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Eileen Simonow Entgrenzen, Entfliehen, Entmachten Zur sakralen Dimension in US-amerikanischen Hip-Hop-Videos

März 2017, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3832-5

Forschung auf dem Gebiet »Hip-Hop und Religion« hat sich bisher meist auf religiöse Lesarten von Raptexten konzentriert und zudem Musikvideos bei dieser Betrachtung weitestgehend außer Acht gelassen. Eileen Simonow geht der These nach, dass reli- giöses Material in den Clips sakral und damit entgrenzend, in Bedeutungen über- schießend – und damit im eigentlichen Sinne anti-religiös inszeniert – ist. Dafür wer- den Musikvideos des US-amerikanischen Mainstreams in ihrer komplexen Ver- schränkung der auditiven und visuellen Ebenen mit der Sakraltheorie Georges Batail- les gelesen. In vier Analysen von Musikvideos – u.a. von Kanye West – wird das Sakra- le als aus dem Sozialen hervorgehende Kraft im Spannungsfeld von Macht, Ideologie und Widerstand diskutiert.

Eileen Simonow, Germanistin, Musikwissenschaftlerin sowie Medien- und Kulturwis- senschaftlerin, ist Mitarbeiterin am Institut für Lebenslanges Lernen der Folkwang Universität der Künste und unterrichtet an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Neben Musikvideos und Hip- Hop interessiert sie sich für frühe Popmusik- und Jazzgeschichte, aktuelle interkultu- relle Prozesse sowie Inszenierungspraktiken im zeitgenössischen Musiktheater.

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2017-01-31 14-47-57 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 01a2452237496652|(S. 1- 2) VOR3832.p 452237496660 Inhalt

Dank | 9

Einleitung | 11

Forschungsüberblick | 21

GEORGES BATAILLES THEORIE DES SAKRALEN UND IHRE BEZÜGE ZUR US-AMERIKANISCHEN HIP-HOP-KULTUR

Bataille und das Sakrale | 53

Batailles Religionskritik | 55 Acéphale – Geheimgesellschaften und Sakralität | 60 Das Sakrale im Kontext des Collège de Sociologie | 73

Unproduktive Verausgabung und verwandte Denkfiguren | 79

Unproduktive Verausgabung als Verschwendung | 79 Hip-Hop und Luxus | 84 Der Opfergedanke in der Erotik | 88 Hip-Hop, Körperlichkeit und Erotik | 92

Sakralität, Souveränität und Subversion | 99

Sakralität und Souveränität | 102 Die Instrumentalisierbarkeit des Sakralen | 108 Der souveräne Mensch und seine Bedingungen | 111 Kritikpunkte an Batailles Sakralsoziologie | 113

Eine Ästhetik des Sakralen? | 119

Michel Leiris’ Beitrag zu einem Sakralbegriff des Inszenierten | 121 Kunst und Poesie am Collège | 123 Poesie (und Rap) als ultimative Verausgabung | 126 Rap – Rhythmic American Poetry | 130

Hip-Hop-Musikvideos als hybride Medien | 135

Vergemeinschaftung in Tupacs TO LIVE AND DIE IN L.A. | 140 Produktionsökonomien | 144 Hybridität und Gemeinschaft | 148

Institutionen der (Hip-Hop-)Musikvideogeschichte | 153

Hip-Hop-Musikvideos in den 80er Jahren | 158 Hip-Hop-Musikvideos in den 90er Jahren | 165 Hip-Hop-Musikvideos 2000 und danach | 169

Hip-Hop-Musikvideos – Medien des Sakralen? | 177

Musikvideos in Batailles Kunstverständnis | 178 Musikvideo und Alltag | 181 Musik und Transzendenz | 191 Musikvideos in der Rezeptionssituation | 196 Überschussproduktion und Subversion in Hip-Hop-Musikvideos | 201

FALLSTUDIEN

BOOM BIDDY BYE BYE – Das Sakrale der Marginalität | 209

Strategien der Marginalisierung und ihr Durchbrechen | 212 Die Transformation des Religiösen | 215 Opfer(n) | 221 Ein musikalisches Opfer | 224

Von religiösen Stoffen zu sakralen Strategien in PUPPET MASTER | 233

Der Teufel als ausgeschlossene, sakrale Figur | 239 Mimikry als Prozessbeschreibung | 242 Eine fetischisierte Pietà | 244 Masken und Maskierungen | 248

MONSTER – Die Sakralität des Anderen | 255

„Are you willing to sacrifice your life?“ | 256 Schwarze Identität: Monster-Werden und Monster-Sein | 259 Verausgabung und Überschuss | 272 Destruktion und Transgression christlicher Ikonografie | 278

Sakralität, Macht und Souveränität in POWER | 285

Machtanspruch und Schwarze Identität | 287 Ästhetik der Überwältigung | 292 Sound und Gemeinschaft | 297 Souveränität oder Wille zur Macht? | 299

Schlussbemerkungen | 303

Literatur | 311

Einleitung Problemstellung, Begrifflichkeiten und Ziele

„Er ist einfach Gott geworden“1 titelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nach einem Konzert von Hip-Hop-Superstar Jay Z in der Metropole am Main ehr- furchtsvoll und vielleicht ein bisschen ergeben. „Der Rapper Jay-Z ist genial, schlau, teuflisch perfekt,“2 heißt es in dem Beitrag. Jay Z wird dort auch als unnahbar, kühl und überlegen charakterisiert und sein Auftritt als minutiös durchgeplante Show der Superlative beschrieben. Von jungen Menschen werde Jay Z „angehimmelt wie ein Heiliger,“3 so der Artikel, der diese Anziehungskraft damit erklärt, dass der Rapper eine „mystische Aura“ um sich aufgebaut habe und in letzter Konsequenz, wie der Titel sagt, „einfach Gott geworden“ sei. Beschrieben werden in dem Feuilletonbeitrag zunächst einmal das Phänomen des Hip-Hop-Moguls und -Megastars, seine Live-Inszenierungspraktiken und die Reak- tionen der Fans. Dabei ist ein Blick auf das gewählte Vokabular, das Jay Z und seinen Auftritt beschreibt, notwendig: Es offenbart sich eine scheinbar „religiöse“ Metapho- rik: eine mystische Aura, teuflisch, ein Heiliger oder sogar Gott selbst geworden zu sein, stilisiert Jay Z zu einem Ideal und positioniert ihn an der Spitze einer offenbar

1 Antonia Baum: „Er ist einfach Gott geworden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.06.2012 [Printausgabe vom 10.06.2012], http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/ rapper-jay-z-er-ist-einfach-gott-geworden-11779645.html vom 16.08.2016. Auch Kanye West bezeichnet sich in einem seiner jüngeren Songs als Gott, siehe seinen Track „I Am A God“. Zur Schreibweise Jay Zs: Der Künstler trug früher einen Bindestrich in seinem Na- men, heute erscheint er nur noch als Jay Z. 2 Ebd. 3 Ebd. 12 | ZUR SAKRALEN DIMENSION IN US-AMERIKANISCHEN HIP-HOP-VIDEOS immer noch gültigen (christlichen) Hierarchie. Die Produkte wie CDs, Musikvideos, aber auch die Werbung für diese sowie für Konzerte, arbeiten gehäuft mit Symbolen und Codes aus dem Bereich des „Religiösen.“ Meist, aber keinesfalls ausschließlich, wird auf den Zeichenvorrat des Christentums zurückgegriffen – Dornenkronen, die Rapper tragen, der Teufel (oder Gott), zu dem sie selbst werden, Engelsflügel, die sie zieren, diamantbesetzte Kreuzketten und Lichtinstallationen, die Heiligenscheine entstehen lassen – dies alles sind nur einige wenige Inszenierungsstrategien, die uns bei Live-Auftritten und in besonders dichter Weise auch in Musikvideos des Hip- Hop-Genres begegnen. Es gibt sich ein Netz aus synkretistischen, widersprüchlichen und in unterschiedlichen Graden „religiösen“ Codes, Symbolen, Zeichen und Gesten zu erkennen, dessen sich für die Musikvideos bedient wird. Die feuilletonistische Charakterisierung Jay Zs hat uns also in einem ersten Schritt auf ein komplexes Phä- nomen der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur aufmerksam gemacht, welches, so wird im Folgenden argumentiert, mit Begriff und Konzept des Sakralen näher be- schrieben und untersucht werden kann. Ferner macht der Artikel einen ganz wesentlichen Kontext für Jay Z und insge- samt für Schwarze in den USA auf, wenn die Autorin schreibt, „Kern seines Lebens- themas“ sei „der Versuch, als Schwarzer nach oben zu kommen, der große Kampf“. Die vorliegende Untersuchung verbindet die Inszenierungspraktiken des Hip-Hop- Superstars mit dem „Lebensthema“, mit dem Kampf um Anerkennung und Souverä- nität in der US-amerikanischen Gesellschaft ohne dieses als „Prämisse“ zu nehmen. Viel zu oft bekäme Black Music dieselben Etiketten, nämlich die der Widerständig- keit, der moralischen Integrität und der Authentizität unter den Bedingungen des an- haltenden Rassismus, so der Musikethnologe Ronald M. Radano.4 Diese immer glei- chen Geschichten seien es, die Black Music – und damit auch Hip-Hop – „Raum zum Atmen“ nehmen würden. Auf diesen Setzungen ruhe auch die Überzeugung eines Gros’ der Forschung auf, musikalische Ursprünge für jedwede von Schwarzen5 Künstler/-innen gemachte Musik direkt und eindeutig in Afrika zu suchen.6 Radano folgend wird in dieser Untersuchung kritisch mit der bisherigen For- schung auf dem Gebiet von Hip-Hop und Religion umgegangen, die all zu oft eben jene genealogische Verbindung zwischen heutiger Musikpraxis und einem ursprüng- lichen Afrika zieht und so oben beschriebene, heterogene Symbole und Zeichen, Zi- tate und Wörter in einen eindeutigen religiösen Rahmen stellt. Robin Sylvan hat diese

4 Vgl. Ronald Michael Radano: Lying up a Nation. Race and Black Music, Chicago 2003, S. xii. 5 Schwarz-Sein und Weiß-Sein werden in diesem Buch als Differenzkonstruktionen betrach- tet; mit dem Großschreiben von sowohl Schwarz als auch Weiß soll dieser sozialen Kon- struiertheit Rechnung getragen werden. 6 Vgl. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. xiii und S. 33-34. EINLEITUNG | 13

Zusammenhänge am klarsten formuliert und rekurriert bei ihren Feststellungen auf die Ergebnisse namhafter Forscher, wie die Musikwissenschaftler Samuel A. Floyd Jr und Portia Maultsby. Sie erklärt: „[…] in Africa music and religion are not separate at all but are intimately interconnected aspects of a larger spiritual universe that pro- vides the culture with its fundamental orientation.“7 Sie geht weiter davon aus, dass dieses Verwobensein von Musik und Religion sich in die Diaspora rettet und bis in die US-amerikanische Hip-Hop-Kultur der Gegenwart nachzuweisen ist. Die Afro- amerikaner, deren Vorfahren als Sklaven in die USA gebracht worden waren, hätten durch die Religion in ihrer Musikpraxis eine Verbindung nach Afrika aufrechterhal- ten, so Sylvan. Gleichzeitig betont sie aber auch, dass dieses Aufrechterhalten in „ra- dically changed forms“ geschehe, deren Erscheinen nicht mehr unmittelbar den ur- sprünglichen oder historisch rekonstruierten Praktiken in Afrika ähneln muss.8 Syl- van vertritt in ihrer Studie die These, dass verschiedene Jugendkulturen in lokaler Praxis immer noch eine „West African essence“9 in sich tragen und deutet sie als wichtiges religiöses Phänomen der Gegenwart.10 Sylvans Argumentation steht hier exemplarisch für eine Vielzahl an Arbeiten, die Hip-Hop-Kultur in den USA immer an ihre afrikanischen Wurzeln und religiösen Praktiken zurückbindet. Für regionale und lokale Jugendkulturen, wie Sylvan sie auch empirisch in ihrer Studie untersucht hat, mag dies sogar noch zutreffen. Für Musikvideos des US-amerikanischen Mainstreams jedoch, so argumentiert die hier

7 Robin Sylvan: Traces of the Spirit. The Religious Dimensions of Popular Music, New York 2002, S. 16. 8 R. Sylvan: Traces, S. 16. 9 Ebd., S. 17. Spiritualität, Religiosität und Sakralität sind für viele Forschungsarbeiten Grundlage, neukontextualisierte Fragmente verschiedener Religionen und Weltanschauun- gen im Hip-Hop-Diskurs zu beschreiben und nach ihrem Wert für Gesellschaft und Indivi- duum zu befragen. Dabei steht eine entweder meist nur veränderte Form von religiöser Praxis oder eine Abkehr von tradierter Religion und selten das Verneinen Gottes im Vor- dergrund, wenn Raptexte und -songs analysiert werden (siehe nachfolgendes Kapitel). Zi- tate von Bibelversen, religiöse Bildsprache in Musikvideos oder Samples von Gospel- und Soulmusik werden isoliert, fixiert und als Spuren von Religion gelesen, während die Kon- texte und die vielen weiteren vorhandenen Symbole und Codes und die Art und Weise der Inszenierung vernachlässigt werden. Stattdessen werden die Umgebungen dieser vermeint- lich auf Religion oder gar Religiösität (der Interpet/-innen) hindeutenden Symbole häufig als Widerspruch wahrgenommen, und weiter als eine lebendige Auseinandersetzung mit dem einen Fluchtpunkt, nämlich Gott, gefällig interpretiert. Musikvideos werden so impli- zit zum Ausdruck eines bestimmten religiösen Glaubens, der sich eines wissenschaftlichen Umgangs zu entziehen droht. 10 Vgl. ebd., S. 219. 14 | ZUR SAKRALEN DIMENSION IN US-AMERIKANISCHEN HIP-HOP-VIDEOS vorliegende Arbeit, trägt das Konzept der ererbten afrikanischen, religiösen Wurzeln nicht mehr. Eingebettet in globale kapitalistische Ökonomien und damit verbundene Produktionsbedingungen und -zwänge und als interkulturelle Phänomene verstanden, binden die in dieser Arbeit untersuchten Musikvideos zwar „religiöses“ Material auf visueller (und auditiver) Ebene ein, verwenden dabei jedoch Inszenierungsstrategien, die nicht mehr als religiös, sondern als sakral zu beschreiben sind.

Sakrale Inszenierungsstrategien

Dieses Buch möchte entfalten, dass der immer wieder als „religiös“ oder in einem „religiösen“ Kontext stehend beschriebene Zeichenvorrat von Hip-Hop-Artefakten mit der Sakralsoziologie und -ästhetik Georges Batailles zu beschreiben und zu er- klären ist. Rückbezüge auf Praktiken der „Black religion“, genauso wie Analysen mithilfe der üblichen Tropen des Signifyin(g)11, sind kulturimmanent, das heißt, dass die Analysemethoden aus der Analyse von Untersuchungsgegenständen der Schwar- zen Kultur stammen und in diese Analysen wieder hineingegeben werden – meist mit dem Ziel, die „Blackness“ dieser Gegenstände zu beweisen. Diese von Radano kriti- sierten Fallstricke12 sucht die Arbeit mit dem Sakralen als einer kulturübergreifenden Kraft zu umgehen. In der Arbeit wird umgekehrt keinesfalls argumentiert, dass Wort- spiele (dies ließe sich für auditive und visuelle Strategien der Musikvideos ebenso behaupten) in der Tradition des Signifyin(g) nicht mehr zu konstatieren seien und damit zum Beispiel das Aufgreifen von Material, um es neu zu kontextualisieren, es zu verdrehen, in seiner Bedeutung zu verändern, es indirekt und direkt zu kritisieren und damit Deutungshoheit über es zu erlangen, nicht mehr gegeben sei. Ihre ver- meintlich implizite „Blackness“ jedoch, genauso wie die in dieser Studie besonders relevante und in Verbindung mit Argumentationen des Widerstandes und der Sub-

11 Das Signifyin(g) wird hier in Anlehnung an Henry Louis Gates, Jr. und Samuel A. Floyd verstanden als ein Oberbegriff für eine Vielzahl an Praktiken des verbalen, hier auch auf die visuelle Ebene übertragenen, ironischen und satirischen, humorvollen, immer indirek- ten Umgangs mit sprachlichem (hier eben auch visuellem) Material: „To ‚signify‘ is to repeat, revise, reverse, or transform what has come before, continually raising the stakes in a kind of expressive poker [...]“ Gena Dagel Caponi: „Introduction“, in: Dies. (Hg.): Sig- nifyin(g), Sanctifyin', & Slam Dunking: A Reader in African American Expressive Culture, Massachusetts 1999, S. 1-41, hier S. 22. Radano leistet eine grundlegende Kritik am Sig- nifyin(g)-Begriff, die in den einzelnen Analysen und im Forschungsüberblick thematisiert wird. 12 Siehe dazu die ausführliche Argumentation im Forschungsüberblick. EINLEITUNG | 15 version oft vorkommende Frage eines „Schwarzen“ Religionsausdrucks in den Arte- fakten, wird abgelehnt. Stattdessen wird das Sakrale als kulturübergreifende Größe angesetzt und gezeigt, dass es in den Musikvideos als musikindustriellen Marke- tinginstrumenten Impulse setzt, die eine hohe Faszinations- und Bindungskraft ha- ben, die sowohl individuell und auf die Künstler/-inneninszenierung bezogen macht- verstärkend sein können als auch durch Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit binäre Zuweisungen von Macht und Ohnmacht sowie Schwarz und Weiß umgehen. Die Ar- beit legt den Blick auf Figuren, Zeichenvorräte, auditive und visuelle Codes frei, die mit dem Verweis auf den Kanon der Schwarzen Kulturpraktiken nicht ausreichend erklärt sind und zeigt, dass das Sakrale in Symbolen, Motiven und Strukturen bis in die medienspezifische Beschaffenheit der Musikvideos des US-amerikanischen Hip- Hops hinein eine Rolle spielt. Die perfekt inszenierten und produzierten Songs und Videos verfolgen als ein Ziel, Stars zu überhöhen, sie mit einer Strahlkraft auszustatten, die ihre Fans an sie bindet, sie ihre Produkte kaufen und Konzerte besuchen lässt. Die Sakralität in Ver- bindung mit den Rappern, die mystische Aura und letztlich sogar die „Gottwerdung“ der Superstars, funktionieren nur unzureichend innerhalb eines religiösen Rezepti- onsrahmens – sei es in affirmierender Weise als Zeichen von Religiosität oder in ablehnender Haltung, die sich bisweilen in Vorwürfen von Blasphemie (und im Bei- spiel des F.A.Z.-Artikels in dem Adjektiv „teuflisch“ findet) ausdrückt. Hier wird argumentiert, dass sie stattdessen mit einer Sakralsoziologie und -ästhetik zu lesen sind, wie sie Georges Bataille zeitlebens intensiv beschäftigt hat. „Er ist einfach Gott geworden“ ließe sich mit Batailles Forschung und bewusst zugespitzt als „Er ist ein- fach zum Führer geworden“ formulieren. Wenn Bataille über die Bindungskraft zwi- schen militärisch-religiösen Führern und ihren Untertanen nachdenkt, kommt er zu einer der oben zitierten Konzertretrospektive sehr ähnlichen Beschreibung: „Der Führer ist Emanation eines Prinzips, das nichts anderes ist, als die ruhmreiche Exis- tenz des Vaterlandes zum Wert einer göttlichen Kraft erhoben.“13 Für Jay Z – der Beschreibung durch das Feuilleton folgend – ließe sich behaupten, er sei nichts an- deres, als hervorgegangen aus der Hip-Hop-Gemeinschaft, die ursprünglich Aus- druck einer Widerstandsbewegung im Kampf der Hautfarben war. Jay Z als Heiliger, als Gott und als Führer wäre demnach Ausdruck der „göttlichen Kraft“ seiner Anhä- ngerschaft. Das Prinzip, von dem Bataille spricht, funktioniert eben auch umgekehrt: In den sakralen Inszenierungen Jay Zs feiert sich auch die Hip-Hop-Gemeinschaft. In ihm heiligen sich auch die Fans. Diese Gemeinde ist, wenn wir für einen Moment

13 Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität hg. v. Eli- sabeth Lenk, München 1978 [Originaltitel: „La structure psychologique du fascisme“, zu- erst erschienen in: La Critique sociale Nr. 10-11, November 1933/März 1934], S. 34. Im Folgenden zitiert als: Bataille: Faschismus. 16 | ZUR SAKRALEN DIMENSION IN US-AMERIKANISCHEN HIP-HOP-VIDEOS an das Konzert in Frankfurt am Main denken, keinesfalls eine, die sich ausschließlich aus Schwarzen US-Amerikanern zusammensetzt. Das lässt für die Tragweite des Stars Jay Z – um in diesem Beispiel zu bleiben – und seiner sakralen Elemente ver- muten, dass diese interkulturell wirksam sind. Es handelt sich um Mechanismen, die an den Kern des Sozialen gebunden sind – gewissermaßen ist das Sakrale ja das So- ziale in einer bestimmten Form – zunächst relativ unabhängig von spezifischen Ge- sellschaftsstrukturen. Dennoch ist es notwendig, Mainstream-Hip-Hop aus den USA in einer wissen- schaftlichen Arbeit im Kontext der US-amerikanischen Gesellschaftsstruktur zu denken. Der Graben, die sogenannte „color line“ zwischen den Hautfarben ist ge- sellschaftlich viel zu präsent und prägend, die soziale Konstruktion von Schwarz (und Weiß) konstituiert vielleicht sogar die US-amerikanische Gesellschaft als solche, als dass es wenig sinnvoll oder vielleicht unmöglich erscheint, Hip-Hop nicht in den Kontext eines race-Diskurses zu stellen. Vielmehr soll Hip-Hop-Musikvideos hier die Möglichkeit eröffnet werden, eine Vielzahl von Bedeutungen für ein interkultu- relles Publikum tragen zu können. Dazu muss Radano folgend die zu einfache Logik von Schwarz und Weiß aufgebrochen werden mit dem Ziel „to propose a story wit- hout succumbing to the racial fixities and transcendental concepts that more conven- tional renderings suggest.“14 Mit der Sakralsoziologie ist es möglich, das Sakrale als eine Kraft eingesetzt für die Souveränitätsbewegung der Schwarzen, wie sie sich in einzelnen Elementen im Hip-Hop des Mainstreams auch gegenwärtig ausdrückt, zu lesen. Genauso und in denselben Analysen wird deutlich, dass das Sakrale jedoch weder Schwarz noch Weiß ist und sicher nicht christlich, sondern Gemeinschaften oder Momente von Ge- meinschaften ermöglicht, die transkulturell sind und die neuere Musikvideos immer stärker inszenieren. Jay Z und andere Größen des Hip-Hops in den USA haben im Laufe ihrer Karriere immer wieder auf den Nexus von Gewalt, Religion und Erotik, wie Bataille ihn als den Wirkungsbereich des Sakralen beschreibt, zurückgegriffen, um sich aus einer gesellschaftlich unterlegenen Position heraus als mächtig zu etab- lieren.15 Die Geschichte des Hip-Hop-Musikvideos wird demnach als eine Ge- schichte gelesen, die von dem Kampf gegen Weiße Überlegenheit, hegemoniale

14 R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 4. 15 Bataille schreibt an dieser Stelle freilich besonders deutlich vor einem politisch motivierten Hintergrund. In dieser Arbeit werden Hip-Hop und besonders seine Wurzeln durchaus auch als politische Bewegung betrachtet. Es sei an dieser Stelle aber betont, dass die Analogie zu Batailles Führerbeschreibung nicht so weit geht, Hip-Hop-Stars mit faschistischen Füh- rern oder auch nur mit führenden Köpfen der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre gleich- zusetzen. Vielmehr fungiert das Sakrale in seiner affektiven Dimension hier als Charisma, das sowohl Superstars als auch politisch-ideologische Führer zu haben scheinen. EINLEITUNG | 17

Machtstrukturen und für eine Sichtbarkeit in der US-amerikanischen Medienland- schaft sowie einer internationalen und interkulturellen Gemeinschaft erzählt. Die Mitglieder des Collège de Sociologie, dessen Gründungsmitglied Bataille war, vertraten die Auffassung, dass sich moderne Gesellschaften im „Zustand des ‚Post-Sakralen‘ oder der gefährlichen Metamorphosen des Sakralen“ befänden. Fer- ner seien sie „aufgrund ihrer geringen sozialen Kohäsion, ihres atomistischen und anomischen Zustands, der zu Unsicherheit führenden beschleunigten Transformati- onsprozesse sowie der zunehmenden Individualisierung besonders anfällig für fa- schistische Propaganda und deren Massenerregungen“16, fassen Albers und Moebius die Annahmen und Standpunkte des Zirkels um Bataille zusammen. Vor dem Hin- tergrund dieser noch immer treffenden Zeitdiagnose wird das Erscheinen des Sakra- len in den Musikvideos des Mainstream-Hip-Hops aus den USA spannend. Nicht nur ist die Tatsache bemerkenswert, dass sich das vor mehr als 70 Jahren beschriebene Sakrale erstaunlich vielfältig in den Musikvideos zeigt, sondern auch die weiterge- hende Frage, wieso das Sakrale in den Musikvideos so prominent ist. Steht es für den post-sakralen Zustand der modernen (westlichen) Gesellschaften, wie ihn Albers und Moebius hier für die These des Collège de Sociologie bekräftigen? Oder sprechen die Musikvideos von dem nie verloren gegangenen Bedürfnis nach dem Sakralen und werden lesbar als Orte, in denen sich ein solches Sakrales momenthaft ausdrückt und unser Bedürfnis nach diesem zumindest ansatzweise bedient? Und in vielleicht letzter Konsequenz: Wirkt das Sakrale in seiner Ambivalenz und Flüchtigkeit gegen eine ideologische und kapitalistische Vereinnahmung der Musikvideos und damit auch gegen die binäre Logik der „color line“? Leisten sakrale Inszenierungsstrategien eine Befreiung aus der Schwarz-Weiß-Dichotomie?

Aufbau der Untersuchung

Um umrissene Fragestellung zu diskutieren und die These zu entfalten, stellt das an- schließende Kapitel einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die Studien im

16 Irene Albers und Stephan Moebius: „Nachwort“, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie 1937-1939. Texte von Georges Bataille, Roger Caillois, Georges Duthuit, René M. Guastalla, Pierre Klossowski, Alexandre Kojève, Michel Leiris, Anatole Lewitzky, Hans Meyer, Jean Paulhan, Denis de Rougement, Jean Wahl und anderen, Berlin 2012, S. 757-828, hier S. 759. Dieser wertvolle Band vereint die in der Zeit des Collège entstande- nen Texte und Vorträge seiner Mitglieder in deutscher Übersetzung sowie Briefe und Mar- ginalien. Darüber hinaus stellt das umfangreiche Nachwort von Albers und Moebius eine der Säulen dieser Arbeit dar. [Denis Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie 1937-1939, zuerst erschienen Paris 1979.] 18 | ZUR SAKRALEN DIMENSION IN US-AMERIKANISCHEN HIP-HOP-VIDEOS

Bereich von Religion und Hip-Hop vor. Das Kapitel diskutiert die Arbeiten entlang ihrer Versuche, Religion, Religiosität, Spiritualität und verwandte Konzepte für Hip- Hop-Kulturforschung nutzbar zu machen und deckt Fallstricke in ihren Ansätzen auf, um dagegen die These der Arbeit, religiöses Material in Musikvideos sei schlüssiger als Inszenierung eines Sakralen zu verstehen, abzugrenzen. Im anschließenden Theorieteil wird zunächst Georges Batailles Sakralsoziologie in seinen relevanten Schriften und der einschlägigen Literatur nachgegangen, um ei- nen Begriff des Sakralen zu entwickeln, der in seiner gesellschaftlichen Funktion und mehr noch in seiner ästhetischen Dimension für die Analyse der Musikvideos frucht- bar gemacht wird. Die im eher theoretischen Teil enthaltenen Kapitel beschäftigen sich mit Batailles für diese Arbeit zentralen Denkfiguren und Funktionen des Sakra- len, wie der „Unproduktiven Verausgabung“, dem Opfer und der Erotik sowie Fragen der Souveränität und speziell der Möglichkeiten in der Kunst, diese auszudrücken oder zu erfahren. Bei allen Überlegungen zur Begriffsbestimmung werden bereits Bezüge zur Hip-Hop-Kultur hergestellt. Im Kapitel „Hip-Hop-Musikvideos als hyb- ride Medien“ situiert die Arbeit Hip-Hop-Musikvideos in ihren Produktionskontex- ten an und geht kursorisch auf ihre historische Entwicklung ein. Im Kern der Ausei- nandersetzung mit den realhistorischen Produktionsbedingungen steht die These, dass sich Musikvideos als hybride Gebilde implizit und explizit immer mit Identitäts- konfiguration der Schwarzen Bevölkerung in den USA auseinandersetzen. Dabei werden zeitgenössische US-amerikanische Hip-Hop-Videos freilich nicht wie die ersten Dokumente der Bürgerrechtsbewegung gelesen, sondern als Diskursobjekte verstanden, die Fragen der Souveränität, der Hegemonialität und Hybridität aufwer- fen. In diesen Kontext der Identitätsstiftung und -konstruktion über und mit Stereo- typen in der Hip-Hop-Kultur sowie der realen Distributionsumgebungen von Mu- sikvideos wird das Sakrale gestellt und auf sein Potenzial in den Funktionskontexten der Starpersona und der Stiftung der Fangemeinde im Sinne einer frei wählbaren Ge- meinschaft hin befragt. Das letzte, den einzelnen Analysen vorangestellte größere Kapitel „Hip-Hop-Mu- sikvideos als Medien des Sakralen“ erörtert, wie die Clips in ihrer medienspezifi- schen Art und Weise dazu geeignet sind, ästhetische Strategien des Sakralen umzu- setzen und wie in ihnen durch die Zeichen- und Affektdichte für den Rezipienten sakrale Momente entstehen können. Diese ästhetischen Strategien lassen sich auf den Nenner der momenthaften „Alltagsfluchten“ bringen, begreifen also das Sakrale als Wahrnehmungsmodus, der anders funktioniert als der des Alltags, in dem andere Re- gelmäßigkeiten und Muster vorherrschen, als in einem sakralen Seinsmodus des Überschusses. Das Kapitel geht der Frage nach, inwieweit Parameter des Musizierens (und gleichsam des Musikhörens) Momente besonders intensiver Emotionalität, be- sonderer Erregung im Sinne der sakralen Efferveszenz hervorbringen. Das Potenzial von Musik, uns dem (Arbeits-)Alltag zu entreißen und in die Sphäre des Sakralen zu EINLEITUNG | 19

überführen, wird besonders diskutiert, kommt doch Musik in ihrer historischen Be- trachtung schon immer die Rolle der „transzendentesten“ der Künste zu. In diesem Kapitel wird untersucht, inwiefern Transzendenzbezüge mit dem Sakralen überein- stimmen. Ferner wird die Gemeinschaft stiftende Funktion der Musikvideorezeption ergründet und werden die Clips in Verbindung mit dem vorhergehenden Kapitel als „soziale Medien“ für die Vergemeinschaftung im Sinne der sozialen und politischen Agenda von Hip-Hop gelesen. Im Buchteil „Fallstudien“ werden die vier Musikvideos in ihrer chronologischen Erscheinungsreihenfolge analysiert. Den Anfang macht das Musikvideo BOOM BIDDY BYE BYE von und den Fugees, das 1996 erschien. In ihm er- scheint religiöses Material auf Bild- und Textebene sakral inszeniert und aus der Mar- ginalität heraus wirksam. Ferner wird Batailles Mechanismus des Opferns als Prozess des Sakralisierens erkennbar. In PUPPET MASTER (1997) aus der Zusammenarbeit von Dr. Dre, B-Real und DJ Muggs (beide von Cypress Hill) erscheinen religiöse Ver- satzstücke mimikryartig und unauflöslich widersprüchlich inszeniert. In den ver- schiedenartigen Maskierungen und den grotesken Inszenierungen zeigt sich das Spiel mit dem Anderen und dem Fremden und bricht das Sakrale ein um letztlich den „American Dream“ zu verabschieden. Fallstudie Drei ist das Musikvideo MONSTER (2010) von Kanye West mit Jay Z, Nicki Minaj und Rick Ross, in dem sakrale Insze- nierungen von Gewalt und Erotik Andersartigkeit und Überlegenheit artikulieren. Die letzte Fallstudie kontrastiert zwei Fassungen eines Videos im Hinblick auf Insze- nierungen des Sakralen in Erotik und Exzess sowie der Machtfrage, wie sie schon im Titel von Song und Video aufgeworfen wird: POWER von Kanye West aus dem Jahr 2010 liegt in zwei Versionen vor; eine Fassung ist vonVideoregisseur Marco Bram- billa in seinem Portfolio auf seiner Website zur Verfügung gestellt, während die an- dere Version, im Internet häufiger und vor allem auf Wests YouTube-Kanal zu sehen ist. Letztlich stellt die Arbeit mit dieser letzten Analyse die Frage, inwieweit Mu- sikvideos sich verausgaben können und Souveränität, wie Bataille sie gedacht hat, möglich ist. Das Fazit greift die Befunde der Analysen auf und diskutiert ihre Impli- kationen für Überlegungen zur Einordnung in gegenwärtige soziale und mediale Sak- ralisierungsprozesse als Phänomene der Ausdifferenzierung, der Ambivalenz und auch der reartikulierten Hegemonialität.