- für das System der Arbeitsbeziehungen in Israel wurde. terschaftsurlaub eintreten. All dies führt zu einem besseren Doch diesmal ging diese in eine komplett andere Richtung. Lebensstandard. Wenn es Sozialwohnungen gibt, deren Als Koach La-Oved seine Arbeit aufnahm, gab es vier Miete nur 20 und nicht länger 50 Prozent und mitunter Kategorien von Beschäftigten im Werk: Das Management, noch mehr des Einkommens ausmacht, und Bildung und Ingenieur*innen sowie das Personal in der Forschungs- und öffentlicher Verkehr kostenlos sind, haben die Menschen Entwicklungsabteilung hatten individuelle Arbeitsverträge. mehr Kaufkraft, was die Wirtschaft ankurbelt. Wenn man Etwa 250 in der Produktion Beschäftigte arbeiteten auf sich die Aufrufe der damals Protestierenden betrachtet, der Grundlage eines Tarifvertrages, den die Histadrut im dann sieht man, dass sie sich mit all diesen und weiteren Jahr 1996 unterschrieben hatte. Etwa 100 davon zählten Fragen befasst hatten. Trotzdem kam es zu keiner effekti- zur sogenannten ersten Generation, etwa 150 zur zweiten ven Zusammenarbeit zwischen dieser sozialen Bewegung Generation der Belegschaft. Außerdem gab es eine gro- und Histadrut, der größten Gewerkschaft in Israel, die da- ße Gruppe von rund 150 Leiharbeiter*innen, die Produk- mals immer noch über eine gewisse politische Macht ver- te verpackten sowie Wartungs-, Reinigungs- und andere fügte. Dadurch und durch die Entscheidung von Histradut, Arbeiten ausführten. sich nicht den Sozialprotesten anzuschließen oder mit ei- „Es ist wichtig hervorzuheben“, betont Kamhi, „dass die nem Generalstreik die Wirtschaft lahmzulegen, wurde eine relativ geringe Anzahl der in der Produktion Beschäftigten sich selten ergebende riesige Chance vertan.“ und ihre relativ hohe durchschnittliche Produktivität we- Als sich die erste Euphorie gelegt hatte, stellte sich he- sentlich zur riesigen Gewinnspanne des Werks beitragen.“ raus, dass doch keine Revolution stattgefunden hatte. Es Der Betriebsrat und Koach La-Ovdim hatten sich zum Ziel wurden zwar Regierungs- und öffentliche Ausschüsse gesetzt, die Beschäftigungsbedingungen der zweiten Ge- eingesetzt, um sich mit den hohen Lebenshaltungskos- neration an die der ersten Generation anzugleichen und ten in Israel und der Wettbewerbsförderung in der Wirt- die Anzahl der Leiharbeiter*innen zu verringern. Die erste schaft zu befassen. Man beschäftigte sich wieder stärker Generation stand ihren Kolleg*innen bei und unterstütz- mit nicht auf Privateigentum basierenden Wirtschaftsmo- te sie in ihrem Kampf. Nachdem die Arbeiter*innen das dellen und gründete neue Genossenschaften. Und obwohl Werk unter ihre Kontrolle gebracht hatten, verschanzten einige Vertreter*innen der Protestbewegung in die Knesset sie sich dort, um den Einsatz von Streikbrecher*innen zu gewählt wurden, blieb die neoliberale rechte Regierung an verhindern. der Macht. Die Protestbewegung hat kaum etwas erreicht. Das Management des Werks, das Jules Trump (der Ben- Zufälligerweise oder auch nicht gewann eine andere Ent- jamin Netanjahu nahesteht) gehört, ging mit Einschüch- wicklung in diesen Jahren an Schwung. Es gelang den terung und brutaler Gewalt gegen den Streik vor. Es übte Umweltorganisationen in Haifa endlich, mit ihrem Kampf Druck auf die erste Generation der Belegschaft aus, drohte in das öffentliche Bewusstsein vorzudringen und so eine mit Entlassungen, stellte die Glaubwürdigkeit von Koach breitere Öffentlichkeit zu mobilisieren – fast zwei Jahrzehn- La-Oved infrage, versuchte, die Arbeiterschaft zu spal- te nachdem sie ihren Kampf gegen die großen Gefahren, ten und sogar zum Wechsel in die Histadrut zu bewegen die von dem Ammoniaktank in der Bucht von Haifa aus- – aber die Streikenden blieben standhaft. Und diese So- gehen, begonnen hatten. lidarität führte zum Erfolg. Am 1. November 2011 wur- Im Sommer 2006 waren die Stadt Haifa und ihre Umge- de eine Vereinbarung unterzeichnet, die für die nächsten bung während des zweiten Libanonkriegs Angriffen von fünf Jahre eine Lohnerhöhung für alle Angehörigen der Langstreckenraketen ausgesetzt. Das gefährdete das Le- zweiten Generation der Belegschaft in Höhe von 25 Pro- ben von Hunderttausenden von Menschen und insbeson- zent sowie wesentliche Verbesserungen der Sozialleistun- dere die 12.000 Tonnen Ammoniak in der Tankanlage und gen und Arbeitsbedingungen garantierte und damit eine auf den Schiffen, die das inzwischen aus anderen Län- schrittweise Gleichstellung mit ihren Kolleg*innen aus der dern importierte Ammoniak dorthin transportierten. Im ersten Generation. Jahr 2011 erhielt die Zalul Environmental Association in Es sollte erwähnt werden, dass sich im Sommer jenes dem von ihr angeführten Kampf für die Schließung des Jahres, im Sommer 2011, noch etwas anderes Beeindru- von Haifa Chemicals betriebenen Ammoniaklagers auf- ckendes in Israel ereignete. Die größte soziale Protestbe- grund von Sicherheitsbedenken erneut Rückenwind. Im wegung in Israels Geschichte hatte sich Solidarität auf ihre Jahr 2012 sprach das Umweltschutzministerium die Emp- Fahnen geschrieben. Eine soziale Revolution zeichnete fehlung aus, im Negev ein neues Ammoniumwerk zu er- sich ab, als sich den Tausenden, die in der teuersten Allee richten. Die zuständige Regulierungsbehörde schlug vor, [Rothschild-Boulevard] der teuersten Stadt Israels, Tel Aviv, zur Produktion von Ammonium im eigenen Land zurückzu- ihre Protestzelte aufgeschlagen hatten, Hundertausende kehren. Im Februar 2017 schloss sich der Stadtrat von Haifa

78 mit Yona Yahav an der Spitze (dem Bürgermeister, der fünf die Fortsetzung der Produktion im Werk in der Bucht von Jahre zuvor noch erklärt hatte, die Luft in Haifa sei sauber) Haifa einzusetzen, natürlich unter entsprechenden Aufa- den Forderungen der Umweltorganisationen an und bean- gen und strengen Kontrollen. tragte eine Verfügung, um den weiteren Betrieb des Tanks Wie bereits angedeutet, ist es auch vorstellbar, dass die in der Bucht von Haifa zu unterbinden. Der Einspruch von vom Betriebsrat und Koach La-Ovdim ausgehandelten gu- Haifa Chemicals wurde zurückgewiesen. Das Management ten Beschäftigungsbedingungen in Haifa Chemicals-Nord des Werks warnte davor, dass die Schließung der Tankan- die Unternehmensleitung dazu bewogen haben, die Pro- lage zur Entlassung von 1.500 Beschäftigten führen wer- duktion in das Werk im Süden Israels zu verlegen, weil dort de. Dagegen protestierten die im Werk Angestellten. Ihnen die Belegschaft weniger Rechte hat. Wäre diese 2011 in gegenüber standen die Umweltaktivist*innen. Auf beiden den Arbeitskampf miteinbezogen worden, hätte es viel- Seiten der Barrikaden standen also Bewohner*innen der leicht einen Anreiz weniger für die Produktionsverlage- Region. rung gegeben. Wer weiß? Der Oberste Gerichtshof ordnete an, den Ammoniak- Eine weitere Überlegung aufseiten der Geschäftsfüh- tank bis zum 31. Juli 2017 zu leeren (was gegen Ende des rung von Haifa Chemicals könnte gewesen sein, mit der Sommers tatsächlich geschah). Verschiedene Lösungs- Schließung des Werks in der Bucht von Haifa der breiten vorschläge, wie zum Beispiel das importierte Ammoniak Empörung über die dortige katastrophale Umweltsitua- in kleinen Behältern (Isotanks) zu transportieren, wurden tion und die schweren Folgen für die öffentliche Gesund- vonseiten der Unternehmensleitung von Haifa Chemicals heit besser aus dem Weg gehen zu können. Nach dem abgelehnt. Sie verlagerte die Produktion stattdessen von Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Verliert also der ihrem Werk im Norden nach Haifa Chemicals-Süd. Das Kampf für eine gesunde Umwelt und Naturschutz immer Management beschloss, die in Haifa Chemicals-Nord Be- dann an Schwung, wenn sich umweltschädlich verhalten- schäftigten zu entlassen. Koach La-Ovdim blieb nichts an- de Konzerne in Gebieten ansiedeln, in denen eher unter- deres übrig, als hierfür die besten Konditionen auszuhan- privilegierte Bevölkerungsgruppen leben, die so sehr be- deln. Nach einer langwierigen Auseinandersetzung kam nachteiligt sind, dass ökologische Fragen, die langfristig es im Sommer 2019 endlich zu einem Vergleich. alle betreffen, keine große Rolle beim Risikomanagement von Industrieprojekten spielen? „In der Tat ist das eine Frage, die wir in unseren Kämpfen Überlegungen zur Unzulänglichkeit aufgreifen und mitberücksichtigen sollten“, sagte Kamhi. begrenzter Solidarität „Es ist unser Ziel, die Solidarität in den jeweiligen Commu- nities und Regionen zu fördern und zu stärken. Es ist an Die Geschichte von Haifa Chemicals-Nord zeigt vortreffich, der Zeit, Reorganisationsprozesse anzuregen, zum Beispiel wie Kapital und Regierung Hand in Hand arbeiten, um ge- auf Grundlage der Erkenntnis, dass Lehrer*innen wichtige meinsam ihre Interessen durchzusetzen, meist gegen die Partner*innen im Kampf für sozialen Wohnungsbau sind, Interessen der Allgemeinheit. Dagegen fällt es Lohnab- weil Kinder einen festen Wohnort und bestimmte Lebens- hängigen, den Bewohner*innen der südlichen und nörd- bedingungen benötigen, um lernen zu können. Genauso lichen Peripherie des Landes, Umweltaktivist*innen, El- sollten sich die bei Zara Beschäftigten auf der ganzen Welt tern und anderen gesellschaftlichen Gruppen wesentlich um die Löhne der im Fernen Osten in der Textilherstellung schwerer, erfolgreich für gemeinsame Interessen und Zie- tätigen Arbeiter*innen kümmern, weil ihr Lebensunter- le zu kämpfen. halt davon abhängt. Die verschiedenen Gemeinschaften Rückblickend stellt sich die Frage, ob und inwieweit bei dazu zu motivieren, sich für das Wohl aller einzusetzen, er- Haifa Chemicals Beschäftigte Teil der Bewegung gegen die scheint mir angesichts des Aufstiegs der politischen Rech- ökologischen Verbrechen in der Bucht von Haifa waren, die ten und der anhaltenden Hegemonie des wirtschaftlichen schreckliche Auswirkungen hatten und viele Menschen- Neoliberalismus in Israel und weltweit der beste Weg zu leben forderten. Es kann angenommen werden, dass die sein, sich zu organisieren.“ dort Arbeitenden die Situation und deren Konsequenzen kannten. Lehrer*innen wissen, wie schlecht der Unterricht Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin in Klassen mit über 40 Kindern ist. Sozialarbeiter*innen wissen, dass 300 Fälle pro Mitarbeiter keine angemes- Ziv Adaki ist freiberufiche Autorin; sene Betreuung erlauben. Und die bei Haifa Chemicals in der Vergangenheit arbeitete sie bei Arbeitenden wussten, welche Schadstoffe in dem Werk der israelischen Umweltorganisation Green Course. produziert wurden und wie mit diesen in der Praxis um- gegangen wurde. Damit kommt den dort Beschäftigten eine große Verantwortung zu, die einige von ihnen in ei- Anmerkung nem späteren Stadium des Kampfs auch bereit waren zu 1 Zweite Alija bezieht sich auf den Zeitraum tragen. Es lässt sich schwerlich den Beschäftigten vorwer- 1903 bis 1914, in dem etwa 35.000 jüdische fen, dass sie nicht bereits früher Informationen weiterge- Migrant*innen nach Palästina einwanderten; leitet haben, denn das hätte ihren Lebensunterhalt gefähr- die meisten von ihnen kamen aus Russland und Polen. det. Vorstellbar ist jedoch: Hätten sie von Anfang an die Umweltaktivist*innen und ihre Anliegen unterstützt, wä- ren die Letzteren eventuell auch bereit gewesen, sich für

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Die doppelte Instrumentalisierung ausländischer Pfeger*innen in Israel

Idit Lebovitch- Der Staat proftiert doppelt vom Einsatz mehrheit- Shaked lich weiblicher migrantischer Pfegekräfte. Sie werden einerseits wirtschaftlich ausgebeutet und andererseits benutzt, um die auf ethnischer Herkunft beruhende Defnition des Staates Israels zu stärken – zum Schaden der gesamten israelischen Zivilgesellschaft.

Protest gegen Abschiebung von Pfeger*in- nen und ihren Familien, Auf dem Banner steht: „Keine Abschiebung von israelischen Kindern“, Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills

81 Über den jüdischen und demokratischen Charakter des damit den Betroffenen Leid und Schaden zugefügt wird. Staates Israel ist viel geschrieben worden. Der Soziologe Es fordert lediglich ein, dabei das Kriterium der Verhältnis- Sammy Smooha defniert Israel als ethnische Demokratie. mäßigkeit zu berücksichtigen. Das heißt, dass das restrik- Sie ist durch einen ethnischen Nationalismus charakteri- tive und diskriminierende Vorgehen des Staates ein erfor- siert, was bedeutet: Eine ethnische Volksgruppe hat das derliches oder akzeptables Maß nicht überschreiten darf. ausschließliche Recht auf das Land und darauf, den Staat zu kontrollieren. Dazu gehört auch, dass in Israel Grup- pen, die nicht zu dieser Ethnie gehören, als Gefahrenpoten- Die Beschäftigung von zial betrachtet werden. Man fürchtet sich vor einem demo- Arbeitsmigrant*innen im Pfegebereich grafschen Wandel und vor Überfremdung, sieht die eth- nische Homogenität der Gesellschaft bedroht oder macht In Israel sind gegenwärtig etwa 60.000 Arbeitsmigrant*innen diese Gruppen verantwortlich für unfairen wirtschaftlichen aus verschiedenen Ländern, darunter 80 Prozent Frauen, Wettbewerb. Daher kontrolliert der israelische Staat die- in der häuslichen Pfege beschäftigt. Die Einstellung von se Gruppen in Form von individueller und institutioneller Arbeitsmigrantinnen als Pfegerinnen geht auf einen Man- Diskriminierung und verhindert damit Gleichberechtigung. gel an israelischen Arbeitskräften in diesem Bereich zu- Nach Smooha üben alle Demokratien eine irgendwie ge- rück und begann mit der gezielten staatlichen Anwerbung artete Kontrolle über Individuen oder Bewegungen aus, von ausländischen Frauen für die 24-Stunden-Pfege von die als Gefahr für das System wahrgenommen werden. Kriegsinvaliden. Um eine durchgehende Betreuung sicher- Doch nur eine ethnische Demokratie kontrolliert ganze zustellen, mussten täglich zwei bis drei Pfegerinnen im Bevölkerungsgruppen einzig und allein aufgrund der Tat- Schichtwechsel eingestellt werden. Die Möglichkeit, Ar- sache, dass sie nicht zur herrschenden ethnischen Volks- beitsmigrantinnen zu beschäftigen, entsprach dem Bedürf- gruppe gehören. Da Israel sich als jüdischer Staat defniert, nis dieser Invaliden, rund um die Uhr von einer in ihrem Pri- versucht er nach Möglichkeit, nur Juden und ihre nächs- vathaushalt lebenden Pfegekraft versorgt zu werden. Da ten Angehörigen aufzunehmen. Ihnen gewährt er unbe- die Pfege der Kriegsinvaliden vom Staat fnanziert wurde, schränktes Einwanderungsrecht und erkennt ihnen auto- führte die Beschäftigung einer Arbeitsmigrantin anstelle matisch die Staatsbürgerschaft zu. von drei israelischen Arbeitskräften zu einer wesentlichen Das israelische Migrationsregime beruht auf diesen eth- Verringerung der staatlichen Ausgaben. Im Laufe der Jah- nischen Prinzipien, und daher gilt die Zuwanderung von re wurde diese Praxis auch auf die Pfege von Behinderten Nichtjuden nicht nur als unerwünscht, sondern auch als ein und alten Menschen ausgedehnt. Für den Staat war das Widerspruch zum Sinn und Wesen des Staates Israel. Dem- eine ideale Lösung: Die Pfegebedürftigen werden rund entsprechend folgt die israelische Migrationspolitik – die um die Uhr betreut und der Staat hat bis auf die ohnehin Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen, das Einreiserecht zu zahlenden Renten keine weiteren Ausgaben, da die Be- und die aufenthalts- und arbeitsrechtliche Behandlung von troffenen bzw. deren Angehörigen den Lohn der Pfege- Arbeitskräften, die ins Land geholt werden, einschließlich rinnen aus eigener Tasche bezahlen. Während die Unter- Interventionen in deren Privatleben – dem Grundsatz, eine bringung in einem Pfegeheim monatlich durchschnittlich dauerhafte Niederlassung zu verhindern. Dieser Grund- um die 10.000 Schekel (ca. 2.500 Euro) kostet, braucht der satz und eine Fülle staatlicher Regulationen verunmögli- Staat nur eine Arbeitsgenehmigung für eine ausländische chen nicht nur die soziale Integration von Migrant*innen, Pfegekraft auszustellen, die von dem zu Pfegenden oder sondern sie schüren auch eine nationalistische Stimmung seiner Familie privat bezahlt und im eigenen Heim unter- in der Öffentlichkeit, die durch Ausgrenzung, Misstrauen, gebracht wird. Die Pfegerinnen müssen sich dazu ver- Ablehnung und Xenophobie geprägt ist. Die paradoxe Si- pfichten, im Haushalt des Arbeitgebers zu wohnen. Damit tuation, dass einerseits bestimmte gesellschaftliche Auf- soll zum einen die durchgehende Betreuung gewährleis- gaben nur noch durch die staatlich geförderte Beschäfti- tet werden, zum anderen sollen die Pfegerinnen erst gar gung von Arbeitsmigrant*innen abgedeckt werden können nicht in den Genuss von Freizeit kommen und damit in die und andererseits sich der Staat von eben jenen Arbeits- Versuchung, über ihre Pfegetätigkeit hinaus einer ande- kräften distanziert bzw. eine direkte Beziehung zwischen ren Beschäftigung außerhalb des Hauses nachzugehen. ihnen und dem Staat blockiert, verdeutlicht die Radikali- Außerdem wurde den Arbeitgebern das Recht zugestan- tät der Überzeugung, die ethnische Homogenität der Be- den, ihrer Angestellten einen Betrag für Unterkunft und völkerung wahren zu müssen, und führt zu einer Verding- Nebenausgaben vom Gehalt abzuziehen. lichung der ins Land gebrachten Menschen. Mit der wachsenden Nachfrage nach Pfegerinnen be- Das Oberste Gericht Israels hat in seinen Urteilen das gannen Vermittlungsagenturen wie Pilze aus dem Boden sozioökonomische und nationale Interesse Israels an der zu schießen. Sie warben Arbeitskräfte an und brachten sie Wahrung des jüdischen Charakters des Staates durch nach Israel. Es stellte sich heraus, dass aus armen, schwa- eine restriktive Einwanderungs- und Aufenthaltspolitik chen Staaten stammende Migrantinnen bereit waren, be- und durch die Einführung eines Kontrollsystems, das ein sonders hohe Summen für ein Arbeitsvisum zu zahlen. Um illegales Verbleiben oder eine unzulässige Niederlassung in Israel arbeiten zu können, müssen sie sowohl den isra- unterbinden soll, als legitim anerkannt. elischen Agenturen als auch den Agenturen in ihrem Her- Damit bewertet das Oberste Gericht die Verhinderung kunftsland Vermittlungsgebühren entrichten, die sich zur- der Niederlassung von Arbeitsmigrant*innen als ein nach- zeit auf etwa 8.000 Euro pro Person belaufen. Eigentlich vollziehbares staatliches Interesse und akzeptiert, dass ist die Einforderung dieser Gebühren nach israelischem

82 Gesetz verboten, was auch für die meisten Herkunftslän- gerichtlichen Reaktionen auf Klagen gegen die Migrati- der der Arbeitsmigrantinnen gilt. Obwohl in Israel die For- onspolitik und die Arbeitsbedingungen im Pfegebereich derung nach der Zahlung von Vermittlungsgebühren ein wird immer wieder die prekäre Stellung dieser Frauen be- strafrechtliches, mit Gefängnisstrafe belegtes Vergehen ist, stätigt. Gleichzeitig benutzt der Staat in seiner Außenkom- unternehmen die Behörden wenig, um dieses Phänomen munikation eine Terminologie, um einen Diskurs zu bestär- einzudämmen. Jahr für Jahr werden um die 5.000 neue ken, der die Arbeitsmigrant*innen als bloßes Instrument Pfegerinnen nach Israel geholt und alle zahlen an die isra- darstellt, das ausschließlich den Bedürfnissen des Staa- elischen Agenturen Vermittlungsgebühren. Die Agenturen tes oder des Arbeitgebers unterworfen ist. verbieten den Pfegekräften, über die von ihnen bezahlten Diese Unterwerfung und ihre gesellschaftliche Ausgren- Summen zu sprechen, und sorgen mit verschiedenen Mit- zung fnden, wie im Folgenden aufgezeigt wird, auf ver- teln wie Einschüchterung, der Kontaktaufnahme mit An- schiedenen Ebenen statt, wobei sie im Wesentlichen auf gehörigen im Herkunftsland und in Ausnahmefällen auch zweierlei Weise erreicht werden sollen: einmal durch die mit Gewalt dafür, dass sie ihr Schweigen wahren. den Frauen auferlegten Restriktionen und die Klarstellung, Eine ausländische Pfegerin muss 12 bis 24 Monate in dass Verstöße dagegen nicht geduldet werden, und zum Israel arbeiten, um die Kredite zurückzahlen zu können, anderen durch die Beeinfussung der israelischen Öffent- mit denen sie die Vermittlungsgebühr fnanziert hat. Wäh- lichkeit, von der verlangt wird, bei der Umsetzung der Vi- rend dieser ganzen Zeitspanne muss sie befürchten, ihren sion vom jüdischen Staat zu kooperieren. Arbeitsplatz und damit die Möglichkeit der Rückzahlung zu verlieren. Daher sind viele Frauen bereit, Ausbeutung, schlechte Arbeitsbedingungen und sogar Misshandlun- Einreiseregelungen für Pfegekräfte gen durch den Arbeitgeber hinzunehmen. Nur in seltenen und besonders drastischen Fällen sind diese Frauen be- Die Möglichkeiten der Migration nach Israel werden haupt- reit, ihren Arbeitsplatz aufzugeben, bevor sie ihre Schul- sächlich durch das Einreisegesetz geregelt. Hier sind Ein- den abgestottert haben. und Ausreisebestimmungen, die Bedingungen für die Für die Vermittlungsgebühr gilt die Faustregel: Je ärmer Ausstellung von Visen für Migrant*innen und deren Be- die Arbeitswilligen sind und je abgelegener ihr Heimatort schäftigungsrahmen festgelegt. Per Defnition hängt die ist, desto mehr zahlen sie für die Chance, in Israel arbei- Legalität der Beschäftigung von Migrant*innen vom Arbeit- ten zu können. Daher bevorzugen die Agenturen Kandi- geber und nicht von dem Antragsteller ab. Ein Arbeitsvi- datinnen, die kein Englisch können, keine Qualifkationen sum können nur diejenigen erhalten, bei denen die Zusa- oder Erfahrungen im Pfegebereich haben und aus beson- ge vorliegt, dass sie von einem israelischen Arbeitgeber, ders armen Ländern stammen. Da das wesentliche und der über eine entsprechende Genehmigung verfügt, ein- manchmal einzige Auswahlkriterium die Höhe der Vermitt- gestellt werden. Darüber hinaus ist in jedem Visum das lungsgebühr ist, rücken Qualifkationen und die Eignung für Berufsfeld festgeschrieben, in dem der/die nach Israel ge- die Betreuung von Pfegebedürftigen in den Hintergrund. brachte Migrant*in arbeiten darf. Nicht nur in Israel ist die häusliche Pfege eine stark Laut Gesetz beträgt die maximale Dauer der legalen Be- durch den Genderaspekt geprägte Branche. Das trifft im schäftigung von Arbeitsmigrant*innen in Israel fünf Jahre Prinzip auf alle Länder und die Gesamtheit der Pfegebe- und drei Monate. Die Regelung für häusliche Pfegekräfte rufe zu und resultiert oft in eminenter institutioneller und unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht. Wenn eine Pfege- beschäftigungsspezifscher Ausgrenzung und Entmach- kraft einen Pfegebedürftigen durchgehend betreut, kann tung der Beschäftigten im Vergleich zu Arbeitsbereichen, sie so lange in Israel bleiben, wie sie von dieser Person in denen Männer vorherrschen. In Israel stellen ausländi- gebraucht wird. Man kann das Arbeitsvisum einer Pfege- sche Pfegerinnen eine besonders benachteiligte Bevöl- kraft auf unbegrenzte Zeit jeweils um ein Jahr verlängern. kerungsgruppe dar: erstens, weil sie Arbeitsmigrantinnen Das heißt also, dass eine junge Pfegerin, die in Israel ei- und als solche den Restriktionen des israelischen Migrati- nen jungen Behinderten auf der Grundlage einer Beschäf- onsregimes unterworfen sind, zweitens, weil sie im Pfege- tigungsgenehmigung betreut, möglicherweise jahrzehn- bereich tätig sind, der an sich schon zahlreiche physische telang in Israel bleiben darf. Ob die Pfegekräfte nur zwei und seelische Belastungen mit sich bringt, und drittens, oder über 20 Jahre in Israel tätig sind, ändert aber nichts weil sie Frauen sind. an ihren Arbeitsbedingungen und den ihnen auferlegten Ich möchte in diesem Beitrag einige Mittel und Instru- Restriktionen. mente aufzeigen, mit denen die Behörden das Konzept des Wer über lange Zeit in Israel bleibt und damit riskiert, jüdischen Staates als ethnische Demokratie, in der Nicht- dass die sozialen und kulturellen Bindungen zum Her- juden keine Aussicht auf Einbürgerung oder auch nur auf kunftsland geschwächt werden oder sich sogar aufzulösen soziale Integration haben, umzusetzen suchen – wobei beginnen, hat dadurch keinerlei Vorteile gegenüber erst die Arbeitsmigrantinnen im Pfegebereich als Beispiel die- vor Kurzem eingereisten Arbeitsmigrantinnen. Im Gegen- nen. Bei der Umsetzung dieses Konzept, das in der von Is- teil. Die strukturelle Position einer langjährigen Pfegekraft, rael betriebenen „Verhinderung der Niederlassung“ zum deren Weiterbeschäftigung und damit ihr legaler Verbleib Ausdruck kommt, spielen sowohl deklatorische als auch in Israel ausschließlich von ihrem Arbeitgeber abhängen, prozedurale Maßnahmen eine Rolle. So sind Arbeitsmi- bietet kaum Verhandlungsoptionen. Dagegen kann eine grantinnen spezifschen Gesetzen, Verordnungen und Be- neu eingestellte Pfegekraft ihre Arbeitsbedingungen ver- stimmungen unterworfen. Auch in den staatlichen und bessern, da es ihr erlaubt ist, in den ersten Jahren in Israel

83 ihr Beschäftigungsverhältnis zu beenden und einen ande- zu verbessern, ihre Dienstleistungen von bestimmten Vo- ren Arbeitgeber zu fnden. Außerdem erwirbt eine langjäh- raussetzungen abhängig zu machen oder die Übernahme rige Pfegerin im Vergleich zu einer neu eingestellten Ar- von Aufgaben zu verweigern, die über die im Arbeitsver- beitskraft keine weiteren sozialen oder zivilen Rechte, auch trag festgelegten Pfichten hinausgehen. Auch wenn sie wenn sie jahrzehntelang legal in Israel arbeitet, die Kontak- weitere Jahre in die Betreuung eines Menschen mit be- te zu ihrer Heimat abgebrochen und umfassende und tie- sonderen und schwer zu befriedigenden Bedürfnissen (so fe Beziehungen zu ihrem Arbeitgeber und dessen Familie die Formulierung im Gesetz) investiert und eine zweifel- aufgebaut hat. Wenn ihr Beschäftigungsverhältnis aus ir- los schwierige und komplexe Pfegetätigkeit ausübt, die gendeinem Grund beendet wird, ist sie den gleichen Auf- ihr in jeder Hinsicht einen hohen Preis abverlangt, muss lagen unterworfen wie alle anderen Arbeitsmigrant*innen sie nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Land und muss das Land binnen 60 Tagen verlassen. binnen 60 Tagen verlassen. Seit 2011 ist es dank einer Gesetzesänderung für Pfe- Die Anwesenheit dieser Frauen in Israel wird also nur so- gekräfte, die sich seit über fünf Jahren in Israel aufhalten, lange von staatlicher Seite geduldet, wie sie für die Pfege zudem möglich, ihr Visum verlängern zu lassen, selbst der Alten und Behinderten in Israel zur Verfügung stehen. wenn sie nicht durchgehend im selben Haushalt tätig sind. Ihr Status ist für immer der von Zeitarbeiterinnen. Sobald Eine Sondergenehmigung kann dann erteilt werden, wenn ihre „garantierte Beschäftigungszeit“ ausläuft, haben die bei dem alten oder neuen Arbeitgeber bzw. dem Pfege- aufopferungsvolle Betreuung der Pfegebedürftigen und bedürftigen besondere humanitäre Gründe vorliegen. In die Lebensjahre, die sie in die israelische Gesellschaft und der Begründung der Gesetzesänderung ist jedoch erneut deren Bürger*innen investiert haben, keine Bedeutung ausdrücklich festgehalten, dass ausländischen Pfegekräf- mehr, und sie müssen, wenn sie sich der Ausreisever- te nur für eine zeitlich begrenzte Beschäftigung nach Is- pfichtung entziehen, als unerwünschte Endringlinge mit rael kommen und sich dort nicht niederlassen dürfen. Sie Inhaftierung und Abschiebung rechnen. betont ferner die Wichtigkeit der strikten Einhaltung der Zu dem besonderen Problem der Langzeitbeschäftigung Ausreisepficht für Arbeitsmigrant*innen nach Beendigung ausländischer Pfegekräfte hat sich die Richterin am Obers- ihres zeitlich begrenzten legalen Arbeitsverhältnisses. Des- ten Gericht, Edna Arbel, folgendermaßen geäußert: “Of- sen ungeachtet bietet die Gesetzesänderung in humani- fenbar erfüllen die in Israel langfristig tätigen Pfegekräf- tären Ausnahmefällen eine punktuelle, begrenzte Lösung te viele der Kriterien, die für eine Entscheidung über die für Pfegebedürftige, die über die maximale Dauer einer Gewährung des ständigen Aufenthaltsrechts maßgeblich legalen Aufenthaltsgenehmigung hinaus auf die Beschäf- sind […] Der lange Aufenthalt dieser Arbeitskräfte in Isra- tigung einer bestimmten Pfegerin angewiesen ist. Weil el erzeugt eine starke Beziehung zwischen ihnen und dem diese Härtefälle so selten sind, hat der Gesetzgeber eine Staat und führt gleichzeitig zu einer Loslösung von ihrem Höchstzahl von bis zu 200 Arbeitsgenehmigungen für sol- Herkunftsland […] Vom Sachverhalt her wäre es möglich, che Pfegerinnen genehmigt. der Mehrzahl dieser Arbeitskräfte das Recht auf einen stän- Seit Inkrafttreten der Gesetzesänderung wird der zustän- digen Aufenthalt in Israel zu gewähren.“ dige Ausschuss mit Zehntausenden Anträgen von Arbeit- gebern auf eine Sondergenehmigung überschüttet, mit der das Arbeits- und Aufenthaltsvisum von migrantischen Das Recht auf eine Familie und das Recht Pfegekräften verlängert werden kann. Unter den vier In- der Frau auf ihren Körper nenministern, die seit der Gesetzesnovelle im Amt waren, sind jeweils Tausende von Anträgen ohne eine geordne- In den meisten Staaten wird versucht, die Restriktionen te Überprüfung nach Maßgabe der behördlichen Bestim- des Migrationsregimes bezüglich der Arbeitsbedingun- mungen genehmigt worden. Damit wurde praktisch etwa gen von Migrant*innen, darunter die von in der häusli- 14.000 zunächst nur temporär zugelassenen Pfegerinnen chen Pfege Beschäftigten, zu rechtfertigen oder zu erklä- ermöglicht, auf unbestimmte Dauer legal in Israel zu ar- ren. Doch die in Israel herrschenden Restriktionen und die beiten (sofern sie dauerhaft in dem Haushalt bleiben, der Einmischung des Staates in das Privatleben von auslän- eine Sondergenehmigung für sie erwirkt hat). dischen Pfegerinnen und in das Recht dieser Frauen auf Die Gewissheit, dass dies ihre „allerletzte Chance“ ist, ihren Körper gehen weit über das hinaus, was wir aus an- weiterhin legal in Israel zu arbeiten, stellt eine zusätzliche deren westlichen Industriestaaten kennen. Schwächung der ohnehin unsicheren und weitgehend un- Seit vielen Jahren gilt in Israel die Bestimmung, dass kei- geschützten Position von ausländischen Pfegekräften dar. ne ausländischen Arbeitskräfte nach Israel kommen dürfen, Sobald ein Arbeitgeber einen Antrag auf die Sonderge- wenn sie Angehörige ersten Grades haben, die sich bereits nehmigung gestellt hat, selbst wenn dieser noch gar nicht legal oder illegal im Land aufhalten. Die Begründung hier- entschieden oder auch nur geprüft worden ist, kann sich für lautet, dass die Einreise von Angehörigen ersten Grades die Pfegerin um keine andere Anstellung mehr bemühen. zur Niederlassung in Israel motiviere. Diese Bestimmung Damit bleiben die Frauen an einzelne Arbeitgeber gebun- wurde mehrmals geändert und verbietet gegenwärtig die den, ihr Schicksal hängt im Großen und Ganzen von deren Einreise von Angehörigen wie Eltern, Kindern und Partnern. gesundheitlicher Entwicklung ab. Es gibt für sie darüber Die inoffzielle staatliche Politik lief seit jeher darauf hinaus, hinaus keine Aussicht auf eine weitere legale Beschäfti- die Etablierung partnerschaftlicher Beziehungen zwischen gung in Israel. Infolgedessen hat die Pfegerin nur noch Migranten*innen auch dann nicht zuzulassen, wenn sie höchst geringe Möglichkeiten, ihre Arbeitsbedingungen während des Aufenthalts in Israel zustande kamen, und

84 zwar selbst in den Fällen, in denen diese nicht zu einer dau- abschließen und darüber hinaus für alle vom Gesundheits- erhaften stabilen Paarbeziehung führten. In jedem Fall, in ministerium vorgeschriebenen Leistungen für Pfegekräfte dem den Behörden von einer irgendwie gearteten Paarbe- aufkommen müssen. Im Gegenzug kann ein Teil des Ver- ziehung zwischen Migrant*innen erfuhren, wurde einer der sicherungsbeitrags vom Gehalt der Pfegekraft abgezogen Partner aufgefordert, Israel unverzüglich zu verlassen, da werden, maximal die Hälfte der Summe, die der Arbeit- der gleichzeitige Aufenthalt von Familienmitgliedern einer geber für die Versicherung ausgibt oder zu deren Zah- Niederlassung in Israel Vorschub leiste. Diese Politik wurde lung er sich verpfichtet hat. Den Krankenversicherungsbei- 2013 erstmals in Verordnungen festgeschrieben. trag zahlen somit der Arbeitgeber und die Arbeitnehmerin Noch eine gröbere Einmischung in das Privatleben von aus eigener Tasche. Mit Beendigung des Beschäftigungs- Arbeitsmigrantinnen stellt das Verbot dar, während der verhältnisses verlieren die ausländischen Pfegekräfte so- Beschäftigung in Israel schwanger zu werden und Kinder fort jeglichen Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung, zu gebären. Dieses in den oben genannten Verordnun- und sämtliche Rechte, die sie im Rahmen des Versiche- gen verankerte Verbot war Gegenstand einer am Obers- rungsverhältnisses erworben haben, werden hinfällig. ten Gericht anhängigen Klage wegen unverhältnismäßiger Noch schwerwiegender ist der Umstand, dass die Versi- Verletzung des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf El- cherungspolice faktisch dem Arbeitgeber gehört, weil sie ternschaft. Die vor dem Obersten Gericht verhandelte Ver- durch ihn erworben wurde. Geht eine Frau ein neues Ar- ordnung sieht vor, dass die Arbeitserlaubnis nach der Ge- beitsverhältnis ein, muss der neue Arbeitgeber eine neue burt eines Kindes automatisch erlischt und dass sich die Krankenversicherung für sie abschließen. Im Fall von chro- Mütter zwischen zwei Optionen zu entscheiden haben: nischen Krankheiten oder akuten Erkrankungen bedeutet entweder Israel mit dem Neugeborenen bis zum Ende des dies, dass sie keinen Anspruch auf die Fortsetzung von frü- Mutterschutzurlaubs zu verlassen oder das Kind bis dahin heren Behandlungen hat, sofern diese nicht von der neu- selbst oder mit der Hilfe von Verwandten oder Freunden en Versicherungspolice abgedeckt sind. aus dem Land zu schaffen und ohne es zum Arbeitsplatz Das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorga- in Israel zurückzukehren. nisation zur Gleichbehandlung von Inländern und Auslän- Diese Verordnung hinderte die Arbeitsmigrantinnen, von dern, das von Israel mitunterzeichnet wurde, verpfichtet denen die meisten im Pfegebereich tätig sind, auf brutale die Mitgliedstaaten zu einer Gesundheitsversorgung von Weise daran, ihre Persönlichkeit und ihre Weiblichkeit aus- Migrant*innen, die in nichts hinter den Leistungen zurück- zuleben. Faktisch heißt das: Den Frauen wird nahegelegt, stehen darf, die Staatsbürger*innen im Rahmen einer staat- eine Schwangerschaft in Israel zu vermeiden. Darin kommt lichen Krankenversicherung zuteilwerden. Allerdings sind deutlich der Standpunkt des israelischen Staates zum Aus- Sonderregelungen für temporäre Arbeitsmigrant*innen zu- druck, dass ausländische Pfegekräfte, die schwanger wer- gelassen. Der Staat Israel hat nicht nur besonders einge- den oder ein Baby zu versorgen haben, eine Bürde für den schränkte Leistungen für Arbeitsmigrant*innen beschlos- Staat und die Arbeitgeber darstellen. In dem Moment, in sen – er ist auch nicht bereit, sie zu fnanzieren. Damit dem ihre Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, gelten sie als keine direkten Beziehungen zwischen den Migrant*innen unnütz und überfüssig. und dem Staat entstehen, werden in letzter Zeit auslän- Ein Ergebnis der Klage war, dass diese Verordnung ge- dische Arbeitskräfte an private Unternehmen verwiesen, ändert wurde. Seitdem wird die legale Arbeitsperiode für die Krankenversicherungen mit reduziertem Leistungsan- die Gesamtheit der Arbeitsmigrant*innen als Zeitraum an- gebot verkaufen. erkannt, in dem die Mutter mit ihrem Kind in Israel blei- Theoretisch hat jede in Israel beschäftigte Pfegekraft ben darf. Nach Ablauf dieses Zeitraums muss sie zusam- das Recht auf irgendeine Art von Krankenversicherung. Da men mit dem Kind oder muss zumindest das Kind das diese vom Arbeitgeber und dessen Finanzierung abhängt, Land verlassen. Diese Änderung hat allerdings nicht viel wird im Allgemeinen die günstigste Police bevorzugt. Au- dazu beigetragen, den Müttern in der Praxis eine bessere ßerdem obliegt es dem Arbeitgeber, die Beitragszahlun- Vereinbarkeit ihrer pfegerischen Tätigkeit mit einer aktiven gen jederzeit einzustellen und damit die Versicherung zu Mutterschaft zu ermöglichen. Das hat zum einen mit den annullieren oder die Pfegekraft bei einer Kasse zu versi- besonderen Belastungen im Pfegesektor zu tun, zum an- chern, die weniger Beiträge verlangt, wodurch sie unter deren mit den niedrigen Gehältern, die dort gezahlt wer- Umständen ihre bisherigen Anrechte verliert. Die Versiche- den, und den hohen Kosten, die mit dem Aufziehen eines rungsgesellschaften proftieren davon, dass alle, die aus- Kindes in Israel verbunden sind. Hinzu kommt, dass sich ländische Arbeitskräfte beschäftigen, gesetzlich dazu ver- viele Pfegerinnen unter anderem wegen unzureichender pfichtet sind, deren Krankenversicherung zu fnanzieren, oder falscher Informationen, die sie und ihre Arbeitgeber und davon, dass die versicherten Pfegerinnen im Allge- von den Vermittlungsagenturen erhalten, dieser Option gar meinen relativ jung sind und in gutem Gesundheitszustand nicht bewusst sind. nach Israel kommen. Daraus folgt, dass die Versicherungen meistens nur für Besuche beim Haus- oder Frauenarzt und nur selten für teurere Behandlungen aufkommen müssen. Das Recht auf Gesundheitsversorgung Besonders gravierend ist, dass nach der Fremdarbeiter- verordnung Versicherungen gekündigt werden können, Das Fremdarbeitergesetz sieht vor, dass diejenigen Isra- wenn die Versicherten länger als drei Monate nicht ar- elis, die eine ausländische Pfegekraft beschäftigen wol- beitsfähig sind. Das heißt, wenn migrantische Pfegekräf- len, für diese auf eigene Kosten eine Krankenversicherung te länger krank werden, haben sie keinen Anspruch auf

85 eine Gesundheitsversorgung mehr, es sei denn, es han- Fazit delt sich um absolute Notfälle. In diesen ist eine Stabili- sierung des Gesundheitszustands vorgesehen, der dann Die angeführten Beispiele zeigen, wie der Staat die dauer- eine Weiterbehandlung außerhalb von Israel zulässt. So- hafte Niederlassung von Ausländer*innen in Israel zu ver- bald ausländische Pfegekräfte nicht mehr erwerbstätig hindern sucht. Die strengen Restriktionen und die grobe sein können, sind sie gezwungen, ärztliche Behandlungen Einmischung des Staates in das Privatleben von migranti- abzubrechen, die sie dringend zu ihrer Genesung benöti- schen Arbeitskräften scheinen der Devise zu folgen, dass gen und die ihnen möglicherweise in ihrem Herkunftsland jedes Mittel recht ist, wenn es um den Schutz des jüdi- nicht zur Verfügung stehen. Die Versicherungen sind ledig- schen Charakters des Staates Israel geht. lich dazu verpfichtet, ihren Rückfug zu bezahlen. Wegen Häusliche Pfegekräfte unterliegen besonderen Arbeits- dieser widersinnigen Regelungen erhalten viele Pfegerin- bedingungen, die sich von denen in anderen Sektoren des nen keine medizinische Versorgung, wenn sie am meis- israelischen Arbeitsmarktes unterscheiden. Sie betreuen tens darauf angewiesen sind: dann, wenn eine Krankheit ihre Arbeitgeber im Rahmen einer intensiven und intimen ausbricht oder entdeckt wird, in Phasen, in denen sie ih- Pfege im eigenen Heim und werden ohne ihr Zutun und ren früheren Arbeitsplatz verlassen und noch keinen neu- manchmal gegen ihren Willen zu einem Teil der Familie. en gefunden haben, oder in Situationen, in denen sie we- Ohne diese Frauen wäre die israelische Gesellschaft nicht gen Erkrankungen entlassen werden. funktions- und überlebensfähig, doch anstatt sie zu inte- Die Organisation Kav LaOved hat sich deswegen an grieren und ihnen Dank zu zollen, verfolgt der Staat eine das Oberste Gericht gewandt mit der Absicht, das Ge- entgegengesetzte Politik, die sie im öffentlichen Bewusst- sundheitsministerium sowie das Sozialministerium dazu sein als die ewig Fremden erscheinen lässt. Der neolibera- zu verpfichten, ausländischen Arbeiter*innen die Rech- le israelische Kapitalismus hat zu einer umfassenden An- te zu gewähren, die ihnen aufgrund der staatlichen Kran- werbung von ausländischen Arbeitskräften geführt, wobei kenversicherung und der Nationalversicherung zustehen. man davon ausging, dass diese die von Israelis verschmäh- In einem diesbezüglichen Urteil entschied das Obers- ten Arbeitsplätze bereitwillig und sogar dankbar einneh- te Gericht, dass ausländische Pfegerinnen, die über zehn men würden. Die Verdinglichung, Entmenschlichung und Jahre in Israel beschäftigt sind und entsprechend langfristi- rigorose gesellschaftliche Ausgrenzung von migrantischen ge Arbeitsgenehmigungen erhalten haben, auch die ihnen Pfegekräften und ausländischen Arbeiter*innen im Allge- zustehenden Grundrechte in Anspruch nehmen können. meinen erlauben dem Staat, weiterhin eine „Migrations- Es gehe nicht an, dass der Staat von den Dienstleistun- politik“ zu betreiben, die jede Möglichkeit einer dauerhaf- gen dieser Pfegekräfte proftiert, ohne seiner Fürsorge- ten Zuwanderung für Nichtjuden ausschließt. pficht nachzukommen. Die Richter werfen dem Staat in Zu dieser Einstellung zum Pfegepersonal äußerte sich der Urteilbegründung vor, die Grundbedürfnisse dieser die Richterin Edna Arbel in ihrem Sozialrechtsurteil: „Die Menschen zu ignorieren und sie ausschließlich für seine Bedürfnisse von Pfegebedürftigen können nicht durch Ro- utilitaristischen Zwecke zu benutzen. boter oder Maschinen, sondern nur von Menschen befrie- Darüber hinaus heißt es in dem Urteil, dass die Verlän- digt werden – Menschen, die ihre Heimat und ihre Familie gerung der Aufenthaltsgenehmigung nicht das Wohl der verlassen haben und in ein fernes, fremdes Land gekom- Pfegekräfte, sondern das Wohl der israelischen Pfege- men sind, um auf menschenwürdige Weise ihren Lebens- bedürftigen im Auge habe. Daher forderte das Gericht, unterhalt zu verdienen […] Diese Menschen sind kein Ding die für migrantische Pfegekräfte geltenden Regelun- und keine Maschine und dürfen nicht ausschließlich als gen so weit wie möglich den Regelungen für israelische Werkzeug zur Verbesserung der Lebensumstände des Pfe- Staatsbürger*innen anzugleichen. Als Reaktion auf das gebedürftigen benutzt werden.“ Urteil änderte der Staat das Gesetz dahingehend, dass Gleichwohl wird jede öffentliche Auseinandersetzung von nun an einer über zehn Jahre in Israel beschäftigten um die Rechte von Arbeitsmigrant*innen sofort als ein Pfegekraft, die arbeitsunfähig wird, eine einmalige nie- Widerspruch zum jüdisch-israelischen Ethos aufgefasst, drige Summe auszuzahlen ist, sobald sie Israel verlässt. der das Wohl der israelischen Gesellschaft gefährde. In Das bedeutet, dass eine Frau, die ihre besten Jahre der ähnlicher Weise stellt sich jeder Versuch der Pfegekräfte, Pfege ihres Arbeitgebers gewidmet hat und wegen ih- ihre Rechte zu verteidigen oder ihre Arbeitsbedingungen res Gesundheitszustandes nicht weiterarbeiten kann, ihre zu verbessern, aus der Sicht des Staates und der israeli- ärztliche Behandlung abbrechen und Israel für immer ver- schen Öffentlichkeit als gezielte Schädigung der pfege- lassen muss. Der Unterschied zu vorher ist, dass sie nun bedürftigen Arbeitgeber dar. In den letzten zehn Jahren bei der Ausreise eine geringe Abfndung erhält. Diese hat das staatliche Vorgehen, unterstützt von einigen Urtei- beleidigende Interpretation des höchstrichterlichen Ur- len des Obersten Gerichts, dafür gesorgt, dass sich zwei teils vonseiten des Staates demonstriert wiederum des- der sozial schwächsten Bevölkerungsgruppen, die Pfe- sen menschenverachtende Haltung gegenüber auslän- gebedürftigen und die Pfegekräfte, feindlich gegenüber- dischen Pfegekräften. stehen. Daher wirkt jede von diesen Gruppen erhobene Forderung an den Staat wie Zündstoff in dem Kampf, der zwischen ihnen und dem Staat im Gange ist. Die Art und Weise, wie der Staat die scheinbare Rivalität zwischen diesen beiden Gruppen schürt, zeigt sich besonders au- genfällig in einem Urteil des Obersten Gerichts über die

86 Zahlung von Überstunden an Pfegekräfte. Darin heißt es, dass höhere Löhne nicht nur denjenigen Pfegebedürfti- gen schadeten, die sich diese nicht leisten können, son- KINDER VON MIGRANT*INNEN dern auch den Pfegerinnen. Höhere Löhne würden die IN ABSCHIEBEGEFAHR Nachfrage nach neuen Arbeitskräften senken, was in der Konsequenz bedeuten würde, dass arbeitswillige Pfege- 2019 kam es vermehrt zu Verhaftungen von vor al- kräfte in ihrem Heimatland bleiben und dort weiterhin in lem philippinischen Frauen, deren Kinder allesamt Armut leben müssten. in Israel geboren und aufgewachsen sind. Die Müt- Es sind solche Urteile und die israelische Migrations- ter mussten ein Dokument unterschreiben und sich politik insgesamt, die dafür sorgen, dass der israelische verpfichten, das Land bis zum Ende des Schuljah- Staat ausländische Pfegekräfte, zumeist Frauen, für sei- res zu verlassen. Jene, die nicht unterschreiben ne verschiedenen Zwecke ausnutzen kann. Dazu gehören wollten, sollten gemeinsam mit ihren Kindern bis die Erhaltung und Stärkung der nationalen, auf ethnischer zum Tag der Abschiebung in Abschiebegefäng- Herkunft beruhenden Defnition des Staates, was der is- nissen untergebracht werden. Schätzungen zufol- raelischen Zivilgesellschaft einen hohen Preis abverlangt. ge laufen etwa 1.500 Arbeitsmigrantinnen Gefahr, abgeschoben zu werden. Sie leben in Israel ohne Übersetzt von Esther von Schwarze gültige Visa und halten oft geheim, dass sie Kin- der haben. Idit Lebovitch-Shaked leitete in den Als Reaktion auf die Festnahmen organisierten letzten zehn Jahren die Abteilung für sich die Mütter und gründeten die Organisation Uni- migrantische Pfeger*innen in Kav LaOved ted Children of Israel, um für Unterstützung in der (“Worker's Hotline”). Sie hat einen BA und MA in Politikwissenschaften, mit einem israelischen Gesellschaft zu werben. „Wir Arbeits- Schwerpunkt auf internationale Beziehungen. migrantinnen von den Philippinen und aus anderen Sie ist derzeit Jurastudentin an der Uni- Ländern kamen vor vielen Jahren legal nach Isra- versität Tel Aviv und dort wissenschaftliche el und haben seitdem mit viel Hingabe mit älteren Mitarbeiterin in der Abteilung für Arbeitsrechte. und pfegebedürftigen Menschen gearbeitet. Un- sere Kinder sind in Israel geboren und aufgewach- sen und Israel ist alles, was sie kennen.“ In der Vergangenheit mussten Arbeitsmigrantin- nen mit Visum das Land nach der Geburt eines Kin- des verlassen. Der Oberste Gerichtshof annullierte Teile der Bestimmungen im Jahr 2011 nach Protes- ten von Menschenrechtsorganisationen. Eine Gast- arbeiterin hat heute „das Recht“, ihr Kind in Israel zu bekommen, muss danach aber das Land verlas- sen oder das Kind binnen drei Monaten zur Fami- lie im Herkunftsland bringen, sofern keine Einwil- ligung des Arbeitgebers vorliegt, die es ihr erlaubt, mit dem Baby in Israel zu bleiben und ihre Arbeit bis zum regulären Ablauf ihres Visums (beispiels- weise bis zu fünf Jahren) fortzusetzen. Vor einem Jahrzehnt traf die israelische Regie- rung unter öffentlichem Druck zwei humanitäre Ent- scheidungen, bei denen der Status der Kinder von Arbeitsmigrantinnen legalisiert wurde, wenn fol- gende Kriterien erfüllt waren: Sie haben für min- destens sechs aufeinanderfolgende Jahre in Israel gelebt und sind vor dem 14. Lebensjahr ins Land gekommen; ihre Eltern haben Israel auf legalem Weg betreten (mit einer Arbeitserlaubnis oder ei- nem touristischem Visum); sie durchlaufen das is- raelische Bildungssystem und sprechen Hebräisch. Das letzte Mal, dass diese Regelung angewandt wurde, war im Jahr 2010. Nun will die migrantische Community diese Errungenschaft verteidigen, da jene Kinder, die heute der Gefahr der Abschiebung ausgesetzt sind, damals zu jung waren, um einen legalen Aufenthaltsstatus zu erhalten.

87 Geraldine Este wird von Polizist*innen abge- holt und soll mit ihren Kindern abgeschoben werden. Sie lebt seit 19 Jahren in Israel. Aktivist*innen erreichten später, dass sie das Abschiebegefängnis bis zu einer Gerichts- entscheidung auf Kaution verlassen konnten, (Stand Mai 2020), Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills

Protest gegen Abschiebung von Pfeger*innen und ihren Familien, Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills

88 V PERSPEKTIVEN

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Süd-Tel Aviv – Hinterhof einer Hightechstadt

Tsafrir Cohen & Ein Mikrokosmos der Kämpfe, die für Israel Einat Podjarny richtungsweisend sind. Ein Essay über die Teilung einer Stadt und Spaltung einer Gesellschaft, über einen Ankunftsort für Gefüchtete und Migranten, Abschottungspolitik, systematische Diskriminierung und das progressive Potenzial des Hinterhofs Tel Avivs.

Blick auf die Zufahrt des zentralen Busbahnhofs in Neve Sha'anan, Süd-Tel Aviv, 2010. Foto: Roi Boshi, Wikipedia

91 Es ist eng in der Gartenbibliothek. Zwei Etagen unter der Die „Infltratoren” Erde sitzen wir in einem stickigen, niedrigen Raum zusam- men mit Tugud Omer Adam. Bücher sind kaum zu sehen Seit 2013 ist der Süden Tel Avivs kein Ankunftsort mehr für und die nackten Betonwände erinnern daran, dass dieser Gefüchtete. Damals erfüllte Israels Premierminister Ben- Zweckbau nach wie vor als Luftschutzbunker fungiert. „Es jamin Netanjahu sein Versprechen und baute eine 245 Ki- war nicht unser Entschluss, nach Süd-Tel Aviv zu kommen. lometer lange Mauer entlang der israelisch-ägyptischen Niemand verteilt in der Wüste Sinai in Ägypten Landkar- Grenze. Das Land gilt seitdem als Vorreiter bei der Abschot- ten, auf denen die Levinsky Straße eingezeichnet ist. Als tung vor Gefüchteten und Migrant*innen. So hob US-Prä- wir Gefüchtete die ägyptisch-israelische Grenze passier- sident Trump diese Mauer als ein Vorbild für seine geplante ten, übergaben uns die Grenzsoldaten ein Ticket für die Mauer zwischen den USA und Mexiko hervor. Und tat- Busfahrt zum zentralen Tel Aviver Busbahnhof. Wir kamen sächlich hat sich Israel mit dem Bau dieser Mauer herme- dort an und wurden uns selbst überlassen. Wir kannten tisch von der Außenwelt abgeriegelt, sodass heute so gut uns überhaupt nicht aus, kannten auch niemanden. Also wie keine Gefüchteten mehr das Land erreichen können. sind wir eben dort, wo uns der Bus abgeladen hatte, ein- Doch damit nicht genug. Auch die sich schon im Land fach geblieben. Diejenigen, die später nach und nach ein- befndenden Gefüchteten sollen Israel verlassen. 2006 trafen, hatten schon einen guten Grund, in der Gegend zu bis 2013 kamen in Israel etwa 65.000 Menschen über die bleiben – die Unterstützung durch die Erstankömmlinge, Landgrenze mit Ägypten. Etwa zwei Drittel stammen aus die in der Umgebung schon heimisch geworden waren.“ Eritrea. Sie fohen vor einem diktatorischen Regime, vor In seiner Heimat Sudan war Tugud Omer Adam an der der Einberufung zum teilweise jahrzehntelangen Militär- Universität politisch aktiv und wurde deshalb von den dorti- dienst sowie vor Zwangsarbeit und Sklaverei – darunter die gen Behörden verfolgt. Wie viele seiner Landsleute entkam sexuelle Versklavung von Frauen. Ein Viertel sind Überle- er einer Festnahme durch die Flucht ins nördliche Nach- bende des Völkermordes und des Krieges im Sudan. Über barland Ägypten. Als es auch dort für ihn brenzlig wurde, 5.000 von ihnen wurden auf ihrer Flucht gefoltert. Die is- foh er weiter und wurde von einem grenzübergreifend raelischen Behörden aber erkennen nur etwa ein Prozent organisierten Menschenhändlernetz, das sich zwischen von ihnen als schutzberechtigt an, obwohl im Rest der Welt Eritrea am Horn von Afrika und der ägyptischen Mittel- die Anerkennungsquote für eritreische Gefüchtete bei 84 meerküste erstreckt, in die berüchtigten Folterlager auf der Prozent, für sudanesische bei 64 Prozent liegt. Sinai-Halbinsel entführt. Sie erpressten seine Familie, und Um ihre Politik zu rechtfertigen, bezeichnen die Behör- nachdem diese das Lösegeld gezahlt hatte, schmuggel- den die Gefüchteten offziell als Infltratoren. Damit rekur- ten ihn die Entführer bis zur ägyptisch-israelischen Gren- riert die Regierung auf ein Gesetz zur Verhinderung der In- ze. Die letzten Meter musste er um sein Leben rennen. Da fltration aus den 1950er Jahren. Mit diesem sollte gegen war Glück im Spiel, betont er. Andere wurden dabei von jene Palästinenser*innen vorgegangen werden, die nach ägyptischen Grenzsoldaten erschossen. ihrer Flucht oder Vertreibung in die Nachbarländer wäh- Mehrere Tage die Woche, vor allem an den vielen war- rend des Krieges von 1948 und der Gründung Israels ver- men, sonnigen Tagen, holen Tugud und andere Freiwilli- sucht hatten, wieder ins Land zu gelangen, um sich ihr dort ge aus der Gefüchteten-Community zusammen mit isra- zurückgelassenes Eigentum wieder anzueignen oder um elischen Aktivist*innen die Kinderbücher aus den Kartons in ihre verlassenen Häuser zurückzukehren. Und es diente in der Bunkerbibliothek. Sie sind in einem Dutzend Spra- dazu, gegen das Phänomen der Fedajin vorzugehen: von chen verfasst und stehen den Kindern des Viertels zur frei- Ägypten bewaffnete Terroristen, die nach Israel eindran- en Verfügung. Für einige Stunden beherrschen Dutzen- gen, um Anschläge gegen den jungen Staat durchzufüh- de lesebegierige Kinder den Levinsky-Park. Auch zu jeder ren. Die heutige Verwendung dieses Begriffs brandmarkt anderen Uhrzeit ist hier viel los. In dieser kleinen Parkan- die Gefüchteten als gewalttätig und gefährlich, sodass sie lage im Süden Tel Avivs treffen sich zu jeder Tages- und nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, die Hil- Nachtzeit erwachsene und halbwüchsige Gefüchtete und fe und Schutz benötigen. Gleichzeitig werden lediglich Ge- andere nicht-jüdische Migrant*innen. Um ihre Oase her- füchtete, die über die Landgrenze kommen, sprich Men- um tobt der Verkehr und sie tänzeln um die dort liegen- schen schwarzer Haut aus der Subsahara, als Infltratoren den und sitzenden Drogenabhängigen, während sie laut- bezeichnet, was sie von der anderen Gruppe von illegal hals in ihre Handys sprechen. Die drei- bis fünfstöckigen Einreisenden unterscheidet, die über den Luftweg nach Is- Mietshäuser der Umgebung sind vom Verkehr verrußt, ihre rael gelangen, vornehmlich aus Osteuropa stammen und Balkone notdürftig zugemauert. Überall sieht man Satelli- weiß sind. Und dies, ohne die Benachteiligung aufgrund tenschüsseln, freiliegende Verkabelung und notdürftig an- von Hautfarbe und Herkunft gesetzlich und damit für je- gebrachte Klimaanlagen. Man könnte den Eindruck haben, dermann sichtbar festschreiben zu müssen. nicht mehr länger in der Hightech-Stadt Tel Aviv zu sein, Da der Staat Gefüchteten aus Afrika in der Regel den um deren Start-ups uns die ganze Welt beneidet. An die- Zugang zu einem regulären Asylverfahren verwehrt, sie se Welt erinnern lediglich die modernen Hochhäuser, de- aber aufgrund der auch von Israel unterzeichneten Gen- ren gläserne Spitzen von hier gerade noch sichtbar sind. fer Flüchtlingskonvention, die die Deportation in Kriegs- gebiete oder Gefahrenzonen verbietet, nicht einfach in ihre Heimat abschieben kann, leben sie mit dem Status einer Duldung. Ihre Duldung müssen sie alle zwei Mona- te von der Behörde für Bevölkerung, Einwanderung und

92 Grenzübergänge des Innenministeriums verlängern lassen. anderem konnte sie damit die öffentliche Aufmerksam- Diese unterhält nur ein einziges Büro für alle Asylsuchen- keit von Themen ablenken, die der Regierung in Israel un- den in Israel. In dem Büro sind lange Warteschlangen an angenehm waren. der Tagesordnung, es gibt keinen Warteraum, die Fragen, Tel Aviv ist als „weiße Stadt“ bekannt. In seinem bahnbre- die die Menschen bei der Verlängerung ihrer Aufenthalts- chenden Buch „Weiße Stadt – schwarze Stadt“1 schreibt genehmigung über sich ergehen lassen müssen, sind be- der israelische Architekt und Theoretiker Sharon Rotbard, leidigend und Ausdruck einer verächtlichen Einstellung dass dies nur die Hälfte der Geschichte ist. Vor der Grün- ihnen gegenüber. dung des Staats Israel 1948 gehörte der Süden Tel Avivs Die Gefüchteten verfügen über keine Arbeitserlaubnis. eigentlich zu Jaffa, der großen und quirligen alten Metro- Gleichzeitig haben sie keinen Anspruch auf medizinische pole. Das noch junge Tel Aviv – eben die „weiße Stadt“ – Versorgung, auf andere Sozialleistungen, eine Behausung entstand als europäischer Gegenentwurf zum arabisch-le- oder rechtlichen Beistand (eine Ausnahme bildet die Ein- vantinischen Jaffa. schulung der Kinder von Gefüchteten). Da sie sonst gar Den Süden der Stadt nennt Rotbard die „schwarze keine Einnahmequellen hätten, arbeiten sie dennoch, oft- Stadt“. Tatsächlich wurde diese Gegend seit jeher stief- mals in den Hinterzimmern und Küchen der Tel Aviver Gas- mütterlich behandelt. Während in der „weißen Stadt“ und tronomiebetriebe, auf den vielen Baustellen der Stadt oder weiter nördlich in den wohlhabenden Vororten vor allem als billige, über Zeitarbeitsfrmen eingestellte Putzkräfte. Ärzt*innen, Beamte und Anwält*innen, gut ausgebildete Der Staat drückt ein Auge zu und setzt die gesetzlichen Vor- jüdische Migrant*innen aus Deutschland oder Polen mit schriften gegenüber ihren Arbeitgeber*innen nicht durch, besten Beziehungen zum Staatsapparat heimisch wurden, behält aber von ihren Gehältern, die in der Regel dem ge- ließen sich im Süden eher Kleingewerbetreibende, viele setzlichen Mindestlohn entsprechen oder darunter liegen, Holocaust-Überlebende, Menschen aus der Levante bzw. 20 Prozent ein. Die Gefüchteten sollen dieses Geld erst aus arabischen Ländern nieder – etwa in Neve Scha´anan, bei Wiederausreise aus dem Land erhalten. dort, wo sich heute das Zentrum der Gefüchteten-Com- Zudem müssen die Gefüchteten jederzeit mit einer In- munity befndet. haftierung rechnen. 2013 baute der Staat speziell für sie Der Bezirk wurde in den 1920er Jahren von jüdischen das Internierungslager Cholot in der unbewohnten Wüste Migrant*innen als Gartenstadt in Form einer Menora ge- ganz im Süden des Landes. Zu Spitzenzeiten lebten etwa baut und war stets ein Ort, an dem sich jüdische Menschen 3.600 Menschen gleichzeitig im Lager. Die Bedingungen unterschiedlicher Herkunft begegneten – im Gegensatz waren die eines „offenen Gefängnisses“ mit einem nächt- zum sehr europäisch geprägten Zentrum und Norden der lichen Ein- und Ausgangsverbot. Die Internierung erfolgte Stadt. Von Anfang an unterschied sich der Süden Tel Avivs auf Geheiß des Innenministeriums und konnte ohne einen von den nördlichen Bezirken. Hier herrschte ein sehr leb- Gerichtbeschluss vollzogen werden. Anfangs galt die In- haftes Straßenleben, hier wohnte man eher levantinisch, ternierung in Cholot auf unbestimmte Zeit, später haben kleinbürgerlich, proletarisch. So waren ganze Straßen einer die Gerichte die maximale Inhaftierungsdauer zunächst auf bestimmten Warengruppe gewidmet. Die Levinsky Stra- 20 Monate, später auf 12 Monate begrenzt. Diese Politik ße war – und ist noch heute – die Gewürzstraße, mit einer der willkürlichen Internierung und Schikane, zusammen Vielzahl kleiner Gewürzgeschäfte. In einer nahegelegenen mit einem lancierten, aber auch alltäglichem Rassismus, Straße fand man ein Möbelgeschäft neben dem anderen, hat dazu geführt, dass bereits mehr als 20.000 Gefüchte- in einer weiteren reihten sich die Lampengeschäfte anei- te Israel bis 2018 wieder verlassen haben. nander. Doch schon in den 1960er Jahren führte die staat- Ende 2017 – befügelt von dem weltweiten Aufstieg po- liche und städtische Vernachlässigung Süd-Tel Avivs dazu, pulistischer Regierungen, die Menschenrechte verachten dass diejenigen, die es sich leisten konnten, den Süden und Gefüchtete zu Volksfeinden erklärten – verschärfte gen Norden verließen oder in die Vorstädte zogen. Klein- auch die israelische Regierung ihre Politik. Sie schloss zwar gewerbe, Autowerkstätten und Tischlereien prägten fort- das Internierungslager Cholot, aber nur um zu erklären, die- an den Süden. ses sei jetzt überfüssig, da alle im Land verbliebenen afri- Zum großen Niedergang kam es jedoch mit der Schlie- kanischen Gefüchteten, insgesamt etwa 38.000, sprich: ßung des alten und mit der Eröffnung des neuen Bus- weniger als ein halbes Prozent der israelischen Bevölke- bahnhofs 1993. Busse sind in Ermangelung einer funkti- rung, innerhalb weniger Monate in Drittstaaten (Ruanda onierenden Bahninfrastruktur bei Weitem das wichtigste und Uganda) abgeschoben würden, wenn nötig, mit po- öffentliche Verkehrsmittel in den israelischen Städten eben- lizeilicher Gewalt. so wie für die Verbindung zwischen den Städten. Das Ge- lände des alten Busbahnhofs wurde damals einfach still- gelegt und liegt bis heute brach. In der Folge schlossen Süd-Tel Aviv gegen die Gefüchteten? so gut wie alle Geschäfte im Umfeld, da sie keine Lauf- kundschaft mehr hatten. Die gespenstisch leeren Straßen Die Regierung begründete dieses Vorgehen hauptsäch- und der enorme Leerstand lockten zwielichtige Geschäf- lich mit der schwierigen Situation der Bevölkerung vor al- te an. Innerhalb weniger Jahre wurde die Gegend um den lem im Süden von Tel Aviv, in dem ein Großteil der Asylsu- alten Busbahnhof zum einzigen Ort in Israel, wo Prostitu- chenden aus Eritrea und dem Sudan wohnt. Diese Politik tion und Drogenhandel völlig offen, sprich auf der Stra- und die Dämonisierung der Gefüchteten dienten jedoch ße, in heruntergekommenen Verschlägen oder Ladenge- hauptsächlich anderen Interessen der Regierung. Unter schäften gedeihen konnten.

93 Der neue Busbahnhof, ein brutaler, wuchtiger Betonbau, aufgebaut, europäische Eliten prägten das Land und sind nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom alten Busbahn- noch heute in allen wichtigen Machtzentren überrepräsen- hof entfernt, ist eine echte Missgeburt moderner Architek- tiert. Doch seit vielen Jahrzehnten stammt die Mehrheit der tur und mit 230.000 Quadratmetern, 1.500 Geschäften auf israelischen Bevölkerung nicht mehr aus Europa. Neben der sieben Etagen monströsen Umfangs. Dutzende Rolltrep- palästinensischen Minderheit im Land, 20 Prozent aller isra- pen laufen kreuz und quer durch das Gebäude, sind aber elischen Staatsbürger*innen, die schon vor der Staatsgrün- in der Regel außer Betrieb. Die verwinkelten Ecken ver- dung hier lebten, wanderten Hunderttausende Jüdinnen kamen innerhalb weniger Monate zu Pissoirs. Die Mittel- und Juden aus Asien und Afrika, Mizrachim genannt, ins schicht mied den neuen Busbahnhof von Anfang an, und Land ein und machen heute etwa die Hälfte der jüdischen so machte ein Geschäft nach dem anderen dicht, bis dort Bevölkerung aus. Ihre Benachteiligung durch die europäisch nur Ramschläden übrigblieben. Manche Etagen sind seit geprägte Arbeitspartei, die die israelische Politik in den ers- Jahren völlig verwaist, sodass der Busbahnhof zu einem ten 30 Jahren nachhaltig beherrschte, wirkt bis heute fort. wahrlich gespenstischen Ort mutiert ist. Der gesamte Be- Bei den Wahlen 1977 revoltierten eben diese Mizrachim zirk litt unter dem überdimensionierten Bau: 4.000 Busse und verhalfen dem rechtsgerichteten Likud an die Macht. fahren hier täglich ab und verursachen erhebliche Luftver- Zwar stellt der Likud seit 1977, also seit bald 40 Jahren, schmutzung, die Lärmbelästigung ist enorm. Damit wur- fast durchgehend den Regierungschef, doch seinen An- den Neve Shaanan und die angrenzenden Viertel endgül- spruch, den Mizrachim den sozialen Aufstieg zu ermög- tig zu Bezirken des Prekariats. lichen, hat er nur teilweise erfüllt. Die Partei hält nämlich Eben in diesen Jahren öffnete sich Israel nicht-jüdischer wenig von einem starken Sozialstaat, der Ungleichheiten Migration. Diese sollte Israels Abhängigkeit von palästi- intervenierend ausgleicht. Folglich wurde der Markt sich nensischen Arbeiter*innen vermindern, etwa im Bauge- selbst überlassen, und so wurden die Wohlhabenden und werbe und in den schlecht bezahlten Berufen des Dienst- Starken stärker und wohlhabender, die Armen und Schwa- leistungssektors. Ab den 1990er Jahren kamen Tausende chen schwächer und ärmer. Geografsch lässt sich das an legale und illegale nicht-jüdische Migrant*innen nach Is- der wachsenden Kluft zwischen dem prosperierenden, eu- rael. Hinzu kam eine nicht geringe Zahl von Palästinensern ropäisch geprägten Norden und dem abgehängten orienta- aus den besetzten Gebieten und dem südlichen Libanon, lisch geprägten Süden Tel Avivs mustergültig beobachten. die mit den israelischen Sicherheitsbehörden zusammen- In diesen Hinterhof der „weißen Stadt“ lenkten die Be- gearbeitet hatten, dann enttarnt worden waren und dar- hörden eben auch die Gefüchteten, indem sie entspre- aufhin ihre Heimatgemeinden hatten verlassen müssen. chende Bustickets ausgaben. Sie halfen den Gefüchteten Auch viele von ihnen ließen sich im Süden von Tel Aviv nicht bei ihrer Ankunft und weigerten sich, die Möglich- nieder. Es entstanden Communities von Latinas/Latinos, keit einer landesweiten Verteilung auch nur in Betracht zu Russ*innen, Ukrainer*innen und Philippinas/Philippinos. ziehen. Gleichzeitig unternahmen sie keine Anstalten, für Läden, wie sie weltweit von Migrant*innen geführt wer- angemessene Infrastruktur und entsprechende Dienste zu den, boten landestypische Nahrungsmittel, etwa Schwei- sorgen. Der Zuzug Zehntausender mitunter traumatisierter, nefeisch oder asiatische Gewürze, Prepaid-Handys und der Landessprache nicht mächtiger Neuankömmlinge über- transnationale Geldtransfers an die in der Heimat verblie- forderte die marode Infrastruktur vor Ort. Die in manchen benen Familienangehörigen an. An vielen Orten entstan- Straßenzügen erfolgte Verdoppelung und Verdreifachung den kleine Hinterhofkirchen. Die Neueinwanderer*innen der Einwohnerzahl überforderte die Alteingesessenen. machten Tel Aviv und damit ganz Israel zu einem offeneren, Statt in Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen kon- multikulturelleren Ort. Gleichzeitig mieden die meisten Is- krete Lösungen anzubieten, griffen Minister*innen und raelis die Gegend und für die alteingesessene Bevölkerung politische Entscheidungsträger*innen tief in das Reservoir bedeuteten diese Entwicklungen eine weitere Verschlech- der Ressentiments und machten die Gefüchteten für alle terung ihrer Lebensbedingungen. So haben etwa gewief- Missstände verantwortlich. Die Knesset-Abgeordnete Miri te Wohnungsbesitzer*innen eine neue Methode zur Berei- Regev, heute Ministerin für Kultur und Sport, bezeichne- cherung gefunden: Sie teilten alte Wohnungen in immer te Sudanes*innen in Israel als „ein Krebsgeschwür in un- kleinere Einheiten auf und verlangten für jedes neu ent- serem [Volks-]Körper“. Innenminister Eli Jischai drohte, er standene Apartment – oft waren es wenige Quadratme- werde „ihnen das Leben vergällen“. Auch Premierminis- ter, notdürftig mit Gipswänden von der nächsten Einheit ter Benjamin Netanjahu selbst schaltete sich ein. Mit lo- getrennt, das Bad wurde von mehreren Parteien geteilt – kalen Aktivist*innen spazierte er durch die Straßen Süd- horrende Mieten. Die Migrant*innen wurden anderswo Tel Avivs, nannte die Gefüchteten ein Sicherheits- und nicht gern gesehen und waren deshalb auf solche Deals ein demografsches Problem, das die jüdische Mehrheit angewiesen. Als Folge verkamen die Wohnhäuser immer im Land gefährde. Die in Israel hegemonialen rechtspo- mehr. Stadt und Staat aber ignorierten solche Missstän- pulistischen Medien berichteten täglich über die angeb- de, die woanders schnell geahndet worden wären, beharr- lich kriminellen Gefüchteten und über das Leid, das ihre lich, weil es sich ja nur um die „schwarze Stadt“ handelte. Anwesenheit der lokalen jüdischen Bevölkerung zufügt. Diese Entwicklungen hängen stark mit zwei Fragen der Die vielen Menschen, die sich für die Gefüchteten enga- nationalen Politik zusammen. Im deutschsprachigen Diskurs gierten, stempelten sie als überhebliche Linke und Libera- ist Israel vor allem der Ort, an dem europäische Jüdinnen le ab, denen das jüdische Volk egal sei und die sich lieber und Juden aus Europa Zufucht gefunden haben. In der Tat mit nicht-jüdischen Eindringlingen einließen als mit ihren wurde Israel von Europäer*innen und für Europäer*innen armen Volksgenossen.

94 Das Wunder von Süd-Tel Aviv Menschen an: Es meldeten sich betagte Holocaust-Über- lebende, die von Abschiebung bedrohte Gefüchtete ver- Für eine Weile schien der Plan der Regierung, die Altein- stecken wollten, Schüler*innen und Schuldirektoren oder gesessenen gegen die Gefüchteten aufzuhetzen, aufzu- Schriftsteller*innen, die Brandbriefe verfassten. Weltweit gehen. Doch dann geschah etwas, was in der aufgeheiz- formierten sich Demonstrant*innen vor den Botschaften ten politischen Atmosphäre Israels der letzten Jahre an Ruandas, um gegen die Komplizenschaft mit den Abschie- ein Wunder grenzt. beplänen zu protestieren. Der öffentliche Diskurs drehte Konkreter und symbolischer Ort diese Erscheinung war sich ein wenig und Umfragen belegten, dass große Tei- ein kleines heruntergekommenes Büro in der Matalon Stra- le der alteingesessenen Bevölkerung Süd-Tel Avivs gegen ße 70 in Neve Shaanan, dessen einzige Zierde Poster von die geplanten Abschiebungen waren. Die Regierung Ru- orientalisch anmutenden, selbstbewusst in die Kamera andas zog ihre Zusage zurück, die aus anderen schwarz- schauenden Frauen ist. Dies ist der Sitz von Achoti, einer afrikanischen Ländern stammenden Gefüchteten aufzu- feministischen Mizrachim-Organisation, ein Ort, an dem nehmen. Die israelische Regierung musste sich für ihre Frauen unterschiedlicher ethnischer und nationaler Her- Politik der Angst neue Zielgruppen suchen. kunft zusammenkommen. Shula Keshet, aus der nordost- iranischen Metropole Maschhad stammend, ist die Seele dieser Organisation, mit ihrer tiefen Stimme, ihren Hun- Schlussbemerkungen den und ihrem massiven Schmuck ist sie eine schillernde Figur, vor allem aber eine kluge Analystin und extrem er- Der Erfolg der Koalition gegen die Abschiebungen war fahrene Aktivistin. lediglich ein Etappensieg. Denn weder ist die Gentrifzie- Keshet hat nach und nach im Süden Tel Avivs eine un- rungsgefahr angesichts einer Parteienlandschaft, die von gewöhnliche Koalition aufgebaut. Sie besteht aus Altein- „Marktliberalen“ beherrscht wird, gebannt, noch die Zu- gesessenen, vor allem aus Mizrachim und Organisatio- kunft der Gefüchteten geregelt. Ob diese sich in Israel je nen, die vor Ort mit Kindern oder Gefüchteten arbeiten, werden integrieren können und dürfen, hängt davon ab, sowie aus Aktivist*innen der Gefüchteten-Communities. ob und wie Israel die jüdische Identität der Bevölkerungs- Ihr Motto: „Süd-Tel Aviv gegen die Vertreibung.“ Der Clou mehrheit mit einem modernen Staatsbürgerschaftsver- dabei ist, dass sich dies nicht allein auf die Regierungs- ständnis austariert. pläne zur Abschiebung von Gefüchteten bezieht, sondern In Frankreich etwa sind alle Staatsbürger*innen Franzo- auch einen Aufruf darstellt, sich gegen die Verelendung sen und damit Teil des jeweiligen Staatsvolks. Israel wur- Süd-Tel Avivs, die zur Zerstörung der lokalen Sozialstruk- de als jüdischer Staat gegründet. Es ist ein Staat, der allen turen führt, zu wehren. Jüdinnen und Juden offensteht, die das Land als Gefüch- Dahinter stand auch die Erkenntnis, dass die Stadtobe- tete oder Migrant*innen erreichen. Sie werden dann auto- ren in Tel Aviv den Süden inzwischen wiederentdeckt ha- matisch zu Staatsbürger*innen. Indem aber nicht die isra- ben. Das mit etwa 50 Quadratkilometern geografsch recht elische, sondern die jüdische Nation als Israels Staatsvolk überschaubare Tel Aviv kann nämlich nicht mehr wachsen, postuliert wird, wird eine Wertehierarchie zwischen den da es von allen Seiten von anderen Städten umringt ist. beiden Kategorien von Zugehörigkeit – Juden und Isra- Zudem steigt die Bedeutung der Stadt als Wirtschaftsme- elis – geschaffen. Die Juden – theoretisch auch diejeni- tropole, schließlich sind Immobilien hier mittlerweile teurer gen, die im Ausland leben und (noch) keine israelischen als in München am Englischen Garten. In Süd-Tel Aviv ganz Staatsbürger*innen sind – stellen den Souverän dar, das in der Nähe des Stadtzentrums schlummert also enormes Staatsvolk im Staat Israel. Nicht die Israelis! Deshalb ist Potenzial für das Immobilienkapital. Die Pläne für das Ge- es in Israel nicht vorgesehen, Nicht-Juden die Staatsbür- biet werden ohne die lokale Bevölkerung gemacht, ihre In- gerschaft zu erteilen.2 Nicht-jüdische Einwanderung ist teressen scheinen kaum ins Gewicht zu fallen. Das Schick- damit so gut wie ausgeschlossen, mit der Ausnahme von sal anderer Bezirke wie etwa Neve Tzedek – Ende des 19. einigen wenigen Gruppen wie Kindern von jüdischen Vä- Jahrhunderts von Mizrachim gegründet, heute bevorzugte tern (im Judentum gilt die matrilineare Abstammung) oder Wohngegend für Diplomaten und Oligarchen – lässt erah- Ehepartnern von Juden. nen, dass es zu einem weitgehenden Bevölkerungstausch Da es aber andere Formen von Migration gibt, werden kommen könnte, im Verlauf dessen die Alteingesessenen nicht-jüdische Migrant*innen als „Gastarbeiter*innen“ def- in die Vororte verdrängt werden und ihre gerade für ärme- niert, die das Land zu verlassen haben, sobald sie ihre wirt- re Schichten so wichtigen sozialen Netzwerke verlieren. schaftliche Funktion erfüllt haben. Sie sollen folglich davon Die Verbindung beider Kämpfe war ein durchschlagen- abgehalten werden, im Land Wurzeln zu schlagen. Deshalb der Erfolg. Hunderte von Plakaten gegen Abschiebungen erhalten die etwa 100.000 nicht-jüdischen Migrant*innen schmückten die Balkone im Süden Tel Avivs, Flyer wur- in Israel stets nur begrenzte Aufenthaltsgenehmigungen, den gedruckt, Versammlungen abgehalten. Schließlich ka- deshalb werden Arbeitsmigrant*innen des Landes ver- men Zehntausende auf den engen Straßen Süd-Tel Avivs wiesen, wenn sie ernsthaft krank werden oder eine Fami- zusammen, um ihre Solidarität zu bekunden, Tugud Omer lie gründen wollen. Gleiches gilt für die Gefüchteten aus Adams Flucht-Odyssee zu lauschen und Shula Keshet to- Eritrea und dem Sudan: Da sie keine Juden sind, kann senden Applaus zu spenden. Es war eine beeindrucken- ihr Aufenthaltsstatus stets nur ein zeitweiliger sein. Ihre de Schau von Solidarität. Die Kampagne verbreitete sich Fremdheit kann also sozusagen aus Gründen der Staats- wie ein Lauffeuer aus. Überall in Israel schlossen sich ihr räson nie aufgehoben werden.

95 Süd-Tel Aviv ist ein Mikrokosmos der Kämpfe, die über Israels Zukunft entscheiden werden. Der jüngste Zuzug junger Menschen in die südlichen Bezirke und die über- aus große Resonanz zugunsten der Gefüchteten zeugen davon, dass es gerade in Tel Aviv eine Offenheit gibt für eine Gesellschaft, die – um Rotbard zu paraphrasieren – weder schwarz noch weiß ist. Es gibt viele, die in einer in- klusiveren Gesellschaft leben möchten und hierfür auch bereit sind, sich zu engagieren. Ob das Tel Aviv, das sich erfolgreich gegen Abschiebungen wehrte, auch in der Lage sein wird, die umfassendere Frage zu beantworten, wie man israelische Identität durchdekliniert auf eine Weise, die inklusiv und durchlässig ist, bleibt abzuwarten. Dem- gegenüber steht nämlich eine gut geölte Maschinerie der hegemonial gewordene Rechtsnationalist*innen, die auch künftig versuchen werden, die jüdische Mehrheitsgesell- schaft durch die Anrufung jüdischer Stammesidentität und die Zusicherung von Privilegien auf Kosten nicht-jüdischer Migrant*innen an sich zu binden.

Dieser Essay wurde zuerst 2019 in „All About Tel Aviv-Jaffa/Die Erfndung einer Stadt“, herausgegeben von Hanno Loewy und Hannes Sulzenbacher, Bucher Verlag, veröffentlicht. Dieses Buch erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems (Vorarlberg/Österreich). Die Ausstellung wurde von Hannes Sulzenbacher kuratiert – in Zusammenarbeit mit den Ko- Kurator*innen Ada Rinderer und Hanno Loewy.

Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Einat Podjarny ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Anmerkungen 1 Rotbard, Sharon: Black City: Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa, Cambridge MA 2015.

2 Es sei denn, sie konvertieren oder aber heiraten eine Jüdin oder einen Juden.

96 Gemeinsamer Protest von Anwohner*innen und Gefüchteten gegen die geplanten Abschiebungen. Auf den Schildern steht: „Süd-Tel Aviv gegen Abschiebung”, 2014. Foto: Activestills

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„Es kann sein, dass wir verlieren, aber es lohnt sich zu kämpfen.“ Dov Khenin im Gespräch

Netta Ahituv Zwölf Jahre lang begleitete der Dokumentar - flmer Barak Heymann die linke Symbolfgur Dov Khenin von der sozialistischen Partei Chadasch/al-Dschabha. Das Ergebnis ist der Film „Genosse Dov“, dessen Premiere in Israel mit Khenins Abschied von der Knesset zusammenfel.

Filmposter von „Genosse Dov“, Tel Aviv 2019. Foto: Barak Heymann

99 von seinen arabischen Kolleg*innen in der Fraktion der Gemeinsamen Liste verabschiedet. Kurz bevor er sein Büro räumt, sagt er seinen Parteifreund*innen, er habe schon immer an die jüdisch-arabische Part- nerschaft geglaubt. Er dankt ihnen dafür, dass sie ihm die Gelegenheit gegeben haben, eine solche Part- nerschaft zu verwirklichen, zumal in solch schwierigen Zeiten des Ras- sismus, überschattet von der Ver- abschiedung des Nationalstaatsge- setzes. Er spricht mit gebrochener Stimme und Tränen treten in sei- ne Augen. Die Knesset-Abgeord- neten skandieren voller Zuneigung „Dov, Dov, Dov.“ Sie kennen sei- ne Empfnd samkeit offensichtlich schon und danken ihm ihrerseits, dass er ihnen die Gelegenheit Dov Khenin (61) ist im Zentrum sind, werden die langjährigen Be- zur Zusammenarbeit gegeben hat. von Tel Aviv als Kind rebellischer wohner*innen aus ihren Häusern Partnerschaft ist überhaupt der Eltern aufgewachsen. Beide Eltern- zwangsgeräumt. Khenin ist darüber Schlüsselbegriff in Khenins Leben. teile kamen aus streng religiösen sehr traurig. Während der Zwangs- Er arbeitet mit allen zusammen, Familien, haben sich aber säkulari- räumung rief eine Bewohnerin den die die Dinge so sehen wie er, und siert. Seine Mutter hat darüber Polizist*innen zu: „Sind wir etwa sei es auch nur in winzigen Teilbe- hinaus trotz des entschiedenen Wi- Araber?“ – Dieser Satz schmerzt reichen einer Idee. Er kann auch derstands ihres Vaters eine Aus- Khenin, was aber sein Mitgefühl für mit seinen erbittertsten politischen bildung gemacht. diese Frau nicht mindert, die aus Feinden herzlich, leidenschaftlich Zunächst eine überraschende Er- ihrem Haus geworfen wird. Seine und respektvoll umgehen. Dies ist kenntnis: Dov Khenin regt sich leicht Tränen sind echt und zeigen noch einer der Gründe, warum er im auf und weint oft vor Aufregung. etwas über Khenin: Er hält sich wirk- den letzten zehn Jahren der aktivste Das entspricht so gar nicht dem öf- lich an den moralischen Imperativ, „Gesetzgeber“ in der Knesset war, fentlichen Bild von einem stets den er sich auferlegt hat und den er obwohl er zur Opposition gehörte. refektierten, rationalen Menschen, im Verlauf des Films äußert: „Ein Er hat mehr als 100 Gesetzentwürfe der nicht zur Sentimentalität neigt. Unrecht wird nicht dadurch wieder- eingebracht und alle wurden ver- Aber in „Genosse Dov“, dem neuen gutgemacht, dass neues Unrecht abschiedet – dank seines hohen Ein- Dokumentarflm über den ausschei- begangen wird.“ satzes und seiner besonderen Koo- denden Knesset-Abgeordneten, Der Film des Dokumentarflmers perationsfähigkeit, die von außen entdecken die Zuschauer*innen, Barak Heymann („Dancing Alfonso“, betrachtet überraschen mag. dass dieses Bild nicht stimmt. „Bridge Over The Wadi“, „Who’s So ist es Khenin durch Zusam- In diesem schönen, persönlichen, Gonna Love Me Now“) ist in Zusam- menarbeit mit Abgeordneten aller bewegenden und unterhaltsamen menarbeit mit dem Kameramann Parteien zum Beispiel gelungen, den Film sehen wir Khenin zwei Mal wei- und Regisseur Uri Levi und der Cut- Mindestlohn auf 30 Schekel (ca. nend. Das eine Mal, nachdem es terin Nili Feller („Waltz with Bashir“, 7,30 Euro) pro Stunde anzuheben. ihm nicht gelungen ist, die Zwangs - „Paradise“, „The Museum“) entstan- Ebenso schaffte er es, ein Gesetz räumung der [jüdischen] Bewoh- den. Die Uraufführung fand im zur Stärkung des Haftungs- und Ver- ner*innen von Givat Amal, einem auf Rahmen des offziellen Wett bewerbs ursacherprinzips (bei Umweltver- den Ruinen des palästinensischen des Tel Aviver Dokumentarflmfes- schmutzungen) durchzubringen, Dorfs al-Dschammasin errichteten tivals Docaviv im Mai 2019 statt. dazu die Verlängerung des Mutter- Viertels von Tel Aviv, zu verhindern. Seitdem lief der Film erstaunlich schaftsurlaubs, ein Gesetz für mehr Diese Leute hatte der Staat nach erfolgreich landesweit in kommer- Transparenz in Sportvereinen und dem Krieg von 1948 dort angesie- ziellen Kinos und bei zahlreichen -verbänden und viele andere Gesetze, delt, um die Rückkehr der während Sonderveranstaltungen. die sozial und humanitär sind, die des Kriegs vertriebenen oder ge- Ein zweites Mal sehen die die Umwelt schützen und die Frau- füchteten Palästinenser*innen un- Zuschauer*innen Khenin während enrechte stärken. All diese Gesetze möglich zu machen. Jetzt, nachdem eines Treffens im Januar 2019 hat er zusammen mit Knesset- die Grundstückspreise in dem Ge- weinen, als er sich nach zwölf Jah- Abgeordneten eingebracht, die an biet in attraktive Höhen gestiegen ren als Knesset-Abgeordneter jedem anderen Tag mit diesem

100 dünnen, für Israel etwas ungewöhn- Jabotinsky auswendig lernen. Nach- Erfahrung in der Knesset war, lichen Mann mit Brille wahrschein- dem ich in die Knesset gewählt wor- dass niemand wusste, was ich dort lich eher in Streit geraten wären. den war, hatte ich zusammen mit mache. Ich habe das, was ich getan dem Parteivorsitzenden von Cha- habe, mit großer Hingabe gemacht, Denkst du mitunter daran, wie dasch, Mohammad Barakeh, ein aber ich hatte das Gefühl, dass stolz deine Eltern darauf waren, Treffen niemand wirklich weiß, welche Ge- dass du Knesset-Abgeordneter mit Benjamin Netanjahu und Gide- setze ich durchbringe und bei geworden bist? on Sa’ar vom Likud, die damals welchen es mir gelungen ist, sie Er schweigt und seine Augen füllen in der Opposition waren, um über aufzuhalten. Deswegen bin ich sich mit Tränen, dann antwortet den zunehmenden Rassismus von dem Ausmaß der Herzlichkeit, er leise: „Ich denke, dass sie stolz und die Maßnahmen, die die Op- die mir in der letzten Zeit von un- waren. Viele Jahre lang arbeite- position dagegen ergreifen kann, zu terschiedlichen Seiten entgegenge- te meine Mutter als Kindergärtnerin reden. Während der Zusammen- bracht wurde, gerührt, so sehr, im HaTikwa-Viertel, einem Armen- kunft kam es zu einem Wettstreit, dass ich es kaum fassen kann. Es viertel im Süden von Tel Aviv. Ihre wer von uns mehr Gedichte von war, als wäre ich auf meiner eigenen Art, auf die Menschen in dem Vier- Jabotinsky auswendig kann. Sagen Beerdigung, und das viele Male. tel zuzugehen, war faszinierend und wir, der Likud hat gegen Barakeh Ich musste mir selbst sagen, dass für mich eine erstklassige politische und mich verloren.“ ich noch lebe.“ Schule. Das war politisch ein aus- Dov Khenin ist mit Yael verheiratet. gesprochen rechter Stadtteil, noch Die beiden haben drei Söhne im Warum bist du aus der Knesset lange bevor Alter von 24, 29 und 33 Jahren so- ausgeschieden? der Likud im Jahr 1977 die Regie- wie eine acht Monate alte Enkelin. „Viele fragen mich, ob ich aus ge- rung übernahm. Und meine linke Sie leben in einer Wohnung im Zen- sundheitlichen Gründen ausgeschie- Mutter war dort eine außergewöhn- trum von Tel Aviv und führen ein den bin. Darauf ist die Antwort: lich beliebte Frau. Auch heute bescheidenes, umweltbewusstes Alles ist in Ordnung, ich bin gesund. noch treffe ich Menschen aus dem Leben. Khenin fährt oft Fahrrad und Es ist nicht so, dass ich mich er- gesamten politischen Spektrum, benutzt öffentliche Verkehrsmittel. schöpft fühle oder von der Politik die sich voller Wohlwollen daran In einer der amüsanten Szenen im resigniert die Hände hebe. Die Knes- erinnern, bei ihr als Kind im Kinder- Film steigt er in einen Bus und zeigt set ist eine äußerst wichtige Arena, garten gewesen zu sein.“ dem Fahrer einen Ausweis. Der in der gute Leute gebraucht werden, Fahrer fragt ihn: „Was ist das für ein die dort hingehen, um zu kämpfen. In dem Film gibt es eine erstaun- Ausweis?“ Khenin antwortet: „Der Vielen Menschen kann mit den Mit- liche Archivaufnahme von dir eines Knesset-Abgeordneten.“ Es ist teln, die die Knesset zur Verfügung als Jugendlichem, in der du an offensichtlich, dass stellt, geholfen werden. Es mag einem vom israelischen Fernse- weder die anderen Fahrgäste noch übertrieben klingen, aber ich habe hen veranstalteten Quiz zur der Busfahrer ihn erkennen oder Hunderte von Menschen vor Augen, Geschichte des Jischuw (der davon beeindruckt sind, dass ein die ich namentlich und persönlich jüdischen Bevölkerung in Paläs- Knesset-Abgeordneter mit ihnen in kenne und von denen ich weiß, dass tina vor der Staatsgründung einem öffentlichen Verkehrsmittel ihr Leben weniger gut wäre, wenn Israels) teilnimmst und den fährt. Auch die Eröffnungsszene des ich nicht in der Knesset gewesen Moderator durch dein Wissen Films zeigt Khenins bevorzugtes wäre. Weißt du, was das für ein Ge- verblüffst. Wie hat dich deine Transportmittel. Er fährt auf einem fühl ist? Das ist ein Geschenk, das Umgebung als eher ungewöhn- Fahrrad durch die Straßen von nur wenigen Menschen in ihrem Le- liches Kind aufgenommen? Tel Aviv, während im Hintergrund ben vergönnt ist. „Ich war ein begabtes Kind, das es Stimmen von verschiedenen Men- Die Entscheidung aus der Knesset genoss, mit den Lehrer*innen schen zu hören sind, die sich ab- auszuscheiden, kommt aufgrund zu streiten. Aber ich habe meinen fällig über ihn äußern: „Er hat Illu- tiefer Selbstrefexion. Ich wurde in Freund*innen, wenn sie in Schwie- sionen“, „er hat sich aus einem die Knesset gewählt, um zu ver- rigkeiten waren, immer geholfen Juden in einen halben Araber ver- suchen, die Welt zu verändern. Das und war beliebt, weil es für die an- wandelt“, „Kommunist“ und vieles Gute, das ich feststellen kann, ist, deren gut war, jemanden wie mich mehr. dass mich die Welt wenigstens nicht in ihrem Umfeld zu haben. Ich Solche Äußerungen sind das eine; verändert hat. Das Schlechte ist, war wild und anarchisch, aber zwei das andere sind die herzlichen dass ich viele kleine und bedeutende Pädagoginnen haben sich meiner Lobreden, die Khenin seit seinem Veränderungen bewirkt habe, doch angenommen und mir Disziplin bei- Ausscheiden aus der Knesset bei die Entwicklung unserer Gesell- gebracht. Eine meiner Lehrerinnen Dutzenden von Abschiedsveranstal- schaft geht in die falsche Richtung. in der Mittelstufe gehörte zum zio- tungen gehört hat. Von allen ern tete Als eine Person des öffentlichen nistisch-revisionistischen politischen er für seine Arbeit Lob und Dank- Lebens kann ich die Verantwortung Lager und ließ uns Teile der Bibel barkeit. Khenin war über diese Flut nicht auf andere abwälzen, denn sowie alle Gedichte von Zeev von Anerkennung erstaunt. „Mei ne wenn sich die Situation während

101 meiner Amtszeit zum Unguten ent- Herausforderungen stehen und dass Wenn das stimmen würde, wäre wickelt, dann ist dies auch meine es schwierig sein wird, sie zu be- ich ein orthodoxer Jude wie meine Verantwortung. Ich habe mich ge- wältigen, aber ich weiß auch, dass vier Großeltern. Der Sinn des poli- fragt, was dennoch zum Erfolg Menschen die Fähigkeit haben, sich tischen Handelns und seine große führen könnte, und die Antwort da- Herausforderungen zu stellen. Zu je- Herausforderung besteht darin, eine rauf ist, dass etwas tief im Inneren der Zeit in der Geschichte gab es Veränderung in den Ansichten der unseres Lagers fehlt und dass wir Herausforderungen und Menschen Menschen zu bewirken. Das ist kei- uns in ideologischer, pädagogischer haben sie gemeistert. Unser Leben ne leichte Aufgabe, aber, wie die und kultureller Hinsicht von unten ist eine einzige Herausforderung.“ Geschichte immer wieder gezeigt erneuern müssen, um eine Bewe- In ihrem Buch verwenden Khenin hat, eine durchaus machbare. Die gung der Veränderung in der israeli- und Filc den Begriff „konstruktiver große Frage ist, wie Menschen aus schen Gesellschaft zu schaffen.“ Widerstand“: Sie rufen dazu auf, Wi- ihrer Passivität herausgeholt wer- derstand gegen die bestehenden den können. Die Demokratie ist nicht Verhältnisse zu leisten, aber auch zu- nur die ritualisierte Stimmabgabe Eine permanente gleich eine Alternative aufzuzeigen. bei Wahlen und dann vier Jahre das Herausforderung Beispiele hierfür fnden sich in den Verfuchen derjenigen, die gewählt zahlreichen Aktivitäten von Stan- wurden. Demokratie ist die Wahrneh- Wie üblich redet Khenin nicht nur, ding Together, etwa die „Zweispra- mung der sich Tag für Tag bieten- sondern er tut auch etwas. Kaum chigkeitsplakette“, die Unternehmen den Möglichkeit, auf das, was hier ist er aus der Knesset ausgeschie- verliehen wird, die ihren Kund*in- geschieht, Einfuss zu nehmen.“ den, ist er bereits in der Bewegung nen Informationen in zwei Sprachen, Standing Together aktiv, die sich da- (Hebräisch und Arabisch) zur Ver- Menschen verlieren das Gefühl, rum bemüht, eine „Politik der Hoff- fügung stellen. Diese Aktion bringt diese Fähigkeit zu haben, und nung“ vorzuleben und „das politisch den Widerstand gegen das Natio- deshalb verzweifeln sie. Selbstverständliche infrage zu stel- nalstaatsgesetz zum Ausdruck und „Ich gebe dir ein Beispiel aus den len“, wie auf der Webseite der Be- zeigt zugleich eine praktische Alter- letzten Jahren: Der Kampf um die wegung zu lesen ist. In diesen Tagen native auf, durch die die arabische Anhebung des Mindestlohns auf 30 erscheint auch ein neues Buch von Sprache nicht mehr als feindlich, Schekel pro Stunde wurde unter ihm mit dem Titel „Was ist jetzt zu sondern als etwas Alltägliches wahr- der Netanjahu-Regierung geführt, die tun?“, das Khenin zusammen genommen wird. eine ultrakapitalistische Politik ver- mit dem Politologen Dani Filc ver- Khenin ist ein charismatischer folgt. Das Gesetz für saubere Luft fasst hat. Darin stellen die beiden Mensch, ein talentierter Rhetoriker wurde trotz des Widerstands der Re- eine Handlungsstrategie für das de- und derart optimistisch, dass er gierung verabschiedet. Die Abschie- mokratisch-liberale, nach Frieden mitunter messianisch wirkt. Er lehnt bung von Asylsuchenden wurde strebende Lager vor, nachdem sie den Begriff „messianisch“ in Be- verhindert, obwohl Netanjahu die- die Ursachen für die Verzweifung, zug auf seine Person entschieden ab, se Menschen loswerden wollte. Ein die sich in diesem Lager in Israel aber erläutert gern, warum er op- prominentes Beispiel ist der Sta- und andernorts ausbreitet, erörtert timistisch ist: „Das Lager der Men- tus der LGBT-Community in Israel. haben. Sie analysieren die Gründe schen, die Veränderung in der is- Gab es je eine Regierung, die etwas für den Aufstieg rechtspopulistischer raelischen Gesellschaft wollen, das zur Veränderung ihres Status getan Politiker*innen, die die demokra- heißt Frieden, Demokratie und hat? Nein. Und trotzdem hat sich ihr tischen Fundamente untergraben Gleichheit, ist größer und vielfältiger, Status verbessert. Das wurde nicht wollen. Diese Kapitel liefern eine der als es normalerweise beschrieben durch Wahlen erreicht, sondern besten Erklärungen für die gegen- wird. Ich treffe diese Menschen an dadurch, dass viele Menschen auf wärtige Situation in Israel. Im An- vielen Orten in Israel, nicht nur verschiedenen Ebenen und in vie- schluss daran klingt der von ihnen in Tel Aviv, sondern auch an allen len Bereichen dafür gekämpft haben, vorgeschlagene Handlungsplan möglichen peripheren Orten.“ in der Publizistik, in der Kultur, der vernünftig und machbar. Kunst, der Bildung und in der Zivilge- „Das Buch ist praktisch eine Debat- Die Demografe entwickelt sich sellschaft sowie durch Druck auf te mit meinen engen Freund*innen, nicht in die von dir beschriebe- das politische System.“ mit Menschen, die ich gernhabe und ne Richtung. Die anderen gesell- schätze, die aber meinen, dass ‚alles schaftlichen Gruppen bringen Es ließe sich zynisch sagen, dass verloren ist‘“, sagt Khenin. „So viele viele Kinder zur Welt, während die LGBT-Community darum gute, intelligente Menschen sind zu viele Menschen deiner Gruppe Erfolg gehabt hat, weil heute ge- diesem falschen Schluss gekommen, Israel verlassen. winnorientierte Un ternehmen und das allein verleiht dem gegne- „Ich stimme der Prämisse des demo- de facto die Herrschaft ausüben rischen Lager enorme politische grafschen Arguments nicht zu, und nicht die gewählte Regie- Kraft. Ich unterschätze die Gefahren wonach Menschen in politische An- rung, und weil diese Unterneh- nicht, im Gegenteil. Ich bin mir des- sichten hineingeboren werden men die Kaufkraft der LGBT- sen bewusst, dass wir vor schweren und diese nicht ändern können. Community entdeckt haben.

102 „Deine Bemerkung ist nicht zynisch, sondern zeigt, dass die Welt heu- te dialektisch ist und jedes Phäno- men mehrere Seiten hat. Diejenigen, die von einer Seite aus schwach erscheinen, sind aus einer anderen Perspektive gesehen stark, und umgekehrt. Zum Beispiel sehen sich die etablierten Viertel in Israel als Opfer der armen Peripherien, die die Politik in ihren Augen bestimmen. Dadurch gibt es in den armen Peri- pherien in Israel einen Aspekt der Realität, der ihnen Stärke verleiht. Ich frage mich immer, wie eine Verän- derung herbeigeführt werden kann, und die Antwort ist: unter ande- rem durch das Betrachten der Rea- lität aus unerwarteten Blickwinkeln, wenn die Schwachen eigentlich die Starken sind.“

Es ist unmöglich, die Klimakrise nicht zu erwähnen. Du hast dich sehr in dieser Sache enga- giert, aber ohne wirkliche Erfolge, weder in Israel noch anderswo. Macht dich das pessimistisch? „Die Klimakrise ist eine viel größere Herausforderung als jeder nationale Konfikt. Und trotzdem: Die Men- schen sind hoch entwickelte Ge- schöpfe, die im Laufe der Geschich- te große soziale Veränderungen bewirkt haben. Deswegen sind wir im Grunde auch in der Lage, die Klimakrise zu bewältigen. Wir haben noch nicht verloren. Vielleicht wird es uns gelingen, vielleicht auch nicht. Aber angesichts eines möglichen Erfolges lohnt es sich sehr zu kämp- fen. Es steht ungemein viel auf dem Spiel.“

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Der Beitrag erschien ursprünglich auf Hebräisch am 29. Mai 2019 in der Tageszeitung Haaretz.

Netta Ahituv arbeitet als Reporterin für das Haaretz Magazine. Sie wurde mit dem Pratt-Preis für Journalismus, der sich mit Umweltfragen beschäftigt, ausgezeichnet.

(S.98): Dov Khenin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019. Foto: Meged Gozani

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Die Bühne als ethische Anstalt: Interview mit der Theaterregisseurin Ofra Henig

Tali Konas Sie ist eine der herausragenden Theaterschaffen- den Israels, doch ihre politische und künstlerische Unabhängigkeit führt dazu, dass sie immer selte- ner in Israel arbeiten kann. Ein Gespräch mit Ofra Henig über politische Kunst, Feminismus und Machtverhältnisse.

Theaterprojekt „Kind of“, Schaubühne, Berlin, April 2018. Foto: Gianmarco Bresadola

105 wir nichts, aber die Theaterverwal- tung kehrte immer wieder zu alther- gebrachten Vermarktungsstrategien und -ideen zurück. Den Höhepunkt erreichte das De- bakel tatsächlich 2010, am Ende des dritten Jahres meiner Intendanz. Damals wurde in der Siedlung Ariel in den besetzten Gebieten ein Kultur- zentrum eröffnet. Die staatlich ge- förderten israelischen Ensembles waren aufgefordert, dort Gastspiele zu geben. Der Protest dagegen begann bei uns und breitete sich landesweit auf andere Ensembles aus. Aber das Herzliya-Theater war das einzige Theater, an dem ich als Intendantin eindeutig erklärte, dass die Stücke des Ensembles in der Westbank nicht aufgeführt wer- den. Alle unsere Schauspieler*innen Ofra Henig gehört seit Jahren zu einige kulturelle Institutionen schlossen sich dieser Erklärung an. den herausragenden Theaterschaf- in Israel. Was hat diese Ver- Daraufhin brach die Hölle los: Unser fenden Israels. Sie war die erste änderung in Ihrer Theaterarbeit Theater wurde mit Graffti besprüht, Frau in Israel, die ein Theater leitete, bewirkt? ich wurde gemaßregelt, das Kultur- die einzige Regisseurin, die den isra- Ofra Henig: Alles begann damit, ministerium und die Stadtverwal- elischen Theaterpreis erhielt. Mit dass ich als Intendantin des Herzliya- tung von Herzliya drohten, unser 35 leitete sie bereits wichtige kultu- Theaters entlassen wurde. Schon Budget zu kürzen, und das folgen- relle Institutionen wie das Israel- als man mich vonseiten der Stadt- de Jahr entwickelte sich bereits zum Festival. Seit einigen Jahren pendelt verwaltung von Herzliya das erste Überlebenskampf. sie zwischen Israel und Deutschland, Mal angesprochen und mir vorschla- Seit dieser Geschichte muss jede weigert sich, mit staatlichen Einrich- gen hatte, dort ein Theater zu eröff- Regisseurin/jeder Regisseur, die oder tungen zusammenzuarbeiten, und nen und ein Ensemble aufzubauen, der einen Vertrag mit einem israe- schafft selbstständig politisch per- hatte ich – da ich bereits kampfer- lischen Theater unterzeichnet, eine sönliche Bühnenwerke mit einem probt war – deutlich gemacht: „Hö- Klausel unterschreiben, in der sie/ Ensemble palästinensischer und jü- ren Sie, ich bin sehr künstlerisch, er zustimmt, dass das Theater ihre/ discher Schauspieler*innen. In 2019 ich gebe nicht auf, ich gehe keine seine Arbeit aufführen wird, wo wurde ihr auf politisch-literarischen Kompromisse ein, ich mache politi- immer es dies für richtig hält. Nach- Texten basierendes Stück „Kind of“ sche Kunst, ich arbeite mit Palästi- dem ich gefeuert worden war, be- in der Ruhrtriennale aufgeführt. nensern. Sind Sie sicher, dass es das kam ich Einladungen, an anderen ist, was Sie wollen?“ Und sie hatten Theatern zu arbeiten, und allen sagte Tali Konas: Das Theaterprojekt geantwortet: „Ja, genau das wol- ich, dass ich eine solche Klausel „Kind of“ basiert auf Ihren Er- len wir.“ Ich ließ mein bisheriges Le- nicht unterzeichnen könne, dass ich innerungen als Schülerin im is- ben hinter mir und bin nach Herzliya meinen Namen nicht dafür herge- raelischen Bildungssystem der gezogen. Und wir haben alle meine ben kann und will. späten 1960er Jahre nach dem Versprechen eingehalten – wir ha- Sechstagekrieg. Es ist der drit- ben kritische, refektierende Kunst Und was hat die endgültige Ent- te Teil einer autobiografsch ge- gemacht. Jede Auf führung lassung herbeigeführt? prägten Trilogie. In den letzten erhielt Einladungen aus dem Aus- Nach dem Protest gegen das Kul- Jahren schreiben und inszenie- land, wir haben bei den wichtigsten turzentrum in Ariel häuften sich die ren Sie eigentlich nur Stücke ein- Festivals gespielt, unsere Arbeit Maßregelungen. Man wollte, dass deutig politischer Natur, die in war multikulturell, unser Theater war ich das gesamte Repertoire austau- Zusammenarbeit mit deutschen nicht nur für Araber und Juden, sche, obwohl es sich gar nicht und anderen europäischen Stif- sondern auch für andere Kulturen direkt mit der Besatzung oder den tungen und ohne fnanzielle Un- und Sprachen offen. Nach zwei Palästinensern beschäftigte. Es gab terstützung von israelischen Jahren fng die Theaterverwaltung etwa ein Stück von Lorca, Becketts öffentlichen Einrichtungen ent- an zu mäkeln, da unsere Arbeiten „Warten auf Godot“. Ich wurde auf- standen sind. Vorher brachten angeblich das „breite Publikum“ gefordert, andere Regisseur*innen Sie jahrelang klassische Stof- nicht ausreichend interessierten. Für zu engagieren, sie wollten nicht, fe zur Aufführung und leiteten dieses mangelnde Interesse konnten dass ich mit Dramaturg*innen und

106 Schauspieler*innen arbeite, die für betreten, da es sie bei den Schwei- Theaterleute und Menschen aus politisch gehalten wurden, sie woll- zer Demonstrant*innen hatte ste- dem Kulturbereich, die ich von ten nicht, dass ich in Arabisch ar- hen sehen und weil sie T-Shirts mit früher kannte, öffneten mir die Türen beite. Am Ende zwangen sie mich der Aufschrift „Stop the Occupa- in Deutschland und in der Schweiz. zu entscheiden: Entweder änderte tion“ trugen. Da saß ich also und ich das gesamte Repertoire oder ich sah, wie meinen palästinensischen Und wie begann die Arbeit an sollte nach Hause gehen. Ich sag- Schauspieler*innen der Zutritt dem Projekt „Kind of“? te, dass ich es nicht ändern kann, da verwehrt wurde, und hörte, wie der „Kind of“ hatte einen gänzlich ande- es das ist, was ich zu tun verspro- Botschafter über die Koexistenz in ren Ausgangspunkt. Ich war gerade chen habe, da es das ist, was ich unserem Projekt sprach, in dem „jü- für zwei Monate in Berlin und fng am besten kann. Bis heute ist es dische und palästinensische Schau- an, im Bereich der Architektur zu mir wichtig zu sagen, dass ich auch spieler zusammenspielen“. Ich hatte forschen. Ich besuchte die ehema- aus künstlerischen Gründen entlas- eine schöne Rede vorbereitet, aber lige jüdische Mädchenschule in der sen wurde, nicht nur aus politischen. in diesem Moment verwarf ich sie, Auguststraße und von da an legte Kunst ist für mich eine Frage der und als ich vor dem Publikum stand, ich mein Hauptaugenmerk auf die Ethik und Politik, und das lehre ich wandte ich mich direkt an den isra- Architektur von Schulgebäuden. auch meinen Student*innen. Politik elischen Botschafter und sagte: Aber während des Schreibens wurde heißt nicht, über Parteien zu reden, „Mr. Ambassador, I refuse to be used“ mir klar, dass ich eigentlich über Politik ist eine Frage der Ethik. Du (Herr Botschafter, ich weigere mich, das Bildungssystem schrieb. bist eine politische Künstlerin, wenn benutzt zu werden). Wir seien kein Etwa zur gleichen Zeit hörte ich du dich mit Ethik befasst, wenn Koexistenzprojekt, weil es keine Ko- von der Bühnenadaption des Ro- du kritisch denkst und Fragen stellst, existenz gebe. Als ich zum Hotel mans „Jugend ohne Gott“ von Ödön die im Alltag keinen Platz fnden, kam, war meine E-Mail-Box voller von Horváth für das Deutsche The- nicht wenn du ein Stück über einen Drohungen. Der Vorstandsvorsitzen- ater in Berlin. Das Theater schickte Abgeordneten machst. de des Herzliya-Theaters hatte mir mir die Bearbeitung und ich bat Kurz vor meiner endgültigen Kün- geschrieben: „Du kriegst im Herzli- einen Übersetzer, sie zu lesen und digung haben wir es noch geschafft, ya-Ensemble keinen Fuß mehr mir zu sagen, welche Stellen für mit einem Projekt zu arabisch-jüdi- auf den Boden. Komm nicht zurück.“ meine Aufführung geeignet waren. schen Volksmärchen in die Schweiz Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt zu reisen, wo ich dann den letzten ja schon entlassen war. Das Buch „Jugend ohne Gott“, „Todesstoß“ erhielt. Nach all den Ge- das das Bildungssystem in schehnissen in Herzliya wurden Und das war das Ende der Phase, Deutschland in den 1930er Jah- wir absurderweise eingeladen, das in der Sie mit öffentlichen Insti- ren behandelt, wurde letztlich is raelische Kulturfestival in der tutionen in Israel kooperierten ins Hebräische übersetzt und in Schweiz zu eröffnen, das vom isra- und mit staatlichen Mitteln arbei- Israel veröffentlicht. Der Roman elischen Außenministerium und teten. beschreibt das Alltagsleben dem Ministerium für Kultur gefördert Nach diesen Vorfällen ging ich nach eines Schullehrers und seiner wurde. Das war 2011. Ich wusste Berlin, wo ich mich mit meinen Klasse unter einem unterdrücke- bereits, dass ich gefeuert worden Freunden, dem Direktor der Schau- rischen und diskriminierenden war, und dieses Gastspiel war eine bühne am Lehniner Platz, Tobias Regime. Sämtliche Rezensionen Abschiedsreise für das Ensemble. Veit, und dem künstlerischen Leiter in Israel kamen zu dem Schluss, Als wir am Theater in Basel anka- Thomas Ostermeier, traf und ihnen dass hier auch Kritik bezüglich men, protestierte dort eine Gruppe sagte, dass ich nun nicht mehr wis- der israelischen Realität zu fn- niedlicher Schweizerinnen gegen se, wo ich arbeiten könne und dass den sei, wenn sich der Text auch die israelische Besatzung. Unsere es mein Traum sei, mich mit Biogra- ursprünglich auf die Situation im Ensemblemitglieder gingen zu ihnen fen von Künstler*innen zu befas- damaligen Deutschland bezog. und bekamen von ihnen entspre- sen, die einen Konfikt mit einem Re- Solche Vergleiche haben ein ex- chende T-Shirts. Die Halle war voll gime hatten oder Kollaborateure plosives Potenzial in Israel und mit israelischem Sicherheitspersonal, eines Regimes waren. Da hat Tho- führen oft zu heftigen Auseinan- und es stellte sich heraus, dass der mas gefragt: „Aber warum schreibst dersetzungen. Wie sind Sie mit israelische Botschafter Ehrengast du nicht deine Biografe? Du hast dem Gedanken umgegangen, war. Ich saß schon in der Halle, da ja eine unglaubliche Geschichte zu dass Sie an etwas arbeiten, des- ich die Eröffnungsrede im Namen erzählen.“ Am nächsten Tag fng sen Rezeption außer Kontrolle aller israelischen Künstler*innen hal- ich an zu schreiben, ununterbrochen geraten und Sie und Ihre Arbeit ten sollte. Da erhob sich der Bot- ein halbes Jahr lang. Und darüber in einer Weise etikettieren könn- schafter und hielt eine Rede, wäh- ergab sich die Gelegenheit, an einem te, die Sie nicht wollen? rend gleichzeitig das israelische fragmentarischen Projekt ohne fest- Der Begriff Vergleich ist für mich ir- Sicherheitspersonal unsere paläs- stehenden Text zu arbeiten. Es haben relevant. Als schöpferischer Mensch tinensischen Schauspieler*innen sich hierfür dann auch sehr schnell bewege ich mich eigentlich in mei- daran hinderte, das Theater zu die Fördermittel gefunden. nem gesamten Erwachsenenleben

107 zwischen drei Kulturen – der deut- nennen. Aber wir wollten weder Mitarbeiter*innen seien der An- schen, palästinensischen und israe- Israel/Palästina noch Israel oder Pa- sicht gewesen, dass es sich bei lischen. Ich bin keine Deutsche, ob- lästina schreiben und so schlugen „Imagine“ um ein Klischee han- wohl meine Mutter es ist, ich bin wir vor, die Stadt zu nennen, aus dele. Also habe sie sich entschie- keine Palästinenserin und keine Is- der alle an der Produktion beteilig- den, ihre Macht als Regisseurin raeli, obwohl ich eine Bürgerin des ten Künstler*innen kamen und wo zu nutzen und das Lied trotzdem Staates Israel bin, aber ich fühle wir das Stück auch geprobt hatten – auf der Bühne zu spielen. Es mich nicht an Israel gebunden. Ich Haifa. Wir haben den künstlerischen ist eine sehr lustige, aber gleich- bin alle drei Identitäten und dann Leiter Thomas Ostermeier zudem zeitig auch erschreckende Sze- auch wieder keine von ihnen. In kul- gebeten, in der Inhaltsangabe zum ne. Sie spiegelt in erster Linie tureller Hinsicht bin ich der jüdi- Stück im Festivalprogramm nicht alle Arten von Machtverhältnis- schen Kultur, der hebräischen Litera- von „Koexistenz“ zu sprechen, denn sen wider, die im Stück behan- tur – nicht unbedingt der religiösen wir sehen uns nicht als Vorbild. Wir delt werden, nicht nur politische – sehr verbunden. Es stimmt nicht, sind nur Menschen, die gerne mit- Machtverhältnisse zwischen dass ich Nazi-Deutschland mit dem einander arbeiten und zufällig auch Staaten oder zwischen dem Staat heutigen Israel vergleichen würde. politische Menschen sind. Direkt und seinen Bürger*innen, son- Einen Vergleich zu den Nazis ziehe nach der Veröffentlichung des Pro- dern auch solche zwischen Vor- ich in keiner Weise, selbst wenn ich gramms erhielt Ostermeier eine gesetzten und Untergebenen, gegenwärtigen Geschehnissen oder Flut von E-Mails von der jüdischen Lehrer*innen und Schüler*innen, Handlungsweisen ein Echo gebe Gemeinde, die ihn des Antisemitis- Männern und Frauen, Reichen und damit dem, was war, und dem, mus und der „Kollaboration mit Isra- und Armen, eben zwischen- was ist, und auch dem, was den el-Hassern“ beschuldigten. Oster- menschliche Politik. Palästinenser*innen hierzulande wi- meier war über diese Anschuldigun- Das ist richtig. Das Thema Macht- derfährt, mit einem beständigen Dia- gen schockiert. Nach zwei verrück- kampf zwischen Lehrer*innen und log begegne. ten Tagen schrieb ich eine Antwort Schüler*innen spielt im Stück eine Auch nach diesem Projekt weige- an den Herrn, der den Protest an- zentrale Rolle. Das Stück spielt in re ich mich, Teil dieses Vergleichs- führte, und erklärte ihm, dass wir ein einer Schule und ein integraler Teil diskurses zu sein. Ich interessiere Recht darauf haben, uns eine eige- des Schullebens ist die Hierarchie. mich für universale Schlüsse. Wenn ne Identität zu schaffen, dass wir in Das Kind steht ja für etwas – für ich etwas erforsche, dann soll es all- keiner Weise mit Mitteln aus Israel Machtkämpfe in der Gesellschaft. gemeine Schlussfolgerungen erlau- unterstützt wurden, sondern dass es Aber mir war es bei dieser Produk- ben. Wenn ich mich mit dem The- unsere Entscheidung war, unseren tion ungeheuer wichtig, auch über ma Berliner Mauer beschäftige und Beruf frei und unter schwierigen Be- Gewaltanwendung in der Kunstwelt jedes Mal nach meiner Rückkehr dingungen auszuüben, uns selbst zu zu sprechen. Es ist für mich, die aus Berlin in Israel noch ein weite- defnieren und unsere Kunst als eine ich viel Macht in Händen hielt, ein res Stück der Trennungsmauer ge- grenzüberschreitende zu entwickeln. Thema, das mich seit Jahren be- baut wurde, kann ich nicht anders, Er hat mir nicht geantwortet. Im schäftigt. Wie nutze ich diese Macht? als darauf Bezug zu nehmen. Das Frühling dieses Jahres, als wir unser Wie gehe ich damit um, wenn ich ist ein Echo, weil sich das Werk mit Stück beim F.I.N.D-Festival in Berlin versage? Wie leicht lassen wir jeman- verschiedenen Zeitebenen beschäf- aufgeführt haben, hat die Schaubüh- den aus ideologischen Gründen tigt, mit dem, was war, und mit dem, ne beschlossen, alle Künstler*innen fallen, wie beispielsweise für die Ex- was jetzt ist. anhand ihrer Herkunftsstädte und zellenzideologie, die ich als Quali- nicht ihres Herkunftslands vorzustel- tätsmaßstab auch am Theater befür- Und wie sind die Reaktionen in len, selbst wenn diese aus Ländern worte. Seit Jahren überprüfe ich Deutschland? kommen, in denen es weniger Iden- mich und beobachte mich bei mei- In Frankreich und England bin ich titätsprobleme gibt. ner Machtausübung als Regisseurin eigentlich häufger als in Deutsch- oder Intendantin. Aber hierbei han- land auf Reaktionen gestoßen, die In einer der Szenen in dem delte es sich um einen inneren Dia- Antisemitismus mit Kritik an Israel Stück „Kind of“ wird einer der log. Erst als ich anfng zu unterrich- verwechseln. 2016 wurden wir ein- Schauspieler von den anderen ten, habe ich begonnen, darüber zu geladen, beim F.I.N.D.-Festival an Schauspieler*innen dazu ge- reden. Als Lehrerin, die große Macht der Schaubühne mit einem Stück drängt, sich ans Klavier zu set- über ihre Student*innen hat, fng über Flucht aufzutreten. Alle betei- zen und „Imagine“ von John ich an, die Macht des Regisseurs zu ligten Künstler*innen außer mir Lennon zu spielen, die Hymne thematisieren und über Ethik, die waren Palästinenser*innen: die des Friedens und der Mitmen- eigene Unschlüssigkeit und Zweifel Schauspieler*innen, Ausstatter- schlichkeit. Die Figur der Erzäh- zu sprechen, und darüber, wo und *innen, alle. Bei einem internatio- lerin in dem Stück erklärt, dass wie wir Gewalt anwenden, und auch nalen Festival ist es üblich, den sie als Regisseurin dieses Lied darüber, wie wichtig Disziplin im Namen des Herkunftslandes der immer auf der Bühne zu Ge- Theater ist. Gerade dort, wo ein Werk Künstler*innen im Programm zu hör bringen wollte, aber all ihre entsteht, das das Chaos der Gefühle

108 und Gedanken behandelt, gerade haben immer auch etwas Bisexuelles Freiheit Arbeitsprozesse erlaubt hät- dort sind wir der Disziplin verpfich- und Asexuelles, sie haben diese te, an die ich glaube, dann hätte ich tet, weil Disziplin ein Rahmen ist, Dualität, auch die männlichen Künst- eine solche fnanzielle Unterstützung der unsere Fähigkeit bewahrt, das ler. Diese Ambiguität greift auch, vielleicht angenommen. Weil dann Chaos kommunizieren zu können. wenn man Faschismus und Macht- die Kunst, so wie ich sie verstehe, mechanismen auf die Bühne bringt, eine Stimme bekommen hätte. Aber Man kann nicht übersehen, dass obwohl man keine gewalttätige das ist chancenlos, weil Kunst und Sie eine Regisseurin sind, was Person ist. Das gilt auch für eine Politik miteinander verbunden sind in Israel eine Ausnahme darstellt. potenzielle Ambiguität eines Man- und wenn der Faschismus ins Thea- Außerdem stehen Sie einer gro- nes oder einer Frau. Ich kann keine ter kommt und das Denken und ßen Tradition männlicher Regis- politisch korrekte Kunst, keine Gen- Handeln beeinfusst, kann man kei- seure gegenüber, zu deren Praxis der-Regie machen. Wichtig ist die ne gute Arbeit machen. Dann wird oft der Einsatz von Gewalt ge- Verbindung zwischen Persönlichem, die Zensur zur Selbstzensur. Aber genüber den Schauspieler*innen Politischem und Sozialem, die Ver- letzten Endes bin ich Regisseurin gehört. bindung all dieser Felder, nicht aus- und ich bin tot, wenn ich keine Re- Ich kann Ihnen versichern, dass auch schließlich Feminismus oder Politik gie führen kann. Ein Künstler exis- Regisseurinnen und Intendantinnen oder Gefühle. tiert nur, wenn er seiner persönlichen Macht missbrauchen können. Das Kreativität frei und ungehindert fol- liegt zweifellos an der jeweiligen Sie sagen, dass Künstler*innen gen kann. Wirtschaftlich gesehen ist Persönlichkeit. Viele Frauen in wich- keine politisch korrekte Kunst es strapaziös, da ich ständig nach tigen Positionen in Israel fressen schaffen können, aber die Art, Finanzierungsmöglichkeiten suchen Männer zum Frühstück und betrei- wie Sie Ihre eigene Kunst aus- muss. Aber es zahlt sich aus, da ben Missbrauch und Demütigung drücken, ist aus der Perspektive ich die Freiheit für wichtig halte, da- von Schauspieler*innen, weil sie an- der Linken politisch sehr kor- mit mein künstlerisches Schaffen nehmen, dass eine gute Manage- rekt. Sie haben sich zudem ent- unabhängig bleibt. Ich will meine rin wie ein Mann funktionieren sollte. schieden, jegliche Unterstützung Arbeit nicht einer vergifteten Atmo- Andererseits gibt es viele Frauen, durch staatliche Mittel abzuleh- sphäre aussetzen, mit der die Leute die ihre Regiestudien abschließen nen. Gab es nie einen Zeitpunkt, an den staatlich geförderten Thea- und keine ausgesprochenen Macht- an dem Sie sich gesagt haben: tern konfrontiert sind. Die dort anzu- positionen erreichen. Ich glaube „Für meine Kunst bin ich jetzt treffende Bitterkeit, die Wut, die nicht, dass Missbrauch eine männ- auch bereit, dieses Geld zu neh- Apathie und der Eskapismus dringen liche Erfndung ist, wirklich nicht. men?“ Ich bin mir sicher, dass es in die Seele ein. Daher führe ich Aber leider stimmt es, dass es viel Institutionen gibt, die mit Ihnen zwar weniger Regie, bin dafür aber mehr Regisseure als Regisseurin- unter Ihren Bedingungen gerne eine freie Person. Das ist es mir wert. nen gibt, die wichtige Positionen zusammengearbeitet hätten. einnehmen. Nein. Das ist heute nicht mehr mög- Tali Konas ist Projektmanagerin lich. Ich komme aus diesen Institu- im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg- Ihnen war wahrscheinlich auch tionen und während eines langen Stiftung in Tel Aviv. bewusst, dass alle Texte, die Sie Zeitraums, etwa 20 Jahre, war es in für „Kind of“ verwendet haben, der Tat möglich, innerhalb des israe- (S.104): Ofra Henig, 2019. von Männern stammen? lischen Establishments aktiv zu sein, Foto: Gerard Alon Nicht wirklich. Irgendwann in den von innen heraus Veränderungen Proben wurde es thematisiert, weil anzuregen. Es gab Inseln bedeuten- mich die Schauspieler*innen dar- der, kritischer und ausgezeichne- auf hinwiesen. Selbst als junge Re- ter Kreativität. Aber wir sollten der gisseurin sah ich mich nicht als Wahrheit ins Gesicht sehen. In Israel Stellvertreterin, ich wollte nur Thea- scharwenzelt heute niemand mehr ter machen. Ich hatte nicht das Ge- um mich herum. Ich bin gewisser- fühl, dass ich eine Generation ver- maßen ein rotes Tuch und es gibt trete, dass ich Frauen vertrete. Ich weder künstlerisches noch politi- war einfach so absolut, dass es sches Interesse, mit mir zu arbeiten. mich nicht interessierte, was jemand Wenn ich allerdings hätte annehmen zwischen den Beinen hat, was ich können, dass ich mit einem konkre- zwischen meinen Beinen habe. Ich ten fnanziellen Angebot und inner- meine, ich habe mich darüber nicht halb der etablierten israelischen Ge- defniert. Ich wollte niemals Kinder sellschaft die künstlerische Freiheit haben, aber nicht, weil ich eine Fe- hätte entwickeln können, die auch ministin war und eine unabhängige meinen Partnern, von denen viele Frau sein wollte, sondern weil ich Palästinenser*innen sind, hätte zu- eine Künstlerin bin. Künstler*innen gutekommen können und diese

109 Partnerschaftliche Kooperation mit Die Rosa-Luxemburg- progressiven Akteuren vor Ort Gesellschaft und Politik in Israel sind gegenwärtig durch drei Stiftung in Israel: eine Faktoren geprägt, die sich gegenseitig verstärken: die lang anhaltende Besatzung der Palästinensergebiete bei gleich- zeitiger völkerrechtswidriger Ausweitung der jüdischen dreifache Funktion Siedlungen in den besetzten Gebieten, die zur systemati- schen Entrechtung der dort lebenden Palästinenser*innen Ausgehend vom Selbstverständnis der Rosa-Luxemburg- führt; eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Stiftung, Diskussionsforum für kritisches Denken und po- die Erosion des Wohlfahrtsstaats und die Vertiefung so- litische Alternativen sowie eine Forschungsstätte für eine zialer Disparitäten zur Folge hat; sowie ein schleichender progressive Gesellschaftsentwicklung im Sinne eines de- Prozess der Entdemokratisierung, bei dem demokrati- mokratischen Sozialismus zu sein, arbeitet das Israel-Büro sche Grundwerte infrage gestellt, Bürgerrechte abgebaut der Rosa-Luxemburg-Stiftung entlang dreier Arbeitssträn- und dadurch inhärente Widersprüche, insbesondere zwi- ge, die unserer Aufgabe als Verbindungsbüro der Stiftung schen jüdischer Bevölkerungsmehrheit und arabisch-pa- entsprechen: partnerschaftliche Kooperation mit progressi- lästinensischer Minderheit, verstärkt werden. Folglich ist ven Akteuren vor Ort, die für eine solidarische Gesellschaft ein rechtsnationalistischer Diskurs, mit der Siedlerbewe- und für internationale Solidarität und Frieden kämpfen; die gung als stärkster Lobby des Landes an der Spitze, hege- Vernetzung lokaler Kräfte und Kämpfe mit ihren Entspre- monial geworden, während sich die progressiven Kräfte chungen in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt in einer aussichtlos erscheinenden Defensive befnden. im Sinne eines solidarischen Internationalismus; schließ- Kernpunkt unserer Arbeit ist deshalb die partnerschaft- lich möchten wir eine Plattform für Information, Analyse liche Kooperation mit israelischen Initiativen, zivilgesell- und Debatte sein, um die progressiven Stimmen aus Is- schaftlichen und Graswurzelorganisationen, gewerk- rael im Ausland und die anderen aus dem Ausland in Is- schaftsnahen, akademischen und Kulturinstitutionen, die rael hörbar zu machen. sich für die politische Inklusion aller gesellschaftlichen,

110 ethnischen oder nationalen Gruppen, für solidarische so- Rahmenbedingungen zu durchdringen versucht. Daher ist zioökonomische Verhältnisse sowie für eine gerechte Lö- eine aktive und kritische Öffentlichkeitsarbeit eine der zen- sung des israelisch-palästinensischen Konfikts und ein tralen Aufgaben der Rosa-Luxemburg-Stiftung. besseres Verständnis für die unmittelbaren Nachbarn Is- Das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist einer- raels eintreten und Alternativen gegen rassistische, sexis- seits darum bemüht, unterschiedliche Stimmen des kri- tische und militaristische Strukturen entwickeln. tischen Israels hörbar zu machen: durch eine hierfür ei- Dabei schließt unsere Unterstützung das Bewusstsein gens eingerichtete Webseite und durch Veranstaltungen um die ambivalenten Folgen unserer Intervention ein. Aus und Begegnungen. Damit soll eine nicht israelische Öf- diesem Grund importieren wir keine Projekte, sondern för- fentlichkeit die Gelegenheit bekommen, Innansichten hie- dern lokale Strukturen und Initiativen. Im Geiste dieses ko- siger Verhältnisse und Kämpfe zu erhalten und lokale Ak- operativen Ansatzes lassen wir etwa unseren Partnern vor teure kennenzulernen. Ort auch das Initiativrecht, wenn es um die Nutzung unse- Andrerseits unterstützen wir lokale Plattformen und Ak- rer Räumlichkeiten geht: Diese stehen einer breiten linken teure – Medien, Institutionen und Organisationen – dabei, Öffentlichkeit zur Verfügung, und Hunderte von Menschen hiesigen Öffentlichkeiten Stimmen aus dem Ausland zu- nehmen monatlich an verschiedenen Veranstaltungen teil, gänglich zu machen, die von einem menschenwürdigen deren Spektrum von öffentlichen Veranstaltungen linker Leben, überall gültigen Bürger- und Menschenrechten, so- Graswurzelorganisationen über interne Versammlungen zialer Verantwortung und institutionalisierten Gemeingü- progressiver Nichtregierungsorganisationen, Beratungen tern, die für alle da sind, im Sinne einer transnationalen für sich selbst organisierende Gefüchtete aus der Subsa- Gegenöffentlichkeit sprechen. hara und Workshops für russische Blogger bis hin zu Buch- vorstellungen und Filmvorführungen reicht.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Vernetzung lokaler Kräfte und Kämpfe mit ihren Entsprechungen in Deutschland, Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine der sechs in Europa und in der ganzen Welt im Sinne parteinahen politischen Stiftungen in der Bundes- republik Deutschland. Vorrangige Aufgabe der Stif- eines solidarischen Internationalismus tung ist die politische Bildung. Sie steht der Par- Als Teil eines sich internationalistisch verstehenden Netz- tei DIE LINKE nahe. Seit 1990 wirkt die Stiftung werks sind wir bestrebt, Räume für Dialog und Kooperation im Sinne ihrer Namensgeberin Rosa Luxemburg zu öffnen, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen und vertritt dabei die gesellschaftliche Grundströ- basieren. Wir verstehen den Austausch über progressi- mung eines demokratischen Sozialismus, der kon- ve Politik und Strategien als eine Chance, voneinander zu sequent international ausgerichtet ist. Die Stiftung lernen und gemeinsam eine solidarische Zukunft zu ge- sieht sich einer radikalen Aufklärung und Gesell- stalten. Deshalb legt die Rosa-Luxemburg-Stiftung beson- schaftskritik verpfichtet und steht in der Traditi- deren Wert darauf, lokale Akteure mit gleichgesinnten Ak- on der Arbeiter- und der Frauenbewegung sowie teuren aus Deutschland, Europa und der ganzen Welt zu des Antifaschismus und Antirassismus. Die Rosa- vernetzen. Luxemburg-Stiftung fördert mit ihrer Arbeit eine Besonderer Schwerpunkt hierbei sind die deutsch-israe- kritische Gesellschaftsanalyse sowie die Vernet- lischen Beziehungen, über denen der dunkle Schatten der zung von emanzipatorischen politischen, sozia- Schoah liegt und denen folglich ein besonderer und kom- len und kulturellen Initiativen. Sie agiert internatio- plexer Charakter innewohnt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung nal im Feld der Entwicklungszusammenarbeit und setzt sich entschieden gegen jede Erscheinungsform des tritt hier für einen gleichberechtigten Dialog zwi- Antisemitismus ein und ist dem Erbe Rosa Luxemburgs schen Nord und Süd ein. In ihren Bestrebungen, verpfichtet, einer Jüdin, die zeitlebens Ziel antisemitischer das klassische Konzept der politischen Bildungsar- Angriffe war. Das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung beit weiterzuentwickeln, liegt ein Hauptaugenmerk unterstützt die Begegnung und den Dialog zwischen isra- der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf der kritischen Ge- elischen und deutschen Expert*innen, Akademiker*innen, sellschaftsanalyse. Ausgehend davon, dass gesell- Aktivist*innen und Politiker*innen sowie einem allgemein schaftliche Veränderung die refektierende Ausein- interessierten Publikum mit Nachdruck. andersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft der Gegenwart als Ganzes voraussetzt, ist die Stif- tung bestrebt, Gegenentwürfe und Ansätze für um- Plattform für Information, fassende Transformationsprozesse zu entwickeln, Analyse und Debatte die eine solidarische und gerechte Gesellschaft er- möglichen. Bildung und Weiterbildung im Bereich Krieg, Gewalt, ungerechte soziale und wirtschaftliche sozialistisch-demokratischer Politik, Analyse, Infor- Verhältnisse fallen nicht vom Himmel, sondern haben mation und Politikberatung sind somit die grundle- ihre Ursache in Ausbeutungs- und Herrschaftsverhält- genden Aufgaben der Stiftung, die sie regional, na- nissen. Doch eine bessere Welt ist möglich. Sie bedarf tional und international verfolgt und umsetzt. allerdings einer kritischen Öffentlichkeit, die eben diese

111 Unsere Partner vor Ort: eine Auswahl Amram Amram wurde vor wenigen Jahren von Kindern und En- keln vornehmlich jemenitischer Jüdinnen und Juden ge- gründet, um eine der schmerzhaftesten Skandale in der is- raelischen Geschichte aufzudecken. Dabei handelt es sich um das Verschwinden Tausender Kleinkinder vornehmlich jemenitischer Abstammung aus staatlichen Gesundheits- institutionen in den 1950er Jahren. [Vgl. hierzu Naama, Ka- tiee: Der Skandal um die verschwundenen Kinder, unter: www.rosalux.org.il/verschwundene-kinder/] „Anerkennung, Gerechtigkeit, Heilung“ – Protest für die Jahrzehntelang wurde dieser Skandal geleugnet, und dieje- Aufklärung der Affäre um die verschwundenen jemenitischen nigen, die eine Aufklärung forderten, wurden öffentlich ver- Kinder, Jerusalem, 2017. Foto: Activestills unglimpft und lächerlich gemacht. Amrams Recherchen und Veröffentlichungen haben zusammen mit ihrem On- line-Archiv, in dem Hunderte von Aussagen von Familien und anderen Zeug*innen präsentiert werden, den öffent- lichen Diskurs grundlegend verändert. Die Darstellungen staatlicher Behörden wurden infrage gestellt, das politi- sche Interesse des Establishments an einer Geheimhal- tung der damaligen Ereignisse aufgedeckt. Diese Affäre ist wissenschaftlich bislang so gut wie gar nicht aufgearbeitet, weil wenig schriftliches Material hier- zu zugänglich war. Zudem wurden die Familien lange Zeit nicht nur beschuldigt, selbst für das Verschwinden ihrer Kinder verantwortlich zu sein, sondern auch noch als un- glaubwürdige Zeug*innen abgetan. Amram nutzt hingegen den Ansatz der Oral History, um die bestehenden Wissens- lücken zu füllen, das heißt, die Organisation dokumentiert die zahlreichen mündlichen Aussagen der Betroffenen und behandelt sie als glaubwürdige Beweise des Geschehenen. Außerdem ist es Amram gelungen, die Forderung nach „Anerkennung, Gerechtigkeit, Heilung“ – Protest für die Aufklärung der Affäre um die verschwundenen jemenitischen Öffnung bislang geschlossener Archive zumindest teil- Kinder, Jerusalem, 2017. Foto: Activestills weise durchzusetzen. Amrams Ziel ist es, den Staat dazu zu bringen, die Affäre restlos aufzuklären, das begange- ne Unrecht offziell anzuerkennen sowie die Familien der entführten Kinder zu entschädigen.

Webseite: www.edut-amram.org/en/.

Die Garten-Bibliothek Die Garten-Bibliothek wurde 2009 gegründet, basierend auf der Überzeugung, dass der Zugang zu Kultur und Bil- dung ein grundlegendes Menschenrecht ist. In Kultur und Bildung sehen die Organisator*innen eine Möglichkeit, Un- terschiede zwischen Gemeinschaften und Individuen zu überwinden und anhaltenden sozialen Wandel herbeizu- führen. Die Garten-Bibliothek ist in Süd-Tel Aviv tätig. Ihr Gartenfest der „Garden Library“ im Levinsky-Park, Tel Aviv, 2012. Ziel ist es, insbesondere Angehörige von migrantischen Foto: Activestills

112 Communities in diesem Teil der Stadt zu ermächtigen, sich kollektiv zu organisieren und für ihre Rechte einzustehen. Das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel unter- stützt vor allem die folgenden zwei Projekte: erstens das Community Education Center, initiiert von Migrant*innen und Gefüchteten, das als soziales Zentrum und Treffpunkt für politische Initiativen dient und zudem selbstorgani- sierte Abendkurse anbietet. Zweitens das Kinderrechts- forum in Süd-Tel Aviv, in dem Pädagog*innen und Eltern zusammenarbeiten, um gegenüber der kommunale Poli- tik die Interessen der Kinder von eingewanderten Famili- en zu vertreten. Eine der wichtigsten Kampagnen des Fo- rums richtet sich gegen die Praxis der Schulsegregation in Tel Aviv. Sie fordert, dass Kinder von Gefüchteten und nicht-jüdischen Migrant*innen nicht, wie zurzeit üblich, ge- trennt von gleichaltrigen Israelis zur Schule gehen sollen.

Webseite: http://thegardenlibrary.org/. Protest gegen die Segregation von Kindern von Gefüchteten in Kindergärten und Schulen, Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills Kav LaOved – Workers Hotline Kav LaOved ist eine Organisation, die sich der Verteidi- gung von Arbeitnehmerrechten verschrieben hat sowie der Durchsetzung des israelischen Arbeitsgesetzes, das alle Arbeitnehmer*innen im Land beschützen soll, unab- hängig von ihrer Nationalität, Religion, ihrem Geschlecht und rechtlichen Status. Kav LaOved zielt auf die am meis- ten benachteiligten Arbeiter*innen in Israel ab, sprich auf Geringverdiener*innen und prekär Beschäftigte, in Isra- el arbeitende Palästinenser*innen aus den besetzten Ge- bieten, jüdische und nicht-jüdische Migrant*innen und Gefüchtete. 2019 unterstützte die Organisation über 50.000 Thailändische Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit, Sde Nitzan, Israel, 2013. Foto: Activestills Arbeitnehmer*innen dabei, ihre Rechte einzufordern, und konnte für sie insgesamt circa zehn Millionen Euro, die ihnen gesetzlich zustanden, aber vom Arbeitgeber oder den Behörden vorenthalten worden waren, erfolgreich einfordern. Kav LaOved kämpft gegen Missbrauch und Ausbeu- tung von Arbeiter*innen sowie für faire Beschäftigungs- bedingungen. Sie bietet persönliche Beratung an und nutzt die in dieser alltäglichen Arbeit gewonnenen Infor- mationen über allgemein grassierende Verletzungen von Arbeitnehmer*rechten für die Öffentlichkeitsarbeit und po- litische Interessenvertretung.

Webseite: www.kavlaoved.org.il/en.

Palästinensische Arbeiter*innen auf dem Weg zur Arbeit in Israel, Bethlehem Checkpoint, Westbank, 2017. Foto: Activestills Liga Liga ist eine selbstorganisierte Gruppe von Aktivistin- nen, deren Anliegen es ist, Diskussionen über feministi- sche Theorie und Prinzipien wie gesellschaftliche Inklusi- on, Gleichstellung und sozioökonomische Gerechtigkeit insbesondere unter russischsprachigen Frauen in Isra- el zu stärken. Ausgehend von den jeweiligen Interes- sen und Arbeitsschwerpunkten der Aktivistinnen befasst sich Liga mit Themen wie Wirtschaftspolitik in Israel aus genderpolitischer Perspektive, LGBT-Rechte, Frauenge- sundheit, das Verhältnis Frauen, Staat und Religion, Wi- derstand gegen die Besatzung sowie „Geschlecht und Psychologie“. Die Liga-Mitglieder haben vielfältige Erfah- rungen mit der Durchführung von Workshops und Lesun- gen sowie verschiedenen Formen der Öffentlichkeitsar- beit, zudem sind sie eng mit anderen feministischen und Russische Immigrant*innen werden in Empfang genommen, sozialen Aktivist*innen in Israel und russischsprachigen Ben-Gurion-Flughafen, 2000. Foto: GPO Feminist*innen auf der ganzen Welt vernetzt. Liga will russischsprachigen Frauen in Israel eine Stim- me verleihen, den Status dieser Frauen in Israel verbes- sern und solidarisch mit anderen marginalisierten Grup- pen im Land zusammenarbeiten. Liga ist überzeugt davon, dass die Auseinandersetzung mit Konzepten wie Gleich- berechtigung, Inklusion sowie sozioökonomische und Ge- schlechtergerechtigkeit nur dann fruchten kann, wenn die- se mit dem Gespräch über die vielen Alltagsprobleme von Frauen verknüpft wird.

Webseite: https://ligafem.org/.

Die Pistole auf

Demonstration für die Opfer von Gewalt und gegen organisierte dem Küchentisch Kriminalität in der palästinensischen Gesellschaft, Nazareth, 2019. Foto: Activestills „Die Pistole auf dem Küchentisch“ ist eine 2010 gegründe- te Koalition von Isha L’Isha – Feministisches Zentrum Haifa, die gegen die bedrohliche Omnipräsenz von legalen und il- legalen Kleinfeuerwaffen in den Händen von Zivilist*innen in Israel kämpft. Die Graswurzelkoalition arbeitet daran, die Präsenz von Schusswaffen auf ein Minimum zu re- duzieren und den Besitz von Kleinwaffen einer strengen Kontrolle zu unterwerfen. Entgegen der vorherrschenden Wahrnehmung der Öffentlichkeit in Israel, Schusswaffen seien „nur für unsere Verteidigung da“, entwickeln und fördern sie ein Bewusstsein für den immensen Schaden, der mit der großen Verbreitung von Schusswaffen ein- hergeht. Der Kampf gegen die Normalisierung der Prä- senz „zugelassener“ Schusswaffen im zivilen Raum er- fordert Aktionen auf verschiedenen Ebenen: Dazu zählen das Sammeln, Aufzeichnen und Verbreiten von Informati- onen über Schusswaffenopfer, die Sensibilisierung für die Gefahren der weiten Verbreitung von Schusswaffen sowie parlamentarische Lobbyarbeit für Gesetzänderungen, die Hunderte rot angemalte Schuhe als Protestaktion gegen sexuali- ihre Zahl reduzieren könnten. Der Arbeit der Koalition liegt sierte Gewalt gegen Frauen, Tel Aviv, 2018. Foto: Activestills

114 eine feministische Analyse der Effekte der Militarisierung für die individuelle als auch die kollektive Sicherheit, ins- besondere für Frauen und Familienstrukturen, zugrunde.

Webseite: http://isha2isha.com/aboutgunfreekitchentables/.

Verband Äthiopischer Juden Der 1993 gegründete Verband Äthiopischer Juden (AEJ) ist Israels erste Organisation, die von Menschen gegrün- det und geleitet wird, die selbst oder deren Familien aus Äthiopien in das Land eingewandert sind. Er tritt für sozi- Protest und Wut auf den Straßen Israels wegen dem Tod Solomon alen Wandel ein und geht mit verschiedenen öffentlichen Teka, einem jungen äthiopischen Juden, der von einem Polizisten Kampagnen gegen Rassismus und Diskriminierung vor, ermordet wurde, Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills unter denen Äthiopier*innen in Israel zu leiden haben. Der Verband arbeitet auf verschiedenen Ebenen: Forschung und Publikationen, Förderung von gesellschaftlichem En- gagement innerhalb der eigenen Community, Öffentlich- keitsarbeit sowie Kooperationen mit anderen marginali- sierten Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen. AEJ ist die einzige äthiopisch-israelische Organisation, die auf staatliche Finanzierung verzichtet, um sich die Freiheit zu erhalten, die staatliche Politik offen kritisieren zu können. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung und AEJ arbeiten zum Thema Polizeigewalt und Rassismus – gegenüber Angehö- rigen der äthiopischen Community, aber auch als gesamt- gesellschaftliche Phänomene – zusammen. Recherchen des AEJ zeigen, dass die Polizei alarmierend häufg gegen junge äthiopische Männer ermittelt und diese schikaniert. Der Verband versucht, gegen Polizeigewalt und Rassismus vorzugehen, indem es zum Beispiel über den Einsatz von „Racial Profling“ informiert und dessen Abschaffung for- dert. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die politische Bil- Proteste gegen die Ermordung von Solomon Teka,Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills dung für äthiopisch-stämmige Jugendliche, den eigentli- chen Leidtragenden der aktuellen Diskriminierung.

Webseite: https://www.iaej.co.il/language/en/ association-of-ethiopian-/.

„Wir haben nicht Alija gemacht, um ermordet zu werden“, Solomon Tekas Eltern, Haifa, 2019. Foto: Activestills

115 Ben-Gurion, David Ägypten und im Norden sowie Osten an Israel. Der Gazastreifen und die Westbank Glossar 1886–1973 sind die Gebiete des historischen Palästi- Der in Polen geborene Ben-Gurion gilt nas, die im Krieg von 1948 nicht Teil des A-, B-, C-Zonen gemeinhin als der Gründungsvater Israels. neu gegründeten Staates Israel wurden. Er war Mitglied der zionistischen Bewe- Nach 1948 befand sich der Gazastreifen, in Bezeichnung von Zonen der Westbank gung und einer der Gründer und Vorsitzen- den sich viele palästinensische Flüchtlinge (ohne das von Israel annektierte Gebiet von der der Histadrut (1920–1935) und der gerettet hatten, unter ägyptischer Kontrolle. Ost-Jerusalem und Umgebung) im Rah- Mapai/Arbeiterpartei (gegründet 1930). Während des Krieges von 1956 eroberte men des Oslo-Abkommens (Oslo II, Taba 1935 wurde er Vorsitzender der Jewish die israelische Armee den Gazastreifen (und 1995), das als Übergangsregelung bis zu Agency sowie in 1946 amtierender Präsi- die Sinai-Halbinsel), musste allerdings auf- einem endgültigen Friedensabkommen dent der Zionistischen Weltorganisation grund des internationalen Drucks wieder gelten sollte. Die Übergangsregelung ist und somit de facto Oberhaupt des Jischuw abziehen. Im Krieg von 1967 eroberte Israel noch heute in Kraft. Defnition der Zonen: (die jüdische Bevölkerung in Palästina den Gazastreifen erneut. Im Zuge der vor der israelischen Staatsgründung). Er Oslo-Abkommen wurde die Verwaltung • Zone A: (ca. 18 Prozent der Fläche der des Gazastreifens (mit Ausnahme der Westbank, ohne das von Israel annektierte rief im Mai 1948 den Staat Israel aus und wurde dessen erster Premierminister. bis zu deren Aufgabe in 2005 bestehenden Gebiet von Ost-Jerusalem und Umgebung; israelischen Siedlungen und Armeelager) vor allem die Kernbereiche von palästinen- Mit einer Unterbrechung (1954–1956) blieb er bis 1963 im Amt. 1994 der palästinensischen Autonomiebe- sischen Städten und Dörfern) steht (weit- hörde übergeben. Doch Israel kontrolliert gehend) unter palästinensischer Zivil- und bis heute den Luftraum und die Küsten- Sicherheitsverwaltung. Nach israelischem B’Tselem gewässer sowie die Grenzübergänge zu Recht dürfen israelische Staatsbürger- hebräisch für: nach Israel. Nach der Machtübernahme durch *innen diese nicht betreten. die Hamas 2007 verschärfte Israel (in Zusam- • Zone B: (ca. 22 Prozent) steht (weit- dem Ebenbild (Gottes) menarbeit mit Ägypten) eine Reihe von auferlegten Sanktionen und begann eine gehend) unter palästinensischer Zivilver- eine 1989 gegründete israelische Nicht- bis heute andauernde Abriegelung des Gaza- waltung und gemeinsamer israelisch- regierungsorganisation, die es sich zur streifens, die den Zu- und Ausgang von palästinensischer Sicherheitsverwaltung. Aufgabe gemacht hat, Menschenrechts- Waren und Personen stark beschränkt und verletzungen in den seit 1967 von Israel • Zone C: (ca. 60 Prozent; vor allem freie zu großer Not unter der Bevölkerung ge- besetzten Gebieten zu dokumentieren Flächen und große Teile der landwirtschaft- führt hat. Seit der vollständigen Abriegelung und die Öffentlichkeit über diese zu lich genutzten Flächen sowie alle jüdischen kam es zu mehreren bewaffneten Ausein- informieren (siehe: www.btselem.org/). Siedlungen) steht unter israelischer Zivil- andersetzungen zwischen der israelischen und Sicherheitsverwaltung. Die völlige isra- Armee und Bewohner*innen des Gaza- elische Kontrolle der C-Gebiete führt dazu, Chadasch/Al-Dschabha streifens mit Tausenden von Toten, zum dass die Gebiete unter palästinensischer großen Teil palästinensische Zivilist*innen, Verwaltung geografsch nicht zusammen- Die Demokratische Front für Frieden und und enormen Zerstörungen im hängen, sondern aus dicht gedrängten Gleichheit (Chadasch ist das Akronym Gazastreifen. Enklaven (Zonen A und B) bestehen, so- des hebräischen Namens, außerdem das dass eine nachhaltige Entwicklung nicht hebräische Wort für neu; al-Dschabha möglich ist. bedeutet auf Arabisch die Front) wurde Gemeinsame Liste 1977 von der Kommunistischen Partei Name der gemeinsamen Wahlliste von Israels (KPI), die in ihr nach wie vor eine Chadasch/al-Dschabha, Balad/al-Tadscha- Arabisch-palästinensische zentrale Rolle spielt, als Bündnis links- mu’, der Vereinigten Arabischen Liste gerichteter Kräfte gegründet. Als solche Minderheit in Israel (angeführt vom moderaten südlichen Flügel beteiligt sie sich an Wahlen. Ihr Slogan der Islamischen Bewegung) und Ta’al, Die nach dem Krieg von 1948 auf dem ist „Frieden und Gleichheit“. Sie steht für die erstmals zu den Knesset-Wahlen 2015 Territorium des neu gegründeten Staates einen Rückzug Israels aus allen seit 1967 antrat. Die Gemeinsame Liste gewann Israel verbliebenen Palästinenser*innen besetzen Gebieten und für eine Zweistaa- damals 13 Mandate und wurde damit dritt- (ca. 150.000 Menschen) erhielten die isra- tenlösung, für die Gleichstellung der Paläs- größte Fraktion in der Knesset. Sie reprä- elische Staatsbürgerschaft. Sie wurden tinenser*innen in Israel und deren Aner- sentiert die absolute Mehrheit der palästi- jedoch von 1948 bis 1966 einer Militärre- kennung als nationale Minderheit sowie für nensischen Minderheit in Israel, ist zugleich gierung unterstellt, wodurch ihre Menschen- die Rechte der arbeitenden Bevölkerung. Heimat linker, anti- und nichtzionistischer und Bürgerrechte stark eingeschränkt Chadasch/al-Dschabha wird mehrheitlich Jüdinnen und Juden, die vor allem an Cha- wurden. Auch nach der formellen Aufhe- von palästinensischen Israelis gewählt, dasch/al-Dschabha angebunden sind. bung der Militärregierung blieben Diskri- doch sie legt großen Wert darauf, ein jüdisch- Gleichzeitig ist ihr Programm auf das ge- minierung und fehlende staatsbürgerliche palästinensisches Bündnis zu sein. Sie ist samte israelische Gemeinwesen ausge- Gleichheit ein zentrales Problem dieser die politische Heimat von Tausenden jüdi- richtet, wobei die Forderung nach Been- Minderheit, der gegenwärtig fast 1,7 Mil- schen Wähler*innen, vor allem radikalen, dung der Besatzung aller seit 1967 besetz- lionen Menschen angehören und die damit anti- und nichtzionistischen Linken. Sie war ten Gebiete sowie der Kampf um soziale etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Regel mit drei bis fünf Sitzen (von Gerechtigkeit und Arbeiterrechte die ausmacht. insgesamt 120) in der Knesset vertreten. Zur- Hauptpfeiler sind. zeit hat sie sich mit anderen Parteien zur Aschkenasim Gemeinsamen Liste zusammengeschlossen. Die Grüne Linie Aschkenasim oder aschkenasische Juden ist im israelischen Kontext die Bezeich- Die in den Waffenstillstandsabkommen am nung für aus Europa stammende jüdische Gazastreifen Ende des Krieges von 1948 (1947–1949) vereinbarten Demarkationslinien wurden zu Menschen. Mit rund 360 Quadratkilometern und Israels international anerkannten Grenzen. einer Bevölkerung von fast 1,9 Millionen Infolge des Krieges von 1967 besetzte Israel Palästinenser*innen ist der Gazastreifen Gebiete über diese Grenzen hinaus. Die eines der am dichtesten besiedelten Ge- Grüne Linie bezeichnet jene international an- biete der Welt. Er befndet sich an der erkannte Grenze, die Israel selbst und Mittelmeerküste und grenzt im Süden an die besetzten Gebiete voneinander trennt.

116 Aufgrund der Regierungspolitik, die die Seite gefördert wurde. Die einst quietis- Prozent), wobei nur H1 geräumt wurde. Grüne Linie aus Landkarten und Schulbü- tische Hamas, die sich vor allem der Die palästinensische Bevölkerung in H2 ist chern löschen lässt, und wegen des Zu- Islamisierung der palästinensischen Gesell- seitdem in ihrer Bewegungsfreiheit extrem zugs von immer mehr jüdischen Siedler- schaft widmete, verwandelte sich zuneh- eingeschränkt (so ist Palästinenser*innen *innen in die besetzten Gebiete verschwin- mend in einen Gegenspieler Israels und der etwa das Betreten der zentralen Schuhada- det die Grüne Linie zunehmend aus dem PLO, unter anderem dadurch, dass sie sich Straße verboten), Hunderte Geschäfte israelischen kollektiven Bewusstsein. dafür aussprach, die besetzten Palästinen- mussten schließen. Folglich schrumpft die sergebiete, falls erforderlich, auch mit palästinensische Bevölkerung in H2 Gewalt zu befreien. Die Hamas erkennt den beträchtlich. Gusch Emunim Staat Israel nicht an, ist aber zu einem (Hebräisch für: Der Block der Gläubigen) Waffenstillstand bereit, falls sich Israel aus Histadrut 1974 gegründet, verstand sich als reli- den 1967 besetzten Gebieten zurückzieht. giös-zionistische Erneuerungsbewegung, 2006 beteiligte sich die Hamas an den Hebräisch für: Organisation die die Gründung Israels als Teil eines Wahlen der palästinensischen Autonomie- Der Dachverband, in dem die meisten messianischen Erlösungsprozesses sah, zu behörde und gewann mit 44 Prozent der Gewerkschaften Israels organisiert sind, dem auch die Inbesitznahme von ganz Stimmen die Mehrheit der Sitze, was ihr wurde 1920 gegründet und war ein Haupt- Eretz Israel gehörte. Die vielleicht einfuss- die Regierungsbildung erlaubte. Aufgrund pfeiler der zionistisch-sozialistischen reichste außerparlamentarische Bewegung des von den USA und der EU ausgeübten Bewegung und der auf Staatsgründung seit Gründung des Staates forderte und Drucks ging die Hamas eine Große ausgerichteten Strukturen vor 1948. Die förderte die Errichtung jüdischer Siedlun- Koalition mit der Fatah ein. Diese Regie- Histadrut wurde zu einer der mächtigsten gen in den 1967 besetzten palästinensi- rung wurde aber von den USA und von der Organisationen in Israel, die nicht nur schen Gebieten. Aus seinen Reihen ging EU fnanziell nicht unterstützt, was gewerkschaftliche Aufgaben wahrnahm eine Terrorgruppe („Jüdischer Untergrund“) zusammen mit Spannungen hinsichtlich (mehr als 80 Prozent der Arbeitnehmer- hervor, deren Aktivitäten (1979–1984) der Kontrolle der Sicherheitsbehörden zu *innen wurden von ihr vertreten), sondern primär aus Versuchen, den Felsendom zu offenen Kampfhandlungen zwischen den auch einige der größten Konzerne, die sprengen, und aus Terrorangriffen auf Koalitionspartnern führte. Seitdem sind die größte Bank, die meisten Pensionsfonds Palästinenser*innen in den besetzten Gebie- Palästinen sergebiete zweigeteilt: Die und die größte Organisation im Gesund- ten bestanden. Gusch Emunim löste sich Hamas regiert den Gazastreifen, die Fatah heitswesen („Krankenkasse“) besaß. Im Ende der 1980er Jahre auf, als sich pro- die Enklaven in der Westbank, anstehende Zuge der neoliberalen Wirtschaftspolitik, minente Mitglieder zunehmend in etablier- Wahlen fnden nicht statt. Weder die EU die seit den 1980er Jahren von der Regie- ten rechten Parteien und staatlichen noch die USA unterhalten diplomatischen rung verfolgt wird, wurde die Histadrut Institutionen sowie in den Jescha-Rat Kontakt zur Hamas, da sie als Terrororgani- auf ihre gewerkschaftliche Tätigkeit be- integrierten. Die 1976 errichtete Unterabtei- sation eingestuft wird. schränkt. Auch in dem Bereich ging lung Amana (deutsch: Pakt), die sich um ihr Einfuss stark zurück, insbesondere den praktischen Teil des Siedlungsbaus „hebräische Arbeit“ aufgrund des rapide gesunkenen gewerk- kümmert, verselbstständigte sich und schaftlichen Organisierungsgrads. Seit fördert heute Bauprojekte in den besetzten Hebräisch: awoda ivrit 1995 heißt der Dachverband offziell Neue Gebieten und in Israel selbst (in Gebieten Damit ist die seit Anfang des 20. Jahrhun- Histadrut. mit mehrheitlich palästinensischer derts innerhalb der zionistischen Arbeiter- Bevölkerung). bewegung in Palästina erhobene Forderung gemeint, nur jüdische Arbeiter*innen (und Intifada HaBajit HaJehudi keine arabischen) anzustellen. Erste Hebräisch für: das Intifada (arabisch für abschütteln) bezeich- Jüdische Haus Hebron net den Aufstand der palästinensischen Arabisch: al-chalil Bevölkerung in der Westbank (einschließ- 2008 gegründet, ist die Partei in gewisser lich Ost-Jerusalem) und im Gazastreifen Weise die Nachfolgerin der orthodox-religi- Stadt in der Westbank, in der heute mehr gegen die israelische Besatzung. Die Erste ösen, bürgerlich-zentristischen National- als 200.000 Palästinenser*innen und um Intifada begann im Dezember 1987 und religiösen Partei (Mafdal), die bis 1977 Teil die 1.000 israelische Siedler*innen leben. dauerte in unterschiedlicher Intensität bis der von der Arbeitspartei geführten Regie- Hebron ist für Jüdinnen und Juden eine zur Unterzeichnung der Oslo-Verträge 1993. rungskoalitionen war. Später beteiligte sich heilige Stadt, die jüdischen Gemeinden vor Sie war ein spontaner Volksaufstand, der Mafdal wiederholt an verschiedenen, nun Ort haben eine lange Geschichte. Steigen- nicht durch die im Exil befndliche PLO Likud-geführten Regierungskoalitionen, de Spannungen zwischen der indigenen orchestriert wurde. Die Mittel des Aufstands allerdings verstand sie sich zunehmend als arabischen Bevölkerung und der zionisti- reichten von zivilem Ungehorsam (Streiks, religiös-zionistische Erneuerungsbewe- schen Bewegung mündeten 1929 in Graffti) über Steinewerfen (daher die gung, die die Gründung Israels als Teil ein Massaker an den jüdischen Bewohner- Bezeichnung Intifada der Steine), vor allem eines messianischen Erlösungsprozesses *innen von Hebron, die dann 1936 von durch Kinder und Jugendliche, bis zum sieht, zu dem auch die Inbesitznahme von der britischen Mandatsregierung gezwun- Einsatz von Molotowcocktails. Bei dem Ver- ganz Eretz Israel gehört. HaBajit HaJehudi gen wurden, die Stadt zu verlassen. such, die Intifada mit Gewalt zu beenden, trat in den letzten Jahren zusammen mit Nach der Eroberung im Krieg von 1967 verletzte die israelische Armee Zehntausen- anderen radikal rechten Parteien in einer ließen sich radikale jüdische Siedler*innen de Kinder und Jugendliche und tötete gemeinsamen Wahlliste an, zuletzt unter im Stadtzentrum sowie in der 1970/71 über 1.000 Palästinenser*innen. Die israeli- dem Namen Nach rechts (Jamina). gegründeten Siedlung Kirjat Arba am Stadt- sche Seite beklagte zirka 100 tote Zivilist- rand nieder. Hebron wurde zum Zentrum *innen sowie 60 Armeeangehörige. Hamas gewaltbereiter Siedler*innen. 1994 verübte ein in Kirjat Arba lebender Siedler ein Intifada Hamas ist ein Akronym des arabischen Massaker an palästinensischen Betenden Namens der palästinensischen islamischen in der Ibrahimi-Moschee. Trotz des Oslo- Zweite Widerstandsbewegung, die, inspiriert II-Abkommens (1995) weigerte sich Israel, Die Zweite Intifada, auch Al-Aqsa-Intifada von den ägyptischen Muslimbrüdern, 1987 die Stadt zu räumen. Stattdessen wurde genannt, wurde im September 2000 durch gegründet und aufgrund ihrer Opposition die Stadt aufgrund des Hebron-Abkommens den provokativen Besuch Ariel Scharons zur PLO zunächst von israelischer staatlicher (1997) in zwei Zonen aufgeteilt: in H1 (ca. 80 Prozent des Stadtgebiets) und H2 (ca. 20 auf dem Tempelberg/al-Haram al-Scharif

117 und durch die gewaltsame Unterdrückung Verteidigungs liga), die vor allem durch ihre gewann die Wahlen 1977, womit die Mapai- palästinensischer Proteste dagegen aus- gewalttätigen Aktionen auf sich aufmerk- Vorherrschaft zu Ende ging. 1988 lösten gelöst. Anders als bei der Ersten Intifada sam machte, und 1971 in Israel die Partei sich die an der Wahlliste beteiligten Parteien wurde der Aufstand zunehmend von den Kach (deutsch: So [mit der Faust]), die bei auf und der Likud wurde als Partei neu palästinensischen Parteien orchestriert den Wahlen von 1984 einen Sitz in der konstituiert. Ihr derzeitiger Vorsitzender ist und mithilfe von Selbstmordattentäter- Knesset errang. Sie wurde aufgrund ihres Benjamin Netanjahu. *innen und Waffen geführt, auch innerhalb rassistischen Programms von den Wahlen Israels. Israel setzte im Gegenzug Panzer 1988 ausgeschlossen. Nach Kahanes und die Luftwaffe ein. Die Gewaltbereit- Ermordung 1990 in den USA spaltete sich Mapai schaft beider Seiten führte zu zahlreichen die Partei in Kach und Kahane Chai Akronym des hebräischen Namens: Arbeiter- Opfern, nach Schätzungen etwa 3.000 („Kahane lebt“). Beide wurden von den partei in dem Land Israel (Palästina). 1930 Palästinenser*innen und 1.000 Israelis. Die Wahlen 1992 ausgeschlossen und 1994 unter der Führung von David Ben-Gurion Zweite Intifada wurde 2005 offziell durch ganz verboten. gegründete Partei. Sie beherrschte die 1920 das in Scharm el-Scheikh geschlossene entstandene Gewerkschaftsdachorgani- Abkommen zwischen dem palästinensi- Knesset sation Histadrut und die jüdische paramili- schen Präsidenten Mahmoud Abbas und tärische Organisation Hagana (Verteidigung). dem israelischen Premierminister Ariel Hebräisch für: Versammlung Nach der Staatsgründung 1948 war sie Scharon beendet. fast 30 Jahre lang die größte Fraktion in der Die Knesset ist das Parlament des Staates Knesset, was ihr ermöglichte, die Regie- Israel, mit Sitz in Jerusalem. Ihr gehören rungskoalitionen (die immer auch religiöse „Judaisierung“ 120 Abgeordnete an, welche nach Verhält- Parteien einschlossen) zu bilden und die niswahlrecht mit einer Sperrklausel von Im israelischen hebräischen öffentlichen Regierungspolitik weitgehend zu bestim- 3,25 Prozent gewählt werden. Es können Diskurs verwendeter Begriff für die gezielte men. Mapai wurde 1968 aufgelöst, als die sich sowohl einzelne Parteien als auch bzw. geförderte Vergrößerung des jüdi- Arbeitspartei (HaAwoda) gegründet wurde. Listen zur Wahl stellen. Eine Legislaturpe- schen Bevölkerungsanteils in den Teilen Die Mapai nahm keine nicht-jüdischen riode dauert vier Jahre. des Landes, in denen mehrheitlich oder arabischen Menschen als Mitglieder auf. relativ viele nicht-jüdische Menschen leben. So wird zum Beispiel die Gründung Krieg von 1948 von über 20 neuen jüdischen Ortschaften Meretz in Galiläa in den Jahren 1979 bis 1980 Die offzielle israelische Bezeichnung für Hebräisch für: Kraft mitunter als die „Judaisierung von Galiläa“ diesen Krieg ist meist Unabhängigkeits- bezeichnet. krieg oder Befreiungskrieg, von Palästinenser- bzw. Energie *innen wird er als Nakba (arabisch für Wahlliste, zu der sich 1992 die Bürgerrechts- Katastrophe) bezeichnet. Der Krieg begann partei Ratz, die linkszionistische Mapam 1947 zwischen jüdischen und palästinen- Jüdischer Nationalfonds und die liberale Schinui zusammenschlos- sischen Milizen infolge des UNO-Teilungs- Eine 1901 auf dem 5. Zionistischen Kon- sen. Als solche hatten sie bei den Knesset- plans. Nach der Gründung des israelischen gress gegründete Organisation mit der Wahlen 1992 ihren größten Erfolg (damals Staates im Mai 1948 beteiligten sich Zielsetzung, Land für jüdische Besiedlung errangen sie 12 von 120 Mandaten). Bei der auch reguläre Militäreinheiten aus Ägypten, in Palästina zu erwerben und dieses zu Bildung der von Jitzchak Rabin geführten Syrien, dem Libanon, Jordanien und entwickeln. In den ersten Jahren nach der Regierungskoalition spielte sie eine Schlüssel- dem Irak. Der Krieg endete 1949 mit einem Staatsgründung 1948 übertrug der israe- rolle und ermöglichte somit später die Waffenstillstand. Die Waffenstillstands- lische Staat mehr als die Hälfte des enteig- Oslo-Abkommen. 1997 lösten sich die betei- linien wurden zu Israels international aner- neten Landes, das zuvor Palästinenser- ligten Parteien auf und Meretz konstitu- kannten Grenzen, die im Zusammenhang *innen gehört hatte, die nun als „Abwesen- ierte sich als eigenständige Partei. Meretz mit den 1967 besetzten Gebieten auch als de“ galten, an den jüdischen Nationalfonds. gilt als Hort des aus Europa stammenden Grüne Linie bezeichnet werden. Das hatte zur Folge, dass dieses Land jüdischen Bildungsbürgertums und war links- nur an jüdische Pächter*innen vergeben liberal bis sozialistisch geprägt. Meretz werden konnte. 1953 wurde die Organi- Krieg von 1967 war in den letzten beiden Jahrzehnten mit sation aufgelöst und als israelische Organi- drei bis sechs Sitzen (von 120) in der sation neu gegründet. 1960 wurde das Die offzielle israelische Bezeichnung für Knesset vertreten, mitunter in einer Wahl- Land der Organisation in die Verwaltung den vom 5. bis 10. Juni 1967 andauernden liste mit anderen Parteien. der neu errichteten Israel Land Admini- Krieg ist meist Sechstagekrieg, von arabi- stration (ILA) überführt, wofür die Organisa- scher Seite wird er mitunter als Naksa (ara- tion ein Mitspracherecht in der Behörde bisch für Rückschlag) bezeichnet. Er fand Militärregierung zwischen Israel auf der einen und Ägypten, erhielt und so sicherstellen konnte, dass die Nach der Staatsgründung 1948 erhielt die Jordanien und Syrien auf der anderen Nutzungsbeschränkungen (die Vergabe innerhalb Israels verbliebene palästinensi- Seite statt, wobei Israel die Sinai-Halbinsel, an ausschließlich jüdische Pächter*innen) sche Bevölkerung die israelische Staatsbür- die Golanhöhen, den Gazastreifen und beibehalten wurden. Neben Entwicklungs- gerschaft, wurde aber einer Militärregie- die Westbank (einschließlich Ost-Jerusa- projekten (etwa Aufforstung) fördert die rung unterstellt. In diesem Zusammenhang lem) eroberte. Nach der Unterzeichnung Organisation seit Mitte der 1960er Jahre wurden „Sperrzonen“ errichtet: in Ort- des israelisch-ägyptischen Friedensabkom- jüdische Siedlungsprojekte im Negev schaften und Stadtvierteln, in denen Palästi- mens 1979 räumte Israel den Sinai. Die (die oft ein Teil der Politik der Verdrängung nenser*innen wohnten, sowie in relativ Besatzung der anderen Gebiete besteht fort. der dortigen beduinischen, palästinensi- dünnbesiedelten Gebieten, insbesondere schen Bevölkerung sind) und seit 1967 auch im Negev. Palästinenser*innen, die außer- in den besetzten Gebieten. Likud halb dieser „Sperrzonen“ lebten, wurden Hebräisch für: Vereinigung in diese umgesiedelt. Die „Sperrzonen“ Kahanismus unterstanden der israelischen Armee und Entstand 1973 als gemeinsame Wahlliste wurden von der Militärregierung mittels Eine rechtsradikale jüdische Ideologie, be- der von Menachem Begin geführten Kriegsrecht, das zumeist auf den von der ruhend auf den Lehren des Rabbiners Cherut-Partei und einer Reihe von rechten britischen Mandatsregierung 1945 erlas- Meir Kahane (1932–1990). In den 1960er und liberalen Bewegungen und Parteien senen Verteidigungs- bzw. Notstandsver- Jahren gründete er in den USA die Jewish in Reaktion auf die gemeinsame Wahlliste ordnungen beruhte, verwaltet. Palästinen- Defence League (Jüdische von Arbeitspartei und Mapam. Der Likud sische Staatsbürger*innen durften die

118 ihnen zugeteilte „Sperrzone“ nur mit Son- salem-Gesetz, wonach Jerusalem „auf Quadratkilometer großes Gebiet, in dem dergenehmigung verlassen und auch ewig die vereinte und unteilbare Hauptstadt heute um die 2,8 Millionen andere zentrale Grundrechte, etwa das Israels“ ist. Die UN-Sicherheitsratsresolution Palästinenser*innen sowie über 600.000 Recht auf richterliche Anhörung und 478 erklärte das Gesetz nach internatio- israelische Siedler*innen leben. Im Norden, ein Gerichtsverfahren bei Inhaftierung, nalem Recht für nichtig. Die Oslo-Abkom- Westen und Süden grenzt die Westbank waren für sie aufgehoben. Die Militär- men verschärften die Notlage der paläs- (zu der auch Ost-Jerusalem gehört) an regierung endete formal 1966. tinensischen Bevölkerung Ost-Jerusalems. Israel und im Osten entlang des Jordan- Während der Druck durch den israeli- Flusses an Jordanien. Die Westbank und schen Siedlungsbau immer größer wurde, der Gazastreifen sind die Gebiete von Mizrachim erhalten Palästinenser*innen bis heute Palästina, die im Krieg von 1948 nicht Teil Hebräisch für: orientalisch so gut wie keine Baugenehmigungen, lei- des neu gegründeten Staates Israel den unter den extrem schlechten Infra- wurden. Nach dem Krieg Mizrachim ist die Bezeichnung für aus struktur- und Bildungseinrichtungen, der von 1948 stand die Westbank unter Asien und Afrika stammende jüdische mangelhaften Gesundheitsversorgung jordanischer Kontrolle und wurde 1950 Israelis, wobei die meisten von ihnen aus sowie anderen Formen der Diskriminierung. von Jordanien annektiert (was allerdings arabischen und muslimischen Ländern Mit den Oslo-Abkommen wurde der Per- international kaum anerkannt wurde). eingewandert sind. Die Bezeichnung Mizra- sonen- und Warenverkehr zwischen Ost- Im Krieg von 1967 eroberte Israel unter chim wird in Abgrenzung zu den aus Jerusalem und den übrigen Teilen der anderem auch die Westbank, deren Be- Europa stammenden Aschkenasim ver- Westbank noch weiter eingeschränkt. Die satzung bis heute fortbesteht. wendet. Oslo-Abkommen regeln den Status Ost- Jerusalems nicht. Von palästinensischer Zeev Jabotinsky Oslo-Abkommen Seite wird gefordert, dass Ost-Jerusa- lem die Hauptstadt des zu errichtenden 1880–1940 Zwei aufeinanderfolgende Abkommen palästinensischen Staates wird. zwischen der israelischen Regierung und In Odessa geboren, Sohn einer bürgerli- der PLO: Oslo I wurde 1993 in Washing - chen Familie; schloss sich der zionisti- ton unterzeichnet, Oslo II 1995 in Taba. Im Schas schen Bewegung an; gründete 1903 die Rahmen der Abkommen erkannte Israel Akronym des hebräischen Jüdische Selbstverteidigungsorganisation die PLO als Verhandlungspartner an und (in Russ- Teile der besetzten Palästinensergebiete Namens für: sephardische land); während des Ersten Weltkriegs (bis wurden einer begrenzten Selbstverwaltung, Tora-Wächter 1919) diente er in der britischen Armee der zu diesem Zweck geschaffenen Paläs- (und kam auch in Palästina zum Einsatz), tinensischen Autonomiebehörde, unterstellt. Eine 1984 gegründete ultraorthodoxe Partei, wo er sich an den Bemühungen um Zentrale Fragen sollten in späteren Ver- die sich von der von Aschkenasim domi- die Errichtung einer Jüdischen Legion handlungen geklärt werden, darunter der nierten ultraorthodoxen Partei abgespalten beteiligte; danach beschäftigte er sich Grenzverlauf zwischen Israel und dem hatte. Ihre Wähler*innen sind vor allem u. a. mit der Ausbildung einer jüdischen palästinensischen Gemeinwesen (dessen Mizrachim. Ihr geistiger Führer war der Rab- paramilitärischen Organisation in Paläs- Status noch zu defnieren ist), die Zu - biner Ovadja Josef (1920–2013). Sie tina. 1925 kam es zur Spaltung in der kunft der israelischen Siedlungen in den erreichte bei den Wahlen 1999 ihren größ- Zionistischen Bewegung und Jabotinsky besetzten Gebieten, die Zukunft von ten Erfolg mit 17 Sitzen in der Knesset, gründete die zionistisch-revisionistische Jerusalem, das Ausmaß der Kontrolle und anschließend waren es zwischen sieben Partei HaTsoha. Diese erhob Anspruch auf Präsenz der israelischen Armee in den und zwölf Sitze. Die ursprünglich mehr das gesamte ursprüngliche Mandatsge- palästinensischen Autonomiegebieten auf soziale Fragen ausgerichtete Partei be- biet, das heißt auch auf das Territorium des sowie das Recht auf Rückkehr der palästi- teiligte sich sowohl an von der Arbeits- heutigen Jordaniens, forderte eine aggres- nensischen Flüchtlinge. partei als auch vom Likud bzw. Kadima sivere Haltung gegenüber der britischen geführten Koalitionsregierungen und Mandatsregierung und vertrat bürgerliche bewegte sich im Laufe der Zeit immer (nicht sozialistische) Positionen. 1930 ließen Ost-Jerusalem weiter nach rechts. die britischen Behörden Jabotinsky nach einem Auslandsaufenthalt nicht nach Paläs- Am Ende des Krieges von 1948 (1947– tina zurückkehren. Vom Ausland aus trieb 1949) teilte die Waffenstillstandslinie die Siedlungen er auf den Aufbau der paramilitärischen Stadt: West-Jerusalem wurde Teil von Organisation Etzel/Irgunvoran, die im Jahr Israel und Ost-Jerusalem (einschließlich Der Begriff bezeichnet die für jüdische 1931 gegründet wurde. der Altstadt) Teil der von Jordanien Israelis errichteten Ortschaften oder beherrschten Westbank. Während des Stadtviertel in den 1967 von der israeli- Verfasserin: Ursula Wokoeck Wollin Krieges von 1967 eroberte Israel die schen Armee eroberten und seitdem Westbank (einschließlich Ost-Jerusalem), besetzten Gebieten. 2017 lebten über et- Ende Juni 1967 erweiterte Israel das wa 410.000 Siedler*innen in 126 von Stadtgebiet (West-)Jerusalems über Ost- der israelischen Regierung genehmigten Jerusalem und die umliegenden Ort- und exklusiv für Israelis gebauten Siedlun- schaften hinaus, wodurch dieses Territo- gen und in etwa 110 nicht genehmigten, rium (nach israelischem Recht) Teil des aber mit staatlicher Hilfe gebauten so - israelischen Staatsgebiets wurde – was genannten Outposts in der Westbank. Hin- international nicht anerkannt ist. Die zu kommen über 200.000 Siedler*innen palästinensischen Bewohner*innen erhiel- im besetzten Ost-Jerusalem sowie einige ten „permanente Aufenthaltsgenehmi- Tausende auf den von Israel annektierten gungen“. Mit Ausnahme des jüdischen Golanhöhen. Die Siedlungen gelten als der Viertels in der Altstadt konzentrierte Hauptgrund für das Scheitern von Friedens- sich der israelische Siedlungsbau zunächst verhandlungen zwischen Israel und den auf einen äußeren Gürtel, der Ost-Jeru- Palästinenser*innen. salem von der übrigen Westbank trennt. Seitdem dieser fast geschlossen ist, Westbank wird nun intensiver im Innern, einschließ- lich der palästinensischen Viertel, gebaut. Die Westbank, auf Deutsch auch Westjor- 1980 verabschiedete die Knesset das Jeru- danland genannt, ist ein fast 5.900

119 Impressum

Herausgeber Tsafrir Cohen (V.i.S.d.P.) Tali Konas Einat Podjarny

Mitarbeit Tamar Almog Hana Amoury Yossi Bartal Markus Bickel Natascha Holstein Yifat Mehl Ursula Wokoeck Wollin Stephan Wolf-Schönburg

Gestaltung Daniel Ziethen / Schroeter & Berger

Lektorat text-arbeit, Berlin

Druck Hinkelsteindruck

ISBN 978-3-948250-18-8

© 2020, Rosa Luxemburg Stiftung Alle Rechte vorbehalten. RLS Büro Israel (CC) 11 Rotschild Blvd. 6688114 Tel Aviv Israel www.rosalux.org.il Tel.: ++972 3 6228290 [email protected]

Cover-Abbildung Protest und Wut auf den Straßen Israels wegen des Tods von Solomon Teka, einem jungen äthiopischen Juden, der von einem Polizisten ermordet wurde, Tel Aviv, 2019. Foto: Activestills.

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