NNR.R. 110202 JJUNIUNI / JJULIULI 22011011

ensuiteKKULTURMAGAZINU L T U R M A G A Z I N ensuite

art Schweiz sFr. 7.90, Schweiz sFr. Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien € 6.50 Inkl. Kunstmagazin

ich r a ü nd ge Z ra tu e ul r K b he lic a ht g sic s er üb u it AAusgabeMMit übersichtlicher Zürich Kulturagenda Sandro Schneebeli’s SCALA NOBILE Feat. Paul McCandless (Band Oregon, USA) & Bruno Amstad (CH)

EINE MALERISCHE REISE VON BASEL NACH BIEL JURA UND BIELERSEE UM 1800 Paul McCandless (USA) saxes Bruno Amstad (CH) vox Sandro Schneebeli (CH) guitars UN VOYAGE PITTORESQUE Antonello Messina ( I ) accordion DE BÂLE À BIENNE Stephan Rigert (CH) percussions LE JURA ET LE LAC DE BIENNE VERS 1800 Samuel Baur (CH) drums Dudu Penz (Brazil) bass TOUR 2011 23.6 Mahogany Hall, Bern, 20:30 (BE, ) Vorverkauf Musikhaus Krompholz, 031 328 52 00 14.04.11 – 31.07.11 24.6 Altes Spital, Solothurn, 20:30 (SO, Switzerland) Ticketreservationen unter [email protected] 25.6 Estival Jazz Lugano, Mendrisio, 20:45 (TI, Switzerland) www.estivaljazz.ch 27.6 Nei Suoni dei Luoghi Festival, Aviano, 21:00 (Italy) www.neisuonideiluoghi.it 29.6 Powerplay Studios, Maur, 21:00 (ZH, Switzerland) www.powerplaystudios.ch CD LIVE AUFNAHME Vorverkauf www.ticketino.com

the power of natural harmonics

Sandro Schneebeli’s BOOGALOO 4tet SUMMER ACADEMY 2011 Max Pizio sax Frank Salis hammond Bern-Dalmaziquai, Switzerland Sandro Schneebeli guitar Silvano Borzacchiello drums 8.-12. August 2011

kursinhalte: www.NEVEmusic.ch - atem, stimm- und körperarbeit - stimmumfang - naturtöne - naturjodel - obertonsingen NEW CD OUT NOW - objektive messung des klangspektrums - fachvorträge by Altrisuoni Records - gehörbildung - improvisation zu rhythmen und harmonien TOUR 2011 26.06 JazzAscona Festival, 22:00 www.jazzascona.ch 09.07 Blues & Wine Festival, Croglio, 21:00 www.vallombrosa.ch 06.08 BeJazzSommer Festival, Bern, 20:00 www.bejazz.ch 19.08 Estiva Lugano, Parco Ciani, 21.00 www.agendalugano.ch/estivalugano/ anmeldung & infos: 24:08 V Porto Ronco Beach Jazz Festival, 21:00 Johanna K. Thompson / Dr. Rolphe Fehlmann www.portoroncobeach.ch 079 622 58 54 / 076 479 88 84 www.ircasec.ch IInhaltnhalt 8 2233

2222 2200

5 KULTURESSAYS 28 Gefühle à la Meneguzzi PERMANENT Interview: Salvatore Pinto 8 Simonetta Sommaruga, Pianistin und 5 ES SIND UNSERE KINDER 29 Der Verführer aus Paris Bundesrätin Von Luca D’Alessandro Interview: Karl Schüpbach / Lukas Vogelsang 6 SENIOREN IM WEB 30 Ein würdiger Ehrendoktor des Latin Jazz 13 Barbarisches Benehmen Von Luca D’Alessandro Von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli 6 KURZNACHRICHTEN 31 Wer auf Salsa und LatinJazz steht… 14 Sommerakademie im Zentrum Paul Klee Von Luca D’Alessandro 7 FILOSOFENECKE 16.-26. August 2011 15 Oft, scheint mir 32 KINO & FILM 11 MENSCHEN & MEDIEN Von Peter J. Betts 32 Gory Gory Hallelujah! 17 LITERATUR Von Sandro Wiedmer 13 ÉPIS FINES 33 A Game of Thrones und die Illusion des 17 Seit jeher unterwegs Mittelalters ESEZEIT 17 L Von Konrad Pauli Von Andreas Meier 19 Beherzter Grenzgänger 18 LITERATUR-TIPPS 34 Source Code Von Erika Schumacher Von Sonja Wenger 21 INSOMNIA 20 TANZ & THEATER 35 The Woman with a Broken Nose Von Sonja Wenger 20 SILK ISTENING OST 27 L P Interview von Lukas Vogelsang 36 Etienne! Von Morgane A. Ghilardi - Der Hamsterfilm 34 TRATSCHUNDLABER 22 Gessnerallee 2014 Von Ted Gaier und Julian M. Grünthal

36 IMPRESSUM 25 MUSIC & SOUNDS 25 Fitzgerald und Rimini - Aristokratie und Wahnsinn Von Ruth Kofmel Bild: zVg. 26 Musik für Philippe Cornu Von Hannes Liechti kulturagenda.ch Bild: Bundesrätin Simonetta Sommaruga Fotos: Kapuli Dietrich

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 3 Konzert DIE LANGE Fr, 1. Juli 2011 NACHT 21:00 Uhr Dampfzentrale DER ELEK- Bern TRO NISCHEN MUSIK ELIANE RADIGUE (F) & CHARLES CURTIS (USA) BRUNHILD FERRARI (D/F) OVAL (D) STRØM (CH)

Die Lange Nacht der elektronischen Musik ist eine Koproduktion der Dampfzentrale Bern und der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik Bern und wird unterstützt von: Kultur- Stadt Bern, Erziehungsdirektion des Kantons Bern, Ernst Göhner Stiftung, Hotel National Bern.

Vorverkauf: www.starticket.ch Dampfzentrale Bern, Marzilistrasse 47, 3005 Bern Medienpartner: www.dampfzentrale.ch KKulturessaysulturessays

EDITORIAL eensuiteKKULTURMAGAZINU nL T UsR uM A iG AtZeI N Es sind unsere Kinder Von Lukas Vogelsang

er Kanton Bern hat ein neues Kultur- entstandenen Dokumentarfilm «Rhythm Is It» Foto: stanislavkutac.ch Foto: D vermittlungsprogramm gestartet. In der eindrücklich gezeigt hat, welche kreativen Märzsession 2011 hat der Berner Grosse Rat Kräfte in den Kindern stecken, sollte uns be- eine Pilotphase und einen Kredit von rund wusst sein, dass nicht die Kinder jene sind, die 6 Millionen Franken gesprochen, damit die Kul- eine kulturelle Entwicklung blockieren, son- tur- und Bildungsstrategie umgesetzt werden dern deren Eltern. kann. Mit Kulturgutscheinen, Internetplattform Ich stelle mir das Problem dieses Kultur- und in Begleitung von Kulturschaffenden sol- vermittlungsprogrammes so vor: Die Kinder len Kinder und Jugendliche unterstützt wer- kommen nach Hause und versuchen den Eltern den, ihr kreatives Potenzial zu entdecken und in kreativer Begeisterung zu erklären, was sie auszuschöpfen. Bereits im Schuljahr 2011/2012 tagsüber alles erlebt haben. Doch diese win- soll mit der Umsetzung begonnen werden. ken ein weiteres Mal ab. So weit entfernt sind Das klingt eigentlich gut. Kinder und Ju- diese Kinder vom Alltag der Erwachsenen. Und gendliche zu fördern hat eine logische und er- was soll aus diesen Kindern werden? «Lernt wiesene Konsequenz. Allerdings kam ich etwas gefälligst einen anständigen Beruf, der Geld ins Grübeln: Einerseits sparen wir bei animier- einbringt!» – Dieses Klischee belibt auch in Zu- ten Spielplatzeinrichtungen jeden Rappen ein, kunft hängen. jenen Einrichtungen, welche den Kindern oft- Kulturvermittlung braucht das Land. Aber mals den besten Einstieg in Kultur und Krea- vor allem für Erwachsene. Wir müssen die 30 tivität geben, und dafür machen wir Millionen – 50 Jährigen mit kreativem und kulturellem locker, um diesen Fehler wieder zu korrigieren. Wissen bezirzen, damit diese den Enthusias- In Spanien steht zur Zeit die Jugend auf den mus, die Neugierde und Lebenskreativität an Strassen und protestiert gegen die Erwachse- unsere Kinder weitergeben. Es ist sympto- nenwelt, welche keine Konzepte für ein ge- matisch, dass Kulturvermittlungsprojekte für meinschaftliches und generationenübergrei- Erwachsene wenig Geld erhalten. Und wenn fendes Miteinander zustande gebracht hat. Und schon der Bundesrat Schneider-Ammann meint, das ist auch hier so. Die Kinder und Jugend- dass Medien eine wichtige Rolle spielen, dann lichen sind sozial trainiert und sehr vernetzt, fördert doch mal Kulturmedien, Kulturmagazi- aber ihre Zukunft in Sachen Beruf und Raum ne und vor allem die meinungsbildenden kri- ist eher auf dünnem Eis. Vor allem: Welche tischen Kulturmedien. Mit Kinderförderung Zukunft? macht man heute Politik, um Punkte zu gewin- EEchtechte In einer Welt, in der jeder an sich und für nen, aber Kultur steht in jeder Amtsabteilungs- sich denkt, hat die Gesellschaft als Ganzes liste immer noch am Schluss und ist eher lästig. KKulturmagazineulturmagazine kaum noch eine Existenz. Unseren Kindern Unsere Kinder sind sozial schon längst wei- überlassen wir nichts ausser Arbeitslosigkeit, ter entwickelt als wir Erwachsenen. Sie sind mit iimm AAbonnementbonnement Sinnlosigkeit, Ich-Bezogenheit und Atommüll. der Geschwindigkeit der Welt, welche wir Er- Wir Erwachsenen nehmen für uns dafür den wachsenen vorangetrieben haben, aufgewach- wwww.ensuite.chww.ensuite.ch Reichtum, das Entertainment und allem voran sen, und haben selber neue Wege und Reserven die Freiheit. Diese Welt haben wir verursacht. gefunden, um darin nicht unterzugehen. Nur wir Nicht die Jugend hat ein Problem: Wir Erwach- Erwachsenen machen in unserem eigenen «Ju- senen sind das Problem. gendwahn» den Platz unseren eigenen Kindern Was bringt es also, Kinder und Jugendliche streitig. Vor Jahren habe ich mal gesagt: «Die zu fördern, wenn die Erwachsenen nicht ver- Erwachsenen leben und verwirklichen heute die stehen? Gerade in kulturellen Fragen sind die Träume ihrer Kindheit. Und die Kinder haben Erwachsenen jene, die nicht mehr ins Theater sie in der Realität zurückgelassen.» gehen und den klassischen Konzerten fern- Haben wir uns das so vorgestellt? bleiben. Die Jugendlichen haben wir schon längst ins Theater gebracht und die Kinder lieben Kindertheater. Seit der Dirigent Sir Si- Lukas Vogelsang war 10 Jahre auf dem Berner Hausberg Lei- mon Rattle und sein Team im Jahr 2003 mit ter des Kinder-Animationsprogrammes «Himmel über Bern». Seine Firma interwerk gmbh hat in dieser Zeit sehr viele grosse dem «Education-Program» und mit dem daraus Familienevents mit bis zu 10 000 BesucherInnen durchgeführt.

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 5 SENIOREN IM WEB Von Willy Vogelsang, Senior KKurznachrichtenurznachrichten

as Internet ist unerschöpflich. Es öffnet D uns die Welt. Es ermöglicht uns den Zu- gang zu Informationen, von denen wir nur träu- men. Ein Stichwort in einem Suchprogramm ge- nügt und es wird uns eine Auswahl an Seiten angeboten, die dazu passen. Es dauert nur Se- kunden. PHOTO MÜNSINGEN Abgesehen von der schnellen und (meist) problemlosen Kommunikation per Mail ist dies Kreative Welt der Fotografie wohl das Hauptargument, sich den Zugang zum an der Photo Münsingen 2011 weltweiten Netz einzurichten. Man braucht we- der Lexikon noch Landkarten, weder Tageszei- tungen noch Reiseprospekte oder Fahrpläne. 44. SCHLOSS- om 2. – 5. Juni 2011 steht in Münsingen Auch eine verpasste Tagesschau lässt man sich V ein weiteres Mal die Fotografie im Zen- einfach auf dem Bildschirm wiederholen. KONZERTE THUN trum. Das kreative Fotoforum zeigt Fotografie Wir werden verwöhnt – und dadurch viel- und Audio-Vision von internationalem For- leicht auch etwas bequem. Wir holen uns, was 3. bis 25. Juni 2011 mat. Gastland ist dieses Jahr Deutschland mit wir brauchen. Das meiste ist gratis zu haben. Das 5 bekannten Fotografen. Dazu ein Fotograf aus andere wird automatisch von unserer Kreditkar- uch dieses Jahr präsentieren sich Schloss- Paris und eine junge Fotografin aus New York. te abgebucht, sofern wir dies zulassen. Eine Welt A konzerte Thun mit einem spannenden Mix Weitere 18 Ausstellungen zeigen kreative und für Sesselkleber und Bildschirmsüchtige? aus klassischer Kammermusik, Oper, Jazz und vielfältige Arbeiten aus der Fotoszene Schweiz. Haben wir schon einmal überlegt, wer diese Tanzperformance. Die Schlosskonzerte sind schon Zudem stehen wieder über 60 Fotoklubs im Informationen, Texte, Bilder, Videos und alle die lange nicht mehr nur auf Konzerte reduziert. So Wettbewerb um den begehrten «Photo Münsin- unzähligen Angebote ins Netz stellt? Wer genau wird viel Musik geboten, mit erlesenen Zutaten gen Award». hinschaut wird nicht übersehen, dass auf den al- wie Tanz, Film und Schauspiel. Den Schwerpunkt Seit Jahren wird in Münsingen über die Auf- lermeisten Seiten Werbung für ein Geschäft da- bilden die zehn Konzerte mit Klassik-Stars und fahrtstage Fotografie der Spitzenklasse gezeigt. hinter – oder daneben – steht. Geld spielt sicher Neuentdeckungen. Das Programm ist einmal mehr vielfältig und die Hauptrolle in diesem Laden. Ihr Geld! Es gibt Am 3. Juni wird die diesjährige Ausgabe des kreativ. Uli Staiger aus dem Gastland Deutsch- ja auch kaum eine Zeitschrift, die ohne Inserate traditionsreichen Festivals mit einer Welturauf- land zeigt in seiner Ausstellung «Fantastoma- auskommt. Jemand muss auch für die enormen führung zum internationalen Kleist-Jahr im neuen niac» märchenhafte Bildwelten wie aus einem Kosten aufkommen, die das Einrichten und die KKThun eröffnet. Danach wandern die Schloss- Roman von Jules Verne. Jan von Holleben ver- Pflege einer Webseite oder gar eines Portals mit konzerte von den mittelalterlichen Gemäuern im mittelt zum Thema «Spielen in der Fotografie» vielen Angeboten verschlingen. Rittersaal bis in die denkmalgeschützte Fabrik- eine Aura der Magie. Frank Sirona entführt uns Können Sie sich vorstellen, dass es auch ein- halle in der ehemaligen Selve – immer passend in den Südwesten der USA mit «Canyons», und mal umgekehrt laufen könnte, dass Sie selbst zum jeweiligen Konzert. Im Programm finden Michael Schlegel nach Australien und Island. beitragen, was andere interessiert? Ein Muster- sich Titel wie: The five elements und Aschenput- Wolfgang Straube zelebriert mit Solarisationen beispiel ist Wikipedia: die Einträge dort dürfen tel (Anja Losinger mit Mats Eser), Capella Gabetta in Polaroid Technik die Ästhetik von Körpern von jedermann erstellt, korrigiert und ergänzt und Giuliano Carmignola (Orchestergala), Severi- und Blumen. werden; ohne Honorar selbstverständlich. Denn ne Schmid (Harfe), Quatuor Mosaiques (Kammer- Karin Gfeller ist eine junge Fotografin aus Wikimedia, wie sich die das Projekt tragende musik), Flowing Mood (Jazz), Stummfilmklassiker Münsingen, die heute in New York lebt und so Stiftung nennt, ist eine Non-Profit-Organisation. mit Wieslaw Pipczynski am Klavier), La Scinitil- bekannten Fotografen wie Annie Leibowitz, Ganz ähnlich verhält es sich mit Seniorweb. la die Fiati (Bläseroktett) und Bunbury (Schloss- Steven Meisel und Mario Sorenti assistiert. Ihre ch. Dahinter steht eine Stiftung (Pro Seniorweb). oper). Details zum Programm entnehmen sie dem Arbeit «Karussell» porträtiert Tänzerinnen ei- Alle Mitarbeit, mit Ausnahme der Technik, ge- bei den Abonnenten von ensuite beigelegten Pro- nes Nachtclubs in New York. Michel Planson schieht auf freiwilliger Basis; Senioren für Seni- grammheft oder auf der Webseite vom Festival. lebt in Paris und zeigt uns «Le Paris d’un pa- oren. Sie schreiben Artikel, Rezensionen, tragen Neu erhalten alle Jugendlichen bis 25 Jahre ei- risien». in den verschiedenen Foren zu Diskussionen nen Rabatt von 50% auf alle Konzertkarten, auch Die Ausstellung «Japan, das Reich der Zei- bei, stellen ihre eigenen Fotos der Redaktion wenn sie nicht mehr in Ausbildung sind. Zu den chen, der Symbole und der Details» vom Globe- oder für Grusskarten zur Verfügung, verfassen Konzerten im Schloss Thun bieten die Organi- trotter Luciano Lepre auf dem Schlossgutplatz Reiseberichte, illustriert mit Einzelbildern oder satoren einen Shuttlebus, welcher die Besucher versetzt uns in eine fremde und unergründliche Diaschauen. vom Bahnhof direkt vor das Schlosstor fährt. Die Welt. Seine faszinierende, abendfüllende audio- Sie haben Wertvolles zu bieten. Verschen- genauen Abfahrtszeiten sind auf der Website visuelle Produktion zum gleichen Thema führt ken Sie davon. Mitnehmen können Sie nichts. oder im Festivalführer zu finden, dieser liegt ab er am Freitagabend vor. Rechnen Sie nicht jedes Mal mit einem Echo. anfangs April überall in der Region und an den Die Klubfotografie ist allem voran im gros- Ich kann es ja hier auch nicht erwarten. Aber betreffenden Vorverkaufsstellen in der ganzen sen Klubwettbewerb mit 62 Fotoklubs aus der erleben Sie, dass Geben glücklicher macht als Schweiz auf. (ptx) ganzen Schweiz und dem umliegenden Ausland Nehmen! vertreten. Das Wettbewerbsthema für den Pho- www.schlosskonzerte-thun.ch to Münsingen Award heisst «Stille». Die Ver- www.seniorweb.ch www.kulturticket.ch bindung «nudeART.ch» zeigt kunstvolle und informiert  unterhält  vernetzt

6 KKulturessaysulturessays FILOSOFENECKE ästhetische Aktfotografie, die Vereinigung Von Ueli Zingg «Young photo professionals» ihre preisgekrön- HEUTE AUS BERLIN ten Bilder «tierisch», und der Fotoclub Münsin- STILLE, LEBEN, IN gen seine Wettbewerbsbilder «rund». Hier sein heisst Die Photo Arena ermöglicht 10 Fotografin- BEWEGTEN ZEITEN. nen und Fotografen, je eine thematische Aus- Dort sein können. stellung digital zu zeigen, und die Vereinigung ie Welt in der wir leben ist laut, hektisch, Carlo E. Lischetti 1994 Photo Suisse präsentiert die besten Wettbe- D unübersichtlich. Es kostet große Anstren- werbsbilder aus dem Jahre 2010. gungen, die Entwicklungen zu verstehen, de- ie Würde des Menschen liegt in seiner Die Audio-Vision hat die ehemalige Form nen wir täglich ausgesetzt sind. Nachrichten, D Möglichkeit, sich entscheiden zu kön- der «Tonbildschau» weit hinter sich gelassen. politische Entscheidungen, Handy-Geklingel, nen. Die Entwürdigung des Menschen liegt da- Die Entwicklungen der letzten Jahre führten Marktmechanismen, die Liste ist schier endlos. rin, sich entscheiden zu müssen. Doch kaum zum Einbau von Animationseffekten und zur Unsere westliche Kultur ist eine Kultur des Em- hat man sich entschieden, hat man sich falsch Integration von Videosequenzen. Dies lässt die porstrebens geworden, dem Pendeln zwischen entschieden, denn, wo auch unser Entscheid Abgrenzung zur Videotechnik immer mehr ver- pflichtbewusster Getriebenheit und sucht- hinfällt, er fällt ins Hier. Dem Dort bleibt die schwinden. Entsprechend vielfältig präsentie- artiger Entspannung. Die Seele des Menschen Sehnsucht nach dem Verpassten; Dort ist die ren sich denn auch die Produktionen in dieser braucht Stille: Erst in der Stille beginnen wir Hoffnung auf ein besseres Hier; im Dort rech- Sparte: insgesamt belegen 21 Kurzproduktionen das Wesentliche zu hören, sagen alle Meister nen sich die Opportunitätskosten – wie viel aus 5 Ländern sowie die oben erwähnte Japan- der spirituellen (großen) Kulturen. Suchen wir Dort verlieren wir, wenn wir uns für ein Hier Schau die hohe und weiter steigende gestalteri- bewusst die Stille, erwarten wir von ihr Erho- entscheiden? Dort steht seit der Postmoder- sche Bedeutung dieses Mediums. ptx) lung, Klärung und Antworten auf viele Fragen, ne für die Gleichzeitigkeit des Anderen. Die die auf der Seele brennen. örtlich-physische Befindlichkeit ist nicht zu Photo Münsingen Berlin, die europäische Hauptstadt der Krea- trennen von der Vorstellung, dass es auch das 25 Ausstellungen – Audio Vision – 20 Seminare tiven und mittlerweile Hochburg des Yoga, lebt Dort gibt, wo sich ein Anderes ereignet, von Donnerstag (Auffahrt) – Sonntag, 2. – 5. Juni 2011 eigenwillig und zunehmend mit immer größe- uns bestenfalls im Nachhinein erfahrbar. 10.00 – 18.00, Freitag bis 21.00 Uhr / CH - 3110 rer Verantwortung füreinander, nach tausenden So entsteht das Spannungsfeld Leben: die Münsingen, Areal Schlossgut – Eintritt frei Jahren weltweitem Mangel, Hunger und Krie- Differenz in der Individualität, das Einzigar- www.photomuensingen.ch gen, den ewigen Menschheitstraum von: Tun tige, der Wettbewerb, die Selektion, das Fort- können, was man will, und nicht tun müssen, schreiten, ethische Findung. Dialektisch und was man nicht will. Derweil läuft in Zürich die als Prinzip verstanden ist das Eine nicht wie Debatte über eine neue Schweiz, gar ein neu- und nicht ohne das Andere, ist erst durch das KAPLAN KOCH: es Menschenbild: 2’500.- sFr. als Geburtsrecht Andere. BIOGRAFIE UND für jeden, Freiheit, Gleichheit, bedingungsloses Hoffnung liegt in der Unfassbarkeit des Grundeinkommen. Lösung aller Grundproble- Anderen: Unter ihresgleichen sind die Einen ZEITGESCHICHTE me: Ausbeutung, Diskriminierung, Geschlech- eins, das Andere dagegen bleibt auch unter terkampf, Bildungsdefizite, Klimaprobleme, seinesgleichen Anders. Hofft die Hoffnung da- Er ertrug nicht das, woran wir uns langsam Hungersnöte, Völkerwanderung? Nichts an rauf, dieser Widerspruch münde eines Tages « gewöhnten: Menschen an Gitterzäunen vor diesen Ideen ist systemerschütternd. Sie lie- in die Identität, dann ist das Eine wie das An- dem gelobten Land. Nie war irgendetwas von gen voll im Trend: Eine Kultur der Stille und dere und folglich hoffnungslos. Wer endgültig dem, was er wollte, beliebt. Denn gegen die Ar- des respektvollen Friedens, die wir so dringend im vermeintlich widerspruchsfreien Hier an- mut sind alle, nur für die Armen fast niemand.» brauchen. gekommen ist, weiss, ist eins – entweder mit Diese Würdigung von Franz Hohler gilt Corne- Als Yogalehrerin habe ich mir die Stille ver- sich selbst, oder nicht selten mit dem Einen lius Koch, einem tatkräftigen Kaplan, der sich traut gemacht, sie ist mir Ratgeberin in allen Anderen. Womit zumindest der Widerspruch unbeirrt für rechtlose Menschen einsetzte, egal Lebenslagen. Meditation – in der eigenen Mitte, erhalten bleibt. woher und aus welchen Gründen sie kamen. ruhend – ist ein Weg in die Stille. In Zeiten wie Wie kann man unter solchen Bedingun- Das Buch «Ein unbequemes Leben» erzählt diesen zählt der innere Friede, der den äußeren gen noch glücklich sein? Zum Beispiel in der anschaulich die Biografie und die zahlreichen Frieden erschafft. Wer Stille lebt, kann verste- Vorstellung, dort sei alles schlechter als hier. Solidaritätsaktionen des Flüchtlingskaplans. Es hen lernen. Wer trotzdem fortgeht, sucht im Dort ein an- ist gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte, be- deres Hier. Etwa in den Ferien, wo wir uns ent- leuchtet es doch über einen Zeitraum von 30 Die Autorin Marcelle De Michiel, geboren in Bern, ist freie täuscht selbst wiederfinden und zum Schutz Jahren (1971 - 2001) die Schweizer Asyl- und Autorin und Yogalehrerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin sowie unserer Hoffnung auf das Andere Landsleuten auf internationalen Yoga-Reisen. Erschienen von ihr im Win- Ausländerpolitik und die Basisbewegung von terwork Verlag: «Die (R)Evolution der Selbstwahrnehmung». aus dem Weg gehen. Bürger/-innen für die Flüchtlinge. (Siehe Buch- www.yogartravelling.com Heutige Menschen lassen sich immer we- besprechung Seite 19) niger einbinden, nicht in einen lebenslangen Die Autoren Claude Braun und Michael Röss- ensuite dankt für die finanzielle Unterstützung: Beruf, eine ewige Liebe, in die einzig wahre ler lesen Passagen aus ihrem Buch am 25. Juni Religion, in ein Selbstverständnis von «Werde, um 15.00 bei der Religiös-Sozialistischen Ver- der Du bist!» Heutige sind zwar immer hier, einigung, Gartenhofstrasse 7, in Zürich (www. aber in Gedanken meist auch ein wenig dort. resos.ch). Auf Wunsch stehen sie für weitere Hier die Daten für das entschieden ande- Lesungen zur Verfügung, auch im kleinen Kreis re Gespräch: Mittwoch 29. Juni, 1915 h, Ster- (www.zytglogge.ch). (es) nengässchen 1. Dort läuten Sie im 2. Stock bei Maja Kern.

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 7 KKulturessaysulturessays

Simonetta Sommaruga,

PianistinSimonetta und Sommaruga, Pianistin und Bundesrätin BundesrätinInterview: Karl Schüpbach / Lukas Vogelsang Fotos: Kapuli Dietrich Interview: Karl Schüpbach / Lukas Vogelsang Fotos: Kapuli Dietrich

arl Schüpbach: Nach den verheerenden, meiner Ansicht nach insofern falsch, als eine Situation herausführen kann. Dies gilt vor al- K aufwühlenden Ereignissen in Fukushi- Vertreterin eines beliebigen Berufes diese Vo- lem für die reichen Nationen, also auch für die ma und den anhaltenden Umwälzungen im raussetzung als Bundesrätin erfüllen muss. Wo Schweiz. Gerade hier aber stiehlt sich die Re- arabischen Raum gibt es für mich nur die im- also liegt in Ihren Augen das Geheimnis, das ei- gierung unseres Landes weitgehend aus der perative Forderung: die Welt muss innehalten, ner Musikerin im Bundesrat Erfolg einbringen Verantwortung und überlässt die Kulturförde- Atem schöpfen, neu gewichten. Doch es melden kann? Kreativität? Die Kunst des Zuhörens? rung den Kantonen. Ist das noch zu verantwor- sich Zweifel: andere schwerwiegende Krisen Es gibt keine Ausbildung, um Bundesrä- ten? Ist hier der Föderalismus nicht zum Schei- werden ausgesessen, vielleicht Flickwerk ein- tin zu werden – vielleicht einer der wenigen tern verurteilt? gesetzt, aber totales Umdenken – nein (Finanz- Berufe, für den es keine typische Ausbildung Die Kultur braucht sicher das Engagement und Bankenkrise!). Daher meine Frage: ist die gibt. Ich bin überzeugt, und das ist auch mei- der Politik. Aber ich glaube, man sollte die Er- Menschheit überhaupt noch lernfähig? ne Erfahrung, dass der Beruf einer Musikerin wartungen an die Politik auch nicht zu hoch Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Ja für eine Politikerin eine sehr geeignete Voraus- schrauben. Die Kultur braucht auch Freiräume, sicher. Auch wenn man manchmal einen Mo- setzung ist. Wer Musik macht, kann zuhören, die Kultur braucht eine Gesellschaft, die bereit ment lang daran zweifelt. Aber die Menschheit hat das auch geübt. Er kann sich selber zuhö- und auch fähig ist, sich in der Kultur zu enga- muss immer wieder lernen. ren, auch anderen selbstverständlich, das ist gieren, um nicht zu sagen, sie zu konsumieren. Wenn es einen Strohhalm gibt, könnte sich wichtig. Disziplin ist in der Musik und in allen Die Kulturförderung, ganz spezifisch politisch die Kultur – nach einer völligen Neugewichtung Künsten, zusammen mit der Begabung, eben- gesehen, wird häufig mit der Vorstellung ver- – als Rettungsanker anbieten? falls eine wichtige Voraussetzung. Auch das knüpft, Gesetze zu machen oder Geld zu spre- Die Kultur war schon immer ein zentraler kann man in der Politik gut gebrauchen. Vor al- chen. Ich glaube, das wäre zu eng gefasst. Also: Motor in der Entwicklung der Menschheit, das lem aber, und das ist für mich das Wichtigste, Die Kultur muss einen hohen Stellenwert ha- wird sie auch bleiben. Den Stellenwert der Kul- steht die Kreativität, in der Tat. Politik ist eine ben in der Gesellschaft, und die Politik kann tur muss sich die Politik immer wieder neu höchst kreative Tätigkeit: Man versucht, für und muss dazu einen Beitrag leisten, aber sie überlegen. Als Kulturschaffende, als ehemalige die Gesellschaft Lösungen zu finden, die für kann nicht die alleinige Verantwortung über- Kulturschaffende, verfüge ich dafür über eine möglichst viele oder für alle gut sind, und von nehmen, um Kultur in einer Gesellschaft zu besondere Sensibilität. den meisten mitgetragen werden können. Da fördern. Das hat es in der Schweiz noch nie gegeben: bin ich eben überzeugt, dass die Kreativität, Sie haben sich kürzlich in einer Radio- ein Musiker darf einer ausgebildeten Pianistin die man in der Musik übt, pflegt und ausbildet, sendung (Samstagsrundschau) zu eben diesem und gewählten Bundesrätin Fragen stellen. Die- ausserordentlich wertvoll ist, um in der Politik Föderalismus bekannt, es ging um eine enge se Einmaligkeit hat sich nach der Wahl auch in gute Lösungen zu finden. Zusammenarbeit mit den Kantonen in der Fra- der Presse in einer gewissen Unsicherheit der Übrigens, einen Satz möchte ich noch an- ge einer allfälligen Flüchtlingswelle aus dem Kommentare widerspiegelt: Obwohl Sie schon fügen: Eine gute Bundesrats-Sitzung ist wie nordafrikanischen Raum. Es gibt Sachgebiete, längere Zeit in der Politik tätig sind, ist die Kammermusik. Und es gibt immer wieder auch die in der alleinigen Kompetenz des Bundes Kombination Politikerin auf höchster Ebene / Kammermusik in den Bundesrats-Sitzungen. liegen, zum Beispiel der National-Strassenbau. Pianistin ein Novum. Ein Journalist hat diese Diese Frage noch vertieft: ich bin der fes- Kann es wahr sein, dass demgegenüber huma- Besonderheit mit der eisernen Disziplin, die ten Überzeugung, dass einzig eine gewaltige nitäre Fragen und die Kultur Probleme von un- einer Künstlerin eigen ist, als Privileg zu de- Aufwertung der Kultur im weitesten Sinne, tergeordneter Bedeutung sind? finieren versucht. Aus fachlicher Sicht ist dies die Welt aus der heutigen, lebensbedrohlichen, Ich bin wirklich eine Anhängerin des

8 Föderalismus. Ich habe die Erfahrung gemacht Bildung, dass sie ein Instrument lernen kön- – ich war ja auch lange Gemeinderätin, und in nen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, der Regierung einer grossen Gemeinde –, dass Untersuchungen belegen es, dass eine musika- viele Entscheidungen, die in den Gemeinden lische Bildung, die Ausbildung an einem Inst- nahe bei den Leuten gefällt werden, gute Ent- rument, die Entwicklung des Gehirns fördert, scheidungen sind. Dieses föderale System lässt indem eben die linke und die rechte Hirnhälfte die Möglichkeit der Kreativität zu, die Möglich- besser mit einander in Kontakt sind, und die keit, dass etwas an einem kleinen Ort entwi- intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, die nacht der musik ckelt und dann ausgeweitet wird. Die Meinung, wie man so sagt, besser in einen Ausgleich ge- dass nur gut gefördert, gut unterstützt und ei- bracht werden. Das sind Entwicklungen, die für Sa, 25. Juni 11 nen hohen Stellenwert hat, was vom Bund orga- die Gesellschaft sehr wichtig sind. ab 19h30 | Kultur-Casino Bern nisiert ist, diese Meinung teile ich überhaupt Um auf die Initiative zurück zu kommen: Ich nicht. Daher wäre es aus meiner Sicht auch vertrete die Meinung des Bundesrates, in mei- «Swinging Turtles» falsch zu sagen, wenn sich der Bund nicht um ner heutigen Funktion. Der Bundesrat ist der die Kultur kümmert, sie zentral steuert, dann Meinung, dass es diese Initiative nicht braucht. hat Kultur einen zu kleinen Stellenwert. Das Er hat sich damit aber nicht gegen das Anliegen Weltbekanntes «Cross-Over»- wäre, so glaube ich, zu kurz gegriffen. Aber ausgesprochen, das die Initiative vertritt, son- Quartett in Jazz-Laune: Turtle Island String Quartet der Bund hat natürlich eine Mitverantwortung, dern der Bundesrat möchte die jetzige Kompe- deshalb gibt es ja auch den Kulturförderungs- tenzverteilung nicht ändern. Das bedeutet, dass Artikel in der Bundesverfassung. Aber ich glau- die Bildung und die Musik, die Ausbildung, in be, wir sollten nicht unterschätzen, was gerade die Kompetenz der Kantone gehören. Dort wo im schweizerischen System auf der Ebene der der Bund, im Bereich der musikalischen Kultur- Gemeinden und Kantone möglich ist und auch förderung, seinen Beitrag leisten will, sind die tatsächlich geregelt wird. Grundlagen dazu bereits gelegt. Die ursprüngliche Idee des Ständerates war Abschliessend noch eine Frage an die Pia- einleuchtend: es soll in unserem Regierungssys- nistin: spüren Sie manchmal, wenn es Ihre Zeit tem eine Kammer geben, wo der Kanton Nid- zulässt, das Bedürfnis, Ihre Stimmung mit Mu- walden über das gleiche Gewicht verfügt wie sik auszudrücken? Können Sie uns verraten, «Classic meets Jazz» - Saisonfi nale der Kanton Zürich. Allein, ist ein solch partiku- welches Meister-Werk der Klavierliteratur steht mit Genre-Mix und Posaune: läres Denken heute im Zeitalter ganzheitlicher Ihnen denn am nächsten? Lässt sich diese Wahl BSO & BSO-Solist Justin Clark Denkweise noch angebracht? Und noch einmal erklären? zurück zum Ständerat: der Nationalrat hat die Ich spiele noch regelmässig Klavier, immer Initiative «Jugend und Musik» mehrheitlich an- wieder, manchmal abends, oft nur eine Vier- genommen. Diese Initiative verlangt, dass die telstunde. Nicht unbedingt um eine Stimmung Förderung musischer Fächer durch die Schule auszudrücken, sondern um mich wieder zu kon- in der Verfassung verankert wird. Der Stände- zentrieren und um zurück zu finden zum We- rat aber verlangt einen Gegenvorschlag, was sentlichen. Dann spiele ich Bach, eigentlich erfahrungsgemäss zu einer Verwässerung einer immer Bach. Und zwar momentan hauptsäch- Initiative führt. Was halten Sie von dieser Ent- lich aus dem «Wohltemperierten Klavier»; das wicklung? ist ein Kosmos, in den ich mich hinein bege- Der Ständerat hat als Rat die Aufgabe, die ben kann, da hat es immer etwas dabei, je nach Sicht der Kantone stärker zu berücksichtigen, Stimmung oder Bedürfnis. Ich kann dort auch das hängt mit unserem politischen System zu- immer wieder Neues lernen. Ich spiele viele sammen. Der Ständerat hat sicher bei seinen Präludien, und die Fugen muss ich mir immer Überlegungen zur Initiative «Jugend und Mu- wieder hart erarbeiten. Ich versuche auch im- sik» die Sicht der Kantone und die Kompetenz- mer wieder Neues zu lernen aus dem «Wohl- verteilung zwischen Bund und Kantonen stär- temperierten Klavier», um mich geistig und ker gewichtet als der Nationalrat. Der Bundes- technisch einigermassen fit zu halten. Wenn Konzertlounge-Atmosphäre rat lehnt die Initiative «Jugend und Musik» ab, ich wirklich wenig Zeit habe, spiele ich manch- mit Bistro-Tischen und Bar: er ist der Meinung, dass die Kompetenzen heu- mal nur eine einzige Variation aus den «Gold- Kultur-Casino als Jazz-Club te richtig verteilt sind, dass eben der Bildungs- berg Variationen». Dazu gibt es übrigens ein bereich in der Zuständigkeit der Kantone liegt, sehr schönes Buch von Anna Enquist, das ich dass sich der Bund hier nicht einmischen soll, gerade lese. Das Buch widmet jeder Variation auch nicht partikulär und spezifisch für die Mu- ein Kapitel. So kann ich die Literatur und die sik. Ich habe als ehemalige Musikerin grund- Musik, die mir beide sehr nahe stehen, mit ein- sätzlich sehr grosses Verständnis dafür, dass ander verbinden. man den Bereich der Musik und der musikali- schen Bildung grundsätzlich stärker gewichtet als bisher, ähnlich wie man das ja im Bereich Frau Bundesrätin, wir danken Ihnen sehr Jugend und Sport tut, die Initiative lehnt sich herzlich für die Beantwortung unserer Fragen. ja daran an. Und ich bin als ehemalige Musi- Mögen Sie weiterhin den richtigen Fingersatz, Nach dem Konzert ist vor dem kerin auch überzeugt davon, dass es sich für den idealen Anschlag und die gute Pedal-Mi- ersten Tanz mit DJ Welldone: die Gesellschaft lohnt, dass unsere Kinder und schung für die Dur- und Moll-Tonarten in Ihrer Party zum Swingen & Grooven Jugendlichen Zugang haben zu musikalischer täglichen Arbeit finden! www.nachtdermusik.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 9 *(75b807(:,5./,&+.(,7 

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VON MENSCHEN UND MEDIEN Die entscheidende Rolle Von Lukas Vogelsang

Die Medien spielen eine entscheidende Rol- (Quelle: medienspiegel.ch) Das Grossunterneh- gleich mitzumachen. HTC, der Smartphone-Pio- « le», sagte Bundesrat Johann N. Schneider- men Tamedia hat in den letzten Jahren eben erst nier-Gigant, bringt so viele Mobilephones her- Ammann anlässlich des «Swiss Media Forum» ein paar hundert MitarbeiterInnen entlassen aus, dass die Firma einmal daran zerbrechen am 12. Mai 2011 in Luzern. Welch ein Satz. Er und Druckereien geschlossen, dafür im 2010 wird. Die Geräte haben eine Supportlebensdau- spielte damit auf die Situationen in Ägypten wieder einen fetten Gewinn eingestrichen. er von knapp einem halben Jahr. Danach sind und Tunesien an, wo Menschen sich über In- Mit dem richtigen «Medium» kann uns also in sie veraltet. ternet oder SMS informierten und austauschten, Zukunft noch mehr Information erreichen: noch Die e-Mail ist die wesentlich grössere Er- den Widerstand organisierten. Unter Medien mehr Informationen und noch mehr Informatio- rungenschaft der Menschheit. Allerdings hat versteht der Bundesrat die technologische Sei- nen. Ich habe zwar keine Ahnung, wohin ich mit sich diese Technologie nie wirklich verändert. te – nicht die inhaltliche. Unter Medien versteht diesen Informationen noch gehen, geschweige Die relevanten e-Mail-Programme (lesen, sch- man nicht mehr «Journalismus», sondern die mo- denn, wie ich sie unter den Umständen noch reiben, organisieren) kann man an einer Hand dernen technischen Gadgets. So hat auch jeder verarbeiten soll. Ich weiss auch nicht, welches abzählen. Deren Kompatibilität zu anderen zweite Bundestagsabgeordnete in Deutschland Gerät ich denn haben müsste, denn die Kom- Systemen ebenfalls. Und wie viele Prozente ein iPad – natürlich über irgendwelche Steuer- patibilität hinkt den Gedanken hinten nach. So vom gesamten e-Mail-Verkehr sind unter- gelder finanziert. Vor wenigen Tagen wurde können wir uns zwar im Internet bewegen, doch dessen Spam? Und wie ist das mit der Effizienz? eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass Tab- sehr viele Seiten sind zu den speziellen Geräten Das «Medium» Facebook hat einen ersten lets nur Modeerscheinungen sind, wie einst die nicht kompatibel. Die Seite wird entsprechend Tod vor knapp 1,5 Jahren erstaunlicherweise Netbooks. Wissen Sie noch was ein Netbook ist? nicht richtig dargestellt. überstanden. Irgendwie konnte sich die Idee Bryan Jones vom Computerhersteller Dell mein- Medien: Mit dem Einzug von Mobiltelefonen doch noch durchsetzen. Aber Geld verdient man te, er bezweifle, dass die Tablets-Geräte wirklich vor ca. 12 Jahren hat sich die Welt wesentlich damit nur über Investoren. Ob sich das mal re- als Primär-Computer für die Produktivarbeit in verändert. In unserer Redaktion kriegen wir chnet, also Geld abwirft? Das scheint kaum Unternehmen ausreichen. Für die Mehrheit der aber noch immer Fax-Spam (Money-Report) möglich, trotzdem glauben alle fest daran, und Leute sei es nicht möglich, damit Arbeiten mit und nutzen hauptsächlich das Bürotelefon. Das beten zu den Göttern, damit das Geld sich doch hoher Produktivität zu erledigen. war schon vor 30 Jahren so. Die mobilen Dien- noch vermehre. Immerhin: Rund 200 zusätzliche Stellen will ste sind für die Produktion zu aufwändig und Und damit kämen wir zur Internet- und die Tamedia in den kommenden zwei Jahren im zu kostenintensiv. In der IT-Branche gilt: Alle 3 IT-Blase, welche unweigerlich in der Luft zu Online-Bereich schaffen, die Hälfte davon im Monate spätestens ein neues Produkt oder ein riechen ist. «Die Medien spielen eine entschei- redaktionellen Gebiet, wie Tamedia-CEO Mar- Update. Als «Medienbetrieb» können sie dieses dende Rolle» – dieser Satz wird uns noch in den tin Kall anlässlich des Swiss Media Forums in Tempo in der Produktion gar nicht einhalten, Ohren hallen. Die «Medien» sind tot. Es lebe der Luzern bekanntgab, und Unternehmenssprech- geschweige denn die Konsumenten so rasch Journalismus. er Christoph Zimmer via Twitter bestätigte. dazu bewegen, jeden technologischen Furz

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 11 Auslobung

Gesucht: Ideen und Konzepte für partizipatorische Kunstprojekte Kunst undKunst Gesellschaft Zur Teilnahme eingeladen sind KünstlerInnen aus den Bereichen Bildende Kunst, Musik, Tanz, Theater oder auch spartenüber- greifend arbeitende Akteure. Wünschenswert ist eine Kooperation mit kulturellen und/oder sozialen Vereinen, Institutionen und Organisationen. Montag Stiftung Montag Einsendeschluss: 1. September 2011

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Info-Apéro MAS Arts Management DAS Fundraising Management

Mittwoch, 8. Juni 2011, ab 17.30 Uhr Restaurant Au Premier im Hauptbahnhof Zürich

ZHAW School of Management and Law – 8400 Winterthur Zentrum für Kulturmanagement – Telefon +41 58 934 78 54 www.zkm.zhaw.ch Building Competence. Crossing Borders. Zürcher Fachhochschule www.zpk.org KKulturessaysulturessays ÉPIS FINES Von Michael Lack

ESSEN UND TRINKEN Barbarisches Benehmen

Von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli

m Alltag begegne ich immer wieder Situati- Redewendungen, die wir täglich von uns geben. I onen, die mir einmal mehr bewusst werden Erst vor kurzem hatte ich während einer Zug- lassen, wie ich selber aufgewachsen bin, welche fahrt Zeit, mich mit diesem Phänomen ausein- Benimmregeln ich von Kindsbeinen auf zu ler- ander zu setzen. Ein älterer Herr sass an einen nen hatte. Und nach diesen messe ich anschei- Fensterplatz. Vor ihm auf der Ablage hatte er ein SIRUP VOM nend auch das Verhalten anderer. Besonders was grosses hellblaues Dosenbier stehen, deutsche das Essen und Trinken anbelangt: da kenne ich Marke. Der Mann war eher klein, ungefähr 58 TANNENSCHÖSSLING die Regeln dazu, was als anständig und wohler- Jahre alt, trug Jeans und ein feuerwehrauto-ro- zogen gilt, seit ich denken kann. Sobald ich nicht tes Hemd, an welchem die obersten vier Knöpfe Ein frühsommerliches mehr mit Brei gefüttert wurde und mir das Essen geöffnet waren. Ihm schien warm zu sein, seine Erfrischungsgetränk! selber in den Mund zu schaufeln begann, als ich Stirne glänzte leicht, und die seitlichen Haare, den Plastiklöffel gegen Messer und Gabel ein- die er sich über die Stirnglatze gekämmt hatte, 1 Kg Tannenschösslinge tauschen konnte – ab jenem Zeitpunkt also soll- klebten an der Haut. Es sah aus, als wäre dies ½ Stk. Zitrone te ich alles Barbarische von mir ablegen und zu nicht das erste Bier, das er sich an diesem Abend ½ Kg Zucker einem zivilisierten Menschen werden der weiss, genehmigte. Er murmelte vor sich hin, in einer 8 Dl Wasser wie man sich bei Tische zu benehmen hat: Man mir unverständlichen Sprache. Was ich jedoch 10 Gr. Zitronenmelisse isst nicht mit den Fingern. Man spricht nicht mit sofort verstand waren die Laute, die er von sich 1 Stk. Passiertuch vollem Mund. Man schlürft und schmatzt nicht. gab, wenn er gerade nicht murmelte: dann rülps- Und wenn einem etwas aufstösst und man rülp- te er. Es war aber kein Rülpsen aus Inbrunst, wie Vorbereitung sen muss (in meinem Luzerner Dialekt sprechen es meine Schulkameraden früher zelebrierten, Tannenschösslinge sammeln und gut waschen. wir vom «Görpsä»), dann hält man sich die Hand und er machte auch kein unschuldiges «Bäu- Zitrone ausdrücken. Zitronenmelisse in Strei- vor den Mund und entschuldigt sich diskret. erchen», wie es Säuglinge tun. Nein, der Mann fen schneiden. Passiertuch nass machen. Im Verlauf meiner Schulzeit jedoch, als bei rülpste unüberhörbar vor sich hin, als benutze meinen männlichen Klassenkameraden das Tes- er diese Laute zum Kommunizieren. In regelmä- Zubereitung tosteron zu wirken begann, bekam das Rülpsen ssigen Intervallen setzte er jeweils zu zwei bis Wasser mit dem Zucker einmal aufkochen. für mich eine neue Bedeutung. Meine Kame- drei Stössen an. Es musste das Bier sein. Im Zug Die Zitronenmelisse und den Zitronensaft raden tranken hastig Coca Cola oder schluck- erhoben sich Köpfe, und Augenpaare suchten dazu geben. Nun Die Tannenschösslinge die ten absichtlich Luft, damit sie lauthals rülpsen nach dem Verursacher des vermeintlich vulgä- ganze Nacht im Zuckersud ziehen lassen. Am und damit ihr Umfeld provozieren konnten. Ihr ren Geräusches. Der Passagier, der dem Mann nächsten Tag den Sud durch ein Tuch passie- Rülpsen tönte für mich wie ein Brunftgesang. gegenüber sass, stand auf und wechselte mit ei- ren. Achtung: Die Tannenschösslinge nicht Ein Zeichen das sie von sich geben mussten um nem angeekelten Gesichtsausdruck den Zugwa- ausdrücken! sondern nur abtropfen lassen, zu signalisieren, Männer und paarungswillig zu gen. Ich hörte die Stimme, meine Kinderstube, sonst wird der Sirup bitter und die ganze Ar- sein. wie sie zu mir sagte: «Der Mann hält sich nicht beit war für nichts. Rülpsen ist laut Wikipedia das Aufstossen mal die Hand vor den Mund. Und entschuldigen von Luft aus dem Verdauungstrakt durch den tut er sich auch nicht. Er ist unhöflich und kennt Tannenschösslinge sind Triebe von Weiss und Mund. Ein roher archaischer Laut, der inhalts- keine Sitten!» — Ich fragte zurück: «Vielleicht ist Rottannen. Sie sind geschützt! Deshalb die los ist und damit so ganz anders, als all die er einer der wenigen Barbaren, die die Zivilisati- Tannen in einer Gärtnerei oder im Fachhan- formulierten Sätze und sorgfältig überlegten on überlebt haben?» – Doch die Stimme schwieg. del kaufen!

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 13 KKultur-Publireportageultur-Publireportage

Sommerakademie ÖFFENTLICHES PROGRAMM (BISHER BEKANNT) 17. August 2010, 18.30h – 19.30h im Zentrum Paul Klee Eröffnung mit Apéro In Anwesenheit aller Fellows, Pipilotti Rist, Dr. Jacqueline Burckhardt, Direktorin Sommeraka- 16.-26. August 2011 demie, Ursina Barandun, Direktorin a.i. Zent- rum Paul Klee / Auditorium, Zentrum Paul Klee Saftig kontaminierter Kreis - Von der Kunst ins Leben und zurück Gastkuratorin Pipilotti Rist 19. August 2010, 18.30h – 19.30h Performance: Pascale Grau Stadtgalerie PROGR Bern hema und Teilnehmende Während der demiezeit mit interessanten Begegnungen und T diesjährigen Sommerakademie erschlies- anregenden Gesprächen! 20. August 2010, 18.30h – 19.30h sen zwölf internationale junge KünstlerInnen Barbara Mosca, Managerin Vortrag: Franziska Dürr und KuratorInnen zusammen mit der renom- Caroline Komor Müller, Assistentin Stadtgalerie PROGR Bern mierten Künstlerin Pipilotti Rist das erweiter- te Themenfeld der Vermittlung. Der Kreis soll Fellows 2011 25. August 2010, 17.00h - 18.30h von der Kunstproduktion über Vermittlung und Dineo Seshee Bopape (Südafrika) Abschlussfeier mit Überblick über die diesjäh- Feedback zurück zur Produktion geschlossen Claire Breukel (Südafrika) rige Akademie und Buchvernissage Publikati- werden. Die Kunstschaffenden suchen diesbe- Pedro de Llano (Spanien) on 2010: Pipilotti Rist, Dr. Jacqueline Burck- züglich den Austausch unter sich und in den Quynh Dong (Schweiz) hardt, Direktorin Sommerakademie, Ursina Workshops 12 meet 12, in welchen diverse Be- Samah Hijawi (Jordanien) Barandun, Direktorin a.i. Zentrum Paul Klee, trachtende die Fellows treffen und Feedback Florencia Malbran (Argentinien / Italien) Jan Verwoert, Gastkurator 2010 abgeben, welches die Fellows wiederum in die Shana Moulton (USA) Auditorium, Zentrum Paul Klee eigene Arbeit einbringen. Dadurch entstehen Mykola Ridnyi (Ukraine) neue Formen der Partizipation. Mika Rottenberg (Israel) Die Sommerakademie ist eine alljährlich Von insgesamt 96 Bewerbungen aus 25 ver- Francisco Sierra (Schweiz) wiederkehrende internationale Plattform für schiedenen Nationen hat die Jury, unter der Di- Peterson Kamwathi Waweru (Kenia) Gegenwartskunst mit themengebundenen rektion von Dr. Jacqueline Burckhardt, 12 Fel- Anna Witt (Deutschland) Workshops und fördert die künstlerische Pro- lows aus 10 Ländern gewählt. duktion und Reflexion sowie deren Vermitt- Vernetzung am Kulturstandort Bern Die Gastkuratorin lung. Sie lädt dieses Jahr zum fünften Mal jun- Sommerakademie legt grossen Wert auf ihre lo- Pipilotti Rist ge KünstlerInnen und KuratorInnen zu einem kale Vernetzung und geht dieses Jahr Partner- zehntägigen Austausch nach Bern ein, um im schaften mit dem Zentrum Paul Klee, mit der Kollaborative Gastkuratorin Kreis ausgewählter Persönlichkeiten zu arbei- Stadtgalerie im PROGR Bern, mit der Kunsthal- Franziska Dürr (Leiterin Lehrgang ten und sich zu vernetzen. le Bern und dem Kunstmuseum Thun ein. Kuverum, Kunsthaus Aarau) Die Aktivitäten der Sommerakademie sind Unter www.sommerakademie.zpk.org finden Bestandteil des Gesamtkonzepts des Zentrum Sie weitere Angaben zu unseren öffentlichen Speaker (bisher bekannt) Paul Klee. Die Stiftung Sommerakademie ist Events. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist Pascale Grau (Zürcher Hochschule der Künste) ein Ausbildungsengagement der BEKB/BCBE frei. Wir freuen uns auf eine spannende Aka- Henrietta Hine (Courtauld Gallery, London) Berner Kantonalbank AG.

14 KKulturessaysulturessays

KULTUR DER POLITIK Oft, scheint mir Von Peter J. Betts ft, scheint mir, scheinen die Tageszeitun- auf Augenhöhe – wobei der Jüngere, wie es sich sofort, dieses Bild ist nicht gestellt. Es ist ein Ogen – mit sehr wenigen Ausnahmen – leer. wohl gehört, etwas nach oben blickt); darunter Bild helvetischer Realität...» Und so enden die Natürlich ist das Zeitungspapier bedruckt und die Bildlegende des Herrn Zurbuchen: «Aus Jun- magistralen Erläuterungen: «...Gedanken zu ei- bebildert und voller Inserate; es stört mich we- gen werden junge Männer: das Sturmgewehr ist nem Bild: Verbundenheit von Volk und Armee, nig, dass die einzelnen Teile nur dünne Bünde nur ein Symbol der Wandlung.» Und all das nur Mann und Frau, eigenständig und doch mannig- sind, es stört mich, dass sie kaum Originäres elf Jahre nach 1968 – man mag fast nicht auf den fach aufeinander angewiesen, Symbol für ein enthalten. Soweit ich beurteilen kann, sind die Globuskrawall warten: er ist überfällig. Die Welt ganzes Volk, Einheit in der Vielfalt, Wille zur Inhalte – soweit welche auszumachen sind – vom ist noch in Ordnung, wie Sie dem Zitat aus dem Leistung, Freude am Leben, Vertrauen in die Layout bestimmt. Traurig macht mich die wach- Fischerlexikon entnehmen können: « ... mit Hil- Zukunft.» Auch 1989 noch kein Mauerfall. Der sende Überzeugung, dass mir scheint, die paar fe der UN wurde nach wechselvollen Kämpfen» Feind – Gorbatschow hin oder her - mit Sicher- Seiten hätten mehr Inhalt, wenn sie völlig un- (nicht in Libyen!) «die Front am 38. Breitengrad heit aus dem Osten kommend. Eines der Haupt- bedruckt daherkämen: ich könnte sie anschau- stabilisiert, der im Waffenstillstand (abgeschlos- geschäfte von Bundesrat Dr. Arnold Koller: Be- en, darin blättern und mir eine Welt entstehen sen 27. 7. 1953) Grenzlinie zwischen Nord- und kämpfen der Volksinitiative zur Abschaffung der lassen über Lokales, Nationales, Globales; über Südkorea wurde. Die Friedenskonferenz in Genf Schweizer Armee. Erfolgreich. Spätestens nach Kunst, Literatur, Musik; über Arbeitswelt, sozi- war erfolglos.» Die Welt war 1979 noch immer den Achtundsechziger-Jahren hätten die beiden ale Strukturen, alles überwuchernden Wachs- in Ordnung: für die beiden jungen Männer im oben skizzierten Pressebeispiele – nicht nur mit tumswahn; Nöte und Hoffnungen von Kindern, Bild kam das Böse mit Sicherheit aus dem Osten der bewusst aufgesetzten Pazifismusbrille gele- Frauen, Männern; meinetwegen auch über die (noch war kein verwirrender Mauerfall erfolgt, sen – tiefe Beunruhigung über den Zustand der heutige Königsdisziplin, den Wirtschaftsteil. Mit noch hatte sie Herr Bush über die Achse des Bö- Gesellschaft, über die Kultur der Politik auslösen meiner Phantasie; dem, was ich weiss; dem, was sen nicht aufgeklärt). Und unter diesem überdra- müssen. Aber wer erinnert sich heute schon an ich wissen möchte; dem, was ich denke; zum matischen Zeitungsausschnitt drei Zeilen, auch Wolfgang Borchert, im gleichen Jahr wie Dür- Teil dem, was ich bewusst oder unbewusst ge- aus der «Berner Zeitung»: «Heute Montag wird renmatt geboren, zehn Jahre nach Frisch? Sein hört habe. So überlese ich die bedruckten Seiten der chinesische Vizepremier seinen Staatsbe- Stück «Draussen vor der Tür» wurde am 20. No- diagonal, und selten macht es: «Klick»; es spielt such in den USA beenden. Die Reise brachte...» vember 1947, einen Tag nach dem Tod des Sechs- (fast) keine Rolle, welche Zeitung mir in die (nichts mehr). Und das klingt nun wirklich hoch undzwanzigjährigen, uraufgeführt. Bis zum März Hände geraten ist, ob Gratiszeitung oder eine aktuell, nicht? Eine andere eindrückliche Foto- 1965 hatte «rororo» das 568-tausendste Exemp- beliebige (sie sind, fast, alle beliebig) am Kiosk kopie mit quadratischem, wenn auch weniger lar in Umlauf gesetzt. Unter den Titel, «Draussen oder im Abonnement erworbene «Zeitung». Ich grobkörnigem Bild? Die Kopie auf der undatier- vor der Tür», hatte der Dichter geschrieben: «Ein weiss, unabhängig vom biologischen Geschlecht: ten Seite des CH-MAGAZINS wird, wohl durch Stück, das kein Theater spielen und kein Publi- «I am no spring chicken.» Ich weiss, im Alter die Redaktion, wie folgt eingeleitet: «IM BILD: kum sehen will.» Keine Koketterie. Das Stück ist «weiss» man: «Früher war alles besser.» Auch Unter diesem Titel bitten wir jeweils eine Per- oft gespielt, sehr oft gelesen worden, und doch, die Zeitungen, natürlich. Und dann hat mir ein sönlichkeit, Gedanken zu einem Bild nach frei- bedenkt man etwa die oben zerfleischten Presse- Gymnasiallehrer, der Deutsch unterrichtet hatte, er Wahl aufzuschreiben.» Das Bild zeigt einen texte pars pro toto oder die aktuellen täglichen ein paar fotokopierte Collagen aus den Sechzi- Soldaten in leichter Uniform ohne (Stahl)Helm, Nachrichten, hatte Borchert über die nachhal- ger- bis Achtzigerjahren zugeschickt. Es sind mit offenem Mund und verschwitzten Haaren, tige Wirkung seines Theaterstückes eine mehr Zeitungsausschnitte, die er im Unterricht zu ver- mit Sturmgewehr am Rücken (sie erinnern sich: als nur zutreffende Einschätzung formuliert. Ein wenden pflegte. Ich erkenne schlagartig: früher ein Symbol!) als kämpferischer Rennfahrer auf Lehrer, habe ich kürzlich in in einer Kontext- war vieles auch nicht besser bei den Tageszei- dem heute zum Kultgegenstand mutierten Mili- sendung auf DRS2 gehört, sei ein Mensch, der tungen. Hätte das Layout damals den Inhalt be- tärvelo mit Rücktritt. Es muss ein heisser Tag Welten öffne. Die Lehrcollagen meines Freundes stimmt, man hätte vielleicht sogar dafür dank- gewesen sein: rechts vom Kämpfer steht am tun dies für mich. Für Sie? Noch ein Beispiel: bar sein müssen. Ein Beispiel aus der «Berner Strassenrand eine jüngere Frau in einer Art ein auf A-4 hinauf vergrössertes Inserat im vol- Zeitung» von 1979? Andreas Zurbuchen titelt: Hotpants, von Bluse befreitem Bauch, mit eher len Wortlaut, graphisch – sinnig gestaltet: Mo- «Heute rücken 16’000 Rekruten ein»; darunter grimmigem Gesichtsausdruck und strähnigen bilmachung 1939 / 50 Jahre danach / Die Metz- ein grobkörniges (der Fotokopierer hat aus dem (vom Winde verwehten?) mittellangen Haaren, gerschaft macht mit beim / Projekt «Diamant». Zweispalter einen Vierspalter gemacht), quadra- in beiden Händen: Gartenschlauch in voller Ak- / Wir offerieren Aktion Freitag/Samstag / 1./2. tisches Schwarz-Weiss-Bild: Kasernenhof (viel- tion. Das Bild muss irgendwann zwischen1986 September 1989 / Siedfleisch / (ideal für Spatz) leicht dort, wo heute Studierende der Hochschu- und 1989 abgedruckt worden sein: in jener Zeit / per kg Fr. 13.- / Aktion 1. - 9. September / Mo- le der Künste rumstehen), schlaffe Schweizer- war Bunderrat Dr. Arnold Koller, der das Bild für bilmachungs- / Schüblig / 1 Paar extra gross Fr. fahne, zwei Männer – in Haltung und Uniform: seine vielsagende Besprechung frei ausgewählt 3.80. Vielleicht, scheint mir nun, ist es besser, rechts ein offenbar etwas älterer mit steifem hatte, Vorsteher des eidgenössischen Militärde- wenn die Zeitungsbünde dünn und dank der un- Hauptmannshut, der einem jüngeren mit beiden partementes. So beginnt die illustre Persönlich- reflektiert heruntergeladenen Dutzendware leer Händen ein Sturmgewehr in dessen vertrauens- keit ihre Auslegung: «Eine Frau erfrischt mit bleiben. Schlechter, als was mit grossem redak- selig ausgestreckten Hände legt (liebevoller Re- dem Wasserstrahl einen von den Strapazen arg tionellem Aufwand hergezaubert wurde, ist es in spekt und heiliger Ernst wird professionell aus- gezeichneten, sich völlig ausgebenden, dem Ziel der Wirkung nicht. gestrahlt, vom Jüngeren und vom Älteren, fast zustrebenden Radfahrer. Der Betrachter sieht es

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 15 1 Woche in der Kulturmühle Lützelflüh

9 bis 12 Jahre Kinder- theaterlager 13 bis 17 Jahre 17. bis 23. Juli 2011 Jugend- (Fr. 536.–) theaterlager 24. bis 30. Juli 2011 (Fr. 536.–)

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LITERARISCHE FRAGMENTE 18 Seit jeher unterwegs Von Konrad Pauli

ie Sechsundachzigjährige, jung verheira- Anspruch gemäss gekleidet, hatte den falschen Erfüllung von Tag zu Tag unwahrscheinlicher D tet, früh geschieden und Alleinerziehen- Beruf, war zu fein oder zu grob, zu umständlich wurde. Und sie blickte den Paaren nach auf der de von zwei Mädchen, im Verlauf des Lebens oder direkt, zu still oder zu laut - und wenn es Promenade, junge, eng umschlungene Pärchen, verschiedene Männerangebote abwehrend, ver- mal einer in die engere Auswahl schaffte, war Eltern mit Kinderwagen, älteren Paaren, Hand bringt mit einer Gruppe ein paar Sommertage er verheiratet. Natürlich mit der falschen Frau... in Hand, hörte auch, wie an Nachbartischen ge- am See. Nicht mehr gut zu Fuss, ist sie dennoch Am See sass die Frau nachmittags plaudert oder auch geschwiegen wurde, aber nicht gebrechlich, kann sich bewegen, schmerz- und am Abend, wartete auf den Sonnenunter- paarweise, zusammen. Und plötzlich tat sich ihr frei sitzen, geniesst ihren guten Appetit. Män- gang, betrachtete das Spiel der Schwäne, hörte ein Abgrund auf, die Gewissheit, in zwei Tagen ner, die um sie warben, ihr ernsthafte Angebote auf das Rumoren der Spatzen im Gebüsch, zog wieder in ihrer kleinen Vorstadtwohnung zu machten, waren die falschen oder nur halbwegs das Getränk in die Länge, bloss, um vom Kellner sein, im Gedanken daran, womöglich doch et- richtigen, jedenfalls fehlte stets Wesentliches, nicht nochmals nach nicht vorhandenen Wün- was verpasst zu haben, umgeben von ihren Sa- das attraktiv genug gewesen wäre, sie einzu- schen befragt zu werden. Nicht alle Wünsche chen, eingepackt in Einsamkeit. fangen. Das Übliche: Der Mann war nicht ihrem hatte sie vergessen. Aber sie wusste, dass ihre

LESEZEIT Befindlichkeitsirritationen behandeln. Le- ist es, was mich bei Knausgard so sehr fas- sen ist jetzt nicht nur schöner, sondern ziniert.» Von Gabriela Wild auch wirkungsvoller! Aktuell im Gespräch Ein weiteres Faszinosum des Buches ist das Buch von Karl Ove Knausgard «Ster- sind meines Erachtens die nahtlosen Über- esen ist ja schon schön. Sehr schön so- ben». Der Norweger erzählt im ersten Band gänge von essayistischen Abhandlungen L gar. Aber manchmal, wenn man so er- eines sechsteiligen Romanprojektes seine zu Erinnerungssequenzen. Beide, Essay, füllt von den Stimmungen und Bildern der Kindheits- und Jugenderinnerungen derart sei es über Tod, Sex oder Kunst, und Erin- Lektüre ist, und weit und breit niemand da, episch, ausschweifend, dass er von Kriti- nerung sind in derselben Genauigkeit ge- mit dem man über das Buch reden kann, kern mit Marcel Proust verglichen wird. schrieben, die aber nichts Penetrantes an fühlt man sich verlassen. Um über den Die Schweizer Schriftstellerin Theres Roth- sich hat. Im Gegenteil, die Gedanken ent- Trennungsschmerz nach dem Ende der Ge- Hunkeler, die von Beruf gerne Leserin falten sich so natürlich, als hörte man ein schichte hinweg zu kommen, um sich von wäre, ist angetan von Knausgards Werk munteres Bächlein plätschern, und wirken dem Buch abzunabeln, braucht es jeman- und hat sich bereit erklärt, über das Buch dennoch nie geschwätzig. Das mag in der den zum reden. Einen Lektüren-Analytiker zu bloggen. Ich meinerseits habe bei der Tat etwas mit Geduld zu tun haben. In Ge- sozusagen, der sich um die Psychohygiene Lektüre sehr gestaunt und mich auch ge- duld und Disziplin übt sich der Erzähler in des Lesers kümmert. freut, dass ein recht junger Schriftsteller ganz alltäglichen Handlungen: «Obwohl der Die Bemühungen, die Geschichte einer zu dieser Art von Erzählen findet. Theres Koffer schwer war, trug ich ihn am Griff. Person zu erzählen, die das Buch nicht ge- Roth-Hunkeler meint: (…) Ich hasste diese kleinen Rädchen, (…) lesen hat, sind immer unbefriedigend. Da «Vielleicht haben wir uns sehr gewöhnt weil sie eine Vorstellung vom Bequemen, bringt man etwas Wesentliches nicht rü- an die bis auf das Gerüst abgemagerten Sät- von Abkürzungen, Einsparungen, Vernunft ber, etwas, das man mündlich nicht, oder ze in der heutigen deutschsprachigen Lite- abgaben, die ich verabscheute und der ich eben nicht so transportieren kann, wie im ratur, an jene schmalen Bände mit knapps- mich widersetzte, wo immer ich konnte, Buch. Also muss der Lektüren-Analytiker ten Erzählungen. (…) Die meisten Men- selbst dort, wo sie am kleinsten und unbe- ein Kenner des Buches sein. Und so legt schen wünschen sich ja spannende Bücher deutendsten war. Warum sollte man in der man sich dann auf die Couch des fachkun- – obwohl ich nie so richtig weiss, was das Welt leben, ohne das Gewicht der Welt zu digen «Lektoriaters». bedeutet. Jedenfalls, weder Proust noch spüren? (…) Und worauf sparte man eigent- Die Leute, die zur selben Zeit dasselbe Knausgard sind in dem Sinne spannend, lich, wenn man seine Kräfte sparte?» Buch lesen, befinden sich äusserst selten dass in ihren Büchern viel passiert. Action Durch das Gespräch mit Theres Roth- am selben Ort. Doch wie praktisch für alles steht eben gerade nicht im Vordergrund, Hunkeler hat sich der Resonanzraum des heutzutage bietet auch hier das Internet sondern eher die Geduld. Sich über kleinste Werkes noch vergrössert und die Lektüre Hilfe an. Ich habe einen Literaturblog auf- Details zu beugen, über winzige Verschie- klingt nach. geschaltet, auf dem erfahrene Leser und Le- bungen, und darüber so zu schreiben, dass Karl Ove Knausgard, Sterben, Roman Luchterhand 2011. serinnen durch die Lektüre hervorgerufene es den Leser noch immer interessiert. Das Literaturblog: www.gabrielawild.wordpress.com

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 17 LLiteratur-Tippsiteratur-Tipps

Holdack, Laura & Otterbach, Elfrun: Mit Lieblingssachen durch das Jahr Munro, Alice: Zu viel Glück – zehn Er- – Basteln für und mit Kindern. Sach- zählungen. S. Fischer Verlag. Frankfurt buch. Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Bolzli, Marina: Innere Enge. Roman. am Main 2011 (Original 2009). Aus Wien 2011. S. 127. Landverlag. Trubschachen. S. 200. dem Englischen von Heidi Zerning. S. ISBN: 978 3 258 60028 4. ISBN: 978 3 9523520-9-0. 363. ISBN: 978 3 10 048833 6.

Schönheit zum Selbermachen Laura Holdack & Elfrun Otterbach: Mit Lieb- Innere und äussere Enge Unter dem Schwert des Damokles lingssachen durch das Jahr – Basteln für und mit Marina Bolzli: Innere Enge. Roman. Alice Munro: Zu viel Glück – zehn Erzählun- Kindern. Sachbuch. gen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning.

h man sich versieht sitzt man mit einem ie Spoken-Word-Poetin Marina Bolzli lice Munro, seit Jahren für den Nobel- E Dreijährigen am Tisch und grübelt ver- D landete mit ihrem Debütroman «Nach- A preis für ihr erzählerisches Werk ge- zweifelt über die beste Technik des Papierflug- hernachher» 2009 einen Achtungserfolg, wel- handelt, bedarf keiner Vorstellung mehr. zeugfaltens. cher mit dem Berner Buchpreis belohnt wurde. In ihrem nun endlich auf Deutsch er- Darauf gibt das bezaubernd gestaltete Buch Hoch waren deshalb die Erwartungen an ihren schienen Erzählband «Zu viel Glück» nimmt «Mit Lieblingssachen durch das Jahr» zwar zweiten Roman. sie sich, bis auf die titelgebende Erzählung auch keine Antwort, bietet jedoch manch an- «Innere Enge» überzeugt mit einer ähnli- um die russische Schriftstellerin und Mathe- dere charmante Anregung, wie sich Nützliches chen sprachlichen Dichte und ist bezüglich matikerin Sofia Kowalewskaja, welche zu- schön gestalten und sich die süssen Kleinen Erzähltechnik noch deutlich vielschichtiger gleich den Endpunkt der zehn Erzählungen (sinnvoll) beschäftigen lassen. Von der Oster- als der Erstling. Die aus Norddeutschland darstellt, dem Schicksal oder viel mehr den dekoration über die Gestaltung des Geburts- stammende Mathilde kommt nach Bern, in die Schicksalsschlägen der «kleinen Leute» an. tagfestes (wahlweise mit Hirschen und Rehen Heimatstadt ihres ehemaligen Geliebten Max. Zumeist ist es kein grosses Glück, wel- oder als Piratenfest inklusive schatztruhenför- Hier quartiert sie sich für unbestimmte Zeit im ches sie ihren Protagonisten zugesteht, viel- migem Geburtstagskuchen), von herbstlichem Hotel Innere Enge ein. Hat man als Leser zu- leicht aber gerade dadurch ein umso authen- Fensterschmuck mittels Stofftasche für Pixibü- nächst noch die Erwartung, dass sie sich auf tischeres. cher, Stundenplan in Magnetform und vielem die Spuren von Max begibt, wird man schnell So schaut die Musiklehrerin Joyce am anderem mehr bis zur Fabrizierung von Ad- eines Besseren belehrt. Auch Sightseeing be- Abend mit Vorliebe durch die hell erleuchte- ventskalendern geleiten uns die begeisterten treibt Mathilde in der Bundesstadt nicht, viel ten Terrassentüren und nimmt teil an den all- Bastelmütter Holdack und Otterbach durch das mehr verbummelt sie ihre Tage in einem Bahn- täglichen Verrichtungen ihrer Mitmenschen, Jahr. Ihre Töchter, denen das Buch auch gewid- hofscafé, wo sie gestressten Bernern beim Es- beobachtet diese beim Kochen oder Fernse- met ist, dienten dabei dankbarerweise als Ver- pressotrinken zusieht und Bekanntschaft mit hen, bei ihren Gesprächen. Auch ihr eigenes suchskaninchen. einem jungen Mädchen schliesst. Das sich Haus hat eine solche Terrassentür und ge- Die Anleitungen sind deutlich besser zu ver- grau in grau präsentierende Bern und die Ma- währt ihr bei ihrer Rückkehr aus der Stadt stehen als bei Ikea, und die Piktogramme auch genverstimmung der Protagonistin – sie lei- einen Blick auf ihr eigenes Leben mit ihrem für noch nicht ABC-Schützen verständlich. Für det unter chronischer Verstopfung, wogegen Mann Jon. Bis dieser sich in die unattraktive Bastelmuffel wie mich sind insbesondere die der ausufernde Konsum von Milchkaffee auch junge Mutter Edie verliebt, die bei ihm eine Motive und Vorlagen auf den letzten Seiten nicht hilft – sind sinnbildlich für ein ungesun- Ausbildung zur Tischlerin macht. Das Glück von grossem Nutzen. Und wer weiss, vielleicht des Festhalten an Vergangenem zu verstehen. bröckelt. War es womöglich zu viel Glück? mausert sich ja noch so mancher Nichtbastler, Vieles will rein, und das meiste offenbar nicht Jahre später, Joyce ist nun zum zweiten manche Nichtbastlerin, wenn nicht zum/zur mehr raus. Die innere Enge ist nicht nur der Mal verheiratet mit dem Neurologen Tom, Bastelkönig/in, so doch zum Begleiter/zur Be- Name des Hotels, sondern Leitmotiv für eine taucht an einer Party die Tochter von Edie gleiterin der lieben Kleinen auf den einst als Frau, die an der Seite des Berners Max nichts auf, und diese hat Joyce in ihrem Debüt als unwegsam empfundenen Bastelpfaden. weniger als die Welt hatte verändern wollen. In Schriftstellerin ein Denkmal gesetzt, ein po- Ich freue mich auf jeden Fall bereits auf der Retrospektive erfahren wir Stück für Stück sitives noch dazu. manche Sternstunde im Bastelhimmel, und der bewegten Vergangenheit Mathildes und So erschafft Munro in jeder ihrer Erzäh- wenn unser Werk auch nicht für die Ewigkeit schwanken zwischen Empathie und Distanz. lungen eine ganze Welt, eine Welt, der das halten wird, so wird es uns doch manch schöne Auch der zweite Roman Marina Bolzlis darf Artifizielle, welches vielen Kurgeschichten Stunde beschert haben. als durchaus gelungen bezeichnet werden, ein- anhaftet, vollkommen fremd ist. Sie lässt zig der Erzählstrang um das junge Mädchen, uns am Leben ihrer Protagonisten teilhaben, welches Opfer einer Vergewaltigung von Fuss- ohne deren Handlungsweisen oder Gedan- ballspielern wird, scheint für die Handlung ken zu werten und ohne den Drang, diese zu doch irgendwie irrelevant. rechtfertigen – wahrhaftig grosse Kunst.

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18 LLiteraturiteratur INSOMNIA

BEHERZTER VERBORGENE ORTE GRENZGÄNGER Von Erika Schumacher Von Eva Pfirter ede Stadt hat wunderbar verborgene Orte r kämpfte gegen die Abstumpfung des J – Orte, die man nur findet, wenn man sie E menschlichen Gewissens, stritt mit seinem nicht sucht. So einen Ort entdeckte ich kürz- Bischof und mit dem Bundesrat, polarisierte und lich auf einer Reise durch Norditalien. Unsere brachte Menschen zusammen. Flüchtlingskaplan dritte Station war das mittelgrosse Städtchen Cornelius Koch (1940 - 2001) setzte sich sein Le- Vicenza, das ich von früher her kannte. Wir ben lang für Solidarität und Menschlichkeit ein, übernachteten in einem mir bekannten stil- für Flüchtlinge, Ausgestossene und Benachteilig- vollen Zweisternhotel mitten in der Altstadt te – vor allem auch dort, wo andere sich nicht en- und plauderten bereits am ersten Abend mit gagieren mochten. der Receptionistin über Restauranttipps. Ob Claude Braun und Michael Rössler erzählen sie uns auch etwas für ein Mittagessen an der das Leben eines Mannes, der als Kind nach dem Flüchtlinge ein, appellierte an das Gewissen von Sonne empfehlen könne? Sie antwortete: «Se Zweiten Weltkrieg aus Rumänien in die Schweiz Kirche und Politik, machte sich mit Reisen in volete qualcosa informale, c’è un ristorante kommt und am eigenen Leib erfährt, was es Konfliktgebieten ein Bild vor Ort, sammelte Geld. self-service.» Meine Reisebegleiterin und ich heisst, entwurzelt zu sein. Cornelius Koch stu- Unter anderem organisierte Koch ein Kirchenasyl verzogen leicht den Mund: So etwas musste diert katholische Theologie, weil ihn die Aussicht in Zürich, gründete ein Flüchtlings-Empfangsbü- es ja dann wirklich nicht sein! Self service in reizt, «Arbeiterpriester» werden zu können. Er ro in Como-Ponte Chiasso und drang auf Solidari- Italien – eine furchtbare Vorstellung. war Vikar einer Schweizer Kirchgemeinde, als er tät mit Sans-Papiers in Fribourg. Am nächsten Mittag spazierten wir auf der dem Appell sozial engagierter Jugendlicher folgte, Widrige Umstände hinderten ihn nicht. Er bot Suche nach einem feinen Teller Pasta durch für Arbeitslose und Streikende einzustehen, die ihnen die Stirn, überschritt festgelegte Grenzen Vicenza, begutachteten hier ein Ristorante sich im Elsass gegen die Schliessung ihrer Fabrik zwischen Staaten, sozialen Rängen und in den und da eine Trattoria, aber nichts überzeugte auflehnten. Der Kirche warf er vor, sich zu wenig Köpfen, stand oft quer in der politischen Land- uns so richtig. Blasse Touristen verschlangen klar auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. schaft. Seine Aktionen erregten Aufsehen, gin- – am Mittag! – bleiche Pizze, und die Speise- Der Konflikt war vorprogrammiert. 1973, nur fünf gen durch Presse und Fernsehen. Der offiziellen karten listeten weder originelle noch regio- Jahre nach seiner Priesterweihe, wurde Corneli- Flüchtlingspolitik – die Schweiz solle sich den nale Gerichte auf. Gewillt, ein Ristorante zu us Koch von der Bischofskonferenz «für soziale Flüchtlingen möglichst unattraktiv präsentie- finden, in dem die Vicenziani zu Mittag as- und humanitäre Arbeiten freigestellt». So wurde ren – stellte er seine Vision einer solidarischen sen, verliessen wir die Piazza Principale und er statt Arbeiterpriester Flüchtlingskaplan und Asylpolitik entgegen: «Statt den Rassismus noch sahen bald keine Touristen mehr. Hinter einer «Freelancer Gottes», wie er sich selbst bezeich- mehr zu schüren, sollte der Bundesrat die Bevöl- Chiesa, in einer unscheinbaren Ecke, sassen nete. kerung dazu aufrufen, die Flüchtlinge privat bei Jung und Alt an Holztischen an der Sonne. Die Autoren, langjährige Freunde und Mitar- sich aufzunehmen.» Das sei humaner und spare Kein Tourist weit und breit. Drinnen herrsch- beiter von Cornelius Koch, haben für ihr Buch auch viel Geld. «Man müsste den Leuten einfach te ein herrliches Durcheinander: dampfende Berge von Archivmaterial durchforstet, Tage- sagen: Öffnet eure Wohnungen! Teilt mit ihnen Pastateller wurden an uns vorbeigetragen, buchnotizen, Solidaritätsappelle, Zeitungsartikel euren Lebensraum!» Nonne debattierten über die örtliche Politik, und Bücher gelesen, Radiosendungen angehört Dass dies möglich ist, zeigte sich schon 1973. und ein junger Koch stand souverän mit ei- und Fernsehbeiträge gesichtet. Sie interviewten Gemeinsam mit der Jugendbewegung Longo ner riesigen Holzkelle in einer kleinen Kü- Menschen, die Koch gekannt hatten – Verwandte, Mai rief Koch die «Freiplatzaktion» ins Leben, che und überwachte vier sprudelnd kochende Unterstützer, Flüchtlinge und viele andere – und die nach dem Pinochet-Putsch rund 3000 Chile- Pastapfannen. Ein weisshaariger Signore lä- tauschten mit ihnen Erinnerungen und Erfahrun- Flüchtlinge in die Schweiz holte – gegen den Wil- chelte uns entgegen – vor ihm türmten sich gen aus. Das Resultat ist Biografie und Zeitge- len des Bundesrates. Schüsseln mit Pollo al forno, Verdure miste schichte zugleich. Das Buch erzählt das Engage- Kaplan Koch blieb rastlos und beharrlich bis und Insalata. Auf einer Tafel stand «Penne ment eines Weltbürgers, für den Grenzen dazu da zuletzt. Im Sommer 2001 hatte er sich noch vom all’Amatriciana 3,75 Euro». Wir waren im Pa- waren, sie zu überwinden, und beleuchtet über Krankenbett aus für die kollektive Regularisie- radies gelandet! Wir liessen uns zwei Portio- einen Zeitraum von 30 Jahren (1971 - 2001) die rung der 150’000 bis 300’000 Sans-Papiers in nen Pasta geben, danach Verdure miste und Schweizer Asyl- und Ausländerpolitik, und die der Schweiz eingesetzt. Insalata und verspiesen alles an der Sonne. Basisbewegung von BürgerInnen für die Flücht- Es herrschte herrlicher Friede in dieser tou- linge. Die Autoren lesen Passagen aus dem Buch: ristenfreien Nische. Neben uns sassen gut- Auf die Kindheits- und Jugenderinnerungen Sonntag, 5. Juni,16.30 h, in Biel aussehende Avvocati in dunklen Anzügen, – die Abschrift einer Tonbandaufzeichnung mit www.buechermesse.ch Studenten und Pensionierte. Es war ein wun- Cornelius Koch von 1994 – folgen seine Studien- derbarer Ort; echt, bodenständig, italienisch. und Wanderjahre und detaillierte, anschauliche Samstag, 25. Juni, 15 h, in Zürich Und die Pasta schmeckte hervorragend. Erst Berichte über zahlreiche Solidaritätsaktionen. Im www.resos.ch als wir nach dem Zahlen das Lokal verliessen, Lauf der Jahre baute Koch ein weit verzweigtes sahen wir das kleine hölzerne Schild über Netzwerk privater Flüchtlingshilfe immer weiter Braun, Claude und Rössler, Michael: Ein unbequemes Leben. dem Eingang: Righetti – Ristorante Self Ser- aus. Zusammen mit seinen Mitstreitern setzte er Cornelius Koch, Flüchtlingskaplan. Biografie und Zeitge- vice. schichte. Zytglogge-Verlag, Bern 2011. sich für kurdische, tamilische und jugoslawische ISBN 978-3-7296-0819-1 / S. 372

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 19 TTanzanz & TheaterTheater

TANZ SILK

Interview von Lukas Vogelsang Foto: zVg.

Das neue Tanzprojekt von Dakini durch die Begegnung mit Christoph Lauener wann Menschen etwas entspricht oder nicht. Dance ist dem Thema Schönheit und doppelt so schön, weil ich sein Gefühl für Aes- Ich glaube, es gibt so etwas wie archetypi- Liebe gewidmet. Susanne Daeppen thetik in der Kunst teilen kann. sche Schönheit, wie z.B. ein Sonnenaufgang, und Christoph Lauener tanzen ein Du- Wenn ich an zeitgenössische Kunst oder ak- eine Mondnacht, ein strahlendes Lächeln, eine ett in einem Raum voller Poesie, Licht, tuelle Tanzproduktionen denke, die ich gese- leuchtende Farbe, Sternenhimmel, angenehme hen habe, hat es mir zu wenig Schönheit. Aus Klänge. Klang, Farben und dem typischen Da- diesem Grund kreiere ich sie selbst, um auch CL: Schönheit ist in seiner Definition so kini-Merkmal: Der Langsamkeit. auf dieser Ebene «unser» Publikum zu berüh- vielfältig wie es Individuen gibt. Wir brauchen ren. Schönheit nicht zu verallgemeinern. Kunst, in hr schreibt in einer Kurzbeschreibung: CL: Schönheit zeigen, Schönheit fühlen, welcher Form sie sich auch ausdrücken mag, I «Wenn Schönheit wieder ein Bedürfnis ge- Schönheit schenken. Wer trägt Bedürfnisse lebt von diesem individuellen Empfinden. worden ist.» Was versteht ihr unter Schönheit dieser oder ähnlicher Art nicht in sich? Wenn Musik, Klang, Farben – spielt ihr mit Kli- und Bedürfnis? ich mich den Schönheiten dieser Erde widme, schees, oder welche Inspirations-Quellen habt SD: Die Worte von Meret Oppenheim ha- fühle ich mich glücklich. Der Ausstrahlung ei- Ihr hinzugezogen? Gibt es Thesen, die ihr be- ben Resonanz in mir, weil ich mich durch den nes Bildbandes erliegen, sich musikalischen arbeitet? Butoh-Tanz auch über lange Zeit bewusst dem Leckerbissen hingeben, kleine Kostbarkeiten SD: Nein, wir versuchen «Klischees» sicher «Unschönen» gewidmet habe: dunklen Gefüh- aus der Natur beobachten... Glücklich-Sein, ja, zu vermeiden. Wir wären sonst nicht mit dem len in mir, Aggressionen, aesthetisch auch in da geb ich dem Bedürfnis nach Schönheit sei- Butoh unterwegs, denn der Butoh versucht der Bewegung mich Knorrigem zugewendet nen Raum. Muster zu sehen und zu durchbrechen. Es habe, das als unschön bezeichnet wird. Dehalb Kann man Schönheit verallgemeinert defi- braucht für mich aber auch einigen Mut zu dem ist es für mich ein Bedürfnis ins Lichtvolle, nieren? was wir mit SILK tun: denn wir haben bewusst Leichte zu kommen, aber auch mein Gefühl SD: Ich glaube nicht. Jeder und Jede hat an- rockigen/bluesigen Gitarrensound, der ein Kli- für Aesthetik künstlerisch auszuleben. Das ist dere Ansichten. Und doch glaube ich zu fühlen, schee sein könnte. Wir sind bewusst in einer

20 ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 TTanzanz & TTheaterheater sanften Bewegungssprache unterwegs, wollen des Menschen Feind behandelt wird, wenn Ge- somit richtig. SILK ist kreiert worden, weil männlich und weiblich Stereotypisches auflö- schlechterkampf ein unbekanntes Wort ist, weil der Wunsch von Susanne auf den Wunsch von sen. Für mich geht es in SILK auf allen Ebe- auch die in den Männern vorhandenen Eigen- Christoph traf. Die Frage zu anderen Tanzpart- nen um Einfachheit, Reduktion auf die Essenz. schaften – Gefühl, Gemüt, Intuition – voll einge- nern in Bezug zu SILK erübrigt sich für mich. Das ganze ist für mich wie in der Alchemie: es setzt werden und gleichzeitig das weibliche Ge- Die Langsamkeit im Tanz findet bei Dakini kommt auf die Mischung an. In unserem Fall: schlecht seinen wichtigen Beitrag zur Erhaltung Dance den Ursprung im Butoh, einer japani- wie setzen wir Bekanntes und Unbekanntes zu- und Entwicklung der Menschengesellschaft er- schen Tanzform. Was ist bei SILK noch Butoh sammen? Und das ergibt unsere Sprache, das bringen kann, wenn Komfort nicht mehr mit Kul- und wo ist es eben mehr Dakini Dance? Gibt es ergibt SILK! tur verwechselt wird, wenn Schönheit wieder ein da eine klar erkennbare Grenze? CL: Wir sind unseren Intuitionen gefolgt. Bedürfnis geworden ist – dann werden Dichtung SD: Es gibt keine Grenze. Nur Inspiration Wir führten keine Diskussionen über den Farb- und Künste von selbst wieder ihre Plätze ein- durch Butoh. Ich habe alle Tanzstile, sobald raum – wir waren uns klar, dass es ein Blau- nehmen. Wenn auch der Schleier der Sehnsucht ich sie erkannt habe, versucht wieder aufzu- raum wird. Wir führten auch keine Diskussi- immer über ihnen liegen wird, wie ein ewiges lösen. Es langweilt mich schnell. Mein Wunsch on über Musikstil und Instrumentierung – wir Versprechen.» Da ist Geschlechterkampf ein war, mich authentisch und ehrlich zu bewegen; wünschten uns die elektrische Gitarre, in wel- Thema. Ist das heute noch aktuell? nicht nur physisch, was ja heute zum Glück chen Färbungen auch immer. Gelassen begeg- SD: Aber sicher; vielleicht nicht mehr ganz viele Bewegunsgrichtungen realisiert haben, nen statt denkend suchen, Erfahrungsschät- so als Kampf, aber sicher in versteckten, kul- eben auch emotionell und in Verbindung mit ze zusammenfügen, kombiniert mit Offenheit turell bedingten und überlieferten Mustern. dem Seelischen durchschaubar zu sein. In an- für neue Begegnungen mit Künstlern anderer Es dauert noch eine Weile bis Frau und Mann deren Worten – keine Show. Sparten, voilà. wirklich Mensch sein dürfen. Wir lösen in SILK ab und zu die Langsam- Schönheit und Liebe – es klingt im ersten Aber das bräuchte sicher ein Interview nur keit auf. Das gab lange Gesichter bei denjeni- Augenblick sehr esoterisch. Was wollt ihr bei mit dieser Thematik. gen Zuschauern, die uns nun schon wieder in den Zuschauern bewegen? Wen wollt ihr errei- In SILK wollten wir bewusst keine Bezie- eine «Schachtel der Langsamkeit» packen woll- chen? Was wollt ihr mitgeben? hungskonflikte tanzen; denn das haben wir ten. Ich mag es, Erwartungen nicht zu erfüllen. SD: Schon nur, dass Schönheit und Liebe jetzt in den letzten Jahren bis zur Genüge im Und genau das kann man mit Christoph Laue- esoterisch sein sollen, motiviert mich, SILK zeitgenössischen und klassichen Tanz gese- ner wunderbar! immer wieder zusammen mit Christoph mit ei- hen. Christoph Lauener und ich fragen in SILK Wir haben auch viel Spass im Kreieren. Und nem Publikum zu teilen. Warum soll das eso- nach dieser Möglichkeit, als weibliches oder in SILK darf auch mal gelacht werden, inmitten terisch sein? Nach meiner Meinung ist es das, männliches Wesen einfach Mensch zu sein. der Tiefe der Themen. was wir heute in dieser Gesellschaft v.a. brau- CL: Susanne hat auch in meinem Sinne ge- CL: Ich antworte gerne mit einem Beispiel: chen. Unsere Gesellschaft hat viel Lebensfeind- antwortet. Unsere Intuition, unser klarer Wunsch war liches, und an menschlicher Wärme verloren. Der Tanz ist schlussendlich die tragende es, auch Passagen «synchron» zu tanzen. Syn- Ich will die Menschen berühren mit unse- Kunst in dieser Performance. Ihr seid auch chronität beisst sich mit Butoh, dem formlosen rem Tanz. Mitgeben will ich eben Schönheit privat ein Paar. Wäre es möglich, diese Berüh- Tanz. Trotzdem tanzen wir unseren Wunsch, und Liebe, die aus mir als Künstlerin heraus- rungen und diese Innigkeit mit einem fremden und gerade diese synchronen Momente berüh- strömt. Partner oder einer Partnerin zu erreichen? Und ren uns tief. Kein Grund, darauf zu verzichten, Tanz ist eine Kunst des Moments: wenn es wie fühlt sich das an, diese Partnerschaft auf oder? mir gelingt mich zu öffnen für das Publikum, der Bühne den Zuschauern zu präsentieren? Nach dieser Produktion: was bedeutet die meinen Tanzpartner und den Inhalt unserer SD: Für mich ist es eine lange Vision, die Farbe Blau für euch beide? Performance, wird eine grosse Kraft frei. Wir sich erfüllt hat in der Begegnung mit Chris- SD: Sich unendlich auszuweiten. Wie im sprechen ein Publikum an, das nicht konsumie- toph Lauener. Es ist eben so grenzenlos wie Blau des Meeres oder des Himmels. Es ist ein ren will, sondern ein aktiver Teil des Gesche- der Butoh selbst, oder wie ursprüngliche Kunst Trip, in unserem Blauraum der Bühneninstalla- hens ist, das wir mit SILK inizieren. aus matriarchalischen Kulturen: das Leben ist tion zu tanzen. Nach den 8 Vorstellungen, die wir seit Be- Kunst und Kunst ist Leben, es gibt nicht diese Die ganze Zusammenarbeit mit dem Ma- ginn unserer Tournee hatten, weiss ich, dass es Trennung. Das gefällt mir an unserer Begeg- ler Joerg Mollet, der Lichtdesignerin Brigitte so geschehen ist. Menschen gehen angenehm nung, denn wir surfen auf allen Ebenen und Dubach und der Kostümmacherin Carla Prang und berührt aus der Performance nach Hause. teilen es in unserem gemeinsam gewählten ist ein kreativer Glücksfall für Christophs und CL: Es ist Zeit, den zerstörerischen Kräften, Rahmen, was eben SILK geworden ist. meine Vision von SILK. welche in der multimedialen Welt von heute Wir teilen Intimität mit dem Publikum, weil CL: Der Blauraum ist zum beseelten und (zu) viel Präsenz haben, mit Schönheit und Lie- wir etwas Archaisches – was alle Menschen auf vertrauten Raum geworden. Blau birgt für mich be zu antworten. Wenn ich deshalb als «esote- der seelischen Ebene kennen – berühren. Das ein «nach-Hause-Kommen». Blau beruhigt so risch» eingestuft werde, muss mich dies nicht finde ich ist auch der Sinn einer spirituellen schön – und hat mir Gelb erschlossen. kümmern: Denn Schönheit und Liebe ist uni- Kunst. So sehe ich das was wir tun.Wir sind als versell und bedarf keiner Kategorie. Künstler ein Kanal, durch den das was sowieso SILK ist eine Einladung an alle. Das Thema in der Gesellschaft schlummert durchfliessen klammert niemanden aus. Wer der Einladung will. SILK ist eine Essenz von unserem Erleb- Vorstellungen ins Theater folgt und wer nicht, liegt nicht in ten und unseren Beobachtungen. 24./25. (20:00h) und 26. Juni (11:00h und meinem Ermessen. Wir wollen nachhaltige Bil- CL: An der Seite von Susanne zu tanzen ist 17:00h) Votragssaal der Hochschule für Gestal- der mitgeben, archaisch-simpel und für sich ein Genuss! Wir vertrauen einander in der Be- tung und Kunst in Zürich Ausstellungsstrasse sprechend. Wer eine Story im Inhalt sucht, der wegungssprache und wissen ob unserer Pro- 60, Zürich möge suchen. Wer analysieren will, möge ana- fessionalität. SILK tankt uns jedes Mal von lysieren. neuem auf. Nicht, dass wir nicht selbstkritisch Weitere Tourdaten im Herbst 2011. Ihr habt ein Zitat von Meret Oppenheim oder gar überheblich wären, aber die Tanz- verwendet: «Wenn die Natur nicht mehr als kunst, die wir zeigen, ist für uns stimmig und www.dakini-dance.ch / www.eagle-motion.ch

21 TTanzanz & TTheaterheater CARTE BLANCHE Gessnerallee 2014 Von Ted Gaier und Julian M. Grünthal - Ein paar unhermetische Gedankenanstösse mit Aufruf zu Widerspruch und Ergänzung Wir haben am 15. Mai 2011 die Akti- dieser Strukturen in eine Machtposition wie die sondern auch im «wirklichen» Leben zu leben. onsgruppe Gessnerallee 2014 gegrün- Leitung der Gessnerallee zu kommen, im Glau- Und das geht nur in neuen Strukturen. Und auch det mit dem Ziel, die freie Tanz- und ben, von dort oben dann die Strukturen ändern für die müssen wir Visionen entwickeln und um- Theaterszene zu mobilisieren und zu zu können. Aber dann stellt sich heraus, dass setzen. (...) einer gemeinsamen Vernetzung und das in letzter Instanz gar nicht gewollt ist. Und Companieros und Companieras della miseria! dass auch andere hochqualifizierte Bewerber aus Die freie Szene sind wir. Lasst uns, die Kunst- kulturpolitischen Einflussnahme zu Gründen abgelehnt werden, die darauf schliessen produzentInnen, entscheiden, unter welchen Be- motivieren. Ziel ist eine Neustrukturie- lassen, dass Innovationen für die Gessnerallee dingungen wir Theater machen wollen! Lasst uns rung des Förderwesens weg vom Pa- gar nicht gesucht werden. Das löst schon grosses für würdige ökonomische und soziale Produk- tronats- oder Intendantenmodell hin persönliches Unbehagen aus. tionsbedingungen kämpfen! Lasst uns unsere zu einem Modell der Selbstverantwor- Aber dann merkt man, dass es verdammt vie- Kompetenzen zusammenschmeißen! (…) Gönnen tung mit flachen Hierarchien. Und das len so geht. Ganz viele spüren dieses Unbehagen, wir uns keine Bequemlichkeit mehr! Epizentrum dieser Neustrukturierung dass an den Strukturen grundsätzlich was nicht Lasst uns aus dem Theaterhaus Gessnerallee stimmt. Und da kamen wir zur Erkenntnis, dass etwas besseres machen als ein prekäres Ausbil- ist für uns ganz klar das Theaterhaus die Anpassung an die Strukturen offenbar nicht dungscamp für das Stadttheater. Oder eine Gna- Gessnerallee. der Weg sein kann, diese zu verändern. Sondern denbrotanstalt für jene, über die man mitleidig die Veränderung muss von der Basis kommen sagt, sie hätten es halt nicht geschafft in die in paar Worte zur aktuellen Situation in der und von ihr gewollt sein. Wir müssen eine Soli- großen Häuser. Weg mit den verinnerlichten Hie- E Gessnerallee: Niels Ewerbeck verlässt das darisierung der zersplitterten freien Szene errei- rarchien und dem Geschiele auf die Stadttheater. Theaterhaus Gessnerallee, um das Künstlerhaus chen, damit Vertreter der freien Szene ernst ge- Die freie Szene ist nicht die 2. Liga. Wenn wir Mousonturm in Frankfurt zu leiten. Die zwei am nommen werden und so ein Strukturwandel hin daran glauben, dass wir Dinge auf eine neue Art Haus arbeitenden Dramaturginnen Catja Löpfe zu flacheren Hierarchien erkämpft werden kann. verhandeln können, brauchen wir auch kein Pat- und Gunda Zeeb – die das Haus nun fast eine Und deshalb haben wir das Manifest «Gessne- ronatswesen und keine Indendanzen alter Schule ganze Saison lang interimistisch leiten werden rallee 2014 – Systemwechsel Now» verfasst, das mehr, egal wie menschlich der Patron im einzel- – haben sich auch für die Theaterleitung bewor- nach fünf Tagen schon fast von 130 Leuten unter- nen auch sein kann. ben, sind aber bereits früh aus dem Bewerbungs- zeichnet wurde. Freies Theater sollte frei sein von festgelegten verfahren ausgeschieden. Für den Verbleib von Hierarchieformen. Unterschiedliche Inhalte be- Löpfe/Zeeb hatte sich eine Gruppe von Theater- Auszüge aus dem Manifest im Wortlaut: (Kom- nötigen variable Macht- und Produktionsformen, schaffenden eingesetzt, die mit einer Petition an plette Fassung unter www.gessnerallee2014.com) nicht nur innerhalb der einzelnen Produktionen, den Theaterrat gelangt sind. Die Aktionsgrup- Gessnerallee 2014 - Systemwechsel now sondern auch in Bezug auf die Leitungsstruktur. pe Gessnerallee 2014 unterstützt diese Petition, Das Gegrummel, das durch die freie Thea- Darin liegt die Chance und die Freiheit des freien stellt aber mit ihrem Manifest noch grundsätzli- ter- und Tanzszene der Schweiz geht, wird lauter. Tanz- und Theaterschaffens. chere Fragen. Über 50 Theaterschaffende sind am 12. Mai in Lasst uns deshalb auch die Forderung nach Auch Samuel Schwarz, Mitglied der Aktions- die Öffentlichkeit gegangen um die formal viel- Stop des Wahlverfahrens und der Verlängerung gruppe Gessnerallee 2014, hatte sich zusammen leicht korrekte Entscheidung über die neue The- der Interims-intendanz von Catja Löpfe und Gun- mit Heike Albrecht (Sophiensäle) um die Leitung aterleitung des Theaterhauses Gessnerallee an- da Zeeb unterstützen – dies erstens, um zu ver- der Gessnerallee beworben. Ein wichtiger Punkt zuzweifeln. Täglich werden es mehr. Wie gesagt, hindern, dass qualifizierte Leitungsteammitglie- dieser Bewerbung war das Bekenntnis zu einem es grummelt. der des Theaterhauses sofort den Job verlieren, Strukturwandel hin zu mehr Einbindung der frei- In die Programmrichtlinien der Gessnerallee nur weil ihr Chef einen Karrieresprung macht, en Szene und zu offeneren Strukturen in der Ges- vom 9. November 1988 wurde dereinst unter dem zweitens, um die Verdienste und Bemühungen snerallee. Diese Bewerbung wurde schliesslich in Punkt «Philosophie des Hauses» geschrieben: von Catja Löpfe und Gunda Zeeb zu würdigen, der Endrunde – in der nur noch zwei Kandidatu- «Das Theaterhaus Gessnerallee erfüllt den die einen spürbaren Neuanfang lancierten und ren im Rennen waren – unter etwas fragwürdigen Auftrag neue Experimente und Tendenzen des drittens, um Zeit zu gewinnen. Umständen abgelehnt. Die Idee, dass das Haus in Zürcher und schweizerischen Theaters zu för- Lasst uns die kommenden 3 Jahre nutzen, um enger Mitarbeit mit den Gruppen programmiert dern mit öffentlichen Geldern. Damit übernimmt uns in einem großen für alle offenen, lustvollen wird, war dem Theaterrat zu revolutionär. Das das Theaterhaus den öffentlichen Auftrag und Diskussions-Prozess darüber klarzuwerden, wie Modell, das favorisiert wird, ist die Weiterfüh- den Versuch einer kulturellen Forschungsarbeit» wir mit dem Theaterhaus Gessnerallee zu Struk- rung des «courant normal». Kulturelle Forschungsarbeit? Derartige, ur- turen kommen, in denen wir uns alle besser wie- Trotzdem ist uns nun wichtig, dass wir die sprünglich wohlgemeinte Begriffe kennen wir derfinden (…) Gründung der Aktionsgruppe 2014 nicht als doch nur noch aus dem Förderantrags-Kauder- Und jetzt? Die Idee ist nun nicht, dass wir Trotzreaktion auf die Ablehnung dieser Bewer- welsch (…) in diesem Artikel mit einem weiteren Manifest bung in der letzten Runde verstanden wissen Denn eigentlich bedeutet «kulturelle For- nachdoppeln wollen. Das «Ensuite» hat uns ge- wollen. Klar, es war sehr frustrierend. Es wird schungsarbeit» (...) mehr, als uns und unsere fragt, ob wir die Möglichkeit nutzen wollen, unse- viel Mühe aufgebracht und versucht, sich den be- Gesellschaft zu erforschen, nämlich Visionen zu re Gedanken zu dem Manifest etwas zu erläutern. stehenden Strukturen anzupassen, um innerhalb entwickeln und diese nicht nur auf der Bühne, Diese Gedanken sollen locker und auch etwas

22 ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 sprunghaft sein, es geht nun um den Beginn ei- Stadttheater ausleveln. Mehr Geld für die freie etwas verändern zu können, und im Endeffekt nes lockeren Gedankenaustausch, der letztlich Szene und gleichzeitig flachere Gehaltshierarchi- hat es nichts gebracht als ein Skandälchen hier aber zu konkreten Massnahmen führen soll. en. Und überhaupt flachere Hierarchien bei grös- und da, aber keine strukturellen Veränderungen. Das erste, was jetzt zu tun ist, egal, ob nun serer Verantwortung für jeden einzelnen. Es ist schlicht so: Alleine sind wir nicht stark ge- der neue Leiter der Gessenrallee Anfang dieser Aber wie gesagt, um solche Forderungen stel- nug. Und nun hoffen wir, dass unser Manifest der Woche gewählt wird oder nicht, ist die Einberu- len zu können und durchzusetzen, muss die freie Funke ist, der die freie Szene entfacht, aufzuste- fung einer Vollversammlung der freien Schweizer Szene sich untereinander besser vernetzen, um hen. Wenn sich aber keine Mitstreiter finden, die Tanz- und Theaterszene. An dieser Versammlung aus einer starken gemeinsamen Position heraus sich auch zu exponieren bereit sind, dann kann geht es darum, die Bedürfnisse der Freischaffen- kulturpolitisch agieren zu können, anstatt weiter die ganze Sache natürlich nur scheitern. den zu formulieren und klare Forderungen, was nur hoffend und mäkelnd zuzuschauen. Halt, stop, nicht jetzt schon wieder nörgelig sich verändern muss, herauszukristallisieren. Was ist eine mögliche Zukunft der Gessne- werden!! Denn natürlich glauben wir im Herzen Beim Schreiben unseres Manifestes hatten rallee? Wir müssen Ideen entwickeln, denn wie fest an das riesige Potential, das in der Organi- wir einige Diskussionen, ob das alles nicht zu langweilig ist sie geworden, diese freie Szene! sation und Politisierung der freien Szene steckt. hippiesk klingt. Und natürlich haben wir Begriffe Wie wenig atmet sie noch den Geist der Freiheit, Die wichtigste Frage dabei ist: Wie geht es wei- wie «Lustvoller Diskussions-Prozess» mit einem das Betriebsnudeltum hat sie vom Stadttheater ter mit der Gessnerallee? Es scheint die Zeit für leicht verhaltenen Grinsen geschrieben, denn geerbt – nicht aber dessen finanzielle Mittel. Die mutige Ideen und Konzepte gekommen zu sein, selbstverständlich wissen wir, dass die Veran- freie Szene ist zum grössten Teil nicht mehr sexy. denn wir haben es probiert mit moderaten, zwin- staltung einer Vollversammlung nicht nur lust- Höchstens noch für die, die an der Macht sind. gend notwendigen Änderungen, und schon die voll sondern auch eine saumässig aufreibende Und da es ja nicht so ist, dass wir nicht alle gern waren dem Theaterrat zu extrem, d.h. es muss Sache ist. Aber wir müssen eben jetzt alle etwas ein wenig sexy wären, müssen wir diese Macht nun lauter und frecher gedacht werden, und die investieren und den Arsch hochkriegen, wenn verteilen! Damit es auch immer mal wieder Spass untrainierten Vorstellungsmuskeln für Utopien sich etwas ändern soll. Und darum sehen wir macht. müssen sich wieder warmlaufen, Himmel, das diesen Weg als den ehrlichsten und erfolgver- Wenn das aber nicht klappt und die freie Sze- kann doch nicht so phantasielos weitergehen! sprechendsten. Somit ist, was im Manifest Ges- ne es nicht hinbekommt, sich zu organisieren und (Dieser Text erfüllt keinen Anpruch auf Vollstän- snerallee 2014 teils hippiemässig anmutet, keine in Austausch zu gehen, dann kann man die Ges- digkeit und Kohärenz.) Naivität, sondern ein gewollter Rückverweis auf snerallee in 10 Jahren gern zu einer Eventgastro- die Wurzeln der Gessnerallee, auf eine Zeit, in nomie umbauen. Denn dann hätte die freie Sze- der ein «Spirit» herrschte, in dem undenkbar ge- ne ihre Legitimation als Alternative zum festge- Infos: [email protected] wesen wäre, dass die Gessnerallee eines Tages fahrenen Stadttheatersystem verloren. Das wäre zum Durchlauferhitzer der grossen Häuser wird schlimm. Und wenn wir ganz ehrlich sind: Wir Ted Gaier und Julian M. Grünthal für die – und zur neoliberalen Versuchanstalt für authen- wissen, dass wir uns mit diesem Manifest ziem- AKTIONSGRUPPE »GESSNERALLEE 2014 tizitätssüchtige Juroren. lich aus dem Fenster lehnen. Und natürlich haben (Ted Gaier, Julian M. Grünthal, Meret Hottin- Die freie Szene ist flexibler als die Stadtthe- auch wir Angst, dass die Ziele nicht erreicht wer- ger, Wanda Wylowa, Samuel Schwarz, Philipp ater. Das ist ihr Potential. Aber wir müssen die den. Und wir wissen, dass auch wir in den letzten Stengele) Finanzierungsgefälle zwischen freier Szene und Jahren immer wieder fest daran geglaubt haben,

ier ein paar Ideen, locker hingeschmis- Keine «konventionellen» DramaturgInnen Szene (z.B. Gruppendelegierte & Delegierte der H sen, unflätig und zu ergänzen: mehr, die bloss von aussen draufgucken, freischaffenden Einzelkünstler als gemeinsa- ohne mitverantwortlich zu sein. Wir brauchen mes Leitungsteam).  Das Haus abschaffen und die Gelder kom- Mitspieler&Mitautoren als DramaturgInnen.  Gleicher (Stunden)Lohn für alle Angestellten plett in die freie Szene schütten: Die 1,85 Mio, Wir müssen einen Pool von solchen schaffen, der Gessnerallee. (Kollision mit Gewerkschaf- die die Gessnerallee verwaltet, von denen 1,2 aus dem dann die Produktionen, die ihre Dra- ten? Los, Gegenargumente gesucht!) Gleicher Mio für Fixlöhne, 500’000.- in Gagen und maturgInnen nicht eh selber mitbringen, den/ Lohn für gleiche Arbeitszeit. Bzw: alle kriegen 150’000.- in Koproduktionsbeiträge gehen, die genau richtigen bekommen, bei dem/der soviel wie der Tontechniker (Keine Kollision definieren ein zu starkes Gehalts- und Macht- die Wellenlänge auch menschlich und inhalt- mit Gewerkschaften!). gefälle zwischen Festangestellten und Freien. lich stimmt. Die Dramaturgische Gesellschaft  Prinzip Agentur/Indie-Label Gessnerallee: 1.85 mio = 13 sehr gut finanzierte Produkti- hat nichts zu suchen in der freien Szene, und «Gessnerallee» als Label, das sich mit um den onen. Die Idee ist auf den ersten Blick nicht ihr Einfluss und ihre Diskussionen sollten uns Vertrieb/die Tour der einzelnen Produktionen schlecht. echt nichts kümmern. Intelligenz ist etwas aus- kümmert. Schluss mit dem Kuratorentum. Wir Aber OK, sie hinkt trotzdem ein wenig, es sersprachliches. Theater ist eine eigene Wis- sind unsere eigenen Kuratoren. Die Gessneral- ist wohl dennoch besser, wenn es ein Zentrum senschaft, die die Begleitung durch die Dra- lee konzentriert sich auf die Promotion und wie das Theaterhaus Gessnerallee gibt, denn: maturgie nicht braucht! So sehen wir das. Ihr den Verkauf der bei ihr entstandenen Produkti- Zweck der Gessnerallee ist es, Ort zu sein, wo auch? onen. Mit fähigen Leuten besetzt aus der freien sich die freie Szene gegenseitig befruchtet, ein  Abschaffung der Intendantenstelle. Braucht Szene kommend und mit den entsprechenden Labor, eine Austauschstätte. Um das Epizent- es nicht. Rotierende Machtmodelle. Familien- Ansprechpartnern, die auch im Ausland ver- rum Gessnerallee müssen sich die Strukturen freundliche Strukturen. Theater braucht Leute, netzt sind, wird dafür gesorgt, dass ein Stück bilden, die die freie Szene konsolidieren. Nur die reif sind. Erst dann kann das Zuschauerbe- seinen speziellen Platz bekommt. so hat die Gessnerallee eine Legitimation: Als dürfnis erkannt werden, und es steht nicht nur  Es braucht mehr Geld. Umverteilung. Sonst Zentrum einer selbstbewussten freien Szene, die Befriedigung eigener Kuratorenträumchen bleibt die freie Szene 2. Liga. die gegenüber den Stadttheatern keine Min- in Zentrum.  Gessnerallee besetzen?? Was für eine reizvol- derwertigkeitskomplexe hat.  Ziel: Leitungsteam mit flachen Hierarchien. le und hübsche Idee. Sind wir zu alt dafür?  Dramaturgen müssen Teamplayer sein! Zusammengesetzt aus Vertretern der freien ...weitere Ideen....

23 Konzert Sommerkonzert 14. 8. Stadtkirche Thun | 17 Uhr Ensemble Cantus Zagreb | ALBRECHT MAYER Oboe Schweizer Solisten B Berislav Sipus, Leitung 21. 8. KKThun Schadausaal | 17 Uhr Bachwochen BELCEA QUARTET Thun — 24. 8. Schloss Schadau | 19.30 Uhr 14.8. 11.9.11 MILOS KARADAGLIC Gitarre

28. 8. Stadtkirche Thun | 17 Uhr BERNER BACH CHOR Hauptsponsor HÉLÈNE LE CORRE Sopran ÉLODIE MÉCHAIN Alt BSO Chamber Ensemble

4. 9. Kirche Amsoldingen | 17 Uhr ALEXIS VINCENT Violine Zu Gast in der Reihe des Ensemble Paul Klee. VITAL FREY Cembalo In Zusammenarbeit mit der Kroatischen Botschaft Bern.

9. 9. Kirche Amsoldingen | 19.30 Uhr NURIA RIAL Sopran So 26. Juni 2011, 17 Uhr Les Cornets Noirs

11. 9. Stadtkirche Thun | 17 Uhr HEINRICH SCHIFF Violoncello www.bachwochen.ch Vorverkauf: www.kulturticket.ch VORVERKAUF: www.kulturticket.ch (T 0900 585 887 1.20/Min.) Krebser Thun | Bernbillett Bern | Zentrum Paul Klee Tel. 0900 585 887 (CHF 1.20/Min.)

www.zpk.org

DESIGN: www.coboi.ch & www.koi.li FOTO:

Bearbeitung und Regie Alex Truffer Choreografie Tanja Mikhail Vorstellungen Schlossgarten Schwarzenburg, Beginn 20:30 Première 14. Juli 2011 Juli 15. | 16. | 20. |21. | 22. | 23. | 26. | 27. | 28. | 29. | 30. August 2. | 3. | 4. | 5. | 8. | 9. | 16. | 17. |19. |20. Reservationen Ab 2. Mai 2011 bei der Bank Gantrisch Genossenschaft: www.bankgantrisch.ch, Tel. 031 849 13 34 Die Plätze sind nicht nummeriert. Vorstellungsdauer ca. 2 Stunden. Bei schlechtem Wetter fällt die Vorstellung aus. Telefon 1600-61071 gibt ab 18 Uhr Auskunft. Abendkasse Ab 19 Uhr. Zigeunerkneipe Ab 18:30 Uhr im Schlosshof Eintrittspreise Erwachsene Fr. 35.-, Ermässigung für Familien, Kinder und Studenten. www.flbs.ch MMusicusic & SoundsSounds

SZENE Fitzgerald und Rimini Aristokratie und Wahnsinn Von Ruth Kofmel Bild: zVg.

ch habe Fitzgerald und Rimini an Ihrer entstanden – zahlreiche Musiker spielten ihre was sie möchte: mit ihrer Kunst etwas in den I Plattentaufe von «Aristokratie und Wahn- Parts live, während die Stimmen ab Band ka- Zuhörenden anrühren, das in deren Innerem sinn» in der Dampfzentrale zum ersten Mal men. Nicht unproblematisch: oft war die Musik schlummert, seien das Bilder, Gedanken oder überhaupt gesehen. Fast muss ich befürchten, dermassen grossartig, dass man die Geschich- Gefühle. mal wieder etwas verpasst zu haben, anderer- ten dabei fast etwas vergass und sich mehr Robert Aeberhard als Ribi Rimini agiert als seits bin ich mir auch ziemlich sicher, dass ich den Stimmungen dieser einzelnen Stücke hin- Komponist zwar eher aus dem Hintergrund, die zwei in einem ihrer perfekten Momente er- gab. Ein Riskio, dessen sie sich bewusst waren aber er ist für dieses Projekt absolut unver- wischt habe. und das sie für diesen einen Abend in Kauf zichtbar. Vor allem beeindruckt sein Gespür für Mir gefällt bei Elsa Fitzgerald, wie sie das nehmen wollten. Es hat sich sehr gelohnt. Ari- Musik, er schafft bis ins kleinste Detail aus- auf der Bühne so macht: mit ihrer etwas schus- ane von Graffenried als Elsa Fitzgerald haucht gearbeitete Umhüllungen für die Texte. Auch seligen und charmanten Art wirkt sie bei aller mit ihrer unverwechselbaren und souveränen bei ihm ist es so, dass mir nicht alle seine Bühnenpräsenz immer noch etwas schüchtern. Stimme den Geschichten Leben und Dramatik Kompositionen und elektronischen Tüftelein Und ich finde das durchaus erwähnenswert: ein. Diese Stimme kommt mit einem grossen gleich gut gefallen. Wie er aber die Stimme Elsa Fitzgerald ist eine Schöne in einem sma- Unterbau an Instrumenten wunderbar zurecht. von Elsa Fitzgerald untermalt, sie mit Klängen ragdgrünen Satin-Kleid, das ihre hervorstehen- Sie reagiert intuitiv auf die Musik: wird mal umschmeichelt, die sie zum Klingen bringen – den Hüftknochen betont, so dass der Stoff da melodiöser oder verharrt in einer zu den Klang- das ist grossartig. Und die Auswahl der Musi- eine Kurve schlagen muss – das ist sehr gut. flächen passenden Monotonie. Mir gefallen ker, die auf seine Kappe geht, die ist der pure Sie wirkt sympathisch, wie sie ihre Mitmusi- nicht alle Erzählungen gleich gut. Es gibt da Wahnsinn. Man darf sehr darauf gespannt sein, ker mit bewundernden Blicken bedenkt, wenn ein paar, die mich wirklich vom Hocker hau- wie Ribi Rimini diese Dramatik an den kom- sie ihnen zuhört und sichtbar angetan ist von en; die der trennungstraumatisierten Frau mit menden Konzerten im Alleingang hervorzau- diesen wohlklingenden Tönen. Und es hat tat- Panzer beispielsweise. Manchmal wird es mir bern wird - eine grosse Herausforderung, wie sächlich sehr schön geklungen an dieser Plat- aber zu assoziativ. Zum Beispiel dann, wenn es er selbst sagt. tentaufe. Obwohl normalerweise als Duo unter- um Vampire und Architektur geht – da verliere Ariane von Graffenried und Robert Aeber- wegs, war es eine gute Idee, diese Geschichten ich bald den Faden und ich komme nicht so hard arbeiten schon lange und sehr intensiv und die Musik so gross werden zu lassen. Es recht darauf, auf was sie eigentlich hinauswol- an dieser Verschränkung von Text und Musik. wurden für diese Veröffentlichung eine ganze len. Dann gab es am Konzert Momente, wo Elsa Ariane von Graffenried ist eher per Zufall zu Horde Kunstschaffender eingeladen, mitzu- Fitzgerald ihr Lieblingsthema, die Sehnsucht, einer Slam-Poetin geworden. Sie schrieb da- tun. Etliche haben ihre Stimme beigesteuert, zusammen mit der Musik dermassen auf den mals Kolumnen fürs Megafon und wurde da- oder waren als Musiker mit von Partie. An der Punkt brachte, dass es einem den Atem raub- raufhin zu einem Poetry Slam eingeladen. Sie Plattentaufe ist wiederum etwas ganz Neues te. In diesen Momenten erreicht sie genau das, fand Spass an dieser demokratischen Form der

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 25 MMusicusic & SSoundsounds Lesung und ist ihr bis heute treu geblieben. Robert Aeberhard spielt und spielte in unzäh- ligen Bands den elektrischen Bass, und schon vor der Zusammenarbeit mit Ariane von Graf- fenried tüftelte er an Soundcollagen, die er mit Hilfe von field-recordings, elektrischem Bass und einem Loop-Gerät kreierte. Wohin diese langjährige Zusammenarbeit nun geführt hat, ist bemerkenswert. Text und Musik stehen sich gleichberechtigt gegenüber. Es sind kei- ne vertonten Texte, was die zwei da machen, und auch nicht ein Lesen auf einen musika- lischen Teppich. Es gelingt ihnen, diese zwei Formen zu etwas Eigenem zu verschmelzen. Das Schwierige scheint mir dabei, dass eine solche Verschränkung nicht schwerverdaulich wird. Das ist «Aristokratie und Wahnsinn» aber keineswegs. Es braucht ohne Frage viel Aufmerksamkeit, um dieser CD gerecht zu wer- den. Dafür eröffnet einem dieses Hörspiel die Möglichkeit, auf Entdeckungsreise zu gehen. Ariane von Graffenried ist nicht daran gelegen, ihre Weltsicht via simpler Bedienungsanlei- tungen kund zu tun, sie traut den Zuhörenden durchaus zu, selbst zu denken und ein bisschen über die Aussagen der Stücke nachzugrübeln. Das Schöne ist aber, dass man das nicht muss, «Aristokratie und Wahnsinn» funktioniert auch als pure Unterhaltung. Sie betonen zwar beide, dass es ihnen primär um die Kunst geht und nicht so sehr um die Unterhaltung. (Mir ist nie ganz klar, worin da der Widerspruch liegt?) Ich finde «Aristokratie und Wahnsinn» MUSIK FÜR... gerade auch darum gelungen, weil die CD eine grosse Bandbreite an möglichen Rezeptionen ermöglicht. Es gibt Stücke, die sind nichts an- deres als einfachst gestrickte Pop-Songs – mu- Philippe Cornu sikalisch und inhaltlich –, die sind demzufolge im Nu verstanden. Und es gibt Stücke, die auf Von Hannes Liechti Foto: zVg. beiden Ebenen dermassen dicht sind, dass nur mehrmaliges Hören ein Verstehen ermöglicht. In der Serie «Musik für ...» wird jeweils Diesen Song habe ich Mitte der 70er-Jahre Fitzgerald und Rimini sind in ihrem Schaffen eine Persönlichkeit aus dem Berner zusammen mit meinem Jugendfreund immer unverwechselbar – freuen wir uns auf mehr un- Kulturleben mit einer ausgewählten wieder angehört. Und dann, als wir 1991 den terhaltende Kunst von den Beiden. Playlist konfrontiert. Diesen Monat Gurten übernahmen, buchten wir in Anlehnung trifft es den Veranstalter des Gurten- an die früheren Folkfestivals Donovan und Ralph McTell. Man kann sagen, dass mich «Streets of festivals, Philippe Cornu. London» seither durchs Leben begleitet hat. Du hast es angesprochen, in seinen Anfängen um Zeitpunkt des Interviews war das Team war das Gurtenfestival ein Folkfestival. Was ist Z um Philippe Cornu gerade dabei, den Über- von diesem Pioniergeist heute übriggeblieben? gang vom diesjährigen Samstag-Headliner Jami- Zwischen 2011 und den ersten Folkfestivals roquai auf die australische Drum’n’Bass-Band liegen natürlich Welten. Damals war die dahinter Pendulum zu planen. Gerade letztere seien ty- stehende Ideologie und überhaupt die Art, wie pisch für eine Entwicklung der letzten Jahre: das Festival aufgebaut wurde, anders. Heute ha- «Immer mehr Bands setzen auf LED-Walls, sonst ben sich auch die Ansprüche der Jugend geän- spezielles Licht oder ausgefallene Visuals», er- dert. Mir scheint, dass sie politisch viel weniger zählt Cornu. Und das ist bei weitem nicht das engagiert ist. Wir selbst bewegen uns auf einer einzige Problem, das die Organisation eines sol- Gratwanderung zwischen Inhalt – wir versuchen, chen Grossanlasses mit sich bringt. Musik zu bringen, die ansprechen und berüh- ren soll – und Trend: Das Gurtenfestival ist eine Ralph McTell kommerzielle Veranstaltung mit Sponsoring etc. «Streets of London» ab dem Album geworden, ohne welches alles gar nicht mehr so «Streets...» (Warner Bros., 1975) umsetzbar wäre. Was geblieben ist: Das Herzblut ensuite.ch für die Musik!

26 MMusicusic & SSoundsounds Festivals ist Indierock. Sind für das Überleben in LISTENING POST Ska-P der heutigen Festivallandschaft solche Schwer- «Welcome To Hell» ab dem Album punkte nötig? Von Luca D‘Alessandro «¡¡Que corra la voz!!» (RCA, 2002) Wir versuchen stärker als früher, dem Gurten ein Gesicht zu geben. Früher hiess es, der Gurten Mein ältester Sohn arbeitete im Chop Records sei so etwas wie ein Gemischtwarenladen, bei und brachte eine CD nach Hause, und sagte: «Das dem alles zu haben ist. Dieser Gemischtwarenla- muesch mau lose Vättu, das isch huere geil!» Ich den wäre mir eigentlich nach wie vor am Liebs- hatte keine Ahnung, was es ist. Wir buchten Ska- ten. Doch bei beiden Varianten heisst es vor al- P dann auf der Zeltbühne, und es ging ab wie lem die Balance zu finden, zwischen Acts, die das eine Rakete. Kaum waren sie wieder weg, schrie- Publikum auf den Gurten locken, und einer inte- ben sie uns und sagten, dass sie im nächsten Jahr ressanten Mischung. Zugleich sollte der Gurten wieder kommen wollen. sein Profil nicht verlieren. 2001, 2002, 2004 und 2009. Zählt man das Konzert von «The Locos», der Band des Show- Oasis masters Pipi, auch dazu, ausserdem 2007. Wie «Wonderwall» ab dem Album oft wird Ska-P noch auf dem Gurten-Programm «(What’s The Story) Morning Glory» stehen? (Helter Skelter / , 1995) Nun, der Peak ist erreicht. Die waren jetzt so MO’HORIZONS oft da oben, und wir waren dermassen beken- Oasis haben mich gelehrt, sich nie darauf zu nende Ska-P-Fans, und sie sind so oft gewünscht verlassen, was über eine Band geschrieben wird. AND THE BANANA worden, dass es Zeit für Neues ist. Aber, wenn sie Bei ihrem ersten Konzert im Jahr 2002 waren wir SOUNDSYSTEM wieder einmal ein Projekt haben, in dem sie sich sehr nervös und bemüht darum, dass nichts pas- musikalisch weiterentwickeln, warum nicht? siert, was die Band verärgern könnte. Nach dem nfang Mai kam die frohe Botschaft: Gig wollte ich ihnen danken und fragen, ob sie A Mo’Horizons lancieren unter der Lei- Die Ärzte noch Wünsche hätten. Dann kam doch tatsäch- tung von Mastermind Ralf Droesemeyer ihr «Anders als beim letzten Mal» lich Liam Gallagher auf mich zu und bedankte neues Album mit dem Titel «Mo’Horizons ab dem Album «Geräusch» sich bei mir für das gute Essen. Ich sagte zu ihm, and the Banana Soundsystem». Das Kollek- (Hot Action Records / Universal, 2003) rein imagemässig müsste er eigentlich etwas wie tiv aus Hannover führt damit seine Latin «Fuck, it was great!» sagen und mir dazu auf die betonte, akustische Tradition fort, die be- Auch die Ärzte können es offenbar nicht las- Schuhe spucken. Daraufhin erwiderte er: «Image! reits im Vorgängeralbum «Sunshine Today» sen und kommen immer wieder ein weiteres Mal. Don’t believe everything that they write». eingesetzt hat, jetzt allerdings mit den Spe- Eine Zeit lang war fast jedes Jahr mindestens ein cial Featurings wie dem Latin Grammy-Ge- Arzt auf dem Berner Hausberg anzutreffen. Muse winner Nené Vásquez aus Venezuela, Gypsy Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich oft nicht «Bliss» ab dem Album «Origin of Symmetry» Brown, Marga Munguambe oder Yanez aus den Mut zu sagen, dieses Jahr vielleicht nicht. (Mushroom Records, 2001) Bologna noch ein Spürchen feuriger daher- Die Ärzte haben uns immer wieder angefragt. kommt. Es ist eine Weltreise der besonderen Letztes Jahr mussten wir Bela B. sagen, «wir kön- Wir haben den Anspruch, auf dem Gurten Art, die von Europa nach Lateinamerika, von nen nicht noch einmal, wir müssen jetzt eine Pau- vier Tage lang auf allen Bühnen ein interessantes dort aus weiter über den Pazifik nach Indien se machen.» Und das ist hart. Es gibt genügend Programm zu bieten. Bands wie Muse, die alleine und Istanbul führt. Die Klänge kommen aus Bands, die wir nicht kriegen, weil ein Festival ein Stadion füllen, sind dadurch für uns schlicht allen Kontinenten, verbinden sich und bil- in Portugal 100’000.- Euro mehr bezahlt. Umso nicht finanzierbar. Wir wollen tagsüber keine den neue Formen. Besonders eindrucksvoll schwieriger ist es, einer Band wie den Ärzten ab- «Füllerbands» und am Abend einen übergrossen kommt dies bei «Jungle Affair» zur Geltung, zusagen. Auch die Fantastischen Vier, Die Toten Headliner. Matthew Bellamy & Co. müssten die wo orientalische Klänge mit einem Cumbia Hosen oder Skunk Anansie sind solch bekennen- Ansprüche senken und auch wieder einmal eine Rhythmus einhergehen. Oder bei «Kiss», ei- de Gurten-Fans. Das kann schon auch zum Prob- reguläre Festivaltour mit tieferen Gagen planen. nem Track, der an den gleichnamigen Hit lem werden. Ein Luxusproblem allerdings. Grundsätzlich ist Muse aber einer meiner ganz von Prince erinnert, jedoch mit seinem Reg- grossen Wunschacts: Ich finde, dass musikalisch gae Rhythmus irgendwie ganz neu klingt. The Prodigy nichts besser auf den Gurten passt, als Muse. Fazit: Das Album gehört zweifelsohne zu den «Firestarter» ab dem Album «The Fat Aber wie gesagt, das wird schwierig. besseren Produktionen, die der Musikmarkt of the Land» (XL Recordings, 1997) Gibt es weitere persönliche Wunschbands für dieses Jahr – zumindest bis jetzt – herausge- das Gurtenfestival? bracht hat. Wir wünschen mehr davon! Prodigy spielten vor sechs Jahren auf dem Gur- Sehr gerne würde ich zum Beispiel Radiohead ten. Der eine hatte bei einem Treppensturz zwei oder Coldplay buchen. Und nach wie vor, wenn es Info: «Mo’Horizons and the Banana Sound- Tage vor dem Konzert das Schlüsselbein gebrochen nicht so wahnsinnig kompliziert und aufwändig system» (Agogo Records) und der andere klagte über ein kaputtes Knie. Bei- wäre, Prince; am Liebsten als dreistündige Jam- de litten enorme Schmerzen und entschieden sich session. dennoch, das Konzert nicht abzubrechen. Das war für mich wahrer Rock’n’Roll, obwohl sie stilistisch ja anders einzuordnen wären. Zusammen mit Chemical Brothers gaben Pro- Und nach dem Essen gehen wir aus: digy 2005 den Startschuss zu einer neuen Aus- 28. Gurtenfestival richtung des Gurtenfestivals auf Headliner aus 14. bis 17. Juli 2011, auf dem Berner Hausberg kulturagenda.ch der Electro-Szene. Ein anderer Schwerpunkt des Wabern bei Bern

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 27 MMusicusic & SSoundsounds

SCHWEIZER SZENE Gefühle à la Meneguzzi

Interview: Salvatore Pinto Bild: zVg.

PaoloP l MMeneguzzii singti von LiLiebeb undd teilzunehmen. Ich gewann den ersten Preis und Ein Jahr später hast du mit dem Lied «In Gefühlen. Damit erwärmt er die Her- wurde über Nacht berühmt. Zuerst unterschrieb nome dell’amore» in Europa endlich den Durch- zen der Frauen im Tessin, in Italien ich den Plattenvertrag mit Warner Music Chile, bruch geschafft. und sogar auf der anderen Seite des später mit Warner International. Das ist richtig. Der Weg dahin war aber äu- Nicht selten kommt es vor, dass ein Musiker sserst anspruchsvoll. Atlantiks, in Lateinamerika. Seit der zuerst im Ausland das Debüt schaffen muss, be- Inwiefern? Veröffentlichung des Videos «Impreve- vor er zuhause bekannt wird. Ist das nicht be- Ich hatte einen gewaltigen Prozess durchlau- dibile» – produziert mit Ex-Vize-Miss fremdlich? fen, mir Gedanken über Erfolg und Misserfolg Schweiz Xenia Tchoumitcheva – wer- Heute gibt es viele Möglichkeiten, als Musi- gemacht, Biografien von Stars wie den Beatles den seine Songs jedoch immer öfter ker den Sprung zu schaffen. In meinem Fall war und Elvis gelesen. Daraus ist schliesslich «In auch von Männern gehört. auch ein bisschen Glück im Spiel … nome dell’amore» entstanden, welches so be- … brauchst du das überhaupt? rühmt wurde, dass es inzwischen sogar in der eneguzzis Repertoire umfasst inzwi- Du schmeichelst mir! Vielen Dank für das französischen Übersetzung vorliegt. M schen mehr als acht Alben, Ende Mai hat Kompliment. Ich denke, als Musiker musst du Auf die Erfolgswelle schafft man es kaum al- er mit «Sei Amore» ein Best-of herausgebracht. mit deinen Liedern etwas zu sagen haben. Wenn leine. Wie stehst du zu deiner Band? ensuite-kulturmagazin wollte mehr über den du keine Botschaft hast, hilft dir alles Glück der Wir sind eine Gruppe von Musikern mit ei- Schweizer Pop Sänger erfahren und hat ihn zum Welt nicht. nem langen Atem. Jeder von uns gibt das Beste Gespräch eingeladen. 2001 durftest du schliesslich in Sanremo auf- von sich in die Produktionen hinein. Es steckt treten. Erinnerst du dich gerne daran? viel Liebe darin. So Manches habe ich auch mei- Paolo Meneguzzi, du bist im Tessin aufge- Nicht wirklich. Ich musste das Lied «Ed io nem Produzenten zu verdanken, der in das Pro- wachsen und hast in Mailand studiert. Heute non ci sto più» singen, welches nicht von mir jekt Meneguzzi von Anfang an geglaubt hat. lebst du wieder in der Schweiz. Bekannt wur- stammt. Das Plattenlabel hatte es mir aufge- Entscheidend ist auch deine Zusammenar- dest du allerdings in Südamerika Ende der neun- drückt. beit mit Xenia Tchoumitcheva. Das Video auf ziger Jahre. Kannst du das erklären? Trotzdem bist du auf die Bühne gestanden. Youtube wurde über 1.4 Millionen male ange- Meine Karriere hat tatsächlich 14’000 Kilo- Ja, weil Sanremo für einen Cantautore ein klickt. meter weit weg von hier begonnen. Als ich 1996 Muss ist. Leider klappte es mit dem Auftritt In der Regel sprechen meine Lieder eher ein mit meinem Lied «Aria» am Festival della Can- nicht so, wie ich es wollte: Ich war nervös und weibliches Publikum an, weil sie von Liebe und zone in Sanremo auftreten wollte, jedoch nicht unsicher. Das Publikum merkte das sofort, ent- den schönen Dingen im Leben handeln. Männer zugelassen wurde, ging ich weiter nach Chile, sprechend schlecht verkaufte sich das Folgeal- fühlen sich davon weniger angetan. Das Video um am Viña del Mar International Song Festival bum. mit Xenia hat das Frau-Mann-Verhältnis gekippt:

28 ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 MMusicusic & SSoundsounds Plötzlich suchten auch Männer nach meinen Songs … vor allem nach dem Videoclip mit der schönen Xenia (lacht). Gibt es etwas, das du uns im Hinblick auf dei- ne Zukunft sagen möchtest? Ende Mai ist meine Best-of erschienen, auf die ich besonders stolz bin. Darauf befinden sich zwei neue Songs, unter anderem «Sei Amore», welches von Gefühlen spricht: den Gefühlen à la Meneguzzi. Du bist ein Botschafter der Liebe. Wie steht es bei dir damit? Leider habe ich mich kürzlich von meiner Freundin getrennt. Das stimmt mich traurig, LOUNGE zumal ich mich zu ihr nach wie vor sehr hin- gezogen fühle… Die Arbeit als Musiker gibt dir viel, du setzt aber auch einiges aufs Spiel. Nicht selten verliert man Freunde, Familienmitglieder Der Verführer aus Paris oder eben die Liebe. Bild: zVg. Gibt es einen Musiker, mit dem du gerne ein Von Luca D’Alessandro Duett singen würdest? Ich habe kürzlich ein Lied von Anna Rossi- Stéphane Pompougnac bezeichnet sich sie tönt so, wie jene Leute an mich gewohnt sind, nelli gehört, welche dieses Jahr am Eurovision als Erfinder des Lounge, einer Hinter- die mich in den Klubs erleben. Die CD «Day» Songcontest ganz vorne mit dabei war. Ich fin- grundmusik im Downtempo-Stil, wie ihrerseits streift meinen Musikgeschmack als de sie toll und bin der Meinung, dass sie das sie typischerweise in Bars oder Ho- Ganzes, der von Indie über Pop bis hin zu Rock Finale echt verdient hat. Als vor ein paar Jah- tellobbys eingesetzt wird. Fakt ist, der reicht. ren DJ Bobo oder ich am Contest mitmachten, «Night» hat also etwas Kommerzielles, trägt blieben wir hinten, abgeschlagen. Damals wur- französische DJ und Musikproduzent dem Geschmack eines breiten Publikums Rech- de behauptet, Schweizer Musiker hätten keine gehört in Frankreich zu den Aushän- nung, und lässt sich entsprechend gut verkaufen. Chance, gewählt zu werden. Na ja ... es wird viel geschildern der Unterhaltungsbranche. Nein, dem ist nicht so. Ich wollte meinem Pu- gesagt. hat immerhin das Finale Bekannt wurde er durch die «Hôtel Co- blikum zeigen, dass ich zwei Mützen trage: Die erreicht und die Kritiker eines besseren belehrt. stes» Serie, eine von ihm zusammenge- Elektropop und Indie Seite, wie ich sie mit der A propos Eurovision: Was hat dir dein Auf- stellte Compilation für Jean-Louis Co- Compilation «Hôtel Costes» zelebriere, und die tritt am Songcontest 2008 gebracht? stes, den Besitzer des gleichnamigen House Seite, wie sie bei meinen Auftritten als DJ Viel. Das Publikum in der Schweiz kennt in Klubs zum Vorschein kommt. mich noch aus dieser Zeit. Der Auftritt hat mir Luxushotels in Paris. In Ihrer Vergangenheit haben Sie auch sel- zahlreiche Kontakte beschert. ber Alben produziert. «Hello Mademoiselle», zum Fühlst du dich verwirklicht? ôtel Costes ist aber nur eines von mehre- Beispiel, spielt mit dem Klischee des charmanten Auf jeden Fall. Ich habe gelernt, für andere H ren Projekten. Selber hat Pompougnac drei Franzosen. einzustehen. Als Mitbegründer des Vereins Pro- Alben produziert. Das jüngste, «Hello Mademoi- Es spielt mit dem Luxus, der Liebe … mit dem getto Amore organisiere ich regelmässig Veran- selle», ist 2007 erschienen. Leben in Paris. Ja, Sie haben recht: «Hello Made- staltungen im Tessin, dieses Jahr am 12. Juni, Gegenwärtig promotet er in der Rolle als DJ moiselle», «c’est un peu séducteur» (lacht). welches auf jene Kinder aufmerksam macht, die seine Compilation «Day & Night», eine Doppel- Sind Sie ein Verführer? es im Leben nicht leicht haben. Der Slogan: Ra- CD-Edition, die zur Hälfte seinem Faible für Elek- Ich glaube schon. Und diesen Charakterzug gazzo aiuta ragazzo. tropop und Indie Rock Rechnung trägt (Day), transportiere ich direkt in meine Arbeit. Ich un- Paolo Meneguzzi, vielen Dank für das Ge- gleichzeitig seine Identität als Club DJ widerspie- terbreite meinem Publikum eine Musikauswahl, spräch. gelt (Night). Zwei CDs, so unterschiedlich wie der die von Liebe, Leidenschaft und Verführung han- Ringrazio te e auguro a tutti i lettori una buo- Tag und die Nacht. delt. Auch die Melancholie spielt da mit. Es sind na estate. Un abbraccio da Paolo Meneguzzi. ensuite-kulturmagazin hat sich die Compila- Songs, die nicht für die Hitparade gedacht sind, tion angehört und daraufhin mit Stéphane Pom- also nur bedingt radiotauglich. Dafür bieten sie Das Gespräch mit Paolo Meneguzzi fand in italienischer Spra- pougnac gesprochen. den Raum für sinnliche Stunden zu zweit. che statt. Übersetzung: Luca D’Alessandro Stéphane Pompougnac, die Compilation «Day Paris, Saint-Tropéz, Mailand – Städte, in de- & Night» ist – auf Französisch gesagt – ein «Sur- nen Mode und Luxus wichtig sind. In dieses Kli- Paolo Meneguzzi - Diskographie vol» über die Genres. Plattenläden werden es schee fügt sich auch der Lounge. Ist der Lounge 2001: «Un sogno nelle mani» schwer haben, sie richtig einzuordnen. von «Fashion» getrieben? 2003: «Lei è» Das kann sein. Der Name Stéphane Pompoug- Es gibt viele Modehäuser und Designer, aber 2005: «Favola» nac ist allerdings so etwas wie eine Marke, ein auch Architekten, die genau nach solchen Sounds 2007: «Musica» Genre für sich. suchen. Sie wollen nicht nur visuell, sondern 2007: «Live Musica Tour» Die zweite CD, «Night», beinhaltet Ihre neue auch akustisch verführen. Es kommt daher nicht 2008: «Corro via» Single «Take her by the Hand». von ungefähr, dass ich als DJ für solche Projekte 2010: «Miami» Ja, ein sommerlicher Track, entstanden mit angefragt werde. In meiner Vergangenheit habe 2011: «Sei Amore» (Best-of) der Sängerin Lady Linn. «C’est magique pour ich bereits die Musik für Modepräsentationen moi», der Track passt hervorragend in die Linie von Gucci und Yves Saint-Laurent geliefert. Info: www.paolomeneguzzi.it der Compilation Night: Deep House, Elektronik … Ein kreatives Umfeld in jeder Hinsicht ...

29 MMusicusic & SSoundsounds …wenn du eine Compilation für ein Modela- bel oder ein Hotel machst, musst du sorgfältig JAZZ auswählen, und ein Gespür haben für Stücke, die zueinander passen. Schliesslich kann jedes ein- zelne die Couleur der gesamten CD verändern. Den passenden Leitfaden zu finden, das ist die Ein würdiger Ehren- grösste Herausforderung. Dieser Arbeitsschritt ist wohl auch der aufwändigste. Im Vergleich zu herkömmlichen House Com- doktor des Latin Jazz pilations sind Ihre Produktionen entlang dem Leitfaden rhythmisch und stilistisch nuanciert. Von Luca D’Alessandro Bild: zVg. Es sind Tracks, die sich voneinander stark un- terscheiden. Das Spannende für mich ist es, sie Michel Camilo ist flink und präzise, Michel Camilo, bei Ihnen ist ganz viel los so zusammenzuflechten, dass am Ende ein stim- einfallsreich und sentimental. Die Tas- im Moment. miges Gesamtbild entsteht. Ich mag keine nivel- teninstrumente beherrscht er wie kein Ja, es sind ereignisreiche Monate, schon nur lierten Produktionen, bei denen nach dem dritten anderer, was ihn zum Vorbild für viele wegen der zahlreichen Konzerte, die ich in Eu- Lied das Gefühl aufkommt, es töne alles gleich. Latin Jazzer macht. ropa machen darf, unter anderem in Mailand Ich will Spannung erzeugen und den Hörer anre- und Barcelona. Nebenbei steht die Publikation gen. Ihn dazu bringen, aktiv zuzuhören. meines neuen Albums «Mano A Mano» bevor, Können Sie bei der Auswahl immer über jene ein Wunder also, dass seine Konzertrei- welches ich mit dem Bassisten Charles Flores Stücke verfügen, die Sie auch möchten? K he im Mai am Berner Jazzfestival überaus und dem puerto-ricanischen Perkussionisten Das ist leider nicht möglich. Viele Lieder wer- gut besucht war. Fünf Abende à zwei Sets, in Giovanni Hidalgo letzten Januar in New York den von den Labels nicht freigegeben, das macht welchen der Pianist aus der dominikanischen produziert habe. Es unterscheidet sich von die Aufgabe noch ein bisschen schwieriger. Republik die Töne regelrecht aus dem Flügel meinen bisherigen Werken schon nur wegen Wenn du denkst, zwei Stücke könnten gut zuei- hämmerte. So fest, dass nach jeder Show der der Besetzung und der Instrumentation. Es ist nander passen, musst du hoffen, dass die zustän- Klavierstimmer aufgeboten werden musste. voller neuer Kontraste und Texturen – ein wah- digen Labels ihr OK geben. Das braucht Geduld ensuite-kulturmagazin hat Camilo am Fes- res Erlebnis für die Sinne. und Nerven. tival aufgelauert, und mit ihm über seinen Auf Ihrer Internetseite ist von diesem Al- Am Ende kommt aber immer eine Playlist zu- Ehrendoktortitel und die neue CD «Mano A bum aber noch nichts zu finden. sammen. Mano» gesprochen, welche demnächst bei Uni- Sie gehören zu den ersten, die davon erfah- Ja, bis jetzt schon. versal erscheint. ren… Die Compilation «Day & Night» ist seit kurzem im Plattenhandel erhältlich. Gönnen Sie sich nun eine Pause? Ich arbeite stetig an neuen Produktionen, die ich vermutlich in ein oder zwei Jahren in einem weiteren Album zusammenfassen werde. Mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen. Ich bleibe auf jeden Fall am Ball. Aufhören? Nein, das gibt es nicht.

Stéphane Pompougnac – die Eckdaten

Geboren 1968 in Paris, aufgewachsen in Bor- deaux. Beginn seiner Karriere als DJ mit acht- zehn Jahren, unter anderem in Paris in Clubs wie Queen, Privilège, Diable des Lombards und Les Bains Douches. Später Erfolge mit mehreren Alben und Compilations:

«Hello Mademoiselle» (2007) «Perrier» (2005) «Living on the Edge» (2003)

«Day & Night» «Hôtel Costes» (Vol. 1 – 14) «Jewel» «Sparkling Moments: Tokyo/Paris» «The Concorde Lounge – Supersonic Jet Set Love» «Saks Fifth Avenue» www.because.tv/artistes/stephane-pompougnac

30 ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 MMusicusic & SSoundsounds

Da fühle ich mich aber geschmeichelt. meine Arbeit. Darauf bin ich sehr stolz. Was halten Sie von der Schweiz? Nein, ernsthaft: Wir haben bis jetzt auf Pro- Haben Sie irgendeinmal bereut, das Leben Viele Leute wissen das nicht: Mein erster motion verzichtet, da wir «Mano A Mano» erst des Musikers eingeschlagen zu haben? Besuch der Schweiz war in offizieller Mission. mal im August am Newport Jazzfestival auf Überhaupt nicht. Mit meiner Musik kann Ich war Teil einer diplomatischen Delegation Rhode Island taufen wollen. ich dem Publikum eine Freude bereiten. Das meines Landes, welche von der Schweizer Re- Ihr nächstes Schweizer Konzert ist für das ist die beste Medizin gegen die Ausbreitung gierung eingeladen wurde. Eine wunderbare jazznojazz Festival in Zürich vorgesehen. Ich von schlechter Laune. Exkursion war das: Wir reisten zu allen Se- gehe davon aus, dass der Act im Zeichen des Sie lieben Ihr Instrument – das ist deut- henswürdigkeiten und bekamen so die Gele- neuen Albums steht. lich zu erkennen. Vorhin auf der Bühne waren genheit, das Land bis ins letzte Eck zu erkun- Nein, ich werde im Duo mit dem spanischen Ihre Hände zeitweise kaum noch zu sehen: sie den. Das Programm durfte ich mit einem Kon- Flamenco-Gitarristen Tomatito auftreten. spielten dermassen schnell. zert am UN Sitz in Genf abrunden. Ich spielte Eine tiefe Freundschaft verbindet Sie. Ja? Also, ich fand mich ganz gut zurecht vor dem diplomatischen Corps. Aber diese Ge- Wir stehen uns sehr nahe. Eine Sympathie, (lacht). Spass beiseite: Ich spiele seit ich vier schichte liegt schon eine Weile zurück. Mir ge- die uns für unser 2006 erschienenes Album Jahre alt bin. Mit neun nahm ich mein Kla- fällt dieses Land, welches mich immer wieder «Spain Again» den Grammy beschert hat. vierstudium auf… Übrigens: Glauben Sie nicht zu neuen Musiktaten inspiriert. Zurück zu Ihnen: Sie waren nicht immer Pi- jenen Biografen, die behaupten, ich hätte anist. erst mit sechzehn zu spielen begonnen. Das Doch, wieso meinen Sie? ist falsch. Wie dem auch sei: Ich lernte sehr In Ihren jungen Jahren standen Sie kurz da- schnell, zuerst Klassik, später befasste ich Michel Camilo – Discografie (Auswahl) vor, Arzt zu werden. mich auch mit anderen Genres. Mit sechzehn «Mano A Mano» (2011, Universal) (lacht) Ah ja, ich studierte drei Jahre lang wurde ich schliesslich jüngstes Mitglied des «Spirit Of The Moment» (2007, Telarc) Medizin an der UASD, der Universidad Auto- nationalen Symphonieorchesters der Domini- «Spain Again» with Tomatito (2006, Universal) noma de Santo Domingo. In dieser Rolle war kanischen Republik. «Rhapsody In Blue» (2006, Telarc) ich regelmässig auf Patientenbesuchen in ei- Wie fanden Sie den Weg zum Jazz? «Solo» (2005, Telarc) nem Spital. Übrigens hat mir diese Universität Mit vierzehn hörte ich am Radio die Piano- «Live At The Blue Note» (2003, Telarc) letztes Jahr die Ehrendoktorwürde verliehen. version von «Tea For Two». Das war der Start- «Triangulo» (2002, Telarc) Sie können sich meine Freude vorstellen. Eine schuss. Heute noch spiele ich sowohl Klassik gewaltige Anerkennung, eine Bestätigung für als auch Jazz. Info: www.michelcamilo.com

WER AUF SALSA Salsa Y Pasión: Romantischer könnte die dazu. Er geht zwar nicht als purer Latin UND LATINJAZZ STEHT… Kulisse nicht sein: Am Strand des Sportbis- Vertreter durch, doch in Kombination mit tro Blue Turtle in Faulensee wird zu aus- Alfredo Rodriguez und Herbie Hancock ist … braucht diesen Sommer nicht zwin- gewählter Salsa getanzt. Die Veranstaltung alles möglich. Zu sehen am 13. Juli in Mont- gend in die Karibik zu reisen. Die heisses- ist Open Air, daher von der Witterung ab- reux. www.montreuxjazz.com ten Acts gibt es nämlich in der Schweiz. hängig. Die Daten: 3., 10., 31. Juli, sowie 7., Eddie Palmieri: Ein Urgestein, ja, das Aber auch die zahlreichen Feste und Fes- 14., und 28. August. Bitte beachten Sie die ist er. Der US-amerikanische Pianist und tivals sind nicht ohne. Ein paar Eventtipps Details dazu im Internet: www.djvolcano.ch Orchesterleiter gilt als Wegbereiter des la- der Redaktion: Rubén Blades: Der Sänger und Schau- teinamerikanischen, kubanischen und afro- Sergent Garcia: «Salsamuffin’» ist der spieler aus Panama wird oft auch als der kubanischen Jazz. Er hat die Salsa seiner Name des Genres, das er vertritt. Der Mann Bruce Springsteen Lateinamerikas bezeich- Heimatstadt massgeblich mitgeprägt. Mit aus Frankreich bewegt sich zwischen Salsa, net. Gesungen hat er unter anderem in den seinem Quartette steht er nun am 14. Juli Reggae und Dancehall. Zu sehen am 11. Juni Bands von Ray Barretto und Willie Colón. an der Jazz Parade in Fribourg auf der Büh- am Afro-Pfingsten Festival in Winterthur. Am 10. Juli gastiert Blades im Kaufleuten in ne. Übrigens: Sehenswert sind da auch Ska www.afro-pfingsten.ch Zürich. www.allblues.ch Cubano am 8. Juli. Berner Salsa gibt es am Richie Ray & Bobby Cruz: «Los reyes muévete Salsawoche: Der Klassiker un- Folgetag von Chica Torpedo. de la salsa» werden die beiden Gentlemen ter den Berner Salsa Festivals. Auch dieses www.jazzparade.ch auch genannt, die am 17. Juni im Theater Jahr bietet der Salsaclub muévete vom 11. Yumuri «the Sonero of Cuba»: Er ge- National mit ihrem 13-köpfigen Grossor- bis 17. Juli Workshops, Tanzkurse und -par- hört zur Jazzgilde Kubas. Gemeinsam mit chester die Berner Salsa Gemeinde wach- tys, sowie eine Party auf dem Salsaschiff. seinem Grossorchester steht er sozusagen rütteln wollen. www.nationalbern.ch www.muevete.ch dauerhaft in den Hitlisten der Radiostatio- Caliente! Ein Festival, das inzwischen Quincy Jones: Hartgesottene Latin Fans nen auf der Insel. Zusammenarbeiten mit Kultstatus erlangt hat. Dieses Jahr vom 1. tun gut daran, das Programmheft des Mon- Oscar D’Leon, Willie Rosario, Maraca und bis 3. Juli am Helvetiaplatz, im Volkshaus treux Jazzfestival zu studieren. Da verber- Los Hermanos Moreno zeichnen ihn aus. und in der Kaserne in Zürich. gen sich alle Jahre wieder Perlen und Trou- Zu sehen am 30. Juli an den Langnau Jazz www.caliente.ch vaillen. Quincy Jones gehört zweifelsohne Nights 2011. www.jazz-nights.ch

31 KKinoino & FilmFilm

Gory Gory Hallelujah!

Von Sandro Wiedmer Bild: zVg.

Bereits zum 11. Mal findet in Neuen- letztes Jahr zusätzlich der grosse Saal des Théât- Werbe-Branche, begann Lewis in den 60er-Jah- burg das Neuchâtel International re du Passage zum Kino umfunktioniert. Dieses ren Filme zu drehen. Erste in Guerilla-Manier ab- Fantastic Film Festival (N.I.F.F.F.) Jahr nun, da zum ersten Mal das Freiluftkino aus gedrehte B-Pictures fielen vor allem durch mehr statt. Einmal mehr wird sich vom 1. bis organisatorischen Gründen wegfällt, wird im nackte Haut auf, als sie die Studios gemäss rigi- zum 9. Juli die beständig wachsende Temple du Bas ein weiterer Saal als Spielstelle den Zensur-Bestimmungen je hätten zeigen dür- zur Verfügung stehen. fen. Der Legende nach sah er dann einen Film, in Gemeinde von Fans des Genre-Kinos Das diesjährige Programm, welches vom Frei- welchem ein Mann von Maschinengewehrfeuer versammeln, um den zahlreichen Vor- tag bis zum darauffolgenden Samstag dauert und niedergestreckt wird, wobei er sich bloss an die premieren, Projektionen von Filmen zum ersten Mal zwei Wochenenden umfasst, so- Brust langt und zu Boden sinkt: Kein spritzendes welche sonst kaum auf Leinwänden zu weit zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, wird Blut, keine herausquellenden Gedärme. Für ihn, sehen sind, insbesondere Perlen aus zwei neue Programmsegmente einführen: Ne- der im Film ein Geschäft sieht, der Leute bedau- der Filmgeschichte und Werken aus ben den ständigen Sektoren des Internationa- ert, für die er eine Kunstform darstellt, eröffne- dem asiatischen Raum beizuwohnen. len Wettbewerbs, dessen Gewinner jeweils mit te sich in der expliziten Darstellung von Gewalt dem von H.R. Giger gestalteten «Narcissus» aus- und deren Auswirkungen ein neues Feld, ein ahr für Jahr während des Sommers, wenn gezeichnet wird, während für den zum besten sensationslüsternes Publikum anzuziehen. Der J sich die Sonnenhungrigen und Badewütigen Europäischen Film gekürten der goldene Méliès Erfolg von «Blood Feast» (1963), in welchem der an den Gestaden des Neuenburgersees tummeln, verliehen wird, dem ebenfalls einen Wettbewerb Inhaber einer Imbiss-Bude reihenweise Frauen versammelt sich um das Kino Apollo mit seinen beinhaltenden «New Cinema from Asia», und umbringt, um aus ihren Körperteilen ein Opfer drei Sälen als Zentrum des Festivals eine ganz den Kurzfilmen, werden unter dem Titel «Films für die altägyptische Göttin Ishtar zu bereiten, andere Gesellschaft, die es vorzieht, sich im Dun- of the Third Kind» für das grosse Publikum be- gab ihm Recht, und mit «2000 Maniacs» (1964) kel der Kinos, welche seit einigen Jahren sogar stimmte Vorpremieren der Saison aufgeführt, da- folgte eine grössere Produktion. Darin liess er über eine Klimaanlage verfügen, von Menschen runter der spektakuläre «Detective Dee and the sich vom Musical «Brigadoon» (1947) inspirie- fressenden Zombies, zerstörerischen Monstern, Mystery of the Phantom Flame» von Tsui Hark, ren, später von Vincente Minnelli mit Gene Kelly mordenden Psychopathen, Geistern, Ausserirdi- und mit der Reihe der «Ultra Movies» kommen verfilmt (1954): Die Geisterstadt von Schottland schen, aber auch dem ganz alltäglichen Horror spezielle Mitternachtsvorstellungen mit den ex- in die Südstaaten Amerikas verlegend, lässt er erschrecken zu lassen. Von einer Gruppe be- tremsten, seltsamsten bizarren Auswüchsen des ein Kaff voll rachedürstenden Konföderierten freundeter Gleichgesinnter im Jahr 2000 zum gestrigen und heutigen Genrekinos neu ins An- eine Handvoll Touristen aus dem Norden auf er- ersten Mal durchgeführt, gehört das N.I.F.F.F. gebot. lesene Weise um die Ecke bringen. Bald drehte längst zu den renommiertesten Veranstaltungen Dann wird dieses Jahr mit der Retrospektive er um die zwei Filme pro Jahr mit mehr oder we- seiner Art, mit einer Ausstrahlung weit über Eu- «Just a Film» auch der Versuch unternommen, niger Erfolg, bis die Zensurbestimmungen des ropa hinaus. Obwohl die Präsentation durch Be- das Genre des Gore-Films vom Vorurteil des rei- Hays-Code 1968 in ein Rating-System umgewan- scheidenheit glänzt, keine roten Teppiche aus- nen Schunds zu befreien. Seine Wurzeln kön- delt wurden, und auch die Studios und einzelne gerollt werden und jeglicher Glamour aussen vor nen bis zu den Stücken Shakespeares und zum Autoren die neu gewonnenen Freiheiten aus- bleibt, gehörten zu den illustren geladenen Gäs- Theater des Grand-Guignol zurückverfolgt wer- schöpfen konnten. «The Gore Gore Girls» (1972) ten schon Grössen wie George A. Romero, Dario den, und die Filmgeschichte weist seit der Er- war sein letzter Film, bevor er sich wieder aus- Argento, Joe Dante, John Landis, Terry Gilliam, findung des Kinematografen Beispiele auf, wie schliesslich im Werbe-Geschäft betätigte. Den Roger Corman, Hideo Nakata, Bong Joon-ho, Park die Körperlichkeit eingesetzt wird um Ängste Traum eines Sequels zum Genre begründenden Chan-wook oder, letztes Jahr, Sogo Ishii. Neben darzustellen, Befremden und Schrecken her- Film erfüllte er sich 2002 mit «Blood Feast 2: All den Filmprogrammen, Retrospektiven und Pro- vorzurufen. Als Erfinder des Genres gilt aller- You Can Eat». jektionen von Kurzfilmen finden zudem jedes dings Hershell Gordon Lewis, der «Godfather of Die Reihe «Just a Film» verfolgt, neben der Jahr auch Ausstellungen, Symposien und Kon- Gore», der dieses Jahr zu den Ehrengästen des Aufführung von ausgewählten Werken von H.G. ferenzen zu verwandten Themen statt. Als das N.I.F.F.F. gehört. Geboren 1929 in Pittsburgh, Lewis, deren Auswirkungen bis in die 80er-Jah- Festival durch den wachsenden Zuspruch aus nach einem Journalismus-Studium und einer re, als Regisseure wie David Cronenberg, Sam allen Nähten zu platzen drohte, wurde ab 2007 Professur für Englische Literatur, Tätigkeiten Raimi oder Peter Jackson Elemente des Genres ein Open Air eingerichtet, zum zehnten Jubiläum für verschiedene Radios und dem Einstieg in die gar in den Mainstream einbrachten.

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RÜCKBLICK KINO A Game of Thrones und die Illusion des Mittelalters Von Andreas Meier

n den letzten Jahren scheint das Interesse ausgelebter Leidenschaft im Krieg und in der Klischees nur, um sie danach wieder zu un- I an mittelalterlichen Szenerien auf Lein- Liebe. Unserer selbst-postulierten Vernunft tergraben. Denn diese verzauberte Welt ist wand und Bildschirm wieder gewachsen zu und Modernität wird die angebliche Primitivi- so schmutzig und verkommen, wie man sie sein. Nach Ridley Scotts «Robin Hood» (2010), tät, die Gewalt, der Dreck und die Ignoranz des sich nur vorstellen kann, und wenn dann Blut der Verfilmung von Ken Folletts «Pillars of the Mittelalters entgegengesetzt. fliesst, hält die Kamera schon einmal eine gan- Earth» (2010) u.a. kommt nun die neue HBO- Doch Vernunft hat einen hohen Preis, und ze schmerzhafte Einstellung über ihren Fokus Serie «Game of Thrones» hinzu, die auf dem so muss unsere entzauberte Welt mit dem Zau- auf dem Gesicht eines Sterbenden mit dem gleichnamigen ersten Buch von George R.R. ber der alten mittelalterlichen Mythen und Sa- Splitter einer Lanze im Hals. Blutige Brutalität Martins Reihe «A Song of Ice and Fire» beruht. gen aufgewogen werden, die der Autor mit ei- ist keine Seltenheit in Mittelalterfilmen, doch Die Handlung dreht sich vornehmlich um das ner ganzen Schatzkiste voller Monster, Magie hier gibt es keine heldenhafte, glorifizierte Schicksal der Adelsfamilie Stark, deren Haupt und heldenhaften Recken ausstattet. Egal ob Gewalt wie in «Kingdom of Heaven» (2005), Eddard Stark in der Serie ausgezeichnet von «Braveheart» (1995) oder «Lord of the Rings» «Braveheart» oder «Lord of the Rings». In Sean Bean verkörpert wird, und die nach et- (2001), egal ob böse Engländer oder Orks: im- «Game of Thrones» ist die Gewalt immer nie- lichen Intrigen und Mordkomplotten im Ver- mer wieder muss der Held seine Furchtlosig- derträchtig und verstörend. Es wird aus dem lauf der Handlung in einen blutigen Bürger- keit und Heldenhaftigkeit im Angesicht töd- Hinterhalt und mit Gift gemordet, Unschuldige krieg zwischen den Adelshäusern der Sieben licher Gefahr beweisen, und am Ende trium- werden von Rittern niedergemacht, und selbst Königreiche hineingezogen wird. Während das phiert ritterliche Tugend über das Böse. Und Kinder sind nicht sicher in dieser Welt. Der Land vom Krieg verwüstet wird, brauen sich selbst «Pillars of the Earth», das nicht in einer Tod macht nicht einmal vor den Protagonisten jenseits des Königreichs andere Gefahren zu- mythischen Welt spielt und grösstenteils auf halt, und im Verlauf der Handlung sterben im- sammen. Im Süden plant die verstossene Prin- ritterliche Heldenfiguren verzichtet, kann es mer wieder unerwartet Charaktere, an die man zessin Daenerys (Emilia Clarke), aus ihrem Exil sich nicht verkneifen, durch eine Prophezei- sich bereits über viele hundert Seiten hinweg zurückzukehren und den Thron der Sieben Kö- ung doch noch etwas Mystik und Magie in die gewöhnt hat. Über ritterliche Tugenden wie nigreiche zurückzugewinnen. Und im Norden Geschichte einfliessen zu lassen. Die Mystik Loyalität und Ehre wird zwar immer und im- breiten sich Gerüchte aus über eine übernatür- des Mittelalters eignet sich auch für Symbolik mer wieder gesprochen, aber sie sind nicht viel liche Gefahr aus der Eiswüste. Die Geschichte und Allegorie, wie Filme wie Ingmar Bergmans mehr als leere Floskeln und werden kaum je- verbindet gekonnt wie keine andere epische «Das Siebente Siegel» (1957) zeigen. mals gelebt: Verrat und hinterhältiges Morden Fantasy mit jeder Menge unromantischem Nach einem flüchtigen Blick auf die Serie sind an der Tagesordnung. Schmutz und Gewalt. oder den Roman «Game of Thrones» scheint es «Die Lieder der Sänger», sagt König Robert Durch diesen Trend zu mehr Blut und Dreck sich dabei genau um so eine verzauberte Mit- (Mark Addy) einmal voll grimmiger Nachdenk- verliert das Mittelalterszenario mehr und mehr telalterwelt zu handeln. Der Titel der Reihe, «A lichkeit, «haben nichts mit der Realität des seinen Ruf als Schauplatz für naive Märchen- Song of Ice and Fire», impliziert schon eine Krieges zu tun und verschweigen alles, was geschichten für Kinder und Teenager, doch an Verbindung zu mittelalterlichen Heldenliedern, nicht angenehm zu hören ist.» Die Desillusi- unserem grundlegenden, recht widersprüchli- und es sind auch viele Charakteristika da, die onierung der Kinder in dieser Welt ist dann chen Bild vom Mittelalter hat sich wenig ge- man mit High Fantasy wie «Lord of the Rings» auch ein wichtiges Thema der Bücher, und ändert. verbindet. Einen weltumspannenden Krieg in Sansa (in der Serie dargestellt von Sophie Tur- Denn das Mittelalter in Buch und Film re- einer frei erfundenen, mittelalterlichen Welt ner) muss auf brutale Art und Weise erkennen, präsentiert keine historische Epoche, sondern voller alter Sagen und Mythen, über der die dass die edlen Ritter aus ihren Lieblingsge- eher einen Ort des anderen und der Gegensät- Gefahr einer nahenden Katastrophe schwebt, schichten weniger real sind als Sagenwesen. ze, der all das ist, was unsere moderne, kapi- kommt wohl den meisten bekannt vor. Später Diese düstere Ironie, die sich selbst den Spie- talistische Welt gerade nicht zu sein scheint. dann werden sich dann auch noch allerhand gel vorhält, ist es, was «Game of Thrones» so Die Monotonie und Beherrschtheit unseres Märchenwesen dazugesellen, wie Drachen, interessant macht, und uns einiges über unser Alltags wird kontrastiert mit wildem, gewalttä- aber auch Untote. Bild der Vergangenheit verrät. tigem Nervenkitzel und unkontrollierter, offen Doch «Game of Thrones» spielt mit den

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 33 KKinoino & FFilmilm TRATSCHUNDLABER Von Sonja Wenger

a feilt man seine Fangzähne für die D bescheuertste Äusserung des Monats, wetzt seine Krallen für den Dauersieger Helmut-Maria Glogger, aka HMG, aka Her Majesty’s Glogger, recherchiert wild für die angemessene Bösartigkeit gegen grassieren- de Inkompetenz, und dann das: Man schreibt im TratschUndLaber vom Mai «frei nach dem Peter-Prinz» statt «frei nach dem Peter-Prin- KINO zip». Keine Pollenwolke, keine Prinzenhoch- zeit und keine mediale Hirnrissigkeit könnte einem mehr Tränen in die Augen treiben. Source Code Doch wie heisst es so schön im Zeitungs- wesen: Mit dem Klatsch von heute wird mor- Bild: zVg. gen der Fisch auf dem Markt eingewickelt – Von Sonja Wenger deshalb lasst uns vergeben, vergessen und das Gleiche neu verpacken, besonders wenn es ie aus einem Sekundenschlaf schreckt Code», seinem zweiten Langspielfilm, hat er um Prinzen und das Vergessen geht. So habe W Captain Colter Stevens (Jake Gyllen- kurzweilige Unterhaltung vom Besten geschaf- sich doch die deutsche «Bunte» kürzlich «in haal) in einem Pendlerzug nach Chicago auf. fen. Der Film hält nicht nur sein hohes An- Monaco umgehört und interessante Gerüch- Gerade noch befindet sich der Kampfpilot bei fangstempo mit Leichtigkeit durch, sondern te» über Prinzessin Carolines «Noch-Ehe» mit einem Einsatz in Afghanistan, und plötzlich er- respektiert sein Publikum auf angenehme Wei- Schlägerprinz Ernst August von Hannover er- zählt die wildfremde junge Frau ihm gegenüber se, indem er genauso viel fordert, wie er gibt. funden, pardon, gefunden. Kurz vor der anste- in vertraulichem Ton von ihrer neuesten Be- Ohne Ironie darf man «Source Code» als schlau- henden Fürstenhochzeit wird spekuliert, ob kanntschaft. Sein Ausweis lautet auf einen an- en Aufguss von «Groundhog Day» («Und täglich es an der Côte d’Azur auch noch eine medien- deren Namen, aus dem Spiegelbild im Zugs-WC grüsst das Murmeltier», 1993) für den mündi- wirksame Scheidung gibt, da es seit zwei Jah- blickt ihm ein fremdes Gesicht entgegen, und gen Teil der Post-9/11-Gesellschaft bezeichnen. ren keine gemeinsamen Fotos mehr von den auch sonst ist alles wirr. Doch bevor Stevens ir- Verdankt werden muss zudem, dass die phy- beiden Hannovers gibt. Und Mangels Subs- gendetwas erklären kann, explodiert eine Bom- sikalischen Theorien der Geschichte, sei es ein tanz verneint die «Bunte» das «Gerücht» dann be und Zapp. «Raum-Zeit-Kontinuum», parallele Universen, gleich selber, nicht nur, weil es dem Fisch Wieder erwacht Stevens, doch diesmal in genetische Kompatibilität oder anderes Tech- egal ist, worin er gewickelt, sondern auch weil einer Art Raumkapsel. Via Bildschirm ermahnt nikgebrabbel auf einem erträglichen Minimum Carolines Chancen einfach zu schlecht stehen, ihn eine Frau in Uniform, sich zusammenzu- gehalten werden. Sie dienen lediglich zur Ru- ihre dritte wie schon ihre erste Ehe «wegen reissen, sich zu beeilen, und sich zu erinnern, higstellung der Logikfanatiker, und spielen Irrtums» vom Vatikan annullieren zu lassen – wer die Bombe im Zug gezündet hat. Er sei Teil keine Rolle, was die Qualität der Geschichte selbst wenn niemand den Vatikan in punkto eines militärischen Wissenschaftsprojekts na- angeht. Denn wirklich interessant bei «Sour- vergeben und vergessen unschöner Dinge zu mens «Source Code», das man aber jetzt nicht ce Code» sind vor allem die mehrmals überra- schlagen vermag. erklären könne. Man habe nämlich nicht viel schenden Wendungen, das Zusammensetzen Apropos Unschönes und Mangel: Das Feh- Zeit, um einen zweiten Anschlag desselben Tä- des Puzzles, und Stevens verzweifelte Suche len von Weitblick und Anstand – also die Do- ters in Chicago zu verhindern, der Millionen nach Wahrheit, Ethik und Lebenssinn. minanz von Schritt-gesteuertem Verhalten – Menschen das Leben kosten könnte, und des- Doch nicht nur inhaltlich überzeugt «Sour- scheint in gewissen Kreisen auch weiter zur halb schicke man ihn jetzt gleich nochmals zu- ce Code» auf jeder Ebene. Auch das feine Zu- Grundausstattung zu gehören. Arnold «Ex- rück. Stevens habe acht Minuten, bevor der Zug sammenspiel des Schauspielerensembles stellt Terminator, Ex-Gouvernator und Ex-Kennedy» erneut explodiere. Zapp. eine wohltuende Abwechslung zum üblichen Schwarzenegger und Dominique Strauss-Kahn Kein Vorgeplänkel, kein Wischiwaschi, kein «Hauruck-ich-rette-die-Welt-mit-markigen- (DSK) sind nur die letzten in der langen Rei- Ballast: Der Science-Fiction-Thriller «Source Sprüchen»-Ansatz in diesem Genre. Gyllenhaal he jener, die deswegen schon Auge in Auge Code» wirft das Publikum vom ersten Moment schultert als zentrale Figur eine enorme Verant- mit Fischen gelegen haben. Doch selbst wenn an mitten ins Geschehen. Stets auf demselben wortung und lässt dennoch viel Raum für die manche der Geschichten bereits zum Himmel Wissensstand wie Stevens, der immer wieder wunderbaren Charaktere von Michelle Monag- stinken, bevor sie auf den Markt kommen, von neuem versuchen muss, das Geschehen han als Christina, die Frau im Zug, Vera Farmi- bleibt die Welt doch stets die gleiche, sei es im Zug mittels Indiziensuche zu rekonstruie- ga als Air-Force-Offizierin und Stevens Verbin- bei «Obama» Bin Laden-Schluss («Taz»), bei ren, entfaltet sich vor dem Publikum Schritt dung zur realen Welt, sowie Jeffrey Wright als mehr Patriotismus mit Mundart für die Klei- für Schritt eine intelligente und packende Ge- skrupellosem Projektleiter. Eine einnehmende nen und weniger Steuern für die Reichen. schichte um einen tragischen Helden. und herausfordernde Kombination, die jedes Oder andersrum gesagt: Wen interessiert Der britische Regisseur Duncan Jones, der ihrer Versprechen hält. wirklich, was DSK getrieben hat, solange of- erst vergangenes Jahr mit dem brillanten Sci- fen ist, wieso der Ex-IWF-Chef in New York ence-Fiction-Drama «Moon» im Kino war, wird in einer Suite zu 3000 US-Dollar pro Nacht sich dank seines offensichtlichen Talents wohl «Source Code». USA 2010. Regie: Duncan Jones. logierte derweil die IWF-Schuldnerländer ih- bald von dem noch obligaten Zusatz «der Sohn Länge: 93 Minuten. Ab 2. Juni in Deutschschwei- ren BürgerInnen gerade die Butter vom Brot von David Bowie» lösen können. Mit «Source zer Kinos. nehmen? Oder ist das auch schon vergessen?

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KINO The Woman with a Broken Nose Von Sonja Wenger Bild: zVg.

ichts als Ärger hat man, mit dem Leben Gavrilos Leben zur Katarsis, sondern auch für Schrulligkeit der Charaktere, und dem beinhar- N im Allgemeinen und den Menschen im Anica (Anica Dobra) und Biljana (Branka Katic), ten, aber schlussendlich wohltuenden Realis- Speziellen, glaubt der grantige Belgrader Ta- die den Vorfall, der sie fortan nicht mehr los- mus transportiert «The Woman with a Broken xifahrer Gavrilo (Nebojsa Glogovac). Er steht lässt und ihre Leben miteinander verbinden Nose» eine überaus positive Energie, die oft in auf der Brücke über der Save mal wieder im wird, beobachtet haben. jenen Optimismus und jene Liebe zum Leben Stau, als aus dem Nichts der Titelcharakter Alle drei haben auf die eine oder andere Art mündet, die in serbischen Filmen so häufig an- Zena (Nada Sargin), eine junge Frau mit bluti- mit einem Verlust zu kämpfen: So pflegt Gav- zutreffen sind. ger Nase und riesigem Plaster auftaucht und in rilo, der aus dem ländlichen Bosnien stammt, Doch nicht nur die unübersehbare Freude sein Taxi steigt. Doch als er sie mit harschen noch immer seine seelischen Wunden aus der DarstellerInnen am Spiel – die Besetzung Worten dazu anhält, bloss kein Blut auf seine dem lange zurückliegenden Krieg, und mehr der Rollen könnte nicht treffender sein – trägt Polster zu bringen, steigt sie wortlos wieder schlecht als recht schlägt er sich in einer Stadt viel zur grundsätzlich hoffnungsvollen Stim- aus und springt übers Geländer in den Fluss. durch, in der er stets ein Fremder geblieben mung des Films bei. Auch die Musik, die von Als Gavrilo und zwei Frauen aus den Autos ist, deren BewohnerInnen ihn wegen seines original ex-jugoslawischem Rock and Roll mit hinter ihm, die den Sprung gesehen haben, am Akzents belächeln; die Lehrerin Anica ist emo- seinen nostalgischen Klängen dominiert wird, Geländer stehen, ist nichts mehr in den Flu- tional erstarrt, seit ihr fünfjähriger Sohn bei schafft eine Leichtigkeit und hilft, die manch- ten zu erkennen. Schockiert, aber ohne grosse einem Autounfall mit Fahrerflucht starb; und mal traurigen Momente der Geschichte bes- Lust, den Vorfall der Polizei zu melden, will auch die Apothekerin Biljana ist nie über den ser zu verdauen, ja gar geniessen zu können Gavrilo weiterfahren – bis er feststellt, dass die Tod ihres Verlobten vor vielen Jahren hinweg- – denn ohne Traurigkeit keine Freude, ohne junge Frau ihr Baby bei ihm im Auto zurückge- gekommen. Sie alle werden durch den versuch- Tränen kein Lachen. Gerade hier zeigt sich die lassen hat. Er bringt es nicht übers Herz, das ten Selbstmord von Zena auf- und wachgerüt- wahre Meisterschaft von Koljevic und seinem Mädchen vor dem Waisenhaus abzuladen, und telt, und unternehmen plötzlich Anstrengun- Team, indem es durchgehend gelingt, die Ba- macht sich nach einigem Hadern auf die Suche gen, ihre Trauer und ihre festgefahrenen Le- lance zu halten, mehrere Geschichtsstränge auf nach Informationen über die Mutter, die ihren benssituationen zu überwinden. natürliche Art zu verweben, und besonders die Sprung offenbar überlebt hat und nun im Kran- «Ich wollte einen Film machen, der zeigt, wie harten Fakten des Lebens mit viel Fingerspit- kenhaus im Koma liegt. Menschen die emotionalen Wunden ihrer Ver- zengefühl anzugehen. Der enorm überraschende, dramatische, gangenheit überwinden», sagt Regisseur Kol- All dies macht «The Woman with a Broken beinahe surreale Beginn der Geschichte von jevic. «Und ich will dem Publikum mit der Ge- Nose» zu einem wunderbaren Sommerfilm, bei «The Woman with a Broken Nose» ist jedoch schichte Hoffnung und Optimismus offerieren, dem man sich genauso ernst genommen wie nur die Ausgangslage für einen genauso tra- ohne dabei aber die Augen vor der Realität zu unterhalten fühlen kann, und dessen Auflö- gischen wie witzigen Film, der die Klaviatur verschliessen.» Als Symbol für die Verbindung sung einem ein zufriedenes Lächeln aufs Ge- der Emotionen und der Symbolik meisterhaft zwischen Vergangenheit und Zukunft dient sicht zaubern wird. beherrscht. Der serbische Regisseur und Dreh- Koljevic die besagte Brücke am Anfang der buchautor Srdan Koljevic führt in seinem neu- Geschichte, die zwischen dem alten und dem «Zena sa slomljenim nosem – The Woman esten Werk gleich mehrere Lebensgeschichten neuen Stadtteil von Belgrad liegt, und die im with a Broken Nose». Serbien/Deutschland auf eindrückliche Weise zusammen, denn das Film immer wieder eine wichtige Rolle spielt. 2010. Regie: Srdan Koljevic. Länge: 101 Minu- Geschehen auf der Brücke wird nicht nur für Mit seinem Alltagswitz, der sympathischen ten. Ab 21. Juli in Deutschschweizer Kinos.

ensuite - kulturmagazin Nr. 102 | Juni/Juli 2011 35 KKinoino & FFilmilm IMPRESSUM

Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redak- tion: Lukas Vogelsang (vl); Anna Vershino- GROSSES KINO va // Peter J. Betts, Luca D’Alessandro (ld), Morgane A. Ghilardi, Christoph Hoigné, Mira Kandathil, Florian Imbach, Ruth Kofmel (rk), Etienne! Hanspeter Künzler, Stanislav Kutac, Michael Lack, Hannes Liechti, Andreas Meier, Belinda Von Morgane A. Ghilardi - Meier, Fabienne Nägeli, Roja Nikzad, Konrad Pauli, Eva Pfirter, Salvatore Pinto, Barbara Ro- Der Hamsterfilm Bild: zVg. elli, Erika Schumacher, Karl Schüpbach, Willy Vogelsang, Simone Wahli (sw), Simone Weber, Etienne!» war bei seiner Entstehung eigent- pathetisch daherkommt. Trotzdem wirken diese Sonja Wenger (sjw), Gabriela Wild (gw), Ueli « lich nicht als Kinderfilm gedacht. Nichtsdes- fundamental philosophischen Fragen angebracht. Zingg (uz). totrotz wurde er als solcher ausgezeichnet und Der Film handelt vor allem von Studenten, von Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Bundesrat gefeiert. Ob dies überraschend ist, bleibt unent- Menschen, die ihren Platz im Leben noch nicht Brändli: Matthias «Willi» Blaser; Kulturagen- schieden, da der Film tatsächlich auf verschie- gefunden und viele wichtige Entscheidungen zu da: kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin, denen Ebenen funktioniert. Das Roadmovie be- treffen haben. allevents, Biel; Abteilung für Kulturelles Biel, eindruckt mit seiner Naivität und Unschuld und Ebenso relevant ist jedoch der Mensch und Abteilung für Kulturelles Thun, Werbe & Ver- erzählt eine teils herzzerbrechende Geschichte seine Beziehung zum Tier. Während Richards Be- lags AG, Zürich. Korrektorat: Sandro Wiedmer über Freundschaft und (Tier-)Liebe. Gleichzeitig ziehung zu Etienne nicht von allen nachvollzogen (saw) nehmen sich die Figuren aber auch existenzialis- werden kann – er besitzt schliesslich ein Tier, das tischen Fragen an, die viele Studenten in ihren Eltern ihren Kindern schenken weil es unkom- Abonnemente: 77 Franken für ein Jahr / 11 Mitzwanzigern plagen, und die für das Verständ- pliziert ist und nicht lange lebt – ist eigentlich Ausgaben, inkl. artensuite (Kunstmagazin) nis den Zuschauern ähnliche Erfahrungen abver- klar, wieso er so einem kleinen Lebewesen so Abodienst: 031 318 6050 / [email protected] langen. viel Liebe schenken kann. Tiere beschenken den ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich. Richard (Richard Vallejos) befindet sich im Menschen mit Loyalität und Gesellschaft. Sie hin- Auflage: 10 000 Bern, 10 000 Zürich Fegefeuer des interessierten Studenten: er nimmt terfragen ihn nicht, werten ihn nicht, und verlan- nur Kurse, die ihn wirklich interessieren und zö- gen nicht viel mehr als Futter und ein sauberes Anzeigenverkauf: [email protected] Lay- gert damit sein Studium heraus. Seinen neuen Zuhause. Sie animieren auch zur Selbstreflektion. out: Lukas Vogelsang Produktion & Druck- Chef beeindruckt dies nicht; trotzdem darf Ri- Die Beziehung zum Tier stellt die Balance von vorstufe: ensuite, Bern Druck: Fischer AG für chard handwerkliche aber nicht besonders er- Geben und Nehmen dar, die in vielen menschli- Data und Print Vertrieb: Abonnemente, Auf- füllende Aufgaben im Hotel San Remo überneh- chen Beziehungen fehlt. Beobachtet man Richard lage in Bern und Zürich - ensuite 031 318 60 men. Was ihm jedoch wirklich wichtig ist, ist und Etienne, wünscht man sich selbst eine solche 50; Web: interwerk gmbh sein Zwerghamster Etienne, an dessen Käfigpar- Freundschaft. cours er stets weiterbastelt. Schon bald erfährt Die Atmosphäre des Films ist sehr speziell. Hinweise für redaktionelle Themen erwünscht er das schlimmste: Etienne hat Krebs und sollte Das grobkörnige Bild verleiht den Figuren, die bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikati- eingeschläfert werden. Am Boden zerstört wird dem Retro-chic verfallen sind, einen speziellen on entscheidet die Redaktion. Bildmaterial di- Richard aber von einer Idee ergriffen. Er will Look, während es dem Film eine gewisse Intimi- gital oder im Original senden. Wir senden kein Etienne die Welt zeigen, damit er in seiner letz- tät gibt. Die Landschaftsaufnahmen Kaliforniens Material zurück. Es besteht keine Publikations- ten Woche auf Erden noch etwas erleben kann. wirken so auf positive Art verwaschen. Vor al- pflicht. Agendahinweise bis spätestens am 18. Mit dem kleinen Käfig vorne am Velo montiert lem der Soundtrack bleibt einem jedoch. Die Mi- des Vormonates über unsere Webseiten einge- und dem Rucksack auf dem Rücken, macht sich schung aus französischen Pseudochansons und ben. Redaktionsschluss der Ausgabe ist jeweils Richard also auf den Weg und lässt San Francis- innovativem Indie-/Folkpoprock, unter anderem am 18. des Vormonates (www.kulturagenda.ch). co hinter sich. Unterwegs verbinden ihn die selt- von Great Northern geliefert, unterstreicht so- samsten Zufälle mit anderen, die sich auf einer wohl die scheinbare Naivität wie auch den Tief- Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist po- Reise befinden. gang der Geschichte. Einige Lieder wollen einem litisch, wirtschaftlich und ethisch unabhängig Aus dieser Prämisse wird ein Exkurs über das einfach nicht mehr aus dem Kopf. und selbständig. Die Texte repräsentieren die Verlangen nach Selbstverwirklichung und die «Etienne!» ist ein Film mit viel Herz, der sich Meinungen der AutorInnen, nicht jene der Re- kosmischen Gesetze des Schicksals entwickelt. keinen Alterskategorien unterwerfen muss. Die daktion. Copyrights für alle Informationen und Es geht um Wege und Leben die sich kreuzen junge Crew, welche die kleine Produktion ge- Bilder liegen beim Verein WE ARE in Bern und und um die Eindrücke, die diese Leben aufein- dreht hat, darf sich rühmen, mit Charme, Humor der edition ensuite. «ensuite» ist ein eingetra- ander hinterlassen. Vom leicht gestörten Mitbe- und einem guten Mass an Philosophie eine un- gener Markenname. wohner, der bizarre, schrille Musik macht, zum terhaltsame und berührende Geschichte erzählt Fotografen, der versucht, das Schicksal oder den zu haben, auch ohne Starbesetzung oder grosses Redaktionsadresse: Zufall mit seiner Kamera einzufangen – alle su- Budget. Beim Dreh kamen übrigens keine Hams- chen nach einem Ventil für ihr Bedürfnis nach ter zu schaden. ensuite – kulturmagazin Antworten auf die universellen Fragen des Le- Der Film kommt jetzt in der Schweiz, in einer Sandrainstrasse 3; CH-3007 Bern bens. All diese künstlerisch angehauchten In- zusätzlichen Schweizerdeutschen Kinderfassung Telefon 031 318 60 50 dividuen werden aber auch mit einer gesunden mit Märchenerzählerin Trudi Gerster, direkt auf Fax 031 318 60 51 Portion Ironie dargestellt, so dass das Ergrün- DVD heraus. E-Mail: [email protected] den dieser schweren Lebensfragen nicht zu Mehr Informationen unter www.hamsterfilm.ch. Web: www.ensuite.ch

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