Kapitel 7 | Die tierische Besiedlung von Gletschermoränen

Eva-Maria Koch, Rüdiger Kaufmann

Zusammenfassung und die Vegetationsentwicklung entlang der Um zu erfahren, wie ein Ökosystem aus dem Chronosequenz. Kleinräumig wirken sich zu- Nichts entstehen kann und wie lange es dafür sätzlich das Temperatur- und Feuchtemilieu benötigt, wird das Gletschervorfeld des Rot- aus. Modellierungen zeigen, dass die Pionier- moostales seit Jahren untersucht. Nachdem gesellschaften im Gletschervorfeld sehr stark die pflanzliche Sukzession in Kap. 6 bereits auf Klimaänderungen reagieren. dargestellt wurde, wird in diesem Kapitel auf die tierische Besiedelung eingegangen. Ent- lang der Chronosequenz zeigt sich, dass sich Abstract in den ersten 50 Jahren die Pioniergesellschaf- To find out, how an ecosystem can develop ten rasch entwickeln und sich die auftreten- on barren ground and how long this process den Arten ändern. Danach erfolgen nur mehr takes, the glacier foreland of the Rotmoos wenige Veränderungen, die Artengemein- valley has been investigated over years. Plant schaften ähneln bereits denen angrenzender succession is described in chapter 6, this Gebiete. Die ersten Kolonisatoren sind fast chapter focuses on the settlement of inverte- ausschließlich räuberische Arten. Pflanzen- brate in the glacier foreland. Along fresser und Streuzersetzer folgen erst später the chronosequence of 140 years it is shown nach. In 30 Jahre alten Böden siedeln sich that rapid development of pioneer communi- Springschwänze, Milben, Borstenwürmer, ties with fast species turn-over for 50 years is Käfer- sowie Schmetterlingsraupen an. Es fol- followed by little change in older stages when gen Mücken und Tausendfüßer, die restlichen communities already resemble those Gruppen treten erst nach 90 Jahren Bodenent- of adjacent areas. The first colonizers are al- wicklung auf. Auch bei der Bodenfauna steigt most exclusively predators. Herbivores and die Artenzahl in den ersten 50 Jahren rasch an decomposers appear later. On 30 years old und stabilisiert sich danach auf dem für alpi- moraines Collembola, Acari, Enchytraeidae ne Rasen typischen Niveau. Die wichtigsten and larvae of as well as Coleop- äußeren Effekte, welche auf die tierische Be- tera are present. Nematocera and Myriapoda siedelung einwirken, sind die Bodenbildung follow later on. Other groups appear after

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90 years of soil formation as an organic lay- Jüngere Untersuchungen zu diesem The- er develops. Species numbers rapidly increase ma gibt es auch aus den Südalpen (Gobbi over the first 50 years, then they stabilize at a et al. 2006), aus der Arktis (Hodkinson level typical for alpine grasslands. The major et al. 2001), sowie eine sehr umfangreiche factors affecting faunal succession are soil for- Studie über norwegische Gletschervor- mation and vegetation development along the felder (Vater 2006). Rüdiger Kaufmann chronosequence, temperature and moisture von der Universität Innsbruck und seine exert additional small-scale influences. Fur- MitarbeiterInnen führen seit 1995 Lang- thermore, model calculations show that the zeitstudien über die Kolonisation und die pioneer communities in the glacier foreland Sukzession der auftretenden Tierarten react strongly to climate change. im Gletschervorfeld des Rotmoosferners in Obergurgl durch (Abb. 1). Die Öko­ logInnen (Juen 1998, Spitaler 1998, Kapl 1999, Schallhart 2005, Koch 2006, Die Erforschung der tierischen König 2006, Baldes 2009) untersuchen die Besiedlung tierischen Gesellschaften, den Aufbau der Nahrungsnetze, die Konkurrenz ­zwischen Arten, den Fraßdruck Pflanzen fressender Seit 150 Jahren gehen in den Alpen die Tiere sowie den Einfluss von Umwelt- Gletscher zurück und geben rohe Mo- faktoren und Klimaänderungen auf die ränenböden für die Besiedlung durch Entwicklung der Artengemeinschaften Pflanzen und Tiere frei. Hier entstehen und der Bodenbildung. Ein ­aktuelles neue Ökosysteme mit Wechselwirkun- ­Forschungsprojekt, welches 2008 gestar- gen zwischen den Organismen und ihren tet wurde, beleuchtet die Nahrungsnetze Nahrungsnetzen. Entlang dieser Glet- von wirbellosen Tieren in Gletscherrück- schervorfelder lassen sich alle Alters- zugsflächen (Raso et al. 2008). stadien der Entwicklung beobachten. Sie Auch andere Primärstandorte, die für ei- stellen gewissermaßen natürliche Expe- nen Vergleich mit dem Gletschervorfeld rimente dar und zeigen die Lebenskraft, interessant sind, wurden auf ihre tierische aber auch die Empfindlichkeiten der alpi- Besiedelung hin untersucht: Im Jahr 1948 nen Ökosysteme unter sich verändernden beschäftigte sich Dammermann erstmals Umweltbedingungen. mit der Faunengemeinschaft auf der akti- Zoologische Besiedelungsprozesse im ven Vulkaninsel Krakatau. Auf den kana- Gletschervorfeld wurden erstmals von rischen Inseln standen 1992 für Ashmo- Janetschek (1949) und in den letzten Jah- le und seine KollegInnen (Ashmole und ren in den Arbeiten von Gereben (1995) Ashmole 1987, Ashmole et al. 1992) die und Kaufmann (2001, 2002) analysiert. Vulkankegel auf La Palma im Mittelpunkt

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Abb. 1: In den Boden betonierte Barberfallen – ein Beispiel für die arbeitsintensive, ökologische Beprobung des Rotmoostales (Foto: R. Kaufmann) der faunistischen Erforschung. Auch am während des Sukzessionsablaufs unter- Mount St. Helens im US-Bundesstaat sucht. Washington wurden zahlreiche ökologi- sche Untersuchungen durchgeführt: Ed- wards und Sugg erforschten 1993 und 1998 die Arthropodengemeinschaft. Die Die Chronosequenz und die Arbeitsgruppe rund um die Forscher Fa- Sukzession der Arten gan und Bishop (Fagan und Bishop 2000, Bishop 2002, Fagan et al. 2004) hinge- gen beleuchteten die Kolonisierung der Um etwa 1858 erreichten die alpinen Vulkanflächen durch Lupinus lepidus ssp. ­Gletscher ihre größte Ausdehnung seit lobbii im Zusammenhang mit dem Auf- der letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jah- treten herbivorer Insekten. Von Dormann ren. Das Areal außerhalb der End- und et al. wurden im Jahr 2000 Salzmarschen Seitenmoränen des Rotmoos­ferners ist in den Niederlanden im Bezug auf inter- seither eisfrei. Hinter der End­moräne hat spezifischen Wettbewerb und Fraßdruck der schmelzende Gletscher über die letz-

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Abb. 2: Die Chronosequenz des Rotmoostales (Ötztal, Tirol) von der Endmoräne, die auf 1858 datiert wird, bis zum derzeitigen Gletscherrand (Foto: R. Kaufmann) ten 150 Jahre eine sogenannte Chronose- besiedeln das Areal in einer charakteristi- quenz (Abb. 2) geschaffen, eine räumlich schen Abfolge. Den Beginn der Besiede­ geordnete Abfolge aller Stadien der Bo- lung machen die so genannten Pionier- denbildung und der sich entwickeln­den arten, die bereits in den ersten Jahren Artengemeinschaften von Pflanzen und unmittelbar am Gletscherrand auftreten. ­Tieren. Im Fall des Gletschervorfeldes sind das beispielsweise der Gletscher-Weberknecht Mitopus glacialis oder auch der Laufkäfer 1. Verteilung der epigäischen Arthro- Nebria jockischii. podenfauna im Gletschervorfeld Mit dem Entstehen artenreicherer Ge- (Kaufmann 2001) meinschaften werden viele dieser frühen Kolonisatoren durch nachfolgende Arten Die einzelnen, an der Bodenoberfläche ersetzt (Kaufmann 2001). Diesen Vor- lebenden (epigäischen) Gliedertierarten gang nennt man Sukzession. Eine Aus-

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Abb. 3: Veränderung der Landschaft mit dem Alter seit der Ausaperung zusammen mit charakteristischen Tier- und Pflanzenarten dieser Entwicklungsstufe (Fotos: R. Kaufmann) wahl typischer Tier- und Pflanzenarten jüngsten Moränenbereichen insgesamt für bestimmte Altersstadien im Gletscher- vier verschiedene Arten auf. Die große He- vorfeld zeigt Abb. 3. terogenität der Landschaft ermöglicht die Im Altersverlauf des Gletschervorfeldes im Koexistenz dieser nahverwandten Arten, Rotmoostal ist bei Laufkäfern eine ­klare die normalerweise in unterschiedlichen Abfolge der Arten zu erkennen (Abb. 4). Höhenstufen vorkommen. Im Gletscher- Von der Gattung Nebria ­treten in den vorfeld besetzt jede der Nebria-Arten eine

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80 Jahren entsteht ein organi- scher Bodenhorizont) nimmt die Anwesenheit der Zersetzer zu, verschiedene Vertreter der Tausendfüßer (Diplopoden) treten vermehrt auf. Eine Ausnahme stellt nur die Art Trimerophorella rhaetica dar: dieser spezialisierte, in den Alpen endemische Tausend- füßer siedelt bereits auch auf ganz jungen Standorten im Gletscher­vorfeld. Obwohl Ameisen in fast allen Regionen der Welt vorkom- men – selbst in der Wüste und im Polarkreis – schafft es nur eine einzige Art, Formica lemani, in das Gletschervor- feld vorzudringen. Sie be- siedelt sonnige Plätze in den

Abb. 4: ältesten Bereichen des Vorfel- Sukzession im Gletschervorfeld – die Abfolge von Arten am des. Auch typische Grasland- ­Beispiel verschiedener Laufkäferarten bewohner wie Grashüpfer le- ben nur nahe der Endmoräne andere ökologische Nische (Kaufmann an fast 150 Jahre alten Standorten mit und Juen 2001). geschlossener Vegetation. Spinnen sind im gesamten Vorfeld anzu- treffen. Die ersten Arten, welche auf den jungen Flächen eintreffen, sind Vertreter 2. Verteilung der Bodenfauna im der Baldachinspinnen (Linyphiidae) und Gletscher­vorfeld der Wolfsspinnen (Lycosidae). Ihnen fol- (Kaufmann et al. 2002) gen etwas später die Glattbauchspinnen (Gnaphosidae). Ab einem Alter von 30 Nicht nur an der Bodenoberfläche des Jahren besiedeln auch Hundertfüßer und Gletschervorfeldes findet eine Sukzes­ Pflanzen fressende Käferarten die Morä- sion statt, dieser Prozess ist ebenso un- nen. Mit Beginn der Bodenbildung (ab ca. ter der Erde zu beobachten. Eine Studie

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höchsten In­dividuendichten der Mesofauna (=Bodentie- re mit einer Größe zwischen 0,3 und 1 Millimeter) errei- chen die Milben, die Biomas- se der Makrofauna­ (= Boden- tiere größer als 1 Millimeter) wird von Mückenlarven do- miniert. Die Biomasse der Makro­ fauna sowie die ­Abundanz der Mesofauna steigen in den ersten 50 Jahren rapide an (Abb. 5). Zu den älteren Standorten hin ändern sich die Werte jedoch kaum mehr. Betrachtet man den Verlauf einer einzelnen Vegetationspe- riode, steigt die Biomasse der Bodenfauna über den kurzen Sommer hin an. Die Artenzu- sammensetzung bleibt jedoch Abb. 5: über diesen Zeitraum weitge- Verteilung und Abfolge der Meso- und Makrofauna im Boden hend konstant. Da erst ab einem Standortal- von Kaufmann et al. aus dem Jahr 2002 ter von etwa 80 Jahren eine echte Boden- zeigt, dass erste Gruppen der Bodenfauna bildung mit einem dünnen A-Horizont (Abb. 5), wie die Springschwänze (Coll- auftritt (Erschbamer et al. 1999), ist das embola), Milben (Acari), Borstenwürmer Vordringen von Gruppen wie Regen- (Enchytraeidae) sowie Schmetterlings- würmern (Lumbriciden) und Schne- raupen (Lepidoptera), bereits in 30 Jahre cken (­Gastropoden) stark begrenzt. Die alten Böden auftreten. Nach etwa 40 bis jüngsten Areale sind Pionieren mit hoher 50 Jahren Bodenbildung folgen Mücken- Mobilität und Verbreitungsfähigkeit vor- larven (Nematocera) und Tausend­füßer behalten. Diese Bereiche werden von räu- (Myriapoda). Alle weiteren Bodentier- berischen Käfer­larven dominiert. Gruppen erreichen erst nach 90 Jah- Das Standortalter ist der wichtigste Ein- ren eine nennenswerte Abundanz. Die flussfaktor auf die Zusammensetzung der

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Bodenfauna. Zusätzlich dazu sind jedoch dae und Muscidae auf: In Gletschernähe auch lokale Variationen der mikroklimati- ist ihre Flugaktivität vom Morgen bezie- schen Bedingungen oder der Bodeneigen- hungsweise Vormittag in die Mittagszeit schaften für den Verlauf der Besiedelung und in den Nachmittag verschoben. Un- von Bedeutung. tersuchungen mit Hilfe von Schlüpftrich- tern zeigen, dass zahlreiche Fluginsekten (Tipulidae, Muscidae, Anthomyiidae und 3. Verteilung der Flugfauna im Syrphidae) häufiger von außen in den Gletschervorfeld (Kapl 1999) Bereich des Gletschervorfeldes einflie- gen, als vor Ort schlüpfen. Die höchste Über 90 Prozent der Flugfauna im Glet- Schlüpfproduktion findet an den ältesten schervorfeld sind Vertreter der Zwei­ Standorten im Gletschervorfeld statt. Die flügler (Diptera). Die restlichen zehn gemessenen Werte entsprechen Befunden Prozent entfallen auf Käfer (Coleoptera), aus alpinen Grasheiden. Im jungen Glet- Gleichflügler (Hymenoptera), Webspin- schervorfeld ist die Schlüpfrate hingegen nen (Araneae) und Schnabelkerfen (He- vergleichsweise gering. miptera). Innerhalb der Mücken (Nema- tocera) sind die dominanten Familien die Zuckmücken (Chironomidae), Gritzen (Ceratopogonidae), Schnaken (Tipuli- dae) und Trauermücken (Sciaridae). Bei den Fliegen (Brachycera) treten vor allem Echte Fliegen (Muscidae), Blumenfliegen (Anthomyiidae), Buckelfliegen (Phoride), Taufliegen (Drosophilidae) und Schweb- fliegen (Syrphidae) auf. Gletscherferne Standorte (Abb. 6) werden am häufigsten von Muscidae besucht, in der Nähe des Gletschers kommen dann auch Chirono- midae in ähnlicher Dichte vor. Untersuchungen von Kapl aus dem Jahr 1999 zeigen zudem, dass zum Gletscher hin sowohl die Anzahl der vertretenen Fa- milien als auch die Biodiversität der Flug- fauna abnimmt. Auch die Flugaktivität Abb. 6: wird geringer. Eine besondere Anpassung Fensterfalle zum Fang der Flugfauna an einem weisen die beiden Familien Chironomi- ­gletscherfernen Standort (Foto: R. Kaufmann)

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4. Verteilung Pflanzen fressender Grund dafür könnte der höhere Nähr- Arthropoden im Gletschervorfeld stoffgehalt der Pflanzen sein, da in den (Koch 2006) nicht so dichten Beständen weniger Kon- kurrenz zwischen den Pflanzen herrscht. Die häufigsten Pflanzen fressenden (her- Thysanoptera (Abb. 8) sind erst ab einem bivoren) Gruppen im Gletschervorfeld Standortalter­ von mindestens 25 Jahren (Abb. 7) sind Thripse (Thysanoptera), anzutreffen, die jüngsten Bereiche werden Kugelspringer (Symphypleona), Gleich- noch nicht besiedelt. Zikaden treten ab flügler (Homoptera) und Schmetterlings- einem Standortalter von etwa 50 Jahren raupen (Lepidoptera). Einzelne Weiden auf, da sie zur Etablierung auf eine Vege- werden besonders stark von Raupen des tationsdichte von etwa 30 Prozent ange- Alpenwollafters ( arbusculae) wiesen sind. und Blattkäfer-Larven (Chrysomelidae,­ Nahezu alle herbivoren Gruppen, aus- Abb. 9) befallen. genommen die Larven von Dipteren Die Herbivorendichte nimmt anfangs mit und Lepidopteren, erreichen im Juli ihre dem Sukzessionsalter und damit auch mit höchste Abundanz und nehmen zum der Vegetationsdeckung zu. In den Berei- Herbst hin schnell ab. Auch die beiden chen mittleren Sukzessionsalters treten Talseiten unterscheiden sich in ihren Her- die höchsten Herbivorendichten auf. Der bivorendichten deutlich.

Abb. 7: Dominanzspektrum (%, ermittelt aus der Summe von drei Saugbeprobungen) der herbivoren Gruppen an den einzelnen Standorten (nach Sukzessionsalter gereiht, F1… 146 Jahre, C0…31 Jahre)

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undanz und das Artenspektrum von Herbivoren an verschiedenen Pflan- zen. Die drei häufigen Gletscher- vorfeldarten Fetthennen-Steinbrech (Saxifraga aizoides), Moränenklee (Trifolium pallescens) und Alpen- Wundklee (Anthyllis vulneraria ssp. alpicola) weisen ein ähnliches Her- bivorenspektrum auf. Die Individu- endichten der Pflanzenfresser sind jedoch auf Trifolium pallescens be- Abb. 8: trächtlich höher als auf den anderen Thrips auf Anthyllis vulneraria ssp. alpicola beiden Arten. Dies deutet auf einen (Foto: R. Kaufmann) unterschiedlich hohen Fraßdruck hin. Insektenausschlussversuche innerhalb einer Vegetationsperio- de haben jedoch in Bezug auf den Wachstums- und Reproduktionser- folg der drei Arten keine oder keine deutlich signifikanten Unterschie- de ergeben. Möglicherweise muss eine derartige Versuchsreihe über mehrere Vegetationsperioden hin- weg durchgeführt werden, um Aus- wirkungen ausreichend erfassen zu können. Abb. 9: Auch der intensive Fraßdruck der Blattkäferlarven auf einer Weide (Foto: R. Kaufmann) Raupen des Alpenwollafters und der Blattkäfer-Larven an Weiden Um zu erkennen, ob nun herbivore Arth- könnte einen bremsenden Einfluss auf die ropoden einen bremsenden Effekt auf die Sukzession im Gletschervorfeld haben. Sukzession oder die Etablierung einzelner Die Pflanzenfresser befallen die Sträucher Arten im Gletschervorfeld haben, unter- in hoher Dichte und reduzieren deren suchte Koch 2005 im Rotmoostal die Ab- Wachstum stark.

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Entwicklung der Biodiversität Pflanzen in den ersten Jahren der Besie- delung nur wenige Pionierarten auftreten, etabliert sich sehr rasch eine diverse Tier- Die Zahl der verschiedenen tierischen Be- welt in den jüngsten Gletschervorfeldbe- siedler steigt innerhalb der ersten 50 Jahre reichen. Unmittelbar am Gletscherrand rasch an. Danach gibt es nur noch gerin- sind – bedingt durch die hohe Mobilität ge Zunahmen. Die Artenzahlen, die nach der Tiere – deutlich mehr Tier- als Pflan- 150 Jahren erreicht werden, entsprechen zenarten präsent. jenen in den reifen Standorten außerhalb des Gletschervorfeldes (Abb. 10). Die Zu- sammensetzung der Artengemeinschaft hat nach dieser Zeit hingegen noch kein Bestimmende Faktoren für die Fauna Endstadium erreicht. Während bei den

Jene Faktoren, wel- che die Fauna im Gletschervorfeld am stärksten beeinflussen, sind die im Altersver- lauf zunehmende Bo- denbildung und Ve- getationsentwicklung (Tab. 1). Im Gletschervorfeld verändern sich aber nicht nur entlang der Chronosequenz die Bedingungen für die tierische Lebewelt. Auch lokal treten un- terschiedliche Stand- ortfaktoren auf, zum Beispiel durch die un- terschiedlich intensive Abb. 10: Artenzahlen von wirbellosen Tieren und Pflanzen entlang der Chronose- Besonnung. Die Aus- quenz des Gletschervorfeldes. Als Vergleich dienen die Artenzahlen der rei- richtung des Tales von fen Standorte (älter als 5000 Jahre) außerhalb des Gletschervorfeldes. Südost nach Nordwest

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Erklärter Anteil der Faktor Artenvariabilität (%)

Moränenalter (inklusive zunehmender Vegetationsbedeckung ~ 15 und Bodenentwicklung)

+ klimatische Faktoren, die den Verlauf der Sukzession beeinflussen

Sonneneinstrahlung und Temperatur ~5 bis 8

Schneebedeckung und Feuchtigkeit ~ 4

Tab. 1: Einfluss von Umweltfaktoren auf die Fauna im Gletschervorfeld und die umgebenden Bergzüge teilen das rechte Talseite, Abb. 11), auf welcher der Tal in eine Schattseite (orographisch linke Sukzessionsprozess begünstigt abläuft. Talseite) und eine Sonnseite (orographisch Auch das unterschiedliche Feuchtemi­

Abb. 11: Unterschiedliche Besonnung im Rotmoostal (Foto: R. Kaufmann)

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Abb. 12: In manchen Jahren bleiben die Lawinenkegel den ganzen Sommer über liegen und sorgen dadurch für unterschiedliche Bedingungen im Bezug auf das Feuchtemilieu und die Schneedeckendauer. (Foto: E.-M. Koch) lieu und die Dauer der Schneebedeckung Die abiotischen Umweltparameter, der (Abb. 12) variieren im Vorfeld und be- Vegetationsaufbau und die Pflanzenge- einflussen lokal die Besiedelung und die sellschaft greifen als erklärende Faktoren ­Artenzusammensetzung der Standorte. ineinander. Pioniergesellschaften zeigen Lokale Störungen wie Überflutung und ebenso wie auch die älteren Gemeinschaf- Erosion verlangsamen vermutlicherweise ten einen Bezug zu den äußeren Faktoren den Sukzessionsprozess. Sie spielen aber auf. Daraus lässt sich folgern, dass sowohl im Rotmoostal, abgesehen von den häu- die erste Kolonisierung als auch die Fau- fig überschwemmten Flächen entlang der nensukzession in alpinen Gletschervorfel- Rotmoosache und einigen, von Lawinen dern großteils vorhersagbaren und deter- beeinflussten Seitenhängen, kaum eine ministischen Gesetzmäßigkeiten folgen Rolle. Dies kann jedoch nicht auf jedes und stochastische Effekte von geringer Gletschervorfeld umgelegt werden. Wichtigkeit sind.

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Ernährungstypen der Tiere kein erkennbares Nahrungsnetz zu ihrer Versorgung gibt. Eine Vermutung ist, dass die Räuber von Insekten leben, die vom Unerwarteterweise handelt es sich bei den Wind aus anderen Gebieten eingetragen ersten Kolonisatoren fast ausschließlich werden. Demnach wäre der Nährstoff­ um räuberische Tiere (Abb. 13), obwohl eintrag aus angrenzenden Gebieten eine es in diesem Stadium auf den ersten Blick wesentliche Voraussetzung für die rasche

a) b)

Abb. 13: Räuberische Kolonisatoren auf den jüngsten Moränenböden: Ein Laufkäfer (Nebria jockischii, a) und der Gletscher-Weberknecht (Mitopus glacialis, b) – (Fotos: R. Kaufmann)

Abb. 14: Der Vulkankegel des Mount St. Helens, Washington USA (Foto: R. Kaufmann)

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Abb. 15: Auftreten der Ernährungstypen der ­wirbellosen Tiere entlang des Glet- schervorfeldes: Räuberische Tiere (bzw. Aasfresser), Pflanzenfresser und Zersetzer.

Besiedlung der Moränenflächen (Swan Isotopensignaturen (δ13C und δ15N), dass 1963, Kaufmann 2001). Auch auf den die Nahrungskette der Pionierstandorte Primärsukzessionsflächen der Vul­kane eine Trophieebene weniger aufweist als Mount St. Helens (Abb. 14) und Kraka- die älterer Standorte, und dass einzelne tau haben Forscher (Dammermann 1948, Arten ihre Ernährungsweise entlang der Ashmole and Ashmole 1987, Edwards Chronosequenz dem Nahrungsangebot und Sugg 1993, Sugg and Edwars 1998) entsprechend ändern können (König dieses Räuber-Phänomen beobachtet. 2006). Untersuchungen zum Beutespektrum Pflanzenfressende Insekten erscheinen räuberischer Käfer mit Hilfe von Iso­ erst nach etwa 50 bis 60 Jahren in grö- topensignaturen stärken zudem die An- ßerer Dichte, sobald sich die Vegetations- nahme, dass sich die Käfer auch von decke zu entwickeln beginnt. Zersetzer, epigäisch ­lebenden Collembola ernäh- die organisches Material abbauen, treten ren (Schallhart 2005), die ebenso wie erst in späteren Stadien mit beginnender die räube­rischen ­Arten in den jüngsten ­Bodenbildung auf (Abb. 15). Moränenflächen siedeln. Weiters zeigten

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Empfindlichkeit auf einzige Faktor, der die Kolonisation und Klimaschwankungen Sukzession eines Gletschervorfeldes be- einflusst. Vor allem auch die Feuchtigkeit ist ein wichtiger Motor für diese beiden Auch klimatische Änderungen beein- Prozesse (Matthews und Witthaker 1987, flussen die tierische Lebewelt eines Glet- Kaufmann 2001). schervorfeldes stark. Das ergab sich aus Die jüngsten Stadien entwickeln sich der- einem Vergleich von Klimadaten, der zeit rascher und die 30 bis 50 Jahre alten über einige Jahre hinweg beobachteten Standorte langsamer als man aus dem Veränderungen der Artengemeinschaften Muster entlang der Chronosequenz des und dem Verteilungsmuster entlang der Tales erwarten würde (Kaufmann 2002). Chronosequenz (Abb. 16). Die Verände- Die Ursache dafür waren vermutlich Kli- rung der Temperatur ist dabei nicht der maschwankungen mit einer Phase unge-

Abb. 16: Analyse des Klimawandelef- fektes auf die Kolonisation der Tier­arten. Unterschie- de zwischen dem Trend der Chronosequenz und der direkten Beobachtung der derzeitigen Entwicklungs- geschwindigkeit lassen sich aus Temperaturschwankun- gen der letzten Jahrzehnte ­erklären.

180 Kapitel 7 | Die tierische Besiedlung von Gletschermoränen

wöhnlich warmer Sommer in den 1950er Dammermann, K. (1948) The fauna of Jahren, gefolgt von einer sehr kühlen Peri- Krakatau, 1883-1933. Verhandlingen ode 1960 bis 1980 und einer neuerlichen, Koninklijke Nederlnadsche Akademie bis heute dauernden warmen Periode ab Wetenschapen Afdeling Natuurkunde etwa 1980. Es scheint, dass die Erstko- (tweede dectie) 44: 1-594. lonisation nahe dem Gletscherrand in Edwards, J.S. & Sugg, P.M. (1993) warmen Phasen mit hohen Rückschmelz­ fallout as a resource in the recolonization geschwindigkeiten der Gletscher deutlich of Mount St. Helens. Ecology 74: 954- beschleunigt wird. 958. Erschbamer, B., Bitterlich, W. & Raffl, C. (1999) Die Vegetation als Indikator für die Bodenbildung im Gletschervorfeld Literatur des Rotmoosferners (Obergurgl, Ötztal, Nordtirol). Ber. nat.-med. Verein Inns- bruck, 86: 107-122. Ashmole, N.P. & Ashmole, M.J. (1987) Ar- Gereben, B. (1995) Co-occurence and Mi- thropod communities supported by bio- crohabitat Distribution of six Nebria logical fallout on recent lava flows in the species (Coleoptera: Carabidae) in an Canary Islands. Entomologia Scandina- Alpine Glacier retreat zone in the Alps, vica, Supplement 32: 67-88. Austria. Arctic and Alpine Research 27: Ashmole, N.P., Oromi, P., Ashmole, M.J. & 371-379. Martin, J.L (1992) Primary faunal suc- Gobbi, M., De Bernardi, F., Pelfini, M., Ros- cession in volcanic terrain: lava and cave saro, B. & Brandmayr, P. (2006) Epi- studies on the Canary Islands. Biological gean arthropod succession along a 154- Journal of the Linnean Society of Lon- year glacier foreland chronosequence in don 46: 207-234. the Forni Valley (Central Italian Alps). Baldes, M. (2009) Abundanz, räumliche Ver­ Arctic Antarctic and Alpine Research 38: teilung und Nahrungsquellen räuberi- 357-362. scher Arthropoden in einem Gletscher- Hodkinson, I.D., Coulson, S.J., Harrison, vorfeld. Diplomarbeit Universität Inns- J. & Webb, N.R. (2001) What a won- bruck, 83 S. derful web they weave: spiders, nutrient Bardgett, R.D., Bowman, W.D., Kaufmann, capture and early ecosystem develop- R. & Schmidt, S.K. (2005) A temporal ment in the high Arctic - some conter- approach to linking aboveground and intuitive ideas on community assembly. belowground ecology. Trends in Ecology Oikos 95: 349-352. and Evolution 20: 634-641.

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