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ZOOLOGIE 2013 ZOOLOGIE 2013 Herausgegeben von Mitteilungen Rudolf Alexander Steinbrecht der Deutschen Zoologischen Gesellschaft . Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

105. Jahresversammlung Konstanz 21.-24. September 2012

Biohistoricum im Zoologischen Museum Alexander Koenig · Basilisken-Presse · Rangsdorf 00_Titelei Seite_1 - Inhalt Seite_2_2011_Titelei_2010.qxd 01.09.2013 15:46 Seite 1

ZOOLOGIE 2013 Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Herausgegeben von Rudolf Alexander Steinbrecht

105. Jahresversammlung Konstanz 21.-24. September 2012

Basilisken-Presse Rangsdorf 2013 00_Titelei Seite_1 - Inhalt Seite_2_2011_Titelei_2010.qxd 01.09.2013 15:46 Seite 2

Umschlagbild Albrecht Dürer, Flügel einer Blauracke (1512); s.a. die Laudatio von Friedrich G. Barth auf den Karl-Ritter-von-Frisch-Preisträger Horst Bleckmann in diesem Heft.

Die Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft erscheinen einmal jährlich. Einzelhefte sind bei der Geschäftsstelle (Corneliusstr. 12, 80469 München), zum Preis von 7,00 € erhältlich.

Gesamtherstellung Danuvia Druckhaus Neuburg GmbH, Nördliche Grünauer Str. 53 86633 Neuburg an der Donau

Copyright 2013 by Basilisken-Presse im Verlag Natur & Text in Brandenburg GmbH . Rangsdorf Printed in Bundesrepublik Deutschland ISSN 1617-1977 00_Titelei Seite_1 - Inhalt Seite_2_2011_Titelei_2010.qxd 01.09.2013 15:46 Seite 3

Inhalt

Constance Scharff 5 Grußwort der Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Friedrich G. Barth 7 Zwischen Physik und Ökologie Laudatio auf Horst Bleckmann – anlässlich der Verleihung des Karl-Ritter-von-Frisch- Preises 2012

Horst Bleckmann 15 Die Welt der Sinne

Stefan Richter 31 Willi Hennig und die Phylogenetische Systematik – Gedanken zum 100. Geburtstag des Revolutionärs der Systematik

41 Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Samuel J. Shry 43 The DAAD RISE Experience

Klaus Odening und Holger H. Dathe 47 Nachruf auf Hans Oehme 29.4.1926 – 2.8.2011

Juliane Diller und Axel Hausmann 53 In memoriam Prof. Dr. Ernst Josef Fittkau 22.7.1927 – 12.5.2012

Armin Geus 57 Nachruf auf Hans Querner 22.9.1921 – 29.9.2012

Werner A. Müller und Albrecht Fischer 61 Nachruf auf Carl Hauenschild 16.4.1926 – 27.10.2012

Armin Kureck 67 Nachruf auf Dietrich Neumann 12.11.1931 – 23.12.2012

Rüdiger Hardeland 73 Nachruf auf Ludger Rensing 23.10.1932 – 11.3.2013

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Grußwort der Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Constance Scharff

Liebe Mitglieder, sein, denn die Nachwuchsförderung ist im Namen des neu gewählten Vorstands ja eine der wichtigsten Aufgaben der möchte ich mich zunächst bei all denen Gesellschaft. Und wie bei jeder Party bedanken, die durch ihre Aktivitäten die hängt der Erfolg von Konferenzen von der Gesellschaft mit Leben erfüllen: richtigen Mischung der Teilnehmer ab. Nennenswert ist hier zunächst die Or- Ich hoffe deswegen auf zahlreiches Er- ganisation der 105. Jahrestagung der scheinen von Zoologen aller Schattierun- DZG im letzten September durch die gen und Altersgruppen und freue mich Konstanzer Gastgeber Axel Meyer und auf Gespräche und Anregungen! Giovianni Galizia, die zusammen mit den Besonderer Dank gilt auch allen akti - Fachgruppen ein Weltklasse-Programm ven Mitgliedern der Fachgruppen, be - zusammengestellt hatten. Mit fesselnden sonders ihren Sprechern. Die DZG ist Vorträgen spiegelten die hochkarätigen wohl einzigartig in der Breite ihrer Inter- Sprecher die Bandbreite der aktuellen essensvertretung, von der Entwicklungs- zoologischen Forschung eindrucksvoll biologie, Physiologie und Neurobiologie wider. Trotz der Veranstaltungsvielfalt be- über Systematik und Evolutionsbiologie wahrte sich die Tagung die besondere bis zur Ökologie und Verhaltensbiologie. Aura von DZG Tagungen, bei denen man Die Doktorandentagungen, Kurse und in der entspannten Atmosphäre einer Sommerschulen zeugen von der Leben- Familienreunion mit (wissenschaft lich) digkeit unserer Gesellschaft und sind ihr entfernten Vettern ebenso ins Gespräch Potential für Zukunft. kommt wie mit den engeren ‚Verwand - Dass Sabine Giessler aus der Münch- ten’. Zum Glück ist die Planung der 106. ner Geschäftstelle ihre Unfälle erfolgreich Jahrestagung, die vom 13. bis 16. Septem- überwunden hat, freut mich besonders. ber in München stattfindet, durch Sie ist in vielerlei Hinsicht die zentrale Benedikt Grothe und sein Team in vollem Schaltstelle der Gesellschaft, gibt ihr Schwunge. Auch diese Konferenz lockt Hand und Fuß, Herz und Kopf. Danke, mit einer Kombination aus erstklassigem Sabine! Hauptprogramm, den Satellitentreffen Die DZG wird sich im kommenden (Morphology, Neurobiologie und Physio - Jahr weiterhin darum bemühen, die ak- logie) und München als attraktivem Ver- tuell in Deutschland tätigen Zoologen anstaltungsort. Eine besondere Freude unter einem Dach zu sammeln, damit wir wird die Vergabe des Walther-Arndt-, des Herausforderungen der Zukunft gemein- Horst–Wiehe- und des Rathmayer-Preises sam bewältigen können. Eine Aufgabe ist,

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mehr Synergien zwischen zoologischen Qualitäten dürfen nicht weiter ‚un ter die Disziplinen herzustellen, die z.B. zur Er- Räder kommen’. Es ist die Aufgabe von haltung der Biodiversität beitragen kön- Gesell schaften mit langem historischem nen: Die Aufschlüsselung von Genomen Atem wie der DZG, einen Ansatz des von immer mehr Arten wird zwar zu neh - Naturbegreifens, der die ganz heitliche mend billiger und geht zunehmend Kenntnis von Organismen in den Mittel - schneller, aber das Einbetten dieser punkt stellt, offensiv zu vertreten und zu genomischen Information in komplexe fördern. zelluläre, organismische und evolutionäre Zusammenhänge erfordert breite zoolo- In diesem Sinne grüßt Sie alle gische Kenntnisse und innovative, ziel - sehr herzlich führende experimentelle Ansätze. Diese Constance Scharff

Prof. Constance Scharff, Ph.D. Institut für Biologie der FU Berlin Takustr.6 D-14195 Berlin Email: [email protected]

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Zwischen Physik und Ökologie Laudatio auf Horst Bleckmann anlässlich der Verleihung des Karl-Ritter-von-Frisch-Preises 2012

Friedrich G. Barth

Ich freue mich, heute anlässlich der Jahres tagung 2012 in Konstanz der Lau - dator für den eben geehrten Karl-von- Frisch-Preisträger zu sein: wegen meiner langen Verbundenheit mit der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, meiner Be- wunderung für das wissenschaftliche Werk Karl von Frischs, wegen meiner Wertschätzung des nach ihm benannten Preises und - ganz besonders - wegen meiner langjährigen Verbundenheit mit Horst Bleckmann, dem Neuen im Kreise der bisherigen Preisträger. „Zuviel Honig essen ist nicht gut. Eben- Abb. 1: Horst Bleckmann bei Untersuchungen so spare mit ehrenden Worten“ (Sprüche zur Ökologie und zur vibratorischen Umwelt Salomos 25.27). Eine Laudatio zu halten von Cupiennius salei, aufgenommen 1983 in einer Kaffeeplantage nahe Fortin de las Flores ist demnach ein schwieriges Unterfangen, (Estado de Veracruz, Mexico). Foto: F.G. Barth. zumal der Karl-von-Frisch-Preis für das bislang vorliegende Gesamtwerk des Gewürdigten verliehen wird, man also stets präsenten Hintergrundrauschen ver- darauf achten muss, dass die Laudatio hindern. nicht zum Nachruf gerät. Bei der im Bild gezeigten Forschung ging es darum, mit empfindlichen Auf - Wer also ist der Wissenschaftler nehmern die vibratorische Umwelt einer Horst Bleckmann? auf Pflanzen lebenden Spinne zu erfas - Betrachten wir dazu das erste Bild (Abb.1). sen. Das bedeutete Freilandarbeit in Me - Zu den zentralen Fragen der Sinnesbiolo- xico und das Mitschleppen von schwe ren gie gehören die nach den Eigenschaften Geräten samt Autobatterien als Strom - der biologisch relevanten Reizmuster im quellen, um feinste Vibrationen im Gelän - natürlichen Lebensraum eines Organis- de zu messen, insbesondere auf den von mus, nach den möglichen anderen der Spinne bevorzugten Sitzpflanzen. In Reizen, von denen sie unterschieden wer- Anpassung an das Versuchstier bedeutete den müssen, und die Frage nach den es auch das Arbeiten während der Nacht, Mechanismen, die ihr Verschwinden im bis weilen einsam in einer entlegenen

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Kaffee plantage, eben dort, wo die nach- So wissen Sie nun, was das Bild zeigt. taktive Spinne lebt. Aber was sagt es uns über Herrn Bleck- Das Bild entstammt dem Jahre 1983. mann? Offensichtlich waren schon damals Damals war die Feldarbeit noch sehr die Grundsteine für den späteren Erfolg mühsam. Heute werden zum gleichen unseres Preisträgers gelegt. Ich nenne Zweck ungleich leistungsfähigere trag- einige davon: Einsatzbereitschaft, auch bare Laser-Vibrometer und leichte Mini- gegen Widerstände, und Einfallsreichtum, Laptops eingesetzt, die man in einem wenn es darauf ankommt; eine glückliche kleinen Rucksack als Kabinenge päck mit Verbindung von Technik und Physik mit ins Flugzeug nehmen kann. Freilich, die Freilandarbeit, Physiologie und Ökologie; Freude an der Biologenarbeit in freier ein fruchtbares Zusammenspiel des Inter- Natur war auch damals groß, obgleich esses am Detail mit dem gleichzeitigen die nächtliche Arbeit in der Kaffeeplan- Blick auf das Ganze. tage nicht nur mühsam, sondern bis - Von Anfang an ging es um eine orga - weilen auch gefährlich war. Eines Nachts nismische Biologie, die verstanden hat, hatte Herr Bleckmann einen Gewehrkol- dass die Details die Ordnung des Ganzen ben im Rücken – just an dem Ort, den machen und das Ganze, wenn man nur das Bild zeigt, nicht weit von Fortin de las genau genug hinsieht, sich im Detail Flores im Staate Veracruz. Glücklicher- wiederfindet. Der Fokus der Forschungen weise war es das Gewehr eines mexi - von Herrn Bleckmann lag und liegt an der kanischen Polizisten. Aller dings war die - Schnittstelle zwischen Umwelt und Verhal- sem kaum zu erklären, zu welchem ten. Wie Karl von Frisch ging und geht Zweck man in der Nacht in der Plantage Herr Bleckmann stets vom ganzen Orga - sitzt und offensichtlich merkwürdige nismus in seiner natürlichen Umgebung Dinge tut. Nur wenige Tage zuvor war in aus. Die Fragen, die er stellt, entstammen einer Nachbarplantage jenseits der Land- demnach einer integrativen, evolutions - straße nach Huatusco eine ermordete biologischen Sichtweise, die annimmt, Frau aufgefunden worden. Die Polizei dass alle Sensorik und alles Verhalten nur suchte noch immer nach dem Täter. Was in einer ganz bestimmten Umgebung muss der Polizist beim Anblick des zusammenpassen und somit auch sen- dunkelbärtigen, der Landessprache nicht sorische Leistungen nicht isoliert, son- mächtigen, auf der Erde sitzenden Herrn dern nur als Anpassungen oder besser Bleckmann wohl gedacht haben? Noch Angepasstsein an ein bestimmtes Verhal- dazu umgaben diesen unverständliche ten und an natürliche Reizmuster ganz zu elektronische Geräte und Insektenfallen, begreifen sind. Daraus ergibt sich zwang- also Yoghurtbecher im Boden und Kle- los die von unserem Preisträger stets beringe um die Bananenstauden, die vorexerzierte Verbindung zwischen Frei- helfen sollten, dem Beutespektrum der land und Labor, Physik und Ökologie. Im Spinne (Cupiennius salei Keys., Ctenidae) Sinne eines Desiderats des Karl-von- auf die Spur zu kommen. Frisch-Preises, nämlich „die Integration der Erkenntnis mehrerer biologischer

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Einzeldisziplinen“, ist es also dies, was Forellen, Störe, Speikobras, See- und an- Herr Bleckmann integriert. dere Schlangen, Krokodile, Wander- und Turmfalken. Vielfalt und Vergleich Als langjähriges Mitglied der Deut- Das Vergleichen gehört zu den schärfsten schen Zoologischen Gesellschaft nahm und erfolgreichsten Instrumenten der Herr Bleckmann offensichtlich auch deren Zoologie, wobei es ebenso um die von Logo sehr ernst. Für die jüngeren Mit- Einzelfällen abstrahierten Grundprinzipi- glieder unserer Zoologischen Gesell- en wie um artspezifische Besonderheiten schaft sei erwähnt, dass dieses Logo in geht. Herr Bleckmann bediente sich die - Frankfurt während meiner langen Zuge- ses Instruments reichlich. So hat er, aus- hörigkeit zum Vorstand der DZG ent- gehend von seiner Doktorarbeit über stand. Es war in den frühen 80er Jahren. Aplocheilus, einen Fisch, der mit Hilfe von Ausführliche Debatten über die Wahl des Oberflächenwellen des Wassers zu seiner Objekts wurden damals dadurch er - Beute findet, auch gefragt, wie sich an- schwert, dass zu viele der befragten Mit- dere Organismen in anderen Lebensräu- glieder ihr geliebtes eigenes Versuchstier men nach vibratorischen Reizen orien- auf dem Logo sehen wollten. Am Ende tieren und so Beute, Feinde oder Partner setzte sich das noch heute verwendete lokalisieren. Dazu gehörten zunächst zwei Logo durch. Der Grund hierfür war Spinnen. Deren eine war die schon neben der graphischen Attraktivität seine genannte C. salei, die wir seinerzeit auf scheinbare Neutralität und sein Bezug zu Bananenstauden, Bromelien und anderen besonders vielen zoologischen Objekten ihrer Sitzpflanzen in Mexico untersuchten. und damit auch DZG-Mitgliedern. Ich Die andere Spinne war die „fishing spi- nenne von vielen Beispielen nur Dia- der“ Dolomedes triton (Pisauridae), die tomeen, Schnecken, Nautilus und Am- auf der Wasseroberfläche jagt und ähn- moniten, auch das Gehörn eines Wid- lich wie der Oberflä chenfisch Aplocheilus ders, den Biberzahn und das Innenohr. Oberflächenwellen nutzt, nur eben vom Was hinter der bemer kenswert weit ver- Luftraum über dem Wasser her und nicht breiteten Ähnlichkeit steckt, ist die loga- wie dieser von unten. rithmische Spirale, wie wir be sonders seit Damit nicht genug. Herr Bleckmann D´Arcy Thompson´s "On Growth and drang zusammen mit seinen Mitarbeitern Form" (1917)1 wissen. Schließ lich sieht in die Lebenswelten einer Vielzahl von das Logo auch wie eine Förderschnecke weiteren Tieren ein. Darunter waren und aus, oder besser wie ein Füllhorn, das sind sowohl Vertreter der Wirbeltiere als mythologische Symbol des Glücks, das auch solche der Wirbellosen: Haie und Gaias Reichtum der Biodiversität über Rochen, Kopffüßer, Krebse, schwach elek- uns ergießt. Mir scheint, diese letzte As- trische Fische, Käfer, Seehunde, Wanzen, soziation gefiel Herrn Bleckmann beson- ders gut.

1 D’Arcy Thompson W (1917) On Growth and Form (Cam- bridge University Press)

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Forschungslinien zu den Mechanismen der zentralner - Obwohl Herr Bleckmann gleich selbst vösen Verarbeitung der von der Seiten - einen umfangreichen Eindruck vom Inhalt linie gelieferten Information. Die Regen- seines Füllhorns geben wird, möchte ich bogenforelle eignete sich auch bestens schon hier ein wenig genauer auf die für die zusammen mit Reinhard Blickhan angedeutete Forschung eingehen und durchgeführten Untersuchungen zur Wir - zwei Forschungslinien herausstellen. belerzeugung beim Schwimmen, also zur (i) Die Wahrnehmung von Wasser – Beantwortung von Fragen zur Strömungs - Oberflächenwellen und Medienströmung mechanik und Energetik. Den bereits genannten Forschungen - Seehund: Seehunde und andere ma- am Oberflächenfisch Aplocheilus und rine Säugetiere verwenden ihre reich in- deren Erweiterung auf die semiaquati - nervierten Barthaare (Vibrissen) nicht nur sche „fishing spider“ Dolomedes, die auf zum Abtasten von Gegenständen. Sie sehr ähnliche Weise die Wasserober- können, wie Guido Dehnhardt und Björn fläche als nahrungsökologische Nische Mauch im Labor von Horst Bleckmann vor nutzen, folgten zahlreiche Versuche mit vielen Jahren gezeigt haben, damit auch Tieren verschiedenster systematischer eine Strömungsspur im Wasser finden Zugehörigkeit: und verfolgen. Eine solche Spur, die - Cephalopoden (Sepia): Hier gelang überraschenderweise minutenlang beste- Horst Bleckmann zusammen mit Bernd- hen bleibt, hinterlässt etwa ein Fisch, Ulrich Budelmann der Nachweis eines nachdem er längst weiter geschwommen Wasserströmungssinnes, dessen Ein- ist. Diese und andere Forschungen zur gangspforten ähnlich wie beim Seiten - Sinnesbiologie mariner Säugetiere ha - liniensystem der Fische Cilien tragende ben sich unter der Leitung von Guido Zellen in der Epidermis an Kopf und Ten- Dehnhardt inzwischen in Rostock am takeln sind. Damit war eine weitere der Ma rine Science Center enorm weiter ent - erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen wickelt. Cephalopoden und den phylogenetisch - Speikobras: Eine grundlegende wesentlich jüngeren Wirbeltieren gefun- Frage ist hier, wie eine Gift speiende den. Schlange auf ein sie bedrohendes Objekt - Rochen und Haie: Gegensätzlich zur zielt und ihre Trefferquote maximiert. Ver- damals vorherrschenden Auffassung, suche zusammen mit Guido Westhoff dass das primitive Telencephalon weitest- zeigten, dass eine sehr rasche Kopfbewe- gehend oder gar ausschließlich ein gung beim Abschuss das Gift auf dem Riechhirn sei, konnte Horst Bleckmann Ziel verteilt und dabei meist auch ein eine starke Repräsentanz der Mecha no - Auge getroffen wird. Mittlerweile haben rezeption (Seitenlinie) im Telencephalon sich auch die strömungsmechanischen der Knorpelfische nachweisen. Ursachen, die den Zerfall des Giftstrahls - Knochenfische: Goldfische und verhindern, als untersuchenswert heraus- Forellen dienten Horst Bleckmann und gestellt. Joachim Mogdans in vielen Experimenten

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- Feuerkäfer: Dies sind skurrile Insek- te unter der Führung von Herrn Bleck- ten aus verschiedenen Käferfamilien mann das zoologische Institut in Bonn. (Schwarzer Kiefernprachtkäfer, Melano - Heute ist Horst Bleckmann ein interna- phila acuminata, Buprestidae, und an- tional anerkannter Spezialist für die Phy - dere), die aktiv Waldbrände aufsuchen sik, sensorische Nutzung, neuronale Ver- und auf frisch verbranntem Holz kopu - arbeitung und biologische Bedeutung lieren und Eier ablegen, da ihre Brut von von Wasseroberflächenwellen- und Was- verkohltem Holz lebt. Horst Bleckmann serströmungsreizen. Die Bedeutung sein- und Helmut Schmitz wiesen nach, dass er Forschungen ergibt sich auch daraus, cuticulare Receptoren unter den Flügeln dass wir beinahe in jedem Tierstamm von Melanophila hochempfindlich auf In- eine Empfindlichkeit für externe Medien- frarotstrahlung reagieren. Diese Unter- strömung vorfinden. Freilich ist unser suchungen haben inzwischen auch den Kenntnisstand gegenüber dieser Vielfalt Bau technischer Infrarotsensoren inspi - noch immer bescheiden, aber die Tür riert. zu einem großen und loh nenden For - So konnten Herr Bleckmann und seine schungsfeld ist aufgesto ßen und Herr Mitarbeiter wieder und wieder zeigen, Bleckmann trug und trägt dazu wesentlich wo die Verbindungen zwischen den phy - bei. siologischen Eigenschaften sensorischer (ii) Bionik Systeme und den Charakteristika des be- Es ist besonders dem zweiten Karl- treffenden Lebensraums liegen. Deshalb von-Frisch-Preisträger (1982), Werner auch der Titel dieser Laudatio: Zwischen Nachtigall, und seiner nachhaltigen Pio- Physik und Ökologie. nierarbeit zu verdanken, dass sich in Sowohl die intensive Zusammenarbeit Deutschland ein öffentliches Bewusstsein mit Physikern und Ingenieuren als auch für den Wert bionischer Forschung ent - die Anwendung eines breiten Spektrums wickelte und damit einhergehend Be- moderner Messtechnologien (z.B. Laser wunderung für die vielen technischen Vibrometrie, Digital Particle Image Ve- Raffinessen, die wir in der Natur finden. locimetry, DPIV; Atomic Force Microscopy, Der politische Wille jedoch, und die AFM, Nanoindentation u.a.) neben den Entschlossenheit, auf dem Gebiet der klassischen Techniken der Struktur- Bionik etwas Substantielles zu tun, über- forschung trugen wesentlich zum Erfolg schritt meines Erachtens erst vor ca. 10 bei. Sie haben den Zugang zu grundle- Jahren die wünschenswerte Schwelle. genden physikalischen Details ermöglicht Was zunächst nur überzeugte, wird in- und zum physikalisch-mathematischen zwischen vielerorts als zwingend erfor - Modellieren, auf das wir letztendlich alle derlich betrachtet. angewiesen sind, wenn wir in eine nächst Horst Bleckmann konnte auch hierzu höhere Ebene des Verstehens vielpara- beitragen. In jüngerer Zeit erlangte die metrischer Systeme eindringen wollen. biomimetische Forschung in seinem Insti- Schon über viele Jahre hinweg belebt tut zunehmende Bedeutung. Dies ist wohl diese thematische und methodische Brei- eine Folge des Umstands, dass die inter-

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essierenden biologischen Systeme oft vor 35 Jahren eine „Lehreinheit Natur - auch aus dem Blickwinkel der Technik schutz“ und finanzierte seine Doktorar- und zusammen mit Ingenieuren unter- beit damit. Noch heute zeigt er den Stu- sucht wurden. Konkret geht es dabei denten auf Exkursionen nach Afrika, ans zum Beispiel um die Entwicklung techni - Rote Meer und anderswohin, was es zu scher Systeme zur Messung von Medien- bewundern, zu schützen und zu be- strömungen und um die bio-inspirierte wahren gilt. Hier wird bei den Biologen Umsetzung der für das Seitenliniensys- auch die Universitas in ihrem ursprüng - tem der Fische erkannten Funktions - lichen Sinne besonders gelebt, nämlich prinzipien. Das internationale Interesse die Universitas der Lehrer und Schüler, an dergleichen ist erheblich. Man hat ver- wo „Biologe Sein“ mehr Lebensart als standen, dass die biologischen Systeme Beruf ist und nicht nur Gewusstes didak- den technischen häufig in vielerlei Hin- tisch geordnet weiter gegeben wird, son- sicht weit überlegen sind. dern der Geist ursprünglicher Wissen - Inzwischen unterstützten mehrere schaft, die Neu gierde, das Fragen, die großzügige finanzielle Förderungen die Intuition und auch die Begeisterung für bionische Forschung erheblich. Zu einer den Gegenstand, die so Vieles bewegt. davon, dem Sonderforschungsbereich Die Sorge um die Zerstörung intakter 1207 „Nature-inspired fluid mechanics“ Natur und der Möglichkeiten ihrer Selbst - der Deutschen Forschungsgemeinschaft, regulierung (insbesondere aufgrund der erschien erst kürzlich ein von Horst Bleck- unausweichlichen Folgen der Bevöl - mann und Cameron Tropea heraus- kerungsexplosion) ist in hohem Masse gegebener Ergebnisband. Die Universität berechtigt. Und besondere Betroffenheit Bonn bietet inzwischen nicht nur eine darüber empfinden gewiss diejenigen Ringvorlesung „Bionik, Hochtechnologien Biologen, die nicht nur reduktionistische aus der Natur“ an, sondern auch ein Handwerker sein wollen, sondern immer gemeinsam mit der RWTH Aachen und auch das Zusammenspiel der Teile bei dem Forschungszentrum Jülich veranstal- der Schaffung einer natürlichen Ordnung tetes Graduiertenkolleg „Bionik“. Zudem zu verstehen versuchen. existiert ein „BionikZentrum Bonn“, dessen Sprecher Herr Bleckmann ist und Zwischen Giessen und Bonn das sich nicht nur mit Sensorik, sondern Zwischen seiner Promotion an der Uni - auch mit Grenzflächen, Materialwissen - versität Giessen (1979) und seiner Zeit an schaften und der Modellierung von kom- der Universität Bonn verbrachte Horst plexen Systemen befasst. Bleckmann 15 Jahre an insgesamt fünf verschiedenen Universitäten und For - Naturschutz schungsinstituten. Herrn Bleckmanns Interesse am Natur - Von 1981 bis 1984 hat er im Sonder- schutz reicht bis zu seiner Tätigkeit im forschungsbereich „Vergleichende Neu- Zentrum für Biologiedidaktik der Univer- robiologie des Verhaltens“ an der Univer- sität Giessen zurück. Dort entwickelte er sität Frankfurt mitgearbeitet, gewisser-

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maßen in den Fängen der Spinnen-Sinne. seine Mitarbeiter Entscheidendes bei, die Es folgte das Scripps Institute of Oceano - ihren Freiraum für ihre eigenen Interessen graphy. Dort war er im Umfeld von Ted Bul- erfolgreich nutzen konnten. lock umgeben von inspirierender Offen - Von den Auszeichnungen, die mit heit sowie einer ganz besonders starken diesem Engagement einhergingen, Wertschätzung für den vergleichenden möchte ich nur die Mitgliedschaften in Forschungsansatz und das Füllhorn der der Akademie der Wissenschaften und Biodiversität und arbei tete mit Elasmo- Literatur Mainz, der Deutschen Akademie branchiern, Teleostiern und Cephalo- der Naturforscher Leopoldina und der poden. Danach ging Horst Bleckmann für Österreichischen Akademie der Wis- fünf Jahre (1987-1992) als Heisenberg senschaften nennen. Stipendiat der Deutschen Forschungsge- Noch einmal: das Detail und das Ganze meinschaft nach Bielefeld, wo er im Um- In seinem Buch „Die Einheit des Wis- feld von Peter Görner u.a. am Krallen- sens“ schrieb E.O. Wilson (S. 75), dass frosch forschte und die Arbei ten am Sei - die Vorliebe für reduzierte Komplexität tenliniensystem der Fische weiterführte. Wissenschaft ergibt, die Vorliebe für nicht Nach kurzen Jahren (1992-1994) als reduzierte Komplexität aber Kunst2. Wie Vertreter des Lehrstuhls für Neurobiolo- ich meine, gibt es beides in der Kunst gie an der Technischen Hoch schule und in der kreativen Wissenschaft. So Darmstadt kam Horst Bleckmann schließ - können wir auch von der Kunst lernen lich 1994 an die Universität Bonn. und sehen, wie wichtig beides ist und In all dieser Zeit und bis heute war was es eigentlich bedeutet, wenn wir Herr Bleckmann nicht nur Zoologe, son- sagen, dass sich das Ganze in seinen dern zudem Hochschullehrer und als Teilen zeigt und die Teile erst dadurch Wissenschaftler für sein Fach insgesamt verständlich werden (Abb.2). Organis - aktiv. Die Zoologie verdankt ihm viel. So mische Biologie! Wie wir wissen und im- setzte er sich als Fach gut achter der DFG mer überzeugender und reichhaltiger er- und als Mitorgani sator eines Schwer- fahren, zeichnen sich lebende Organis- punktprogrammes und als Organisator men auf der Mikroebene durch hohe von internationalen Kongressen für sie Spezialisierung, auf der Makroebene ein. Er war wesentlich am Zustandekom- durch hohe Koordination aus. Die Zoolo- men des BionikZentrums Bonn beteiligt. gie muss sich um beides kümmern. Un- Er wirkte über die Jahre erfolgreich als sere Beschäftigung mit dem Detail erhält Anreger und Initiator origineller For - ihren tiefen Sinn erst dann, wenn dadurch schung und machte aus dem Bonner der Blick auf das Ganze klarer wird. Institut für Zoologie ein weithin beach - Für die Zoologie bleibt es wichtig, Or- tetes Zentrum für sensorische Bio lo gie ganismen als ganze Lebewesen zu sehen, und Neuroethologie. Dazu trugen auch die sich in ihrer jeweils eigenen Umwelt artspezifisch verhalten. Nur so werden wir am Ende verstehen können, weshalb 2 Wilson EO (1998) Die Einheit des Wissens. Siedler Berlin sie so gebaut sind und sich so verhalten,

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Abb..2: links: Albrecht Dürer, Blauracke (1512), als ein Beispiel für „reduzierte Komplexität“, die zugleich viel vom Ganzen wiedergibt. rechts: Franz Marc, Landschaft mit Tieren (1914), als ein Beispiel für „nicht reduzierte Komplexität“. In einem Brief an Reinhard Piper3 schreibt Franz Marc auf der Suche nach einer inneren Wahrheit, dass er versuche, sein Empfinden für den or- ganischen Rhythmus aller Dinge zu steigern und die den Tieren eigene Welt darzustellen, die sie mit sich tragen und aus der sie als organische Verwirklichung ihrer anorganischen Umwelt entstehen. Er empfand die Darstellung der Tiere aus unserer menschlichen Sicht als armselig4 .

wie wir es beobachten und welche Selek- sollen Ihnen, lieber Herr Bleckmann, tionsdrucke ihre evolutionäre Genese niemals abhanden kommen. Und die bestimmten. Der Karl-von-Frisch-Preis, zu Sorge um unseren Planeten möge sich dem ich Sie, lieber Herr Bleckmann als ein wenig damit trösten, dass Wissen - den 16. Preisträger herzlich beglückwün- schaft noch immer unsere größte Hoff- sche, sollte diesem Credo trotz einiger nung ist. andersartiger politischer Strömungen un- verändert anhängen. „Was der Wissenschaft wirklich ihren metaphysischen Reiz verleiht, ist die Her- Prof. em.Dr. Friedrich G. Barth ausforderung und das Gefühl, sich auf Universität Wien, Fakultät für knackendem, dünnem Eis zu bewegen“. Lebenswissenschaften, So schreibt E.O. Wilson in dem schon Department für Neurobiologie, Althanstr.14, genannten Buch (S.76). Die Freude an 1090 Wien, Österreich diesem Eis und das Verlangen danach Email: [email protected]

3 Piper R (1910) Das Tier in der Kunst. Piper, München 4 Stadler W (1986) Franz Marc. Mit den Augen der Tiere. Herder, Freiburg

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Die Welt der Sinne

Horst Bleckmann

Wenn einem die Karl-Ritter-von Frisch Finanzier ungsquelle gab, habe ich im Medaille verliehen wird, fragt man sich Rahmen eines Werksvertrages ein Jahr natürlich, warum einem diese große Ehre lang unter Anleitung von K.H. Berck pa - zuteil wurde. Obwohl ich seit mehr als ra llel zur Promotion am Institut für Biolo- 30 Jahren schwerpunktmäßig das Seiten- giedaktik der Universität Gießen eine Un- liniensystem der Fische untersuche, hat terrichtseinheit zum Thema Naturschutz vermutlich die Vielzahl der anderen The- entwickelt (Berck et al., 1979; Bleckmann men und Organismen, mit denen ich mich et al., 1980). Doch zurück zu den Fischen. ebenfalls beschäftigt habe, den Ausschlag Bekannt war, dass Oberflächenfische mit für die Wahl der Jury gegeben. So will ich Hilfe ihrer Seitenlinie nicht nur die Rich- in meinem Übersichtsreferat nicht nur tung, sondern auch die Entfernung einer über meine Forschungen am Seitenlinien- Reizquelle lokalisieren können (Schwartz, system der Fische, sondern auch über 1965, 1971). Doch wie sie das machen, alle anderen Forschungsprojekte be- blieb ein Rätsel. Die während und z.T. richten. auch noch nach meiner Promotionszeit Schon während meines Studiums an durchgeführten verhaltensphysiologi - der Universität Gießen habe ich mich für schen und elektrophysiologischen die Sinnes- und Neurobiologie inter- Forschungen haben u.a. gezeigt, dass essiert. Zu meiner Freude wurde Erich Oberflächenfische vor allem den hochfre- Schwartz 1974 nach Gießen berufen. Er quenten Anteil zu Beginn eines Wellen- war Verhaltens- und Sinnesphysiologe zuges zur Beutewahrnehmung und Beu- und arbeitete am Seitenliniensystem der teortung nutzen (Bleckmann, 1980, 1982; Fische. Fische hatten mich zunächst gar Bleckmann and Schwartz, 1981; Bleck- nicht sonderlich interessiert, doch schon mann and Topp, 1981). Zudem zeigten bald erkannte ich, dass sie mit ihren mehr meine Versuche, dass Oberflächenfische als 30000 Arten nicht nur eine sehr er - Wellensignale unterschiedlicher Frequenz folgreiche, sondern auch eine sehr inter- diskriminieren können (Bleckmann et al., essante aber wenig beachtete Tier- 1981) - Untersuchungen, die meine Stu- gruppe darstellen. Im Rahmen meiner dentin Dagmar Vogel viele Jahre später in Diplom- und Doktorarbeit habe ich im Bonn weiter geführt hat (Vogel and Bleck- Labor von Erich Schwartz die Bedeutung mann, 1997). Die während meiner Promo- des Seitenliniensystems für die Beute - tion sowie unmittelbar im Anschluss lokalisation des Oberflächenfischs daran durchgeführten Experimente er- Aplocheilus lineatus verhaltensphysiolo- gaben, dass Oberflächenfische für die gisch untersucht. Da es außer einer Hilfs - Entfernungslokalisation alle zur Verfügung kraftstelle für meine Doktorarbeit keine stehenden physikalischen Reizparameter

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(Tiefpasseigenschaften der Wasserober- und/oder hinsichtlich ihrer Dauer fläche, frequenzabhängige Ausbreitungs- (weniger als 1 Sekunde bei den von Fi - geschwindigkeit, Krümmungsgrad der schen, Kaulquappen und Fröschen Wellenfront) gewichtet zur Abschätzung erzeugten Wellensignalen und bis zu 60 der Reizquellenentfernung nutzen (Bleck- oder mehr Sekunden bei den von Insek- mann and Schwartz, 1982; Bleckmann et ten erzeugten Signalen) deutlich unter- al., 1989a; Hoin-Radkovski et al., 1984). scheiden (Bleckmann, 1985; Lang, 1980). Im Jahr 1981 wechselte ich an die Uni- Gemeinsam mit Jerry Rovner von der versität Frankfurt. Friedrich Barth wollte Ohio State University (USA) durchge- im Rahmen des Sonderforschungsbe - führte Untersuchungen am Dow Lake reichs „Neurobiologie des Verhaltens“ zeigten darüberhinaus, dass die obere u.a. in einer vergleichenden Studie he - Frequenzgrenze der im natürlichen Habi- rausfinden, welche sensorischen Anpas- tat von Dolomedes auftretenden wind - sungen es semiaquatischen Spinnen der erzeugten Oberflächenwellen unterhalb Gattung Dolomedes ermöglichen, ins von 10 Hz liegt. Winderzeugte Wellen Wasser gefallene Insekten sowie Fische, dieser Frequenzen lösen keine Reaktion Kaulquappen und Frösche zu erbeuten. bei Dolomedes aus (Bleckmann, 1985; Meine verhaltensphysiologischen Ver- Bleckmann and Rovner, 1984). Besonders suche zeigten, dass Dolomedes ähnlich reizwirksam waren im Verhaltensexperi- empfindlich auf Oberflächenwellen des ment Wellensignale mit hochfrequenten Wassers reagiert wie Oberflächenfische. (> 40 Hz) Anteilen. Fehlten diese, rea - Ebenso wie Oberflächenfische kann gierte Dolomedes nur dann mit einer Dolomedes auch die Richtung und Entfer- Hinwendung zur Reizquelle, wenn das nung einer Reizquelle bestimmen. Wellensignal eine Dauer von wenigsten Dolomedes nutzt aber, anders als Ober- 1.6 Sekunden hatte (Abb. 1). Dolomedes flächenfische, nicht den Frequenzgehalt bewertet demnach ein Wellensignal nicht oder die Frequenzmodulation am Beginn nur nach dem Frequenzgehalt, sondern eines Wellensignals zur Entfernungsbe - auch nach seiner Dauer. Spinnen der stimmung, sondern nur den Krümmungs- Gattung Dolomedes lösen aber noch ein grad der Wellenfront (Bleckmann and anderes Problem. Da die Wasserober- Barth, 1984; Bleckmann et al., 1994). Bei fläche als Tiefpassfilter wirkt, hängt die den Versuchen stellte sich bald heraus, obere Frequenzgrenze eines Wellen - dass Dolomedes nicht auf jedes über- signals nicht nur vom Wellenerzeuger, schwellige Wellensignal reagiert. Messun- sondern auch von der Laufstrecke des gen ergaben, dass sich die von Insekten, Signals ab. Die Spinnen berücksichtigen Fischen, Kaulquappen und Fröschen dies bei ihrer Entscheidung, denn sie erzeugten Wellensignale entweder hin- gewichten den Frequenzgehalt eines sichtlich ihrer oberen Frequenzgrenze Wellensignals in Abhängigkeit von der (ca. 100 Hz bei Insektenwellen und 40 Hz Reizquellenentfernung (Bleckmann, 1985, bei den von Fischen, Kaulquappen und 1988). Jeder, der im Labor von Friedrich Fröschen erzeugten Wellensignalen) Barth arbeitete, kam unweigerlich mit

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te man ursprünglich geglaubt, dass das Telencephalon der Knorpelfische aus - schließlich olfaktorische Informationen verarbeitet, ergaben meine Untersuchun- gen, dass neben visuellen, akustischen und elektrosensorischen Informationen (Ebbesson, 1980; Schröder and Ebbesson, 1974; Schweitzer and Lowe, 1984) auch die mechanosensorische Sei - Abb. 1 Reaktionshäufigkeit (%) von Dolome- tenlinie bei Knorpelfischen bis ins Telen- des triton auf breitbandige (gestrichelte Linie) cephalon projiziert (Abb. 2) (Bleckmann und schmalbandige (durchgezogene Linie) et al., 1987; Bleckmann et al., 1989b). Die Oberflächenwellen des Wassers unterschied- Bedeutung dieser telencephalen Projek- licher Dauer (Abszisse). Insets: Spektren der verwendeten Oberflächenwellen. Die von tionen ist nach wie vor nicht geklärt, sie zappelnden Insekten erzeugten Oberflächen- liefern aber vermutlich wichtige Informa- wellen haben breitbandige, die von fallenden tionen für die räumliche Orientierung und Blättern erzeugten Wellen haben schmalban- das emotionale Verhalten (Schluessel and dige Spektren. N = Zahl der Versuchstiere, n Bleckmann, 2005, 2012). Theodor Holmes = Zahl der Versuche. Verändert nach Bleck- mann et al.. (1989b) Bullock war Zeit seines Lebens ein Ad- vokat der vergleichenden Neurobiologie. Cupiennius salei in Berührung. Diese nachtaktive Spinne lebt in ihrem natür- lichen Habitat in Mittelamerika auf Bromelien und Bananenstauden. Sie baut keine Netze sondern nutzt substratgebun- dene Vibrationen, um ihre Beute ausfindig zu machen. Dabei erkennt Cupiennius, wie unsere Freilanduntersuchungen in Mexico gezeigt haben, ganz ähnlich wie Dolomedes Beuteinsekten vor allem auf- grund hochfrequenter Signalanteile (Barth et al., 1988a; Barth et al., 1988b). Auf Einladung von Theodor Holmes Bullock wechselte ich 1985 an die Scripps Abb. 2 Dorsalansicht des Telencephalons von Platyrhinoidis triseriata mit den an der jeweils Institution of Oceanography (San Diego, gekennzeichneten Position abgeleiteten evo- USA). Meine Forschungen in San Diego zierten Potentialen. Das Versuchstier wurde mit zeigten, dass die zentrale Seitenlinien- einer vibrierenden Kugel (Durchmesser 17.6 bahn bei Knorpelfischen ganz ähnlich or- mm, Vibrationsfrequenz 100 Hz, Spitze-Spitze ganisiert ist wie bei Teleostiern (Bleck- Wegamplitude 30 μm) gereizt, die oberhalb des infraorbitalen Seitenlinienkanals positio- mann et al., 1987; Bleckmann et al., niert war. Die Zahlen geben die jeweilige Ab- 1989b; Fiebig and Bleckmann, 1989). Hat- leittiefe an. Nach Bleckmann et al. (1989b).

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So schlug er vor, auch das Seitenlinien- Bleckmann, 1988). Im Dezember 1987 system des marinen Teleostiers Xiphister wechselte ich als Heisenberg-Stipendiat atropurpureus zu untersuchen. Dieser zu Peter Görner an die Universität Biele- Fisch hat auf jeder Körperseite vier feld. Dort führte ich meine Untersuchun- Rumpfseitenlinienkanäle, von denen jeder gen an den Epidermallinien der Cepha - eine Vielzahl von Nebenkanälen (Tubuli) lopoden fort (Bleckmann et al., 1991b; aufweist, wobei jeder Tubulus bis zu 5 Budelmann and Bleckmann, 1988), arbei - Poren haben kann. Xiphister hat demnach tete vor allem aber auch weiterhin am auf jeder Körperseite mehrere Hundert Seitenliniensystem der Fische. Zunächst Kanalporen. Gemeinsam mit Heinrich erschien es mir sinnvoll, mehr über den Münz von der Universität Bielefeld in San Frequenzgehalt von natürlichen Seitenli - Diego durchgeführte Untersuchungen nienreizen herausfinden. Da Hubert Markl haben ergeben, dass es nur geringe von der Universität Konstanz in seinem physiologische Unterschiede zwischen Labor ein Laserdoppler-Anemometer hat- den Antworten primärer Seitenlinienaf- te, also ein Gerät mit dem Wasserbewe- ferenzen von Xiphister und von Fischen gungen sehr empfindlich registriert wer- mit einfachen Seitenlinienkanalsystemen den konnten, fuhr ich nach Konstanz. gibt. Die Empfindlichkeitsmaxima waren Gemeinsam mit Thomas Breithaupt, Jür- ähnlich und lagen sowohl bei primären gen Tautz und Reinhard Blickhan (damals Afferenzen als auch bei toralen Seitenlini- im Labor von Werner Nachtigall in Saar- enneuronen im Frequenzbereich 50 bis brücken) konnten wir zeigen, dass im 100 Hz (Bleckmann and Münz, 1990). Die Nachlauf von schwimmenden Fischen funktionelle Bedeutung der Rumpfseiten- (Forellen) hochfrequente Wasserbewe- linienkanäle von Xiphister konnte mein gungen (bis wenigstens 100 Hz) vorkom- Student Adrian Klein dann 26 Jahre später men können (Bleckmann et al., 1991a). aufklären (siehe weiter unten). Bei diesen Versuchen fiel auf (mit ein - Auf einer Tagung in Sarasota lernte ich facher Methodik hatte Rosen dies schon 1985 Uli Budelmann (damals University of 1959 gezeigt (Rosen, 1959), dass schwim- Galveston, Texas) kennen. Budelmann mende Fische eine scharf umgrenzte hy- äußerte die Vermutung, dass die Epider- drodynamische Spur erzeugen, die noch mallinien von Tintenfischen (Sepia offici- einen Meter hinter dem Spurerzeuger nalis) eine ähnliche Funktion haben wie sichtbar war. das Seitenliniensystem der Fische. In Auf der Göttinger Neurobiologenta- gemeinsamen Versuchen konnten wir gung kam ich 1988 mit Gerhard von der diese Vermutung bestätigen. Die Epider- Emde (damals Universität Regensburg) mallinien von Sepia officinalis reagieren ins Gespräch. Gerhard hatte nachge - nicht nur hochempfindlich auf Wasserbe- wiesen, dass schwachelektrische Fische wegungen, sondern sind auch phasen- (Gnathonemus petersii) ohmsche (un- gekoppelt und haben einen Dynamikbe - belebte) Objekte von kapazitiven (be - reich, der weitgehend mit dem der Fisch- le bten) Objekten unterscheiden können. seitenlinie identisch ist (Budelmann and Möglich war dies, da kapazitive Objekte

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anders als rein ohmsche Objekte nicht 3). Da sich die Antworten von A-Fasern nur die Amplitude, sondern auch die nicht verändern, wenn man den Tieren Phase der elektrischen Organentladung eigene, in unserem Experiment mit Hilfe (EOD) eines schwachelektrischen Fisches eines Computers phasenverschobene verändert. Da Gerhard über keinen elek- künstliche elektrische Signale anbot, trophysiologischen Versuchsaufbau ver- brauchen sie nur die Antworten von fügte, lud ich ihn nach Bielefeld ein. Dort A- und B-Fasern zu vergleichen, um her- gelang uns der Nachweis, dass die B- auszufinden, ob sich in ihrer Nähe ein Fasern der Elektrorezeptoren (Mormyro- belebter oder ein unbelebter Gegen- masten) von Gnathonemus im Gegensatz stand befindet (von der Emde and Bleck- zu den A-Fasern hochem pfind lich auf mann, 1992a, b). Phasenverschiebungen reagieren (Abb.

Abb. 3 Beispielantwort einer A-Faser (links) und B-Faser (rechts). Das Versuchstier wurde mit vorher aufgezeichneten elektrischen Organentladungen (EODs), die computergestützt phasen- verschoben wurden, gereizt (Abszisse). Die Ordinate zeigt die Latenzzeit der Aktionspotentiale (maximal 7 in C). Jeder Wert entspricht dem Mittelwert von 10 Einzelmessungen. Die Standard- abweichung der Latenzzeit lag in allen Fällen unter 0.12 ms und ist deshalb nicht eingezeichnet. Alle Messungen begannen mit dem nicht-phasenverschobenen EOD-Signal. Als letzter Reiz wurde zur Kontrolle das nicht-phasenverschobene EOD-Signal noch einmal geboten, deshalb gibt es bei 0° Phasenverschiebung in A und B zwei leicht unterschiedliche Werte. Verändert nach von der Emde and Bleckmann. (1992b).

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Die Seitenlinienforschung ging in Bielefeld aber auch weiter. In allen bis - herigen physiologischen Studien zur Funktion des Seitenliniensystems hatten die Forscher einen stationären Dipol (eine kleine vibrierende Kugel) als Reizquelle verwendet. Da in der Natur stationäre Di- pole kaum vorkommen, begannen wir die Seitenlinie mit bewegten Objekten zu stimulieren. Unabhängig von der Bewe- gungsrichtung des Objektes antworteten primäre Seitenlinenafferenzen immer mit einer Zunahme der spontanen Entla - dungs rate, das zeitliche Muster der Ant - wort änderte sich allerdings mit der Rich- tung der Bewegung (Bleckmann and Zelick, 1993). Diese Versuche haben wir später in Bonn weitergeführt (Mogdans Abb. 4 Antworten von toralen Seitenlinien- and Bleckmann, 1998). Die Antworten von neuronen auf ein Objekt, das von anterior zentralen Neuronen (Medulla, Mittelhirn) nach posterior oder von posterior nach ante- waren wesentlich selektiver. Sie antwor - rior an einem Goldfisch (Carassius auratus) teten entweder mit einer Erregung oder vorbeibewegt wurde. Die Neurone zeigten keine Richtungssensitivität (A) oder waren mit einer Hemmung auf ein am Fisch vor- richtungssensitiv (B, C). Die in A und B ge- bei bewegtes Objekt. Am meisten über- zeigten Neurone reagierten sowohl auf die raschte uns, dass es im Mittelhirn von Fi - von dem bewegten Objekt verursachte tran- schen Seitenlinienneurone gab, die hoch - siente Wasserbewegung, als auch auf den tur- bulenten Nachlauf des Objektes. Das in C ge- gradig richtungssensitiv waren (Bleck- zeigte Neuron antwortet nur auf eine Bewe- mann and Zelick, 1993; Müller and Bleck- gungsrichtung und nur auf den transienten mann, 1993) (Abb. 4). Zudem gab es Teil der Wasserbewegungen. Nach Wojtenek Neurone, die lediglich auf den Nachlauf et al. (1998). eines bewegten Objektes antworteten (Müller, 1996). Unsere physiologischen Joachim Mogdans, der von der Stanford Experimente haben wir mit neuroana to - University kam und seit dieser Zeit mein mischen Studien, bei denen es vor allem Mitarbeiter ist, das Labor aufzubauen. Hil- um die multimodale Verarbeitung von hy- fe erhielten wir von Michael Hofmann, der drodynamischen und akustischen Reizen als Neuroanatom aus dem Labor von ging, ergänzt (Bleckmann et al., 1991c). Glenn Northcutt (San Diego, USA) zu uns Nach einer Vertretungsprofessur an stieß. Da uns in Bonn weder ein Elektro - der TH-Darmstadt nahm ich 1994 den Ruf niker noch ein Programmierer zur Verfü- auf den Lehrstuhl für Zoologie an der Uni- gung stand, hat uns Michael mit seinen versität Bonn an. Zunächst galt es mit Hard- und Softwarekenntnissen neben

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seinen eigenen Forschungen (Dietrich et bar sind (Hanke et al., 2000) und dass al., 2002; Hofmann, 2001; Hofmann and diese Spuren Informationen über die Bleckmann, 1997, 1999; Hofmann et al., Größe, die Schwimmgeschwindigkeit, 2005; Hofmann et al., 2002; Kirsch et al., den Schwimmstil und die Schwimmrich- 2002; Wilkens et al., 2002; Wojtenek et al., tung des Spurerzeugers enthalten. Da 2001) bei vielen Projekten wertvolle Hilfe sich der Frequenzgehalt mit dem Alter geleistet. der Spur verändert, kann man einer hy- Bis 1994 wurden in allen an der Sei - drodynamischen Spur auch entnehmen, tenlinie arbeitenden Labors die elektro- zu welchem Zeitpunkt der Spurerzeuger physiologischen Experimente mit immo- den Messort passiert hat (Hanke and bilisierten Fischen im Stillwasser durch - Bleckmann, 2004). Die elektrophysiologi - geführt. Karl von Frisch hätte vermutlich schen Experimente im Strömungskanal sofort darauf hingewiesen, dass Fische in kamen ebenfalls gut voran. Die von Jakob ihrem natürlichen Habitat ständig Wasser- Engelmann (heute Juniorprofessor an der bewegungen ausgesetzt sind, oder, Universität Bielefeld) durchgeführten sofern es sich um Stillwasserfische han- Ableitungen von primären Afferenzen delt, fast immer umherschwimmen. Die belegten erstmals im physiologischen Ex- Reizsituation in allen Experimenten zur periment, dass Seitenlinienkanäle mecha- Physiologie der Seitenlinie war demnach nische Hochpassfilter sind, also niederfre- eher unnatürlich. Um dies zu ändern fin- quentes Rauschen unterdrücken. Die Un- gen wir in Bonn an, das Antwortverhalten tersuchungen zeigten darüber hinaus, von primären Seitenlinienafferenzen und dass Fließwasser (< 10 cms-1) die Dipol - zentralen Seitenlinienneuronen auf Dipol- antworten von Afferenzen, die Kanalneu- reize und bewegte Objekte im Strö- romasten innervieren, nicht maskiert mungskanal zu untersuchen. (Abb. 5) (Engelmann et al., 2002a; Engel- Unsere Beobachtung, dass schwim- mann et al., 2000). In weiteren Experi- mende Fische eine hydrodynamische menten haben wir die Antworteigen- Spur erzeugen, führte dazu, dass sich schaften von medullären und toralen Sei - mein Doktorand Wolf Hanke diese Spuren tenlinienneuronen von fließwasserex- genauer anschaute. Für diese Versuche ponierten Fischen untersucht. Anders als benötigten wir ein PIV (Particle-Image- periphere Neurone können zentrale Sei - Velocimetry)-System, das wir damals tenlinienneurone auf Fließwasser nicht aber noch nicht hatten. So hat Wolf Hanke nur mit einer Zunahme, sondern auch mit als studierter Physiker und Biologe mit einer Abnahme der neuronalen Aktivität Hilfe von Laserpointern und einer Video - antworten. Einige zentrale Neurone kamera unser erstes PIV-System selbst reagierten zudem richtungssensitiv auf gebaut. Die Untersuchungen von Wolf Strömungsreize. Fließwasser kann die Hanke zeigten, dass die von schwim- Antworten zentraler Neurone auf Dipol- menden Fischen verursachten hydrody- reize maskieren, in diesem Fall handelt es namischen Spuren im Stillwasser selbst sich vermutlich um Neurone, die Eingang nach mehreren Minuten noch nachweis- vom Epidermalsystem erhalten. Die

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Dipolantworten von Neuronen, die Ein- gang vom Kanalsystem enthalten, werden demgegenüber nicht oder kaum mas - kiert (Engelmann and Bleckmann, 2004; Engelmann et al., 2003; Engelmann et al., 2002b). Bei unseren Untersuchungen fiel auf, dass primäre Seitenlinienafferenzen, die auf einen Fließwasserreiz reagieren, unabhängig von der Richtung des Fließwassers (anterior/posterior oder posterior/anterior) immer mit einer Zu- nahme der Aktionspotentialfrequenz antworteten. Da die Haarsinneszellen im Sinnesepithel von Seitenlinienneuromas- ten antagonistisch angeordnet sind (Flock, 1965) und eine afferente Seitenli - nienfaser nur gleichsinnig ausgerichtete Haarsinneszellen innerviert (Görner, 1963), stand dies nicht nur im Wider- spruch zur Morphologie der Seitenlinien- neuromasten, sondern auch zur gängigen Lehrmeinung. Mit PIV-Messungen gekop- pelte elektrophysiologische Untersuchun- gen führten dann zu dem überraschen- den Befund, dass primäre Seitenlinienaf- ferenzen nicht auf den DC-Anteil, sondern nur auf den AC-Anteil einer Strömung Abb. 5 Antworten einer Typ I (A) und Typ II Afferenz (B) auf eine stationäre vibrierende reagieren (Chagnaud et al., 2008a; Chag- Kugel (Durchmesser 10 mm, Vibrationsfre- naud et al., 2008b). Dies hatten bisher alle quenz 50 Hz). Die Wegamplitude der Kugel Seitenlinienforscher übersehen. variierte zwischen 20 μm und 300 μm. Jeder Studien am peripheren Seitenlinien- senkrechte Strich entspricht einem Aktionspo- tential. Die Versuche wurden im Stillwasser system (Coombs and Conley, 1997) sowie (jeweils links) und im Fließwasser (jeweils theoretische Überlegungen (Goulet et al., rechts) durchgeführt. Während die Antworten 2008; van Curcic-Blake and van Netten, von Typ I Fasern (Fasern, die Epidermalneu- 2006) ergaben, dass das Zentralnerven- romasten innervieren) im Fließwasser mas- kiert wurden, wurden die Antworten von Typ system über die periphere Seitenlinie alle II Fasern (Fasern, die Kanalneuromasten in- Informationen erhält, die zur Lokalisation nervieren) nicht maskiert. Verändert nach En- einer maximal eine Fischlänge entfernten gelmann et al. (2000) dipolförmigen Reizquelle benötigt wer- den. Dies führte zu der Frage, ob der Ort einer Reizquelle als Karte in der zentralen

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Seitenlinienbahn der Fische abgelegt wird. Die daraufhin durchgeführten elek- trophysiologischen Untersuchungen konn ten diese Annahme nur bedingt bestätigen. So gibt es zwar zentrale Neu- rone, die in einer Karte den rostro-cau- dalen Ort eines bewegten Objektes ab- bilden (Plachta et al., 2003), bei Reizung mit stationären Dipolen weisen zentrale Neurone aber meist sehr breite und oft- mals komplexe rezeptive Felder auf (Künzel et al., 2011; Meyer et al., 2012; Voges and Bleckmann, 2011). Da kleine Änderungen in der Position und/oder in der Vibrationsrichtung eines Dipols einen 180° Phasensprung in der Antwort zen- traler Neurone bewirken können (Abb. 6), stehen diese Informationen einem Fisch wahrscheinlich nur in Form eines Popula- tionscodes zur Verfügung. Zentrale Neu- rone mit einer Bestentfernung wurden bisher nicht gefunden. Bei der Wahl meiner Mitarbeiter habe ich immer darauf geachtet, dass sie begeisterte Zoologen sind. Der erste Abb. 6 Antworten einer toralen Seitenlinien- Carassius auratus (nach Joachim Mogdans und Michael Hof- zelle des Goldfischs ( ) auf si- nusförmige Wasserbewegungen. Links: Pha- mann) war Gerhard von der Emde, den senhistogramm (Binweite 1.1 ms) der neura- ich aufgrund unserer gemeinsamen Ver- len Aktivität, ausgelöst durch eine stationäre suche in Bielefeld ja schon kannte. Ger- vibrierende Kugel (Durchmesser 10 mm, hard hatte sich in Regensburg habilitiert Vibrationsfrequenz 50 Hz, Vibrationsamplitu- de 220 μm). Die Vibrationsrichtung betrug 0° und stieß 1995 als Heisenberg-Stipendiat (parallel zur Längsachse des Fisches), 45°, zu meiner Abteilung, wo er seine Unter- 90° und 135° (senkrecht zum Fisch). Die ge- suchungen an Gnathonemus petersii zeigte Zelle antwortete nur auf eine Hälfte ei- er folgreich weiterführte (Schwarz and nes Wellenzyklus, der Phasenwinkel der Ant- wort hängt von der Vibrationsrichtung der Ku- von der Emde, 2001; von der Emde and gel ab. Rechts: Schematisierter Fisch mit der Bleckmann, 1998; von der Emde et al., ungefähren Position des Zentrums des rezep- 1998). Als vierter wissenschaftlicher Mit - tiven Feldes (kleiner Halbkreis auf der Fisch- arbeiter kam Helmut Schmitz nach Bonn. oberfläche). Gestrichelter Pfeil: Vibrations- richtung der Kugel. Durchgezogene Linien: Aufgrund von elektronenmikroskopischen Wasserpartikelbewegung mit Richtungspfei- Untersuchungen vermutete er (Vondran et len. Gestrichelt: Isobarlinien. Verändert nach al., 1995), dass der pyrophile Käfer (Bleckmann, 2008).

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Melanophila acuminata mit Hilfe von tho- rakalen infrarotsensitiven Sensillen Wald- brände auf große Entfernungen erkennt. Da physiologische Experimente zur Bestätigung dieser Hypothese fehlten, folg te Helmut meiner Einladung nach Bonn. Seine Frau Anke kam gleich mit und so gewannen wir auch noch eine er- fahrene Licht- und Elektronenmikro sko - pikerin. Mit Hilfe von Anke Schmitz und Joachim Mogdans haben wir u.a. Studien zur funktionellen Morphologie der pe- ripheren Seitenlinie durchgeführt (Beck- mann et al., 2010; Schmitz et al., 2008a). Von meinen Untersuchungen an der Sei - tenlinie (Northcutt and Bleckmann, 1993) und an Dolomedes (Bleckmann and Barth, 1984) wusste ich, dass man bei Amphibi- en, Fischen und Spinnen schon Aktions - potentiale extrazellulär von Rezeptoren ableiten kann, wenn man die Spitze einer Metallmikroelektrode nur in die Nähe ei- ner Sinneszelle bringt. Diese Methode Melanophila wandten wir bei an mit dem Abb. 7 Antworten eines thorakalen Sensillums Ergebnis, dass wir bereits nach wenigen von Melanophila acuminata auf Infrarotreize Wochen zeigen konnten, dass die unterschiedlicher Dauer (horizontale Balken Grubenorgane von Melanophila hoch - und Zahlen in den Insets). Jeder Versuch wur- de dreimal wiederholt. In zwei von drei Fällen empfindlich auf Infrarotstrahlung rea - reichte schon eine Reizdauer von 2 ms (Reiz- gieren (Abb. 7). Erstaunlich war auch, intensität 24 mW cm-1) aus, um ein Aktions- dass die Infrarotrezeptoren von potential innerhalb von 4 ms auszulösen. Ver- Melanophila mit einer Flimmerverschmel - ändert nach (Schmitz et al., 1997). zungsfrequenz von 100 Hz eine sehr ho- he zeitliche Auflösung hatten. Dies sowie sichtlich zu einer schnellen Ausdehnung die sehr kurzen Latenzzeiten von 3 bis 4 der Kutikula, die von einer hochempfind- ms deuteten darauf hin, dass es sich bei lichen mechanosensitiven Zelle registriert diesen Rezeptoren nicht um Thermore - wird. Damit war erstmals gezeigt, dass zep toren wie bei den infrarotsensitiven einige biologische Sensoren nach einem Schlangen, sondern um umgewandelte photoakustischen Prinzip funktionieren Mechanorezeptoren handelte. Wenn ein (Schmitz and Bleckmann, 1998; Schmitz et IR-Sensillum von Melanophila Infrarot- al., 1997). Neuere Untersuchungen strahlung absorbiert, kommt es offen- machen wahrscheinlich, dass sich in den

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Lakunen der Infrarotsensillen von Spuren verfolgen können. Diese Spuren Melanophila eine Flüssigkeit befindet, die sollten mit Hilfe eines kleinen Untersee- sich unter dem Einfluss von IR-Strahlung bootes erzeugt werden. Ich fand die Idee ausdehnt, und dass diese Ausdehnung zu abenteuerlich und gab dem DFG- von den Mechanosensoren registriert Antrag von Guido Dehnhard nur wenig wird (Klocke et al., 2011). In Kooperation Chancen. Doch die Gutachter der DFG mit Stephan Schütz (jetzt Universität Göt- waren klüger als ich und bewilligten den tingen) konnten wir zusätzlich den Beweis Antrag. So konnten Guido und Björn erbringen, dass chemosensorische Sen- Mauck in Zusammenarbeit mit Wolf Han- sillen in den Antennen von Melanophila ke schon sehr bald nachweisen, dass hochempfindlich auf Guajakolverbindun- Seehunde mit Hilfe ihrer Vibrissen hydro- gen reagieren (Schütz et al., 1999). Gua- dynamische Spuren wahrnehmen und jakolverbindungen werden artspezifisch verfolgen können (Dehnhardt et al., von brennenden Bäumen freigesetzt, 2001). Wir hatten in Bonn damit ein ganz Melanophila nutzt demnach vermutlich neues Orientierungssystem bei marinen nicht nur die IR-Rezeptoren, sondern Säugern entdeckt. Die Untersuchungen auch Chemosensoren zum Wahrnehmen an marinen Säugern werden von Guido und Auffinden eines Waldbrandes. Dehnhard und seinen Mitarbeitern in- Im Jahr 1994 habe ich unser Wissen zwischen sehr erfolgreich am Marine Sci- über die Hydrodynamiksensoren von ence Center der Universität Rostock wei - aquatischen und semiaquatischen Tieren tergeführt (Gläser et al., 2011; Hanke et zusammengefasst (Bleckmann, 1994). In al., 2013; Hanke et al., 2010; Miersch et dieser Arbeit stellte ich die erstmals von al., 2011). (Renouf, 1979) geäußerte Hypothese auf, Im Jahr 2002 stieß Guido Westhoff zu dass Seehunde mit Hilfe ihrer Vibrissen meiner Arbeitsgruppe. Er war Amphibi- Wasserbewegungen wahrnehmen kön- en- und Reptilienspezialist und wollte die nen und dass sie diese Fähigkeit vermut- zentralnervöse Verarbeitung von Infra - lich dazu nutzen, Fische in trüben rotreizen bei Schlangen untersuchen. Gui- Gewässern oder in Dunkelheit zu er- do Westhoff zog mit seinem Wissen über beuten. Es war eine glückliche Fügung, Amphibien und Reptilien zahlreiche Stu- dass Guido Dehnhard 1996 zu meiner Ar- denten an und bald forschten in meiner beitsgruppe stieß. Guido teilte meine Abteilung genau so viele Studenten an Vermutung. Gemeinsam mit Björn Mauck, Schlangen wie an Fischen (Ebert et al., damals Doktorand von Guido Dehnhard, 2007; Ebert and Westhoff, 2006; Kohl et konnten wir zunächst im verhaltensphysi- al., 2012). Guido hielt privat einige Spei - ologischen Experiment nachweisen, dass kobras. Als mich eine seiner Kobras an - Seehunde (Phoca vitulina) hochempfind- spuckte kam mir die Idee, das Spuckver- lich auf sinusförmige Wasserbewegungen halten dieser Schlangen näher zu unter- reagieren (Dehnhardt et al., 1998). Nach- suchen. Unsere zum Teil in Kooperation dem dies gezeigt war, wollte Guido tes - mit Bruce Young (University of Massachu- ten, ob Seehunde auch hydrodynamische setts Lowell, USA) durchgeführten verhal-

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tensphysiologischen Untersuchungen (Berthe et al., 2013). Speikobras berück- zeigten, dass der nur 40 bis 70 ms dauern - sichtigen beim Spucken aber nicht nur de Spuckvorgang fast ausschließ lich die Bewegung, sondern auch die Entfer- durch die schnellen Bewegungen eines nung eines Angreifers. Da die Schlangen Angreifers ausgelöst wird. Um die Treffer- ihr Gift gleichmäßig im Gesicht eines An- wahrscheinlichkeit zu erhöhen, berück- greifers verteilen, nimmt die Amplitude sichtigen Kobras beim Spucken sowohl der horizontalen und vertikalen Kopfbe- die Richtung als auch die Geschwindig - wegungen beim Spuckvorgang mit zu - keit, mit der ein Angreifer sein Gesicht nehmendem Abstand zum Angreifer ab. bewegt (Westhoff et al., 2010). Unsere Damit gewährleistet die Schlange, dass Daten zeigten darüber hinaus, dass Spei - unabhängig von der Entfernung nur das kobras durch rotierende Kopfbewegun- Gesicht eines Angreifers getroffen wird, gen das Gift auf dem Gesicht eines An- also kein Gift rechts oder links am Ge - greifers gleichmäßig verteilen (Abb. 8). sicht vorbei gespritzt wird (Berthe et al., Die Position der Augen hatte dabei im 2009). Wenn man sich sowohl mit Schlan - Gegensatz zu Angaben in der Literatur gen als auch mit der Seitenlinie der Fis- keinen Einfluss auf die Giftverteilung che beschäftigt, kommt früher oder spä - (Westhoff et al., 2005b). Reizt man die ter unweigerlich die Frage auf, ob See - Schlangen, kann der Spuckvorgang sogar schlangen, ebenso wie viele andere mit augenlosen Attrappen ausgelöst wer- aqua tische Organismen (Bleckmann den (Berthe et al., 2013). Die Form der 1994), Wasserbewegungen wahrnehmen Attrappen spielt demgegenüber eine ent - können. Diese Hypothese wurde von scheidende Rolle: Ovale Attrappen sind Povel and Kooi. (1997), die die scale sen- deutlich reizwirksamer als dreieckige silla von Seeschlangen morphologisch

Abb. 8 Spuckmuster von Speikobras (Naja pallida) auf den Fotos menschli- cher Gesichter, deren Au- genabstand digital verän- dert wurde (a-d). In a wurde das rechte Auge digital entfernt. Abb. 8e zeigt das Spuckmuster auf einem realen Gesicht, dass durch eine transpa- rente Folie geschützt war. Die Kreise in f und g ent- sprechen dem Zentrum einzelner Spuckmuster, die Vierecke dem gemit- telten Zentrum aller Spuckmuster. Nach West- hoff et al., 2005b)

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untersucht haben, erstmals geäußert. Um tralien über das Riechsystem von Haien diese Hypothese zu überprüfen, flog ich promoviert (Schluessel et al., 2008). Seit mit Guido Westhoff nach Melbourne zu 2009 erforscht sie in meinem Labor die Brian Frey, einem erfahrenen Herpatolo- kognitiven Fähigkeit von Haien (Schlues- gen, der sich vor allem für Reptiliengifte sel and Bleckmann, 2012), denn über die interessiert. Gemeinsam mit Brian haben kognitiven Fähigkeiten dieser mehr als wir in der Nähe von Weipa an der Nord- 350 Millionen Jahre alten Tiergruppe küste Australiens hochgiftige Seeschlan - sowie über die an der Kognition betei - gen (Lapemis curtus) gefangen. Diese ligten Gehirnareale ist so gut wie nichts wurden dann mit dem Flugzeug nach bekannt. Zum Vergleich untersuchen wir Melbourne transportiert. Da wir keine auch die kognitiven Fähigkeiten von Ahnung hatten, wie und mit welcher Dosis Teleostiern (Gierszewski et al., 2013; man Seeschlangen betäubt, immobilisiert Schluessel et al., 2012). und wie man sie unter Wasser künstlich Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns beatmet, konnten wir erst nach mehreren in Bonn auch mit der Bionik. Unsere 1997 Tagen mit den eigentlichen Versuchen in Nature erschienene Publikation zum In- beginnen. Die Haut von Seeschlangen ist frarotsinn von Melanophila (Schmitz et al., äußerst stark vaskularisiert, dies dient 1997) hatte man bei DARPA (Defense Ad- wahrscheinlich der Hautatmung. Das Frei- vanced Research Projects Agency, USA) legen peripher Nerven war wegen nicht aufmerksam gelesen. Biomimetisch zu stillender Blutungen unmöglich. Nach forschende US-Wissenschaftler waren auf vielen Bemühungen gelang es uns der Suche nach neuen technischen In- schließlich, evozierte Potentiale aus dem frarotsystemen und wollten deshalb mehr Mittelhirn abzuleiten. Diese Potentiale über biologische Infrarotsensoren erfah - konnten durch Wasserbewegungen von ren. Da nach unseren Untersuchungen zwei Mikrometern Amplitude ausgelöst der IR-Rezeptor von Melanophila nach werden (Westhoff et al., 2005a). Eine ähn- einem bis dahin unbekannten photo akus - lich hohe Empfindlichkeit für Wasserbe- tischen Prinzip funktioniert (siehe weiter wegungen (Oberflächenwellen) konnten oben), waren sie an unseren Forschungen wir inzwischen auch für Krokodile nach- besonders interessiert. DARPA hat die Ar- weisen (Grap and Bleckmann, 2012). beiten von Helmut Schmitz und später Guido Westhoff ging 2008 als Leiter auch meine Arbeiten über das Seitenli - des Tropen-Aquariums des Tierpark Ha- niensystem der Fische (Yang et al., 2010) genbeck nach Hamburg. Da traf es sich großzügig gefördert. Helmut Schmitz gut, dass Vera Schlüssel, die sich seit konnte mit Hilfe dieser Finanzierung nicht frühester Kindheit für Haie interessierte nur seine Forschungen an Melanophila und im Jahr 2005 in meiner Abteilung ihre fortführen (Schmitz and Bousack, 2012; Diplomarbeit über das Orientierungsver- Schmitz et al., 2000), sondern auch die In- halten von Süßwasserrochen angefertigt frarotsysteme von weiteren von ihm ent- hatte (Schluessel and Bleckmann, 2005), deckten pyrophilen Käfer-, Wanzen- und auf Stellensuche war. Vera hatte in Aus- Fliegenarten untersuchen (Klocke et al.,

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2011; Schmitz et al., 2008b; Schmitz et al., künstliche Seitenlinienkanalsysteme mit 2001). den unterschiedlichsten Filtereigen- In Deutschland bekam die Bionik im schaften zu bauen. Unsere Untersuchun- Jahr 2002 großen Aufschwung, es gab gen haben u.a. gezeigt, dass die kom- spezielle bionische Förderprogramme plexen Seitenlinienkanäle von Xiphister at- vom BMBF, der DFG und der EU. Die Idee ropurpureus (siehe weiter oben) räum- dieser Programme war und ist, dass Bio - liche Filter darstellen (Abb. 9) (Klein et al., logen, Ingenieure, Physiker und Material- 2013). Ein weiteres bionisches Projekt wissenschaftler interdisziplinär an bio - basiert auf dem Abwehrverhalten von nischen Projekten arbeiten. Da ich seit Speikobras. Wie bereits erwähnt, können mehreren Jahren eine Zusammenarbeit diese Schlangen ihr Gift bis zu 3 Meter mit dem Ingenieur für Strömungs me - weit spucken. Da die Öffnungen in den chanik, Christoph Brücker, hatte (Brücker Giftzähnen nur 50 x 50 μm groß sind, and Bleckmann, 2007; Chagnaud et al., stellt sich die Frage, wie die Schlangen es 2008a; Hanke et al., 2000) waren gemein- schaffen, einen Strahlzerfall bei Strahlaus- same Forschungsprojekte schnell for- tritt zu vermeiden. Unsere gemeinsam mit muliert. Ein Ziel unserer Forschungen Christoph Brücker und Mitarbeitern war, im Rahmen des von Cameron Tropea durchgeführte Untersuchungen zeigen, (TH-Darmstadt) und mir koordinierten dass sich an den Austrittsöffnungen der DFG-Schwerpunkts „Strömungsbeeinflus- Giftzähne von Speikobras Schwellungen sung in der Natur und Technik“ die Be- befinden, die eine Querverwirbelung und deutung des Seitenliniensystems für das damit ein Versprühen des Giftes verhin- Schwimmverhalten von Forellen in turbu- dern (Triep et al., 2013). Diese Erkenntnis lenter Strömung zu untersuchen. Wir ver- sowie Erkenntnisse, die wir bei der Un- muteten, dass Forellen Seitenlinieninfor- tersuchung der Scheren von Knallkrebsen mationen benötigen, um beim Schwim- gewonnen haben (Hessa et al., 2013), men in turbulenter Strömung die Berei- lassen sich u.a. dazu nutzen, den Wasser - che aufzusuchen, die ihnen eine mög - ver brauch bei Wasserstrahlschneidever- lichst energiearme Fortbewegung er- fahren zu verringern. Es war Christoph möglichen (Bleckmann et al., 2012; Przy- Brücker, der mich auf eine weitere Idee billa et. al. 2012). Im Rahmen unserer brachte. Als Student hatte ich oft Wander- For schungen untersuchen wir auch das falkenhorste während der Brutsaison be- bionische Potential des Seitenliniensys- wacht; seit dieser Zeit war ich von diesen tems der Fische. Unser Ziel war, gemein- Vögeln fasziniert. Trotz der hohen sam mit amerikanischen Wissenschaftlern Fluggeschwindigkeiten (bis 350 km/h), und später dann mit Wissenschaftlern die Wanderfalken im senkrechten Sturz - vom Forschungsinstitut caesar künstliche flug erreichen, behalten sie ihre volle Seitenlinienneuromasten zu entwickeln Manövrierfähigkeit und können – wie ich (Bleckmann and Klein, 2012; Klein and oft beobachtete hatte – auf engsten Radi- Bleckmann, 2011; Yang et al., 2010). Mit en unmittelbar vor dem Aufschlagen auf Hilfe dieser Sensoren ist es uns gelungen, den Boden ihren Sturzflug in einen

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senkrechten Steigflug umlenken. Auf den uns der Deutsche Falkenorden unentgelt - Flügel- und Schwanzfedern, aber auch lich für unsere Forschungen Totfunde von auf die Flügelknochen, Muskeln und Wanderfalken zur Verfügung gestellt hat, Sehnen müssen dabei enorme Kräfte ist eine erste Publikation über unsere wirken. Als ich dies beiläufig Christoph noch vorläufigen Ergebnisse im Jahrbuch Brücker erzählte, war der sofort begeis- des Deutschen Falkenordens erschienen tert. Es wurde ein Forschungsprojekt for- (Honisch et al., 2012). muliert, in dem wir neben den morpholo- gischen Anpassungen des Wanderfalken Danksagung. an die hohen Fluggeschwindigkeiten Ich danke allen wissenschaftlichen auch die Aerodynamik dieses Vogels Mitarbeitern, Stipendiaten, Doktoranden, beim Sturzflug untersuchen wollen. Da Diplomanden, Masterstudenten, Bachelor -

Abb. 9 a-d. Ausgangssignal eines einporigen (A, C) und dreizehnporigen (B, D) künstlichen Seitenlinienkanals. Als Reiz dienten Wasserbewegungen, die mit Hilfe einer vibrierenden Kugel (Durchmesser 10 mm, Frequenz 10 Hz) erzeugt wurden. Die Messungen wurden im Stillwasser (A, B) und in Wasser, dass zahlreiche Luftblasen enthielt (C, D) durchgeführt. In A und B zeigt die Autokorrelation der Messungen (jeweils Inset) ein Maximum bei einer Verzögerung von 0.1 s (gleich 10 Hz). Obwohl die Antwort in C und D kaum sichtbar ist, zeigt sich in D ein kleines aber signifikantes Maximum bei einer Verzögerung von 0.1 s. Beachte, dass die y-Achsen in A und B unterschiedlich skaliert sind. Senkrechte Balken in den Kanälen symbolisieren die künstli- chen Neuromasten.

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studenten und Lehr amts studenten, die Forschungen hat. Mein besonderer Dank mein wissenschaftliches Leben in den gilt meiner Frau, die mich über viele letzten drei Jahrzehnten so ungemein Jahre unterstützt und entlastet hat. Ich bereichert haben. Darüber hinaus gilt danke der DFG, dem BMBF, DARPA, der mein Dank meinem langjährigen Mitar- EU, der Bundesanstalt für Gewässer kunde beiter Joachim Mogdans, der einen und dem DAAD für großzügige finan - er heblichen Anteil am Erfolg unserer zielle Unterstützung.

Das umfangreiche Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag findet sich im elektronischen Supplement des Heftes unter: http://www.dzg-ev.de/de/publikationen/mitteilungen_zoologie.php

Prof. Dr. Horst Bleckmann Rheinische Friedrich Wilhelms Universität Bonn, Institut für Zoologie, Poppelsdorfer Schloss, 53115 Bonn Email: [email protected]

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Willi Hennig und die Phylogenetische Systematik Gedanken zum 100. Geburtstag des Revolutionärs der Systematik

Stefan Richter

Am 20. April 2013 wäre Willi Hennig, Heute kennt wohl jeder Zoologe (und der Begründer der Phylogenetischen darüber hinaus sicher auch Vertreter an- Systematik, 100 Jahre alt geworden. Weni- derer biologischer und benachbarter ge Tage später, am 2. Mai dieses Jahres, Disziplinen) den Namen Willi Hennig und starb im Alter von 86 Jahren Peter Ax, in einige der wichtigsten Termini des von Deutschland sicherlich über Jahrzehnte ihm geschaffenen Begriffsapparats. Die der prominenteste Unterstützer der Theo- Person dahinter ist dagegen den meisten rien und Ansätze Hennigs und eigenstän- sicherlich weitgehend unbekannt, so dass diger Ausgestalter einer konsequent phy- die Biographie „From Taxonomy to Phylo- logenetischen Systematik – Anlass, Rück- genetics – Life and work of Willi Hennig“ blick und Ausblick auf die Disziplin der von Michael Schmitt (Greifswald) an- Phylogenetischen Systematik zu halten. lässlich der 100. Wiederkehr seines Ge- burtstages gerade zur rechten Zeit er- scheint. Sie sei jedem Systematiker als Pflichtlektüre empfohlen! In diesem Beitrag möchte ich jedoch weniger auf die Person Hennigs einge- hen, als mich auf die wesentlichen Leis- tungen Hennigs, und hier insbesondere bei der Entwicklung einer ‚Theorie‘ einer phylogenetischen Systematik konzentrie- ren. Willi Hennig war von seiner Persön- lichkeit her sicherlich kein „Super-Star“, wie auf einem Tagungs-T-Shirt der Willi Hennig Society zu lesen war, sondern zutreffender ist eher Schmitts Charakte- risierung Hennigs als „scheuer Revolu- tionär“. Allerdings, revolutionär war Hen- nigs Herangehensweise tatsächlich und vieles spricht dafür, dass Hennig sich dessen durchaus bewusst war. Der Ber- Abb. 1 Willi Hennig (1913-1976). Radierung. Konzeption: S. Richter, P. Lederer; Künstleri- liner Paläontologe W.G. Kühne spricht in sche Umsetzung: Peter Lederer 1995. seinem Nachruf 1978 – Hennig verstarb

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am 5. Nov. 1976 im Alter von nur 63 Jah - Bezugs system zu besitzen, von dem aus ren viel zu früh – von einem Paradigmen- sich die Beziehungen zu allen anderen in wechsel in der Systematik, wobei vor- der Biologie denkbaren Systemen beson- rangig und über Jahrzehnte ausschließ - ders leicht darstellen lassen“ (Hennig lich die zoologische Systematik diesen 1950: 29). vollzogen hat. Die Diskussion, inwieweit eine Syste - Dabei erscheint uns heute das für matik (d.h. auch eine Klassifikation) aus - Hennig zunächst zentrale Element fast schließlich die phylogenetischen Ver- selbstverständlich. In seinem überwie - wandtschaftsbeziehungen widerspiegeln gend in britischer Kriegsgefangenschaft soll, war auch Jahrzehnte später noch in Italien geschriebenen Hauptwerk (wie Kern der Auseinandersetzung zwischen wir sehen werden, gibt es bei Hennig Ernst Mayr und Willi Hennig (Mayr 1974, eigentlich zwei Hauptwerke) „Grundzüge Hennig 1974) um eine kladistische vs. einer Theorie der Phylogenetischen Sys- evolutionäre Klassifikation. Dem von Mayr tematik“ aus dem Jahr 1950 (Manuskript seiner phylogenetischen Systematik zu - 1945 begonnen) argumentiert Hennig für gewiesenen Begriff der Kladistik stand eine „phylogenetische“ Systematik, d.h. Hennig allerdings zeitlebens kritisch ge - eine Systematik der Organismen, die genüber, es klang ihm wohl zu sehr nach präzise die stammesgeschichtliche, d.h. ‚Gabelkunde‘ (Sudhaus 2007). Ernst Mayr phylogenetische, Verwandtschaft wider- vertrat dagegen eine von ihm selbst als spiegeln muss. Der Begriff ‚Verwandt - ‚evolutionär‘ titulierte traditionelle Sys- schaft‘ ist dabei nämlich keineswegs so tematik, d.h. z.B. Beibehaltung von Rep- eindeutig, wie es uns heute erscheinen tilien und Turbellarien (aufgrund der ver- mag (so unterscheidet z.B. Naef, 1919, gleichbaren Evolutionsstufe ihrer Ver - zwischen Blutsverwandtschaft und Form - treter) in der Klassifikation des Tierreich- verwandtschaft), und ein rein auf Ähn- es, noch vehement auf der 83. Jahresver- lichkeiten (d.h. auf Formverwandtschaft) sammlung der Deutschen Zoologischen bezogenes System existierte bereits seit Gesellschaft 1990 in Frankfurt a.M. (Mayr Linné (und eigentlich schon bei Aristote- 1990). Ganz anders Peter Ax (1984: 17) in les). Für Hennig war es aber klar, dass Weiterführung der Überlegungen Hen- nur eine phylogenetische Systematik den nigs in dem ihm eigenen Duktus: „Die Anspruch erheben kann, für die Biologie phylogenetische Systematik verwirft mit ein allgemeines Bezugssystem vorzule- kompromissloser Entschiedenheit alle gen. „Wenn wir das phylogenetische Sys- Gruppierungen traditioneller und konkur- tem, in dem die zwischen allen Sema- rierender Klassifikationen, die keine Äqui - phoronten bestehenden genetischen valente geschlossener Abstammungsge- (hologenetischen) Beziehungen darge - meinschaften der Natur darstellen.“ stellt sind, zu dem von der speziellen Sys- Hennig benennt in den „Grundzügen“ tematik gesuchten, allgemeinen Bezugs - auch präzise, was er unter phylogeneti - system erheben, dann gewinnen wir d a - scher Verwandtschaft versteht: „Beide mit den unschätzbaren Vorteil, ein Tochterarten [einer Stammart] stehen

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aber erst 1966 als „Phylogenetic System- atics“ publiziert wird. Erstmals werden dort ‚monophyletisch‘, ‚polyphyletisch‘ und ‚paraphyletisch‘ einander gegen - über gestellt. Ernst Mayr, der stets in- sistierte, dass bei Haeckel der Begriff monophyletisch nicht die restriktive Be- deutung wie bei Hennig hatte, schreibt noch 1990 (S. 275): „Das Prinzip der Para- phylie wird nicht anerkannt.“ Heute gibt es jedoch weitgehende Übereinstimmung mit Hennigs Vorstellungen, dass nur mono phyletische Gruppen in einer Klas- Abb. 2 Peter Ax (1927-2013) während einer sifikation zugelassen werden sollen (siehe Vorlesung an der Universität Göttingen auch Wheeler et al. 2013). ca. 1930. Foto: Andreas Schmidt-Rhaesa. Ein anderes Begriffspaar, welches Hennig eingeführt hat, ist ebenfalls heute zueinander in einem phylogenetischen in den allgemeinen Sprachgebrauch der Verwandtschaftsverhältnis ersten Grades. Systematiker übergegangen: ‚apomorph‘ Sie bilden zusammen eine Gruppenkate- und ‚plesiomorph‘. Interessanterweise gorie höherer Ordnung“ (Hennig 1950: verwendet Hennig sie zunächst für Grup- 102). In späteren Arbeiten (seit 1953) pen von Organismen und nicht für ein - wird Hennig Gruppen, die in einem phy- zelne Merkmale (Richter & Meier 1994). logenetischen Verwandtschaftsverhältnis Dies ergibt sich aus Hennigs so genann - ersten Grades stehen, als Schwestergrup- ter ‚Deviationsregel‘. „Diese Regel be- pen bezeichnen. Unmittelbar in diesem sagt, dass von zwei Arten, die aus einer Zusammenhang wird auch der Begriff gemeinsamen Stammart hervorgehen, ‚monophyletisch‘ eingeführt. Denn nur häufig eine der beiden Tochterarten in ‚monophyletische‘ Gruppenbildungen ihren Gestaltmerkmalen der gemein- haben eine Berechtigung in einer phylo- samen Stammart ähnlicher bleibt als die genetischen Systematik (Hennig 1950: andere, die sich gestaltlich von ihr fortent - 307-308). Hennig verwendet hier einen wickelt“ (Hennig 1950: 106), letztere be - Begriff Haeckels (1866), präzisiert ihn zeichnet er dann als apomorph; aller - aber und bezieht ihn auf eine Gruppe, dings durchaus im Bewusstsein der Exis- die alle (!) Arten umfassen muss, die auf tenz sogenannter ‚Spezialisationskreuzun- eine Stammart zurückgehen. Den Begriff gen‘, also der Kombination von apomor- ‚paraphyletisch‘ für eine Gruppe, die ge - phen und plesiomorphen Merkmalen in rade nicht alle Nachkommen einer Stam- einer Gruppe. In einer kleinen Publika- mart, sondern nur einen Teil umfasst, ge- tion 1949, die wesentliche Begriffe der braucht Hennig erst bei der Überarbei - phylogenetischen Systematik erstmals tung seiner Grundzüge (gegen 1960), die benennt (die „Grundzüge“ erschienen

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wegen Papierknappheit erst 1950) ver- doch war es ja tatsächlich erst Remane wendet Hennig ‚apomorph‘ und ‚ple- mit seinem Buch 1952, der das allge- siomorph‘ gleichermaßen für Gruppen meine Interesse wieder auf die Homolo- und Merkmale. Eine eindeutige For- gie lenkte. Hennig (1953: 11) kritisiert Re- mulierung findet sich erst im dritten Band mane insbesondere dahingehend, keine der Larvenformen der Dipteren (Hennig deutliche Unterscheidung zwischen Defi- 1952). "In einer konsequent phylogeneti - nition und Kriterium vorzunehmen, über- schen Systematik zählen aber nicht die sieht aber meines Erachtens, dass Re- Übereinstimmungen in plesiomorphen mane sich der Komplexität des Homolo- ("primitiven"), sondern nur die in apomor- giebegriffes durchaus bewusst ist und phen ("abgeleiteten") Merkmalen." Erst in wohl auf eine Definition ganz bewusst der 1984 posthum publizierten Schrift verzichtet (1952: 31-33) (siehe auch „Aufgaben und Probleme stammesge - Schmitt 1989). Hennig macht deutlich, schichtlicher Forschung“ macht Hennig dass die morphologische Methode der klar, „dass es grundsätzlich falsch ist von Systematik sich nicht auf die Unterschei- plesiomorphen und apomorphen Grup- dung von Homologie und Konvergenz pen … zu sprechen“ (Hennig 1984: 41). beschränkt, da es sich sowohl bei Die Begriffe Synapomorphie und Autapo- Synapomorphien wie auch bei Symple- morphie tauchen erstmals 1953 in „Kri- siomorphien um Homologien handelt, nur tische Bemerkungen zum phylogeneti - erstere aber zur Begründung mono- schen System der Insekten auf“, eine phyletischer Gruppen herangezogen Schrift, die sich in ihrer klaren Sprache werden dürfen. Auch für Ax (insbeson- deutlich von den „Grundzügen“ abhebt. dere 1987: 72-74) spielt der Homologie- Nur Synapomorphien, Übereinstimmun - begriff in der phylogenetischen System- g en in apomorphen Merkmalen, begrün- atik keine besondere Rolle mehr, sondern den ein Schwestergruppenverhältnis, wird durch die Alternativen Synapomor- nicht aber die Übereinstimmungen in ple- phie, Symplesiomophie und Konvergenz siomorphen Merkmalen, die Symple- ersetzt. Ax‘ Definition, „Homologie … siomorphien. Es ist aber Ax (1984), der beruht auf der Übernahme des Merkmals den Begriff Synapomorphie ausschließ - von einer gemeinsamen Stammart“, igno - lich auf Schwestergruppen bezieht und riert allerdings auch andere Ebenen des damit zur weiteren Präzisierung beiträgt. Homologiebegriffs, die verkürzt vielleicht In den „Kritischen Bemerkungen“ geht am besten als ‚biologischer Homolo- Hennig auch auf Adolf Remanes „Die giebegriff‘ bezeichnet werden können. Grundlagen des natürlichen Systems der Bedenkt man, welche klare Vorstellung vergleichenden Anatomie und der Phylo- Hennig bereits in den „Grundzügen“ von genetik“ (1952) und hier insbesondere dem hatte, was phylogenetische Ver- auf die für Remane zentrale Homologie - wandtschaft ausmacht und wie sie zu frage ein – in den „Grundzügen“ igno - fassen ist, so könnte man erwarten, dass r iert Hennig die Homologiefrage weitge- auch die Methoden zur Rekonstruktion hend, was zunächst überraschen mag, je- der Verwandtschaftsverhältnisse ebenso

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präzise benannt und beschrieben wer- Original und einer Neubearbeitung zu den. Das ist aber nicht der Fall. Hennig finden.“ Hennig hat seine deutsche Über- beschreibt eine paläontologische und arbeitung gegen 1960 fertig gestellt (post - eine chorologische (bezogen auf die geo- hum 1982 von seinem Sohn Wolfgang graphische Verteilung der Organismen) Hennig publiziert), publiziert wurde das Methode, die in ihrer Anwendbarkeit sehr Buch 1966 auf Englisch. Entgegen manch beschränkt sind. In der Besprechung der früherer Behauptungen stellt die Überset- ‚vergleichend-holomorphologischen‘ zung keine Verfälschung der Gedanken - Methode vermengt Hennig empirische gänge Hennigs dar, sondern ist im Ge - Indizien (oder ‚Kriterien‘) der Homolo- genteil besonders nah am Original aus- giefeststellung mit denen, die zumindest gerichtet (siehe Schmitt 2013). In „Phylo- theoretisch zur Bestimmung der Polarität genetic Systematics“ besteht die verglei - von Merkmalen (d.h., ob ein Merkmal als chend-holomorphologische Methode nun apomorph oder plesiomorph zu betrach - prinzipiell aus zwei Schritten: zum einen ten ist) dienen können. Insgesamt sind der Feststellung, ob Eigenschaften ver- die in den „Grundzügen“ beschriebenen schiedener Arten als Transformations- Methoden nicht geeignet, phylogeneti - zustände ein und desselben Merkmals sche Verwandtschaftsbeziehungen zu angesehen werden müssen, zum anderen rekonstruieren (siehe Richter & Meier der Frage nach Anfangs- und Endzustand 1994). In den „Kritischen Bemerkungen“ einer Transformationsreihe. Dafür be - (1953) ist bereits vieles klarer beschrie - nennt Hennig vier Kriterien zum Bestim- ben, aber es bleibt weiterhin unklar, wie men der Merkmalspolarität, nicht aber genau Hennig bestimmt, welche Merk- das über lange Zeit am meisten benutzte male er als apomorph und welche er als Kriterium, das des Außengruppenver - plesiomorph ansieht. gleichs, obwohl es deutlich wird, dass Erst in „Phylogenetic Systematics“ Hennig ihn implizit verschiedentlich findet sich eine weitere intensive Diskus- angewandt hat (Richter & Meier 1994). sion, die sich mit der Polaritätsbestim- Es war Hennigs phylogenetische Sys- mung von Merkmalen befasst. Dieses tematik, die nach Jahrzehnten des Fokus Buch stellt das bereits oben angedeutete auf Arten und ihre Entstehung wieder das zweite Hauptwerk Hennigs dar, ist es Interesse an Verwandtschaftsbeziehungen doch keineswegs nur eine Übersetzung höherer Taxa lenkte und dafür einen der „Grundzüge“ von 1950. Tatsächlich prä zisen Begriffsapparat zur Verfügung hat Hennig die Grundzüge wesentlich stellte (Richter & Meier 1994). Michael überarbeitet, wenn vielleicht auch nicht in Schmitt schließt seine Biographie mit der dem Umfang, wie es notwendig gewesen Bemerkung, dass Hennig eigentlich nur wäre. Hennig schreibt an den Übersetzer wenig Interesse an den Evolutionsmecha- R. Zangerl im August 1965: „Bei der Ab- nismen hatte, sondern schlussendlich an fassung meines Manuskriptes habe ich der Ordnung der Dinge interessiert war: überhaupt vor der Schwierigkeit ge - „Willi Hennig – a man of order.“ Das hatte standen, den rechten Weg zwischen dem er wohl mit Adolf Remane gemeinsam

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und das hat vermutlich beide in den Au- druck durch Ax perfektioniert wurde, was gen Ernst Mayrs ‚verdächtig‘ gemacht, zur Popularisierung sicher beigetragen noch einer idealistischen Morphologie hat (siehe auch Sudhaus & Rehfeld 1992). anzuhängen. Die Formalisierbarkeit war aber auch In Deutschland hat es lange gedauert, idealer Ausgangspunkt für die Anwen- bis es zu einem allgemeinen Durchbruch dung von Computeralgorithmen. Hier war der Phylogenetischen Systematik kam, in es insbesondere der Gründer der Willi der Bundesrepublik eigentlich erst durch Hennig Society (1980), James S. Farris, das Buch von Peter Ax (1984) „Das Phylo- der Warren H. Wagners „groundplan di- genetische System“, in der DDR schon in vergence method“, numerische Taxo - den 1970er Jahren (Peters & Klausnitzer nomie, und den Begriffsapparat der phy- 1978). Einen überzeugenden Grund gibt logenetischen Systematik vereinte (Kluge es für diese Verzögerung eigentlich nicht. & Farris 1969, Farris 1970, Farris 2012). Sicher waren die „Grundzüge“ schwer zu Farris (1979: 415) beschreibt den Zusam- lesen und durch den Eigenvertrieb des menhang meines Erachtens klar: „Hen- Deutschen Entomologischen Instituts nig’s approach to systematics was, in a nicht allgemein verfügbar (Schmitt 2013), word, rational. In a field in which promi- doch hatte z.B. der junge Nematoden - nent authorities have customarily dis- kundler Günther Osche schon 1952 die missed theoretical problems by charac- Begriffe apomorph und plesiomorph ver- terizing systematics as part science, part wendet und es ist eigentlich zu erwarten, art, Hennig achieved preeminence simply dass zumindest die sehr klaren „Kriti - by adopting the attitude that systematics sche[n] Bemerkungen zum phylogenetis- is, and ought to be, a logical and scientific chen System der Insekten“ von jedem endeavor.” Hennig hat die Arbeiten von Hochschullehrer der Zoologie zur Kennt- Wagner und Farris aus den 60er und frü - nis genommen wurden. Auch die Über- hen 70er Jahren offenbar nicht zur Kennt- sichten des Berliner Systematikers und nis genommen. Schmitt (2013) hält es Evolutionsbiologen Klaus Günther zur dabei durchaus für möglich, dass Hennig „Systematik und Stammesgeschichte der dieser Aufnahme seiner Ideen positiv Tiere“ (Günther 1956, 1962) wurden sei - gegenüber gestanden hätte, allerdings nerzeit viel gelesen und haben zur Ver- wohl auf die Polarisierung jedes einzel- breitung der Ideen Hennigs beigetragen. nen Merkmals bestanden und eine Vermutlich waren die Ideen Hennigs generelle Polarisierung aller Merkmale in eben doch revolutionärer als sie heute im einem einzigen Schritt durch „Außen- Rückblick erscheinen mögen, so dass gruppenaddition“ (Wägele 2000) und ihre Akzeptanz in Deutschland eben nicht Wurzelung wohl abgelehnt hätte; dies selbstverständlich war. stellt allerdings tatsächlich den fundamen- Der schließlich sich einstellende Er- talen Unterschied zwischen Hennigscher folg der Hennigschen phylogenetischen Phylogenetik und Computerkladistsik dar Systematik liegt ohne Zweifel in ihrer For- (siehe auch Richter 2005). Eine Diskus- malisierbarkeit, die im sprachlichen Aus- sion des Sparsamkeitsprinzips, findet sich

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nicht in den Schriften Hennigs und auch lung. Heute haben diese Analysen die auf nicht bei Ax (1984, 1987). Erst 1995 (S. morphologischen Merkmalen basieren- 28-29) geht Ax in seinem „System der den weitgehend verdrängt, sieht man von Metazoa“ ausführlicher auf das „Principle Untersuchungen an ausschließlich oder of Parsimony“ ein. Das mag verwundern, überwiegend fossilen Taxa einmal ab es muss aber bedacht werden, dass ja (Mayr 2007). Besonders deutlich werden Hennig wie auch Ax jedes einzelne Merk- die Veränderungen bei der Untersuchung mal für sich diskutiert haben, so dass der Verwandtschaftsbeziehungen der Widersprüche zwischen zwei oder mehr Großgruppen des Tierreichs. Ohnehin Merkmalspolarisierungen in ihren Argu- standen hier nur wenige morphologische mentationen kaum vorgekommen sind Merkmale zur Verfügung, die über (bzw. nicht wahrgenommen wurden). mehrere Großgruppen vergleichend be- Tatsächlich ist in Deutschland bis An- trachtet werden konnten. So verwundert fang, ja Mitte der 90er Jahre des 20. Jahr - es nicht, dass über Jahr zehnte immer hunderts die ‚Computerkladistik‘ weitge- wieder dieselben morphologischen/ent- hend ignoriert und sogar angefeindet wicklungsbiologischen Merkmale disku- worden. Unterschiedliche Auffassungen tiert wurden. Dennoch gab es zwischen zu dieser Zeit werden insbesondere in den morphologischen Analysen und den Arbeiten von Meier (1992), Wägele Hypothesen wesentliche Übereinstim- (1994) und Ax (1995) deutlich. Erst da - mungen. Diese wurden von Ax in seinem nach ist es auch in Deutschland zur weit- System der Metazoa (1995, 1999, 2001) gehenden Selbstverständlichkeit gewor- noch einmal – und für manch einen viel - den, computergestützte Analysen durch - leicht schon anachronistisch – dargestellt zuführen. und argumentativ vertreten. Molekulare Durch den in Deutschland ‚verspä - Daten resultierten ab den 90er Jahren in teten‘ Beginn der Diskussion um „com- ganz anderen Verwandtschaftshypothe- putergestützte Analysehilfsmittel zur Ver- sen, eine ‚New Animal Phylogeny‘ löste arbeitung von Daten für die Ziele der die über Jahr zehn te gültige ab und hat in- phylogenetischen Systematik“ (Ax 1995: zwischen Eingang in nahezu alle Lehr - 41) ist es auch zu einer Vermengung mit bücher gefunden. Als Beispiel für eine einer anderen nach-Hennigschen Ent - klare phylogenetische Argumentation und wicklung gekommen, der ‚Molekularen auch in vielen Einzel aspekten ist das Systematik‘, die Ende der 80er Jahre „System der Metazoa“ von Ax aber von ihren Anfang nahm. Während anfänglich bleibendem Wert. molekularsystematische Analysen auf Auch die auf molekularen Daten einem bis wenigen Genen beruhten, ist beruhenden Verwandtschaftshypothesen es nun eine Vielzahl von Genen, die zu - sind Hypothesen realer phylogenetischer letzt meist als EST Daten gewonnen wur- Verwandtschaft. Das gilt glei chermaßen den, die analysiert werden. Neue Sequen - für Hypothesen, die mit Parsimoniever- zier techniken wie Illumina-sequen- fahren, wie auch mit den heute populär- zierung beschleunigen diese Entwick- eren Methoden ‚Maximum Likelihood‘

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oder ‚Bayesian Inference‘ bestimmt wer- auf der phylogenetischen Verwandtschaft, den. Dies trifft ledig lich auf Distanzver- d.h. bei klarer Benennung von Schwester- fahren nicht zu, die tatsächlich Grup- gruppenhypothesen und Charakter- pierungen basierend auf Ähnlichkeit isierung von Monophyla. Hier tragen anstelle von phylogenetischer Ver- mole kulare Daten entscheidend zu un- wandtschaft liefern und die deshalb bei serem Wissen bei. Die Bedeutung mor- phylogenetischen Fragestellungen nicht phologischer Merkmale sollte aber nicht verwendet werden sollten (Wägele 2000). übersehen werden, man denke nur an die Das Kernstück von Hennigs Bemühen, immer noch heiß diskutierte Frage der eine Systematik oder Klassifikation, allein Stellung der Schildkröten im System der beruhend auf phylogenetischen Ver- Amniota. Diese kann durch die vielen wandtschaftsbeziehungen zu erreichen, molekularen Analysen gar nicht befriedi- wird also durch die molekularen Analysen gend geklärt werden, da fossile Taxa für keineswegs in Frage gestellt; allerdings die genaue Einordnung die entschei- fällt auf, dass die Terminologie aufweicht, dende Rolle spielen. Und für die Einbe- so dass meist von ‚Phylogenien‘ ge - ziehung der Fossilien sind es nun einmal sprochen wird (wo es doch um Phyloge- die morphologischen Daten, die analy - niehypothesen geht), oder davon, ‚A is siert werden müssen. Schließlich stellt sister to B‘ (wo es um sister ‚groups‘ oder das Bezugssystem, welches die phylo- ‚taxa‘ gehen sollte, es muss ja nicht das genetische Systematik liefern soll, natür- Ax’sche Adelphotaxon sein) oder, dass lich auch für die Morphologie das ent - von einem ‚clade‘ statt von einem Mono- scheidende Bezugssystem dar. Das eben phylum (warum sollte das Wort nicht auch unterscheidet sie von einer ‚idealistischen im Englischen existieren?) oder einem Morphologie‘ wie Hennig sie 1950 kriti - ‚grade‘ statt von einer paraphyletischen siert. Hennigs Ansatz, Merkmale als Gruppe gesprochen wird. Auf der an- Trans formationsreihen zu sehen, denen deren Weise erscheint es unnötig, be - einzelne Merkmalzustände zugeordnet stimmte Nukleotide als apomorph oder werden (Hennigs ideographisches Merk- plesiomorph zu kennzeichnen, obwohl malskonzept im Sinne von Grant & Kluge dieses durchaus möglich wäre. Das alles 2004), liefert hier den entscheidenden ist aber nicht unbedingt problematisch. Ausgangspunkt. Die phylogenetische Es stellt sich nur die Frage, ob mit dem Analyse wird in einer ‚Evolutionären Mor- Verlust der präzisen Terminologie nicht phologie‘ (Wirkner & Richter 2010, auch die Argumentationsfähigkeit vieler Richter & Wirkner 2013) Mittel zum Systematiker ein Stück weit verloren geht. Zweck. Sie ermöglicht es, die Reihenfolge Was ist die Aufgabe der Phylogeneti - der Merkmalszustände einer Transforma- schen Systematik heute? Es bleibt tionsreihe zu bestimmen. Die Transforma- zunächst die von Hennig beschriebene, tionen selbst können (und müssen) dann ein allgemeines und ‚reales‘ Bezugssys- im Zusammenhang mit Funktionsanaly- tem für die gesamte Biologie zur Verfü- sen, Beurteilung potentieller Selektions- gung zu stellen beruhend ausschließlich vorteile, und eventuellen Konstruktions -

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zwängen jede für sich diskutiert werden. Günther, K. (1956): Systematik und Stammes- Dies ist nicht mehr die separate Polari - geschichte der Tiere 1939-1953. Fort - schritte der Zoologie. Neue Folge 10: 33- sierung jedes einzelnen Merkmals wie 278. bei Hennig, betont aber in gleicher Weise Günther, K. (1962): Systematik und Stammes- die Bedeutung jeder einzelnen ‚Transfor- geschichte der Tiere 1954-1959. Fort - mationsgeschichte‘ und hätte wohl auch schritte der Zoologie. Neue Folge 14: 268- bei Willi Hennig keinen Widerspruch ge- 547. funden. Haeckel, E. (1866): Generelle Morphologie der Organsimen. Allgemeinde Grundzüge Der Kern von Hennigs Theorie einer der organischen Formenwissenschaft phylogenetischen Systematik hat seine mechanisch begründet durch die von Gültigkeit behalten. Eine Systematik mit Charles Darwin reformierte Descendenz- allgemeinem Gültigkeitsanspruch kann Theorie. Vol. I XXXII + 574 S., Vol. 2 CLX + 462 S. Georg Reimer, Berlin. nur eine phylogenetische sein. Auch der Hennig, W. (1949): Zur Klärung einiger Be- Begriffsapparat hat überdauert, und die griffe der phylogenetischen Systematik. 100. Wiederkehr des Geburtstages von Forschungen und Fortschritte 25: 137-139. Willi Hennig sollte vielleicht wieder deut- Hennig (1950): Grundzüge einer Theorie der licher an die Vorteile einer eindeutigen phylogenetischen Systematik. 370 S. Deutscher Zentralverlag, Berlin. Terminologie erinnern. Hennig, W. (1952): Die Larvenformern der Dipteren. Eine Übersicht über die bisher Literatur: bekannten Jugendstadien der zweiflügeli- gen Insekten. 3. Teil 628 S. Akademie-Ver- Ax, P. (1984): Das Phylogenetische System. lag, Berlin. 349 S. Gustav Fischer, Stuttgart. Hennig, W. (1953): Kritische Bemerkungen Ax, P. (1987): Systematik in der Biologie. 181 S. zum phylogenetischen System der Insek- UTB. Gustav Fischer, Stuttgart. ten. Beiträge zur Entomologie 3 (Sonder- Ax, P. (1995): Das System der Metazoa I. Ein heft): 1-61. Lehrbuch der phylogenetischen Syste - Hennig, W. (1966): Phylogenetic Systematics. matik. 226 S. Gustav Fischer, Stuttgart. 263 S. University of Illinois Press, Urbana. Ax, P. (1999): Das System der Metazoa II. Ein Hennig, W. (1974): Kritische Bemerkungen zur Lehrbuch der phylogenetischen Syste - Frage „Cladistic analysis or cladistic clas- matik. 384 S. Gustav Fischer, Stuttgart. sification?”. Zeitschrift für zoologische Sys- Ax, P. (2001): Das System der Metazoa III. Ein tematik und Evolutionsforschung 12: 279- Lehrbuch der phylogenetischen Syste - 294. matik. 283 S. Gustav Fischer, Stuttgart. Hennig, W. (1982): Phylogenetische Syste - Farris, J.S. (1970): Methods for computing matik. 246 S. Paul Parey, Berlin. Wagner trees. Systematic Zoology 19: 83- Hennig, W. (1984): Aufgaben und Probleme 92. stammesgeschichtlicher Forschung. 65 S. Farris, J.S. (1979): The Willi Hennig Memorial Paul Parey, Berlin. Symposium. Willi Hennig and the develop- Kluge, A.G. & Farris, J.S. (1969): Quantitative ment of modern systematics – an introduc- phyletics and the evolution of anurans. Sys- tion. Systematic Zoology 28: 415. tematic Zoology 18: 1-32. Farris, J.S. (2012): Early Wagner trees and the Kühne, W.G. (1978): Willi Hennig 1913-1976: “cladistic redux”. Cladistics 28: 545-547. Die Schaffung einer Wissenschaftstheorie. Grant, T. & Kluge, A.G. (2004): Transformation Entomologica Germanica 4: 374-376. series as an ideographic character con- Mayr, E. (1974): Cladistic analysis or cladistic cept. Cladistics 20: 23-31. classification. Zeitschrift für zoologische

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Systematik und Evolutionsforschung 12: Richter, S. & Wirkner, CS (2013): Objekte der 94-128. Morphologie. S. 93-97. In: M. Bruhn, G. Mayr, E. (1990): Die drei Schulen der Syste - Scholtz (Eds.) Morphologien. Bildwelten matik. S. 263-276. Verhandlungen der des Wissens 9.2. Akademie Verlag Berlin. Deutschen Zoologischen Gesellschaft. 83. Schmitt, M. (1989): Das Homologie-Konzept in Jahresversammlung in Frankfurt am Main Morphologie und Phylogenetik. Zoologi - Herausgb.: H.-D. Pfannenstiel. Gustav Fis- sche Beiträge NF 32: 505-512. cher, Stuttgart. Schmitt, M. (2013): From Taxonomy to Phylo- Meier, R. (1992): Der Einsatz von Computern genetics – Life and Work of Willi Hennig. in phylogenetischen Analysen – eine Über- 208 S. Brill, Leiden und Boston. sicht. Zoologischer Anzeiger 229: 106-133. Sudhaus, W. & Rehfeld, K. (1992): Einführung Naef, A. (1919): Idealistische Morphologie und in die Phylogenetik und Systematik. XI + Phylogenetik. (Zur Methodik der systema- 241 S. Gustav Fischer, Stuttgart. tischen Morphologie). VI + 77 S. Gustav Sudhaus, W. (2007): Die Notwendigkeit mor- Fischer, Jena. phologischer Analysen zur Rekonstruktion Osche, G. (1952): Systematik und Phylogenie der Stammesgeschichte. Species, Phyloge- der Gattung Rhabditis (Nematoda). Zoolo- ny and Evolution 1: 17-32. gische Jahrbücher (Systematik) 81: Wägele, J.W. (1994): Review of methodological 190–280. problems of “Computer cladistics” exem- Peters, G. & Klausnitzer, B. (1978). Phylo- plified with a case study on isopod phy- genetische Systematik als Methode der logeny (Crustacea: Isopoda) Zeitschrift für Erforschung der Stammesgeschichte der zoologische Systematik und Evolutions- Tiere. Biologische Rundschau 16: 8-98. forschung 32: 82-107. Remane, A. (1952): Die Grundlagen des natür- Wägele, J.-W. (2000): Grundlagen der Phylo- lichen Systems der vergleichenden genetischen Systematik. 315 S. Dr. Anatomie und der Phylogenetik. 400 S. Friedrich Pfeil, München. Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Wheeler, Q. D.; Assis, L. C. S. & Rieppel, O. Portig K.G., Leipzig. 2013. Heed the father of cladistics. Nature Richter, S. & Meier, R. (1994): The develop- 496: 295-296. ment of phylogenetic concepts in Hennig’s Wirkner, C.S. & Richter, S. (2010): Evolutionary early theoretical publications (1947-1966). morphology of the circulatory system in Systematic 43: 212-221. Peracarida (Malacostraca; Crustacea). Richter, S. (2005): Homologies in phylogenetic Cladistics 26:143-167. analyses - concept and tests. Theory in Biosciences 124: 105-120.

Prof. Dr. Stefan Richter Allgemeine & Spezielle Zoologie, Institut für Biowissenschaften, Universität Rostock, Universitätsplatz 2, 18055 Rostock. Email: [email protected]

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Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Antonia Trede mit Professor Dr. Carsten Duch bei der Preisver- leihung in Lever kusen

Der diesjährige Werner-Rathmayer- Antonia Trede schreibt hierin: Preis der Deutschen Zoologischen Ge - “Mit Hilfe von Otolithen (Gehörsteinchen), sellschaft wurde Frau Antonia Trede zuge- die aus tiefgefrorenen Heringslarven des sprochen. Die Preisträgerin wurde beim Nord-Ostsee-Kanals herauspräpariert wur- 48. Bundeswettbewerb der Stiftung Ju- den, bin ich der Fra ge nachgegangen, in- gend forscht (30. Mai - 2. Juni 2013) in wieweit Wachstum und Überlebensrate der Leverkusen ermittelt; die Preisträgerin ist Larven im Zusammenhang stehen. Dazu 18 Jahre alt und kommt von der Freien wurden die Inkremente (Tageswachstums - Waldorfschule in Kiel. Der Preis ist mit ringe) der Otolithen unter dem Mikroskop 500 Euro dotiert und mit einer Einladung vermessen und ausgewertet. Die beiden auf die Jahrestagung der DZG 2013 in konkreten Fragen hierbei waren: 1. Über- München verbunden, wo die junge For - leben die Größeren? und 2. Sind die über- scherin Gelegenheit hat zu Kontakten mit lebenden Larven in einem bestimmten Fachkollegen. Zeitfenster geschlüpft? Die Beantwortung dieser Fragen soll einen Ansatz zur Der Titel der eingereichten Arbeit war: Klärung der Fra ge nach der Ursache des abrupten Wegsterbens der Heringslarven " Das kleinste Tagebuch der Welt – Unter- im Nord-Ostsee-Kanal am Ende der suchungen an Heringslarven" Frühjahrs laichzeit bringen.”

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Links: Otolith einer Heringslarve (Maßstab 10 μm); rechts: Ausschnitt mit markierten Tagesinkre- menten

Durch sorgfältige Vermessung der ven anhand der Zahl der Tagesinkre- „Tagesringe“ konnte Antonia Trede mente auf den Schlüpftermin zurück- Antworten auf beide Fragen finden: Da gerechnet wurde, war ein bestimmtes die Größe der Otolithen mit der Larven- Zeitfenster überdurchschnittlich häufig. größe korreliert ist, konnte sie beweisen, Herauszufinden, welches die optimalen dass in der Tat größere Larven bessere Schlüpfbedingungen während dieses Chancen haben zu überleben, denn ab Zeitfensters waren, wäre nicht nur aus einem bestimmten Tag wurden nur mehr entwicklungsbiologischer Sicht interes- Larven gefangen, die schon eine Woche sant, sondern könnte auch eine prakti - vorher signifikant größer als der Rest der sche Rolle bei der Bestandssicherung Population waren. Wenn bei diesen Lar- dieses wichtigen Nutzfisches spielen.

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The DAAD RISE Experience

Samuel J. Shry

This time though, I wanted to combine both of my majors (German/Biology) into one internship program. With the DAAD RISE program I was able to do exactly that. I was able to work on my German language abilities, while also doing bio- logical research in a field of study that I am interested in pursuing into my profes- sional career. I knew research in Ger- many would be an excellent way to gain experience working in a professional en- vironment, while also making connections with people that can be beneficial in the future, if I would like to pursue a graduate degree in . I was very impressed with the list of internships and the many prestigious universities that were present As I walked off the plane at Frankfurt in the application process. There were airport last May, I heard the familiar many options that interested me, but one sounds of complex German sentences clearly stood out. The analysis of social and saw the seemingly endless words on behavior in Assamese Macaques fully ap- the airport signs. I gave my passport to pealed to me at the University of Göttin- the customs official; he looked at the pic- gen Courant Research Centre, and it fell ture, then looked back at me with a stern in line with some of my previous work ex- face and said, “Welcome back” and I perience. knew as I was back in my second home. Once I started my internship, I knew I It had been almost a year since I had had made the right decision. The re- been in Germany last and I had missed it search center worked professionally and ever since. Having completed the CBYX/ passionately on their research and my PPP program a year before participating Ph.D. supervisor integrated me smoothly in this program, I already had some idea into the research. Having never worked in about what to expect. This was, however, an office setting before, I did not know my first experience doing research in what to expect. It was a neat experience Germany. I knew after completing my last working in an international research set- abroad experience that I wanted to go ting. My colleagues were from all over the back to Germany as soon as possible. world and it was a wonderful opportunity

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My colleagues and myself (standing at the window) in Göttingen

to learn about other cultures and each was motivated by the anticipated results coworker’s unique experiences in the and by the investigative feeling that goes field. I soon became an active member of along with discovering unique results. the close-knit research group and was in- One of my favorite parts of the intern- cluded in all the activities (lunch, presen- ship was my, “fieldwork practice week.” tations, meetings, etc.) that they did to- This was a special opportunity for me to gether. practice my fieldwork skills in a realistic I learned a great deal about what it environment. My supervisor, another means to be a full-time researcher, both Ph.D. student associated with the project, the positives and the negatives of the job. and I took a 5 day trip to Affenberg Though my job focused mainly on the Salem, an animal sanctuary specifically analysis of data, the material and impor- for Barbary macaques located in south- tance of my analysis to the overall project ern Germany, near Lake Constance. The were very fascinating. I also learned valu- sanctuary contains three separate groups, able data analysis skills (excel matrices, R groups one & two being more habituated programming, Ucinet, Netdraw, etc.) that than group three, which was only slightly. will help me with my future research en- Because the supervisors of the research deavors. group and the manager of the sanctuary My day-to-day activities were usually were very good friends and had worked fairly similar. Data analysis usually entails together before, we were given special a large quantity of data that is stored in permission to conduct behavioral studies multiple tables. What I needed to do was on group three. The experience was in- formulate a question, filter data related to credible and because group three was my question, implement statistical meas- only habituated slightly, the experience ures that will target my question, and fi- was even more realistic to conducting ac- nally run statistical significance measures tual fieldwork. I learned a significant and form results from the tests. That’s a amount of information about these mon- simple explanation compared to the com- keys over a three-day period as well as plex implementation. As I said before, I the many difficulties that are accompa-

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nied with fieldwork. It was a great experi- love. Programs like RISE are invaluable to ence and is one of the most exciting the future of technological and scientific things I have done. research. They give students a chance to My tenth and final week at the re- work with professionals in their field of in- search center was both exciting and sad. terest and gain skills that they can take I was excited about my results and was with them into their future careers. I can able to give a thorough presentation of certainly say I am blessed to have been a my work, which included some significant part of such a program and will use the results that my Ph.D. supervisor can use. It experiences I have gained over the sum- was, unfortunately, my last week with the mer to work towards a career in scientific research group, with whom I had become research. good friends over the course of the sum- I would also like to express my deep- mer. est gratitude to the German Zoological Looking back, I know this program Society (Deutsche Zoologische Gesell - was the best thing I could have accom- schaft). The DZG allotted me the oppor- plished with my summer. The RISE pro- tunity to work in the field of research that gram gave me the opportunity to gain interested me and I gained so much from valuable experience and skills in a pro- their generous support. My internship fessional research environment. In addi- would not have been possible without tion, the program allowed me to live and their help. Vielen Dank! work abroad in a country I have grown to

Samuel J. Shry University of Arkansas at Little Rock - Biology/German double major Intern at Universität Göttingen-Courant Research Centre Evolution of Social Behaviour 1 Email: [email protected]

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Nachruf auf Hans Oehme 29.4.1926 - 2.8.2011

Klaus Odening und Holger H. Dathe

Hans Oehme war aber ansonsten mit Leib und Seele Ornithologe. Lange Jahre vor dem Beginn seiner Laufbahn als Wis- senschaftler und Forscher (1958) eignete er sich selbst umfassende Kenntnisse als Feldornithologe an und das Fliegen übte wohl schon seit seiner Kindheit und Ju- gend eine große Faszination auf ihn aus. Er kam am 29. April 1926 in Dresden als zweites Kind des akademischen Malers Alfred Oehme und dessen Ehefrau Luise, geb. Marx, zur Welt. Von 1932 bis 1936 besuchte er die Volksschule in Klotzsche bei Dresden. Dort wurde 1935 der neue Dresdener Flughafen errichtet, dessen Nähe sicher zu seinem kindlichen Berufs - wunsch Flugzeugkonstrukteur und seinem frühen Interesse für Fliegerei und Prof. Hans Oehme. Foto Privatarchiv Flugwesen beitrug. Von 1936 bis 1944 setzte Hans Oehme seinen Schulbesuch Prof. Dr. rer. nat. habil. Hans Oehme im Fletcher-Gymnasium (im Internat bis starb am 2.8.2011 im Alter von 85 Jahren Ende 1943) fort. Dort erhielt er eine in Berlin. Bis zu seinem 80. Geburtstag vorzügliche und nachhaltige Bildung in 2006 noch rüstig, hatte er nach einem Mathematik, Physik, Deutsch und Herzinfarkt zunehmend mit dem Krank- Geschichte, die seine Persönlichkeit sein zu kämpfen, und zuletzt musste er prägte und die spätere wissenschaftliche noch den Tod seiner Ehefrau (im Oktober Tätigkeit maßgeblich beeinflusste. In der 2010) als schmerzlichen Einschnitt be- Freizeit widmete sich Hans Oehme dem wältigen. In den Jahren des verdienten Flugzeugmodellbau und der Segel flie - Ruhestands beschäftigte er sich mit der gerei. Ende 1943 wurden die Schüler der ihm eigenen Akribie mit Beobachten, Fo- Jahrgänge 1926-1927 (also die 16- und tografieren und Filmen von Libellen, die 17-jährigen Jungen) des Fletcher-Gymna- an einem kleinen Teich in seinem Garten siums als Flakhelfer dienstverpflichtet. Sie unter seinem besonderen Schutz standen. waren dabei in Baracken neben der Ge -

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Lehrerin Jutta Götz, aus der zwei Kinder hervorgingen: Tochter Martina (1956) und Sohn Stephan (1959). Hans Oehmes Hauptunterrichtsfach war Biologie, daneben unterrichtete er aber auch an- dere Fächer, vor allem Mathematik und Physik. In seiner Zeit als Lehrer mit dem Schwerpunkt Biologie widmete er sich in der Freizeit der Ornithologie. Dabei er- weckte der Vogelflug zunehmend sein In- teresse, wobei sich seine frühe Neigung zum Flugwesen mit genauer Beobach- tung der Vogelwelt verband. 1956 wurde er Wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hochschule Potsdam. 1958 beendete er das Studium mit dem Diplom (Hauptfach Zoologie). Die Diplom arbeit „Untersuchungen über Flug und Flügelbau bei Kleinvögeln“ zeichnete H. Oehme in der alten Forschungsstelle, um mit der Bearbeitung der Wechselwirkun- 1962. Foto Archiv Tierpark Berlin gen zwischen Anatomie und Biophysik seine Begeisterung für funktionelle Mor- schützstellung im Albertstädter Kasernen- phologie vor, die seine gesamte Laufbahn bereich in Dresden untergebracht, wo für als Wissenschaftler und Forscher prägte. sie auch der Unterricht durch Lehrkräfte In der Potsdamer Zeit entstanden enge des Fletcher-Gymnasiums weitergeführt fachliche und freundschaftlich-kollegiale wurde. 1944, nach Vollendung des Beziehungen zu dem Ornithologen Erich 18. Lebensjahres, wurde Hans Oehme zur Rutschke, der nach einem ähnlichen Luftwaffe einberufen, wo er zum Piloten Werdegang an der Hochschule blieb ausgebildet wurde. (1958 Promotion, 1966-1991 Professor für Nachdem er krankheitshalber aus Tierphysiologie). sowjetischer Kriegsgefangenschaft ent- Im Zusammenhang mit der Diplomar- lassen worden war, wählte er den Beruf beit Hans Oehmes und nach seinem Bei - des Lehrers. Ab 1946 war er Lehrer an tritt zur Deutschen Ornithologen-Gesell - der Grundschule Ottendorf-Okrilla bei schaft (DOG) erkannte Erwin Stresemann Dresden. 1954 bestand er extern das (zu dieser Zeit Präsident der DOG) die Staats examen für die Lehrbefähigung in Begabung Hans Oehmes und seine her- der Mittelstufe und nahm ein Fernstudium vorragende Eignung als Forscher, und es für Oberstufenlehrer an der Pädagogi - eröffnete sich die Gelegenheit zu frucht- schen Hochschule Potsdam auf. 1955 barem Gedankenaustausch des jungen, schloss er in Radeberg die Ehe mit der befähigten Wissenschaftlers mit dem er-

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fahrenen führenden deutschen Ornitholo- sehr wichtige – Dunkelkam mer. 1964 er- gen, „einem der bedeutendsten Ornitho - folgte ein bescheidener Anbau, der den 3 logen des 20. Jahrhunderts“ (Wikipedia), Wissenschaftlern (funktionelle Anatomie, der bis zum Tode Stresemanns 1972 Parasitologie, Ethologie), einer Sekretärin niemals ganz abriss. Stresemann konnte und einem(er) Wissenschaftlichen Grafik- als Mitglied des Kuratoriums der eben er(in) sehr kleine, aber eigene Zimmer gegründeten „Zoologischen Forschungs - bescherte. Wir behausten diese Räume stelle im Berliner Tierpark“ der Deut - bis zum Bezug eines Neubaus 1983 – H. schen Akademie der Wissenschaften zu Oehme war übrigens „Baubeauftragter“ Berlin Oehmes Anstellung als Wissen - dafür [zur Entwicklung der Forschungs - schaftlicher Assistent (für Anatomie und stelle 1958-1989 vgl. Milu 7 (1990) 2, Physiologie) dieser neuen zoologischen S. 91-100]. Heute ist dieses Gebäude der Forschungseinrichtung vermitteln. Oehme Kern des aus der Forschungsstelle 1991 war (abgesehen vom Chef und Begrün- hervorgegangenen Instituts für Zoo- und der) der erste Wissen schaftler dieser Wildtierforschung der Leibniz-Gemein- Forschungsstätte (1958), der eine Autor schaft mit inzwischen um die 170 Mitar- dieser Zeilen der zweite (K. O., 1959). Es beitern. Man könnte heute meinen, dass war eine in Fortsetzung der Schlangen- das doch vorher viele Jahre recht schlicht farm gelegene, vor der Gründung des gewesen war. Aber wir waren jung, voller Tierparks als sowjetische Kartoffelkäfer- Elan, hatten hervorragende mikroskopi - station errichtete, auch an Räumen kleine sche Ausrüstungen und lebten in einer Einrichtung in dieser Zeit; die ersten Jahre phantastischen Nische, in vieler Hinsicht. nur ein Laborraum mit 2 Wissenschaft - Wir gehörten zur Akademie – das hatte lern, 2 technischen Assistentinnen und viele Vorzüge; zum Hineinregieren „von einer Hilfskraft, ein Aufent halts- und Bib- oben“ waren wir zu klein und damit liotheksraum mit einem Wissenschaftler zunächst uninteressant. Wir waren aber und einer Sekretärin, und eine – damals auch auf dem Territorium des Tierparks Berlin lokalisiert, das hatte ebenfalls viele Vor züge. Nur ein Beispiel: die Akademie vollzog eine strenge Überwachung des Besuchs von Wissenschaftlern aus dem Wes ten in ihren Institutionen; also trafen wir uns mit ihnen im Tierpark, dessen damalige Obrigkeit, das Ministerium für Kultur, solche Restriktionen nicht anwan d - te. Diese „Doppelzugehörigkeit“ ver kör - perte sich sozusagen darin, dass beide Gratulationscour zum 70. Geburtstag des Einrichtungen, Tierpark und For schungs - Chefs Prof. Heinrich Dathe (links) am 7.11.1980; K. Odening (Mitte), H. Oehme stelle von ihrer Gründung bis 1990 (rechts). denselben Chef hatten: Prof. Dr. Dr. h. c. Archiv Tierpark Berlin, Foto K. Rudloff Heinrich Dathe. Er schirmte uns gegen

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zeitbedingte Unbilden ab (auch wenn das biologie“. Die seit 1979 betriebene biolo- von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer gische Antarktisforschung (in der sowjeti - schwieriger wurde) und förderte unsere schen Station „Bellingshausen“ auf den Forschungsarbeiten mit großem Verständ- Südshetlandinseln) wurde 1986 in der nis. Er hat uns nie vorgeschrieben, was Abteilung H. Oehmes konzentriert. Ein wir erforschen sollten – im Gegensatz zu Mitarbeiter und Schüler H. Oehmes, den wissenschaftspolitischen „Entfer- Rudolf Bannasch, war einer der Pioniere nungsschätzern“, die mit dem Größer - und bald die Leitfigur dieser Antarktis- werden der Forschungsstelle immer pene - Einsätze. Seine Dissertation befasste sich tranter „von oben“ bestimmte Forschun- spektakulär mit dem „Unterwasserflug“ gen zu unterdrücken versuchten, da - der Pinguine. r unter auch die Flugbiophysik, die Hans Hans Oehmes wissenschaftliches Werk Oehme so erfolgreich vertrat. Aber je- ist erlesen. Er hatte das Glück, während den falls waren die 60er Jahre die Zeit un- seines ganzen Berufslebens im Wesent - serer höchsten wissenschaftlichen Pro- lichen selbstbestimmt zu arbeiten. Aller - duktivität (2 Promotionen, 2 Habilitatio- dings erwies sich das auch als Glück für nen, viele Veröffentlichungen – getragen die Wissenschaft. Ausgestattet mit hervor- von Begeisterung für die freie Forschung ragenden Kenntnissen und Ambitionen in und der Freude an der Zoologie). mehreren naturwissenschaftlichen Fäch- Hans Oehme wurde 1961 an der ern wie Physik, Chemie und in Mathema - Mathematisch-Naturwissenschaftlichen tik, suchte er stets seine biologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Forschungen in einem übergreifenden Berlin mit der Dissertation „Vergleichend- Sinne zu fundieren. Seine Arbeiten gerie - histologische Untersuchungen an der ten so zu transdisziplinären Analysen bio - Retina von Eulen“ zum Dr. rer. nat. pro- logischer Strukturen und Prozesse. Ihn in- moviert. 1966 habilitierte er sich an der teressierten stets die kausalen Zusam- Humboldt-Universität mit der Habilitations - menhänge zwischen einer konkreten schrift „Die Vogeliris. Eine vergleichen de morphologischen oder Zeitstruktur und anatomische und histologische Unter- ihrer spezifischen Funktion, stets auch suchung“, einer umfangreichen Arbeit unter Berücksichtigung des Leistungs - über das vordere Augensegment von 150 aspektes als Rahmen des technisch Vogelarten aus 18 Ordnungen. 1978 Mach baren und ökologisch und evolu- wurde er zum Professor für Zoologie an tionär Vorteilhaften. Seine Arbeiten be- der Akademie der Wissenschaften der förderten insgesamt komplexe naturwis- DDR ernannt. Seit der Erweiterung der senschaftliche Einsichten in allgemeine Zoologischen Forschungsstelle zur „For - Struktur-Funktions-Leistungs-Beziehun- schungsstelle für Wirbeltierforschung (im gen. Als er eine eigene Abteilung be- Tierpark Berlin)“ (FWF) war er 1973- grün den konnte, nannte er sie folge richtig 1985 Leiter der Abteilung „Leistung und „Leistung und Struktur“. Struktur“, 1986 bis zu seiner Pensionie - Wo andere Studien wegen einer Gren- rung 1991 Leiter der Abteilung „Polar- ze in fachdisziplinären „Zuständigkeiten“

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stoppten, fing Oehme an. Das war für ihn gewissen Grade durch ein besonders die eigentliche Herausforderung, zumal leistungsfähiges Bewegungssehen (ver- wenn er dabei in der Fachliteratur unge - mittelt durch tiefe Fovea-Trichter und eine nügend abgesicherte oder falsche Verall- verstärkte Ausbildung des Schalt- und In- gemeinerungen vermutete. Sein Leit- tegrationsapparates) kompensiert. Diese spruch dazu: „Es kann wahr sein, obwohl Erkenntnisse Oehmes haben manche es gedruckt ist.“ Seine Publikationen sind gängige Lehr meinung revidiert und nach- mehrheitlich inhaltsreiche, text lich kom- folgend in die Standardwerke Eingang primierte Studien von allgemeiner Bedeu- gefunden. tung. Einige Publikationsserien sind in sich Vor allem in späteren Jahren bearbei te te geschlossen und haben monographischen Hans Oehme Probleme der Flugbiophysik, Charakter. Alle beruhen auf eigenen ex- der Physiologie des Fliegens und der perimentellen Untersuchungen. Loko motionsenergetik. Die Fähigkeit zu Exemplarisch ist seine frühe Studie fliegen setzt extreme Anpassungen voraus, über das Sehvermögen von Vogelaugen. die zu generellen Umkonstruktionen vor - Er konnte sich nicht recht vorstellen, wie - handener Organismentypen zwingen. so das deutlich kleinere Kameraauge be - Diese Zwänge erscheinen hinsichtlich der stimmter Greifvögel wesentlich schärfer notwendigen morphologisch-anatomi schen sehen könne als das menschliche, zumal Anpassung und vor allem der energeti - die Sehzellen keine gravierenden Größen - schen Leistungsfähigkeit kaum zu bewälti- unterschiede zeigen. Es wäre ein physi - gen, wenn man bedenkt, dass dem Kon- kalisches Paradoxon, dennoch wurde dies strukteur Natur nur biologisches Material hartnäckig behauptet. Oehme unter- zur Verfügung steht, das dazu noch seine suchte qualitativ und quantitativ Muster - Entwicklungsgeschichte mi t schleppt. Wie anordnung und Verschaltung neuronaler Oehme zu sagen pflegte, muss der Vogel Elemente der Netzhaut von Vögeln. Er vor diesem Hintergrund nicht nur stabil fand Beziehungen zwischen der quantita- fliegen und gut manövrie ren können, son- tiven Verteilung von Sehzellentypen über dern auch noch singen und Eier legen. Ein den Augenhintergrund sowie ihrer Ver- perfekter Kompromiss, aber kein Idealzu - schaltung und der jeweiligen Lebens - stand. Ein Ingenieur würde andere Materia - weise der Vogelarten. So sind beispiels - lien verwenden und zweckgebundene Kon- weise unterschiedliche Anteile von Seh - struktionen einsetzen. Andererseits bringt zellentypen und die Fovea-Struktur mit die Flugfähigkeit dem Tier ein Höchstmaß dem Tag-Nacht-Aktivi tätsmuster von Eu - an Raumbeherrschung, so dass sie in der lenarten korreliert. Fovea-Position, Augen- Evolution immer wieder entstanden ist. Hin- stellung und Augenbeweglichkeit korre- sichtlich Bewegungskoordination, Anpas- spondieren mit unterschiedlichen Formen sung an den Luftraum als Medium, die des Nahrungserwerbs bei kleinen Vö - spezifische Leistung der Muskulatur, Ener - geln. Die physikalisch bedingte Abnah me gieumsatz u. a. scheinen jedoch hier biolo- des Auflösungs vermögens mit abneh - gische Strukturen und Materialien ihre Leis- mender Augengröße wird bis zu einem tungsgrenze zu erreichen.

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Trotz des damit verbundenen allge- reicher Feldornithologe überprüfte er die meinen Interesses gibt es auf diesem Ge- gewonnenen Erkenntnisse immer wieder biet bis heute nur wenig gesichertes Wis- kritisch am konkreten Beispiel, kontrol- sen. Dem Biologen fehlen zumeist lierte die speziellen ethologischen und spezielle physikalische Kenntnisse, ökologischen Bedingungen und arbei- während sich andererseits die Flugzeug - tete die Wechselwirkungen von Bau und technik längst vom Vogelmodell entfernt Funktion heraus. Er entfernte sich damit hat und eigene Wege geht, so dass auch deutlich von allen kasuistischen oder von dort keine Lösungen zu erwarten spekulativen Ansätzen und verschaffte sind. Hans Oehme war ein unikaler Mitt - dieser seiner Forschung ein hohes inter- ler dazwischen. Er erarbeitete ein weit nationales Ansehen. gefächertes Spektrum von Details, ins- Die von Hans Oehme aufgeworfenen besondere zur Morphologie und zu den Probleme und vertretenen Ansichten er- Strömungseigenschaften des Tierkörpers, wiesen sich als hochaktuell, sodass er in zur Struktur und Statik der Federn, die vielfältiger Weise im In- und Ausland als Proportionierung der Skelettelemente Berater und Gutachter, Organisator von und Muskeln, zu Feinstrukturen des akti - Symposien und Chairman bei interna- ven Bewegungsapparates und zur Kine- tionalen Veranstaltungen gefragt war. Er matik verschiedener Kraftflugformen. Er wurde nicht ohne Grund zum Mitglied suchte nach neuen Wegen, anhand von des International Ornithological Commit- Messdaten, die an frei und natürlich tee (IOC) gewählt. Schließlich haben lebenden Tieren gewonnen wurden, die nicht nur seine Schüler, sondern auch aktuelle Leistung und die spezifische manche seiner Kollegen für die stets Transportarbeit beim Flug zu bestimmen. bereitwillig gewährte, kameradschaftliche Dazu verwendete er das theoretische In- und uneigennützige Hilfe zu danken, strumentarium der Aerodynamik und ent - wenn es um Rat und Unterstützung bei wickelte Rechenmodelle, die bei Verglei- statistischen Berechnungen, Program- chen zwischen verschiedenen Arten un- mierungen, um knifflige technische Fra- terschiedlicher Lebensweisen zu be- gen oder um logistische Unterstützung merkenswerten Ergebnissen führten. bei Feldarbeiten mit ornithologischen Unter seiner Anleitung entstanden neue Berührungspunkten ging. Einsichten zur Unterwasserlokomotion der Pinguine, die, physikalisch gesehen, Ein Schriftenverzeichnis Hans Oehmes als eine besondere Form des Fliegens findet sich in den Beiträgen behandelt werden kann. Als kenntnis - zur Vogelkunde 39: 56-59 (1993).

Prof. Dr. Klaus Odening Prof. Dr. Holger H. Dathe Erlenweg 41 Senckenberg Deutsches 16356 Werneuchen Entomologisches Institut, Email: [email protected] Eberswalder Str. 90 15374 Müncheberg

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In memoriam Prof. Dr. Ernst Josef Fittkau 22.07.1927 - 12.05.2012

Juliane Diller und Axel Hausmann

Mit Professor Dr. Ernst Josef Fittkau verstarb am 12. Mai 2012, kurz vor Vollen- dung seines 85. Lebensjahres ein bedeu- tender deutscher Zoologe, der jahrzehn- telang die Tropenforschung, die Wissen - schaftslandschaft an deutschen For - schungs einrichtungen und die univer- sitäre Lehre mitgeprägt hat. Als jüngstes von acht Kindern des Lehrers Hugo Fittkau und seiner Gattin Anna, geb. Harwardt, erblickte Ernst Josef Fittkau am 22. Juli 1927 in Neuhof (Ost- preußen) das Licht der Welt. Obwohl er 1943 im Alter von 16 Jahren die Schule verlassen musste und nach Fronteinsatz mehrere Monate in Kriegsgefangenschaft verbrachte, gelang es ihm dennoch, seine schulische Ausbildung bis zur allgemei - nen Hochschulreife (1948) zu vollenden. Bevor Fittkau das angestrebte Studium Ernst Josef Fittkau auf den Malediven, 2000. der Biologie beginnen konnte, arbeitete er im Zoologischen Museum Göttingen Ab 1949 studierte Fittkau an der Uni- mit, wo er seine geliebten Muscheln und versität Göttingen, ab 1951 je zwei wei - Schnecken studierte. Er war Mitbegrün- tere Semester in Freiburg i. Br. und Kiel. der der Limnologischen Flußstation 1952 begann er als Doktorand von Pro- Freudenthal am Unterlauf der Werra, die fessor August Thienemann, dem Leiter sich für die Erforschung der Fauna und des Plöner Max-Planck-Instituts für Lim- Ökologie von Fließgewässern einsetzte. nologie, heute Max-Planck-Institut für Aus dieser Gründung ging schon kurze Evolutionsbiologie, mit der Arbeit an ein- Zeit später (1951) die Fuldastation in er Dissertation über die Zuckmücken Schlitz (Hessen) hervor, die heute als (Chironomiden) der Fulda, einer ökolo- Außenstelle der in Plön (Holstein) ansäs- gisch wichtigen Insektengruppe. 1954 sigen Hydrobiologischen Anstalt der wurde Fittkau Thienemanns Assistent, ver- Max-Planck-Gesellschaft fungiert. tiefte in der Folge seine feldbiologischen

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tionen und Exkursionen in fast alle Teil- bereiche des gesamten Amazonasraumes und sammelte dabei unzählige zoologi - sche Belege, vor allem Chironomiden und andere Wasserinsekten, sowie Daten über ökologische, hydrografische, gewässer - chemische und andere Umwelt-Faktoren. Mit diesen Sammlungen, die größtenteils an der Zoologischen Staats sammlung München aufbewahrt werden, hinterließ Fittkau einen enormen Schatz mit einma- ligem, unwiederbringbarem wissen - schaft lichen Material, dessen Aufar- beitung und Analyse noch einige Genera- tionen von Studenten und Nachfolgern beschäftigen wird. Die zahlreichen Expeditionen Fittkaus in den südamerikanischen Urwald waren nicht nur in zoologischer Hinsicht ein Auf einer der zahlreichen Expeditionen durch wesentlicher und weltweit beachteter das Amazonasgebiet, 1965. Beitrag Deutschlands zur Erforschung der Neotropis. Seine Forschungsarbeiten und taxonomischen Fertigkeiten auch bei brachten ihn nämlich auch in engen Kon- mehreren Forschungsaufenthalten im Aus- takt mit den Ureinwohnern, die z.T. bis land und promovierte 1959 mit einer bis dahin keine oder nur lose Berührung mit heute grundlegenden systematischen ‚der Zivilisation‘ hatten. Fittkaus Samm- Neuordnung der Tanypodinae, einer ar - lung indianischer Gebrauchs- und Kul- ten reichen Unterfamilie der Chirono- turgüter, die 2010 das Völkerkundemuse- midae. 1974 habilitierte er sich an der um in München ankaufte, gilt weltweit his- Universität Kiel. torisch als einzigartig, zumal heute viele 1959 heiratete Fittkau Elise Depper- indigene Stämme, die Fittkau einst auf- mann. Aus der mehr als 50 Jahre dauern- suchte, ihre ursprüngliche Lebensweise den Ehe gingen sechs Kinder hervor. verändert haben und ihre Traditionen oft Schon ein Jahr später erfüllte sich für den nicht mehr aufrecht erhalten. naturbegeisterten und unternehmungs - Ganz besonders lag Fittkau die Er- lustigen Feldforscher ein Traum, als ihn forschung des Ökosystems Urwald am der brasilianische Forschungsrat zum Herzen, und es ist vor allem sein Ver - Leiter der limnologischen Abteilung des dienst, dass wir die außergewöhnliche Amazonischen Forschungs-Institutes (IN- biologische Vielfalt in diesem Lebens - PA) in Manaus ernannte. Dort unternahm raum heute als eine – auf den ersten Blick er mehrere Jahre lang zahlreiche Expedi- paradox erscheinende – Folge eines Man-

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gels, nämlich extrem nährstoffarmer Bö- Gegenteil. Er wusste genau, dass der den, begreifen können. Mensch nur das schützt, was er schätzt, Die fortschreitende Zerstörung der für dass man aber nur das “lieben kann, was das Weltklima so wichtigen Regenwälder man wirklich kennt“ (Aldous Huxley). schmerzte ihn sehr, und er setzte sich mit Im Jahr 1963 kehrte Fittkau mit seiner all seiner Kraft für deren Erhalt ein, nicht Familie nach Plön zurück und erarbeitete nur mit Veröffentlichungen, Vorträgen und dort erste bedeutende Grundlagen zum Mitarbeit in Politik-Beiräten, sondern auch Verständnis der Diversität und Funktion als Initiator, Mitgründer und Vorstand von der Gewässer-Ökosysteme und Land- Vereinen wie der Gesellschaft für Tropen - schaftsökologie Amazoniens. Er machte ökologie mit der Zeitschrift „Ecotropica“ es sich zudem zur Aufgabe, die von und der OroVerde-Stiftung. Hierbei war Thienemann (†1960) entscheidend mitbe- ihm sein tiefer Glaube eine wichtige gründete Chironomidenkunde als wich - Trieb kraft und Leitschnur, der ihm große tiges Hilfsmittel für die Binnen gewässer- Hochachtung vor Gottes Schöpfung Ökosystemforschung weiterzuentwickeln. auftrug. Glaube und Naturwissenschaft Vom 1. Mai 1976 bis zu seiner Pen- schlossen sich für ihn nicht aus, im sionierung im Sommer 1992 war Fittkau Direktor der Zoologischen Staatssamm- lung München (ZSM). In den letzten bei- den Jahren übernahm er zusätzlich auch die Aufgabe des kommissarischen Leiters der Generaldirektion der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns. Seine Funktionen nutzte er auch, um viele Sammlungen für seinen Verwal- tungsbereich einzuwerben und dadurch diesen Institutionen weitere internationale wissenschaftliche Bedeutung zu verschaf- fen. In seiner Amtszeit wurde die Idee weiterentwickelt, die Sammlungen nicht nur als reines Archiv der Artenvielfalt zu betrachten, sondern als moderne Forschungseinrichtungen zu verstehen. Gleichzeitig lehrte er als Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Univer- sität. Im Rahmen dieser Funktion betreute er eine große Anzahl von Diplomanden und Doktoranden. So vergab er sehr Ernst Josef Fittkau als Direktor der Zoologischen Staatssammlung München gerne Themen, die seiner engen und en- bei der Schlüssel-Übergabe für den Neubau, gagierten Beziehung zum Regenwald 1985. entsprachen. Die Folge war, dass er auch

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Schüler aus Südamerika, besonders aus Wenn man sich an Ernst Josef Fittkau Brasilien hatte, die heute noch immer ihre erinnert und über ihn schreibt, dürfen Beziehung zur ZSM pflegen. Die interna- nicht nur seine ohne Zweifel sehr bedeu- tionale Wissenschaftsgemeinde lag ihm tenden wissenschaftlichen Leistungen sehr am Herzen, und er unterstützte und genannt werden. Fittkau war ein äußerst förderte sie, wann immer er konnte. liebenswürdiger, großzügiger Mensch Das größte und weitreichendste Ereig- und ein toleranter Dienstvorgesetzter, und nis der Ära Fittkau war zweifellos der auf seinen Studenten-Exkursionen ein Neubau der ZSM. Obschon die ersten lieber Kollege, der sich vor keiner noch Planungen in die späten 50er Jahre zu - so schweren Arbeit scheute. Er war stets rück reichen, fielen doch die wesentlichen hilfsbereit und wurde auf Expeditionen und entscheidenden Planungsschritte und als angenehmer und zuverlässiger Be- die Realisierung in die Amtszeit Fittkaus. gleiter geschätzt, mit dem man Pferde Im Juli 1985 wurde schließlich der Neu - stehlen konnte. Er interessierte sich für bau der Zoologischen Staatssammlung das Leben und die Bedürfnisse seiner feierlich eingeweiht. 1977 gründete er die Mit arbeiter und Schüler, die jederzeit mit „Spixiana“, die von da ab regelmäßig er- ihren Problemen zu ihm kommen konn - scheinende Zeit schrift der ZSM. ten, und wenn er eine Möglichkeit fand, Anlässlich der Pensionierung von Fitt - half er immer und uneigennützig, auch kau erschien die Chronik der Zoologis- über seine Grenzen hinaus. Harmoni - chen Staatssammlung München (Spixiana sches Zusammenleben war für ihn ein Suppl. 17, 1992), in der auch sein Werk zentrales Lebensprinzip und Vorausset- zusammengefasst und gewürdigt wurde. zung für ein gutes Arbeitsklima, nur so Als Autor oder Koautor veröffentlichte konnte seiner Auffassung nach Kreativität Fittkau während seines Forscherlebens gedeihen. Ohne ihn ist die Welt um ein 171 Arbeiten mit zukunftsweisenden Re- bereicherndes Vorbild ärmer, und nicht sultaten, die wichtige Grundlagen für nur für seine Schüler, zu denen die Au- weitere wissenschaftliche Studien bilden. toren dieses Nachrufes zählen, hinterließ Ein Verzeichnis der Schriften von E. J. Fitt - er eine große Lücke. kau findet sich in: Spixiana 35, 170-176 (2012).

Dr. Juliane Diller, Dr. Axel Hausmann Zoologische Staatssammlung München Münchhausenstr. 21; 81247 München E-Mail: [email protected] [email protected]

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Nachruf auf Hans Querner 22.9.1921 – 29.9.2012

Armin Geus

Während des letzten Besuches im Hause Hans Querners in Wernigerode im Herbst des Jahes 2008 sprach er über das mögliche Höchstalter des Menschen. Die Grenze, erklärte er, sei wohl mit 120 Jahren erreicht, “aber”, fügte er warnend hinzu, “mein körperlicher Zustand zeigt, daß Sie dies besser nicht anstreben soll- ten”. Die schmerzlichen Folgen des be - r eits 1989 diagnostizierten idiopathischen Parkinson-Syndroms hatten dazu geführt, daß er sich inzwischen nur mit fremder Hilfe fortbewegen konnte; von kürzeren Hans Querner (1921-2012) im Jahre 1980. heimatgeschichtlichen Beiträgen abge - Foto D. Dockhorn, Gaiberg bei Heidelberg sehen, die er damals gelegentlich noch schrieb, wollte er die Beendigung be- Einigen Lehrern fiel auf, daß sein un - gonnener Aufsätze nicht mehr verspre - gewöhnliches Interesse an der beleb ten chen. Die anlässlich des 80. Geburts tages Natur auf die Beantwortung von Fragen von Dorothea Kuhn gemeinsam mit Ilse gerichtet war, die sich für ihn aus der Jahn (1922-2010) edierte Festschrift (Mar- Beobachtung eines bestimmten Verhaltens burg 2003) mit dem unveröffentlich ten oder unterschiedlicher Merkmale von Lehrgedicht des Hallenser Theologie - Tieren ergaben. Er wollte wissen, wes halb studenten Christoph Gottfried Jacobi man den Gesang eines Kanarienvogels (1724-1789) über die Entdeckung des zwar sehen, aber nicht immer hören kann, Süßwasserpolypen durch Abraham Trem- und wie sich Teichmuscheln im Boden bley (1710-1784) beschließt daher die ihres Gewässers fortbewegen. umfangreiche Liste seiner biologiehis- Wegen einer dysplastisch bedingten torischen Schriften. Behinderung der Motilität des rechten Hans Querner wurde in Hamburg ge- Armes wurde Hans Querner weder zum boren. Der Vater, Arzt von Beruf, verstarb Arbeitsdienst noch zur Wehrmacht einge- 1932, die Mutter kehrte daher mit ihm zogen. „Von meinem Jahrgang hat kaum und der jüngeren Schwester nach Wer - einer den Polen- und den Frankreich- nigerode in das Haus der Familie zurück. feldzug überlebt“, stellte er nüchtern fest. Hier besuchte er bis zum Abitur im Jahre Hans Querner konnte daher schon im 1940 die Fürst-Otto-Oberschule. Wintersemester 1940/41 das geplante

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Studium der Naturwissenschaften an der Hölder, Albrecht Egelhaaf, Jürgen Jacobs Georg-August-Universität in Göttingen und Gerhard Heberer; Reinbek bei Ham- aufnehmen, wo er nach Kriegsende als burg 1969) folgte. Im Anschluß an sein Schüler von Karl Henke (1895-1956) mit Referat über die Vorstellungen Heinrich einer Dissertation über die Flügelform Georg Bronns (1800-1862) von der Ent - von Ephestia kühniella (Biol. Zentralbl. 67: stehung der Arten (Zool. Anz. 31: 251- 293-319, 1948) promoviert wurde. Da - 255, 1968) auf der Versammlung der nach war er Assistent bei Erich von Holst Deutschen Zoologischen Gesellschaft in (1908-1962) und Wilhelm Ludwig (1901- Heidelberg im Mai 1967 kam es zu einem 1959) in Heidelberg; anschließend arbei - ersten persönlichen Gespräch, ob und tete er vorübergehend am Institut für Ent - wie die Geschichte der Biologie an west- wicklungsphysiologie in Köln und erneut deutschen Hochschulen in Forschung und in Heidelberg am Institut für experimen - Lehre integriert werden könnte. Hans telle Krebsforschung. Hier erfolgte 1955 Querner schlug daher vor, das seit eini- die Habilitation für Zoologie und Entwick- gen Semestern im Rahmen seines aka - lungsphysiologie mit Untersuchungen des demischen Unterrichts angebotene Kollo- Einflusses von Steroidhormonen auf das quium zu speziellen Fragen der Biolo- Wachstum lebendgebärender Zahn kar p - giegeschichte für auswärtige Referenten fen. und interessierte Gäste zu öffnen: das Erwähnenswert ist, daß Hans Querner Echo war unerwartet groß. Aus dem Kol- frühzeitig auf die Wiederbelebung stu- loquium entwickelte sich rasch der Ar- dentischer Verbindungen reagierte und beitskreis Biologiegeschichte als zwang - sich entschieden gegen die Typenprä- lose Vereinigung in- und ausländischer gung durch Gruppen (Göttinger Univers.- Kollegen, die sich regelmäßig zunächst in Zeit. 3: 15, 1946) aussprach. Auch gehörte Heidelberg, später auch andernorts ver- er „zu der ersten deutschen Arbeits- sammelten. Georg Uschmann (1913- gruppe, die nach dem Krieg mit finan - 1986), Direktor des Ernst-Haeckel-Haus- zieller Unterstützung der Rockefeller es in Jena, der Hans Querner in herzli - Foundation die Stazione Zoologica in cher Freundschaft verbunden war, nutzte Neapel besuchte“ (Volker Storch, 1986). nach seiner Emeritierung im Jahre 1978 Im Freundeskreis hat Querner gestanden, die Freiheit des Reisens, um an einigen die historischen Bedingungen der biowis- Treffen des Arbeitskreises teilzunehmen, senschaftlichen Forschung habe er nir- so 1980 in Wolfenbüttel, 1983 in Mainz gendwo klarer erkannt, als während und 1984 in Freiburg i. Breisgau. dieses Aufenthaltes in Neapel. Nach 1965 Die administrative Einbindung Hans war seine Hinwendung zur Geschichte Querners in die Heidelberger Medizin - der Biologie vollzogen. Zunächst pub- geschichte sowie sein Status als Ange- lizierte er ein Taschenbuch zur Stammes- höriger zweier Fakultäten haben zwar die geschichte des Menschen (Stuttgart seit 1972 erfolgte Gründung einer eige- 1968), dem kurz darauf ein weiteres über nen Abteilung erleichtert, aber gleichzei - den Ursprung der Arten (mit Helmut tig wurde die Beteiligung an gemein-

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samen Projekten erwartet. Hinsichtlich Das Archiv der Deutschen Zoologi - des dafür vorgesehenen Archivmaterials schen Gesellschaft befand sich seit 1918 der von Lorenz Oken (1779-1851) im in der Obhut des langjährigen Schrift- Jahre 1822 gegründeten Gesellschaft führers Carl Apstein (1852-1950) in Deutscher Naturforscher und Ärzte, das Berlin. Obwohl es die Kriegsjahre dort im Heidelberger Institut aufbewahrt war, unversehrt überdauerte, faßte der Vor- hatte Querner mit einem ersten Beitrag stand während der Tagung in Innsbruck über die Darwinrezeption auf den Natur- den peinlichen Entschluß, die Akten – forscherversammlungen des 19. Jahrhun- Erich Reisinger (1900-1978) bezeichnete derts (Schriftenreihe d. Bezirksärztek. sie öffentlich als Makulatur – vernichten Nordwürttemberg 12: 55-64, 1968) be - zu lassen. Heinz Janetscheck (1913-1997), reits nützliche Vorarbeit geleistet. Der um- der als örtlicher Fachvertreter anwesend fangreiche Bestand sollte sich auch für war, verhinderte dies in letzter Minute. Er seine Veröffentlichungen zur Biologie der erklärte, wie wichtig das Material für die Romantik und die Folgen der spekulati - Geschichte der Zoologie sei und schlug ven Naturforschung (Wege der Naturfor - vor, es dem Biohistoriker Hans Querner schung, mit Heinrich Schipperges, Berlin- zu über eignen. Wäre dies nicht gesche - Heidelberg-New York, 1972) bis zur hen, hätte er der Bitte des Präsidiums Methodenfrage in der Biologie um 1900 nicht nach kommen können, eine Ge - (Verhdlg. d. DZG, Stuttgart 1975, 4-12) als schichte der Gesellschaft anläßlich ihres eine noch kaum ausgeschöpfte Quelle er- einhundertfünfzigsten Bestehens zu weisen. Die mit Hermann Lampe, einem schreiben (mit Armin Geus, Stuttgart-New Schüler Querners, publizierte Untersu - York 1990). Heute befindet sich das Mate- chung der Vorträge auf den allgemeinen rial in der Sammlung des Biohistoricums, Sitzungen von 1822 bis 1913 war als Band das im September 1998 in Neuburg an 1 der neuen Schriftenreihe zur Ge schich - der Donau eröffnet wurde, inzwischen te der Naturforscherversammlungen aber seit 2008 unter dem Dach des Bon- (Hildesheim 1972) erschienen. Von den ner Museums Alexander Koenig eine vielen Beiträgen über die Bedeutung neue Bleibe gefunden hat. einzelner Vertreter der romantischen Bio - Nach der Wiedervereinigung wünsch - logie sollen Gotthilf Heinrich von Schu- ten der westdeutsche Arbeitskreis Bio - berts (1780-1860) einflußreiche Schriften logiegeschichte ebenso wie die Mit- (Jahrb. f. fränk. Landesforsch. 30: 273-286, glieder der ostdeutschen Biologischen 1970) und das von Georg August Gold- Gesellschaft bereits bestehende Kontakte fuß (1782-1848) an Christian Gottfried zu vertiefen und gemeinsame Interessen Nees von Esenbeck (1776-1858) im Namen einer gesamtdeutschen Fach - gerichtete Sendschreiben über die Ent - gesellschaft zu verfolgen. In der denk - wicklungsstufen der Tiere erwähnt wer- würdigen Sitzung im Untergeschoß des den, das Hans Querner ausführlich kom- Berliner Museums für Naturkunde im mentierte (Marburg 1979). Februar 1991 sprachen sich die Anwe- senden mit großer Mehrheit dafür aus,

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ein paritätisch besetztes Komitee mit den Kräfte zwang ihn, die Idylle schon 1997 notwendigen Vorbereitungen zu beauftra- wieder aufzugeben. Er fand ein letztes gen. Die Gründungsversammlung fand Refugium in Wernigerode in einem ganz wenig später in Jena im alten Hörsaal auf seine Bedürfnisse eingerichteten Ernst Haeckels (1834-1919) am 29. Juni Haus; behütet von der unermüdlichen 1991 statt. Hans Querner betonte in sei - Fürsorge seiner Ehefrau fügte er sich in ner Festrede, die Zeit sei wohl reif gewor- das unvermeidliche Siechtum. den, einen solchen Schritt zu tun. Hans Querner war wertkonservativ, re- Die Jahre des Ruhestandes wollte Hans alistisch und sachlich, dabei voller Humor Querner auf dem Land verleben. Er hatte und Ironie. Als undogmatischer Skeptiker sich 1984 für ein geräumiges Anwesen in wollte er sich nie durchsetzen, immer be- Laase im Landkreis Lüchow-Dannenberg dachte er auch das Gegenteil dessen, entschieden. Doch das krankheitsbe - was zu tun nötig war. dingte Nachlassen der körperlichen

Prof. Dr. Armin Geus Postfach 561 35017 Marburg

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Nachruf auf Carl Hauenschild 16.4.1926 – 27.10.2012

Werner A. Müller und Albrecht Fischer

Am 27. 10. 2012 verstarb Carl1 Hauen- schild, Mitglied der DZG seit 1951. Er hat in der breiten wissenschaftlichen Öffent - lichkeit keine hohe Bekanntheit erreicht, denn er stand nie durch wissenschafts - politische Ämter und öffentliche Reden im Vordergrund. Und doch hat Carl Hauen- schild bahnbrechende Beiträge zur Zoo - logie geleistet, indem er damals weitge- hend oder gänzlich unbeachtete biologi - sche Themen in die Forschung und den Lehrinhalt an Hochschulen einbrachte. Carl Hauenschilds Lebenslauf kennt vier Stationen: München, Tübingen, Frei - burg und Braunschweig. Sein wissen - schaft liches Schaffen setzt mit extrem ho- her Dichte zwischen seinem 24. bis 30. Foto: privates Bildarchiv Lebensjahr ein, sicherlich befördert durch die in diesen Jahren sehr günstigen beteiligt und bei der Sicherung von Arbeitsbedingungen in einer reinen For - Sammlungsmaterial nützlich gemacht. Er schungsinstitution, dem Tübinger Max- beschließt als Dreiundzwanzigjähriger Planck-Institut. Seine Arbeitshypothesen sein Studium mit der Promotion über das mutieren dabei in erstaunlicher Weise Thema „Experimenteller Beitrag zum mehrfach unter dem Eindruck selbst ent- Kinästhetikproblem (Dressuren und neu- deckter neuer Fakten und münden rophysiologische Versuche mit Lym- schließ lich in mehreren Forschungsthe- naea)“. Die Arbeit betreute der Tierpsy- men, die gegenwärtig manche junge chologe Werner Fischel (1900 – 1977). Forscher in der zweiten Nachfolgegene - Die Hingabe an die Lebendhaltung von ration beschäftigen. aquatischen Tieren für die Forschung und Carl Hauenschild wurde am 16. April an die Aquaristik als Hobby bleibt zwar 1926 in München geboren und studierte ein Leben lang erhalten, doch die Etholo- dort Biologie, Chemie und Philosophie; gie als Arbeitsrichtung verliert sich nun dabei hat er sich an der zerstörten Uni- spurlos. versität München an der Schutträumung Max Hartmann (1876 – 1962), leitende Forscherpersönlichkeit und nun schon 73 1 In persönlichen Schreiben und Texten auch „Karl“

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Jahre alt, bietet dem Frischpromovierten nimmt; dadurch kann er die Entwicklung eine Stelle am Max-Planck-Institut im einzelner Tiere lückenlos verfolgen. schwäbischen Hechingen (später Tübin- Gleichzeitig beschäftigt er sich mit einem gen) an. Max Hartmann hat wie kein an- geheimnisvollen Thema, der seit Hempel- derer gedankliche Ordnung in die unge- mann (1911) angenommenen Dissogonie heure Vielfalt der Fortpflanzungs vor - bei Platynereis dumerilii: In zwei aufein - gänge bei Tieren und Pflanzen gebracht, anderfolgenden Entwicklungsphasen, und dies auch aufgrund intensiver eige - einer sukzedanzwittrigen und einer ge- ner Forschungen an Algen und Tieren. Er trenntgeschlechtigen, sollte dieser im Mit- beeindruckt den jungen Carl Hauen- telmeer häufige Polychaet zwei unter- schild tief durch seine Persönlichkeit, schiedliche Gameten- und Larvenformen seine Originalarbeiten, sein Fachwissen erzeugen und dabei sein Fortpflanzungs - und Abstraktionsvermögen. Carl Hauen- verhalten tiefgreifend ändern können. schilds späterer Übersichtsartikel „Die Hauenschilds Geschick und Fleiß bei allgemeinbiologischen Grundlagen der der Tierzucht ermöglichen ihm auch bei Sexualität“ von 1968, eine hieraus her- Platynereis Einblick in das individuelle vorgegangene Schrift „Fortpflanzung und Entwicklungsschicksal seiner Tiere. Unter Sexualität der Tiere“ (1993) sowie sein dem sperrigen Titel „Nachweis der so Text über „Fortpflan zung und Sexualität“ genannten atoken Geschlechtsform des im Lehrbuch „Biologie“ (herausgegeben Polychaeten Platynereis Aud et M.- Edw. von Czihak, Langer und Ziegler) erwei - als eigene Art auf Grund von Zuch t - sen ihn als Max Hartmanns geistigen Er- versuchen“ beweist er 1951, dass hier die ben. Beobachtungen an zwei verschie denen Im Frühjahr 1950 erhält Carl Hauen- Arten miteinander vermengt worden schild erstmals die Gelegenheit zu einem waren: Dissogonie findet bei Platynereis Arbeitsaufenthalt im Mekka der deut - dumerilii, bzw. der nun von ihm neu schen Zoologen, der Zoologischen Station beschriebenen Zwillingsart P. massiliensis Neapel. Unterstützt von seiner Frau Ange- nicht statt, wohl aber die gesuchte lika stürzt er sich in seine von Max Hart- Sukzedanzwittrigkeit bei der letzteren mann gestellte Forschungsaufgabe und Art. Hiermit wird die ursprüng liche legt binnen Jahresfrist zwei Publikationen Fragestelllung im Wesentlichen vor. Hartmann und Mitarbeiter hatten abgeschlossen, aber Carl Hauenschild schon gezeigt, dass manche Polychaeten erkennt das enorme Potenzial des nun in (marine Ringelwürmer) Sukzedanzwitter permanente Kultur genommenen Poly- sind, d. h., sich vom einen zum anderen chaeten Platynereis dumerilii für Themen Geschlecht umwandeln können, spontan aus der Fortpflanzungs- und Entwick- oder unter dem Einfluss von Umweltfak- lungsbiologie. Nahezu gleichzeitig stellt toren oder Artgenossen. Carl Hauen- er 1955 zwei Forschungsrichtungen vor, schild bestätigt das Vorliegen solcher in denen er Pionierleistungen an dieser Verhältnisse für eine weitere Art, Grubeo- Spezies erbringt und die sich langfristig syllis (Grubea) clavata, die er in Kultur etablieren.

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Aus Fangstatistiken für P. dumerilii diesem endokrinologischen Thema zur früherer Autoren hatten sich Argumente Fortpflanzungs- und Entwicklungsphysi- für eine Abhängigkeit des Ablaichens ologie kulminiert schließlich 1966 in sei - vom Mondphasenzyklus ergeben. Hauen- ner umfangreichsten Originalpublikation, schild vermag nun erstmals für lunare „Der hormonale Einfluss des Gehirns auf Rhythmen zu zeigen, dass mit künstlichen die sexuelle Entwicklung bei dem Poly- Lichtzyklen von ca. Monatslänge die chaeten Platynereis dumerilii“. Sie be- Phase des Ablaichens beliebig verlagert gründet seine internationale Bekanntheit werden kann; in Hauenschilds Worten: bei Vergleichenden Endokrinologen und „Photoperiodizität als Ursache des von seine Qualifikation für den Ruf auf einen der Mondphase abhängigen Metamor- Lehrstuhl. phose-Rhythmus bei dem Polychaeten Nach demselben Muster wie bei Platynereis dumerilii“ (Publikationstitel Platynereis beginnt Carl Hauenschild 1955). Diese Ergebnisse regen auch Diet- seine Arbeit an dem kolonialen Hydroid- rich Neumann (Nachruf in diesem Heft polypen, Hydractinia echinata. Bei einem der „Mitteilungen“) zu seinen in die Tiefe Aufenthalt an der Wattenmeerstation der führenden Untersuchungen zur Lunarpe- Biologischen Anstalt Helgoland in List/Sylt riodizität von Meeresmücken an. entwickelt er die Methodik zur perma- Aus der Domestizierung von Platy - nenten Haltung und Zucht dieses Nes- nereis dumerilii zum stets verfügbaren seltiers. Auch für diese Art gab es Be - Versuchstier ergibt sich aber auch eine richte über das Vorkommen von Zwitter- zweite, experimentell anspruchsvollere tum, denen Hauenschild auf den Grund Forschungsrichtung, die Carl Hauen- gehen möchte. Tatsächlich findet er in schilds Forschungsarbeit für ein Jahrzehnt seinen Zuchten intersexe Kolonien mit bestimmen sollte und die er 1955 mit männlichen und weiblichen Keimzellen- dem Publikationstitel „Hormonale Hem- Vorstufen und funktionellen Spermien und mung der Geschlechtsreife und Meta- Hinweise auf eine Erblichkeit dieses morphose bei dem Polychaeten Phäno mens, aber eine schlüssige kreu - Platynereis dumerilii“ vorstellt. Angeregt zungsgenetische Analyse erscheint für durch erste experimentelle Ergebnisse den Moment zu aufwändig und die von M. Durchon (1948, 1952) an ver- Datenlage zu kompliziert (1954: Gene - wandten Arten und gefördert durch sein tische und entwicklungsphysiologische manuelles Geschick weist er nach, dass Untersuchungen über Intersexualität und der „Kopf“ dieser Ringelwürmer ein Hor- Gewebeverträglichkeit bei Hydractinia mon abgibt, welches die Geschlechtsrei- echinata FLEMM. (Hydroz. Bougainvill.)). fung hemmt und, wie sich später (1960) Erst 1964 zeigt sein Schüler W. A. Müller, herausstellt, gleichzeitig den Wurm dazu dass die Fälle von Intersexualität bei befähigt, amputierte Segmente des Hin- diesem Cnidarier teils auf genetischer terendes in abgestuftem Umfang zu re- Disposition beruhen können, teils aber generieren. Die Ernte aus jahrelanger auch als männlich-weibliche Chimären zu eigenhändiger experimenteller Arbeit an erklären sind.

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Bei Hauenschilds täglichen Beobach- Hauenschild (1956), asexuellen Klonen tungen ergab sich eine andere interes- die Fähigkeit zur Fortpflanzung zu verlei- sante Spur mit Neuigkeitswert: Ihm war hen durch Transplantation von Ge webe, nicht entgangen, dass die aus je einem Ei das, wie er annahm, Stammzellen als Vor- entstandenen Kolonien von Hydractinia läufer von Keimzellen besitzen sollte. His- echinata in seltenen Fällen miteinander zu tologisch sind solche, als i-Zellen bezei - Chimären verschmelzen, in der Mehrzahl chneten Stammzellen alsdann durch seine der Fälle aber dauerhaft zur Verwach- Doktorandin B. Weiler-Stolt (1960) sicht- sung unfähig bleiben und diese Unver - bar gemacht worden. Damit war das In- träglichkeit sogar weitervererben. Er teresse an der Keimbahn- und Stammzell- zeigt hiermit erstmals, dass es auch im Theorie dort wiedererweckt, wo sie ihr Reich der wirbellosen Tiere eine gene- Schöpfer August Weismann 1883 ent - tisch fixierte Gewebeunverträglichkeit wickelt und begründet hat, nämlich bei gibt. Die biologische Bedeutung dieses Hydrozoen! Phänomens wurde von Hauenschilds Carl Hauenschild hat somit beim Er - Doktorand W. A. Müller erschlossen: Ge - reichen des dreißigsten Lebensjahres webeunverträglichkeit verhindert das vier beachtliche Forschungsfelder be- Einwandern fremder Stammzellen, die in gründet bzw. wiederbelebt: (1) Die ex - der Wirtskolonie zu parasitären Keim - perimen telle Erforschung der Lunarperi- zellen werden können. Molekulargeneti- odizität, (2) die endokrine Steuerung der sche Nachfolgearbeiten amerikanischer Ge schlechtsreifung bei Nereididen, (3) Forscher zeigten alsdann, dass bereits bei die Kompatibilität bzw. Inkompatibilität diesem Organismus Gewebeunver - bei Nesseltieren und (4) die Rolle der träglichkeit auf unterschiedlichen Vari- Stammzellen in der Keimbahn. Alle diese anten von Zellmembran-assoziierten Im- Arbeiten wären nicht möglich gewesen, munglobulinen beruht. wäre es ihm nicht gelungen, mit viel Fin- Damit ist ein weiteres Forschungsge - gerspitzengefühl und äußerster Sorgfalt biet genannt, das durch Hauenschild ex- mehrstufige Kulturbedingungen für perimentell angegangen wurde: Stamm - anspruchsvolle marine Organismen im zellenforschung. Ein weiteres Hydrozoon, Labor zu etablieren. Zwei der von ihm das Hauenschild in Kultur nimmt, die mi - ausgewählten Arten setzten sich auf kroskopisch kleine, kriechende Meduse Dauer als Versuchstiere durch, Platynereis Eleutheria dichotoma setzt sich als Ver- dumerilii 2 und Hydractinia echinata3. suchstier nicht durch; doch es ge lingt Carl Hauenschilds Vita erhält nun neuen Anstoß durch die Auflösung der 2 Fischer, A. und Dorresteijn A (2004) The polychaete Abteilung Hartmann am Tübinger Max- Platynereis dumerilii (Annelida): a laboratory animal with spiralian cleavage, lifelong segment proliferation Planck-Institut. Im Jahr 1958 übersiedelt and a mixed benthic/pelagic life cycle. BioEssays 26: er als Wissenschaftlicher Assistent ans 314-325 3 Plickert G, Frank U, Müller WA (2012) Hydractinia, a Zoologische Institut der Universität pioneering model for stem cell biology and repro- Freiburg i. Br. an den Lehrstuhl von Otto gramming somatic cells to pluripotency. International Journal of Developmental Biology, 56: 519-534 Koehler (1889 – 1974) und wird dort apl.

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Professor (1960) und schließlich Wissen - Zunehmend hatten in den letzten Jah - schaftlicher Rat (1964). Eine Forschungs - ren seiner beruflichen Tätigkeit die hek- reise nach Samoa unterbricht 1966 die tischen und oft widersprüchlichen, von Tagesroutine. Im Jahr 1967 wird C. Hau - oben verordneten Reformvorhaben sein en schild zum ord. Professor an der TU Gemüt mit Verbitterung erfüllt. Entgegen Braunschweig und zum Leiter des Zoolo- dem Ruf, ein unbeugsamer Konservativer gischen Instituts und Museums ernannt. zu sein, hatte Hauenschild lange schon, Zu seinen dortigen Schülern zählen Hans- bevor dies andernorts üblich wurde, eine Dieter Pfannenstiel, Klaus-Dieter Spindler, demokratische Leitung eingeführt. In den Heinz-Dieter Franke und Bernd Schierwa- Institutsbesprechungen wurden alle An- ter. B. Schierwater schreibt uns über die gelegenheiten einschließlich der Mit- späten Dienstjahre von Carl Hauenschild: telverteilung mit allen Mitarbeitern ge - „In den letzten zehn Jahres seiner Amts - meinsam beraten und einvernehmlich zeit konzentrierte sich Carl Hauenschild beschlossen. Sein ausgeprägter Gerech - fast ausschließlich auf seine perfekt aus- tigkeitssinn ließ keinen nennenswerten gearbeiteten und ausformulierten Vor- Streit aufkommen. Seine Liebe zum aktiv- lesungen zur Allgemeinen Zoologie, en Klavierspiel und zur Kammermusik, Speziellen Zoologie, Vergleichenden die er als Mitglied eines Quartetts Anatomie der Wirbeltiere und Fortpflan - pflegte, und seine allseits geachtete Frau zung und Sexualität der Tiere.“ Sein halfen ihm, die Unbill des Alltags und Al- prägnanter Vorlesungsstil blieb seinen ters zu ertragen. Am 30. 09. 1991 ließ sich Hörern auf immer im Gedächtnis. Carl Hauenschild entpflichten. Seine Carl Hauenschild betreute elf Dokto - Schüler und seine Kollegen bewahren randen, von denen später sieben Hoch - das Andenken an einen äußerst gewis- schullehrer in biologischen Fächern wur- senhaften, zuverlässigen und kompeten- den. Von ihm angesprochen fühlten sich ten Forscher und Lehrer. Studenten, die sich für die Fort pflan - zungs- und Entwicklungsbiologie von Ausgewählte Schriften von Carl Hauenschild marinen Wirbellosen begeistern konnten. Hauenschild C (1951) Nachweis der Sein Ruf als Begründer der experimen - sogenann ten atoken Geschlechtsform des tellen Forschung zur Lunarperiodizität er- Polychaeten Platynereis dumerilii Aud. et möglichte ihm eine von der DFG finan - M.-Edw. als eigene Art auf Grund von Zuchtversuchen. Zool. Jb, Abt. Allg. Zool. zierte halbjährige Expedition zu den Ko- Physiol. 63:107-128. rallenriffen von Samoa (V/1966 – XI/1966) Hauenschild C (1953) Die phänotypische zur Erforschung des lunarperiodischen Geschlechtsbestimmung bei Grubea clavata Laichens des Palolowurms, die seine Clap. (Annel. Polych.) und verglei - chende Beobachtungen an anderen Sylli- Schüler A. Fischer und D. K. Hofmann den. Zool. Jb. Abt. Allg. Zool. Physiol. 64:14- miterleben durften – ein unver gesslicher 53. täglicher Kurs über die Biologie von Hauenschild C (1954) Genetische und ent - Meerestieren. wicklungsphysiologische Untersuchungen über Intersexualität und Gewebeverträg -

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lichkeit bei Hydractinia echinata Flemm. Hauenschild C, Fischer A und DK Hofmann (Hydroz., Bougainvill.). Roux‘ Arch Entw. (1968) Untersuchungen am pazifischen 147:1-41 Palolowurm Eunice viridis (Polychaeta) in Hauenschild C (1955) Photoperiodizität als Samoa. Helgoländer wiss. Meeresunters. Ursache des von der Mondphase anhän - 18, 254 – 295 gigen Metamorphose-Rhythmus bei dem Hauenschild C (1968) Die allgemeinen biolo- Polychaeten Platynereis dumerilii. Z.Natur- gischen Grundlagen der Sexualität. In H forsch. 10b:658-662 Giese (Hrsg.) Die Sexualität des Men- Hauenschild C (1956) Hormonale Hemmung schen. Handbuch der medizinischen Sexu- der Geschlechtsreife und Metamorphose alforschung. 2. Aufl. pp. 249 – 283. F. Enke bei dem Polychaeten Platynereis dumerilii. Verlag, Stuttgart Z. Naturforsch. 11b:125-132 Hauenschild C und A Fischer (1969) Hauenschild C (1956) Experimentelle Unter- Platynereis dumerilii. Mikrokoskopische suchungen über die Entstehung asexueller Anatomie, Fortpflanzung, Entwicklung, Klone bei der Hydromeduse Eleutheria di- Grosses Zoologisches Praktikum H. 10b. chotoma. Z. Naturforsch. 11b:394-402 Stuttgart: G. Fischer Hauenschild C (1956) Neue experimentelle Schulz, G., K. P. Ulbrich, C. Hauenschild & H. D. Untersuchungen zum Problem der Pfannenstiel (1989) The atokous-epitokous Lunarperiodizität. Naturwissenschaften border is determined before the onset of 43:361–363 heteronereidid development in Platynereis Hauenschild C (1960) Abhängigkeit der Re- dumerilii (Annelida: Polychaeta). Roux’s generationsleistung von der inneren Arch. Dev. Biol. 198:29–33 Sekretion im Prostomium bei Platynereis Schierwater B und Hauenschild C (1990) A dumerilii. Z. Naturforsch. 15b:52–55 photoperiod determined life-cycle in an Hauenschild C(1960) Lunar periodicity. Cold oligochaete worm. Biol. Bull. (Woods Hole) Spring Harbor Symp. Quant. Biol. 25:491- 178:111-117 497 Hauenschild C (1990) Fortpflanzung und Hauenschild C (1966) Der hormonale Einfluss Sexu alität. In: Czihak G, Langer H und des Gehirns auf die sexuelle Entwicklung Ziegler H (Hrsg.) Biologie. Ein Lehrbuch. bei dem Polychaeten Platynereis dumerilii. 4. Aufl. pp. 263-322. Springer Verlag, Berlin Gen. Comp. Endocrinol. 6:26-73.

Prof. Dr. Werner A. Müller Prof. Dr. Albrecht Fischer Centre for Organismal Studies, Zoologisches Institut der Universität Universität Heidelberg Mainz Postadresse: Postadresse: Silcherstr. 3 Stüttgerhofweg 4c 65257 Wiesenbach 50858 Köln Email: [email protected] Email: [email protected]

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Nachruf auf Dietrich Neumann 12.11.1931 - 23.12.2012

Armin Kureck

Am 23. Dezember 2012 verstarb in Köln Dietrich Neumann, sechs Wochen nach Vollendung seines 81. Lebensjahres. Er wurde am 12. November 1931 in Göt- tingen als drittes von vier Kindern des Germanistik-Professors Friedrich Neu- mann und seiner Frau Ilse geb. Graul geboren. Die letzten Kriegsjahre (1943- 1945) verbrachte er in einem Internat im Allgäu. 1951 begann er dort direkt nach dem Abitur das Biologie-Studium und be- treute schon als Student die ornithologi - sche Sammlung des Instituts. Von Jugend an galt sein Interesse der Natur, insbe - son dere der Vogelwelt. Dieses Interesse blieb ein Leben lang erhalten. Zwar be- trieb er später kaum eigene ornithologi - sche Forschung, vermittelte aber auf Dietrich Neumann beim Kolloquium zur Feier Exkursionen gern seine Kenntnisse der seines 80. Geburtstags im November 2011 Vogelwelt und holte den frisch promo - (Foto: J. Rutschke) vierten Orni thologen Franz Bairlein nach Köln. Mit ihm oder Kollegen der Vogel- Verwirklichung von Färbungsmustern auf warte Helgoland betreute er auch einige den Flügeln von Schmetterlingen. Dabei ornithologische Diplom- und Doktorar- profitiert der Untersucher davon, dass beiten. sich die „Entwicklung“ in nur zwei anstatt Karl Henke, Forschungspartner und drei Dimensionen abspielt. Henke schlug Nachfolger von Alfred Kühn im Lehrstuhl seinem neuen Kandidaten die Unter- für Zoologie in Göttingen, konnte den Stu- suchung des variablen Fär bungs musters denten Dietrich Neumann für seine Ar- auf dem Gehäuse der Fluss deckel - beitsrichtung gewinnen. Generalthema schnecke Theodoxus fluviatilis vor. Neu- war damals das, was man „Genphysiolo- mann züchtete dafür die in der Werra gie“ nannte: die Aufklärung der Umset- gesammelten Schnecken und wies ex- zung genetischer Information in nicht- perimentell nach, dass das Muster, das genetische Prozesse und „Merkmale“. schrittweise vom Mantelrand auf der Karl Henke untersuchte vor allem die Schale gebildet wird, von der Ionenzu -

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sammensetzung des Wassers beeinflusst In Wilhelmshaven begegnete er 1960 wird. Die kleine, fein gemusterte der Madrider Doktorandin Josefina Ogan- Schnecke war für solche Untersuchungen do-Rubio. Sie war mit einem Stipendium besonders geeignet, tolerierte sie doch zu Karl Strenzke gekommen, um ihre die erheblichen Salzgehaltsschwankun- unter bodenökologischen Gesichtspunk- gen in der durch Kali-Abwässer belas - ten gesammelten Hornmilben (Oribati- teten Werra. den) taxonomisch zu bearbeiten. Beide Die Dissertation legte auch endogene heirateten 1961 und wurden im selben zyklische Vorgänge bei der Erzeugung Jahr mit dem plötz lichen Tod von Karl des Farbmusters durch das Mantelrand - Strenzke konfrontiert. Dietrich Neumann epithel der Schnecke bloß. Sogar das ordnete dessen Nachlass und konnte Motiv der Überlagerung beim zeitlichen dank der Förderung durch den Instituts - Ab lauf zweier morphogenetischer Pro - direktor Joachim Hämmerling Dauerleih- zesse, hier bei der Entfaltung des Farb- gaben an seinen neuen Arbeitsplatz mit- musters, findet sich schon in dieser Dis- nehmen. sertation und wurde später zu einem 1962 wurden ihm Assistentenstellen in wichtigen Element bei der Erklärung Gießen, Mainz und Würzburg angebo - tidaler Zeitmessung. Seine spätere Be - ten. Er entschied sich für das Zoologische geisterung für chronobiologische Fragen Institut in Würzburg und war dort von weckte ein Studiensemester in Tübingen 1962 bis 1967 Assistent von Gerhard 1954, wo er die Arbeiten des Pflanzen- Krause. Hier konnte er trotz zahlreicher physiologen Erwin Bünning ken nenlern te, Lehrverpflichtungen seine in Wilhelms - der Mitte der fünf ziger Jahren viel Auf - haven begonnene Forschung fortsetzen. merk samkeit für seine Publikationen er- Durch Karl Strenzke war Dietrich Neu- fuhr. mann zur „Stundenmücke“ Clunio mari- Zurück in Göttingen musste Dietrich nus gekommen, einer kleinen Chirono- Neumann erleben, dass sein Doktorvater mide, die in der Gezeitenzone lebt und Karl Henke 1956 plötzlich verstarb. Hans passend zu den lokalen Niedrigwasser - Piepho übernahm seine Betreuung bis zeiten schlüpft. Im Dezember 1964 habili- zur Promotion (1958). Anschließend ging tierte er sich in Würzburg mit Arbeiten Neumann als Assistent zu Karl Strenzke zur Schlüpfperiodik von Clunio marinus ans MPI für Meeresbiologie in Wilhelms - und begründete damit seinen Ruf als haven. Hier analysierte er die limitie - Chronobiologe. In Würzburg wurden rende Ionenwirkung auf die Verbreitung 1962 und 1964 auch die beiden Söhne von Brackwasser- und Süß wasser tieren, geboren. Seine Frau verzichtete auf eine vor allem Chironomiden. Hier begann eigene wissen schaft liche Karriere und auch die Freundschaft mit Klaus Hoffmann hielt ihm immer den Rücken frei. und Hans-Georg Wallraff, die damals in 1967 erhielt Dietrich Neumann den Ruf der Abteilung Kramer an der zeitlichen auf den neuen Lehrstuhl für Zoologie und und räumlichen Orientierung von Tieren Physiologische Ökologie an der Univer- arbeiteten. sität zu Köln, der dank der Initiative des

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nisatorisch zu einem Zoologischen Institut zusammen. Die gute Zusammenarbeit pflegte er auch mit den Nachfolgern sei - ner ersten Direktoren-Kollegen: Gernot Wendler ab 1974 und Stefan Berking ab 1988. Mit verschiedenen Stämmen von Clu- nio marinus und anderen Arten betrieb er mit seinen Schülern über Jahrzehnte grundlegende Forschungen zur Lunar- und Tagesrhythmik. Die Clunio-Kulturen wurden in einem besonderen Raum ge - pflegt und in vielen Klimakammern für Versuche eingesetzt. Ausgangsbasis war Dietrich Neumann und Klaus Hoffmann (1927- 1987) während eines chronobiologischen immer die Freilandarbeit an verschiede- Symposiums 1971 in Tübingen (Foto: A. Ku- nen Küstenabschnitten zwischen Spanien reck) und Nordnorwegen, zunächst mit Hans- Zoophysiologen Franz Huber eingerichtet Willi Honegger, dann mit seinen Dok- worden war. Er war damit der erste Öko - toranden Wolfgang Pflüger, Fred Heim- loge auf einem zoologischen Lehr stuhl in bach und Marianne Krüger. Die Koopera- Köln (und nach Tischler in Kiel einer der tion mit japanischen Kollegen komplet- ersten in Deutschland). Hans-Ulrich tierte das Spektrum. Durch Kreuzungs - Thiele, der vorher in Köln schon ökolo- versuche konnte Neumann nachweisen, gisch vor allem an Carabiden gearbeitet dass das lokale Schlüpfmuster genetisch hatte, wurde diesem Lehrstuhl zugeord- fixiert ist und unterschiedliche Zeitgeber net. In den großen Institutsneubau im je nach den örtlichen Bedingungen wirk- Weyertal waren 1966 bereits Albrecht sam sind. Die Kombinationen des täg - Egelhaaf (Experimentelle Morphologie) lichen Licht-Dunkel-Wechsels mir dem und Franz Huber (Tierphysiologie) mit wechselnden Mondlicht, tidalen Tempera - ihren Instituten eingezogen. Als jüngster turzyklen oder tidalen Turbulenzmustern der drei Direktoren bezog Dietrich Neu- stellen sicher, dass die kurzlebigen Ima - mann die reservierten Räume im Erdge - gines genau dann schlüpfen, wenn an schoß. Es war nicht l eicht, in dem schon ihrem Standort Springniedrigwasser ist. weitgehend aufge teilten Haus auch noch So entsteht ein semilunarer Schlüpfrhyth- Platz für Clunio-Zuchten und Klimakam- mus, der im Labor auch unter konstanten mern zu bekommen. Er schaffte das ziel- Bedingungen als circasemilunarer Rhyth- strebig und mit einem Durchsetzungsver- mus weiterläuft. Damit war der Nachweis mögen, das ihm Respekt verschaffte. In einer inneren „Monduhr“ erbracht und einem Haus vereint, fassten Albrecht Dietrich Neumann wurde vor allem als Egelhaaf, Franz Huber und Dietrich Neu- Fachmann für tidale und lunare Biorhyth- mann noch 1967 die drei Institute orga - mik internatio nal bekannt. Die chronobio -

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logische Forschung in seiner Arbeits- senschaftlichen Leiter besetzten For - gruppe ging aber über diese Arbeiten schungsstation entwickelt. hinaus. Er förderte Arbeiten seiner Mitar- Mit den Auengebieten des Nieder- beiter zur Rolle von zyklisch wechseln - rheins kamen weitere Themenbereiche den Temperaturen auf Entwicklungsdauer wie Limnologie, Auenökologie und und Fekundität von Insekten oder zu Makrozoobenthos in seine Arbeits- Kurzzeitrhythmen bei Wühlmäusen, die gruppe. Er führte nun auch, meistens mit Ulrich Lehmann untersuchte. Armin Kureck, Exkursionen in andere Auch wenn Clunio über Jahrzehnte Flussauen durch, darunter die nach sein wichtigstes Versuchstier war, blieb eigener Aus kunft schönste in die Save- sein früh gewecktes Interesse an der Auen (1990). Am Niederrhein wurde Schnecke Theodoxus fluviatilis und an- Neumann auch mit Fragen zum Natur - deren Mollusken erhalten. In Köln vergab schutz konfrontiert und war an Gutachten er (mit seinen Mitarbeitern) insgesamt 27 beteiligt, die 1982 zur Entschlammung Arbeiten zu Mollusken-Themen. Er holte des Bienener Altrheins führten, der zu mit Martin Sprung einen Muschel-Spezia - verlanden drohte. Um den Schutz dieses listen ins Haus, der dann vor allem mit Gebietes voranzubringen, unterstützte er Jost Borcherding die Forschung an der die Gründung einer Biologischen Station, Zebramuschel Dreissena polymorpha vo- die zunächst 1993 als Ökologische Station ranbrachte, bei der vor allem Wachstum, Rees eingerichtet und von ihm geleitet Reproduktion und Ausbreitung im Rhein wurde. Diese ging dann in das neue und das Biomonitoring mit Borcherdings „Naturschutzzentrum im Kreis Kleve“ „Dreissena Monitor“ im Mittelpunkt des über. Der Außenstelle Griether busch Interesses standen. Das Spektrum der blieb er bis zuletzt verbunden und war betreuten Arbeiten war aber breiter und als Vorsitzender des Fördervereins noch reichte von der Ökologie verschiedener im November 2012 bei der Jahresver- Quell- und Wasserschnecken bis zur sammlung aktiv. Kiemenentwicklung bei Muscheln. Mit neuen, an Fischen interessierten 1971 richtete er bei Rees am unteren Kandidaten in Grietherbusch und mit der Niederrhein die erste Außenstelle des In- Erholung der Rheins kam er auch zu Fra- stituts ein. Die ehemalige Schule in Grie - gen der Fischereibiologie und der Ökolo- therbusch war durch die Vermittlung der gie des Rheins und der angeschlossenen Professoren Hans Engländer und Anna Baggerseen, was schließlich in den letz - Gisela Johnen der Universität angeboten ten Jahren seiner Amtszeit einer seiner worden. Engländer und Johnen kannten Schwerpunkte wurde. Er begleitete das das Gebiet durch ihre ornithologischen Wanderfischprogramm in NRW 1998- Exkursionen und trugen mit ihren Schü - 2010 als Vorsitzender des wissen schaft - lern wesentlich zur Belebung der neuen lichen Beirats. Außenstelle bei. Unter Neumanns Füh - Bis zu seiner Emeritierung im Jahr rung wurde die Außenstelle Griether- 1997 betreute Dietrich Neumann fünf Ha- busch zu einer dauerhaft mit einem wis- bilitanden (Dietrich Schlichter, Heinrich

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wiesen (1976-1980), Mitglied der Nord - rhein-Westfälischen Akademie der Wis- senschaften in Düsseldorf (seit 1982), Mit- glied im wissenschaftlichen Beirat der Bio logischen Anstalt Helgoland (1987- 1990), Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Instituts für Vogelforschung in Wilhelmshaven (1991-2004), Vorsitzen- der der Alexander-Koenig-Stiftung in Bonn (1997-2006). Neben der Biologie interessierten ihn Kunst, Musik und Landschaften. Mit seiner Frau sammelte er volkskundliche und künstlerische Keramik und beide schufen im Laufe der Zeit eine wertvolle Samm- lung, die sie 2010 dem Grassi-Museum für Angewandte Kunst in Leipzig schenk- ten. Der Bildkunst des Fernen Ostens und Dietrich Neumann 1990 bei der Save-Exkursi- on (Foto: A. Kureck) der Vielfalt poetischer Sprachwelt war er bereits im Elternhaus und beim Vater Kaiser, Ulrich Lehmann, Franz Bairlein, seiner Mutter in Leipzig begegnet. Heinz Brendelberger), und 33 Doktoran- Zusammen mit seiner Frau beschäftigte den sowie, mit seinen Mitarbeitern, 96 er sich seit Mitte der 1980er Jahre mit der Diplom- und 48 Staatsexamensarbeiten. chinesischen und japanischen Malerei Der frühe Unfalltod von drei seiner und Graphik. Zu Weihnachten verschickte früheren Assistenten bedrückte ihn (Hein- er selbst gestaltete Karten, auf denen rich Kaiser 1986, Ulrich Lehmann 1987, fern östliche Malerei mit eigenen Gedich - Martin Sprung 2003). ten kombiniert wurden. Die Bilder, die Von seinen vielen weiteren Aktivitäten Tiere in ihrer natürlichen Umgebung seien hier nur genannt: Mitherausgeber zeigten, erläuterte er mit heutigem ökolo- der Zeitschrift Oecologia (1969-1998), gischem und verhaltensbiologischem DFG-Gutachter und Vorsitzender des Naturverständnis. So wurde er zu einem Fachausschusses (1980-2003), Mitglied Kenner fernöstlicher Malerei, der auch des Planungsausschusses für den 1. Inter- Kunstexperten durch seine andere nationalen Ökologischen Kongress der Sichtweise und die Kenntnis der darge - INTECOL in Den Haag (1973/74), Mit- stellten Tiere oder Verhaltensweisen zu glied im Kuratorium des MPI für Limnolo- neuen Deu tung en oder Datierungen der gie in Plön (1974-1992) und dessen Fach- Bilder verhalf. Viele Bilder und Gedichte beirat (1987-1992), Präsident der DZG fasste Dietrich Neumann in seinem Buch (1977-1978), Mitglied des Fachbeirats am „Mit Vogelsang und Blütenkleid“ (Mar- MPI für Verhaltensphysiologie in See - burg 1999) zusammen, um, wie er selbst

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schrieb, „die ästhetische Schönheit einer lizierte mit ihm auch noch einige Arbeiten. naturalistischen Bildkunst, die auf Natur - Neben Abhandlungen zur Naturbeobach- verehrung und unverfäl schter Naturbe - tung und Malkunst im alten China, veröf- obachtung fußt, aus dem ökologischen fentlichte er weitere zoologische Arbeiten, Blickwinkel der Gegenwart neu zu ent- oft mit früheren Kandidaten oder auswärti- decken“. Er war fasziniert von den gen Kollegen. Mit Gerta und Günther präzisen Beobachtungen der ostasiati - Fleissner beschrieb er z.B. den Mond - schen Maler zu einer Zeit, als in Europa lichtrezeptor von Clunio und mit dem nur Stillleben oder Fabeltiere gemalt wur- Physikochemiker Dietrich Woermann un- den. tersuchte er Verhalten und Gespinststruk- Die umfangreiche, mit seiner Frau tur der Wasserspinne Argyroneta aquatica. zusammengetragene Bildersammlung mit Dietrich Neumann war es vergönnt, den eigenen Interpretationen übergaben seine Interessen an Natur und Kunst beide 2012 dem Museum für Asiatische miteinander zu verknüpfen und dafür sein Kunst in Berlin und erstellten dazu einen ökologisches Wissen zu nutzen. Trotz reich bebilderten Katalog (Dietrich Neu- seiner Tumor erkrankung resignierte er mann und Josefina Ogando: Fasziniert von nicht und nutzte seine Zeit bis zuletzt. Er der Natur - Landschaften, Pflanzen und sprach nicht gern über persönliche Be - Tiere in der Tradition chinesischer und findlichkeiten und so sahen ihn die mei - japanischer Malerei aus der Sammlung sten Weggefährten bis zuletzt als aktiven Neumann-Ogando. Hrsg.: Museum für und erfolgreichen Forscher. So wird er Asiatische Kunst Berlin. Imhof-Verlag – uns in Erinnerung bleiben. Petersberg, 2012.) Auch nach seiner Emeritierung blieb Albrecht Fischer, Franz Bairlein und er wissenschaftlich aktiv. Er war sehr er- Tobias Kaiser danke ich für wertvolle An- freut, dass mit Tobias Kaiser ein junger regungen und Diskussionen zu diesem Kollege seine Clunio-Forschung mit mo - Nachruf. dernen Methoden fortsetzte und pub-

Dr. Armin Kureck Im Auel 13a 51491 Overath Email: [email protected]

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Nachruf auf Ludger Rensing 23. 10. 1932 – 11. 03. 2013

Rüdiger Hardeland

für sich einzunehmen wusste. Aus der gemeinsamen Arbeit und dem darin ent- standenen Vertrauen erwuchsen viele Freundschaften, die über Jahrzehnte Be- stand behielten. Die meisten seiner Schüler aus den 60er und 70er Jahren blieben mit ihm bis in das Jahr seines Todes hinein in Kontakt und begleiteten ihn mit ihrer Sympathie und Anteilnahme an seinem Schicksal. Mit der Chronobiologie, jenem Ar- beitsgebiet, welches über viele Jahre den Schwerpunkt seiner Forschung einneh - men sollte, kam er bereits im Rahmen seiner Dissertation in Kontakt. Nach sei - nem Eintritt in die Arbeitsgruppe von Georg Birukow beschäftigte er sich mit den circadianen Aktivitätsmustern und der Orientierung des Wasserläufers Velia currens. Diese in Freiburg begonnene Ar- Foto: privates Bildarchiv beit wurde nach der Berufung von Georg Birukow auf den Göttinger Lehrstuhl für Zoologie dort zu Ende geführt. Nach Am 11. März 2013 verstarb Professor seiner Promotion 1960 ging er für zwei Dr. Ludger Rensing nach längerer Krank - Jahre nach Princeton in das Labor von heit im Alter von 80 Jahren. Trotz seines Colin S. Pittendrigh, einem der führenden angegriffenen Gesundheitszustands war Zentren der Chronobiologie in jener Zeit. er bis kurz vor seinem Tod als Autor aktiv. Die dortige stimulierende Atmosphäre In unserer Erinnerung verbleibt er nicht prägte ihn in hohem Maße und wirkte nur als ein zeitlebens engagierter Wis- über diesen Aufenthalt hinaus. Mit einem senschaftler, sondern auch als eine Per- der dortigen Kollegen, Victor Bruce, pu - sönlichkeit, die durch ihre Freundlichkeit blizierte er noch gemeinsam nach seiner und Aufgeschlossenheit gegenüber Kolle- Rückkehr nach Göttingen. Drosophila gen wie auch Schülern viele Menschen wurde zunächst zu seinem wichtigsten

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Versuchsobjekt, an dem er das larvale des chronobiologischen Interesses stehen Hormonsystem studierte, später auch As- sollten. In den 60er und frühen 70er pekte der Genetik, des Stoffwechsels und Jahren, zu einer Zeit, als man von direkten der Zellbiologie circadianer Rhythmen. Messungen von mRNA-Konzentrationen Im Jahr 1966 habilitierte er sich für das noch nicht zu träumen gewagt hätte, Fach Zoologie. Die Ernennung zum apl. suchten Ludger Rensing und seine Mitar- Professor erfolgte 1971. beiter Wege, auf indirekte Weise Informa- Mit der Möglichkeit, nach der Habilita- tionen über circadiane Rhythmen der tion in Göttingen eine selbständige Ar- Genexpression zu erlangen. Untersucht beitsgruppe zu leiten, erweiterte sich das wurden das Puffing von Riesenchromo- experimentelle Spektrum des Labors. somen, Veränderungen in den Poly so - Biochemische und zellbiologische Tech- men größen, zeitliche Variationen hor- niken standen zunehmend im Vorder- monspezifischer Enzyminduktionen und grund und wurden für Arbeiten an Na - die circadiane de-novo-Synthese von En- gern und an Säugerzellkulturen einge - zymen unter Einsatz von Inhibitoren der setzt. Darüber hinaus führte Ludger Ren - Transkription, Polyadenylierung und sing persönlich und im Zusammenwirken Translation. Ein weiterer Schwerpunkt lag mit seinen Schülern Experimente an Spei- auf dem Studium von Rhythmen auf der cheldrüsenchromosomen von Drosophila zellulären Ebene bei Vielzellern. In durch. In Bezug auf seine Mitarbeiter be- diesen Arbeiten an isolierten Speichel- saß er das ausgeprägte Talent, deren drüsen von Drosophila-Larven, an pri - kreatives Potenzial zu stimulieren. Nie- mären Zellkulturen aus Säugern sowie an mand fühlte sich durch ihn eingeengt, transformierten Zelllinien wurde das sondern in erster Linie gefördert. Sein Stil Konzept gestützt, dass in Metazoen eine war es nicht, die Mitarbeiter ohne Not Vielzahl von Zellen zur Generierung cir- unter Druck zu setzen. Vielmehr forderte cadianer Rhythmen befähigt sind. Mit er sie durch eine nie ermüdende Bereit - dieser Überzeugung musste man hinge- schaft zur Diskussion, welche sich nicht gen für eine Weile gegen den Strom auf formale Arbeitsgruppenseminare be - schwimmen, weil sich nach der Entde - schränkte, sondern in zahllosen, nahezu ckung des Suprachiasmatischen Nucleus täglichen informellen Gesprächen statt - als circadianem Schrittmacher die Mei - fand, ob in einer Teepause oder im La- nung ausbreitete, alle physiologischen bor. Die Mitarbeiter waren aufgerufen, und zellbiologischen Rhythmen seien immer wieder eigene Ideen einzubrin- zentral ge steuert. Heute wissen wir je- gen und deren Überzeugungskraft zu doch, dass das von Ludger Rensing ver- ver teidigen. folgte Kon zept durchaus richtig war, In dem damaligen Göttinger Labor nachdem wir inzwischen eine Vielzahl entstanden eine Reihe von Arbeiten zur von peripheren Oszillatoren kennen, die circadianen Rhythmik, mit denen Fragen auf der Basis von Core-Oszillator-Genen in Angriff genommen wurden, welche operieren. Die Werkzeuge für eine derar- noch über Jahrzehnte hinweg im Zentrum tige direkte Beweisführung waren jedoch

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in damaliger Zeit nicht verfügbar. Nun- spora crassa, dessen frq-Mutanten für die mehr erscheinen uns jene frühen Arbei - Chronobiologen ähnlich aufregend waren ten der Rensing schen Gruppe als Pio- wie zuvor die per-Mutanten von Droso - niertaten, die für das Verständnis zellulär- phila. er Rhythmen bei Vielzellern durchaus Über die experimentellen Arbeiten wegweisend waren. hinaus war Ludger Rensing immer in be - In die Göttinger Zeit fallen auch son derem Maße an theoretischen Über - Ludger Rensings erstes Buch „Biologi - legungen interessiert und vermochte sich sche Rhythmen und Regulation“ (1973) für die Anwendung kybernetischer und sowie die erste Auflage des Anfänger- systemtheoretischer Kon zepte auf biolo- lehrbuchs „Allgemeine Biologie“ (1975), gische Systeme zu begeistern, insbeson- an dem er federführend beteiligt war. dere im Kontext sonst wenig verstandener Im Jahre 1976 folgte Ludger Rensing chronobiologischer Fragen, etwa hinsicht - einem Ruf auf eine Professur für Zellbiolo- lich synchronisierender Signale oder der gie an die Universität Bremen. Die neuen Temperaturkompensation. Eine Reihe von Bremer Leitlinien für die Lehre, insbeson- Publikationen im Journal of Theoretical dere das Projektstudium, erforderten von Bio logy, oft ge meinsam mit Peter Ruoff, ist Beginn an einen hohen Einsatz, der von Beleg für dieses Interesse. Auch organi - ihm jedoch gern und mit großem En- sierte er diverse Konferenzen, u.a. zum gagement aufgebracht wurde. In der Thema „Temporal Order“ (1984) und Forschung standen zunächst Experimente „Temporal Disorder“ (1986), zu denen an Drosophila sowie fluoreszenzbasierte Mathematiker und Physiker wesentlich Untersuchungen von Membranen im beitrugen. Im Jahr 1990 war er maßgeb - Fokus. Nach einem Forschungsaufenthalt lich an der Ausrichtung der Jahrestagung 1978/79 an der Harvard University im La- der Deutschen Gesellschaft für Zellbiolo- bor von J. Woodland Hastings trat ein gie in Bremen beteiligt. Zeitliche Pro zesse neues Versuchsobjekt ins Zentrum des In- der Musterbildung in biologischen, teresses, der Dinoflagellat Lingulodinium physikalischen und mathematischen Sys- polyedrum (zu jener Zeit unter dem äl- temen faszi nier ten ihn und wurden von teren Namen Gonyaulax polyedra be - ihm als einem sehr kunstsinnigen Men- kannt). Dieser Einzeller erlaubte ihm schen zu einer vielbeachteten Aus stellung nicht nur circadiane Rhythmen auf aus - über „Natur und Form“ im Bremer Über - schließ lich zellulärer Ebene zu studieren, see-Museum zusammengeführt. Diese sondern auch zur Rolle von Proteinsyn- äußerst erfolgreiche Ausstellung wurde these und -abbau in circadianen Oszilla- hernach nicht nur an fünfzehn weiteren toren beizutragen, einem damals hochak- Orten gezeigt, sondern fand ihren Nieder- tuellen Thema. Nach einem erneuten For - schlag ebenfalls in einem zusammen mit schungs aufenthalt 1982, im Labor von Andreas Deutsch herausgegebenen Buch Jerry F. Feldman an der University of Cali- mit dem Titel der Ausstellung sowie dem fornia at Santa Cruz, kam ein weiteres Untertitel „Schönheit und Gesetzmäßig - wichtiges Versuchsobjekt hinzu, Neuro - keiten rhythmischer Strukturen“.

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Ohne das Thema der Chronobiologie mein sam mit Michael H. Smolensky aus - zu verlassen, erstreckte sich das Interesse übte. Zur positiven Entwicklung dieser von Ludger Rensing in den Folgejahren Zeitschrift hat er wesentlich beigetragen. auch auf andere Bereiche, insbesondere Der Chronobiologie hat er auch hier nach jenen des Stresses. Ausgehend von sei - Kräften gedient. nen früheren Untersuchungen zur Induk- Die letzten Jahre seiner wissen schaft - tion von Hitzeschockproteinen bei Droso - lichen Arbeit waren von einem wach- phila ging er nunmehr auf breiterer Basis senden Interesse an Prozessen des Al- der Regulation von Stressproteinen bei terns und altersassoziierten Gesundheits - diversen Organismen nach, oft auch bei problemen gekennzeichnet. Dieses ergab Neurospora, aber ebenfalls bei Hefen, sich zwanglos aus der vormaligen Physarum, Cyanobakterien sowie Säu ger - Beschäftigung mit den Mechanismen und zelllinien. Nicht selten verband er die Stu- Folgen von Stress. An einem umfangrei - dien zum Zellstress mit Fragen der Wachs- chen gerontologischen Buch, seiner ins- tumskontrolle einschließlich deren circa- gesamt neunten Monographie, hat er mit dianer Komponente. weiteren Koautoren bis kurz vor seinem Das Thema Stress beschäftigte ihn Lebensende gearbeitet. Abgesehen von üb er seinen Eintritt in den Ruhestand wenigen technischen Details vermochte (1998) hinaus. Dies fand seinen Nieder- er noch seine eigenen Kapitel abzu schlie - schlag in dem Buch „Mensch im Stress“ ßen. Mit dem im Herbst zu erwar tenden (2006), gemeinsam mit drei weiteren Au- Erscheinen schenkt er uns ein letztes Ver- toren ver fasst, welches die verschieden- mächtnis seines Wirkens als Wissen - sten Seiten von Stress adressiert, von den schaftler. psychischen, neurobiologischen und neu- Unsere Erinnerung an Ludger Rensing roendokrinen Aspekten bis hin zu den di- umfasst nicht allein die an den zeitlebens versen Formen von Zellstress, ferner den aktiven Wissenschaftler, dessen Tod ein immunologischen und weiteren die Ge - Verlust für sein Fachgebiet darstellt, son- sundheit betreffenden Konsequenzen. dern ebenso die an eine vielseitig inter- Eine verdienstvolle Aufgabe, die essierte Persönlichkeit und einen kennt- Ludger Rensing bis weit in die Zeit des nisreichen Kunstliebhaber, nicht zuletzt offiziellen Ruhestands zusätzlich auf sich aber auch die an einen liebenswürdigen nahm, war die eines Editor-in-Chief der und offenherzigen Menschen. Die ihn Zeitschrift „Chronobiology International“ kannten und ihm freundschaftlich verbun- (1995-2005), eine Funktion, die er ge - den waren, vermissen ihn sehr.

Prof. Dr. Rüdiger Hardeland Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut für Zoologie und Anthropologie Universität Göttingen, Berliner Str. 28 37073 Göttingen Email: [email protected]

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„Die besondere Lebensnähe der diesem Bericht zugrunde liegenden Materialien … und die gelungene Balance des Berichterstatters zwischen Empathie und historischer Distanznahme bewirken es, dass dem doch eher traditionellen wissenschaftshistorischen Genre der Biographie hier ganz neue, überraschende Züge abgewonnen werden.“ (Aus dem Geleitwort von Hans-Jörg Rheinberger)

5HLQKDUG0RFHN Alfred Kühn (1885 bis 1968) (LQ)RUVFKHUOHEHQ

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$OIUHG.KQ ELV Basilisken-Presse %,2/2*,$²/HEHQXQG)RUVFKHQ Natur+Text GmbH 6HLWHQ[FP.ODSSHQEURVFKXU )ULHGHQVDOOHH‡5DQJVGRUI Basilisken-Presse 2012 7HO‡)D[ ,6%1 (0DLOYHUODJ#QDWXUXQGWH[WGH (XUR www.basilisken-presse.de

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„Mehr Genuß als ein ganzes zoologisches Museum gewährt die genaue Untersuchung eines einzigen Tieres!“ (Fritz an Hermann Müller, 1844)

Naturforschung Für Darwin Pesquisando a Natureza Para Darwin Natural Science For Darwin Fritz und Hermann Müller

Herausgegeben von K. Schmidt-Loske, C. Westerkamp, S. Schneckenburger und J. W. Wägele

Biologiehistorische Symposien Basilisken-Presse 2013

Die Brüder Fritz und Hermann Müller waren begeisterte Feldbiologen und unter- suchten lebende Organismen in ihren natürlichen Lebensräumen. Sie beobachteten HUVWDXQOLFKH$QSDVVXQJHQXQG:HFKVHOZLUNXQJHQ]ZLVFKHQ7LHUHQ3ÁDQ]HQXQGLKUHU Umwelt, die im Lichte der Evolutionstheorie Charles Darwins (1859) eine Aufsehen erregende Erklärung fanden. Die hier veröffentlichten Beiträge eines Symposiums in %RQQZUGLJHQîLQ)RUWIKUXQJHLQHUHUVWHQ7DJXQJLQ/LSSVWDGWîGDV Werk, die Rezeption und das Erbe der beiden Frühdarwinisten aus unterschiedlichen Perspektiven. Neben Fritz und Hermann werden auch die Arbeiten ihres Halbbruders Wilhelm Müller und ihres „Neffen“ Alfred Möller erstmals näher beleuchtet.

Fritz und Hermann Müller Basilisken-Presse Biologiehistorische Symposien Natur+Text GmbH 284 Seiten, 17 x 24 cm, Klappenbroschur )ULHGHQVDOOHH‡5DQJVGRUI Basilisken-Presse 2013 7HO‡)D[ ISBN 978-3-941365-35-3 E-Mail: [email protected] 34 Euro www.basilisken-presse.de

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