FALL-STUDIEN Vom Labortisch an Den Schreibtisch – Nichts Ist Spannender Als Die Wirklichkeit
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FALL-STUDIEN Vom Labortisch an den Schreibtisch – nichts ist spannender als die Wirklichkeit. Kathy Reichs berichtet, was sie zu den Mordfällen in ihren Romanen inspiriert. Ich hoffe, dass meine Romane ein wenig und ein frisch geplündertes Grab aus dem Bärenpranken, die menschlichen Händen Mein Zerstückelungsopfer war ein Elch. dazu beigetragen haben, die forensische ersten Jahrhundert zu einer Kriminalge- und Füßen sehr ähnlich sind, tauchen auch Bei der etwas sorgfältigeren Lektüre mei- Anthropologie ins öffentliche Bewusst- schichte zusammen. gelegentlich in meinem Labor auf. nes Antragsformulars entdeckte ich, dass sein zu rücken. Durch meine Romanfi gur Und dann war da noch Monsieur Orignal, die Untersuchung von der Société de la Temperance Brennan ermögliche ich den dem ich Mit Haut und Haar verdanke: Die Die skelettierten Überreste, die Mit Haut und faune et des parcs angefordert worden war, Lesern einen Einblick in meine eigenen unterschiedlichsten Knochen fi nden ihren Haar eröffnen, kreuzten tatsächlich wäh- dem Quebecer Äquivalent des US Fish Erfahrungen. Weg in mein Labor: Schädel, die als Tro- rend eines Blizzards in Montreal an einem and Wildlife Service. Ein Wilderer tötete Tote lügen nicht basiert auf meiner ersten phäen aus fremden Ländern geschmuggelt Donnerstag im November 1997 meinen seit Jahren Elche, ohne sich im Gerings- Ermittlung in einem Serienmord. Kno- wurden; Lehrskelette, die aus Biologiesä- Weg. Als Südstaatlerin, die mit Schneepa- ten um die jährlichen Abschussquoten zu chenarbeit entstand aus einer Aufgabe, len verschwanden und auf wundersame nik nur allzu vertraut ist, kroch ich durch scheren. Mitarbeiter dieser Naturschutz- die ich für die katholische Kirche erle- Weise in Studentenheimen wieder auf- die Stadt und wagte es nur in Tunnels, auf behörde hatten beschlossen, gegen den digte, und aufgrund von Ermittlungen tauchten; die Überreste von Soldaten aus kühne dreißig Meilen zu beschleunigen. Mann vorzugehen, und dazu brauchten sie über die Massenselbstmorde innerhalb dem Unabhängigkeitskrieg; Haustiere, Ich kam zu spät ins Institut und verpass- ein Fachgutachten. Sie wollten wissen, ob der Sonnentempler-Sekte. Lasst Knochen die in Hinterhöfen oder unter den Bohlen te so die Morgenbesprechung, bei der die ich die Schnittspuren an den Elchknochen Fälle des Tages diskutiert und den jewei- ligen Spezialisten zugewiesen worden waren. Auf meinem Schreibtisch lag ein Formular, eine demande dʼ expertise en anthropologie. Ich machte mich sofort an die Arbeit und über- fl og das Blatt nach den wesentlichen In- formationen: Fallnummer, die Nummer des Leichenschauhauses, Coroner, Patho- loge. Mein Auftrag lautete, Schnittspuren an Bein- und Beckenknochen zu untersu- chen und zu bestimmen, welcher Typ von Säge zur Zerstückelung benutzt worden war. Die Zusammenfassung der bekann- ten Fakten enthielt ein französisches Wort, das ich nicht kannte: orignal. Da ich ein Und dann war da noch Monsieur Orignal ... schlechtes Gewissen wegen meiner Ver- spätung hatte, legte ich gleich los und be- mit einer Säge, die in der Garage des Ver- schloss, das unbekannte Wort später im dächtigen sichergestellt worden war, in Lexikon nachzuschlagen. Verbindung bringen konnte. Ich konnte. Ich zog meinen Labormantel an und ging zu dem Tisch, auf dem der Gegenstand mei- Große Knochen. Großes Tier. Große Lektion ner Untersuchung lag. Als ich den Lei- in Sachen vorschnelles Handeln. chensack öffnete, klappte mir die Kinnla- Thoreau hat es in Walden schön formu- © Bilder: iStock de herunter. Das Opfer hatte entweder ein liert: „Einige Indizienbeweise sind stark; gigantisches Hypophysenproblem gehabt, wenn man zum Beispiel in der Milch eine Es passiert jeden Tag. Knochen oder Leichenteile werden entdeckt. oder ich hatte Goliath persönlich vor mir. Forelle fi ndet.“ sprechen wurde inspiriert von den vielen von Holzhäusern zur letzten Ruhe gebettet Kehrtwendung. Lexikon. Orignal: élan, Oder ein Elchtier in einem Leichensack. Knochen, die dank der Quebecer Hell’s wurden. n. m. Au Canada on l’appelle original. Angels auf meinem Untersuchungstisch landeten. Durch Mark und Bein fußt auf Es passiert jeden Tag. Knochen oder Lei- meiner ersten Mitarbeit bei einem Kata- chenteile werden entdeckt. Die örtlichen strophenfall. Zu Knochenlese kam ich Behörden, mit Fragen der Anatomie meist durch meine Teilnahme an der Exhumie- überfordert, schicken sie zum Coroner rung eines Massengrabs in Guatemala. To- oder zum Medical Examiner. Gelegent- tenmontag ist inspiriert von drei Skeletten, lich erweist sich ein „Opfer“ als Reptil die ich im Keller einer Pizzeria entdeckte. oder Vogel, doch die meisten sind Ange- Totgeglaubte leben länger entstand nach hörige der Klasse Säugetiere. Ich habe meinem Besuch in Israel; in diesem Ro- schon Spareribs untersucht, Mittelfuß- man füge ich einen merkwürdigerweise knochen von Hirschen, Schinkenknochen unerwähnt gebliebenen Knochenfund in und Wapitigeweihe. Ich habe Kätzchen Masada, einen Begräbniskasten, der an- in Jutesäcken bekommen und Waldratten geblich der des Jesus-Bruders Jakobus ist, vermischt mit Knochen von Mordopfern. DIE FUND-SACHEN Vom Baumarkt-Klassiker bis zur High-End-Technik. Damit arbeiten forensische Anthropologen Mikroskop: aus dem Labor nicht wegzudenken. Wissenschaftlichen Anforderungen Rasterelektronenmikroskop: genügend ab ca. € 500,– stellt z. B. Knochenproben mit einer Vergrößerung von 1 Mio. : 1 dar. Gebraucht ab ZipLock-Beutel: unverzichtbar ca. € 15.000,– für das Spurensammeln und -sichern. 100 St. ab ca. € 1,– Durchwurfsieb: Sandschale und Sekundenkleber: stellt sicher, dass an einem Forensik ist oft Puzzlear- Fundort z. B. im Wald keine beit. Mit diesen einfachen Beweismittel zurückbleiben. Hilfsmitteln lassen sich Neu ab ca. € 20,– z. B. Schädelfragmente wieder zusammenfügen. Ab ca. € 7,– Computertomograph: ein frisierter Leuchtkasten: bringt wichtige Hinweise Röntgenapparat, dessen Aufnahmen auf Röntgenbildern ans Licht. Ein weißer sich mithilfe eines Rechners in 3-D Schweif? Eventuell Bleirückstände eines abbilden lassen. Ab ca. € 750.000,– Geschosses. Ab ca. € 40,– © iStock 4 THEREICHSFILES September 2012 as deutsche Fernsehen beweist, was verfi lmten Krimistoff angeht, oft eine Werkstreue, die dem Kadavergehorsam be- nachbart ist. Was nicht schaden muss – man spürt geradezu, wie der Hypo- thalamus ins Schaumbad steigt, wenn sich die Her- ren Kommissare Wallan- der, Lynley und Brunetti genau so durch ihre Fernsehfälle stirnfalteln, wie das gedruckte Wort es vorsieht. Dagegen hat man es in Hollywood – ganz wie das Klischee es vor- Dsieht – gern etwas jünger, hübscher, schneller. Kein Wun- der also, dass bei BONES manches anders läuft als in den Tempe-Brennan-Romanen. Dafür stehen schon die beiden Männer, die die Show zusammen mit Kathy Reichs für 20th Century Fox auf die Mattschei- be brachten. Filmproduzent Barry Josephson, der zu sei- ner Zeit bei Columbia Pictures u. a. für Men in Black und The Fifth Element verantwortlich zeichnete, und ausfüh- render Produzent Hart Hanson, der als Writer für Serien wie Stargate – Kommando SG-1 in Los Angeles Karriere machte. Wer vor dem Raum-Zeit-Kontinuum so wenig Respekt hat wie Hanson und Josephson, dem ist es wohl ein Leichtes, einem Serienkonzept wie der Tempe-Bren- nan-Reihe einen kleinen Warp-Antrieb einzubauen. Die Fernsehfolgen arbeiten also nicht einfach die Handlung der Romane ab. Dementsprechend tritt in BONES eine et- was jüngere Tempe auf, die keine Kinder und ihre Karri- ere noch vor sich hat. Sie ist für das Jefferson Institute in Washington, D. C., in Zusammenarbeit mit dem FBI tätig. (Das ist schlüssig, war das FBI doch mit die erste Behörde in den USA, die den Wert der forensischen Anthropologie erkannte und diese bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zu- rate zog.) Im Jefferson Institute steht Tempe ein Kollegen- trupp zur Seite, der Recherche, Analysen und natürlich se- rienkompatible private Nebenkriegsschauplätze beisteuert. Kern der Show bildete von Anfang an das Ermittlerduo, bestehend aus Brennan und dem FBI-Beamten Seeley Booth Ein bisschen jünger, sonst ganz die alte: Tempe Brennan (rechts). Nur kein Kadavergehorsam: Schöpferin, Produzentin und Beraterin Reichs am BONES-Set. TEMPE GOES TO HOLLYWOOD In der TV-Serie BONES – Die Knochenjägerin ermittelt Kathy Reichs’ Protagonistin seit acht Staffeln. Bei RTL hat sie sich damit einen Stammplatz in der Primetime und eine durchschnittliche Zuschauerzahl von rund 3 Millionen erkämpft. September 2012 THEREICHSFILES 5 die verlässlich rasante Dynamik, mit der die Kollegen Emily Deschanel alias Tempe Brennan und David Borean- az alias Seeley Booth ihre Hassliebe zueinander ausleben. Boreanaz war vor seinem Engagement für das BONES- Unternehmen jahrelang als geheimnistragender und latent (auch sexuell) gefährlicher Vampir aus der Serie Buffy – Im Bann der Dämonen durch Teenieträume gefl attert. Das Angebot, einen ganz und gar irdischen, für die handfes- ten Szenen und markigen Sprüche zuständigen Bullen zu spielen, muss verlockend gewesen sein. Nichtsdestotrotz bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit seitens der Pro- duzenten, um Boreanaz letztlich an Bord zu holen. Das Familienbande:Kathy und Kerry Reichs mit BONES-Laboranten. und ein erstes Treffen mit Emily Deschanel. „Als Emily den Raum betrat, war da dieser Funke. So was kann man schreibt zusammen mit seiner Mutter die Jugendbuchrei- nicht planen, es passiert einfach. Wie ein Blitz in einer he Virals (s. S. 7). Flasche. Wir haben das gespürt, und seitdem arbeiten wir damit“, erinnert sich Boreanaz. Gesprochen wie ein