Sport ACTIONPLUS / ACTION PRESS / ACTION ACTIONPLUS Weltmeisterschaft in Frimley Green, Titelverteidiger van Barneveld: „Eine Menge Kerle können gut Pfeile werfen, aber wenn sie im

DARTS Torpedos in der Smoghölle -Profis dürfen trainingsfaul sein, Übergewicht haben und 20 Flaschen Bier am Tag trinken – Hauptsache, sie haben eine ruhige Hand und ein lockeres Gelenk. Dann können sie es zum Millionär bringen, zum Nationalhelden und von der Queen hoch dekoriert werden.

lle Augen sind auf den Meister Der Meister heißt Mervyn King, er ist 39 In England ist Darts eben mehr als nur gerichtet. Keiner sagt etwas, und Jahre alt, Engländer und befindet sich auf ein Kneipensport. Es ist Volkssport. Er- Akeiner rutscht auf dem Stuhl her- Rang eins der Setzliste. Sein Gegner ist funden im Mittelalter von ein paar gelang- um, in diesem Moment im Lakeside Coun- klein und dick und schwitzt. Er steht ein- weilten Bogenschützen, die zum Zeitver- try Club in Frimley Green, einem Nest vor sam auf der Bühne und nagt an der Unter- treib ihre Pfeile kürzten und auf Baum- den Toren . Das Mädchen mit den lippe, als erwartete er seinen Henker. Er stammscheiben schleuderten. nackten, blassen Teenie-Schultern, das weiß, dass er verloren hat. King fehlen nur Heute frönen dem Vergnügen 7 Millio- vorn links in der dritten Reihe sitzt, hat noch acht Punkte zum Sieg. nen Briten in 50000 Clubs. Und beim letzten seine Hand auf dem Schenkel seines Be- Eine leichte Übung für ihn, denn er be- WM-Finale in Frimley Green fieberten bis gleiters vergessen. Der Begleiter hat das sitzt die perfekte Wurftechnik. Schlechte zu 10 Millionen Engländer vorm Fernseher Mädchen vergessen und nuckelt an einer Darter werfen mit dem ganzen Arm, beu- mit. Das schafft üblicherweise nicht mal die Kippe, die schon lange nicht mehr brennt. gen die Knie und strecken den Oberkörper, Formel 1 oder Tennis in Wimbledon. Darum Ein Junge mit rasiertem Schädel schnappt um den Pfeil aufs Brett zu befördern. King sind die besten Darts-Spieler auf der Insel aus zahnlückigem Mund nach Luft. Auf aber steht ganz ruhig vor der Scheibe. Er fi- auch richtige Stars, die üppige Gagen kas- den Tischen fällt der Schaum in den Bier- xiert den Oberarm. Der Schwung kommt sieren. Andy „The Viking“ Fordham, Ted gläsern zusammen. Die Zeit steht still, nur aus dem Ellenbogen und dem Handge- „The Count“ Hankey und Phil „The Power“ die Welt ist eine Scheibe und hat einen lenk. Die Finger folgen dem Pfeil und geben Taylor genießen in England einen Bekannt- Namen: Darts. dem Wurf so den letzten Schliff. Wer nicht heitsgrad wie die Fußballer David Beckham, Der Meister spielt wie im Rausch, dabei locker ausschwingt, verreißt. Kings Pfeil Wayne Rooney und Rio Ferdinand. sieht er an diesem Samstag aus wie ein eis- trifft wie von einem Laser gesteuert ins Ziel. Briten lieben Darts, weil es das „Nach- kalter Zocker. Die Augen sind dunkle Stri- Die Spannung im Saal entlädt sich ex- glühen ihres Weltreichs“ symbolisiert, meint che, und das Gesicht verrät weder Freude plosionsartig. Was bei den meisten Konti- der Autor Martin Amis. Darts hat außerdem noch Verzweiflung. Es ist sein Auftakt- nental-Europäern bestenfalls ein Achsel- simple Regeln und sieht einfach aus. match beim prestigeträchtigsten Darts-Tur- zucken hervorgerufen hätte, führt hier zur Geworfen wird aus 2,37 Meter Entfer- nier der Welt: den World Professional kollektiven Ekstase. 1200 Menschen sprin- nung, und die Mitte der Scheibe, die aus 16 Darts Championships. Dotiert mit 275000 gen auf, und zur Melodie von „Guantana- Millionen gepressten Sisalfasern besteht, Pfund, der BBC eine Live-Berichterstat- mera“ grölen sie: „There’s only one Mer- hängt 1,73 Meter hoch. Das Brett ist in tung wert und übertragen in 54 Länder mit vyn King! One Mervyn Kiiii-ing! There’s schwarze und weiße Segmente von 1 bis 20 19 Sprachen. only one Mervyn Kiiiii-ing!“ unterteilt. Schmale Drahtringe am Rand

94 der spiegel 3/2006 rels, geformt wie ein Zylinder, ein Torpedo oder ein Fass. Hinzu kommen die Flights. Der Flight, das Ende des Darts, stabilisiert die Flugbahn. Er ist aus Nylon, Federn oder Seide. Ein guter Pfeil bleibt nach ge- radem Flug fest und rechtwinkling stecken. Schräge Einstiche sind verdächtig: Hängt der Pfeil, ist er zu schwer; zeigt der Flight zu sehr nach oben, ist er zu leicht. Bei der Weltmeisterschaft in Frimley Green, die von der British Darts Organi- sation veranstaltet wird, starten 32 Spieler aus 7 Nationen. , Titelträger 2004, sitzt im Lakeside Country Club hinter der Büh- ne an der Bar. In seiner rechten Hand ruht eine Flasche Holsten. Es ist nicht das erste Bier, das ihm der Wirt an diesem Nach- mittag zugeschoben hat. Die Uhr zeigt kurz vor drei, und Fordham rudert am Rand einer Narkose. Eine halbe Stunde hat er noch, um sei- ne Nerven zu betäuben. „Eine Menge Ker-

SEAN DEMPSEY / EMPICS le können ganz ordentlich Pfeile werfen, Scheinwerferlicht stehen, dann zittern sie, als hätten sie Parkinson“ aber wenn sie im Scheinwerferlicht ste- hen“, sagt er und zeigt zur Tür und dem und innerhalb des Boards bilden Bonusfel- Golf: Selbst die besten Spieler bringen nur Saal dahinter, „wenn sie da stehen, dann der, die kleiner sind als der Papierstreifen in selten dieses Kunststück fertig. Deshalb zittern sie, als hätten sie Parkinson.“ einem Glückskeks: Der äußere Abschnitt wird es in Frimley Green mit einem Extra- Die Spieler benötigen aber die ruhige zählt zweifach, der andere dreifach. Nach Scheck über 51000 Pfund honoriert. Hand eines Chirurgen. Deshalb trinken sie jeweils drei Würfen ist der Kontrahent dran. Darts gerät zum Ende eines Durchgangs vorm Match. „Den Wurfarm lockern“, sa- Gewonnen hat, wer zuerst von 501 Punkten zur komplizierten Rechenaufgabe. Der gen sie dazu. Man sollte nie von einem auf null Punkte kommt. Der einzige Haken: Spieler muss innerhalb von Sekunden wis- Darter verlangen, auf sein kühles Blondes Der letzte Pfeil muss immer im Doppel- sen, wo er treffen muss, ob er die Drei- zu verzichten. Das wäre so, erklärte die ring, also in einem äußeren Bonusfeld, lan- fach-17 oder die Zweifach-9 anzupeilen britische Darts-Legende Cliff Lazarenko in den oder im Zentrum, dem Bull’s Eye. hat, und landet ein Pfeil auch nur einen den Siebzigern, „als würde man von Mark Der schnellste Weg zum Erfolg ist ein Millimeter daneben, dann ist der Lösungs- Spitz verlangen, in 50 Zentimeter tiefem 9-Pfeile-Finish. Zum Beispiel 7-mal die weg sofort ein ganz anderer. Wasser Weltrekord zu schwimmen.“ Es Dreifach-20, eine Dreifach-15 und eine Und darum braucht der Spieler nicht geht einfach nicht. Zweifach-18 für 501 Punkte. Ein 9-Darter ist nur einen präzisen Verstand, sondern auch Fordham, 43, ist der Liebling der Fans. so etwas Ähnliches wie ein 147er-Break präzises Material. Die Könner bevorzugen Ein 170-Kilo-Koloss aus Kent, in dessen beim Snooker oder ein Hole-in-one beim einen Pfeil mit weicher Stahlspitze und Fingern die Pfeile aussehen wie Zahnsto- Sechs-Millimeter-Gewinde. Hauptgewicht cher. Er trägt eine Mantafahrer-Frisur und und Griff zugleich ist der Barrel, der aus hat Unterarme wie Popeye. Er ist seit zehn 5 20 1 Messing oder Chrom bestehen kann. Die Jahren Profi, davor war er arbeitslos, in- Profis aber wählen Wolfram. Das Metall zwischen hat er ausgesorgt. 12 18 verfügt über ein sehr hohes spezifisches Mister Fordham, wie oft trainieren Sie? Gewicht und ermöglicht schlanke „Ich trainiere nicht.“ 9 4 Darts, die auf der Scheibe wenig Was machen Sie die ganze Zeit? Platz wegnehmen. „Ich trinke.“ 13 Darts ist eine Frage der Ballis- Nach eigenem Bekunden 20 Flaschen 14 tik. Es gibt gerillte und glatte Bar- Pils am Tag. Vor einer Weile hat er gefor-

11 6 Die Welt ist eine Scheibe Zwei Spieler werfen abwechselnd 10 jeweils drei Pfeile. Bei Turnieren wird 8 dabei meistens von 501 Punkten rückwärts gezählt. Wer zuerst auf Null 16 15 kommt, hat das Spiel gewonnen. 7 2 Punktzahl für das jeweilige Segment 19 3 17 Double Ring: doppelte Punktzahl Treble Ring: dreifache Punktzahl

Bull's Eye: 50 Punkte / PIXATHLON IMAGES / ACTION MILLS LEE Bull: 25 Punkte Darts-Profi Fordham „Ich trainiere nicht“

der spiegel 3/2006 95 dert, John „Boy“ Walton, der Nummer Konter auf eine Taktik. Man kann nur be- sechs der Weltrangliste, das Darten zu ver- ten, dass der Rivale Fehler macht. bieten, weil der vor den Matches immer Oder ihm das Schlimmste passiert: Dass trocken bleibt. Andererseits hat Fordham er die Hand hebt zum Wurf und plötzlich mal seinen Gegner vor einem unfähig ist, seinen Pfeil mit der notwendi- Spiel derart abgefüllt, dass dessen Pfeile gen Selbstverständlichkeit abzufeuern. überallhin flogen, nur nicht aufs Brett. „Dartitis“ nennen Spieler das Phänomen Das Publikum passt sich den Usancen renitenter Finger. seiner Idole an. Während des neuntägigen Der Holländer Albertino Essers hat dar- Turniers werden etwa 52 800 Glas Bier an gelitten. Es begann bei der WM 2003. vertilgt. Weil außerdem fast jeder raucht, „Von einer Sekunde auf die andere habe herrscht im Saal Smogalarm. Da mutet es ich den Pfeil nicht mehr aus der Hand ge- schon skurril an, dass die Profis während kriegt“, sagt er. Ständig verlor er Matches, des Spiels weder qualmen dürfen noch Al- bei denen er eigentlich uneinholbar vorn kohol trinken. Im Champagnerkühler auf lag. „Es hat mich fast um den Verstand ge- der Bühne lagert Tafelwasser. bracht.“ Jedes Match beginnt mit der ausgiebigen Es gibt Spieler, die versuchen mit auto-

Präsentation eines Heinz-Schenk-Ver- / PIXATHLON IMAGES / ACTION MILLS LEE genem Training, ihr inneres Gleichgewicht schnitts, der seinen kapitalen Bauch aufs Darts-Altmeister George wiederzufinden. Andere lehnen die Schei- Podium walzt. Der Zeremonienmeister „Wir wollen vor allem Spaß haben“ be gegen ein Tischbein, sinken auf die Martin Fitzmaurice reißt erst einen Schwu- Knie und üben aus einem Meter Distanz. lenwitz über Elton John, dann beschwört Schnell gelingen Fordham 180 Punkte, Essers fing an zu angeln. Nach 20 Monaten er die Zuschauer, die wie beim Bingo an das beste Ergebnis, das ein Spieler mit drei gewann er die Kontrolle über seine Finger langen Tischen sitzen, sich zu benehmen: Würfen erzielen kann. Und eine Tat, die zurück. So überraschend, wie er sie ver- „Ladys and Gentlemen, bitte stellen Sie beim Schiedsrichter orgastisches Geschrei loren hatte. sich nicht auf die Stühle oder die Tische.“ hervorruft: „One hundred and aye-teeee!“ Mancher wird von Dartitis heimgesucht Fordham, der wegen seines Vollbarts Doch beim nächsten Versuch verfehlen und findet nie mehr zu alter Klasse zurück. den Spitznamen „Wikinger“ trägt, trennt Fordhams Pfeile die punktereichen Seg- , 1989 von der Queen zum sich vom Tresen, als er hört, dass er neben- mente. Danach muss er quasi machtlos zu- „Member of the British Empire“ ernannt, an angekündigt wird. Durch eine Wolke sehen, wie sein Gegner das Match gewinnt. hat fünfmal in Frimley Green gewonnen. aus Trockeneis entert er die Bühne zum Das ist das Tückische am Darts: Es gibt Doch nach der Blockade konnte er den Lied „I’m Too Sexy“. Seine Anhänger tra- einfach keine Möglichkeit, sich gegen eine Ort seiner größten Triumphe nie mehr mit gen Wikingerhelme aus Plastik. Niederlage zu wehren. Keine trickreichen Siegerscheck verlassen. Sport

Ausgerechnet ein Holländer fen, vorher hatte er Tunnel ge- schickt sich nun an, Bristows graben und Granitplatten verlegt. Rekord in Frimley Green zu ega- Jetzt trägt der 60-Jährige an vier lisieren: , Fingern der linken Hand jeweils ein gelernter Postbote aus Den einen breiten Goldring, am Ge- Haag, ist ein gewissenhafter lenk baumelt eine diamantenbe- Mensch mit rosigen Wangen, setzte Rolex und um den Hals weshalb er in der englischen eine Kette, die um ein Panzerrad Darts-Szene als Langweiler gilt. passen würde. Seine Frau ist etwa Van Barneveld, 38, hat keine halb so alt wie er, sie leben in ei- Tattoos und gepflegte Zähne. Er nem Anwesen mit 37 Zimmern. geht während der WM jeden Der Altmeister hat Darts-Ge- Morgen eine Stunde spazieren, schichte geschrieben. Er hat in Las dann schwimmen und in die Sau- Vegas gespielt, im Nahen und im na. Er trainiert zwei Stunden am Fernen Osten. Für Frimley Green Tag und genehmigt sich vorm konnte er sich nicht qualifizieren. Match nur „drei bis vier“ Bier. Deshalb hat ihn die BBC als Kom-

Abends amüsiert er sich mit ei- / SOENAR CHAMID PIXATHLON HANS WILLINK mentator verpflichtet. nem Computerspiel und geht zei- Darts-Fans bei der WM: Kollektive Ekstase „Darter sind gesellige Men- tig ins Bett. Ein grauer Star: ab- schen“, sagt er. „Unsere Fußballer gekocht und clever, aber blind, was die der Schweiz. Er hat in seiner Heimat einen sind alle hochnäsig. Genauso in Amerika: Sehnsucht der Fans nach Skandalen an- Darts-Boom ausgelöst, hinter Fußball und Da gibt’s im Sport auch nichts zu lachen. geht. Sein Kampfname ist „Barney“, nach Eisschnelllaufen ist das Pfeilewerfen mitt- Amerikaner wollen immer nur gewinnen. Barney Geröllheimer, dem uncoolen Nach- lerweile Sportart Nummer drei. Darter sind anders. Wir wollen vor allem barn von Fred Feuerstein, der am Ende Natürlich ist van Barneveld längst Mil- Spaß haben.“ Er kenne unzählige Storys immer recht hat. lionär. Er spielt 25 Turniere im Jahr, sein über Darts und Bier und schöne Frauen. Der Champion des vergangenen Jahres Honorar für einen zweistündigen Schau- Hat er schon mal daran gedacht, sie in ist ein Scharfschütze. Mit zehnmal drei kampf beträgt 3800 Euro. Manchmal ab- einem Buch für die Nachwelt festzuhalten? Pfeilen erreicht er 1480 Punkte. Van Barne- solviert er drei Auftritte am Abend. Er sagt: Nein, antwortet er. Erstens sei er Leg- veld war der erste Festland-Europäer, der „Ich verdanke Lakeside mein Leben.“ astheniker. Und zweitens will er den Jungs jemals den Pokal stemmen durfte. Das war Darts hat auch Bobby „The King“ an der Theke nicht die Schau stehlen: 1998, seitdem ist er Profi und in den Nie- George zu einem reichen Mann gemacht. Darts-Anekdoten gehören erzählt, nicht derlanden so berühmt wie Wilhelm Tell in Seinen ersten Pfeil hat er mit 29 gewor- gedruckt. Maik Großekathöfer