Waldrada, Lothar II. Und Der Lothringische Adel Im Spiegel Der Gedenküberlieferung
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VonNamenlisten zu Netzwerken? Waldrada, Lothar II. und der lothringische Adel im Spiegel der Gedenküberlieferung Überlegungenzur Anwendung der Netzwerkmethodeinder Gedenkbuchforschung Eva-Maria Butz Die Gedenkbuchforschung ist eng mit der Analysevon Personen und Perso- nengruppen im frühen Mittelalter verbunden. Sie entwickelte sich als Teil der auf das soziale und politische Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft gerichteten Forschung,die von Gerd Tellenbach angestoßen und vonKarl Schmid und Joachim Wollasch weitergeführt wurde.1 Integraler Bestandteildes For- schungsansatzes ist die Methode der Personenforschung, die nach der Einbet- tung der einzelnen Person in soziale Zusammenhänge und Institutionen und damit auch nach der Struktur und den Gesetzmäßigkeiten sozialer Gruppen fragt.2 Eine der wichtigsten Quellen für die frühmittelalterliche Personenforschung sind neben den Urkunden die Memorialquellen. Diese verzeichnen Namen von Personen zum Zweck des liturgischen Gebetsgedenkens. Zahlreiche Namen der in Totenlisten, Verbrüderungsbüchern oder Nekrologien eingeschriebenen Per- sonen können frühmittelalterlichen Adelsfamilien zugerechnet werden, ohne dass die Struktur der Einträge auf den ersten Blick weiteren Aufschluss über genealogische Zusammenhänge preisgeben würde. Karl Schmid entwickelte Methoden, die Einträge in den Gedenkbüchern dennoch als Quellen für proso- pographische Fragestellungen zu nutzen.3 Zielist es, die Namen, die in den 1Zuden Anfängen der Personenforschung in Freiburg vgl. Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland1945–1970, Göttingen 2005, S. 145–155; Zum Einfluss des „Freiburger Arbeitskreises“ auf die Mediävistik vgl. Alfons Zettler/Thomas Zotz, Die mittelalterliche Landesgeschichteander Universität Freiburg i. Br., in: Werner Buchholz (Hrsg.), Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven, Paderborn u.a. 1998, S. 269–277. 2Karl Schmid/Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschungder Personen und Personengruppen des Mittelalters,in: FmSt 9 (1974), S. 1–48. 3Karl Schmid, Neue Quellen zum Verständnisdes Adels im 10. Jahrhundert, in: ZGORh 108 (1960), S. 185–202; Ders., Die Erschließung neuer Quellen zur mittelalterlichen Geschichte, in: FmSt 15 (1981), S. 9–17;zur Diskussion über die Methode der Gedenkbuchforschung vgl. Hartmut Hoffmann, Anmerkungen zu den Libri Memoriales, in: DA 53 (1997) S. 415–459 und 106 Eva-Maria Butz Gedenkbüchern erscheinen, historischen Personen möglichst zweifelsfrei zuzu- ordnen. Eine eindeutige Identifizierung ist oft im ersten Schritt nicht möglich, vor allem wenn der Name in anderen Quellen nicht zu finden ist oder derselbe Name mehrmals erscheint. Eine wichtige Innovation in der Aufbereitung des Namenmaterials wardie Einführung einer systematischen Lemmatisierung, die einen Vergleich trotz der phonetischen und orthographischen Varianz möglich macht.4 Geradezu bahn- brechend wardie Erkenntnis, dass der Eintrag vonNamen in der Regel in einer paläographisch abgrenzbaren Einheit erfolgte, die als Gruppeneintrag betrachtet werden kann. In der Regel standen die eingeschriebenen Personen in einem sozialen Zusammenhang.5 Sie gehörten entweder demselben Konvent oder derselben Familie an, sie bildeten eine politische „Interessensgemeinschaft“ oder sie standen in einem stabilen freundschaftlichen Verhältnis, wobei es zwischen den beiden zuletzt genannten Möglichkeiten zahlreiche Schattierungen gibt. Vor allem die Laien- und gemischten Einträgesind oftmals Momentaufnahmen und geben Rückschlüsse aufkonkrete politischeund soziale Konstellationen. Damit bilden die Eintragsgruppen in den Memorialquellen verschiedene Gruppenfor- mationen ab, die nach Otto Gerhard Oexle auch als formelle Gruppen, informelle Gruppensowie okkasionelle Gruppen bezeichnet werden können.6 Die Personengruppe eines Eintrags kann oftmals zugleich zeitlich „hori- zontal“ und „vertikal“ zusammengestellt sein, das heißt, nicht alle Personen, deren Namen gemeinsam eingetragen wurden, gehören der gleichen zeitlichen Schicht an. Dieses Phänomen ist in Einträgen zu finden, die die Namen von Lebenden sowie die vonbereits Verstorbenen verzeichnen. Aus solchen ge- meinsamen Lebenden- und Verstorbenen-Einträgen können Rückschlüsse auf Gerd Althoff/Joachim Wollasch, Bleiben die Libri Memoriales stumm?Eine Erwiderung auf H. Hoffmann,in: DA 56 (2000) S. 33–53, sowie Michael Borgolte, Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46/3 (1998), S. 197–210 und die kurze Erwiderung von Thomas Zotz/DieterMertens, Einleitungder Herausgeber,in: Karl Schmid, Geblüt, Herrschaft,Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter.Aus dem Nachlaß hg. und eingel. vonDieter Mertens und Thomas Zotz (VuF, Bd. 40), S. IX–XXVIII, hier S. XVIII. 4Dieter Geuenich,Die Lemmatisierung und philologischeBearbeitung des Personennamenma- terials, in: Karl Schmid (Hrsg.), Die Klostergemeinschaftvon Fulda im früheren Mittelalter, 3Teile (Münstersche Mittelalter Schriften, Bd. 8), München 1978, S. 37–84; Ders., Vorbemer- kungen zu einer philologischen Untersuchung frühmittelalterlicher Personennamen, in: Ale- mannisches Jahrbuch 1973/1975 (1976), S. 118–142. 5Karl Schmid, Begründung einer Zusammenstellung der Nameneinträge aus den frühmittelal- terlichen Gedenkbüchern, in: Ders. (Hrsg.), Die Nameneinträge in den Gedenkbüchern des früheren Mittelalters (unpubliziert 1988/1989),S.12, zitiert nach Walter Kettemann,Name, Person, Gruppe. Potential und Entwicklungsmöglichkeiten der Freiburg-Duisburger Datenbank mittelalterlicher Personennamen (DMP) für künftige Forschungsvorhaben, in: Concilium medii aevi 11 (2008), S. 123–150, hier S. 131 f. 6Otto Gerhard Oexle, Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft: Lebensformen des Mittelalters und ihre historische Wirkungen, in: Ders./Andrea vonHülsen-Esch (Hrsg.), Die Repräsentation der Gruppen.Texte, Bilder,Objekte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutsfür Ge- schichte, Bd. 14), 1998, S. 9–44, hier.17f. Waldrada, Lothar II. und der lothringische Adel im Spiegel der Gedenküberlieferung 107 verwandtschaftliche Strukturen, längerfristige Bindungen zwischen Familien sowie eine sinnstiftende Vernetzung vonGegenwart und Vergangenheit im konkreten soziopolitischen Kontext gezogenwerden.7 Und schließlich eröffnet die vergleichende Analyse vonmehreren Einträgen mit Überschneidungen im Namenmaterial unter Berücksichtigung der zeitlichen Einordnung des Eintrags die Möglichkeit, Personen zu fassen, die im Gebetsgedenken öfter gemeinsam erscheinen. Die Erhebung eines solchen Gedenk-Netzwerkes kann die Grund- lage für weitere Interpretationen sein.8 Gerade dieser letzte Punkt spielt für die „Enthüllung“ vonverwandt- schaftlichenund sozialen Gruppen, die auch gemeinsame politische Interessen haben, eine ganz besondere Rolle. Oftmalshaben diese Gruppeninanderen Schriftquellen keinen oder nur einen geringen Niederschlag gefunden. Damit erscheinen die Gedenkbücher geradezu prädestiniert zu sein für die Anwen- dung eines netzwerkorientierten Zugriffs. Um einen Gedenkbucheintrag interpretieren zu können, ist es notwendig, die innere Struktur des Eintragsselbst zu analysieren und möglichst viele Per- sonen zu identifizieren. Damit ist eine Grundlage geschaffen, die Bindungen zwischen den eingetragenen Personen im Abgleich mit anderen Überlieferungen zu charakterisieren und somit eine Interpretation für den Anlass und die Um- stände des Gedenkbucheintrags selbst zu versuchen. Es geht also darum, gewisse „Kerngruppen“ aus den Gedenkbucheinträgen zu kristallisieren. Im Netzwerkjargon wärendas Cluster oder Cliquen. Nach dem anfänglichenUsus in der Gedenkbuchforschung, die Einträgeuntereinan- der zu schreiben und gleiche Namen entsprechend zu kennzeichnen, wurde bald das System der Synopse verwendet. Angesichts des immensen Namenmaterials, das bei der Suche eines solchen Clusters gesichtet werden muss, wurde bereits in den 1960er Jahren nach einer computergestützten Methode gesucht. 1969 wurde im Rahmen mehrerer großer Projekte zur Klostergemeinschaft von Fulda und der Gedenkbuchüberlieferung vonReichenau, Remiremont, St. Gallen und des cluniazensischen Klosterverbands eine umfangreiche Datenbank zu den in den Quellen erfassten Personen angelegt. Zur notwendigen Standardisierung des Namenmaterials wurde die Lemmatisierung eingeführt. Ziel der erstenPhase dieser Datenbank-gestützten Quellenerfassung wardie Erschließung und kriti- sche Editionder überliefernden Quellen. Die Datenbank wurde danninDuis- burg unter DieterGeuenich weiter gepflegt und den entsprechenden Software- 7Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel der Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (Münstersche Mittelalter Schriften, Bd. 47), München 1984; Eva-Maria Butz, Politische Gegenwarten zwischen Geschichtlichkeit und Zukunftssiche- rung. Die Zeitebenen in den frühmittelalterlichen Libri vitae, in: Miriam Czock/Anja Rathmann- Lutz (Hrsg.), ZeitenWelten. Zur Verschränkungvon Zeitwahrnehmung und Weltdeutung (750– 1350), Köln 2016, S. 81–112. 8Gerd Althoff, Amicitiae et Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (MGH Schriften, Bd. 37), Hannover 1992; Eva-Maria Butz, Eternal amicitia? Social and Political Relationships in the Early Medieval Libri memoriales, in: Katariina Musta- kallio/Christian Krötzl (Hrsg.), De Amicitia.Friendship and Social Networks in Antiquity