Kapitel 7 | Die Tierische Besiedlung Von Gletschermoränen

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Kapitel 7 | Die Tierische Besiedlung Von Gletschermoränen Kapitel 7 | Die tierische Besiedlung von Gletschermoränen Eva-Maria Koch, Rüdiger Kaufmann Zusammenfassung und die Vegetationsentwicklung entlang der Um zu erfahren, wie ein Ökosystem aus dem Chronosequenz. Kleinräumig wirken sich zu- Nichts entstehen kann und wie lange es dafür sätzlich das Temperatur- und Feuchtemilieu benötigt, wird das Gletschervorfeld des Rot- aus. Modellierungen zeigen, dass die Pionier- moostales seit Jahren untersucht. Nachdem gesellschaften im Gletschervorfeld sehr stark die pflanzliche Sukzession in Kap. 6 bereits auf Klimaänderungen reagieren. dargestellt wurde, wird in diesem Kapitel auf die tierische Besiedelung eingegangen. Ent- lang der Chronosequenz zeigt sich, dass sich Abstract in den ersten 50 Jahren die Pioniergesellschaf- To find out, how an ecosystem can develop ten rasch entwickeln und sich die auftreten- on barren ground and how long this process den Arten ändern. Danach erfolgen nur mehr takes, the glacier foreland of the Rotmoos wenige Veränderungen, die Artengemein- valley has been investigated over years. Plant schaften ähneln bereits denen angrenzender succession is described in chapter 6, this Gebiete. Die ersten Kolonisatoren sind fast chapter focuses on the settlement of inverte- ausschließlich räuberische Arten. Pflanzen- brate animals in the glacier foreland. Along fresser und Streuzersetzer folgen erst später the chronosequence of 140 years it is shown nach. In 30 Jahre alten Böden siedeln sich that rapid development of pioneer communi- Springschwänze, Milben, Borstenwürmer, ties with fast species turn-over for 50 years is Käfer- sowie Schmetterlingsraupen an. Es fol- followed by little change in older stages when gen Mücken und Tausendfüßer, die restlichen animal communities already resemble those Gruppen treten erst nach 90 Jahren Bodenent- of adjacent areas. The first colonizers are al- wicklung auf. Auch bei der Bodenfauna steigt most exclusively predators. Herbivores and die Artenzahl in den ersten 50 Jahren rasch an decomposers appear later. On 30 years old und stabilisiert sich danach auf dem für alpi- moraines Collembola, Acari, Enchytraeidae ne Rasen typischen Niveau. Die wichtigsten and larvae of Lepidoptera as well as Coleop- äußeren Effekte, welche auf die tierische Be- tera are present. Nematocera and Myriapoda siedelung einwirken, sind die Bodenbildung follow later on. Other groups appear after 165 E.-M. Koch, R. Kaufmann 90 years of soil formation as an organic lay- Jüngere Untersuchungen zu diesem The- er develops. Species numbers rapidly increase ma gibt es auch aus den Südalpen (Gobbi over the first 50 years, then they stabilize at a et al. 2006), aus der Arktis (Hodkinson level typical for alpine grasslands. The major et al. 2001), sowie eine sehr umfangreiche factors affecting faunal succession are soil for- Studie über norwegische Gletschervor- mation and vegetation development along the felder (Vater 2006). Rüdiger Kaufmann chronosequence, temperature and moisture von der Universität Innsbruck und seine exert additional small-scale influences. Fur- MitarbeiterInnen führen seit 1995 Lang- thermore, model calculations show that the zeitstudien über die Kolonisation und die pioneer communities in the glacier foreland Sukzession der auftretenden Tierarten react strongly to climate change. im Gletschervorfeld des Rotmoosferners in Obergurgl durch (Abb. 1). Die Öko- logInnen (Juen 1998, Spitaler 1998, Kapl 1999, Schallhart 2005, Koch 2006, Die Erforschung der tierischen König 2006, Baldes 2009) untersuchen die Besiedlung tierischen Gesellschaften, den Aufbau der Nahrungsnetze, die Konkurrenz zwischen Arten, den Fraßdruck Pflanzen fressender Seit 150 Jahren gehen in den Alpen die Tiere sowie den Einfluss von Umwelt- Gletscher zurück und geben rohe Mo- faktoren und Klimaänderungen auf die ränenböden für die Besiedlung durch Entwicklung der Artengemeinschaften Pflanzen und Tiere frei. Hier entstehen und der Bodenbildung. Ein aktuelles neue Ökosysteme mit Wechselwirkun- Forschungsprojekt, welches 2008 gestar- gen zwischen den Organismen und ihren tet wurde, beleuchtet die Nahrungsnetze Nahrungsnetzen. Entlang dieser Glet- von wirbellosen Tieren in Gletscherrück- schervorfelder lassen sich alle Alters- zugsflächen (Raso et al. 2008). stadien der Entwicklung beobachten. Sie Auch andere Primärstandorte, die für ei- stellen gewissermaßen natürliche Expe- nen Vergleich mit dem Gletschervorfeld rimente dar und zeigen die Lebenskraft, interessant sind, wurden auf ihre tierische aber auch die Empfindlichkeiten der alpi- Besiedelung hin untersucht: Im Jahr 1948 nen Ökosysteme unter sich verändernden beschäftigte sich Dammermann erstmals Umweltbedingungen. mit der Faunengemeinschaft auf der akti- Zoologische Besiedelungsprozesse im ven Vulkaninsel Krakatau. Auf den kana- Gletschervorfeld wurden erstmals von rischen Inseln standen 1992 für Ashmo- Janetschek (1949) und in den letzten Jah- le und seine KollegInnen (Ashmole und ren in den Arbeiten von Gereben (1995) Ashmole 1987, Ashmole et al. 1992) die und Kaufmann (2001, 2002) analysiert. Vulkankegel auf La Palma im Mittelpunkt 166 Kapitel 7 | Die tierische Besiedlung von Gletschermoränen Abb. 1: In den Boden betonierte Barberfallen – ein Beispiel für die arbeitsintensive, ökologische Beprobung des Rotmoostales (Foto: R. Kaufmann) der faunistischen Erforschung. Auch am während des Sukzessionsablaufs unter- Mount St. Helens im US-Bundesstaat sucht. Washington wurden zahlreiche ökologi- sche Untersuchungen durchgeführt: Ed- wards und Sugg erforschten 1993 und 1998 die Arthropodengemeinschaft. Die Die Chronosequenz und die Arbeitsgruppe rund um die Forscher Fa- Sukzession der Arten gan und Bishop (Fagan und Bishop 2000, Bishop 2002, Fagan et al. 2004) hinge- gen beleuchteten die Kolonisierung der Um etwa 1858 erreichten die alpinen Vulkanflächen durch Lupinus lepidus ssp. Gletscher ihre größte Ausdehnung seit lobbii im Zusammenhang mit dem Auf- der letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jah- treten herbivorer Insekten. Von Dormann ren. Das Areal außerhalb der End- und et al. wurden im Jahr 2000 Salzmarschen Seitenmoränen des Rotmoos ferners ist in den Niederlanden im Bezug auf inter- seither eisfrei. Hinter der End moräne hat spezifischen Wettbewerb und Fraßdruck der schmelzende Gletscher über die letz- 167 E.-M. Koch, R. Kaufmann Abb. 2: Die Chronosequenz des Rotmoostales (Ötztal, Tirol) von der Endmoräne, die auf 1858 datiert wird, bis zum derzeitigen Gletscherrand (Foto: R. Kaufmann) ten 150 Jahre eine sogenannte Chronose- besiedeln das Areal in einer charakteristi- quenz (Abb. 2) geschaffen, eine räumlich schen Abfolge. Den Beginn der Besiede- geordnete Abfolge aller Stadien der Bo- lung machen die so genannten Pionier- denbildung und der sich entwickeln den arten, die bereits in den ersten Jahren Artengemeinschaften von Pflanzen und unmittelbar am Gletscherrand auftreten. Tieren. Im Fall des Gletschervorfeldes sind das beispielsweise der Gletscher-Weberknecht Mitopus glacialis oder auch der Laufkäfer 1. Verteilung der epigäischen Arthro- Nebria jockischii. podenfauna im Gletschervorfeld Mit dem Entstehen artenreicherer Ge- (Kaufmann 2001) meinschaften werden viele dieser frühen Kolonisatoren durch nachfolgende Arten Die einzelnen, an der Bodenoberfläche ersetzt (Kaufmann 2001). Diesen Vor- lebenden (epigäischen) Gliedertierarten gang nennt man Sukzession. Eine Aus- 168 Kapitel 7 | Die tierische Besiedlung von Gletschermoränen Abb. 3: Veränderung der Landschaft mit dem Alter seit der Ausaperung zusammen mit charakteristischen Tier- und Pflanzenarten dieser Entwicklungsstufe (Fotos: R. Kaufmann) wahl typischer Tier- und Pflanzenarten jüngsten Moränenbereichen insgesamt für bestimmte Altersstadien im Gletscher- vier verschiedene Arten auf. Die große He- vorfeld zeigt Abb. 3. terogenität der Landschaft ermöglicht die Im Altersverlauf des Gletschervorfeldes im Koexistenz dieser nahverwandten Arten, Rotmoostal ist bei Laufkäfern eine klare die normalerweise in unterschiedlichen Abfolge der Arten zu erkennen (Abb. 4). Höhenstufen vorkommen. Im Gletscher- Von der Gattung Nebria treten in den vorfeld besetzt jede der Nebria-Arten eine 169 E.-M. Koch, R. Kaufmann 80 Jahren entsteht ein organi- scher Bodenhorizont) nimmt die Anwesenheit der Zersetzer zu, verschiedene Vertreter der Tausendfüßer (Diplopoden) treten vermehrt auf. Eine Ausnahme stellt nur die Art Trimerophorella rhaetica dar: dieser spezialisierte, in den Alpen endemische Tausend- füßer siedelt bereits auch auf ganz jungen Standorten im Gletscher vorfeld. Obwohl Ameisen in fast allen Regionen der Welt vorkom- men – selbst in der Wüste und im Polarkreis – schafft es nur eine einzige Art, Formica lemani, in das Gletschervor- feld vorzudringen. Sie be- siedelt sonnige Plätze in den Abb. 4: ältesten Bereichen des Vorfel- Sukzession im Gletschervorfeld – die Abfolge von Arten am des. Auch typische Grasland- Beispiel verschiedener Laufkäferarten bewohner wie Grashüpfer le- ben nur nahe der Endmoräne andere ökologische Nische (Kaufmann an fast 150 Jahre alten Standorten mit und Juen 2001). geschlossener Vegetation. Spinnen sind im gesamten Vorfeld anzu- treffen. Die ersten Arten, welche auf den jungen Flächen eintreffen, sind Vertreter 2. Verteilung der Bodenfauna im der Baldachinspinnen (Linyphiidae) und Gletscher vorfeld der Wolfsspinnen (Lycosidae). Ihnen fol- (Kaufmann et al. 2002) gen etwas später die Glattbauchspinnen (Gnaphosidae). Ab einem Alter von 30 Nicht nur an der Bodenoberfläche des Jahren besiedeln auch Hundertfüßer und Gletschervorfeldes findet eine Sukzes- Pflanzen
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